Kirche bei Pelagius 9783110808087, 3110163144, 9783110163148

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Kirche bei Pelagius
 9783110808087, 3110163144, 9783110163148

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
1. Pelagius und sein Kirchenverständnis als Gegenstand der Forschung
2. Die Quellen und ihre Interpretation
a. Die Schriften des Pelagius
α. Die unbestritten echten Pelagiusschriften
β. Dubia
b. Die Expositiones als Quelle für die Theologie des Pelagius
α. Der Text der Expositiones
β. Das Ermitteln theologischer Positionen des Pelagius aus seiner Paulusinterpretation in den Expositiones
3. Konzeptionelle Überlegungen
A. Der Mensch vor Gott
I. Der Mensch und seine natürliche Fähigkeit zur Gotteserkenntnis
1. Die Ausnahmestellung des Menschen in der Schöpfung
2. Der Weg der Vernunft zur Erkenntnis Gottes
3. Die freie Entscheidung
II. Der Mensch unter der Sünde und seine Befreiung zu einem gottgemäßen Leben
1. Der Weg des Menschen in die sündhafte consuetudo
2. Die Befreiung des Menschen von seiner sündhaften consuetudo durch die Heilsinitiative Gottes
B. Die Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch
I. Die Grundstruktur der die ecclesia konstituierenden Beziehung von Gott und Mensch
1. Der Anteil Gottes an dem innerhalb der Kirche bestehenden Verhältnis von Gott und Mensch
2. Der Anteil des Menschen an dem Verhältnis von Gott und Mensch in der Kirche
3. Der Kirchenbegriff des Pelagius im Lichte seiner Soteriologie
II. Die Entwicklung der Kirche
1. Gottes praescientia und praedestinatio als Begründung für das Entstehen von Kirche
2. Die perfectio der Kirche als Ziel ihrer geschichtlichen Entwicklung
C. Die Einheit der Kirche
I. Die Ordnung der Kirche
1. Die Kirche als corpus Christi
2. Die Zuteilung der Gnadengaben an die Gläubigen
II. Einheit durch caritas
1. Gottesliebe
2. Die caritas gegenüber dem Mitmenschen
D. Das Wirken der Kirche an ihren membra
I. Die Ämter der Kirche
1. Kirchliche Ämter in den Paulusbriefen und den Expositiones des Pelagius
2. Die Ordnung der kirchlichen Ämter und deren Aufgaben in der Gemeinde
3. Die Tugenden der clerici
II. Die sakramentalen Handlungen
1. Taufe
2. Buße
3. Die Mahlfeier
Schluß: Kirche bei Pelagius
Verzeichnis der Quellen und Sekundärliteratur
Abkürzungen
1. Quellen
2. Sekundärliteratur
Register
I. Bibelstellen
II. Antike Autoren
III. Moderne Autoren

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SEBASTIAN T H I E R KIRCHE BEI PELAGIUS

1749

I

1999

?

PATRISTISCHE TEXTE U N D S T U D I E N IM AUFTRAG DER

PATRISTISCHEN

KOMMISSION

D E R A K A D E M I E N DER W I S S E N S C H A F T E N IN D E R B U N D E S R E P U B L I K D E U T S C H L A N D

H E R A U S G E G E B E N VON

H. C. B R E N N E C K E U N D E. M Ü H L E N B E R G

BAND 50

w DE

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WALTER D E GRUYTER • BERLIN • N E W YORK 1999

KIRCHE BEI PELAGIUS VON S E B A S T I A N THIER

w DE

Ç l WALTER DE GRUYTER • BERLIN • NEW YORK 1999

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek —

ClP-Einheitsaufnahme

Thier, Sebastian: Kirche bei Pelagius / von Sebastian Thier. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Patristische Texte und Studien ; Bd. 50) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1996/97 ISBN 3-11-016314-4

ISSN 0553-4003 © Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die Zeit Augustins ist für die Kirchengeschichte von großer Bedeutung. Hier werden Positionen zur Anthropologie, Soteriologie und Ekklesiologie formuliert, die für spätere Jahrhunderte wegweisend sein sollten. In der vorliegenden Arbeit wird die Ekklesiologie des Pelagius in den Blick genommen, die bislang noch nicht zum Gegenstand einer größeren Untersuchung gemacht worden ist. In ihrer ursprünglichen Form lag die Arbeit als Dissertation an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen im Wintertsemester 1996/97 vor. Für den Druck habe ich die Untersuchung leicht überarbeitet und durch ein Register ergänzt. Ich freue mich über die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Patristische Texte und Studien". Dank schulde ich den Personen, die mich beim Zustandekommen der Arbeit in vielfältiger Weise unterstützt haben. Mein ganz herzlicher Dank gilt meinem Lehrer Prof. Dr. Ekkehard Mühlenberg. Er hat nicht allein das Thema der vorliegenden Arbeit angeregt, mein Vorhaben intensiv betreut und mir die Gelegenheit gegeben, 1992-1996 als wissenschaftlicher Angestellter an der Göttinger Akademie der Wissenschaften, Kommission zur Erforschung des altchristlichen Mönchstums, zu arbeiten. Vor allem schärfte er meinen Blick für die Interessenhorizonte, in denen sich die Autoren historischer Texte bewegen. Herr Prof. Dr. Bernd Moeller übernahm die Last des Zweitgutachtens. Ihm auch sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Für seine ebenso freundliche wie hilfreiche Unterstützung danke ich Prof. Dr. Martin Ohst, jetzt Wuppertal. Für anregende Gespräche und weiterführende Hinweise zum Schrifttum des Pelagius danke ich Dr. Winrich Lohr, Cambridge. Für ihre Hilfe beim Korrekturlesen danke ich Andreas Glock, Bremen, und Ralf Steen, Göttingen. Meinem Bruder Dr. Andreas Thier, München, danke ich für die Erstellung der Druckvorlage. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern. Sie haben nicht nur mein Studium finanziert, sondern auch die Entstehung dieser Arbeit mit Interesse und Anteilnahme begleitet.

Holzminden, im Juni 1999

Sebastian Thier

Inhalt

Vorwort

V

Einleitung

1

1. Pelagius und sein Kirchenverständnis als Gegenstand der Forschung

1

2. Die Quellen und ihre Interpretation a. Die Schriften des Pelagius ct. Die unbestritten echten Pelagiusschriften ß. Dubia b. Die Expositiones als Quelle für die Theologie des Pelagius ct. Der Text der Expositiones ß. Das Ermitteln theologischer Positionen des Pelagius aus seiner Paulusinterpretation in den Expositiones

17 18 19 22 30 32 40

3. Konzeptionelle Überlegungen

48

A. Der Mensch vor Gott I. Der Mensch und seine natürliche Fähigkeit zur Gotteserkenntnis 1. Die Ausnahmestellung des Menschen in der Schöpfung 2. Der Weg der Vernunft zur Erkenntnis Gottes a. Die Erkenntnis des Seins Gottes (Röm 1,19f.) b. Die Erkenntnis des göttlichen Willens (Röm 2,14-16) 3. Die freie Entscheidung II. Der Mensch unter der Sünde und seine Befreiung zu einem gottgemäßen Leben 1. Der Weg des Menschen in die sündhafte consuetudo 2. Die Befreiung des Menschen von seiner sündhaften consuetudo durch die Heilsinitiative Gottes a. Die lex litterae b. Das Wirken Christi B. Die Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch

51 52 55 58 59 61 67 73 77 80 81 84 90

VIII

Inhalt

I. Die Grundstruktur der die ecclesia konstituierenden Beziehung von Gott und Mensch 1. Der Anteil Gottes an dem innerhalb der Kirche bestehenden Verhältnis von Gott und Mensch

a. Corpus Christi b. Sanctitas a. Das Wesen der Heiligkeit ß. Die Heiligkeit der Kirche 2. Der Anteil des Menschen an dem Verhältnis von Gott und Mensch in der Kirche 3. Der Kirchenbegriff des Pelagius im Lichte seiner Soteriologie a. Ekklesiologie und Gnadenlehre b. Ekklesiologie und die Lehre von der similitudo dei

93 93

93 102 103 105 110 115 116 119

II. Die Entwicklung der Kirche 127 1. Gottes praescientia und praedestinatio als Begründung für das Entstehen von Kirche 128 2. Die perfectio der Kirche als Ziel ihrer geschichtlichen Entwicklung 136 a. Die theologischen Grundlagen der pelagischen Lehre von der

perfectio b. Die pelagische Lehre von der perfectio im Kontext ihrer Zeit a . Pelagius' Stellungnahme zum jovinianischen Streit ß. Mönchtum und Kirche C. Die Einheit der Kirche

140 150 152 158 163

I. Die Ordnung der Kirche 1. Die Kirche als corpus Christi 2. Die Zuteilung der Gnadengaben an die Gläubigen

165 167 178

II. Einheit durch Caritas 1. Gottesliebe 2. Die Caritas gegenüber dem Mitmenschen a. Bruderliebe b. Nächstenliebe

193 195 207 212 215

D. Das Wirken der Kirche an ihren membra I. Die Ämter der Kirche 1. Kirchliche Ämter in den Paulusbriefen und den Expositiones des Pelagius 2. Die Ordnung der kirchlichen Ämter und deren Aufgaben in der Gemeinde 3. Die Tugenden der clerici

220 221 222 229 248

Inhalt II. Die sakramentalen Handlungen 1. Taufe a. Taufe und Bekenntnis b. Kindertaufe 2. Buße 3. Die Mahlfeier

IX 256 256 257 259 270 294

Schluß: Kirche bei Pelagius

312

Verzeichnis der Quellen und Sekundärliteratur

330

Abkürzungen

330

1. Quellen

330

2. Sekundärliteratur

334

Register

343

I. Bibelstellen

343

II. Antike Autoren

348

III. Moderne Autoren

357

Einleitung 1. Pelagius und sein Kirchenverständnis als Gegenstand der Forschung Als 410 Anhänger des Pelagius in Nordafrika auftreten und hier für ihre Ideen werben, stoßen sie mit ihren Ansichten schon bald auf den Widerstand des nordafrikanischen Klerus. In der Folgezeit gewinnt dieser Konflikt eine atemberaubende Dynamik. Was als eine lokale Kontroverse um die Bedeutung der Kindertaufe beginnt, weitet sich nach und nach zu einem theologischen Grundsatzstreit um die Bedeutung von Sünde und Gnade aus, der schließlich große Teile der abendländischen Kirche beschäftigt. Am Ende setzt sich die Position der nordafrikanischen Bischöfe durch, die in maßgeblicher Weise von Augustin formuliert worden ist. In Abwehr pelagianischer Ansichten entscheidet sich so die Kirche für eine Anthropologie, die den Menschen grundlegend in die Sündhaftigkeit verstrickt sieht und von daher ein bleibendes göttliches Gnadenwirken am Menschen für notwendig erachtet, das in das Innere des Menschen eingreift und ihn zu einem Leben im Glauben bewegt. Diese Entscheidung erweist sich insbesondere für die weitere Theologiegeschichte des Abendlandes als richtungweisende Grundsatzentscheidung von großer Tragweite. Zwar hat auf dem Konzil von Ephesus 431 auch die griechische Kirche des Ostens der Verdammung des Pelagianismus zugestimmt. Faktisch hat sich hier jedoch diese antipelagianische Lehrentscheidung nie richtig durchgesetzt; denn wie der Pelagianismus urteilt die griechische Theologie positiv über die Entscheidungsfreiheit des Menschen, weshalb sie auch Vorstellungen zu Sünde und Gnade entwickelt hat, die denen des Pelagianismus verwandt sind'. Anders sieht es dagegen im Westen aus. Hier haben die Konzilsbeschlüsse von 418 und 431 dazu beigetragen, daß die augustinische Interpretation von Sünde und Gnade - wenn auch in abgeschwächter Form - zum Allgemeingut der abendländischen Theologie wurde. Angesichts der großen Bedeutung, die dem pelagianischen Streit innerhalb der Kirchengeschichte zukommt, ist es nur allzu verständlich, daß das Interesse an diesem Streit, insbesondere an den beiden Protagonisten Augustin und Pelagius, bis heute wach geblieben ist. Die gegenwärtige wissenschaftliche Arbeit kann dabei auf die Ergebnisse einer reichhaltigen Forschung zu diesem Thema aufbauen, die uns bereits ein recht differenziertes Bild des pelagianiSiehe hierzu Reinhold Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2: Die Dogmenbildung in der Alten Kirche, 2. Auflage, Leipzig 1910, S. 309-315.

2

Einleitung

sehen Streites und der in ihn verwickelten Personen bieten. Allerdings bleiben hier noch viele Fragen offen. Insbesondere gilt dies für Pelagius, den „Verlierer" des pelagianischen Streites. Eine moderne Pelagiusforschung, die Leben und Werk Rieses Menschen aus seiner Zeit und seinen Lebensumständen begreift, gibt es erst seit fünfzig Jahren2. Im Unterschied zur älteren Pelagiusforschung ist es ihr gelungen, ein von der augustinischen Polemik unabhängiges Pelagiusverständnis zu entwickeln, das Pelagius in erster Linie von seinen eigenen Intentionen her versteht'. Die wichtigsten Einsichten in die bestimmenden Interessen des Pelagius haben vor allem zwei Untersuchungsrichtungen geboten, und zwar die theologiegeschichtliche sowie die biographische Pelagiusforschung. Die moderne Interpretation der Theologie des Pelagius nimmt ihren Anfang mit der 1958 erschienenen Studie Torgny Bohlins „Die Theologie des Pelagius und ihre Genesis" 4 . In ihrer Fragestellung und in ihrer methodischen Zugangsweise unterscheidet sich Bohlins Arbeit nur wenig von den Beiträgen der älteren Pelagiusforschung. Das erkenntnisleitende Interesse Bohlins richtet sich auf die Anthropologie, Hamartiologie und Soteriologie des Pelagius, also genau jene Themen, die im pelagianischen Streit diskutiert worden sind. Diese formale Herangehensweise ist Pelagius und seiner Theologie insofern angemessen, als dieser ja nach seinen eigenen Angaben bei der Belehrung ein Argumentationsschema verwendet hat, das beim Menschen und dessen Fähigkeiten einsetzt und von hier aus die Bedeutung von Sünde und Gnade aufzeigt 5 . Neu gegenüber der älteren Pelagiusforschung sind allerdings Bohlins 2

Einen Überblick Uber die Forschungsgeschichte geben die Literaturberichte von Gerald Bonner, Augustine and Modern Research on Pelagianism, The Saint Augustine Lecture 1970, Villanova 1972, abgedruckt in: ders., God's Decree and Man's Destiny. Studies on the Thought of Augustine of Hippo, London 1987; Rudolf Lorenz, Zwölf Jahre Augustinusforschung (1959-1970), in: ThR 40, 1975, S. 97-149, dort S. 143-149, sowie Otto Wermelinger, Neuere Forschungskontroversen um Augustinus und Pelagius, in: Cornelius Mayer/ Karl Heinz Chelius (Hrsg.), Internationales Symposium über den Stand der Augustinusforschung vom 12. bis 16. April 1987 im Schloß Rauischholzhausen der Justus-Liebig-Universität Gießen, Cass. 391, Würzburg 1989, S. 189-217. Zur Interpretation des Kirchenbegriffes und der Sakramente innerhalb der neueren Forschung vgl. Carlos Garcia-Sanchez, Pelagius and Christian Initiation, Diss. Washington 1978, S. 26-100.

1

Eine in ihrer Schwerpunktsetzung historische Interpretation bietet erstmals George de Plinval in seiner 1943 erschienenen Pelagiusbiographie, auf die weiter unten (S. 4) eingegangen wird. Man kann daher den Beginn der modernen Pelagiusforschung mit dem Erscheinen dieser Studie ansetzen. De Plinval verarbeitet in seiner Studie die neuen Erkenntnisse der um die Jahrhundertwende einsetzenden modernen philologischen Arbeit am pelagianischen Schrifttum, welche die Quellenbasis für die Erforschung des Pelagianismus erheblich erweitert hat. Mit diesen philologischen Arbeiten setzt Gerald Bonner in seinem Literaturbericht (vgl. Anm. 2) den Beginn der modernen Pelagiusforschung an.

4

Torgny Bohlin, Die Theologie des Pelagius (AUU 1957:9), Uppsala/Wiesbaden 1957. Vgl. Ad Dem. 2, Sp. 16f. Wie Pelagius hier darlegt, wählt er bei seiner Belehrung gewöhnlich als Einsatzpunkt den Menschen und dessen Fähigkeiten: Quoties mihi de institutione morum, et sanetae vitae dicendum est, soleo prius humanae naturae vim qualitatemque mon-

5

1. Pelagius und sein Kirchenverständnisals Gegenstand der Forschung

3

Einsichten in die Fragestellung der pelagischen Theologie. So weist er überzeugend nach, daß Pelagius' Theologie durch einen starken Antimanichäismus bestimmt ist6. Wie Bohlin zeigt, hält Pelagius gegen die dualistische Schöpfungslehre der Manichäer an dem Bekenntnis zu dem einen, guten Schöpfergott fest, der dem Menschen die Entscheidungsfreiheit als eine in ihrer Grundintention auf den freiwilligen Gehorsam gegenüber Gott ausgerichtete Gabe verleiht. Vom Gesichtspunkt der Schöpfungsabsicht Gottes betrachtet, stellt sich diese Gabe als ein gutes Vermögen, d. h. als bona natura dar7. Durch das Moment der Freiwilligkeit besitzt die Entscheidungsfreiheit einen weiteren antimanichäischen Aspekt, insofern die These der Willensfreiheit gegen den manichäischen Determinismus die Verantwortlichkeit des Menschen für sein eigenes Handeln festhält8. Nach Bohlin entsprechen dieser Anthropologie eine Hamartiologie und Soteriologie, denen zufolge die Sünde als eine innerhalb der Heilsgeschichte wirksame Kraft erscheint, die - freiwillig erworben und über exempla sündhaften Handelns weitervermittelt - das Vermögen zum freiwilligen Gottesgehorsam blockiert, wohingegen die sich in Gesetz, Vorbild und Leben Christi sowie der Taufe manifestierenden Formen der göttlichen Gnade darauf abzielen, die Sündhaftigkeit und die von ihr bewirkte Blockade der Entscheidungsfreiheit aufzuheben'. Die ebenfalls theologiegeschichtlich orientierten Arbeiten von Robert F. Evans10 und Gisbert Greshake" folgen in strare, et quid efficere possit, ostendere (aaO., Sp. 16C). - Nach diesem Prinzip sind auch die Kapitel 2-8 dieses Briefes konzipiert. Vgl. Bohlin, Die Theologie des Pelagius, S. 12-15. AaO., S. 15f. Ebd. Siehe hierzu aaO., S. 23. Bohlin stellt hier der Zeitlosigkeit des menschlichen Wesens die Geschichtlichkeit von Sünde und Erlösung gegenüber: „Zwar ist das Wesen des Menschen zeitlos, aber von dem Gesichtspunkt der Erlösung her bedeutet dies nicht, dass der Mensch kraft seiner gottgeschenkten Natur zu jeder Zeit erlöst werden kann. Die Sünde macht es nämlich allmählich nötig - nicht unmittelbar nach dem Fall Adams, aber allmählich durch dessen Folgen - dass das Zusammenspiel von Offenbarungsgnade und Vergebungsgnade die eben analysierten Schöpfungskategorien wieder vergegenwärtigt" (ebd.). - Den Sündenbegriff des Pelagius analysiert Bohlin S. 24f.; 30f.; Pelagius' Verständnis des göttlichen Gnadenhandelns, das auf die Beseitigung der von der Sündhaftigkeit verursachten Wirkungen abzielt, wird S. 25-29; 31-36 dargestellt. Robert F. Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals, New York 1968, dort S. 90-121; 158167. Gisbert Greshake, Gnade als konkrete Freiheit. Eine Untersuchung zur Gnadenlehre des Pelagius, Mainz 1972. Greshakes Studie ist angelegt als ein interdisziplinärer Dialog der Dogmengeschichte mit einer gegenwartsbezogenen systematischen Theologie. Wie Greshake im Vorwort seiner Untersuchung einräumt, macht der interdisziplinäre Charakter seiner Studie diese offen für Kritik von Seiten der Systematik und Kirchengeschichte. „Der NurSystematiker wird vielleicht die ersten 4 historischen Kapitel als einen entbehrlichen Umweg für das 5. Kapitel betrachten und dessen Fragmentalität und mangelnde Durcharbeitung beanstanden. Demgegenüber mag wohl der strikte Historiker gegen die systematisierende und typisierende Interpretation der Quellen und dessen aktuelle Befragung Bedenken vorzutragen haben" (S. 5). In der Tat hat Greshake mit dem zweiten Punkt eine wesentliche Schwierigkeit

4

Einleitung

ihrem Ansatz Bohlin. Allerdings heben sie die intellektualistischen Züge innerhalb der pelagischen 12 Theologie hervor, indem sie in ihren Darstellungen stärker die Leitfunktion der Lehre (Evans) bzw. des „konkreten" exemplum (Greshake) für den Willen herausstellen. Ein anderer Zugang zu Pelagius und seinen Intentionen erschließt sich über die Erforschung seiner Biographie. Innerhalb der Arbeiten, die sich auf diesem Wege Pelagius annähern, steht nicht so sehr seine umstrittene Theologie im Vordergrund als vielmehr die Ziele und Absichten, die Pelagius in seinem öffentlichen Wirken verfolgt. Dabei wird seiner Zeit in Rom eine besondere Bedeutung zugemessen. In seinem Ruf noch ohne Beeinträchtigung hat sich Pelagius hier in einem sozialen und gesellschaftlichen Milieu bewegt, das die Fragestellungen seiner theologischen Lehre sowie die hieraus abgeleiteten Ziele nachhaltig geprägt hat. Die Bedeutung des historischen Umfeldes für das Verständnis des Pelagius in Erinnerung gebracht zu haben, ist das große Ver-

benannt, die aus kirchengeschichtlicher Perspektive zu kritisieren ist. Der literarische und historische Kontext der Quellen ist in Greshakes Untersuchung insgesamt zu wenig berücksichtigt. Die den Quellen entnommenen Aussagen werden in systematische Aussagen übersetzt, so daß es oft schwierig ist, Greshakes Interpretation an den angeführten Quellen zu verifizieren. Bei dieser, auf systematische Übersetzung abzielenden methodischen Arbeitsweise unterlaufen Greshake z. T. recht schwerwiegende Fehler. Indem Greshake Pelagius' Auslegung von Eph 4,24 und Kol 3,10 isoliert von ihrem Kontext betrachtet - zwei Texte, die nach dem Duktus von Pelagius' Auslegung auf den biblischen Gedanken einer Neuschöpfiing des Menschen durch die Taufe zu beziehen sind - , gelangt er zu der in dieser Weise nicht haltbaren These, Pelagius vertrete eine „dynamisch-praktische" imago-Dei-Lehre (S. 55-57). Auch Greshakes These, wonach die Ekklesiologie nicht in der Pneumatologie, sondern in der Christologie gründet (S. 142f.), wirkt angesichts der großen Bedeutung, die Pelagius dem Gedanken der Heiligkeit zuweist, nur wenig überzeugend. Ebenso problematisch sind Greshakes Überlegungen zu den historischen Wurzeln des pelagischen Denkens. So berücksichtigt er in seinem Kapitel über die traditionsgeschichtlichen Wurzeln der pelagischen Theologie lediglich Autoren aus den ersten drei Jahrhunderten, zeitgenössische Stimmen fehlen jedoch ganz. Ferner bleiben Pelagius' Beziehungen zu der monastisch-asketischen Bewegung ebenso unberücksichtigt wie die Eingebundenheit der pelagischen Bibelauslegung in die exegetische Diskussion seiner Zeit. Wie Basil Studer in seiner Rezension von Greshakes Untersuchung zu recht betont (FZPhTh 21, 1974, S. 459-469, dort S. 461 f.), darf jedoch auch nicht dessen große systematische Leistung übersehen werden. Der Umfang der von Greshake verarbeiteten Quellen ist enorm, ebenso die Fülle der von ihm angesprochenen Einzelaspekte. Insofern wird man in Greshakes Untersuchung einen nützlichen Forschungsbeitrag sehen dürfen. Im Anschluß an Greshake, Gnade als konkrete Freiheit, wird in der vorliegenden Untersuchung zwischen „pelagisch" und „pelagianisch" unterschieden. Nach Greshakes eigener Definition wird „das Wort 'pelagisch' im Unterschied zu 'pelagianisch' dann [verwendet], wenn es im strikten Sinn Person und Werk des Pelagius selbst und nicht der Pelagianer meint" (S. 27, Anm. 3). Bei seinen Ausführungen zu den herangezogenen Quellen weicht er diese Definition auf, indem er auch Schriften, deren pelagische Urheberschaft nicht gesichert ist, gemäß seinem „persönlichen Urteil" dem Kreis der pelagischen Schriften zuweist (S. 42, Anm. 27). Da die vorliegende Untersuchung historisch ausgerichtet ist, soll der Begriff „pelagisch" nur dort zur Anwendung kommen, wo ein Bezug zu Pelagius' Leben und Werk besteht, der nach dem jetzigen Forschungsstand als gesichert gelten kann.

1. Pelagius und sein Kirchenverständnisals Gegenstand der Forschung

5

dienst der 1943 erschienenen Pelagiusbiographie von George de Plinval", die zugleich den Beginn der modernen Pelagiusforschung markiert. De Plinval analysiert hier die Situation Italiens während des späten 4. Jahrhunderts, in die er Pelagius und die von ihm vorangetriebene Reform verortet14. De Plinval zufolge fallt Pelagius' Wirken in Rom in eine Zeit, in der die Christianisierung der spätantiken römischen Gesellschaft massiv voranschreitet. Obgleich das Christentum seit Konstantin staatlich gefordert wird, stellt es um 380, dem Beginn von Pelagius' Wirken in Rom, noch eine Minderheit in der Gesellschaft dar. Und selbst diese Minderheit ist noch nicht im strengen Sinne christlich; vielmehr gibt es unter den Christen eine große Anzahl von Namenchristen, die nach ihrer Taufe lediglich die äußeren Riten geändert haben, in ihrer inneren Einstellung aber weiterhin dem Heidentum verhaftet sind. Gegen diese starke Tendenz zum Namenchristentum, das Taufe und Taufbekenntis als ausreichende Garantie für den Erwerb des Heils ansieht, wendet sich eine kleine, aber sehr aktive Strömung, die - von den Ideen der monastischen Bewegung beeinflußt - für ein vollkommenes Christentum asketischer Prägung eintritt. Neben Hieronymus gehört auch Pelagius dieser Strömung an. Von ersterem unterscheidet sich dieser jedoch in der Radikalität seiner Vorstellungen. Obgleich sich Pelagius in erster Linie an den römischen Adel, hier vor allem an die gens Anicia, wendet, richtet sich seine Reform in ihrer Gesamtausrichtung an die ganze Kirche. Das monastische Ideal der perfectio soll demnach nicht nur von wenigen, sondern von allen Christen befolgt werden. Pelagius' Anhänger sollen daran aktiv mitwirken, indem sie in ihrer Lebensweise die perfectio vorbildhaft verwirklichen. Die Tugendhaftigkeit dieses vorbildlichen Lebens soll unter der Masse der Durchschnittschristen Beschämung wirken, so daß sie dadurch zu einer Besserung ihres Lebenswandels angeregt werden und damit letztlich das moralische Niveau der gesamten Kirche angehoben wird. Auch wenn man den Ausfuhrungen de Plinvals heute nicht mehr kritiklos wird folgen können15, hat sich seine These, Pelagius sei in seinem Denken "

George de Plinval, Pélage. Ses écrits, sa vie et sa réforme. Étude d'histoire littéraire et religieuse, Lausanne 1943. Neben der Biographie des Pelagius geht de Plinval hier auch auf Pelagius' Theologie ein, in der er vor allem eine theologische Ethik sieht (S. 167-206). Allerdings steht diese Interpretation der pelagischen Theologie noch in der Tradition der älteren Pelagiusforschung, wenn auch hier schon Ansätze zu einer offeneren Deutung zu erkennen sind.

14

''

Vgl. zum folgenden de Plinval, Pélage, S. 98-120; 389-394. De Plinval schreibt Pelagius ein Gesamtwerk zu, von dem 22 Schriften vollständig, sechs weitere fragmentarisch erhalten sind (vgl. hierzu die Liste bei de Plinval, Pélage, S. 44f.). In ihnen findet de Plinval Tendenzen zu einem radikalen Asketismus. Die nachfolgende Forschung hat erwiesen, daß der überwiegende Teil der von de Plinval angeführten Schriften nicht von Pelagius selbst, sondern von uns unbekannten pelagianischen Theologen verfaßt worden sind. Legt man die Quellen zugrunde, die nach dem heutigen Forschungsstand Pelagius zugewiesen werden können, so läßt sich de Plinvals These nicht mehr halten. Wie Evans richtig herausstellt, ist Pelagius in seinem theologischen Denken eher konservativ einzu-

6

Einleitung

stark kirchlich orientiert, allgemein durchgesetzt. Neben Robert F. Evans, der in seinen „Inquiries and Reappraisals" Pelagius' Denken „in und mit der Kirche" als einen Grundzug der pelagischen Theologie herausstellt16, hat insbesondere Pet^r Brown mit seiner 1968 veröffentlichten Studie „Pelagius and his Supporters" 17 entscheidend dazu beigetragen, dieser These allgemeine Anerkennung zu verschaffen. Ähnlich wie de Plinval konzentriert sich Brown auf Pelagius' Wirksamkeit in Rom, um von hier aus die Ziele seines Denkens zu erfassen. Neu gegenüber de Plinval sind die methodischen Voraussetzungen, die Brown seiner Pelagiusinterpretation zugrunde legt. Wie er in der Einleitung seiner Studie programmatisch darlegt, ist seine Pelagiusdeutung von der grundlegenden Absicht bestimmt, die Kluft zwischen der dogmengeschichtlichen und der sozialgeschichtlichen Interpretation des Pelagianismus zu überbrücken, indem die Diskussion um den Pelagianismus in engem Bezug zu den sozialgeschichtlichen Entwicklungen jener Zeit nachgezeichnet wird. Den Bereich, in dem sich Theologie und sozialgeschichtliche Entwicklungen treffen, sieht Brown in dem Bedürfnis der Menschen jener Zeit, sich selbst zu definieren und sinnstiftende Wertvorstellungen für ihr Leben zu entwickeln. Dabei setzt er voraus, daß die zum Teil äußerst divergierenden Lebenskonzepte, die als Antwort auf dieses Bedürfnis entwickelt worden sind, von unterschiedlichen Gruppen innerhalb der Gesellschaft getragen und weiterverbreitet worden sind. Brown untersucht im ersten Teil seiner Studie, welche Bedürfnisse die einzelnen Fraktionen innerhalb der stadtrömischen Aristokratie um die Wende des fünften Jahrhunderts bestimmt haben und inwieweit der Pelagianismus diesen Bedürfnissen entgegengekommen ist. Ihm zufolge wird das gesellschaftliche Klima jener Zeit durch stark zentrifugale Tendenzen bestimmt. Es haben sich hier einzelne Gruppen herausgebildet, die bestrebt sind, ihren aristokratischen Status nach außen hin darzustellen. Neben Symmachus und seinem Kreis stellt beispielsweise der von dem asketischen Programm des Hieronymus beeinflußte christliche Teil der Senatsaristokratie eine derartige Gruppe dar. Die Angehörigen dieser verschiedenen Fraktionen sind auf Mentoren angewiesen, die sie in den Werten und Verhaltensformen einer höheren, elitären Lebensweise unterweisen. So hat es seit Plotin eine Vielzahl von In-

schätzen. „He wishes first to be an orthodox theologian o f the Catholic Church and to be known as such ... It is clear that as a theological writer Pelagius has no intention other than to think in and with the Catholic Church" (Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals, S. 92). Darin unterscheidet sich Pelagius von pelagianischen Theologen aus Sizilien, die in ihrer Kritik an dem Reichtum der römischen Aristokratie zu radikalen Ansichten gelangt sind. 16

Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals, ebd.

17

Peter Brown, Pelagius and his supporters. Aims and Environment, in: JThS.NS 19 (1968), S. 93-114. Ergänzend zu dieser Studie ist Browns 1970 veröffentlicher Aufsatz „The Patrons of Pelagius. The Roman Aristocracy between East and West" (JThS.NS 21, 1970, S. 56-72) zu berücksichtigen. Beide Aufsätze sind in der 1972 erschienenen Aufsatzsammlung „Religion and Society in the A g e of Saint Augustine" abgedruckt (S. 183-207 bzw. S. 208-226). Ich zitiere im folgenden nach dem letztgenannten Werk.

1. Pelagius und sein Kirchenverständnisals Gegenstand der Forschung

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tellektuellen gegeben, die in Rom in einer derartigen Funktion gewirkt haben. Pelagius, der nach dem Weggang des Hieronymus in Rom auftaucht, stellt den letzten Vertreter in einer langen Reihe von Mentoren dar. Sein großer Erfolg bei dem christlich gesonnenen Teil der Aristokratie erklärt sich vor allem dadurch, daß sein auf perfectio abzielendes Ideal des Christentums dem Bedürfnis seiner Anhänger, sich als Elite darzustellen, in hervorragender Weise nachkommt18. Diesen Überlegungen zum großen Erfolg des Pelagianismus unter der römischen Aristokratie läßt Brown im zweiten Teil seiner Studie weitere Erwägungen zum Verlauf des pelagianischen Streites folgen. Hier analysiert er die theologischen Konzeptionen von Pelagius und Augustin im Hinblick auf die darin angesprochenen gesellschaftlichen Bedürfnisse, um den sich nach 410 abzeichnenden Wandel des gesellschaftlichen Klimas in die Interpretation des pelagianischen Streites einbeziehen zu können. In vollem Einklang mit seinem Interpretationsansatz, der - da er auf die Integration von Sozialgeschichte und Theologie abzielt - sich in seiner Gesamtperspektive an gesellschaftlichen Gruppen orientiert, konzentriert sich Brown bei seiner Analyse der pelagischen und augustinischen Theologie ganz auf die Ekklesiologie dieser beiden Theologen. Nach seiner Ansicht vertritt Pelagius eine Ekklesiologie, die - entsprechend dem elitären Anspruch seiner Anhänger - sich am Ideal der perfectio orientiert. Kirche im Sinne des Pelagius soll somit eine „perfekte religiöse Gruppe" darstellen, deren Mitglieder sich in ihrer Vollkommenheit von der mehrheitlich heidnischen Umwelt abgrenzen". Theologisch fußt diese Konzeption auf dem frühkirchlichen Ideal eines Christentums der Diskontinuität, das in Bekehrung und Taufe einen Bruch zu der sündhaften Vergangenheit des Menschen und den Beginn eines neuen, sündlosen Lebens sieht20. Im Gegensatz zu Pelagius bestreitet Augustin, daß Taufe und Bekehrung die Macht der Sünde vollkommen beseitigen können. Der Christ steht vielmehr weiterhin in ständigem Kampf mit der Sünde, so daß sein Leben sich als „eine lange Versuchung" darstellt21. Zwar ist auch für Augustin die Taufe essentiell, jedoch zeigt sich dieser davon überzeugt, daß ihr unmittelbarer Effekt unsichtbar bleibt22. Brown zufolge besitzt die augustinische Ekklesiologie aufgrund dieser theologischen Voraussetzungen eine wesentlich höhere Integrationsfahigkeit als die pelagische Ekklesiologie, da doch für Augustin die nach außen hin sichtbare höhere Lebensweise nicht mehr unmittelbares Kriterium für die Zugehörigkeit zur Kirche ist. Von daher erweist sich die Kirche im Sinne des Augustinismus auch offen für Namenchristen, ja sogar für die zwangskatholisierten Christen der ehemaligen donatistischen Kirche23.

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Brown, Pelagius and his supporters, S. 186-188. AaO., S. 192-195. AaO., S. 195-199. AaO., S. 199f. AaO., S. 205. Ebd.

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Einleitung

Diese Integrationsfähigkeit läßt hingegen die konzeptionell auf eine Minderheitenkirche ausgerichtete pelagische Ekklesiologie vermissen. Da diese darauf abzielt, innerhalb der von Heiden und heidnischen Wertvorstellungen geprägten Gesellschaft eine perfekte religiöse Gruppe zu formen, hätte sich eine Kirche, wie sie sich die Pelagianer vorstellen, im Römischen Reich wie ein monolithischer Block dargestellt, der weite Teile der Gesellschaft ausgrenzt24. In diesem Defizit sieht Brown den eigentlichen Grund für die Niederlage des Pelagianismus im pelagianischen Streit. Ihm zufolge hat sich nämlich nach der Besetzung Roms durch Alarich das gesellschaftliche Klima entscheidend gewandelt. Die bisherige, durch Konkurrenz und Abgrenzungsbestrebungen bestimmte Grundstimmung weicht nun einem Bedürfnis nach Harmonie und Einigkeit. Da der Augustinismus diesem zu entsprechen vermag, hat er sich gegen den Pelagianismus durchgesetzt25. Träfen die Überlegungen Browns zu, so hätten vor allem Erwägungen zum weiteren Kurs der kirchlichen Missionsstrategie über den Ausgang des pelagianischen Streites entschieden. Es gelingt Brown jedoch nicht, diese These aus den zeitgenössischen Quellen überzeugend zu belegen; im Gegenteil: das, was uns die Quellen über den Verlauf des pelagianischen Streites berichten, weist in eine ganz andere Richtung. Demnach handelt es sich bei dieser Kontroverse um einen theologischen Grundsatzstreit, in dessen Mittelpunkt die Anthropologie, nicht jedoch die Ekklesiologie steht. Dazu haben neben persönlichen Rivalitäten auch kirchenpolitische Interessen dessen Verlauf beeinflußt; überdies hat das persönliche Engagement Augustins in der zweiten Hälfte des Streites entscheidende Bedeutung für dessen Ausgang besessen. Daß Brown diese Tatsachen in seiner Deutung des pelagianischen Streites nicht berücksichtigt, ja nicht einmal erwähnt, weist darauf hin, daß sein Interpretationsansatz nicht offen genug ist, um diese Kontroverse in ihrer Vielschichtigkeit angemessen zu interpretieren. Die große Schwäche seines methodischen Ansatzes besteht darin, daß Theologie nur insoweit wahrgenommen wird, wie sie sich in Korrelation zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen bringen läßt. Wie Brown im ersten Teil seiner Studie zeigt, eignet sich dieser Ansatz sehr gut, um die positive Resonanz des Pelagianismus unter der römischen Aristokratie überzeugend zu erklären. Hingegen überbewertet er die Tragfähigkeit seines Interpretationsansatzes, wenn er die unterschiedlichen theologischen Positionen der am pelagianischen Streit beteiligten Parteien von den gesellschaftlichen Bedürfnissen jener Zeit her konzipiert wissen will. Damit unterstellt er den Theologen des fünften Jahrhunderts, daß ihre Theologie durch eine ausgeprägte Sensibilität für den Zustand der Gesellschaft beherrscht wird. Ein solches Problembewußtsein ist jedoch der Theologie jener Zeit fremd. So tritt uns Pelagius in seinen Schriften als Exeget und Theologe entgegen, der bemüht ist, das in der Schrift bezeugte Gotteswort in den aktuellen

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Ebd. AaO., S. 190-192 sowie S. 202-206.

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Lebenskontext seiner Zeit zu übersetzen. Zwar wird man Brown dahingehend zustimmen können, daß Pelagius sich mit seiner Theologie vor allem an die römische Aristokratie richtet, deren Bedürfnisse er durchaus wahrnimmt. In ihrer Weite und Offenheit geht jedoch die von Pelagius vertretene Lehre über die Interessen und Bedürfnisse seiner Anhänger hinaus. Als Interpret des Gotteswortes weiß Pelagius nämlich um die Universalität des göttlichen Heilswillens, die nach seiner Überzeugung der gesamten Menschheit gilt. Dementsprechend kommen in seiner Ekklesiologie durchaus auch andere Gruppen in den Blick, die nicht dem Kreis der perfecti zuzurechnen sind, wie etwa die Normalchristen, die Poenitenten oder die noch nicht bekehrten Heiden, die als Ziel der kirchlichen Missionsarbeit und in diesem Sinne als potentielle Christen angesehen werden. Browns These, Pelagius' Ekklesiologie ziele konzeptionell auf eine Minderheitenkirche ab, läßt sich von daher nicht halten. Damit ist jedoch zugleich seiner hiervon abgeleiteten Interpretation des pelagianischen Streites die Grundlage entzogen. Obgleich Browns Pelagiusinterpretation nur im Hinblick auf die Anfange des Pelagianismus zu überzeugen vermag, hat sein Versuch, die Ekklesiologie als alleiniges Zentrum des pelagischen Denkens zu erweisen, innerhalb der Forschung eine offenere und perspektivenreichere Pelagiusinterpretation gefördert. Dies wird man auf den Umstand zurückzuführen haben, daß Brown in seiner Studie bereits die moderne Sichtweise der pelagischen Theologie rezipiert, wie sie erstmals Bohlin entwickelt hat. Wenn er dann dennoch die Idee der Kirche als Zentrum des pelagischen Denken begreifen will, übt er hierdurch eine deutliche Kritik an der alten, von der modernen theologiegeschichtlich orientierten Pelagiusforschung weiterhin aufrechterhaltenen Auffassung, wonach anthropologische Fragen im Mittelpunkt des pelagischen Denkens stehen. Man wird mit de Plinval und Brown diese Auffassung dahingehend korrigieren dürfen, daß neben der Anthropologie und den daraus abgeleiteten Auffassungen zur Harmartiologie und Soteriologie die Ekklesiologie einen weiteren Themenschwerpunkt innerhalb des pelagischen Denkens darstellt. Freilich wird man gegen Brown betonen müssen, daß sich die Anthropologie hier gegenüber der Ekklesiologie als ein eigenständiger Themenschwerpunkt erhält; denn nur unter dieser Voraussetzung läßt es sich erklären, daß Pelagius während des pelagianischen Streites die Frage nach dem menschlichen Vermögen und der Notwendigkeit göttlicher Gnade unabhängig von ekklesiologischen Fragestellungen erörtern kann. Erkennt man an, daß die so unterschiedlichen Ergebnisse der biographischen und theologiegeschichtlichen Pelagiusforschung zu den beherrschenden Intentionen des Pelagius gleichermaßen ihre Berechtigung haben, mithin Anthropologie und Ekklesiologie gemeinsam als die zentralen Themen des Pelagius anzusehen sind, so stellt sich sogleich die Frage, wie diese beiden Themenfelder aufeinander zu beziehen sind. Indem man diese Frage aufwirft, problematisiert man nicht nur die Einheitlichkeit im Denken des Pelagius,

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sondern auch den Charakter seines Lebenswerkes. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Zugangsweisen zu seiner Lehre verbinden nämlich die biographische und die theologiegeschichtliche Forschung mit ihren jeweiligen Ansichten über die zentralen Motive des pelagischen Denkens ein jeweils unterschiedliches Pelagiusbild. Erstere orientiert sich stärker an den ethischen Schriften des Pelagius, so daß ihr Pelagius vor allem als christlicher Ethiker und Reformer gilt. Letztere setzt dagegen bei seinen theoretischen Spätschriften sowie den theologisch gehaltvollen Aussagen aus den Expositiones an; ihr ist es daher möglich, in Pelagius einen Theologen mit einem starken Interesse an anthropologischen Grundfragen zu erkennen. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Frage nach der Beziehung von Anthropologie und Ekklesiologie im pelagischen Denken implizit als Frage nach dem Ethiker und Theologen Pelagius. Müssen Ekklesiologie und Anthropologie im Denken des Pelagius stärker auseinandergehalten werden, so daß der Ethiker Pelagius von dem Theologen Pelagius abgehoben werden kann? Oder greifen Ekklesiologie und Anthropologie bei Pelagius gedanklich ineinander, so daß der Ethiker Pelagius auch als Theologe verstanden werden kann? Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, wie sich Pelagius' Rolle im pelagianischen Streit beurteilen läßt. Versteht man Pelagius vor allem als Ethiker und Reformer, so lassen sich seine Spätschriften als Apologie verstehen, in denen er sich in einer Art und Weise äußert, wie es seinen Grundinteressen nicht angemessen ist. Zu einem derartigen Pelagiusbild tendiert de Plinval; darin hat er viele Nachfolger gefunden. Den Vertretern dieser Position ist Pelagius geradezu eine tragische Figur, weshalb sie versteckt oder offen für eine Teilrehabilitierung des Pelagius eintreten26. Begreift man Pelagius dagegen nicht nur als Ethiker, sondern zugleich auch als einen theologisch geschulten Denker, so lassen sich seine Spätschriften als Explikation dessen ansehen, was in seinen früheren Schriften bereits implizit angelegt ist. Mit einem derartigen Pelagiusbild operiert Evans27. Pelagius erscheint damit als ein kongenialer Gesprächspartner von Augustin, dessen Position sich innerhalb der theologischen Debatte nicht durchsetzen konnte.

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Vgl. hierzu de Plinval, Pelage, S. 385-409, der jedoch trotz deutlicher Sympathien für Pelagius auch die Schwächen seines theologischen Entwurfes hervorhebt. Sehr viel nachdrücklicher bemüht sich Serafino Prete, Pelagio e il Pelagianismo, Brescia 1961 um eine Rehabilitierung des Pelagius. Nach seinem Urteil ist Pelagius mehr Asket als Theologe, weshalb man ihm noch nicht einmal den animus eines Häretikers zusprechen dürfe (S. 182).

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Vgl. hierzu Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals, S. 90f. Evans kennzeichnet hier die Theologie des Pelagius ausdrücklich als einen Teilbereich des pelagischen Denkens. Greshake, Gnade als konkrete Freiheit, folgt darin Evans. Bohlin, Die Theologie des Pelagius, blendet dagegen die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Theologie bei Pelagius weitgehend aus. Wenn jedoch Bohlin neben den Spätschriften auch die Expositiones

als eine Quelle für

die Theologie des Pelagius heranzieht, so geht er damit implizit von einer weitgehenden Kontinuität im Denken des Pelagius aus.

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Unser heutiger Wissensstand zu Pelagius und dem Pelagianismus erlaubt es nicht, die Frage nach den praktischen und theoretischen Dimensionen im Denken des Pelagius im Sinne eines starren Entweder - Oder zu beantworten. Daß Pelagius eine ethische Zielsetzung hat, wird man heute genauso wenig bestreiten dürfen wie sein großes Interesse an anthropologischen Fragen. Es ist das Verdienst von Carlos Garcia-Sanchez, in seiner 1978 erschienenen Dissertation „Pelagius and Christian Initiation" das unterschiedliche Profil der beiden, in der Forschung vertretenen Pelagiusbilder erstmals deutlich herausgestellt und in Auseinandersetzung mit ihnen die Frage nach der Anthropologie und Ekklesiologie des Pelagius neu gestellt zu haben. Garcia-Sanchez erkennt grundsätzlich an, daß Pelagius sowohl als praktisch orientierter Reformer wie auch als theoretisch reflektierender Denker anzusehen ist. Die Spannung zwischen diesen beiden Pelagiusbildern gleicht Garcia-Sanchez aus, indem er ihnen jeweils unterschiedliche Phasen in der Biographie des Pelagius zuordnet. Die erste Phase umfaßt Pelagius' Zeit in Rom, d. h. bis 410. In dieser Zeit hat er sich bemüht, die Christianisierung der römischen Stadtaristokratie voranzutreiben. Garcia-Sanchez zufolge haben Pelagius dabei vor allem seelsorgerlich-pastorale Interessen geleitet. So ist er tief besorgt um die Reinheit der Kirche, die vor allem durch die allgemeine Tendenz zum Namenchristentum gefährdet wird. Dem stellt er seinen Aufruf zu einem engagierten Christentum entgegen, das jeden Christen in der Verpflichtung sieht, die Taufverpflichtungen durch ein lebenslanges Streben nach Heiligkeit einzulösen28. Der gedankliche Schwerpunkt in der Lehre des frühen Pelagius liegt somit im Bereich der Ekklesiologie. Zwar hat Pelagius auch schon zu dieser Zeit die Entscheidungsfreiheit des Menschen gelehrt, jedoch steht diese These hier in einem untrennbaren Zusammenhang mit seinen ekklesiologischen Ansichten2'. Dies ändert sich jedoch nach seiner Übersiedlung nach Palästina. Seinem seelsorgerlich-pastoralen Betätigungsfeld entrissen, verliert sein Denken die ursprüngliche praxisorientierte und ekklesiologische Ausrichtung. Hieronymus kritisiert Pelagius' impeccantia-Lehre und zwingt ihn dadurch, seine These von der Willensfreiheit in einer abstrakt-theoretischen Weise weiterzubilden. Nach Garcia-Sanchez gelangt Pelagius erst in dieser Phase zu einer heterodoxen Theologie. Während sich die praxisorientierte Ekklesiologie nahtlos in den theologischen „mainstream" des 5. Jahrhunderts einordnen läßt, erweist sich die theoretisch-abstrakte Theologie seiner Spätzeit wegen ihrer Ferne zur Praxis kirchlichen Lebens als stark defizitär, weshalb diese Theologie auch keine Zustimmung seitens der Kirche findet30. Vor dem Hintergrund dieser Deutung der pelagischen Biographie ist es Garcia-Sanchez möglich, sich dem Gegenstand seiner Untersuchung, der pelagischen Lehre von Taufe und Heiligung, von den praktischen Intentionen des Pelagius her anzunähern und dabei seine 2

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2

3,1

Garcia-Sanchez, Pelagius and Christian Initiation, S. 378. AaO., S. 380. AaO., S. 382f.

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Einleitung

theoretischen Überlegungen zur Willensfreiheit auszuklammern. Dabei gelingt es ihm, die theologischen Motive der pelagischen Ekklesiologie wahrzunehmen und in ihrer Eigenständigkeit zu würdigen. So erhellt er das in der bisherigen Pelagiusforschung weithin vernachlässigte Thema des pelagischen Heiligkeitsverständnisses. Grundlage für die Heiligung bildet die Taufe. Der Christ erfahrt hier nicht nur Sündenvergebung und die Tilgung seiner Sündhaftigkeit, vielmehr wird ihm hier eine neue Qualität verliehen, die in seinem künftigen Leben in Heiligkeit zum Tragen kommen soll. Durch diese Neuschöpfung, die der Christ in der Taufe erfahrt, unterscheidet er sich qualitativ von all denen, die nicht getauft sind. Als membrum des Corpus Christi muß sich sein Leben daher auch entscheidend von dem Wandel der Ungläubigen und Heiden abheben; diesen soll er Vorbild sein, um sie dadurch zum Glauben und zur Erlösung in Christus zu bewegen31. Obwohl Garcia-Sanchez mit seiner Untersuchung einen neuen Aspekt des pelagischen Denkens erschließt und insofern einen wertvollen Forschungsbeitrag leistet, ist dennoch zu bezweifeln, ob das von ihm gezeichnete Lebensbild des Pelagius diesem gerecht wird. Gewiß ist Garcia-Sanchez dahingehend zuzustimmen, daß Pelagius in seiner späteren Lebensphase unter dem Druck der gegen ihn erhobenen Vorwürfe die theoretischen Grundlagen seiner Theologie expliziert, mithin der Schwerpunkt seines Spätwerkes im Bereich theoretisch-abstrakter Reflexion liegt. Freilich ist es unangemessen, darin einen Bruch zu seinem früheren Werk zu sehen. Wie Otto Wermelinger gegen Garcia-Sanchez eingewandt hat, hat sich Pelagius bereits in Rom mit seiner Schrift De fide trinitatis einer äußerst abstrakten Thematik zugewandt. Umgekehrt tritt auch der späte Pelagius mit seiner Epistula ad Demetriadem als Autor einer praxisorientierten Schrift hervor32. In diesem Zusammenhang sei auch auf die These Yves-Marie Duvals hingewiesen, wonach die Schrift De natura auf das Jahr 406 vorzudatieren sei33. Trifft diese Annahme zu, so hat Pelagius bereits in Rom damit begonnen, in Auseinandersetzung mit einer ihm konträren Position die Grundsätze seiner Anthropologie theoretisch zu entfalten. Einen weiteren Beleg für den hohen Grad an theologischer Reflexion im Denken des Pelagius stellen seine Expositiones dar. Zwar handelt es sich bei dieser Schrift um einen Bibelkommentar; gleichwohl schimmert hinter den exegetischen Ausfuhrungen des Pelagius ein theologisches Konzept von erstaunlicher Geschlossenheit durch. Aus diesem Grunde war es auch Bohlin möglich, aus den Expositiones Grundzüge der pelagischen Theologie herauszuarbeiten 34 . Nimmt man all dies zusammen, so wird man folgern dürfen, daß Pelagius in beiden Phasen seines Lebens den Praktiker und Theoretiker in sich vereint. AaO., S. 288f.; 380. Wermelinger, Neuere Forschungskontroversen, S. 196. Yves-Marie Duval, La date du „De natura" de Pélage, in: REAug 36 (1990), S. 257-283. Auf die Expositiones und ihren Aussagekraft für die Theologie des Pelagius wird weiter unten (S. 40ff) noch ausführlich eingegangen.

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Von daher wird man es den jeweils aktuellen Lebensumständen zuschreiben dürfen, daß einmal der Praktiker, ein anderes Mal der Theoretiker stärker hervortritt. Ein derartiges Pelagiusbild harmoniert zudem mit dessen These eines engen Ineinandergreifens von Lehre und Lebenswandel. Ausgangspunkt dieser These bildet die Entscheidungsfreiheit, die in ihrer Intentionalität auf den Gottesgehorsam angelegt ist. Um Gott gehorsam sein zu können, muß sich der Mensch jedoch zuvor darüber belehren lassen, wie er Gott gefallig sein kann. Die Lehre geht somit der Praxis voraus. In diesem Sinne merkt Pelagius in seiner Epistula ad Demetriadem an: „Und wie es mehr ist, den Willen des Herrn zu tun {facere) als ihn bloß zu kennen (nosse), so ist das Kennen (nosse) zeitlich vor dem Tun (facere)1™. Mit dieser Argumentation erklärt Pelagius neben der Praxis gelebten Glaubens - die theologische Bildung zu einem integrativen Bestandteil christlicher Frömmigkeit. Als Mentor der christlichen Senatsaristokratie ist es seine Aufgabe, theologisches Wissen zu erschließen und seinen Anhängern zu vermitteln. In seinem Gesamtwerk, dessen Bandbreite von exegetischen Untersuchungen bis zu theoretischen Studien zu umstrittenen Grundsatzfragen der zeitgenössischen theologischen Diskussion reicht, kommt Pelagius dieser Aufgabe nach16. Die vorliegende Untersuchung setzt es sich zum Ziel, die theologischen Grundlagen der pelagischen Ekklesiologie nachzuzeichnen. Damit soll die bisherige Diskussion zur pelagischen Ekklesiologie, in der Pelagius' Kirchenbegriff lediglich aus Sicht der Sozialgeschichte (Brown) und Liturgiegeschichte (Garcia-Sanchez) beleuchtet worden ist, um einen weiteren, bisher vernachlässigten Aspekt ergänzt werden. Zugleich sollen aber auch Fehldeutungen korrigiert werden. So soll zum einen gezeigt werden, daß der pelagische Kirchenbegriff nicht - wie Brown dies behauptet - auf Abgrenzung ausgerichtet ist, sondern vielmehr offen ist für die Integration der verschiedensten Gesellschaftsschichten, ja, daß Pelagius diese von seinen eigenen theologischen Voraussetzungen her befürwortet. Er ist nämlich davon überzeugt, daß das göttliche Heilsangebot unterschiedslos allen Menschen gilt. Es liegt am Menschen selbst, ob er dieses Angebot in eigener Entscheidung annimmt oder 35

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Ad Dem. 9, Sp. 24A: Et ut maius est voluntatem Domini facere quam nosse: ita prius est nosse, quam facere. Man könnte gegen die hier vorgetragenen These einwenden, daß gerade die theoretischen Schriften des Pelagius (De trinitate, De natura, Pro libero arbitrio) wegen ihrer Thematik und ihres anspruchsvollen Niveaus für ein Laienpublikum ungeeignet sind, somit die Adressaten dieser Schriften nicht unter den Anhängern des Pelagius, sondern unter den gebildeten Theologen seiner Zeit zu suchen sind. Es gilt jedoch zu bedenken, daß die römischen Aristokraten des späten 4. Jahrhunderts einen z. T. äußerst hohen Grad an Bildung besessen haben. Dies belegen die Briefe und Schriften des Hieronymus, die dieser für seine Anhänger verfaßt hat. Neben moraltheologischen Fragen geht Hieronymus hier auch auf äußerst diffizile Probleme der Exegese und Theologie ein. Man wird von daher damit rechen können, daß auch die Anhängerschaft des Pelagius, die in demselben Milieu anzusiedeln ist wie der Kreis des Hieronymus, den Argumentationen des Pelagius in dessen theoretischen Schriften folgen konnte.

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ob er sich ihm verschließt und so sich selbst der Heillosigkeit ausliefert. Um den Menschen für den Glauben zu gewinnen, appelliert Pelagius an die Vernunft und die Verantwortlichkeit, Fähigkeiten, die jedem Menschen zu eigen sind. Dementsprechend geht es Pelagius auch in seiner Ekklesiologie nicht um bestimmte, gesellschaftliche Gruppen, sondern generell um die gesamte Menschheit. Zwar ist es zutreffend, daß Pelagius den Christen, die das Ideal der perfectio zu verwirklichen trachten, besondere Aufmerksamkeit schenkt. Allerdings ist er sich durchaus bewußt, daß letztlich nur wenige Christen dazu imstande sind, dieses Ideal zu verwirklichen. Die Universalität des göttlichen Heilswillens läßt es als notwendig erscheinen, daß sich die Kirche auch um die Mehrheit der Normal- und Durchschnittschristen kümmert, die weit hinter diesem Ideal zurückbleiben. Ihnen gegenüber sieht sich Pelagius verpflichtet, sie zum Fortschritt anzuregen, so daß sie sich - soweit es ihren Möglichkeiten und ihrem eigenen Wollen entspricht - der perfectio annähern. Zum anderen soll der Nachweis erbracht werden, daß Pelagius' Interpretation der Kirche eng mit den anderen zentralen Themen seiner Ekklesiologie, insbesondere mit den Kerngedanken seiner später so umstrittenen Anthropologie und Gnadenlehre, verknüpft ist. Damit soll gegen Garcia-Sanchez' schematische Unterscheidung zwischen einem praktisch orientierten, orthodoxen Frühwerk des Pelagius, in dessen Mittelpunkt die Ekklesiologie steht, und einem abstrakt-theoretischen, heterodoxen Spätwerk, dessen Hauptthema die Anthropologie bildet, die Einheit und Kontinuität von Pelagius' theologischem Gesamtwerk erwiesen werden. Daß Pelagius seine Gedanken zur Anthropologie und Ekklesiologie in so unterschiedlicher Weise formuliert, wird man nicht auf einen Wandel in seinem Denken zurückzuführen haben, sondern auf den unterschiedlichen Kontext, in dem Pelagius diese Themen behandelt. Da er zu keiner Zeit seines Lebens in eine theologische Debatte über die Kirche verwikkelt worden ist, stellt sich die Exegese als der einzige Bereich dar, innerhalb dessen er mit Fragestellungen der Ekklesiologie konfrontiert wird. Man kann das, was Pelagius in diesem Kontext zur Kirche sagt, keineswegs durchweg als praktisch charakterisieren. So ist es zwar zutreffend, daß Pelagius in diesem Zusammenhang Weisungen für den rechten Lebenswandel der Christen formuliert; doch dies ist kein Charakteristikum seines Redens von der Kirche, sondern steht vielmehr in vollem Einklang mit der didaktisch-lehrhaften Gesamtausrichtung seiner Exegese. Zudem finden sich neben diesen praktischen Weisungen auch Überlegungen zu den theologischen Grundlagen der Kirche; in ihnen wird sichtbar, daß Pelagius seine Aussagen über die Kirche auf der Basis eines - zumindest in seinen Grundzügen durchreflektierten - Kirchenbegriffs formuliert. Seine Überlegungen zur Anthropologie stehen hingegen in einem anderen Kontext. Aus der Tradition der antimanichäischen Polemik ist ihm die Frage nach der Entscheidungsfreiheit bereits als Thema vorgegeben. Der nach wie vor anhaltende Erfolg des Manichäismus zu seiner Zeit, die Integration monastischer Gedanken in seine Theologie, aber auch aktuelle

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Diskussionen zum Verhältnis von Gott und Mensch haben Pelagius dazu veranlaßt, sich immer wieder mit diesem Thema zu beschäftigen. So hat Pelagius seine Anthropologie schon während seiner Zeit in Rom in Grundzügen durchdacht und sie dementsprechend auch in seiner Ekklesiologie verarbeitet. Obgleich er Anthropologie und Ekklesiologie miteinander verbinden konnte und sie auch tatsächlich miteinander verbunden hat, hat er erstere offensichtlich zugleich auch als einen Themenbereich von eigenem Wert angesehen. Daher war es ihm möglich, die Grundzüge seiner Anthropologie unabhängig von der Ekklesiologie zu erörtern. Die hier formulierte Aufgabe, das theologische Konzept der pelagischen Ekklesiologie aus seinen Schriften zu herauszuarbeiten, läßt sich nicht bewältigen, ohne dabei die Situation der spätantiken Kirche Roms sowie zeitgenössische Aussagen zur Ekklesiologie zu berücksichtigen. Nach seinem eigenen Verständnis ist Pelagius nämlich kein Neuerer, sondern ein orthodoxer Theologe, der in und mit der Kirche denken will' 7 . Seine Ekklesiologie steht somit wie seine Theologie insgesamt - in einem Dialog mit den verschiedenen theologischen Ansichten seiner Zeit. Um das Proprium seines Standpunktes deutlich werden zu lassen, muß man daher seine Position zeitgenössischen Stimmen gegenüberstellen 38 . Zugleich ist darauf zu achten, welche Vorstellungen und Ideen Pelagius nachhaltig in seinem Denken geprägt haben. Hier ist vor allem auf die zu seiner Zeit noch junge monastisch-asketische Bewegung hinzuweisen. Rudolf Lorenz hat in seiner Studie über den Beginn des Mönchtums im Westen nachgewiesen, daß Pelagius in dieser Bewegung fest verwurzelt ist". Der Frage, inwieweit seine Ekklesiologie durch Ideale der monastischasketischen Bewegung beeinflußt wird, gilt in dieser Untersuchung besondere Aufmerksamkeit. Dieses Interesse gründet in dem Umstand, daß gerade in ihrer Entstehungsphase die monastisch-asketische Bewegung ein latent kritisches Moment gegenüber den bestehenden Formen christlicher Frömmigkeit aufweist. So birgt die monastische Forderung, sich aus der Welt zurückzuziehen und in Abgeschiedenheit nach persönlicher Heiligung zu streben, die Gefahr in sich, daß die Mönche eine Form christlicher Frömmigkeit entwickeln,

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Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals, S. 92. Dieses Verfahren legt sich bereits durch den Charakter der Hauptquelle dieser Untersuchung, den Expositiones, nahe. In der hier dargebotenen Exegese berücksichtigt Pelagius die Auslegungen, die in der zeitgenössischen exegetischen Literatur vertreten werden. In Auseinandersetzung mit ihnen formuliert er seine eigenen Positionen. Hierauf wird weiter unten, S. 40 ff, noch ausführlich eingegangen. Rudolf Lorenz, Die Anfänge des abendländischen Mönchtums im 4. Jahrhundert, in: ZK.G 77 (1966), S. 1-61. Bereits de Plinval, P61age, hat auf Einflüsse monastischer Ideen im Denken des Pelagius hingewiesen (perfectio-Lehre), Pelagius insgesamt gesehen jedoch stärker als Laien verstanden (S. 102f.). Lorenz hat in seiner Studie dagegen die Offenheit des frühen Mönchtums in seinen Formen nachgewiesen; diese erlaubt es, auch Pelagius hier einzuordnen. Darüber hinaus weist Lorenz auch Einflüsse östlicher Mönchtumstheologie bei Pelagius nach (S. 35-38).

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Einleitung

die sich in die bestehenden kirchlichen Strukturen nicht einpassen läßt. Der Anspruch des Mönchtums, eine vollkommene Lebensweise zu verkörpern, verstärkt die Gefahr ihrer Separierung von der Kirche noch zusätzlich. Will der Asket Pelagius in und mit der Kirche denken, so steht er vor der Aufgabe, der monastisch-asketischen Lebensform mit ihrem Streben nach perfectio innerhalb der Kirche einen Ort zuzuweisen, der es erlaubt, daß auch die Durchschnittschristen mit ihrer nicht asketischen Lebensweise weiterhin als Mitglieder der Kirche angesehen werden können. In erster Linie versteht sich die vorliegende Untersuchung als ein Beitrag zur Geschichte des Pelagianismus. Gleichwohl verbinde ich mit dieser Untersuchung das Anliegen, durch eine bessere Einsicht in Pelagius' Theologie auch unser Verständnis des pelagianischen Streites zu fördern. Deshalb soll auch auf den theologischen Gegensatz zwischen Pelagius und Augustin eingegangen werden. Zwar haben im pelagianischen Streit Fragen zur Ekklesiologie keine größere Rolle gespielt; insofern jedoch Pelagius und Augustin gleichermaßen ihre unterschiedlichen Ansichten zum menschlichen und göttlichen Anteil am Heilserwerb in ihre jeweilige Interpretation der Kirche integriert haben, ist der pelagianische Streit implizit auch ein Streit um das rechte Verständnis von Kirche und kirchlichem Leben. Um die von Pelagius formulierte Alternative zu der augustinischen Ekklesiologie in ihrem Profil noch schärfer hervortreten zu lassen, sollen im Schlußteil meiner Untersuchung Überlegungen zum Unterschied zwischen der pelagischen und der augustinischen Ekklesiologie angestellt werden.

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2. Die Quellen und ihre Interpretation

2. Die Quellen und ihre Interpretation In s e i n e r Studie zur P a u l u s e x e g e s e d e s P e l a g i u s kritisiert Johann Tauer d i e T e n d e n z z u e i n e m m e t h o d i s c h n a c h l ä s s i g e n U m g a n g m i t d e s s e n Schriften, d i e innerhalb der älteren A r b e i t e n der m o d e r n e n P e l a g i u s f o r s c h u n g z u b e o b a c h t e n ist'. T a u e r h e b t dabei z w e i Punkte hervor. S o w u r d e „der P a u l u s k o m m e n t a r d e s P e l a g i u s g e w ö h n l i c h zur materialreichen F u n d g r u b e , u m s e i n e n t h e o l o g i s c h e n Standpunkt z u ermitteln" 2 . D a n e b e n w u r d e n , „ o f t o h n e

ausreichende

R ü c k s i c h t a u f die U n t e r s c h i e d e in der literarischen Gattung, . . . a u c h andere S c h r i f t e n h e r a n g e z o g e n , deren Authentizität z u m T e i l b i s h e u t e

umstritten

ist" 1 . D i e Kritik v o n Tauer ist berechtigt. In der Tat findet m a n in d e n t h e o l o g i e g e s c h i c h t l i c h e n S t u d i e n der m o d e r n e n P e l a g i u s f o r s c h u n g nur selten Ü b e r l e g u n g e n z u Echtheitsfragen. S o f e r n d i e A u t o r e n darüber A u s k u n f t g e b e n , b e s c h r ä n k e n sie s i c h z u m e i s t a u f e i n e Liste der v o n ihnen als p e l a g i s c h e i n g e stuften Schriften 4 , g e l e g e n t l i c h fehlt selbst diese 5 . M e t h o d i s c h e E r w ä g u n g e n , die z u m U m g a n g m i t d e n Q u e l l e n A u s k u n f t g e b e n , s i n d n o c h s e l t e n e r a n z u treffen. S o spricht e t w a G r e s h a k e an, daß P e l a g i u s in d e n Expositiones

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Johann Tauer, Neue Orientierungen zur Paulusexegese des Pelagius, in: Aug. 34 (1994), S.313-358. AaO., S. 313. Ebd. Nur de Plinval und Evans gehen in ihren Pelagiusdarstellungen von eigenen Studien zu Echtheitsfragen aus. In der Regel schließen sich die Autoren größerer Monographien zu Pelagius diesen Autoren an. So folgen die Darstellungen von John Ferguson (Pelagius. A Historical and Theological Study, Cambridge 1956), Serafino Prete (Pelagio e il Pelagianismo) sowie Juan B. Valero (Las Bases antropológicas de pelagio en su tratado de las Expositiones [PUPCM.T 1.11], Madrid 1980) im wesentlichen de Plinval, wohingegen Carlos GarciaSanchez, Pelagius and Christian Initiation, sich an Evans orientiert. Einen Mittelweg zwischen Evans und de Plinval geht Greshake, Gnade als konkrete Freiheit, dort S. 41f. und 311 f. Greshake geht vom Schriftenkatalog de Plinvals aus und teilt die hier angeführten Schriften „nach seinem persönlichen Eindruck" (S. 42, Anm. 9) in drei Kategorien ein, die je nach ihrem Grad der Berührung mit dem pelagischen Denken abgestuft sind. Der Kategorie a) („Schriften, die mit ziemlicher Sicherheit Pelagius persönlich zuzuschreiben sind") ordnet Greshake neben den unbestritten echten Schriften die von Evans untersuchten Schriften zu, darüber hinaus auch noch den Uber de induratione cordis Pharaonis sowie die Epislula ad Marcellam. Sieht man einmal von Greshakes „persönlichem Urteil" ab, so sucht man in seinen knappen Ausführungen vergeblich nach Argumenten, mit welchen sich ein in dieser Weise erweiterter Schriftenkatalog rechtfertigen läßt. So bei Bohlin, Die Theologie des Pelagius. Vgl. Greshake, Gnade als konkrete Freiheit, S. 53: „Pelagius will zwar Interpret der Heiligen Schrift sein, und deswegen spielt auch der Text der Hl. Schrift in seinen Ausführungen eine entscheidende Rolle. Und doch setzt er sehr oft mit einer rational-philosophischen Beweisführung ein, d. h. mit der Erhebung der 'Schöpfiingsweisheiten', für die er dann in einem zweiten Schritt die Bestätigung und Weiterfiihrung aus der Hl. Schrift sucht und anführt". -

18

Einleitung

jedoch auch darin zuzustimmen, wenn er in der Forschung ,,[n]eue Orientierungen zur Paulusexegese des Pelagius" 7 beobachten will. In seiner Studie zu Pelagius' Lehre der „Christian Initiation" ordnet Garcia-Sanchez einzelne Passagen aus Pelagius' Pauluskommentar in den Kontext zeitgenössischer theologischer Diskussionen ein und erschließt auf diese Weise weitere, bisher unberücksichtigte Tiefenschichten der pelagischen Exegese 8 . Ferner ist hinzuweisen auf die englische Übersetzung des pelagischen Römerbriefkommentares von Theodore de Bruyn*. Im Einleitungsteil seiner Übersetzung zeichnet de Bruyn die biographischen, literar- und kirchengeschichtlichen Bedingungen nach, deren Einflüsse sich im Römerbriefkommentar niederschlagen. Ein reichhaltiger Anmerkungsteil zur Übersetzung gibt Hinweise zu einzelnen Problemen der pelagischen Auslegung und informiert über die Quellen, die Pelagius für seine Auslegung berücksichtigt hat oder eingesehen haben könnte. Schließlich wird man in der bereits mehrfach erwähnten Studie Tauers einen weiteren Beleg für eine neue Tendenz in der Pelagiusforschung erblicken dürfen, die einen sorgfältigeren Umgang mit den Quellen anstrebt, indem stärker historische und kulturelle Einflüsse für die Interpretation der Texte veranschlagt werden. Vor diesem Hintergrund legt es sich nahe, einer Studie über die Ekklesiologie des Pelagius, die sich zudem im wesentlichen auf die Expositiones stützt, Überlegungen voranzustellen, in denen (a) die Auswahl der herangezogenen Quellen sowie (b) die methodischen Grundsätze der Interpretation erläutert werden. a. Die Schriften des Pelagius Eine Schrift kann dann zweifelsfrei Pelagius zugewiesen werden, wenn sie zwei Kriterien erfüllt. Zum einen muß sich aus den antiken Quellen belegen lassen, daß Pelagius eine derartige Schrift verfaßt hat. Zum anderen muß man durch Zitate bei anderen Autoren den Nachweis führen können, daß die in

7

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Auch wenn Greshake mit dieser These den biblischen Text einem vorgegebenen Konzept („Schöpfungsweisheiten") unterordnet, so wäre angesichts des Umstandes, daß „der biblische Text in seinen [d. h. des Pelagius] Ausführungen eine entscheidende Rolle" spielt (ebd.), angebracht, daß biblischer Text und Pelagius' Kommentar dazu stärker zusammengesehen werden. Greshake trägt dem allein in der Zitationsweise der Expositiones Rechnung, bei der er neben der Stellenangabe aus Souters Ausgabe auch den biblischen Text nennt, auf den die zitierte Auslegung bezogen ist. Sein konkreter Umgang mit den Expositiones bleibt jedoch von seinen Einsichten zum Zusammenhang von Bibeltext und pelagischer Interpretation unberührt, wie nicht zuletzt Greshakes grobe Fehldeutung der für die Gesamtanlage seiner Untersuchung so wichtigen Pelagiusauslegungen von Eph 4,21 und Kol 3,10 hinreichend deutlich machen (vgl. hierzu oben, S. 3, Anm. 11). So der Titel von Tauers Studie (vgl. oben, S. 17, Anm. 1). Besonders gelungen ist Garcia-Sanchez' Interpretation der pelagischen Auslegung von 2 Tim 2,20 (vgl. ders, Pelagius and Christian Initiation, S. 114f ), zu der Garcia-Sanchez auch die Auslegung des Ambrosiaster berücksichtigt. Theodore de Bruyn, Pelagius' Commentary on St Paul's Epistle to the Romans. Translated with Introduction and Notes, Oxford 1993.

2. Die Quellen und ihre Interpretation

19

Blick genommene Schrift mit einem in den zeitgenössischen Quellen erwähnten pelagischen Werk identisch ist. Mit Hilfe dieser beiden Kriterien hat man drei Schriften aus der Pseudo-Hieronymus-Überlieferung als Werke des Pelagius identifizieren können (Expositiones, Epistula ad Demetriadem, Libellus fidei). Vom übrigen Schrifttum des Pelagius ist uns nur das erhalten, was als Zitate in den Schriften der Pelagiusgegner Uberkommen ist. Diese Fragmente bilden mit den bereits erwähnten drei vollständig erhaltenen Werken das Corpus der unbestritten echten Pelagiusschriften. Im Zusammenhang mit dem pelagischen Schrifttum ist noch ein weiteres zu berücksichtigen. 1934 hat George de Plinval eine Liste von 22 Schriften veröffentlicht, die er aufgrund sprachlicher, stilistischer und inhaltlicher Merkmale Pelagius zuschreibt10. De Plinval hat damit die Diskussion um die Dubia im pelagischen Schrifttum eröffnet, die bis heute weitergeführt worden ist, ohne daß sie zu einem befriedigenden Ergebnis gelangt ist. Bevor jedoch erörtert wird, welche Dubia in die vorliegende Arbeit einbezogen werden sollen, soll ein kurzer Überblick über die unbestritten echten Pelagiusschriften gegeben werden, bei dem auch die biographischen Entstehungsbedingungen für die einzelnen Schriften berücksichtigt werden. a . Die unbestritten echten Pelagiusschriften" Über das Frühwerk des Pelagius informiert uns der gallische Literaturhistoriker Gennadius von Marseille in seinem Werk De viris inlustribus12. Demnach hat Pelagius, „bevor er als Häretiker bekannt geworden ist", die Schriften De fide trinitatis sowie Uber eclogarum verfaßt". Von der zweiten Schrift sind uns Zitate bei Hieronymus und Augustin überliefert' 4 . Es handelt sich bei diesem Werk um eine Sammlung von Schriftstellen, die als Argumente für eine zu Beginn eines jeden Kapitels formulierte These dienen. Formales Vorbild

"' "

George de Plinval, Recherches sur l'œuvre littéraire de Pélage, in: RPh 60 (1934), S. 1-42. Einen ausgezeichneten Überblick über das pelagische Schrifttum gibt Flavio G. Nuvelone, Pélage et pélagianisme, I: Les écrivains, in: DSp 12,2 (1986), S. 2889-2923, dort S. 28982901. Die unbestritten echten Pelagiusschriften listet Nuvelone unter 2) - 15) auf, bei den Nummern 1) sowie 16) - 23) handelt es sich um Dubia. - Die historischen Entstehungsbedingungen der meisten echten Pelagiusschriften werden äußerst fundiert analysiert bei Otto Wermelinger, Rom und Pelagius. Die theologische Position der römischen Bischöfe im pelagianischen Streit in den Jahren 411-432 (PuP 7), Stuttgart 1975.

12

Dieses Werk, das als Fortsetzung der gleichnamigen Schrift des Hieronymus konzipiert worden ist, hat Gennadius gegen 477/78 vollendet. Zu Autor und Werk siehe Charles Pietri, Gennadius von Marseille, in: TRE 12 (1984), S. 376-378. Gennadius, De vir. ini. XCIII, TU 14,1, S. 77,16-21: Pelagius haeresiarches, antequam proderetur haereticus, scripsit studiosis necessaria: très De fide Trinitatis libros et pro actuali conversatione Eclogarum ex Divinis Scripturis librum unum capitulorum indiciis in modum sancti Cypriani martyris praesignatum.

"

14

Hieronymus, Dialogi adv. Pelag. I 26-33 (CChr.SL 80, S. 33-41); Augustin, De gest. Pelag. 3,6f. (CSEL 42, S. 42,57-59).

20

Einleitung

sind Cyprians Testimoniensammlungen Ad Quirinum und Ad Fortunatum'5. Nach Gennadius liegt der thematische Schwerpunkt des Uber eclogarum bei Fragen des praktischen Lebensvollzuges16. Auch Pelagius' zweites exegetisches Werk, die Expositiones XIII epistularum Pauli, ist noch vor Beginn des pelagianischen Streites entstanden. Pelagius hat dieses Werk zwischen 405 und 410 verfaßt'7. Dieser Kommentar, dessen Echtheit sich durch einen Vergleich mit hieraus entnommenen Zitaten in Schriften von Augustin und Marius Mercator nachweisen läßt, hat bis 430 weitere Überarbeitungen erfahren. Alexander Souter ist es in seiner 1922-26 erschienen Edition weitgehend gelungen, den Kommentar in seinem ursprünglichen Zustand zu rekonstruieren18. Im Jahre 410 verläßt Pelagius Rom und siedelt nach Palästina über. Schon nach kurzer Zeit kommt es zu einer ersten theologischen Kontroverse zwischen Pelagius' Schüler Caelestius und dem nordafrikanischen Klerus, die durch die kirchliche Verdammung der caelestinischen Interpretation der Kindertaufe auf dem Konzil von Karthago 411 zu einem vorläufigen Abschluß gelangt. Da bekannt ist, daß Caelestius Schüler des Pelagius ist, fällt mit dessen Verurteilung auch ein Schatten auf Pelagius selbst. In der Folgezeit geraten die von ihm vertretenen theologischen Auffassungen zunehmend in die Kritik". Diese Entwicklung beeinflußt in wachsendem Maße seine schriftstellerische Tätigkeit seit dieser Zeit. Schon in der ersten größeren Schrift, die Pelagius nach seinem Weggang aus Rom verfaßt hat, der um 413 entstandenen Epistula ad Demetriadem, scheint er bemüht zu sein, der aufkommenden Kritik an seiner Theologie entgegenzuwirken. Pelagius hat diesen Brief auf Bitten der römischen Aristokratin Proba und deren Tochter Juliana verfaßt. Anlaß für dieses Schreiben stellt der Entschluß von Julianas Tochter Demetrias dar, das Gelübde lebenslanger Keuschheit abzulegen. Pelagius soll in diesem Brief Weisungen für die von ihr gewählte asketische Lebensform geben20. Im Anschluß an ein didaktisches Schema, das er bei seiner Lehrtätigkeit zu verwenden pflegt, stellt er den praktischen Weisungen einen längeren theoretischen 15

Diese beiden Schriften sind von R. Weber ediert in CChr.SL 3, S. 3-179 sowie S. 181-216. Gennadius, De vir. inl. XCIII, T U 14,1, S. 77,18f.: ... et pro actuali conversatione

Eclogarum

ex Divinis Scripturis librum unum ... "

Siehe hierzu de Bruyn, Pelagius' Commentary, S. lOf. Terminus

ante quem

stellt Rufins

Übersetzung des Römerbriefkommentares von Origenes dar, die man auf 4 0 3 - 4 0 6 datiert. Terminuspost 18

quem ist Pelagius' Flucht aus Rom um 410.

A u f die Textgeschichte der Expositiones

sowie einzelne Probleme von Souters Edition wird

weiter unten (S. 3 2 f f ) noch ausführlich eingegangen. "

In seiner 4 1 1 / 4 1 2 entstandenen Schrift De peccatorum parvulorum

meritis et remissione

et de

kommentiert Augustin kritisch einige Passagen aus den Expositiones,

baptismo ohne je-

doch die Orthodoxie des Pelagius in Frage zu stellen. Seit 4 1 4 wird Pelagius offen der Häresie bezichtigt. A l s erster beschuldigt Hieronymus Pelagius der Häresie, 415 schließt sich auch Augustin diesem Vorwurf an. Siehe hierzu Wermelinger, Rom und Pelagius, S. 21-23; 35-56. 2

"

Neben Pelagius waren auch Hieronymus und Augustin gebeten worden, Demetrias zu schreiben. Zum ganzen siehe Brinley Roderick Rees, The letters of Pelagius and his followers, Woodbridge 1991, S. 29-35.

2. Die Quellen und ihre Interpretation

21

Teil voran, in dem er die Grandsätze seiner Anthropologie entfaltet. Die Ausführlichkeit, mit der Pelagius die Bedeutung des liberum arbitrium erläutert, sowie die sorgfältige Behandlung von möglichen Einwürfen gegen seine Erläuterungen erwecken den Eindruck, daß er mit diesem Schreiben nicht nur Demetrias eine Wegweisung für die von ihr gelobte lebenslange Jungfräulichkeit geben, sondern zugleich auch seine Kritiker beschwichtigen will. Mit dem in den ersten Kapiteln seines Briefes ausführlich erörterten Thema, der Anthropologie, beschäftigt sich Pelagius' Schrift De naturaOffensichtlich handelt es sich bei dieser Schrift um ein Werk, das innerhalb seines Schülerkreises kursiert und nicht für die Veröffentlichung bestimmt gewesen ist. Zwei seiner Schüler, Timasius und Jacobus, haben 415 Augustin eine Kopie dieses Werkes überreicht 22 . Augustin verfaßt daraufhin seine Widerlegungsschrift De natura et gratia, durch die er Pelagius' Ansichten einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht. Wann Pelagius De natura ausgearbeitet hat, ist unklar. Bis vor kurzem ist man davon ausgegangen, daß dieses Werk bereits eine Reaktion auf Hieronymus' Angriffe gegen Pelagius darstellt, die jener in seinem Ktesiphonbrief sowie dem Prolog seines Jeremiaskommentares erhoben hat23. Neuerdings hat Yves-Marie Duval die erwägenswerte These aufgestellt, daß De natura auf 405/06 zu datieren sei; in diesem Falle wäre De natura Beleg für ein römisches Vorspiel des pelagianischen Streites vor 41124. Während im Hinblick auf De natura noch viele Fragen offen bleiben, sind wir über die Entstehungsbedingungen von Pelagius' zweitem größeren Werk zur Anthropologie, der uns fragmentarisch überkommenen Schrift Pro libero arbitrio, recht gut informiert. Pelagius verfaßt dieses Werk nach seinem Freispruch vor dem Konzil in Diospolis (Ende 415). Offensichtlich ist er der Ansicht gewesen, daß das Verfahren vor dem Konzil zu viele Fragen zu seiner Theologie unbeantwortet gelassen hat; von daher wird er wohl kaum erwartet haben, daß die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verstummen würden. Aus diesem Grunde bemüht er sich nun, in verschiedenen Publikationen seinen theologischen Standpunkt zu präzisieren25. Die Schrift Pro libero arbitrio stellt das umfangreichste Werk hier-

Fragmente von De natura sind erhalten in Augustins Schrift De natura et gratia (CSEL 60, S. 233-299). Eine Edition der Fragmente von De natura sowie der ebenfalls nur fragmentarischen späteren pelagischen Schrift Pro libero arbitrio wird derzeit von Dr. Winrich Löhr vorbereitet. Dr. Löhr hat darüber auf dem Oxforder Patristikkongress referiert. Das Manuskript seines unveröffentlichten Vortrages hat mir Dr. Löhr freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Eine größere Untersuchung, die die Ergebnisse des Oxforder Vortrags aufgreift und weiterführt, wird demnächst in den Recherches augustiniennes erscheinen. Siehe hierzu Wermelinger, Rom und Pelagius, S. 39f. Siehe aaO., S. 40. Duval, La date du „De natura" (vgl. oben, S. 12, Anm. 33). Kritisch zu Duval äußert sich Tauer, Neue Orientierungen, S. 357f., ohne jedoch Duvals Datierungsvorschlag grundsätzlich zu verwerfen. In seinem Vortrag auf dem Oxforder Patristikkongress stimmt W. Löhr (vgl. oben, Anm. 21) Duval zu. Vgl. Wermelinger, Rom und Pelagius, S. 83.

22

Einleitung

von dar26. Von diesen Publikationen sind ferner Äußerungen aus einem Brief an seine Schüler27 sowie einige Sätze aus dem Schreiben an einen befreundeten Presbyter28 erhalten. Pelagius ist es mit diesen Schriften jedoch nicht gelungen, seine Kritiker zu beruhigen. In Nordafrika erneuern die 416 abgehaltenen Konzile von Karthago und Mileve die Verurteilung des Caelestius. Zugleich werden Briefe an Papst Innozenz verfaßt, in denen die Bitte geäußert wird, Pelagius und Caelestius die Verurteilung anzudrohen, falls sie an ihrer Identifikation von Natur und Gnade festhalten. Dadurch soll der wachsenden Verbreitung der pelagianischen Lehre Einhalt geboten werden2'. In seiner Antwort bestätigt Innozenz die Verurteilung der pelagianischen Lehre als Häresie, räumt aber Pelagius und Caelestius die Möglichkeit ein, durch einen Widerruf Wiederaufnahme in die kirchliche Gemeinschaft zu erlangen30. In dieser Situation sind die beiden letzten uns erhaltenen Schriften des Pelagius entstanden, ein kurzer Brief an Innozenz", dem ein Glaubensbekenntnis (Libellus fidei)*1 beigelegt ist. Mit diesen beiden Schriften will Pelagius gegenüber Innozenz deutlich machen, daß sich seine Theologie fest im Rahmen der Orthodoxie bewegt. Während der Libellus fidei sehr breit angelegt ist und die umstrittenen Themen, derentwegen er in den Verdacht der Häresie geraten ist, nur relativ kurz behandelt, geht er in seinem Begleitschreiben recht detailliert auf einige gegen ihn erhobene Vorwürfe ein". ß. Dubia Pelagius' schriftstellerische Tätigkeit steht in engem Zusammenhang mit seinem Wirken als geistiger Mentor der stadtrömischen Aristokratie. So liegt ein deutlicher Themenschwerpunkt seiner Schriften im Bereich der moralischen Unterweisung und Exegese. Seine Schüler sollen dadurch Anweisung für einen gottgemäßen - und das heißt im Sinne des Pelagius: schriftgemäßen - Lebenswandel erhalten. Wie man an der Entstehungsgeschichte der Schrift De natura ablesen kann, schließt Pelagius' Lehrtätigkeit darüber hinaus auch die Erörterung theologischer Grundsatzfragen ein. Im Unterschied zu dem Publi26

27

2

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3

11

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Fragmente von Pro libero arbitrio sind uns Uberkommen in Augustins Schrift De grat. Chr. et de pecc. orig. (CSEL 42, S. 125-206). Zitate aus Pelagius' Epistula ad discípulos sind Uberliefert bei Augustin, De grat. Chr. et de pecc. orig. (CSEL 42, S. 177f.). Zitate aus der pelagischen Epistula ad amicum suum quondam presbyterum finden sich bei Augustin, De gest. Pel. 30,54 (CSEL 42, S. 107). Nicht erhalten ist uns Pelagius' Chartula defensiortis, eine kommentierte Edition der Konzilsakten von Diospolis. Zu diesem Werk siehe Wermelinger, Rom und Pelagius, S. 83f. Zum ganzen siehe Wermelinger, Rom und Pelagius, S. 94ff. Siehe hierzu aaO., S. 126ff. Zitate aus der Epistula ad Innocentium finden sich bei Augustin, De grat. Chr. et pecc. orig. (CSEL 42, 125-206). Libellus fidei, MPL 45, Sp. 1716-1718. Siehe hierzu Wermelinger, Rom und Pelagius, S. 39f.

2. Die Quellen und ihre Interpretation

23

kationstalent Hieronymus, der es verstanden hat, die Schriften für seine Schüler der breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen", scheint Pelagius jedoch nicht so stark an einer Veröffentlichung seiner Schriften interessiert gewesen zu sein. Möglicherweise hat Pelagius nur bei den von Gennadius erwähnten Frühschriften {De fide trinitatis; Eclogarum Uber), der Epistula ad Demetriadem sowie seinen apologetisch motivierten Schriften (Pro libero arbitrio; Chartula defensionis; Libellus fldei; Epistula ad Innocentium) eine Veröffentlichung gewünscht. Seine übrigen Schriften scheinen dagegen ausschließlich fiir seine Schüler und Freunde bestimmt zu sein. Aus diesem Grunde hat Pelagius hier offensichtlich auch auf eine ausdrückliche Verfasserangabe verzichtet; die Empfanger dieser Schriften sind sich ja seiner Verfasserschaft bewußt und werden daher auch im Fehlen einer Autorenangabe keinen Mangel empfunden haben". Der anonyme Charakter einiger Pelagiusschriften hat es dann seinen Anhängern später ermöglicht, nach der Verdammung des Pelagius einige seiner Schriften vor der Vernichtung zu bewahren. Da eine ausdrückliche Verfasserangabe gefehlt hat, konnten sie nun über das Werk den Namen eines anerkannt orthodoxen Schriftstellers setzen und es unter dessen Namen weitergeben. Auf diese Weise sind dann vermutlich die drei uns vollständig erhaltenen Pelagiusschriften in die Hieronymusüberlieferung eingegangen36. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus denkbar, daß uns innerhalb des anonymen Schrifttums jener Zeit noch andere Pelagiusschriften überkommen sind, die wegen ihrer begrenzten Verbreitung innerhalb des pelagischen Schülerkreises weder den Pelagiusgegnem noch einem späteren Literaturhistoriker wie Gennadius bekannt geworden sind. Diese Überlegung bildet den Ausgangspunkt fiir die literarkritischen Arbeiten George de Plinvals, deren Ergebnisse dieser 1934 veröffentlicht hat. Grundlage seiner Studien stellt das Schrifttum des Pseudo-Hieronymus, Pseudo-Augustin und Pseudo-Ambrosius dar, das er auf mögliche Pelagiusschriften hin durchgegangen ist. Bewertungskriterien für die Erhebung einer echten Pelagiusschrift sind für ihn Stil, Sprache und Theologie des Pelagius. Um die Echtheit der von ihm untersuchten anonymen Schriften zu erweisen, bedient sich de Plinval einer kumulativen Vergleichsweise. Demnach wird eine Schrift, deren Echtheit durch einen Vergleich mit einer Pelagiusschrift erwiesen worden ist, als Material für den Exemplarisch läßt sich dies an den Briefen des Hieronymus anschaulich machen. Nach Georg Grützmacher (Hieronymus. Eine biographische Studie zur Alten Kirchengeschichte, Erste Hälfte: Sein Leben und seine Schriften bis zum Jahre 385 [SGKT 6], Berlin 1901, S. 10) hat Hieronymus ,,[n]ur seine älteren Briefe, die aus Antiochia und der Wüste an eine Reihe von Privatpersonen gerichtet sind, ... ohne die Absicht einer literarischen Verbreitung konzipiert. Alle späteren Briefe, die uns erhalten sind, sind nicht nur für die Adressaten, sondern für die Mit- und Nachwelt geschrieben". Hieronymus hat die Verbreitung seiner Briefe für ein interessiertes Publikum dadurch gefördert, daß er sie als Sammlungen veröffentlicht hat (vgl. hierzu aaO., S. 21-28). Vgl. hierzu de Plinval, Recherches sur l'œuvre littéraire de Pélage, S. 9f. AaO., S. 10.

24

Einleitung

Nachweis anderer Schriften herangezogen. Auf diese Weise vermehrt de Plinval ständig seine Quellenbasis, was den Echtheitsnachweis anderer Schriften zunehmend erleichtert. Nach dieser Methode ermittelt er ein kleines Schriftencorpus, das, neben den drei bekannten vollständig erhaltenen Pelagiusschriften noch achtzehn weitere Schriften umfaßt, die nach seiner Ansicht von Pelagius verfaßt worden sind". In der Tat zeichnen sich die verschiedenen Schriften dieses Corpus durch eine Sprache und Theologie aus, die auf eine gemeinsame Herkunft aus dem pelagianischen Milieu schließen lassen. Die Frage, ob jedoch die von de Plinval beobachteten Ähnlichkeiten ausreichen, um all diese Schriften Pelagius zuzuweisen, ist nach dem Erscheinen von de Plinvals Untersuchung immer wieder aufs neue gestellt worden. Zu den ersten Kritikern de Plinvals zählt Ivo Kirmer. In seiner 1938 erschienenen Dissertation18, die sich mit den von de Plinval untersuchten Schriften beschäftigt, stellt Kirmer dessen Ergebnisse grundsätzlich in Frage. Seine Kritik zielt vor allem auf zwei Punkte. Zum einem zweifelt er die Zuverlässigkeit von de Plinvals Methode an. Dessen Verfahren, als echt eingeschätzte Schriften sogleich zum Echtheitsnachweis für andere Schriften heranzuziehen, birgt nämlich die Gefahr in sich, daß im Falle eines Fehlers das Gesamtergebnis verfälscht wird. Denn ,,[b]ei der Art dieses Verfahrens muß sich ... ein Irrtum in der Bestimmung eines Verfassers auf alle übrigen untersuchten Werke auswirken"". Um einen derartigen Fehler zu vermeiden, ist es vielmehr notwendig, ,jede Schrift einzeln mit den sicher echten Werken des Pelagius zu vergleichen. Nur auf diese Weise kann mit Sicherheit festgestellt werden, ob die Schriften Pelagius zugehören oder ob ein anderer Verfasser in Betracht gezogen werden muß"40. Zudem fordert Kirmer, stärker inhaltliche Gesichtspunkte bei Echtheitsprüfungen zu berücksichtigen. „Erst wenn Inhalt und Sprache in den fraglichen Schriften übereinstimmen, kann mit Sicherheit ein und derselbe Verfasser angenommen werden" 41 . Zum anderen kritisiert Kirmer de Plinvals Auswahl der Schriften. So bezieht de Plinval u. a. auch sechs anonyme Schriften ein, die 1890 C. P. Caspari ediert hat42. Casparis Untersuchung dieser Schriften hat ergeben, daß diese sechs Werke eng zusammengehören und zudem inhaltlich und sprachlich mit dem PseudoHieronymus-Traktat De vita christiana zusammenhängen 43 . Wie uns der galli37

Vgl. hierzu aaO., S. 41 f., w o de Plinval die Ergebnisse seiner Untersuchungen zusammenfaßt. Wie Ivo Kirmer, Das Eigentum des Fastidius im pelagianischen Schrifttum, St. Ottilien Oberbayern, 1938, S. 8, hierzu anmerkt, weist de Plinval neun von diesen 18 anonymen Schriften Pelagius erstmals zu.

3

Kirmer, Das Eigentum des Fastidius (vgl. oben, Anm. 37).

M

AaO., S. 9.

*

4,1

Ebd.

41

Ebd.

42

Carl P. Caspari, Briefe, Abhandlungen und Predigten aus den zwei letzten Jahrhunderten des kirchlichen Altertums und dem Anfang des Mittelalters, Christiania 1890.

43

AaO., S. 2 2 3 - 3 8 9 .

2. Die Quellen und ihre Interpretation

25

sehe Literaturhistoriker Gennadius mitteilt, hat der britische Bischof Fastidius eine Schrift mit gleichem Namen verfaßt44. Daher hat bereits 1902 Julius Baer den Versuch unternommen, durch eine sprachliche Analyse des Corpus Caspari und von De vita Christiana Fastidius als den Verfasser dieser sieben Schriften zu erweisen45. De Plinval hingegen schreibt De vita Christiana sowie fünf der sechs Schriften des Corpus Caspari Pelagius zu46. Wie Kirmer darlegt, hat bereits zur Zeit des Pelagius Zweifel über dessen Verfasserschaft von De vita Christiana bestanden. Hieronymus und offensichtlich andere Zeitgenossen haben Pelagius diese Schrift zugesprochen. Von daher läßt es sich erklären, daß ein in De vita Christiana formuliertes Gebet in die Anklageschrift des in Diospolis durchgeführten Verfahrens gegen Pelagius einfließen konnte. Als er mit diesen Sätzen konfrontiert wird, leugnet er ausdrücklich, sie jemals geäußert zu haben. Dieses Zeugnis hat Augustin dazu bewogen, über eine mögliche pelagische Verfasserschaft von De vita Christiana sehr viel vorsichtiger zu urteilen. „Während Hieronymus die Stelle vom Gebet kategorisch Pelagius zuschreibt, läßt Augustinus die Möglichkeit offen, es könnten auch Schriften vorhanden sein, die unter dem Namen des Pelagius gingen, in Wirklichkeit aber gar nicht von Pelagius stammen müßten"47. Kirmer sieht darin einen hinreichenden Grund, die Echtheit von De vita Christiana zumindest offen zu halten48. Das Zeugnis des Gennadius sowie sachliche und stilistische Merkmale dieser Schrift lassen Kirmer schließlich zu der Schlußfolgerung gelangen, daß De vita Christiana nicht Pelagius, sondern Fastidius zuzuweisen sei4'. Kirmer zufolge sind auch die sechs Schriften des Corpus Caspari sowie fünf weitere, von de Plinval als pelagisch eingeschätzte Schriften Fastidius zuzuschreiben. Nach der Auffassung Kirmers reichen auch bei weiteren Schriften der von de Plinval vorgelegten Werkliste die stilistischen und inhaltlichen Merkmale nicht aus, um diese Werke Pelagius zuzuweisen50. Kirmers Untersuchung ist in der Fachwelt weitgehend ohne Resonanz geblieben. Dies wird man wohl auf die deutlichen Schwächen seiner Dissertation zurückfuhren dürfen. Obwohl seine fundamentale Kritik an de Plinvals methodischem Vorgehen berechtigt ist, gelingt es ihm nicht, mit seinen starren, bis-

44

Gennadius, De vir. inl. LVII, TU 14,1, S. 81: Fastidius, Britannorum episcopus, scripsit ad Fatalem quendam De uita christiana librum et alium de uiduitate seruanda sana et deo digna doctrina.

45

Julius Baer, De operibus Fastidii, Nürnberg 1902.

46

Siehe de Plinval, Recherches sur l'œuvre littéraire de Pélage, S. 16-23 sowie S. 41.

47

Kirmer, Das Eigentum des Fastidius, S. 18.

4

*

Vgl. aaO., S. 16-18. Ob das Zeugnis des Pelagius in Diospolis wahr oder falsch ist, wird von Kirmer nicht weiter erörtert. Ihm geht es vor allem darum, anhand der zeitgenössischen Diskussion um De vita Christiana

aufzuzeigen, daß „schon die Zeitgenossen ... in ihrer Ansicht

auseinandergehen, ob jene Stelle und der dazugehörige Brief, doch wohl V. Chr., von Pelagius verfaßt sei oder nicht" (S. 18). 49

AaO., S. 57-59.

5

Vgl. hierzu Kirmers Zusammenfassung seiner Ergebnisse aaO., S. 170-172.

"

26

Einleitung

weilen mechanisch durchgeführten stilistischen Untersuchungen eine überzeugende Alternative zu de Plinvals Studien vorzulegen. Zudem hat bereits 1934 Dom Morin die These vertreten, daß uns in einem Fragment aus einer Reichenauer Handschrift ein Teil von Fastidius' De vita Christiana überliefert ist5'. Sollte diese These zutreffen, so ist damit Kirmers Annahme einer fastidischen Herkunft von De vita Christiana die Grundlage entzogen52. Kirmer hat Morins These jedoch nicht berücksichtigt, was die Überzeugungskraft seiner Studie erheblich mindert. Nach 1938 hat die Diskussion um die Dubia für längere Zeit geruht. 1947 legt de Plinval seinen „Essai sur le style et la langue de Pelage"" vor, in dem er anhand stilkritischer Analysen die Ergebnisse seiner 1934 vorgelegten Studie zu untermauern sucht. Eine neue Belebung erfährt die Diskussion um die Dubia erst in den sechziger Jahren. 1965 veröffentlicht John Morris einen längeren Aufsatz über „Pelagian Literature", in dem er die Frage nach der Verfasserschaft der Schriften des Corpus Caspari sowie von De vita Christiana neu aufwirft54. Morris will diese Frage anhand inhaltlicher Beobachtungen klären. Entscheidendes Kriterium sind für ihn die sozialpolitischen Verhältnisse, auf die in den Schriften angespielt wird. Von daher lokalisiert Morris De vita Christiana im Britannien des Jahres 410/1155, wohingegen das Corpus Caspari von einem „Sicilian Briton" verfaßt worden sei, der von Pelagius inspiriert an den sozialen und politischen Verhältnissen Kritik übt56. Auch wenn der soziologischen Pelagiusinterpretation von Morris widersprochen worden ist57, so hat seine Studie entscheidend dazu beigetragen, der These einer nichtpelagischen Verfasserschaft des Corpus Caspari allgemeine Anerkennung zu verschaffen58. Die Diskussion um die Dubia im pelagischen Schrifttum auf eine neue Grundlage gestellt zu haben, ist das Verdienst von Robert F. Evans. In seiner 1968 erschienenen Monographie „Four Letters of Pelagius" wiederholt Evans Kirmers Kritik am methodischen Vorgehen de Plinvals59. Von den 18 Schriften, die de Plinval Pelagius zugeschrieben hat, lassen sich Evans zufolge tatsächlich nur vier (Epistula ad Celantiam, De divina lege, De vita Christiana, De virginitate) Pelagius zuweisen. Um diese These zu belegen, vergleicht Evans jede einzelne dieser Schriften mit den unbestritten echten Pelagius51

52 53

54 55 56 57 5

"

VJ

G. Morin, Fastidius ad Fatalem? Pages inédites du Ve siècle d'après le manuscrit CXXI de Reichenau, in: RBen 46 (1934), S. 3-17. Siehe hierzu Wermelinger, Neuere Forschungskontroversen, S. 210f. George de Plinval, Essai sur le style et la langue de Pélage suivi du traité inédit De induratione cordis Pharaonis (CF NS 31), Fribourg 1947. John Morris, Pelagian Literature, in: JThS.NS 16 (1965), S. 26-60. AaO., S. 34-36. AaO., S. 40f. Vgl. hierzu die kritischen Anmerkungen bei Brown, Pelagius and his Supporters, S. 184. Zum derzeitigen Forschungsstand hinsichtlich des Corpus Caspari vgl. Wermelinger, Neuere Forschungskontroversen, S. 215f. Evans, Four Letters of Pelagius, London 1968, S. 13f.

27

2. Die Quellen und ihre Interpretation

schrifiten im Hinblick auf gedankliche Parallelen, Vokabular, den Umgang mit Bibelzitaten sowie Gemeinsamkeiten in Stil und Syntax. Mit seiner methodisch fundierten Vorgehensweise gelingt es Evans, viele Gemeinsamkeiten zwischen den echten Pelagiusschriften und den von ihm untersuchten Dubia aufzuzeigen und so die Annahme einer pelagischen Verfasserschaft glaubhaft zu machen. Evans' Untersuchung ist von der Fachwelt positiv aufgenommen worden und hat dazu beigetragen, daß sich die heutige Diskussion um die Dubia allein auf diese vier Schriften konzentriert60. Obwohl Evans seine Ergebnisse sehr sorgfältig abgesichert hat, sind mehrfach Zweifel an ihrer Richtigkeit geäußert worden. Insbesondere die Annahme einer pelagischen Verfasserschaft von De vita christiana erweist sich angesichts von Pelagius' Aussage in Diospolis als höchst problematisch. Um diese Schrift Pelagius zuweisen zu können, muß Evans dementsprechend davon ausgehen, daß er vor dem Konzil gelogen hat61. Für eine derartige Annahme lassen sich m. E. jedoch keine ausreichenden Gründe finden. Bedenkt man, daß Pelagius seinen Schülern gegenüber immer wieder die Pflicht zu einem moralisch integren Lebenswandel vor Augen gehalten hat, der eine Lüge nicht zuläßt, so wird man sich eher der Einschätzung von Rudolf Lorenz anschließen, demzufolge es auszuschließen ist, „daß er [sc. Pelagius] durch eine Lüge den Kern seiner Botschaft und seiner eigenen Persönlichkeit zerstört hat"62. Spricht man De vita christiana Pelagius aufgrund seiner Aussage in Diospolis ab, so wird dadurch auch eine mögliche Verfasserschaft der drei übrigen, von Evans untersuchten Schriften erneut fraglich. Wenn es nämlich einem Schüler des Pelagius gelungen ist, mit De vita christiana eine Schrift zu verfassen, die in Stil und Inhalt den Werken des Pelagius so ähnlich ist, daß sie hiervon nicht mehr unterschieden werden kann, so muß man es für fraglich halten, „ob bei den anonymen Werken immer eine Sonderung zwischen Pelagius und dem in seinem Sinne Schreibenden möglich ist"6'. Gleichwohl ist es sinnvoll, durch weitere Untersuchungen der von Evans analysierten Schriften Hinweise auf eine mögliche pelagische oder nichtpelagi-

611

N e b e n den vier Evans-Schriften hat man auch noch eine mögliche pelagische Verfasserschaft des Traktates De induratione

cordis Pharaonis

sowie der Fragmenta

Vindenbogensia

disku-

tiert. Es kann jedoch in beiden Fällen davon ausgegangen werden, daß diese Schriften unecht sind. Zu De

induratione

S. 214; zu den Fragmenta ner pelagianischen Epistula

Pharaonis

vgl. Wermelinger, Neuere

Vindenbogensia, ad quandam

Forschungskontroversen,

die aufgrund neuerer Handschriftenfunde zu eimatronam

zusammengefügt werden konnten, siehe

Hermann Josef Frede, Vetus-Lantina Fragemente zum Alten Testament. Die Epistula ad quandam matronam Christianam (VL A G L B 28), Freiburg 1995, S. 43-55. 61

Evans, Four Letters of Pelagius, S. 18.

62

Lorenz, Z w ö l f Jahre Augustinusforschung, S. 144. Vgl. zu der Diskussion um De vita

chri-

stiana auch den guten Forschungsüberblick bei Wermerlinger, Neuere Forschungskontroversen, S. 205-213. Ebenso wie Lorenz gelangt auch Wermelinger zu dem Urteil, daß „die pelagische Verfasserschaft [sc. von De vita christiana] "

Lorenz, Z w ö l f Jahre Augustinusforschung, S. 144.

historisch nicht gesichert" ist (S. 213).

28

Einleitung

sehe Verfasserschaft zu suchen64. Obwohl derartige Untersuchungen bislang noch fehlen, scheint es mir im Anschluß an Rudolf Lorenz65 bereits schon jetzt möglich, die Epistula ad Celantiam Pelagius zuzuweisen. Wie nämlich die Studien de JPlinvals, Kirmers und Evans gezeigt haben, finden sich in diesem Schreiben eine Fülle von sprachlichen und gedanklichen Gemeinsamkeiten zu den Werken des Pelagius, insbesondere zu seiner Epistula ad Demetriadem66. Da jedoch im Hinblick auf die Echtheit der Epistula ad Celantiam derzeit noch kein Konsens besteht, soll darauf verzichtet werden, Aussagen, die die Gesamtargumentation der vorliegenden Untersuchung tragen, aus dieser Schrift zu belegen. Die zwei noch verbleibenden Dubia, deren Echtheit noch nicht bewiesen oder widerlegt worden ist {De virginitate, De divina lege) sollen hingegen ganz unberücksichtigt bleiben. Diese Entscheidung gründet vor allem auf meinen nach wie vor bestehenden Zweifeln an der Echtheit dieser Schriften. Jedoch läßt sich dieser Verzicht auch noch dadurch rechtfertigen, daß diese Schriften für den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung keine neuen Aspekte bieten; für den Fall, daß ihre Echtheit nachgewiesen werden könnte, blieben somit die Ergebnisse meiner Studie davon unberührt. Unabhängig von den Studien de Plinvals hat Celestino Martini in den dreißiger Jahren eine Reihe von anonymen Fragmenten, in denen Fragen zur Christologie und Trinitätslehre behandelt werden, auf ihre mögliche Herkunft aus Pelagius' Schrift De fide trinitatis untersucht. In einem 1938 erschienenen Aufsatz analysiert Martini vier Fragmente unter dieser Fragestellung, in seiner 1944 veröffentlichten Studie über den Ambrosiaster, in der er noch einmal auf die anonymen Fragmente eingeht, bezieht er zusätzlich zwei weitere Texte ein67. Um die pelagische Verfasserschaft nachzuweisen, geht Martini in zwei Es erscheint mir sinnvoll, bei derartigen Untersuchungen noch stärker inhaltliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen. So wäre beispielsweise zu fragen, inwieweit der Gedankengang eines pelagianischen Traktates wie De virginitate typisch pelagische Züge aufweist, bzw. ob und inwieweit sich hier Nuancen erkennen lassen, die auf eine nichtpelagische Verfasserschaft dieser Schrift hinweisen. Bevor sich jedoch derart diffizile Analysen anstellen lassen, müssen wir ein noch genaueres Bild der originär pelagischen Theologie gewinnen. Gerade die nun Uber sechzig Jahre andauernde Diskussion um die Dubia im pelagischen Schrifttum haben die Notwendigkeit einer genaueren Kenntnis von Pelagius' eigenem Denken deutlich hervortreten lassen. So hat sich von den Ergebnissen der Pionierarbeit, die George de Plinval 1934 im Hinblick auf die Z)uWa-Diskussion geleistet hat, nicht zuletzt auch deshalb nur ein so geringer Teil als tragfähig erwiesen, da de Plinval nur ein sehr grobes Bild der pelagischen Gedankenwelt besessen hat. Lorenz, Zwölf Jahre Augustinusforschung, S. 144. Vgl. de Plinval, Recherches sur l'œuvre littéraire de Pélage, S. 14-16; Kirmer, Das Eigentum des Fastidius, S. 140f.; Evans, Four Letters of Pelagius, S. 52-59; 6 4 f f ; 102f. sowie S. 105ff. Wegen der zahlreichen Parallelen zu der Epistula ad Demetriadem ist dieser Brief auf 413/414 zu datieren. Coelestinus Martini, Quattuor fragmenta Pelagio restituenda, in: Anton. 13 (1938), S. 293334; ders., Ambrosiaster. De auetore, operibus, theologia (SPAA 4), Rom 1944, S. 161-210. - Ich beziehe mich im folgenden auf die spätere Arbeit Martinis, in der er seine erste Untersuchung berücksichtigt und darüber hinaus weitere Argumente bringt.

2. Die Quellen und ihre Interpretation

29

Schritten vor. Zunächst untersucht er die Fragmente auf sprachliche und gedankliche Gemeinsamkeiten, um ihre Herkunft von einem einzigen Autor zu erweisen 68 . In diesem Zusammenhang macht Martini einige wichtige Beobachtungen, die es nahelegen, diese Fragmente in die Zeit des Pelagius einzuordnen. So wird in ihnen bereits der Vulgata-Text angeführt, zudem fällt auf, daß unter den Namen der häretischen Lehren die der Nestorianer und Eutychianer fehlen. Ausgehend von diesen Beobachtungen lassen sich die Fragmente auf einen Zeitraum zwischen 400/401 (Erscheinen der Vulgata) 6 ' und 430 (Verurteilung der Nestorianer und Eutychianer) datieren 70 . In einem zweiten Arbeitsschritt vergleicht Martini die Texte mit den unbestritten echten Pelagiusschriften. Zunächst nimmt er gedankliche Parallelen in den Blick, anschließend behandelt er Ähnlichkeiten in Stil und Sprachgebrauch 71 . Mit seinen detaillierten Ausführungen gelingt es ihm, die Nähe der Fragmente zu Pelagius aufzuzeigen und die Annahme einer pelagischen Verfasserschaft glaubwürdig zu machen. Martinis These ist daher auf allgemeine Zustimmung gestoßen und wird bis heute weitgehend akzeptiert. Auch mir erscheint der Echtheitsnachweis von Martini überzeugend. Der Umstand, daß seine Untersuchungen auf die Schrift De fide trinitatis abzielen, erleichtert m. E. die Zustimmung zu seiner These, bezieht er sich doch hier - im Unterschied zu de Plinval - auf eine Schrift, deren Existenz uns aus den antiken Quellen sicher bezeugt ist. Zum anderen spielt die in De fide trinitatis untersuchte Thematik im Pelagianismus keine größere Rolle. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich neben Pelagius ein uns unbekannter Pelagianer mit Fragen der Trinitätslehre beschäftigt hat, ist somit eher gering, was eine Zuschreibung an Pelagius eine größere Plausibilität verleiht. Freilich bin ich im Hinblick auf die Echtheit des zweiten Fragmentes, einer pseudo-augustinischen Predigt 72 , noch im Zweifel. Da dieser Text einer Predigtsammlung entstammt, wäre zu prüfen, ob es sich dabei nicht tatsächlich um ein Predigtexzerpt handeln könnte. Doch auch wenn man die Frage nach der literarischen Gattung dieses Fragmentes beiseite läßt, so sind m. E. die von Martini angeführten Argumente nicht aussagekräftig genug, um die Annahme einer pelagischen Verfasserschaft überzeugend zu stützen. Auch sein Hinweis, daß der Verfasser dieses Fragmentes ebenso wie Pelagius Paulus als Autor des Hebräerbriefes ansieht 73 , kann kaum als überzeugendes Argument für eine Zuschreibung des Fragmentes an Pelagius angesehen werden. 68 m

70 71 72

73

Martini, Ambrosiaster, S. 164-170. Martini, Ambrosiaster, S. 170, datiert die Vulgata-Edition der Paulusbriefe auf das Jahr 383. Dem derzeitigen Forschungsstand zur Geschichte der Vulgata folgend (vgl. hierzu unten, S. 35ff), wird man dieses Datum zu korrigieren haben und die Jahre 399/400 als den terminus post quem für die Datierung von De fide trinitatis ansehen dürfen. AaO., S. 170. AaO., S. 170-186. Pseudo-Augustin, Sermo 246, MPL 39, Sp. 2198-2200, abgedruckt bei Martini, Ambrosiaster, S. 194-197. AaO., S. 172.

30

Einleitung

Martini hat hier nämlich als Beleg für Pelagius' Auffassung den Prolog der Expositiones vor Augen, der, wie neuere Forschungen erwiesen haben, nicht aus der Feder des Pelagius stammt74. Aus den genannten Gründen sehe ich das Fragment 2 als unecht an75, wohingegen ich die Fragmente 1 sowie 3-6 als genuin pelagische Äußerungen verstehe, die der Schrift De fide trinitatis entstammen 76 . b. Die Expositiones

als Quelle für die Theologie des Pelagius

In den meisten seiner erhaltenen Werke zeigt sich Pelagius uns als Schrifttheologe. So sind schon die beiden exegetischen Werke Expositiones und Eclogarum Uber ein deutlicher Beleg für sein Interesse an der Schrift. Aber auch wenn man diese Werke außer acht läßt und in seine übrigen Schriften blickt, fällt auf, wie stark er sich auf die Bibel bezieht. So verwendet er in seiner Argumentation eine Fülle von Schriftzitaten, ja gelegentlich werden dem Leser Aussagen in Form von Exegesen biblischer Texte dargeboten77. Angesichts dieser Vorliebe für eine stark schriftbezogene Argumentationsweise stellt sich dem modernen Interpreten, der vor allem an Pelagius' Theologie interessiert ist, die grundsätzliche Frage, inwieweit sich seine Schriftauslegungen als Ausdruck seiner eigenen Theologie werten lassen. Für die vorliegende Untersuchung ist diese Frage von besonders großer Bedeutung, da uns als wichtigste, ja nahezu einzige Quelle für die pelagische Ekklesiologie nur sein exegetisches Hauptwerk, die Expositiones XIII epistularum Pauli, zur Verfügung steht. Blickt man zunächst auf die Verwendung biblischer Aussagen in

Siehe hierzu unten, S. 35ff. In ähnlicher Weise urteilt Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals, S. 158, Anm. 6: „The Pelagian authorship of Fragmentum 2 in the same Migne Supplement ... has not been established". Evans scheint allerdings nur Martinis Aufsatz von 1938 eingesehen zu haben, nicht jedoch dessen späteren Beitrag von 1944. Gleichwohl ist m. E. Evans in der Sache recht zu geben. Die pelagische Verfasserschaft der fünf Fragmente erkennt auch Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals, S. 158f., Anm. 6f. an. Evans will jedoch nur die Fragmente 1, 4 und 5 dem Werk De fide trinitatis entnommen wissen. Im Hinblick auf die Fragmente 3 und 6 äußert er Bedenken: „The fragments do not really concern the Trinitarian problem, and I venture the hypothesis that they are from an unknown work of Pelagius on Christology. It is not unlikely that Pelagius would have written such a work, which would have formed a parallel to that in the Trinity." Obwohl man diese These nicht grundsätzlich wird verwerfen können, erscheint mir Evans' Argumentation wenig überzeugend. Immerhin hat De fide trinitatis ursprünglich einen Umfang von drei Büchern besessen. So ist es durchaus nicht ausgeschlossen, daß Pelagius hier auch kleinere Exkurse eingefügt hat, in denen er sich mit Themen beschäftigt, die nur im weiteren Sinne mit der Tritinitätslehre zu tun haben. Vgl. z. B. Ad Dem. 16f., Sp. 30-32. Pelagius legt hier die Bibelverse Phil 2,14f. aus, die er am Ende des vorangehenden Kapitels (vgl. Sp. 30A) zitiert hat. Auch in seinen stärker systematisch orientierten Schriften operiert Pelagius mit einer Fülle von Schriftzitaten. So verarbeitet Pelagius in einem so relativ kurzen Text wie De fide trinitatis, Fragm. 4 (MPL Sup. 1, Sp. 1549-1554) 39 Schriftzitate.

2. Die Quellen und ihre Interpretation

31

Pelagius' moralischen und systematischen Schriften, so läßt sich beobachten, daß er biblische Aussage und Argumentation sehr eng verflicht. Dabei kann der biblische Text ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen18. Häufig wird eine vorangestellte These mittels eines Bibelzitates belegt" oder durch eine ausführliche Exegese des zitierten biblischen Textes expliziert80; gelegentlich wird auch die Argumentation durch die ausfuhrliche Exegese eines biblischen Textes weitergeführt". Trotz der Fülle an Bibelzitaten und Anspielungen auf biblische Aussagen verlieren Pelagius' Argumentationen nicht ihre Klarheit und Durchsichtigkeit. Denn Pelagius zeigt sich bemüht, die verschiedenen Aussagen der Schrift zu systematisieren und sie zu einem Ganzen zu synthetisieren, so daß sie sich zu dem einen, widerspruchslosen Gotteswort zusammenfugen, dem alle Christen gehorsam sein sollen82. Um eine derartige Systematisierung leisten zu können, operiert Pelagius in seiner Schriftauslegung mit feststehenden Leitgedanken, in deren Licht er die einzelnen biblischen Aussagen interpretiert. Insofern in diesen Leitgedanken seine wesentlichen theologische Grundüberzeugungen zum Ausdruck kommen, wird man die Frage, ob man aus den Bibelauslegungen seine Theologie ermitteln kann, positiv beantworten dürfen. Der moderne Interpret muß dazu Pelagius' Schriftauslegung auf die jeweiligen Leitgedanken hin befragen, die diesen bei seiner Deutung des biblischen Textes bestimmen.



Das enge Ineinandergreifen von Bibeltext und Argumentation tritt in der Epistula ad Demetriadem besonders deutlich hervor. Die folgenden Beispiele sind daher diesem Schreiben entnommen.

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Vgl. Ad Dem. 2, Sp. 17 B/C: Hier zitiert Pelagius Dtn 30,19, um seine These der menschlichen Entscheidungsfreiheit zu belegen. In Ad Dem. 26 (Sp. 41B) erörtert Pelagius die Gefährlichkeit von Gedankensünden. Hierzu stellt er die These auf, daß die sündigen Gedanken die eigentliche Quelle sündhafter Taten sind, da der Mensch vor der Ausführung der Tat den Plan zum Handeln im Geist entwirft. Als Beleg für seine These dient ihm der Lasterkatalog, Mt 15,19f., der mit der Aussage eingeleitet wird, daß schlechte Gedanken aus dem Herzen der Menschen hervorgehen.

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Repräsentativ für einen derartigen Gebrauch der Bibel sind Pelagius' Ausführungen in Ad Dem. 12, Sp. 27 B-D. Den Unterschied zwischen der verheirateten Frau und der Jungfrau, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat, expliziert Pelagius hier anhand einer Exegese von 1 Kor 7,32-34. Siehe hierzu Ad Dem. 16f., Sp. 30A-32A. Seine Mahnung zu einem gottgefälligen Lebenswandel führt Pelagius hier anhand einer ausführlichen Exegese von Phil 2,14f. aus, einem Text, den er am Ende des vorangehenden Kapitels Ad Dem. 15 (Sp. 30A) zitiert hat.

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Vgl. hierzu de Plinval, Pélage, S. 200f. De Plinval charakterisiert hier den „esprit synthétique", den Pelagius' Umgang mit der Schrift bestimmt: „ ... Pélage s'est efforcé d'expliquer les exigences divines en les ramenant à quelques principes généraux: il a voulu ériger en système la morale de 1' Evangile" (aaO., S. 201). Ergänzend zu de Plinval ist noch hinzuzufügen, daß Pelagius' Tendenz, die Aussagen der Schrift zu systematisieren und zu einem Ganzen zu synthetisieren, nicht nur bei seinen moralischen Unterweisungen, sondern auch in seinen systematischen Werken zum Tragen kommt. So wird Pelagius' Nachweis der Einheit der drei göttlichen Personen in De fide trinitatis, Fragm. 4, Sp. 1549-1555 im wesentlichen durch die Analyse biblischer Aussagen getragen.

32

Einleitung

In den systematischen und moralischen Schriften des Pelagius ist das Ermitteln derartiger Leitgedanken sehr viel einfacher, da Pelagius diese hier zumeist bereits innerhalb der Argumentation, in deren Kontext er die biblische Aussage anfuhrt, expliziert. Anders sieht es jedoch in den Expositiones aus, wo das Interesse, die Schrift auszulegen, im Vordergrund steht. Zwar ist auch dort erkennbar, daß Pelagius in seiner Exegese durch feste Leitgedanken beeinflußt ist; jedoch geben oft nur kleine Anspielungen und Nuancen innerhalb der Textauslegung Auskunft darüber, welche besonderen Intentionen ihn bei seiner Exegese bestimmen. Um die implizit vorausgesetzten Leitgedanken zu ermitteln, ist man in solchen Fällen gezwungen, dem Exegeten Pelagius gewissermaßen über die Schulter zu blicken, indem man gedanklich nachvollzieht, wie Pelagius in Auseinandersetzung mit dem biblischen Text und den ihm vorgegebenen Auslegungstraditionen zu seiner eigenen Deutung des biblischen Textes gelangt83. Bevor diese methodischen Fragen ausfuhrlich erörtert werden, soll kurz auf die Expositiones selbst eingegangen werden. Wie wir nämlich heute wissen, hat dieser Kommentar eine sehr verwickelte Textgeschichte. Als Alexander Souter 1922-1932 seine Edition der Expositiones herausgibt84, ist ihm diese Textgeschichte nicht in allen Phasen bekannt gewesen. Daher kann der Text, den Souter bietet, auch nicht in allen Teilen als gesichert gelten. Was der Benutzer von Souters Edition daher zu beachten hat, soll im folgenden ausgeführt werden. a . Der Text der Expositiones85 Bis Ende des 19. Jahrhunderts ist über die Expositiones lediglich bekannt, daß uns eine verunreinigte Textfassung dieses Kommentars in der Überlieferung von Pseudo-Hieronymus und Pseudo-Primasius überkommen ist86. Um die Jahrhundertwende setzt die Erforschung des Textmaterials ein, die von Anfang an von der Absicht bestimmt ist, Kriterien für die Rekonstruktion der ursprünglichen Textform der Expositones zu gewinnen. Am Anfang dieser Forschungen steht die Untersuchung von Heinrich Zimmer, der erstmals die Be83

In diesem Zusammenhang sei hier noch einmal ausdrücklich angemerkt, daß das hier skizzierte methodische Vorgehen in erster Linie den Zweck verfolgt, Pelagius' Theologie aus dessen Bibelauslegung zu erheben. Trotz des Umstandes, daß die vorliegende Untersuchung sich sehr intensiv mit einem altkirchlichen Pauluskommentar beschäftigt, handelt es sich bei ihr somit um keine exegesegeschichtliche Studie. So werden auch die gattungsspezifischen Besonderheiten eines Kommentars nur insoweit berücksichtigt, wie sie für die Erhebung der implizit vorausgesetzten theologischen Leitgedanken von Belang sind.

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Alexander Souter, Pelagius's Expositions of thirteen Epistels of St Paul (TaS 9), Cambridge 1922-1932:1. Introduction (1922), II. Text (1926), III. Pseudo-Jerome-Interpolations (1932). Zum folgenden vgl. Souter, Pelagius's Expositions I, sowie de Bruyn, Pelagius's Commentary, S. 24-35. Zur älteren Literatur vgl. Friedrich Loofs, Pelagius, in: RE 3 15 (1904), S. 747774, dort S. 747f. sowie S. 750f.

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corporis Christi. Ut perficiantur sancti[s]. Exp., S. 365,4-6 (Eph 4,12): ... Siue: [Ut] eorum numerus impleatur. hi omnes sunt constituti ad aedificandam ecclesiam, quae corpus est Christi, ut omnes ad fidei perfectionem perduca[n]t. - Es ist hier nicht ganz eindeutig, ob Pelagius unter omnes all diejenigen Menschen versteht, die bereits der Kirche angehören ( = alle Christen), oder ob hierunter auch diejenigen zu fassen sind, die der Kirche zugeführt werden sollen, um die Zahl der Kirche anzufüllen ( = alle tatsächlichen Christen und solche Menschen, die Christen werden können). Auch letzteres läßt sich m. E. mit den Grundsätzen der pelagischen Theologie vereinbaren (vgl. oben, Anm. 36).

138

B. Die Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch

fordert wird dieser Entwicklungsprozeß durch die Belehrung der membra mittels doctrina und exemplum*0. Diese Belehrung fuhrt bei den membra zu einem allmählichen Fortschritt im Wissen um den Willen Gottes, der - wie man entsprechend den Grundsätzen der pelagischen Psychologie wird voraussetzen dürfen - von einem Fortschritt in der fides begleitet wird41. So wirkt ja Pelagius zufolge die scientia auf die fides ein, indem sie dem menschlichen Willen die gläubige Zustimmung zu Gott als angenehm erscheinen läßt und dadurch fides empfiehlt 42 . Wird nun das Wissen um den Willen Gottes vergrößert, erlangt der Christ dabei eine bessere Kenntnis des Heils, das er bei einer Angleichung seines Willens an den Willen Gottes für sich gewinnt; dadurch erhöht sich für ihn die Attraktivität einer gehorsamen Zustimmung zu Gott, was dementsprechend zu einer stärkeren fides provoziert. Die allmähliche Stärkung des Glaubens im Verlauf dieses Entwicklungsprozesses wirkt sich immer mehr auf den gesamten Lebenswandel des Christen aus, denn die sich durch den Fortschritt im Glauben intensivierende Bejahung des Gotteswillens prägt in zunehmendem Maße seine Charakterbildung. Je länger ein Christ gläubig ist und je stärker er dementsprechend seine fides entwickelt hat43, desto weiter soll die Ausbildung eines guten Charakters fortgeschritten sein: „Mit dem Alter der fides muß durch den profectus der gute Charakter {mores) gemehrt werden, so wie mit dem Alter des Fleisches der Körperaufbau (cibus) und der Erkenntnisdrang {studium) wächst"44. Auf diese Weise entwickeln sich die Christen im zunehmenden Maße zum besseren45.

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Vgl. Exp., S. 186,21f. (1 Kor 10,33): ... sed suo exemplo illos provocat ad profectum; S. 419,7f. (1 Thess 1,7): uestro ergo exemplo etiam alterius prouinciae homines profecerunt; S. 420,9f. (1 Thess 2,1): Commemora[n]t illos, ut agnoscant uerum esse quod dicunt, ut eorum exemplo proficiant. Innerhalb der Expositiones wird eine Parallelität in der Entwicklung von fides und scientia explizit nur in der Einleitung zum Philipperbrief angesprochen (vgl. Argum. ad Phil., Exp., S. 387,2-4: hi[i] ergo tantum in fide ac scientia profecerunt, ut euangelium [etiam] praedicarent et defenderent a pseudo-apostolis impugnatum.). Dieser Text ist jedoch erst später dem Kommentar hinzugefügt und nicht von Pelagius selbst verfaßt worden. Allerdings kann m. E. dieser sekundäre Text als sachlich zutreffende Zusammenfassung der von Pelagius implizit Vorausgesetzen Korrespondenz in der Entwicklung von scientia und fides angesehen werden. Siehe hierzu oben, A I 3. Im Idealfall soll der Glaube im Fortschreiten immer vollkommener werden. Vgl. hierzu Exp., S. 190,1-3 (1 Kor 11,17): ... etnon est laudandus qui non Semper crescit in melius, quia fides eo perfectior debet esse quo senior [est]. Vgl. Exp., S. 428,14-429,4 (1 Thess 4,1): Rogamus uos et obsecramus in domino Iesu, ut quo modo accepistis a nobis qualiter oporteat uos ambulare et placere deo, sicut et ambulatis. Quibus uia Christus est, dignis eo gressibus ambulate, mansuetudinis caritatis et pacis omniumque uirtutum. Ut abundetis magis. Quia cum aetate fidei debent augeri profectufs] [et] mores, sicut cum aetate carnis et cibus crescit et Studium. - Der Begriff cibus hat eigentlich die Grundbedeutung „Speise", die allerdings an dieser Stelle keinen Sinn macht. Aus dem Kontext geht hervor, daß cibus hier offensichtlich etwas bezeichnet, was dem Menschen zuzuordnen ist, und zwar - im Kontrast zu dem Begriff Studium, durch den auf die geistige

II. Die Entwicklung der Kirche

139

Dieser Entwicklungsprozeß findet seinen Abschluß, wenn der Christ Vollkommenheit erlangt hat. Dann ist er in allem vollkommen - in seiner Tugendhaftigkeit 46 , seiner fides47 und dementsprechend auch in seiner sanctitas48. Als Ideal steht Pelagius dabei solch ein Christ vor Augen, der in seiner Lebensführung auf Erden jene Vollkommenheit vorwegnimmt, die alle Heiligen im ewigen Leben besitzen werden49. Pelagius kennzeichnet die Vollkommenheit als eine Stufe des Christseins, die von allen membra des corpus Christi erlangt werden soll50, die aber prinzipiell von allen Menschen erreicht werden kann51. Aus der Nachdrücklichkeit, mit der Pelagius in den Expositiones und der Epistula ad Demetriadem einerseits für die perfectio wirbt, andererseits die Nachlässigkeit unter den Christen beklagt, läßt sich ablesen, daß er selbst dieses Ideal nur bei wenigen Zeitgenossen verwirklicht sieht. Die Kirche seiner eigenen Zeit besitzt demnach für ihn nur eine sehr kleine Minderheit von perfecta, der eine weitaus größere Mehrheit von weniger fortgeschrittenen Durchschnittschristen gegenübersteht. Allerdings sind in dieser Kirche die wenigen perfecti durch ihren besonderen Lebensstil deutlich unterschieden von der

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Seite des Menschen verwiesen wird - seine sich durch Wachstum entfaltende Körperlichkeit. Um dies zum Ausdruck zu bringen, habe ich cibus mit „Körperaufbau" Ubersetzt. Pelagius kann diesen Vorgang als proficere in melius bzw. ad meliora umschreiben: Exp., S. 381,3f. (Eph 6,5): si uero uideriteos in melius profecisse [et] ex infidelibus fideles effectos ...; S. 492,16f. (1 Tim 4,16): ... et cum illis manifestus fueris, poterunt [et] tuo exemplo ad meliora proficere. - Siehe hierzu auch Ad Dem. 13 (Sp. 27D-28D), wo Pelagius die Entwicklung des Christen als Ausbildung und Festigung einer bona consuetudo beschreibt. Vgl. Exp., S. 141,3-6 (1 Kor 3,2), wo allerdings die Vollkommenheit in der Tugendhaftigkeit als ein in der Gemeinde der Korinther nicht verwirklichter Zustand angemahnt wird: Si ergo adhuc illi paruuli sunt qui omnem malitiam abiecerunt, [et] quia nondum sunt in virtute perfecti quid de illis censendum est quibus omnis malitia dominatur? Exp., S. 365,6 (Eph 4,12): ... ut omnes ad fidei perfectionem perduca[n]t. Vgl. Pro lib. arb., zitiert bei Augustin, De grat. Chr. et de pecc. orig. I 39,43 (CSEL 42, S. 156,29-157,6). Hier faßt Pelagius den Inhalt von Röm 7f. zusammen und nennt in diesem Zusammenhang die vollkommene Heiligkeit als ein Ziel des nach der Taufe einsetzenden Entwicklungsprozesses des Christen: 'in persona autem hominis unius', inqit, 'designat populum sub uetere adhuc lege peccantem, quem ab hoc consuetudinis malo dicit liberandum esse per Christum, qui credentibus sibi primo omnia per baptismum peccata dimittit, deinde imitatione sui ad perfectam incitat sanctitatem et uitiorum consuetudinem uirtutum uincit exemplo.' Vgl. hierzu Exp., S. 258,13-16 (Kol 5,9), wo diese Haltung als ein von allen Christen anzustrebendes Ziel beschrieben wird: Et ideo conitimur siue absenles siue praesentes placere Uli. Iam modo tales esse [actu] conamur quales futuri sumus in regno, natura incorruptibiles sine dubio et perfecti. Exp., S. 304,14-17 (2 Kor 13,11): De cetero, fratres, [gaudete et] perfecti estate, [et] consolamini. Notandum quod omni ecclesiae scribens dicit eos omnes debere esse perfectos, et quod laicos se inuicem exhortari. Vgl. Exp., S. 162,10-15 (1 Kor 7,6f.): Hoc autem dico secundum indulgentiam, non secundum imperium. 7 uolo autem omnes homines esse sicut me ipsum. Hoc ut paruolis indulgeo, non praecipio ut perfectis; nam omnes homines cupio mihi similes invenire ... numquam hoc uoluisset apostolus, si fieri omnino pot[ui]sset. - Daß der Apostel zu den perfecti gehört, wird in den Expositiones als selbstverständlich vorausgesetzt.

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B. Die Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch

großen Mehrheit der übrigen Christen. Dies zeigt sich vor allem im jeweiligen Umgang mit den körperlichen Bedürfhissen. Im Gegensatz zu den übrigen Christen schränken sich nämlich die perfecti hier so weit wie möglich ein, d. h., sie leben als Asketen. In ihnen sieht Pelagius die idealen Christen, da nach seiner Ansicht die Askese integraler Bestandteil eines höher stehenden Christseins ist. Mit dieser Wertschätzung einer vollkommenen, durch Askese bestimmten Lebensweise zeigt sich Pelagius als Vertreter der monastisch-asketischen Bewegung des fünften Jahrhunderts 52 . Dabei ist besonders auffällig, daß er bestrebt ist, die monastisch-asketische Lebensweise fest in den Kontext kirchlichen Lebens einzubinden. Damit erweist sich sein theologisches Programm als eine dezidierte Stellungnahme zur Frage nach dem Verhältnis von Mönchtum und Kirche, eine Fragestellung, die mit der wachsenden Verbreitung monastischer Lebensformen im fünften Jahrhundert zunehmend als theologisches Problem empfunden worden ist". Angesichts der großen Bedeutung, die dieser Fragestellung für die Frömmigkeits- und Theologiegeschichte des fünften Jahrhunderts zukommt, sollen im folgenden Pelagius' Ansichten zu Askese und kirchlichem Leben ausführlicher beleuchtet werden. Meine Ausführungen dazu setzen zunächst bei Pelagius selbst ein. Es soll gezeigt werden, in welcher Weise er die Askese als eine Form höheren Christseins legitimiert und welche Konsequenzen sich daraus im Hinblick auf das Verständnis der Kirche insgesamt ergeben (a). Im Anschluß daran soll Pelagius' theologische Position in den Kontext der zeitgenössischen Diskussion eingeordnet werden, um so das Besondere und Neue seiner perfectio-Lehre hervortreten zu lassen (b). a. Die theologischen Grundlagen der pelagischen Lehre von der perfectio Pelagius rät generell allen Christen, im Umgang mit sinnlichen Genüssen besonders vorsichtig zu sein, da sie die Heiligung des Christen gefährden können. Wenn man nämlich dabei seine körperlichen Bedürfhisse nicht kontrolliert, kann es sehr schnell dazu kommen, daß Begierden die Oberhand gewinnen und den Christen zu sündhafter Genußsucht verleiten. So fuhrt Pelagius im Hinblick auf den Verzehr von Nahrung aus: „Es ist uns zwar erlaubt zu essen und zu trinken; wenn wir jedoch allzusehr unserem Bauch unterworfen sind, zieht uns Erlaubtes selbst zum Unerlaubten, also der fornicatio. So muß man von allem denken, das, obwohl es keine Sünde ist, dennoch Gelegenheit zur Vgl. hierzu die knappe, aber treffende Charakteristik des Möchtums bei Lorenz, Die Anfänge des abendländischen Mönchtums, S. 2f.: „Die Grundidee des Mönchtums ist die Beschränkung des Lebens auf das Streben nach christlicher Vollkommenheit. Insofern liegt das Mönchtum dem Christentum im Blut, das Mönchtum ist eine Bewegung für entschiedenes Christentum. Beschränkung auf Vollkommenheit in dem Einen, das man für christlich hielt, bedeutet freilich Askese". Siehe hierzu Lorenz, Die Anfänge des abendländischen Mönchtums, S. 32f.

II. Die Entwicklung der Kirche

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Sünde bieten kann"54. Hier bietet sich die Askese als ein wirksames Präventivmittel an, das die Gefahr eines Rückfalls in unkontrollierte Genußsucht minimiert. Offensichtlich hat Pelagius diese positive Auswirkung der Askese auf den Heiligungsprozeß der Christen im Blick, wenn er Enthaltsamkeit mit Erbauung gleichsetzt55. Pelagius' Wertschätzung der Askese liegt nicht allein in ihrem Nutzen für die Heiligung der Christen begründet, denn er ist überzeugt, daß Askese an sich schon einen besonderen Wert besitzt, da sie bei Gott in hohem Ansehen steht. Mit besonderem Nachdruck vertritt er diese Ansicht in seinem Kommentar zu 1 Kor 7, wo von Ehe und Ehelosigkeit gehandelt wird. - Ich werde im folgenden die von Pelagius dort vertretene Ehetheologie rekonstruieren, um daran exemplarisch seine Bewertung der Askese zu veranschaulichen 56 . Pelagius sieht in 1 Kor 7 belegt, daß die Empfehlung zu einer keuschen Lebensweise immer Teil der paulinischen Botschaft gewesen ist. So leitet er aus dem positiven Urteil des Apostels über die Ehelosigkeit (1 Kor 7,1 f.) ab, daß Paulus den Korinthern bereits bei der Unterweisung in den Anfangsgründen der christlichen Lehre Enthaltsamkeit empfohlen hat. In diesem Sinne paraphrasiert Pelagius 1 Kor 7,1 f. als grundsätzliche Empfehlung zur Ehelosigkeit: „Gut ist gewesen, was ich euch zu Anfang gepredigt habe, nämlich die Frau nicht nach ehelicher Gewohnheit zu berühren" 57 ; denn der Apostel kennt den Wert von Enthaltsamkeit und weiß, wie sehr sie „mit Lohn vergolten wird"5". Nach Pelagius hat es unter den Korinthern jedoch viele Unbeherrschte gegeben, denen diese Lehre widerstrebte. Um sie vor einem Abgleiten in die fornicaüo zu bewahren, hat Paulus ihnen schließlich die Ehe gestattet 5 '. So hat er der Kirche ein allgemeines Vorbild dafür gegeben, wie sie über Enthaltsam54

Exp., S. 156,15-20 (1 Kor 6,12): Omnia mihi licent, sed ego sub nullius redigar potestale. Licet nobis manducare et bibere, sed, si nimium uentri subditi fuerimus, ipsum licitum trahet nos ad inlicitum, hoc est ad fornicationem. ita de omnibus intellegendum quae, cum peccata non sint, occasiones [tarnen] possunt capere delictorum. - Vgl. auch S. 184,18-21 (1 Kor 10,23): [Omnia licent, sed non omnia expediunl.] Omnia quae a lege non prohibentur, licent, quia per se non habent peccatum, sed non semper expediunt, quia occasionem non numquam generant delinquendi.

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Vgl. Exp., S. 110,22-111,2 (1 Kor 14,19): Et quae aedificationis sunt [in] inuicem custodiamo. Aedificatio est abstinentia: ceterum esca, etiam si neminem perdat, nullum aedificat. Auf die Diskussion um den Wert der Ehe, die zur Zeit des Pelagius in Rom geführt worden ist, wird unten (S. 150ff) eingegangen werden. Exp., S. 159,4-9 (1 Kor 7,lb-3): Bonum est homini mulierem non tangere: 2 propter incontinentiam autem unus quisque suam uxorem habeat [et una quaeque suum uirum habeat], 3 uxor[i] uir debitum reddat, similiter au[tem] et uxor uiro. Bonum fuerat illut quod uobis in primordio praedicaui, hoc est secundum coniugii usum non tangere mulierem ...

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Exp., S. 162,13f. (1 Kor 7,6f.): ... noui enim quanta castitas mercede pensetur. - Auf den Lohngedanken gehe ich weiter unten (S. 156ff) noch ausführlich ein. Exp., S. 159,9-11 (1 Kor 7,2f.): ... sed quoniam multos incontinentes huic doctrinae scripsistis refragari, concedatur remedium, ne fornicando moriantur. - Pelagius knüpft hier an 1 Kor 7,9 an, wo Paulus denen die Ehe gestattet, die heiraten wollen, da es doch besser sei, zu heiraten „als zu brennen".

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keit predigen soll: „In erster Linie muß nach dem Vorbild des Apostels Jungfräulichkeit und Selbstbeherrschung gepredigt werden"60. Denen, die sich zu schwach fühlen, dieser Predigt Folge zu leisten, soll dann das von Paulus verordnete Gegenmittel der Eheschließung zugestanden werden: „Aber wenn sich jemand nicht schämt, sich als einen Unbeherrschten zu bekennen, soll ihm weil er sich nur mit matten Kräften der Unbeherrschtheit widersetzt - das Gegenmittel der Eheschließung nicht versagt werden"61. Pelagius läßt keinen Zweifel, daß dieses Gegenmittel als ein Zugeständnis an schwache, in sich ungefestigte Christen aufzufassen ist. In einem Vergleich, den er an dieser Stelle anfuhrt, bringt er dies in aller Deutlichkeit zum Ausdruck: Gestattet die Kirche den schwachen membra die Ehe, so verhält sie sich wie ein erfahrener Arzt, der einem Patienten, der von sich behauptet, auf Obst nicht verzichten zu können, zumindest den Genuß von weniger schädlichen Obstsorten erlaubt62. Mit dem weniger Schädlichen, das dem Unbeherrschten mit der Erlaubnis zur Ehe gestattet wird, meint Pelagius offensichtlich vor allem die eheliche Sexualität, denn im Anschluß an Paulus begreift er diese als einen wichtigen Aspekt ehelicher Gemeinschaft, den man daher auch nicht von der Ehe trennen kann. Seinen Ausfuhrungen zu diesem Thema liegt die - immer nur angedeutete, nirgends explizit formulierte - These zugrunde, daß Sexualität in der Ehe ausschließlich der Fortpflanzung dient und allein dadurch ihre Legitimität erhält. Eheliche Sexualität, die nur um übermäßiger Lust willen ausgeübt wird63, lehnt Pelagius als inhuman ab. Das Unmenschliche einer derartigen Sexualität leitet Pelagius aus dem verantwortungslosen Verhalten derer ab, die darum geheiratet haben, schrecken sie doch nicht davor zurück, ihre ungewollten Kinder (durch Abtreibung oder Aussetzung ?) zu ermorden. Mit diesem Verhalten zeigen sie, daß sie sogar noch geringer als Tiere anzusehen sind64. Die Christen dagegen, die - gemäß dem eigentlichen Zweck der Ehe der Fortpflanzung wegen geheiratet haben, beschränken ihre sexuellen Kontakte auf ein absolutes Minimum: „Wer sich jedoch allein aus diesem Grund (sc. der Kinder wegen) vereinigt, enthält sich sofort nach der Empfängnis; und

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Exp., S. 159,1 If. (1 Kor 7,2f.): ... ergo hoc apostoli exemplo in primis uirginitas et continentia praedicanda e s t . . . Exp., S. 159,13f. (1 Kor 7 , 2 f ) : ... et si quis se incontinentem non erubuerit confiteri, in lang[u]ore incontinentiae reclamanti non denegatur remedium nuptiarum ... Exp., S. 159,15-17 (1 Kor 7,2f.): ... quo modo si peritus medicus inquieto aegro et neganti se posse a pomis omnibus abstinere, saltern minus pernitiosa concédât... Exp., S. 160,13-15 (1 Kor 7 , 2 f ) : ... illut etiam dicendum est quod nec secundum uetus testamentum quosdam uxores habere uideamus, quia ibi uxores liberorum causa habere permissum est, non propter nimiam libidinem exercendam ... Exp., S. 160,16f. (1 Kor 7,2f.): ... qui in hoc etiam animalibus deteriore esse noscuntur, quo necando filios probant se non filiorum causa nupsisse ...

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wenn dann aufgrund des Lebensalters das Gebären aufhört, soll auch der Geschlechtsverkehr unterbleiben"65. Eine Begründung für den geringeren Stellenwert von Ehe und ehelicher Sexualität und einer entsprechenden Höherwertigkeit von Ehelosigkeit und Keuschheit leitet Pelagius aus dem göttlichen Geschichtsplan ab, den er rückblickend rekonstruieren zu können meint. Ihm zufolge hat Gott am Anfang der Menschheitsgeschichte die Ehe eingesetzt, indem er den Menschen den Segen der Fruchtbarkeit und Fortpflanzung erteilt hat; denn es war Gottes Absicht, daß die damals unbewohnte Welt von Menschen erfüllt wird66. Nach Pelagius ist aber diese Epoche der Menschheitsgeschichte bereits abgeschlossen. Jetzt tritt zutage, daß Gott ein „Liebhaber der Keuschheit"67 ist, der sich wünscht, daß die Christen „auf der schon erfüllten" Erde „sich von Unbeherrschtheit fernhalten"68. Pelagius stützt diese Rekonstruktion des Geschichtsplans Gottes durch den Hinweis auf den geschichtlichen Wandel der Sexualmoral. Da es zu Beginn der Menschheitsgeschichte an Menschen mangelte, waren damals auch inzestuöse eheliche Verbindungen unvermeidbar. So hat Adam Eva zur Frau genommen, die doch gewissermaßen seine Tochter war, da sie seiner eigenen Rippe entstammt. Ähnlich hat es sich auch bei Kain und anderen frühen Menschen verhalten, die ihre eigenen Geschwister geehelicht haben69. Pelagius spricht auch die Vielehe an, von der im Alten Testament berichtet wird; auch

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Exp., S. 160,17-20 (1 Kor 7,2f.): ... qui autem ea sola causa coniungitur, statim se abstinet post conceptum, et cessante iam per aetatem partu cessat et[iam] usus ... Exp., S. 159,21-23 (1 Kor 7,2f.);... sed obicere amatores luxuriae solent: „ut quid ergo prima dei benedictio crescere et multiplicari concessit?" (vgl. Gen 1,28) ut terra scilicet repleretur ... - Daß Sexualität nur im Rahmen der Ehe legitim ist, setzt Pelagius implizit voraus, wird doch im Kommentar zu 1 Kor 7 die Sexualität immer im Zusammenhang mit der Ehe abgehandelt. Insofern ist dieser Segen Gottes gleichzusetzen mit der Einsetzung der Ehe. - Hinter den amatores luxuriae, mit denen sich Pelagius hier auseinandersetzt, stehen möglicherweise Jovinian und seine Anhänger. Auf dessen antiasketischer Lehre sowie ihre Bewertung durch Hieronymus und Pelagius wird unten, S. 152ff, noch ausführlich eingegangen. Vgl. Exp., S. 429,15-430,3 (1 Thess 4,5): Non in passione desidera, sicut [et] gentes quae non nouerint deum. Ne nimi[a]e et inmoderat[a]e libidini seruientes, similis gentibus sitis, quae deum amatorem castitatis ignorant. Exp., S. 159,23-160,1 (1 Kor 7,2f.): ... ut terra scilicet repleretur, qua iam impleta debemus ab incontinentia temperare. - Pelagius greift hier ein Erklärungsmodell auf, das bereits bei Cyprian, De habitu virginum, c. 22f. belegt ist. Hier führt Cyprian die den Mehrungsbefehl Gen 1,27 relativierende Empfehlung der Keuschheit auf den Jesusspruch Lk 20,34f. zurück. Historischer Ausgangspunkt der Virginität bildet demnach das Auftreten Christi: Prima sentenza crescere et multiplicari praecepit, secunda et continentiam suasit. dum adhuc rudis mundus et inanis est, copiam fecunditate generantes propagamur et crescimus ad humani generis augmentum: cum ¡am refertus est orbis et mundus inpletus, qui capere contientiam possunt spadonum more uiuentes castrantur ad regnum (c. 23, CSEL 3,2, S. 203,21-26). Vgl. Exp., S. 160,4-9 (1 Kor 7,2f.): ... ipsam quoque Euam noluit de terra facere, sed de costa, si autem putas nobis antiqua tempora in omnibus conuenire, imitare Adam, qui filiam, ut ita dixerim, suam accepit uxorem, Cain similiter, si non pudet, et ceteros qui proprias in matrimonium acceperunt sorores...

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sie diente ausschließlich der Fortpflanzung™. Er setzt bei seinen Lesern ein Einverständnis darüber voraus, daß derartige eheliche Verbindungen nicht mehr zeitgemäß sind. Hieraus folgt: „Wenn dies nicht mehr geschehen darf, dann wollen wir auch glauben, daß Gott gemäß seinem Vorherwissen alles seiner Zeit zugeordnet hat, so daß er, der damals wollte, daß die Erde sich fülle, jetzt die Keuschheit mehr liebt, für die er auch eine große Belohnung verheißt" 71 . Doch trotz der gegenwärtig offenbaren Vorliebe Gottes für die Keuschheit bleibt sein einst erteilter Segen für Fruchtbarkeit und Fortpflanzung weiterhin gültig. Dementsprechend ist auch auf der von Menschen bevölkerten Erde die Ehe weiterhin gestattet. Auch wenn Pelagius selbst einen asketischen Lebensstil bevorzugt und seine Leser dafür zu gewinnen sucht, wird die Ehe von ihm doch grundsätzlich anerkannt. So wird er nicht müde, in den Expositiones und der Epistula ad Demetriadem seine Leser vor einer Eheschließung zu warnen, da doch die Besorgnis für die Welt, die im ehelichen Leben sehr schnell aufkommt, den Gehorsam gegenüber dem Gesetz eher erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht; zugleich räumt er aber auch ein, daß die Ehe an sich keine gottwidrige Sünde ist72. Aus seiner grundsätzlichen Anerkennung der Ehe kann man ersehen, daß Pelagius trotz gewisser Vorbehalte die eheliche Gemeinschaft von Mann und Frau prinzipiell ebenso als eine durch den Willen Gottes legitimierte Lebensweise versteht wie das ehelose, keusche Leben eines christlichen Asketen. Seine wiederholt vorgetragene These, daß diese beiden Lebensformen einen je unterschiedlichen Wert besitzen, kann er deshalb auch nur vom Willen Gottes her begründen. Dies läßt sich bereits seinem Kommentar zu 1 Kor 7 ablesen, wo er als Ursache für das Nebeneinander dieser beiden Lebensformen einen durch Gottes Geschichtsplan bedingten Wandel seiner Willensbekundungen angibt. Pelagius zufolge gibt es noch weitere Formen der Askese, die sich ebenso wie die Ehelosigkeit im gegenwärtig offenbaren Willen Gottes als höherwertige von anderen, niedriger einzustufenden Willensbekundungen abheben lassen, wodurch dementsprechend höher- und niedrigerstehende ForExp., S. 160,12-15 (1 Kor 7,2f.): ... illut etiam dicendum est quod nec secundum uetus testamentum quosdam uxores habere uideamus, quia ibi uxores liberorum causa habere permissum e s t . . . Exp., S. 160,9-12 (1 Kor 7,2f ): ... quod si fieri non debet, omnia deum secundum praescientiam suis temporibus ordinasse credamus, ut qui tunc terram impleri uoluit, modo plus diligat castitatem, cui et grande praemium repromittit... Exp., S. 166,21-24 (1 Kor 7,28): Si autem acceperis uxorem, non peccasti. Quia liberae uoluntatis es: si non uis esse maior, esto uel minor: nuptiae enim peccatum non sunt, sed per sollicitudinem mundi qui nubunt legem uix seruare [non] possunt. - Zu der sollicitudo mundi eines ehelichen Lebens gehört beispielsweise die Sorge der Ehefrau um ihre eigene Attraktivität, damit sie auch weiterhin bei ihrem Gatten Gefallen findet. Vgl. hierzu Exp., S. 169,511(1 Kor 7,34); siehe aber auch Ad Dem. 24, Sp. 33 B/C, wo allerdings dieser Gedanke im Hinblick auf die „weltlichen Jungfrauen, die sich auf ihre Hochzeitsnacht vorbereiten" (ebd.), ausgeführt wird.

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men des Christseins möglich werden. In der Epistula ad Demetriadem (c. 9f.) werden diese unterschiedlichen Formen göttlicher Willensäußerungen erläutert und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Christen ausführlich dargestellt. Wie Pelagius hier darlegt, läßt sich das, was man durch das Schriftstudium als Willen Gottes für den Menschen ermitteln kann, in drei Kategorien einteilen". Die erste Kategorie göttlicher Willensbekundungen umfaßt alle Ge- und Verbote, deren Einhaltung Gott generell befohlen hat. In ihnen wird angeordnet, das Böse zu meiden und das Gute zu tun74. Eine pointierte Zusammenfassung des von Gott Befohlenen sieht Pelagius in dem Jesuswort Mt 7,12: „'Was immer du willst, daß es euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihnen.' Das heißt, daß wir dem anderen nichts Schlechtes antun, sondern ihm all das widerfahren lassen sollen, was gut ist, weil wir doch auch wollen, daß diese beiden Dinge von anderen uns gegenüber eingehalten werden"75. Dieser Befehl Gottes ist an alle Menschen gerichtet und daher ausnahmslos für alle Christen verpflichtend: „Was die iustitia angeht, sind wir alle zu dem einen verpflichtet: Jungfrau, Witwe, Ehefrau, der höchste, mittlere und niedrigste Grad - sie alle sind gleichermaßen beauftragt, die Gebote zu erfüllen"76. Erwirbt sich der Christ durch gehorsame Befolgung des Befehls Gottes iustitia, geht er straflos aus dem göttlichen Gericht hervor77, so daß er in das Himmelreich eingehen kann78.

Die Unterscheidung zwischen einzelnen Formen göttlicher Willensbekundungen bildet bereits sehr früh einen festen Bestandteil der asketischen Literatur (vgl. oben, S. 143, Anm. 68). So ist auch die Konzeption, die Pelagius in Ad Dem. 9f. entfaltet, keineswegs originell, sondern greift vielmehr auf Gedanken zurück, die bereits in Cyprians Schrift De habitu virginum ausgeführt werden. Zur Traditionsgeschichte dieser Gedanken siehe unten, S. 148, Anm. 90. Ad Dem. 9, Sp. 24B: Prohibentur mala, praecipiuntur bona ... In duobus Ulis ... peccatum omne concluditur: in utroque enim Dei continetur imperium. Ad Dem. 9, Sp. 24C: Quaecumque uultis ut faciant uobis homines, haec et uos facite Ulis: hoc est, ut nihil mali inferamus aliis, sed praestemus omne, quod bonum est: quia volumus hoc ab aliis in nos utrumque seruari. Ad Dem. 10, Sp. 25 B/C: In causa iustitiae omnes unum debemus: virgo, vidua, nupta, summus, medius et imus gradus, aequaliter iubentur implere praecepta. - Vgl. auch Ad Dem. 9, Sp. 24B: Generaliter namque omnibus mandatur iustitia ... Vgl. Ad Dem. 10, Sp. 25C, wo Pelagius den Befehl Gottes dem Ratschlag Gottes gegenüberstellt. In diesem Zusammenhang nennt Pelagius die Straflosigkeit als ein Resultat für Gehorsam gegenüber dem Befehl Gottes: Considera, quaeso, quantum a consilio distet imperium. Ibi aliquos excipit: hic generaliter omnes comprehendit. Ibi praemium proponit, hic poenam. Ibi invitat ut facias: hic nisi feceris, comminatur. Daß durch die aufgrund von Gottesgehorsam erworbene iustitia der Zutritt zum Himmelreich ermöglicht wird, belegt Pelagius in Ad Dem. 10, Sp. 25D/26A mit Hinweis auf Mt 7,21 und Lk 13,26f. Er wendet sich in dieser Passage dezidiert gegen Jungfrauen, die um gesellschaftlicher Anerkennung willen asketisch leben, jedoch den allen Menschen gebotenen Befehl Gottes nicht einhalten. Wegen der Mißachtung des Befehls Gottes rechnet Pelagius diese Jungfrauen zu den Menschen, „die sich durch die Übertretung der Gebote den Zugang zum

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Wie groß die Herrlichkeit sein wird, die der Christ künftig im Himmelreich besitzen wird, hängt davon ab, ob er sein Leben nach der zweiten Kategorie göttlicher Willensbekundungen, dem Erlaubten, oder der dritten, dem Empfohlenen, ausrichtet. Für welche dieser beiden Kategorien sich der Christ entscheidet, liegt ganz bei ihm selbst, da Gott ihm hier volle Entscheidungsfreiheit zugesteht: „Die zwei übrigen (sc. Formen göttlicher Willensbekundungen), die folgen, von denen das eine gestattet ist, das andere empfohlen wird, sind ganz in unser Vermögen (potestas) gestellt"™. Zur Kategorie des Gestatteten rechnet Pelagius grundsätzlich all das, „was vom Gesetz nicht verboten wird, ... weil es aus sich keine Sünde besitzt" 80 . Dabei konzentriert sich sein Interesse ausschließlich auf diejenigen erlaubten Dinge, mit denen sinnlicher Genuß verbunden ist, w i e die Ehe (bzw. eheliche Sexualität) und die „Verwendung von Fleisch und Wein"". Pelagius zufolge ist das Erlaubte ein Mittleres82, wodurch er offensichtlich zum Ausdruck bringen will, daß damit weder Lohn noch Strafe verbunden ist. Die Christen, die sich lediglich an das Erlaubte halten, erwerben sich dementsprechend nur geringere Ehre81, haben sie doch nichts geleistet, was über das hinausgeht, was sie im Gehorsam gegenüber dem Befehl Gottes ohnehin tun müssen 84 . Als dritte Kategorie göttlicher Willensbekundungen nennt Pelagius das Empfohlene. Hierunter versteht er die göttliche Empfehlung an die Christen, sich freiwillig des Erlaubten zu enthalten: „Zwar werden Ehe, Verwendung von Fleisch und Wein gestattet, aber die Enthaltsamkeit (abstinentia) von all

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Himmereich verschlossen haben" (quae sibi mandatorum transgressione aditum clausere regni coelorum. - Sp. 25 D). Ad Dem. 9, Sp. 24C: Duo vero reliqua, quae sequuntur: quorum unum conceditur, et suadetur aliud, in nostra potestate dimissa sunt. Vgl. Exp., S. 184,18-20 (1 Kor 10,23): [Omnia licent, sednon omnia expediunt] Omnia quae a lege non prohibentur, licent, quia per se non habent peccatum ... Ad Dem. 9, Sp. 24C/D: Conceduntur quidem nuptiae, carnium usus et vini... Vgl. Ad Dem. 9, Sp. 24B: conceduntur media ... Ad Dem. 9, Sp. 24C: Duo vero ... in nostra potestate dimissa sunt: ut aut cum minori gloria concessis utamur... Vgl. hierzu Exp., S. 36,8-11 (Röm 4,4), wo Pelagius festhält, daß der Gehorsam gegenüber dem Befehl Gottes keine Verdienstlichkeit besitzt: Sed secundum debitum. Debitori[s] enim est facere quae iubentur, et nisi paruerit damnatur. si autem fecerit, non habet gloriam, quia inutilis adhuc seruus dicitur qui nihil amplius quam [quod] praeceptum est operatur. - Vgl. auch Exp., S. 177,13-16 (1 Kor 9,16): Nam si euangelizem, non est mihi gloria: necessitas enim mihi incumbit. 'Cum omnia feceritis praecepta' (Lk 17,10), debita uo[bi]s dicite persoluisse: non enim aliquid amplius fecistis, unde gloriari possitis. - Strenggenommen stehen diese Aussagen im Widerspruch zu der These aus Ad Dem. 9, Sp. 24 C (vgl. vorangehende Anmerkung), wonach die Christen, die allein das Erlaubte befolgen, geringere Ehre besitzen. Man muß allerdings bedenken, daß bereits der Zutritt in das Himmelreich, durch den man sich ewiges Leben erwirbt, gloria bedeutet. Insofern ist die oben zitierte Aussage aus Ad Dem. 9 sachlich korrekt. Die in dieser Anmerkung zitierten Aussagen aus den Expositiones beziehen sich dagegen allein auf höhere Formen der gloria, die den Christen, die bereits den Zugang zum Himmelreich erlangt haben, möglich sind.

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diesen Dingen wird durch den vollkommeneren Ratschlag empfohlen" 85 . Indem Gott eine größere Herrlichkeit als Belohnung verheißt, lädt er die Christen dazu ein, seinen Ratschlag zu befolgen 8 '. Dabei setzt Pelagius voraus, daß jeder Christ, der sich dazu entschlossen hat, dem nachzukommen, seinen eigenen Entschluß durch ein feierliches Gelübde bekräftigt. Damit verpflichtet er sich in verbindlicher Weise, sein ganzes Leben hindurch an seinem Entschluß festzuhalten. Nachdem dieses Gelübde erst einmal abgelegt worden ist, kommt jede Verletzung dessen einer Sünde gleich. Daher dürfen beispielsweise Asketen, die Ehelosigkeit gelobt haben, auch keine Ehe eingehen: „Er (sc. der Apostel) sagt, daß jene, die Gott noch nicht Keuschheit gelobt haben, auch nicht sündigen, wenn sie heiraten. Wenn jedoch jemand, der dies von Herzen gelobt hat, anders handelt, 'ist er verdammt, weil er seinen früheren Glauben nichtig gemacht hat'. Was etwas Erlaubtes war, hat er nämlich durch sein Gelübde zu einem Nichterlaubten gemacht, so wie Hananias und Saphira, denen es nicht gestattet war, aus ihrem Besitz etwas von Wert einzubehalten, weshalb sie auch mit einem plötzlichen Tod niedergestreckt wurden" 87 . Hält der Christ den einmal freiwillig gefaßten Entschluß zu der von Gott empfohlenen Askese durch, so erwirbt er sich dadurch zusätzliche Verdienste bei Gott. Erinnert man sich in diesem Zusammenhang an Pelagius' These von der Ähnlichkeit des Christen zu Gott, so läßt sich seine Behauptung einer Verdienstlichkeit der Askese leicht einsichtig machen. Diese These geht ja davon aus, daß der vom Christen freiwillig vollzogenen Angleichung an den Willen Gottes in der Zukunft eine Verähnlichung mit der Herrlichkeit Gottes korrelieren wird88. Differenziert Pelagius durch seine Unterscheidung von Erlaubtem und Empfohlenem zwischen unterschiedlichen Abstufungen innerhalb des göttlichen Willens, so kann er dementsprechend gemäß den Verdiensten, deren jeweiliges Maß der einzelne Christ durch den von ihm selbst bestimmten Grad der willentlichen Angleichung an Gott auch jeweils für sich selbst festlegt, 85

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Ad Dem. 9, Sp. 24C/D: Conceduntur quidem nuptiae, carnium usus et vini: sed horum omnium abstinentia, Consilio perfectore suadentur. Vgl. Ad Dem. 10, Sp. 25C: Considera, quaeso, quantum a Consilio distet imperium. Ibi (sc. consilium) aliquos excipit... Ibi praemium proponit... Ibi inuvitat ut facias ... Exp., S. 166,24-167,6 (1 Kor 7,28): ... Aliter: Illos dicit non peccare, si nubant, qui nondum deo uouerint castitatem. [ceterum] uel qui in corde [suo] promisit, si aliut fecerit, 'habet damnationem, quia primam fidem irritam fecit' (1 Tim 5,12). quod enim erat licitum, per uotum sibi fecit inlicitum, sicut Ananiae et Saphyrae, quibus de pretio possessionis suae retinere nihil licuit, ob quam causam et subita morte prostrati sunt (vgl. Act 5,1-11). - Die These, daß ein Gelübde das Erlaubte zum Verbotenen macht, wird mehrfach noch an anderen Stellen erwähnt. Vgl. Exp., S. 430,7-11 (1 Thess 4,6): Quoniam uindex est dominus de his omnibus[, sicutpraediximus uobis et testificati sumus]. Non solum de fornicatione et publica turpitudine, sed etiam de trasgressione propositi: quisque enim continentiam deo uou[er]it, fecit sibi inlicitum quod licebat. Vgl. auch Ad Dem. 9, Sp. 24D: Contempsisti, virgo, coniugium licitum tibi, priusquam contemneretur. Maioris praemii amore flagrans, vovisti Deo non imperatam, sed laudatam virginitatem: et Consilio Apostoli, legem tuam fecisti latiorem. Siehe hierzu oben, B I 3 b.

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unterschiedliche Stufen künftiger Herrlichkeit voneinander abheben: „Verschieden sind im Himmelreich die Aufenthaltsorte wegen der Verdienste jedes einzelnen. Denn die Verschiedenheit der Werke bewirkt eine Verschiedenheit der Belohnungen, und wie stark jemand hier (sc. auf Erden) in sanctitas geleuchtet hat, so stark wird er auch dort leuchten in Herrlichkeit"8'. Im Sinne des Pelagius hat man somit die Askese als Konsequenz einer vom Christen freiwillig vollzogenen intensiveren Form der Angleichung an den Willen Gottes zu verstehen. Von daher wird einsichtig, weshalb gerade die perfecti als Asketen charakterisiert werden. Als die am weitesten fortgeschrittenen Christen haben diese sich ja am stärksten dem Willen Gottes angeglichen; als solche beschränken sie sich nicht darauf, lediglich das Befohlene einzuhalten, vielmehr entsagen sie darüber hinaus auch dem Erlaubten, um gemäß dem Empfohlenen ein asketisches Leben zu fuhren90.

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Ad Dem. 17, Sp. 31C/D: Dispares sunt in regno coelorum per singulorum merita mansiones. Diversitas enim operum, diversitatem facit praemiorum: quantumque aliquis hic in sanctitate fulserit, tantum ibi fulgebit in honore. Die Unterscheidung zwischen dem Befohlenen und dem Empfohlenen, welchem bei freiwilliger Einhaltung eine höhere Verdienstlichkeit zukommt, geht auf Origenes zurück (vgl. Origenes' Auslegung von 1 Kor 7,25 in den Fragmenta e catenis in ep. primam ad Cor. [ed. C. Jenkins, in: JThS 9 (1908), S. 508f.], wo er diese Unterscheidung unter Einbeziehung von Lk 17,10 entwickelt). Die Rezeptionsgeschichte dieser Vorstellung im lateinischen Westen kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden. Es sei hier exemplarisch auf Cyprian und Ambrosius verwiesen, deren Schriften Pelagius beeinflußt haben. Cyprians Schrift De habilu virginum stellt einen frühen Beleg für die Vorstellung einer höheren Verdienstlichkeit im Westen dar. Wie Cyprian hier darlegt, erhalten die Jungfrauen, die sich freiwillig an den Ratschlag zur Keuschheit halten, im Himmel eine bessere Wohnung als die anderen Christen, die aufgrund ihrer Taufe zwar Zutritt zum Himmel erlangen, wegen ihrer weniger verdienstvollen Lebensweise aber auch eine weniger ansehnliche Wohnung erhalten: nec hoc iubet Dominus sed hortatur (sc. continentiam), nec iugum necessitatis inponit, quando maneat uoluntatis arbitrium liberum, sed cum habitationes multas aput patrem suum dicat, melioris habitaculi hospitia demonstrat. habitacula ista meliora uos petitis, carnis desideria castrantes maioris gratiae praemium in caelestibus obtinetis. omnes quidem qui ad diuinum munus et patrium baptismi sanctificatione perueniunt hominem illic ueterem gratia lauacri salutaris exponunt et innouati Spiritu sancto a sordibus contagionis antiquae iterata natiuitate purgantur. sed natiuitatis iteratae uobis sanctitas et ueritas conpetit, quibus desideria iam carnis et corporis nulla sunt, sola in uobis quae sunt uirtutis et spritus ad gloriam remanserunt (c. 23, CSEL 3,1, S. 203,26-204,11). - Der Gedanke einer höheren Verdienstlichkeit begegnet auch in den asketischen Schriften des Ambrosius. Vgl. hierzu Ambrosius, De viduis 12,72, MPL 16, Sp. 256B: Honorabile itaque coniugium, sed honorabilior integritas; nam et qui matrimonio jungit virginem suam, bene facit; et qui non jungit, melius facit (1 Kor 7,38). Quod igitur bonum est, non vitandum est; quod est melius, eligendum est. Itaque non imponitur, sed praeponitur. Et ideo bene Apostolus dixit: De virginibus praeceptum Domini non habeo, consilium autem do (1 Kor 7,25). Etenim praeceptum in subditos fertur, consilium amicis datur. Ubi praeceptum est, ibi lex est: ubi consilium, ibi gratia est. Praeceptum, ut ad naturam revocet: consilium, ut ad gratiam provocet. Et ideo lex Iudaeis lata est, gratia autem electioribus reservata est. Lex, ut a naturae finibus culpae studio demeantes, ad naturae observantiam poenae terrore revocaret: gratia autem, ut electos cum studio bonorum, tum propositis etiam praemiis provocaret. - Mit diesen Ausführungen steht Ambrosius in der Tradition der älteren asketi-

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Aus dem starken Gewicht der perfectio-Vorstellung innerhalb des pelagischen und pelagianischen Schrifttums hat Peter Brown gefolgert, daß Pelagius und seine Schüler eine Kirche propagieren, die sich ausschließlich aus perfecti zusammensetzt". Dadurch gewönne die pelagische Ekklesiologie einen stark elitären Zug; eine pelagianische Kirche wäre demnach ausschließlich als Minderheitenkirche denkbar, der es dementsprechend auch erheblich an Integrationsfahigkeit mangelte 92 . Möglicherweise ist diese Einschätzung Browns für einzelne Strömungen innerhalb des Pelagianismus zutreffend. Dies gilt vor allem für den sizilianischen Pelagianismus, von dem uns einige literarische Zeugnisse im Corpus Caspari erhalten sind". Diese Schriften sind in der Tat durch die Tendenz zu einem asketischen Rigorismus gekennzeichnet, so daß man den Eindruck gewinnt, der Verfasser lasse ausschließlich die Asketen als Christen gelten94. Aus dem, was oben über die perfectio-Lehre des Pelagius dargelegt worden ist, läßt sich allerdings schließen, daß die Einschätzung Browns für Pelagius selbst nicht zutrifft. Es ist zwar richtig, daß perfectio für Pelagius das Ideal christlichen Lebens bildet. Doch er ist Realist; er weiß, daß dieses Ideal nur wenige verwirklichen können. Daher räumt er auch den Durchschnittschristen einen festen Platz in der Kirche ein. Auch für solche Menschen, die nicht zu einem asketischen Lebensstil bereit sind, ist - sofern sie die allen Christen verbindlichen mandata Gottes einhalten - Heil garantiert, sehen Literatur. Im Unterschied zu Cyprian ist dabei jedoch der Unterschied zwischen dem Befehl und dem Ratschlag in einer ähnlich klaren Weise entwickelt wie bei Origenes. Es ist zu vermuten, daß Ambrosius direkt von Origenes beeinflußt worden ist, da er dessen Kombination von 1 Kor 7,25 mit Lk 17,10 kennt (vgl. De viduis 12,74, Sp. 256D). Auch der Gedanke, daß das Empfohlene als Ratschlag zur perfectio zu verstehen ist, ließe sich gut durch originistischen Einfluß erklären. Allerdings setzt Ambrosius in dem an die zitierte Stelle anschließenden Abschnitt einen neuen - für das Mönchtum charakteristischen - Akzent, wenn er hier den Ratschlag zur perfectio im Anschluß an die Erzählung vom reichen Jüngling Mt 19,16-26 herleitet: En tibi distantia praeeepti atque consilii, si illum recorderis, cui in Evangelio ante praescribitur, ne homicidium faciat, ne adulterium admittat, ne falsum testimonium dicat (vgl. Mt 19,17-19); praeeeptum etenim ibi est, ubi est poena peccati. At vero cum se praeeepta legis memorasset implesse (vgl. Mt 19,20), consilium eidem datur, ut vendat omnia, et sequatur Dominum (vgl. Mt 19,21); haec enim non praeeepto imperantur, sed pro consilio deferuntur. Duplex namque forma mandati est: una praeeeptiva, altera voluntaria. Unde et Dominus in alia dicit: Non occides (Mt 19,18), ubi praeeipit; in alia: Si vis perfectus esse, vende omrtia tua (Mt 19,21). Ergo hic liber est a praeeepto, cui defertur arbitrium (12,73, Sp. 256C). - Möglicherweise hat sich Pelagius für seine eigene Interpretation der Unterscheidung zwischen dem Befohlenen und dem Empfohlenen sowohl durch die ältere asketische wie auch die neuere monastische Literatur inspirieren lassen. 91

92

" 94

Vgl. Brown, Pelagius and his Supporters, S. 194: „For Pelagius and the Pelagian the aim always remained not to produce only the perfect individual, but, above all, the perfect religious group." Ebd., S. 204-206. Zum Corpus Caspari siehe oben, S. 24 Zum sizilianischen Pelagianismus siehe Wermelinger, Rom und Pelagius, S. 29f. - Es wäre ein interessantes Unterfangen, die Schriften des Corpus Caspari im Hinblick auf die hier vorausgesetzte Ekklesiologie einmal genauer zu untersuchen.

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wenn auch nur in geringerem Maße als bei den perfecti. Da Pelagius in seiner Ekklesiologie auch einfache Christen berücksichtigt, die einem asketischen Lebensstil abgeneigt sind, kann man seinem Kirchenbegriff auch nicht jede Integrationsfähigkeit absprechen. Im Gegenteil, man kann voraussetzen, daß er in den Durchschnittschristen mehr gesehen hat als nur zweitklassige Christen. Er ist ja davon überzeugt, daß jeder Mensch entwicklungsfähig ist". Somit dürfte in einer nach pelagischen Prinzipien gestalteten Kirche die Haltung zu askeseunwilligen Durchschnittschristen von der Hoffnung bestimmt sein, daß sie früher oder später den besonderen Wert eines asketischen Lebens für sich erkennen und solch einen Lebensstil annehmen. Ein geduldiger Umgang mit solchen Christen erscheint auch nach den theologischen Überzeugungen des Pelagius geboten, ist er doch davon überzeugt, daß Gott das Heil aller Menschen will". Deshalb ist die Kirche verpflichtet, ihren membra mittels der Verkündigung immer wieder neu die Möglichkeit zum Fortschritt vor Augen zu stellen. Vermutlich würde sich eine Gemeinde, wie sie sich Pelagius vorstellt, nur wenig von anderen zeitgenössischen Gemeinden wie z. B. in Mailand oder Hippo unterscheiden. So ist ja auch in den Predigten eines Ambrosius von Mailand oder eines Augustin viel von der Absage an weltliche Genüsse und dem Erwerb von praemia für das ewige Leben die Rede. Allerdings wäre es denkbar, daß aufgrund des optimistischen Menschenbildes, das Pelagius in seiner Theologie voraussetzt, in einer durch ihn geprägten Gemeinde eine andere Grundstimmung geherrscht haben würde als etwa in der nordafrikanischen Gemeinde Augustins". b. Die pelagische Lehre von der perfectio im Kontext ihrer Zeit Das rasche Vordringen monastisch-asketischer Lebensformen in den Westen des Reichs während der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts hat Widerspruch gegen die neue Bewegung hervorgerufen. Zu den Gegnern des Mönchtums zählen nicht nur jene heidnischen Kreise, die ohnehin in Opposition zum Christentum stehen, vielmehr sind auch von christlicher Seite Bedenken gegen die neue Lebensform vorgetragen worden. Als deren besonders engagierter Gegner hat sich in den achtziger Jahren des vierten Jahrhunderts Jovinian hervorgetan 98 . Um 385 taucht er in Rom auf und übt scharfe Kritik an der von jener Bewegung propagierten Hochschätzung des ehelosen und asketischen Lebens. Jovinian hat sich allerdings mit seiner Kritik nicht durchsetzen können. Um 390 wird er wegen seiner Lehre exkommuniziert; er verläßt daraufhin Rom und geht mit seinen Anhängern nach Mailand, wo er ein Jahr 95 %

Vgl. hierzu oben, S. 137ff. Vgl. hierzu oben, S. 135f. Auf die Differenzen zwischen den ekklesiologischen Entwürfen von Pelagius und Augustin werde ich im Schlußwort ausführlicher eingehen. Zu Jovinian vgl. Georg Grützmacher, Jovinianus, in: RE3 9 (1901), S. 398-401.

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später ebenfalls verurteilt wird. Die doppelte Verurteilung hat indessen die Diskussion über seine Thesen nicht gleich beendet. So verfaßt 392/393 Hieronymus, der sich schon mehrfach als leidenschaftlicher Verteidiger der neuen asketischen Lebensform hervorgetan hat, seine Schrift Adversus Iovinianum, in der er mit dessen antiasketischer Theologie abrechnet. Da Hieronymus seine Schrift äußerst polemisch gehalten hat und dabei auch Aussagen formuliert hat, die als anstößig empfunden wurden, hat die Kontroverse zwischen Hieronymus und Jovinian noch längere Zeit die theologische Diskussion in Rom mitbestimmt. So nimmt Pelagius in seinen eigenen Aussagen zur Askese Stellung zu diesem Streit; dabei grenzt er sich nicht nur von dem Mönchtumskritiker Jovinian ab, sondern in einigen Punkten auch von Hieronymus. Der jovinianische Streit gehört zu den ersten theologischen Kontroversen, die das noch junge Mönchtum des Abendlandes zum Gegenstand haben. Noch radikaler als der Mönchtumskritiker Helvedius" hat Jovinian die wesentlichen Grundüberzeugungen monastischer Frömmigkeit angezweifelt und dadurch das Mönchtum an sich in Frage gestellt. Daß Jovinian dabei die theologische Bedeutung dieser neuen Bewegung bereits weitgehend erkannt hat, zeigt sich darin, daß er in seiner Kritik am Mönchtum nach der dem Christentum angemessenen Gestalt der Kirche fragt und insofern erstmals das Mönchtum als grundsätzliche Anfrage an die Ekklesiologie begreift. Dadurch hat er Hieronymus und seine Kritiker angeregt, über die ekklesiologische Bedeutung des Mönchtums nachzudenken. Von daher ergibt sich ein Zusammenhang zwischen dem jovinianischen Streit und der perfectio-Lehre des Pelagius, die ja selbst eine Antwort auf die erstmals von Jovinian thematisierte Frage nach der Beziehung von Mönchtum und Kirche darstellt. Meine folgenden Ausfuhrungen zum theologiegeschichtlichen Ort der pelagischen perfectio-Lehre setzen aus diesem Grunde beim jovinianischen Streit ein. Zunächst soll auf Jovinians Kritik am Mönchtum eingegangen und die Reaktionen von Hieronymus und Pelagius hierauf dargestellt werden. Die dabei hervortretenden Unterschiede lassen das verschiedenartige Profil hervortreten, durch das sich diese Leitfiguren der monastisch-asketischen Bewegung in ihrer Einschätzung der Askese auszeichnen (a). Anschließend wende ich mich der Frage zu, in welcher Weise man seit dem jovinianischen Streit den Zusammenhang von Mönchtum und Kirche aufgefaßt hat, und wie vor diesem Hintergrund Pelagius' Lehre von der perfectio der Kirche zu bewerten ist (ß).

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Zum Streit zwischen Helvedius und Hieronymus, der dem jovinianischen Streit vorausgegangen ist, siehe Georg Grützmacher, Hieronymus. Eine biographische Studie zur alten Kirchengeschichte, Bd. 2: Sein Leben und seine Schriften von 385 bis 4 0 6 (SGTK 10), Berlin 1906, S. 269-274.

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a . Pelagius' Stellungnahme zum jovinianischen Streit Über die Theologie des Jovinian wissen wir allein das, was seine Gegner uns in ihren Schriften mitteilen. Die wichtigste Quelle bildet dabei Hieronymus' Streitschrift Adversus Iovinianum. Am Anfang dieser Schrift faßt Hieronymus die Position seines Gegners in vier Thesen zusammen, die er den Schriften des Jovinian entnommen hat'00; diese geht er dann nacheinander durch, um sie im einzelnen zu kommentieren und dabei zu widerlegen. Bereits die erste These läßt Jovinians antiasketische Ausrichtung deutlich hervortreten. Demnach haben Jungfrauen, Witwen und Verheiratete, die auf Christus getauft worden sind, dieselben merita, wenn sich ihre Werke nicht unterscheiden101. Jovinian stellt mit dieser These die Verdienstlichkeit der Askese, wie sie von der monastisch-asketischen Bewegung propagiert wird, grundlegend in Frage. Sein Widerspruch gegen jede Form von höherer Gerechtigkeit gründet theologisch auf der Taufe. Dies klingt in der zweiten These an, derzufolge alle, die „mit vollem Glauben in der Taufe wiedergeboren sind", vom Teufel nicht zu Fall gebracht werden können102. Jovinian erklärt somit die Taufe zur alleinigen Basis für den Heilserwerb. Jeder Gläubige, der getauft ist, bleibt Christus kontinuierlich verbunden; der Teufel hat daher keinen Zugriff auf den Gläubigen, der, wenn er seine Taufgnade bewahrt, kraft seiner Verbundenheit mit Christus endgültiges Heil erlangen wird103. Die dritte und vierte These konkretisieren die in den beiden ersten Thesen formulierte Grundposition Jovinians. In der dritten These wird die besondere Verdienstlichkeit des Fastens abgelehnt, indem das Fasten mit dem Speisegenuß gleichgestellt wird, der unter Danksagung geschieht104. Die vierte These schließlich stellt die Gleichheit der Vergeltung (remuneratio) heraus, die alle Christen, die ihre Taufgnade bewahrt haben, als Lohn empfangen werden105. Mit dieser These werden noch einmal die soteriologischen Konsequenzen der Taufdeutung Jovinians formuliert. Wenn einerseits die Verdienstlichkeit asketischer Werke bestritten, andererNach Hieronymus' eigenen Angaben in Adv. Iovin. I 3 (Sp. 214A) handelt es sich bei diesen Thesen um „Sätze" (sententiae), die er aus den Büchern des Jovinian „herausgezogen" hat (protrahere). Diese Thesen sind also wörtliche Zitate des Jovinian, die Hieronymus allerdings aus ihrem gedanklichen Kontext gerissen hat. "" 1112

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11,5

Hieronymus, Adv. Iovin. 1 4, Sp. 214B: Dicit virgines, viduas et maritatas, quae semel in Christo lotae sunt, si non discrepent ceteris operibus, eiusdem esse meriti. ebd.: Nititur approbare eos, qui plena fide in baptismate renati sunt, a diabolo non posse subverti. Siehe hierzu Grützmacher, Hieronymus Bd. 2, S. 158f. - Die soteriologischen Implikationen der durch die Taufe gestifteten Verbundenheit mit Christus klingen in der vierten These an: Quartum quod et extremum, esse omnium, qui suum baptisma servaverint, unarri in regno coelorum remunerationem (Hieronymus, Adv. Iovin. I 3, Sp. 214B). Ebd.: Tertium proponit, inter abstinentiam ciborum, et cum gratiarum actione perceptionem eorum, nullam esse distantiam. - Grützmacher merkt hierzu an, daß diese These eine positive Haltung zu den von Gott verliehenen Gütern der Welt einschließt (Grützmacher, Hieronymus Bd. 2, S. 159f.). Vgl. oben, Anm. 103.

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seits die durch die Taufe hergestellte Verbundenheit mit Christus als das einzig heilsstiftende Moment für den Menschen verstanden wird, so muß es folglich eine Gleichheit aller Christen im Himmelreich geben. Auch wenn die von Hieronymus wiedergegebenen Thesen uns nur einen oberflächlichen Einblick in das theologische Denken Jovinians erlauben, so geht aus ihnen dennoch eindeutig hervor, daß er die Absicht verfolgt, die Askese als eine soteriologisch neutrale Lebensweise zu beschreiben. Im Sinne dieser Konzeption kann der Nutzen der Askese nicht mehr theologisch legitimiert werden, so daß man letztlich kaum noch einsichtig machen kann, weshalb ein Mensch sich freiwillig derartige Entsagungen auferlegen sollte. Gerade in dieser Einschätzung der Askese unterscheidet sich Jovinian fundamental von Hieronymus. Nach dessen Überzeugung läßt sich das Christsein am besten verwirklichen, indem das Leben des Christen ganz auf Gott ausgerichtet ist. Im Sinne der monastisch-asketischen Tradition setzt Hieronymus dabei voraus, daß sich eine derartige Lebensweise nur als Askese verwirklichen läßt. Im Unterschied zu Jovinian, der das Leben der Christen in erster Linie von der Taufe her begreift, erklärt Hieronymus dadurch das Streben nach Heiligung zum Mittelpunkt christlichen Lebens. Da dieses Heiligkeitsstreben individuell verschieden ist, muß dementsprechend auch von unterschiedlichen merita seitens der einzelnen Christen ausgegangen werden. Als ein wesentliches Argument für dieses Verständnis der christlichen Lebensführung verweist Hieronymus wiederholt auf die in 1 Thess 5,17 formulierte Aufforderung, ohne Unterlaß zu beten. Diese Forderung läßt sich nur im Rahmen eines asketischen Lebens verwirklichen, da das weltliche Leben mit seinen Pflichten - besonders deutlich in der Ehe - vom ständigen Gebet ablenkt106. Auf der Basis dieser theologischen Konzeption verteidigt Hieronymus in seiner Schrift Adversus Iovinianum den Wert der Askese für das christliche Leben. Gemäß seinem besonderen Interesse an der Virginität bildet die Auseinandersetzung mit der ersten These des Jovinian einen Schwerpunkt seiner Schrift; so ist das gesamte erste Buch seiner Streitschrift allein dieser These gewidmet. Hier bemüht sich Hieronymus, Jovinian vor allem durch exegetische Argumente zu widerlegen. Seine Ausführungen setzen bei 1 Kor 7 ein. Die Vorbehalte, die Paulus gegen die Ehe erhebt, und seine Wertschätzung des Jungfrauen- und Witwenstandes werden von Hieronymus besonders stark hervorgehoben. Bereits hier wird deutlich, daß es Hieronymus aufgrund seiner besonderen Wertschätzung der Virginität schwerfällt, die Ehe als eine positiv zu bewertende Lebensform gelten zu lassen. Immer wieder weist er auf den Unterschied zwischen Ehe und Virginität hin und stellt dabei heraus, daß das

Hieronymus beruft sich dabei auf 1 Kor 7,5. Vgl. hierzu seinen Brief an Eustachium (ep. 22,21, C S E L 54, S. 174,13-17), w o er diesen Gedanken in beispielhafter Weise darlegt: uerum, ne penitus uidear omisisse, nunc dicam, quod, cum apostolus sine intermissione orare nos iubeat et, qui in coniugio debitum soluit, orare non possit, aut oramus semper et uirgines sumus, aut orare desinimus, ut coniugio seruiamus.

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ehelose Leben die höherwertige Lebensform darstellt. In den ersten Kapiteln des ersten Buches spricht er noch relativ zurückhaltend über diesen Unterschied. So führt er z. B. am Ende des dreizehnten Kapitels aus: „Wo etwas gut (sc. die Ehe) und etwas anderes besser (sc. die Ehelosigkeit) ist, da ist die Belohnung für das Gute und die für das Bessere nicht dieselbe; und wo die Belohnung nicht dieselbe ist, da sind zwangsläufig auch Gaben verschieden. Also besteht zwischen Ehe und Ehelosigkeit ein so großer Unterschied wie zwischen dem Nicht-Sündigen (vgl. 1 Kor 7,28) und dem Gut-Handeln (vgl. 1 Kor 7,37), ja, um es gefälliger auszudrücken, wie zwischen Gutem und Besserem"107. Hieronymus beläßt es jedoch nicht bei diesen noch relativ gemäßigten Bemerkungen. Vielmehr preist er von Kapitel zu Kapitel die Virginität immer leidenschaftlicher und wertet zugleich die Ehe immer stärker ab. So begegnen in der Mitte des ersten Buches Aussagen mit einer ehefeindlichen Tendenz. Daß die Ehe letztlich eine minderwertige, ja schlechte Lebensform darstellt, wird zwar nirgends explizit ausgesprochen; allerdings laufen viele seiner Argumente darauf hinaus, so daß dieses Werturteil in seinen Ausführungen unausgesprochen präsent bleibt. Exemplarisch seien hier zwei exegetische Darlegungen zur Urgeschichte Gen 1-3 angeführt. Der erste dieser beiden Gedankengänge thematisiert die Ehe von Adam und Eva. Wie Hieronymus darlegt, ist diese Ehe erst nach der Vertreibung aus dem Paradies geschlossen worden; denn „vor dem Sündenfall ( o f f e n s a ) im Paradies sind sie (sc. Adam und Eva) jungfräulich gewesen; jedoch nach der Sünde und außerhalb des Paradieses waren sie unverzüglich Eheleute"108. Es ist deutlich, was der Leser aus diesen Worten heraushören soll: Virginität ist gleichsam ein paradiesisches - und dementsprechend sündloses - Dasein, die Ehe hingegen steht unter dem Vorzeichen der Sünde. Ein anderer Gedankengang kreist um die Schilderung des zweiten Schöpfungstages Gen 1,3-6. Hieronymus ist aufgefallen, daß hier die bei der Schilderung der anderen Schöpfungstage begegnende Formulierung „Und Gott sah, daß es gut ist" fehlt. Den Grund dafür erblickt er in der Zahl des Schöpfungstages. Die Zwei ist keine gute Zahl, „weil sie von der Einheit" trennt. Dieser Zerfall der Einheit vollzieht sich auch im Rahmen der Ehe aufgrund der geschlechtlichen Unterscheidung zwischen Mann und Frau. Insofern beinhaltet die Zahl zwei auch eine Vorabbildung des Ehebündnisses109. HieroHieronymus, Adv. Iovin. I 13, Sp. 232B: Ubi autem bonum et melius est, ibi boni et melioris non unum est praemium; et ubi non unum praemium, ibi utique dona diversa. Tantum est igitur inter nuptias et virginitatem, quantum inter non peccare et bene facere; immo, ut levius dicam, quantum inter bonum et melius. AaO., I 16, Sp.235A: Ac de Adam quidem et Eva illud dicendum, quod ante offensam in paradiso virgines fuerint: post peccatum autem, et extra paradisum protinus nuptiae. AaO., 1 16, Sp. 235C-236A: Sed et hoc intuendum dumtaxat iuxta hebraicum veritatem, quod cum Scriptura in primo, et tertio, et quarto, et quinto, et sexto die expletis singulorum operibus dixerit: Et uidit Deus quia bonum est, in secundo die hoc omnino subtraxit: nobis intelligentiam derelinquens, non esse bonum duplicem numerum, quia ab unione dividat et praefiguret, foedera nuptiarum. - Daß die Ehe die (im Rahmen der Virginität gegebene) Unter-

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nymus deutet damit die Verschiedenheit der Geschlechter, wie sie in der Ehe zum Ausdruck kommt, als Spaltung, in der der Mensch sich von sich selbst und damit zugleich von Gott entfernt. Interpretiert man die Bedeutung der Zahl des zweiten Schöpfungstages in dieser Weise, so wäre das Fehlen eines positiven Urteils über diesen Tag indirekt auch als eine Mißfallenskundgebung Gottes über die Ehe zu deuten. Hieronymus hat sich damit dem Gedanken, daß die Ehe letztlich von Gott nicht gewollt ist, bereits sehr stark angenähert. Es kann daher auch nicht weiter verwundern, daß Hieronymus für seine Ehetheologie kritisiert worden ist. Über diese Kritik sind wir teilweise informiert. So berichtet Hieronymus selbst, daß nach der Veröffentlichung von Adversus Iovinianum in Rom eine namentlich nicht genannte Person öffentlich behauptet hat, er verdamme die Ehe. Nach Ansicht von Evans handelt es sich bei diesem Kritiker um Pelagius'10. Leider ist Hieronymus' Beschreibung dieses Vorfalls zu allgemein gehalten, um hieraus mit Sicherheit folgern zu können, daß tatsächlich Pelagius gemeint ist1". Betrachtet man allerdings Pelagius' eigene Ehetheologie, so gewinnt man in der Tat den Eindruck, daß er sich hier bewußt von Hieronymus abgrenzen will. Zwar schätzt auch Pelagius die Virginität höher ein als die Ehe"2; anders als Hieronymus vermeidet er es jedoch, Ehe und Virginität als Gegensätze darzustellen. Vielmehr beschreibt er beide als verschiedene Stufen christlicher Lebensweise, die gleichermaßen durch Gottes Willen legitimiert sind. Der Unterschied zwischen beiden ist von daher rein quantitativ zu fassen, und nicht - wie gelegentlich bei Hieronymus - qualitativ. In dieser Weise bewertet Pelagius nicht nur die Ehelosigkeit, sondern auch alle anderen Handlungen des asketischen Lebensstils"3. Von daher wirken Pelagius' Ausführungen zur Askese insgesamt sehr viel moderater als die sehr engagierten, z. T. aber auch recht verbissenen Aussagen des Hieronymus. Im Hinblick auf die Bewertung der Askese wird man Pelagius von daher eher als einen gemäßigten Vertreter der monastisch-asketischen Bewegung einschätzen dürfen, wie es in vergleichbarer Weise auch der frühe Augustin, Ambrosius oder Johannes Cassian gewesen sind.

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schiedslosigkeit der Menschen durch die geschlechtliche Differenzierung in Mann und Frau aufhebt, hat Hieronymus bereits vorher ausgeführt (vgl. aaO., Sp. 235B/C). Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals, S. 26-42. Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals, S. 31-37, unternimmt den Versuch, aus den polemischen Bemerkungen des Hieronymus über seinen Kritiker verläßliche Hinweise abzuleiten, die auf Pelagius deuten. Doch insgesamt wissen wir über Pelagius' Wirken in Rom zu wenig, als daß die Überlegungen von Evans restlos zu überzeugen vermöchten. Zudem wird man angesichts von Hieronymus' Vorliebe, seine Gegner in satirischer Form zu karikieren, dessen Äußerungen zu seinem Kritiker in Rom mit großer Vorsicht zu lesen haben. Vgl. Exp., S. 170,18-22 (1 Kor 7,40): Beatior autem erit, si sie permanserit. Beata habens maritum, si custodiat iustitiam: beatior uidua, quia minore labore maius inueniet castitatis praemium: beatissima uirgo, qui sine labore ad summum praemium poterit peruenire. Siehe oben, S. 144ff.

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Pelagius' kritische Haltung zum Virginitätsideal des Hieronymus darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß beide wesentliche monastische Grundüberzeugungen teilen. Dazu gehört u. a. die Aufgeschlossenheit gegenüber der Vorstellung einer höheren Gerechtigkeit, die sich der Christ in seinem Streben nach perfectio erwirbt. Aus diesem Grunde reiht sich auch Pelagius unter die Kritiker Jovinians ein. Allerdings setzt er in seiner Kritik andere Akzente als Hieronymus. Geht es letzterem vor allem darum, sein „Evangelium der Virginität""4 zu verteidigen, so konzentriert sich Pelagius in seiner Auseinandersetzung mit Jovinian auf dessen Kritik an der Vorstellung von der Verdienstlichkeit der asketischen Lebensform115. Daß Pelagius gerade in der Negation des Verdienstgedankens das eigentlich Gefahrliche in der Lehre Jovinians erblickt, wird man auf das der pelagischen Theologie zugrunde liegende Menschenbild zurückfuhren dürfen. Dieses setzt voraus, daß menschliches Handeln durch das Streben nach dem Angenehmen bestimmt ist116. Um sich für das entsagungsreiche Leben eines Asketen motivieren zu können, benötigt folglich der Christ die Perspektive auf etwas Angenehmes, dessen Attraktivität so groß ist, daß es über die qualvollen Mühen eines asketischen Lebens hinwegzutrösten vermag. Innerhalb der pelagischen Lehre übernimmt diese Rolle die spes auf die zukünftigen praemia, die sich der Christ in seinem Streben nach höherer Gerechtigkeit erwirbt. So hebt Pelagius bereits im Hinblick auf das Christsein im allgemeinen hervor, daß die in der gegenwärtigen Welt lebenden Christen ihre Freude allein aus dem künftigen Hoffnungsgut beziehen sollen, erscheinen doch angesichts von dessen Größe und Herrlichkeit alle irdischen Freuden als bedeutungslos. So legt Pelagius in seinem Kommentar zu Eph 1,18 dar: „Wenn ihr Kenntnis darüber erlangt habt, zu welch großem Hoffhungsgut ihr berufen seid, verachtet ihr mühelos jedes Hoffnungsgut der Welt; und wenn ihr die Schätze des Erbbesitzes Gottes gesehen habt, wird für euch jeder irdische Erbbesitz ohne Reiz sein, geruht doch niemand, der ein Königreich mit seinem Reichtum erhofft, bloß Verwalter zu sein und nur einen mittelmäßigen Bestand zu besitzen""7. Beruht 114

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In dieser sehr treffenden Weise charakterisiert Grfitzmacher, Hieronymus Bd. 2, S. 150, das zentrale Anliegen des Hieronymus. Vgl. Exp., S. 281,11-13 (2 Kor 9,6): Hoc autem [dico]: Qui parce seminat, parce et metet. Contra louinianum etiam hic locus facit, ubi meritorum gradus esse monstra[n]tur. - Stark antijovinianistisch ist auch die Auslegung von 1 Kor 7 (Exp., S. 159-171) gehalten, obgleich Jovinian hier nicht namentlich erwähnt wird. - Zu Pelagius' Kritk an Jovinian vgl. auch Exp., S. 142,1 lf. (zu 1 Kor 3,8): ['propriam mercedem accipiet secundum suum laborem.' Contra louinianum, qui unam omnium in regno dei putat esse mercedem.] Wie Souter in seiner Ausgabe durch die eckigen Klammern anzeigt, ist der Text dieser Anmerkung allerdings nicht gesichert. - Neben diesen beiden Bemerkungen finden sich noch polemische Bemerkungen zu Jovinian in Exp., S. 409,10-12 (Phil 3,9) und S. 421,1-4 (1 Thess 2,7). Siehe hierzu A 1 3 . Exp., S. 349,18-350,3 (Eph 1,18): Ut sciatis quae sit spes uocationis eius, quae diuitiae gloriae herediatis eius in sanctis. Si scieritis ad quantam spem uocati estis, omnem spem saeculi facile contemnetis; et si diuitias hereditatis dei uideritis, omnis terrena uobis sordebit he-

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die Motivation, sich von der Welt und ihren Genüssen zu distanzieren, allein auf der Hoffnung auf die als praemium verliehene künftige Herrlichkeit, so folgt hieraus im Hinblick auf den asketisch lebenden perfectus, daß er sich geistig ganz auf den Erwerb künftiger Herrlichkeit ausrichten muß, ja eine solche Einstellung geradezu seine Grundhaltung sein muß. Mit großem Nachdruck beschwört Pelagius dies am Ende der Epistula ad Demetriadem. Im Anschluß an eine breite Schilderung der künftigen Herrlichkeit, die Demetrias als Lohn für ihre lebenslange Keuschheit erwerben soll, appelliert Pelagius an die junge Asketin, ihr ganzes Denken zu jeder Zeit vom Verlangen nach der künftigen Herrlichkeit durchdrungen sein zu lassen. Man kann diesen Appell verallgemeinernd als eine Anweisung an alle perfecti verstehen: „Dies (sc. die zukünftige Herrlichkeit) sei immer deine Sorge, dies sei immer dein Bemühen, dies soll beständig im Herzen der Jungfrau bewegt werden. Hierin verrichte dein ganzes Tagewerk. Hierin lege dich zu nächtlichem Schlaf nieder, im Gedanken hieran wache die Seele wieder auf. Denn keine Mühe darf als zu hart, keine Zeit als zu lang erscheinen, mittels derer man doch die Herrlichkeit der Ewigkeit erwirbt"" 8 . Ließe man hingegen Jovinians These gelten, wonach die asketischen Tugenden keinerlei Verdienstlichkeit besitzen, so wäre dem pelagischen Konzept christlicher Frömmigkeit die Grundlage entzogen. Pelagius' These, daß der Mensch nach seiner Bekehrung in seinem Christsein bis zur perfectio fortzuschreiten vermag, ließe sich nicht mehr aufrechterhalten, denn es fehlte dem Menschen die zum Fortschritt anregende Perspektive auf eine höhere Gerechtigkeit mit einem entsprechenden Lohn. Damit wäre auch jede Lebensführung, die über ein normales Maß hinausgeht - wie z. B. jede Form von Askese letztlich sinnlose Quälerei. Obgleich Pelagius dem Jovinianismus nur relativ wenig Aufmerksamkeit schenkt, läßt sich den Expositiones ablesen, daß er sich bewußt war, wie unentbehrlich der Verdienstgedanke für seine eigene Theologie ist und welche verhängnisvollen Konsequenzen dessen Ablehnung nach sich zöge. Am deutlichsten tritt dieses Problembewußtsein in seinem Kommentar zu 1 Kor 15,2 hervor. Dort faßt Pelagius das Thema von 1 Kor 15 zusammen. Demnach geht es in diesem Kapitel um den Glauben an die Auferstehung Christi, ohne den sich der Glaube an das Heil, das Christus den Menschen bringt, nicht aufrechterhalten ließe. Pelagius trägt diese Themenangabe als Paraphrase vor, die in der 1. Person - also als Wort des Apostels Paulus gehalten ist. Dabei verleiht er der paulinischen Fragestellung einen neuen Akzent, indem er das Heil, das die Menschen am Tage ihrer Auferstehung

reditas: nemo enim, regnum cum opibus suis sperans, curator esse et mediocrem substantiam possidere dignatur. "*

Ad Dem. 30, Sp. 4 4 D - 4 5 A : Haec sit igitur cura tua semper, hoc studium: haec iugiter virginis corde volvantur. In his totius diei versetur labor. In his noctumus somnus reponatur. In haec anima rursus evigilet. Etenim nullus labor durus: nullum tempus longum videri debet, quo gloria aeternitatis acquiritur.

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B. Die Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch

erhalten werden, mit den praemia gleichsetzt, welche sie als Lohn bei ihrer Verherrlichung empfangen werden. Durch diese Interpretation läßt Pelagius die Paraphrase wie ein Bekenntnis zur Verdienstlichkeit klingen, wie er es selber vor seinen Schülern abgelegt haben könnte: „Der ganze Sinn unserer Predigt besteht darin, daß ihr an die Auferstehung glaubt. Denn diese ist die Belohnung für alle, die Christus eifrig dienen. Andernfalls ist die ganze Mühe des Fastens und der Trübsale, die ihr in diesem Leben erleidet, überflüssig, wenn ihr hier dem Anschein nach Glück und Unglück mit den Ungläubigen gemeinsam habt, so wie die Heiden selbst gewöhnlich als Vorwurf erheben, was wir denn mehr als jene haben sollten; und so ist es wirklich: Wenn wir nicht in einem anderen Leben Lohn für diese Mühe haben würden, so stehen wir schlimmer als jene da, weil die doch wenigstens in der Gegenwart den Trost der Begierden und Ausschweifungen zu haben scheinen"" 9 . ß. Mönchtum und Kirche Jovinians Kritik am Verdienstgedanken schließt auch weitreichende Konsequenzen für das Kirchenverständnis ein. Wenn er nämlich davon ausgeht, daß alle Wiedergeborenen im Himmelreich dieselbe Vergeltung empfangen, so folgt hieraus für die Gestalt der Kirche, daß es keine Rangunterschiede zwischen den Christen gibt120. Eine differentia besteht vielmehr allein zwischen denen, die in der Kirche sind, und denen, die außerhalb stehen, also zwischen den Gerechten und den Sündern121.

Exp., S. 213,1-11 (1 Kor 15,2): Qua ratione [ante] praedicauerim uobis. Tota ratio praedicationis nostrae haec est, ut resurrectionem credatis: hoc est enim praemium omnium qui Christo deseruiunt. alioquin superfluus omnis labor est ieiuniorum tribulationumque, quas in hac uita patimini, cum uobis hic prospera uel aduersa cum infidelibus esse communia uideantur, sicut et ipsi solent pagani proponere quid ab illis amplius habeamus, et uere est. si horum laborum praemium in uita alia non habemus, peiores illis sumus, quia Uli uel in praesenti uoluptatum et luxuriae consolationem habere uide[a]ntur. - Der kurze Satz „et uere est", den Souter durch seine Interpunktion nachklappend hinter dem Cum-Satz angefügt hat, ist m. E. als Einleitung für den folgenden, mit „si" eingeleiteten Konditionalsatz aufzufassen. In dieser Weise ist von mir der Text übersetzt worden. Vgl. hierzu Hieronymus, Adv. Iovin. 11 19, Sp. 313C-314C. Hieronymus zitiert hier die Auslegungen des Jovinian, mit denen er diese These rechtfertigt. Als ein repräsentatives Beispiel sei hier auf seine Auslegung von Joh 6,55 verwiesen (aaO., Sp. 314A): Dicit Dominus: Qui manducat meam carnem, et bibit meum sanguinem, in me manet et ego in illo. Sicut ergo sine aliqua differentia graduum Christus in nobis est; ita et nos in Christo sine gradibus sumus. Vgl. hierzu die Ausführungen Jovianans, die Hieronymus in Adv. Iovin. II 20 (Sp. 314C-D) wiedergibt: Si autem, inquit, mihi opposueris Stella a Stella differt in claritate (1 Kor 14,41), audies differre stellam a Stella, hoc est, spirituales a carnalibus. Omnia membra aequaliter diligimus, nec oculum praeponimus digito nec digitum auriculae: sed in singulorum amissione, membrorum communis dolor est. Aequaliter introimus in hoc saeculum, et aequaliter de eo egredimur. Unus Adam terrenus et alter coelestis. Qui in terreno fuerit, a sinistris est et peribit: qui in coelesti, a dextris est et salvabitur.

II. Die Entwicklung der Kirche

159

Dieses ekklesiologische Modell, das Jovinian aus seiner Kritik an der meritum-Lehre der monastisch-asketischen Bewegung ableitet, steht in einer starken Diskrepanz zur zeitgenössischen Ekklesiologie. So wird von offizieller Seite ein hierarchisches Kirchenverständnis propagiert, wie es faktisch schon seit längerem besteht und bereits kirchliche Tradition geworden ist. Seinen deutlichen Ausdruck findet dieses ekklesiologische Modell in der Hierarchie der Ämter, die von den ordines minores bis zu den durch diaconus, presbyter und episcopus konstituierten ordines maiores reicht122. In Adversus Iovinianum verteidigt Hieronymus diesen traditionellen Kirchenbegriff. In seinen recht weitschweifigen Ausführungen expliziert er zwei Argumente. 1. Grundsätzlich ist es ungerecht, bei Sünden und Verdiensten keine Abstufungen vorzunehmen. So wird dadurch etwa dem Diebstahl eines Brotes der gleiche Wert zugesprochen wie Mord, obwohl es sich dabei doch um zwei unterschiedlich zu gewichtende Vergehen handelt123. Ebenso wird der Apostel Paulus dem Blutschänder gleichgestellt, der für sein Vergehen Buße geleistet hat, obwohl doch Paulus eine wesentlich frömmere Vorgeschichte hat als der Blutschänder124. Im Kern zielt diese Kritik auf das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes. Hieronymus ist überzeugt, daß sie im Sinne einer Gerechtigkeit zu verstehen ist, die jedem das zukommen läßt, was er verdient. Gott selbst handelt dadurch gerecht, weil er den Menschen genau danach bewertet, wofür er auch selbst verantwortlich ist125. Diese Interpretation der Gerechtigkeit Gottes schließt ein, daß man sowohl bei den Sünden wie auch den merita Abstufungen vorzunehmen hat, die den jeweils ausgeübten Verbrechen oder tugendhaften Handlungen angemessen sind. Indem Jovinian jegliche Abstufungen bei Sünden und merita ablehnt, hebt er nach Hieronymus die Gerechtigkeit Gottes auf. Die Handlungen der Menschen werden ja dann nicht mehr nach dem bemessen, was die Menschen in je individuell verschiedener Weise geleistet haben, da es nur den absoluten Gegensatz zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gibt. 2. Ebenso sieht es Hieronymus als selbstverständlich an, daß die Kirche hierarchisch abgestuft ist, wobei die einzelnen gradus innerhalb dieser Hierar-

D i e s e Thematik wird ausführlich in Kapitel D I behandelt. Vgl. Hieronymus, Adv. Iovin. II 21, Sp. 315B: Si non licet a virtutibus paululum declinare, et omnia peccata sunt paria, eiusdemque criminis reus, qui panem esuriens surripuerit et qui hominem o c c i d e r i t . . . AaO., II 22, Sp. 317A: Idipsum ergo erit Paulus, et ille poenitens, qui cum patris uxore dormierat, quia in Ecclesiam post poenitenitam receptus est; et quia simul a dextris est, in eadem cum Apostolo claritate fulgebit? - Mit dieser rhetorischen Frage antwortet Hieronymus auf die in II 19 formulierte These, wonach der Christ, der schon immer mit Gott gewesen ist, auf derselben Stufe stehe wie der ehemalige Poenitent, der die kirchliche Absolution empfangen habe (vgl. Sp. 315 A: Inter eum fratrem, qui Semper cum patre fuerat, et qui postea poenitens est receptus, nulla diversitas est). Dieser Gedanke begegnet wiederholt in den Ausführungen des Hieronymus. Vgl. z. B. Adv. Iovin. II 33, Sp. 3 2 9 D - 3 3 2 A , dort insbesondere Sp. 3 3 0 C - 3 3 1 B .

160

B. Die Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch

chie mit den jeweils erbrachten merita in Verbindung zu bringen sind. Mit besonderem Nachdruck bringt er diesen Gedanken für die eschatologische Kirche nach dem Gericht Gottes zur Geltung. Hier werden die Christen im Himmel unterschiedliche Wohnungen einnehmen, die dem Grad ihrer jeweils erbrachten Verdienste entsprechen126. Hieronymus spricht jedoch auch im Hinblick auf die gegenwärtige Kirche von Rangunterschieden. Allerdings hält er seine Ausfuhrungen dazu sehr allgemein. In erster Linie sind es biblische Beispiele, an denen er die hierarchische Struktur der Kirche aufzeigt127. Nur andeutungsweise nimmt er auch Bezug auf die Kirche seiner Zeit. So erwähnt er beiläufig die Ämterhierarchie (episcopus - presbyter - diaconus) und nennt parallel dazu eine Art Asketenhierarchie (virgines - viduae - maritatae)n%. Weiterführende Überlegungen, die darauf abzielen, den Platz der Asketen in der Kirche seiner Zeit genauer zu bestimmen, werden von Hieronymus nicht angestellt. Solches liegt offensichtlich außerhalb seines Interesses. Es scheint ihm allein darum zu gehen, die theologischen Grundlagen des Mönchtums als einer Form höheren Christseins zu verteidigen. Indem er den meritumGedanken sowie die hierarchische Struktur der Kirche rechtfertigt, hat er das bereits erreicht, ist doch auf dieser theologischen Basis ein Asketenstand denkbar, der - auch wenn seine Stellung in der gegenwärtigen Kirche unbestimmt bleibt - in der zukünftigen, eschatologischen Kirche einen besonderen Ehrenplatz einnehmen wird. Daß Hieronymus die Frage nach der Rolle des Mönchtums in der gegenwärtigen Kirche weitgehend vernachlässigt, wird man auf die Interessen der jungen monastisch-asketische Bewegung des Abendlandes zurückführen dürfen, für die Hieronymus in Adversus Iovinianum spricht. Wie man nämlich den zahlreichen Briefen und Traktaten entnehmen kann, die in jener Zeit zur Unterweisung christlicher Asketen verfaßt worden sind, strebt das junge Mönchtum nach einem kontemplativen Leben in der Zurückgezogenheit von der Welt'29. Dieses Ideal schließt auch eine Distanz zum kirchlichen Leben ein, 126

Vgl. Hieronymus, Adv. Iovin. II 28, Sp. 3 2 4 B - 3 2 5 B . Vgl. hier insbesondere Sp. 3 2 4 C u. D: ... Locus et mansiones quas praeparare se dicit Christus apostolis, in domo utique sunt Patris, id est, in regno coelorum, non in terra ... Paratae, inquit, sunt in coelo diversae et plurimae mansiones, plurimis diversisque virtutibus, quas non personae accipiunt, sed opera ... Hieronymus greift hier auf Vorstellungen der älteren asketischen Literatur zurück. Siehe hierzu oben, S. 148, Anm. 90.

127

Vgl. hierzu Hieronymus, Adv. Iovin. II 23, Sp. 318C-320B.

I2

Vgl. Hieronymus, Adv. Iovin. II 34, Sp. 3 3 2 B - 3 3 3 A : Si tollis ordinem Tabernaculi, Templi,

*

Ecclesiae, si omnes qui a dextris sunt, unum, ut vulgo dicitur, encoma ad militiam, probat, nequidquam episcopi, frustra presbyteri, sine causa diaconi sunt. Quid perseverant virgines? quid laborant viduae? cur maritatae se continent? 129

Vgl. z. B. Hieronymus, ep. 22,25. Wie er hier darlegt, soll die Asketin Eustachium ihr Leben in der Einsamkeit ihrer Kammer führen. Hier soll sie mittels Gebet und Bibellektüre ein ständiges Zwiegespräch mit ihrem Bräutigam Christus führen: Semper te cubiculi tui secreta custodiant, Semper tecum sponsus ludat intrinsecus. oras: loqueris ad sponsum; legis: ille tibi loquitur... (CSEL 54, S. 178,15-18). - Auch in der

Epistula adDemetriadem

klingt der Ge-

II. Die Entwicklung der Kirche

161

da dieses in die Welt eingebunden ist. Trotz ihres Bestrebens nach Absonderung vom Gemeindeleben haben jedoch sowohl die Asketen wie auch die Kirchenvertreter darauf Wert gelegt, daß die monastisch-asketischen Gemeinschaften der Kirche verbunden bleiben, um nicht zu häretischen Sondergruppen herabzusinken. Aus diesem Grunde hat man sich intensiv darum bemüht, das sich immer schneller ausbreitende Mönchtum mit der Kirche zu verklammern. Die Voraussetzungen dafür sind von Anfang an sehr gut gewesen. Viele Förderer des Mönchtums waren nämlich selbst führende Vertreter der Kirche, so daß die von ihnen betreuten asketischen Kreise bereits in ihrem Entstehen unter kirchlicher Aufsicht gewesen sind130. Ebenso hat auch die zunehmende Tendenz zur Klerikalisierung des Mönchtums dessen Anbindung an die Kirche erheblich erleichtert131. Blickt man auf die asketischen Kreise in Rom, so läßt sich hier beobachten, wie auf praktischer Ebene eine Verbindung von Mönchtum und Kirche hergestellt wird. Bei dem asketischen Zirkel, den Hieronymus betreut hat, ist es dessen eigene Person, durch die eine derartige Verbindung geschaffen worden ist. Um das Jahr 382 ist er von dem antiochenischen Bischof Paulinus zum Presbyter geweiht worden; allerdings ist ihm dabei ausdrücklich zugestanden worden, weiterhin Mönch bleiben zu können132. Dieses Privileg hat es ihm erlaubt, ohne Bindung an eine bestimmte Gemeinde für monastische Ideen zu werben und dabei zugleich als Repräsentant der Kirche aufzutreten. Aufgrund seiner Doppelfunktion ist die Kirchlichkeit der von ihm betreuten asketischen Zirkel auch niemals in Frage gestellt geworden. Ähnliches gilt für die asketischen Kreise des Rufin von Aquileia, da dieser ebenso wie Hieronymus ein geweihter Presbyter gewesen ist. Anders sieht es jedoch bei dem asketischen Kreis des Pelagius aus. Im Unterschied zu Hieronymus und Rufin ist Pelagius nämlich Laie; er muß daher einen anderen Weg gehen, um seine Kirchlichkeit - und damit die der von ihm betreuten Kreise - nachzuweisen. Diese Aufgabe übernimmt seine Lehre, in der er bewußt den Konsens mit der offiziellen kirchlichen Lehrmeinung sucht133. Dadurch will er sich als orthodox ausweisen und auf diese Weise sich und seinen Anhängern die gewünschte kirchliche Anerkennung verschaffen. Ich halte es für denkbar, daß Pelagius' perfectio-Lehre in engem Zusammenhang mit seiner Orthodoxie zu sehen ist. In diesem Kontext trägt er nämdanke an, daß Demetrias ihr Leben in Zurückgezogenheit und Kontemplation verbringen soll. Vgl. Ad Dem. 22, Sp. 36B-C: In Evangelio Christi verba legimus: Beali misericordes, quoniam ipsi misericordiam consequentur (Mt 5,7). Sed quaeso hanc curam vice tua avia materque suscipiant... Tibi vero, maxime dum in proposito maturescat animus, ab omnibus occupationibus recedendem est et omne Studium omnisque cura in ornandis moribus exhibenda. Als Beispiel sei hier auf Ambrosius von Mailand verwiesen, der auch als Bischof das Mönchtum aktiv gefördert hat. Siehe hierzu Lorenz, Die Anfänge des abendländischen Mönchtums, S. 9f. Vgl. hierzu Lorenz, Die Anfänge des abendländischen Mönchtums, S. 32f. Vgl. hierzu Grützmacher, Hieronymus, Bd. I, S. 175f. Evans, Pelagius. Inquiries and Reappraisals S. 92.

162

B. Die Kirche als Gemeinschaft von Gott und Mensch

lieh vor, was bislang auf praktischer Ebene angestrebt worden ist, und zwar die Einbindung des Mönchtums in die Kirche. Das eigentlich Neue an seiner Lehre ist darin zu sehen, daß er diese Thematik erstmals auf der Ebene theologischer Reflexion behandelt. Die Anregung dazu könnte Pelagius von Hieronymus' Schrift Adversus Iovinianum empfangen haben. Hier wird ja das Problem der Beziehung von Mönchtum und Kirche erstmals als eine theologische Fragestellung aufgeworfen. Zudem liefert Hieronymus mit seinen Überlegungen zum Zusammenhang von Verdienst und kirchlicher Hierarchie sowie der besonderen Ehrenstellung der Asketen in der Kirche wichtige Bausteine für die pelagische perfectio-Lehre'". Auch ein weiterer zentraler Baustein, die Unterscheidung zwischen dem Befohlenen und dem Erlaubten sowie die daraus abzuleitende Unterscheidung zweier verschiedener Stufen des Christseins, steht möglicherweise in einem Zusammenhang mit Hieronymus' Darlegungen in Adversus Iovinianum, handelt es sich dabei doch um ein theologisches Modell, das Pelagius erstmals in Auseinandersetzung mit der Ehetheologie des Hieronymus zur Anwendung gebracht hat"5. Diese Elemente werden von Pelagius zu einem ekklesiologischen Gesamtkonzept von erstaunlicher Geschlossenheit zusammengefugt, das in dieser Weise etwas Neues darstellt. Er erhebt darin das Mönchtum zum allgemeinen Leitbild christlichen Lebens. Damit wird das Mönchtum gewissermaßen in den Dienst der Kirche gestellt; den Christen wiederum, die ihr angehören, wird die Verpflichtung auferlegt, sich weiterzuentwickeln und sich ihrem Leitbild - dem perfectus - anzunähern. Daß die Kirche langfristig im Mönchtum aufgeht, mag eine Hoffnung sein, die Pelagius und seine Anhänger gehegt haben. In erster Linie wird Pelagius jedoch die gegenwärtigen kirchlichen Verhältnisse vor Augen gehabt haben. In ihnen soll das Mönchtum seinen festen Ort finden - zum Nutzen der gesamten Kirche.

134 135

Siehe hierzu oben, S. 159f. Vgl. hierzu oben, S. 155f.

C. Die Einheit der Kirche Nach Pelagius sind die Christen durch die Taufe in eine Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott getreten, die als Gemeinschaft mit Christus die Zugehörigkeit zum corpus Christi, als Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist sanctitas bzw. in Kombination dieser beiden Aspekte im Hinblick auf alle Christen die Heiligkeit der Kirche bedeutet1. Pelagius geht davon aus, daß ihre Gemeinschaft mit Gott die Christen auch untereinander zu einer congregatio fidelium eint2. Die Gemeinschaft der Christen untereinander besitzt eine Ordnung, die Pelagius gemäß 1 Kor 12 und Röm 12 durch Gott konstituiert sieht. In der Art eines Organismus sind innerhalb des corpus Christi die verschiedenen Aufgaben sinnvoll verteilt, so daß der einzelne einen nützlichen Beitrag für das Ganze leistet: „So wie in einem Organismus (corpus) die Glieder (membra) passend und geordnet verteilt sind, so wird auch in der Kirche ein jeder von Gott zu dem eingesetzt, wozu er paßt"3. Neben der Einheit im Geist und der damit verbundenen Ordnung der Kirche sieht Pelagius im Frieden, den die membra des corpus Christi im freiwilligen Gehorsam gegenüber Gott bewahren sollen, ein weiteres Moment, das für den Erhalt der inneren Einheit der Kirche notwendig ist4. Dieser Frieden ist auf zwei Bezugspunkte ausgerichtet. Zum einen handelt es sich um den Frieden der Christen mit Gott, der durch die Sündenvergebung als Versöhnung zwi-

1 2 3

4

Siehe hierzu oben, B I 1. Siehe hierzu oben, S. 48f. Exp., S. 198,16-19 (1 Kor 12,18): Nunc autem posuit deus membra, unum quodque eorum in corpore, sicut uoluit. Sicut in corpore apte et ordinate constituía sunt membra, ita et in ecclesia unus quisque a deo ad id quod aptus est ordinatur. - Die Analogie von der Ordnung eines Organismus zur kirchlichen Ordnung bringt Pelagius in dieser Formulierung auch sprachlich zum Ausdruck. Den Adverbien apte und ordinate in der ersten Hälfte des Satzes entsprechen die Ausdrücke aptus est und ordinatur in der zweiten Satzhälfte. Im Deutschen läßt sich diese stilistische Feinheit nur schwer nachahmen. Exp., S. 362,15f. (Eph 4,3): {Sollicite seruantes unitatis spiritum) in uinculo pacis. Per uinculum pacis in nobis unitas spiritus continetur ... - Vgl. auch S. 355,18f. (Eph 2,18): In uno spiritu. Unum corpus unum spriritum habet, et Signum pacis unus est spiritus. - S. 10,6f. (Röm 1,7): ... commonet etiam pacíficos esse debere unam eandemque gratiam consecutos. In diesen Zitaten wird der Begriff „Geist" (spiritus) doppeldeutig verwendet. Einerseits geht aus dem Kontext eindeutig hervor, daß unitatis spiritus auf die allen Christen gleichermaßen eigene Gabe des Heiligen Geistes zu beziehen ist (vgl. Exp., S. 363,5f. zu Eph 4,4), andererseits schwingt in dem Ausdruck „Geist der Einheit" der Gedanke der Eintracht der membra mit, wie Pelagius in Exp., S. 362,16f. mit seinem Verweis auf Act 4,32 andeutet. Man kann diese Ambivalenz des unitatis spiritus als einen weiteren Hinweis für die Ansicht werten, daß die Einheit des corpus Christi nur bei gleichzeitiger Eintracht möglich ist.

164

C. Die Einheit der Kirche

sehen Gott und Mensch gestiftet worden ist5. Zum anderen meint pax den Frieden der Christen untereinander, durch den alle früheren Gegensätze - wie etwa der Unterschied zwischen Juden und Heiden - überwunden sind und Eintracht hergestellt worden ist6. Mit diesem Verständnis der pax knüpft Pelagius an die Theologie des Eph an. So wird in Eph 2,14 Gott selbst Friede genannt, da er es ist, „der die zwei (sc. Völker - nämlich Juden und Heiden - ) zu einem gemacht hat". Der vorangehende Vers Eph 2,13 spricht die Versöhnung der ungläubigen Heiden mit Gott durch den Kreuzestod Christi an. Somit trifft Pelagius durchaus die Intention des Eph, wenn er den Frieden, der in Eph 2,14 mit Gott gleichgesetzt wird, auf die „Versöhnung beider Völker untereinander und mit Gott" bezieht 7 . Die gedankliche Voraussetzung für die von Pelagius postulierte Korrelation von Einheit im Geist und Frieden bildet die bereits oben ausfuhrlich entfaltete Vorstellung von der Verähnlichung der Christen mit Gott8. Ihr zufolge steht Gott nur mit solchen Menschen in einer exklusiven Gemeinschaft, die ihm ähnlich sind. Nun ist Gott ein Gott des Friedens. Folglich gilt: „Der Gott des Friedens wohnt nur in den Friedfertigen" 9 . Um ihre durch die Taufe begründete exklusive Gemeinschaft mit Gott zu bewahren, müssen daher die membra des corpus Christi ihren eigenen Willen an den Willen Gottes anpassen und als Friedfertige Frieden mit Gott und untereinander halten. Eine zentrale Rolle für das Schaffen von Eintracht und Harmonie innerhalb des corpus Christi weist Pelagius der Caritas zu. Die Caritas ist - ebenso wie die pax - sowohl auf Gott10 als auch den Mitchristen ausgerichtet". Diese auffällige Gemeinsamkeit legt es nahe, die Caritas als diejenige Form des Wollens 5

Vgl. Exp., S. 307, lOf. (Gal 1,3). Hier wird der biblische Ausdruck Et pax a deo patre

folgen-

dermaßen kommentiert: Qua (sc. pace) remissis delictis omnibus reconciliati fuerant deo. Vgl. auch Exp., S. 475,1-3 (1 Tim 1,2): Der biblische Text Gratia, deo patre

[nostro]

et Christo

lesu domino

misericordia

[et] pax a

nostro wird mit den Worten kommentiert: Gratis

misericordiam consecuti, reconciliati sumus deo. 6

Vgl. Exp., 121,11-13 (Röm 15,33): Deus autempads

sit cum omnibus

uobis.

{Amen.}

Deus

pacis non nisi in pacificis habitat. Pulchre (sc. Paulus) autem in pace fmuit, duobus populis ad pacis concordiam reuocatis. 7

Exp., S. 354,14-17 (Eph 2,14): Ipse est enim pax nostra,

qui fecit

utraque

unum. Ipse est

reconciliatio utriusque populi ad inuicem et ad deum. *

Siehe hierzu oben, B II 3 b.

'

Siehe Anm. 6. Zur Caritas im Hinblick auf Gott vgl. Exp., S. 69,13-17 (Röm 8,31): Quid ergo dicemus

10

ad

haec? si deus pro nobis, quis contra nos? Uult ostendere quod nemo possit impedire eos qui, diligentes deum, diliguntur a deo, quo minus gloriam quae promissa est consequantur, e o quod perfecta [quae] in illis est Caritas omnem causam mortalis timoris foras expellat. 11

Vgl. Exp., S. 230,3-5 (1 Kor 16,24): Caritas mea cum omnibus

uobis. Ut, quo modo uos ego

(sc. Paulus) diligo, ita et [ipsi] in Christo [uos] inuicem diligatis. - Gottesliebe und Liebe zu allen Mitchristen sind Pelagius zufolge die beiden obersten Formen der Liebe. Als dritte Form von Caritas

nennt er die Liebe der Christen zu allen Menschen. Vgl. hierzu Exp.,

S. 428,4f. (1 Thess 3,12): Ut non solum Christianos, sed etiam omnis sectae homines, non erroris, sed naturae gratia diligatis ...

I. Die Ordnung der Kirche

165

anzusehen 12 , welche die membra zu friedfertigem Handeln bewegt. Im Einklang damit steht die Aussage des Pelagius, nach der Caritas die Ursache für den Zusammenhalt des corpus Christi bildet: „Die Caritas verbindet die vielen membra zu dem einen corpus"". Ist die Caritas eine Form des Wollens, so liegt sie gemäß der pelagischen Lehre von der Entscheidungsfreiheit im Vermögen des Menschen, d. h. sie „ist auch wirklich die unsrige"14. Insofern muß man die Caritas als einen eigenen Beitrag des Menschen für die Einheit der Kirche ansehen. Als vorläufiges Fazit dieser ersten Durchsicht von Pelagius' Aussagen zur Einheit der Kirche kann man festhalten, daß er auch diese Thematik - im vollen Einklang mit seinen theologischen Grundüberzeugungen - auf der Basis eines Synergismus von Gott und Mensch reflektiert. Dabei hat er sich offensichtlich auch hier durch seine eigene Fundamentalunterscheidung von posse und uelle leiten lassen. Wenn man nämlich seine Aussagen zur Einheit der Kirche im Lichte dieser Unterscheidung betrachtet, so lassen sie sich ohne Schwierigkeiten ihr zuordnen. Seine Aussagen zur Einheit im Geist und der auf Gott zurückgehenden Ordnung wären dann dem göttlichen posse zuzuordnen. Das uelle, das dieses posse in die Wirklichkeit überführt, ist hingegen in der Caritas der membra des corpus Christi zu sehen. Das folgende Kapitel über die innere Einheit der Kirche folgt in seinem Aufbau dieser implizit vorausgesetzten systematischen Grundstruktur. Der erste Abschnitt, der sich auf das posse bezieht, beschäftigt sich dementsprechend mit der Ordnung, die Gott der Kirche verliehen hat (I). Im zweiten Abschnitt geht es um die Caritas, die mit dem menschlichen Wollen gleichzusetzen ist, das diesem posse angemessen ist. Es soll hier untersucht werden, wie nach pelagischer Auffassung Caritas entsteht und wie Gottes- und Nächstenliebe - hier speziell die Liebe zu den Mitchristen - gedanklich zusammenhängen (II).

I. Die Ordnung der Kirche In den paulinischen Briefen wird mehrfach die Ordnung und Einheitlichkeit der Gemeinde thematisiert. Dabei sind es jeweils aktuelle Probleme innerhalb der einzelnen Gemeinden, die Paulus und dessen unter seinem Namen schreibenden Schüler zu derartigen Überlegungen veranlaßt haben. Relativ gut sind 12

Daß Caritas eine Form des Wollens ist, geht z. B. aus Pelagius' Auslegung von Röm 8,15 deutlich hervor, wo von der caritatis uoluntas die Rede ist: Uli ergo qui operari caritatis uoluntate nolebant, timoris necessitate coguntur: nos uero omnia uoluntarie operemur... (Exp., S. 64,13-15).

"

Exp., S. 467,9f. (Kol 3,14): Quod est uinculum unitatis. Caritas enim multa membra in unum co[l]ligat corpus. Exp., S. 201,13-17 (1 Kor 13,1): Caritatem autem non habeam, unum sum uelut aeramentum sonans aut cymbalum tinniens. Quod non ex se sed ab alio impulsum solum sonitum reddit et delectat auditum: Caritas uero et nostra est et omnem possidet fructum.

14

166

C. Die Einheit der Kirche

wir über die Probleme der paulinischen Gemeinde in Korinth informiert, zu denen Paulus in 1 Kor 12 Stellung bezieht. An verschiedenen Stellen des 1 Kor läßt er anklingen, daß es innerhalb dieser Gemeinde starke Spannungen gegeben hat. Es haben sich einzelne Parteiungen herausgebildet, die sich an jeweils unterschiedliche Führungspersönlichkeiten aus der kirchlichen Missionsarbeit hielten (vgl. 1 Kor 1,12; 3,4.22). Ebenso ist die Gemeinde in der Frage gespalten, welche Haltung die Gemeindeglieder zu den heidnischen Kulten einnehmen sollen (vgl. 1 Kor 8-10). Angesichts dieser Konflikte ist es verständlich, daß Paulus die Gemeinde bereits von der Teilung bedroht sieht (1 Kor 1,14) und daher nachdringlich zur Einheit aufruft. In 1 Kor 12 spielt allerdings noch ein weiteres Problem eine wichtige Rolle. In der Gemeinde von Korinth hat es Zungenredner gegeben. Da die ekstatische Begabung zur Glossolalie in dieser Gemeinde in hohem Ansehen gestanden hat, sind dadurch weitere Spannungen erwachsen. Möglicherweise haben sich die Zungenredner aufgrund ihrer besonderen Fähigkeit herausgehoben gefühlt 15 , wohingegen andere, die über diese Fähigkeit nicht verfügten, sich zurückgesetzt sahen. An diesem Punkt setzen die Überlegungen des Apostels an. Dem besonderen Anspruch der Zungenredner tritt Paulus entgegen, indem er die Bereitschaft der Christen, sich zu Jesus als dem Herrn zu bekennen, zum wesentlichen Kriterium für den Geistbesitz erhebt (1 Kor 12,1-3). Im Lichte dieser Definition des Geistbesitzes kann er all das, was die einzelnen Christen in Korinth zum Gemeindeleben beitragen, als unterschiedliche, von Gott verliehene Gnadengaben würdigen (1 Kor 12,4-11). In 1 Kor 12,12-31 führt Paulus aus, wie vor dem Hintergrund dieser Charismenlehre die Ordnung der Gemeinde zu verstehen ist. Er bejaht die Vielfalt der Gnadengaben, indem er diese zu einem Wesenszug des Gemeindelebens erklärt; denn nach seiner Überzeugung gründet Gemeinde darauf, daß die einzelnen Christen die ihnen von Gott verliehenen Begabungen zum Wohl ihrer Mitbrüder und Mitschwestern einsetzen. Indem sie sich nun im Austausch ihrer je unterschiedlichen Fähigkeiten wechselseitig ergänzen, gewinnt die Gemeinde als Ganze eine Einheit bei gleichzeitiger individueller Vielfalt ihrer Mitglieder. Um diesen Gedanken in anschaulicher Weise zum Ausdruck zu bringen, entwickelt Paulus die Vorstellung von der Gemeinde als eines aus unterschiedlichen Einzelgliedern zusammengesetzten Organismus. Von hier aus betrachtet, erscheinen die unterschiedlichen Gnadengaben als einzelne, einander ergänzende Dienste, deren Bedeutung vom Ganzen her, dem corpus Christi, zu erfassen ist. Die Vorstellung von der Gemeinde als corpus Christi ist nach Paulus immer wieder als theologisches Interpretament für die Ekklesiologie aufgegriffen worden. Die Anfänge der Rezeptionsgeschichte dieser Vorstellung liegen bereits in neutestamentlicher Zeit. So entwickeln die Verfasser von Kol und Eph die paulinische Vorstellung vom corpus Christi fort, indem sie diese ur-

15

Siehe hierzu Lang, Die Briefe an die Korinther, S. 195.

I. Die Ordnung der Kirche

167

sprünglich auf die Einzelgemeinde bezogene Vorstellung auf die Gesamtkirche übertragen. Dadurch haben sie entscheidend dazu beigetragen, daß der Gedanke von der Kirche als corpus Christi zu einem der einflußreichsten ekklesiologischen Theologumena innerhalb der christlichen Tradition werden konnte. Auch die Ekklesiologie des Pelagius ist in sehr starkem Maße durch diese Vorstellung beeinflußt worden. So bedient Pelagius sich ihrer, um den Zusammenhang von Ekklesiologie und Soteriologie einsichtig zu machen". Doch auch seine Ansichten zur Ordnung der Kirche sind wesentlich durch die corpus-Christi-Vorstellung geprägt. In gedanklicher Auseinandersetzung mit den biblischen Texten entwickelt er eine eigenständige Interpretation von der inneren Struktur der Kirche, in der er paulinische Gedanken mit seinen eigenen theologischen Grundüberzeugungen verbindet. Diese theologische Konzeption soll im folgenden nachgezeichnet werden. Ebenso wie bei Paulus wird in ihr vorausgesetzt, daß die Lehre von der Kirche als einem in der Art eines Organismus strukturierten corpus Christi in engem gedanklichen Zusammenhang mit der Lehre von den Gnadengaben zu sehen ist. Aus diesem Grunde sind die folgenden Ausführungen in zwei Abschnitte untergliedert. In einem ersten Unterabschnitt soll anhand der pelagischen Auslegung von 1 Kor 12 und Rom 12,3-8 untersucht werden, in welcher Weise sich Pelagius die paulinische Vorstellung von der Kirche als corpus Christi interpretierend aneignet (1). Ergänzend dazu beschäftigt sich ein zweiter Unterabschnitt mit der pelagischen Lehre von den Gnadengaben. Im Mittelpunkt soll dabei die Frage stehen, wie Pelagius die Charismen und ihre Zuweisung an die Christen theologisch deutet (2). Die sich daran anschließende Fragestellung, was es im einzelnen für Gnadengaben sind, die das Leben der Kirche bestimmen, wird dann im vierten Kapitel dieser Arbeit ausführlich erörtert. 1. Die Kirche als corpus Christi Nach 1 Kor 12 und Rom 12,3-8 hat Gott der Kirche eine Ordnung verliehen, die in der Art eines Organismus gestaltet ist. Paulus' Ausfuhrungen zu dieser Thematik sind allerdings so offen formuliert, daß dieser Gedanke unterschiedlich verstanden werden kann. Es ist in diesen Texten nämlich nicht ganz eindeutig, wie hier das Bild vom Organismus und die dadurch zum Ausdruck gebrachte Sache, die innere Struktur der Gemeinde, aufeinander zu beziehen sind. Insbesondere 1 Kor 12,12ff. läßt es an notwendiger Klarheit fehlen. Einerseits wird die Gemeinde mit einem corpus verglichen (1 Kor 12,12f.), andererseits wird ihr zugesprochen, daß sie ein corpus ist, und zwar das corpus Christi (1 Kor 12,27) Aufgrund dieser Ambivalenz ist es möglich, Paulus' 10

Siehe hierzu oben, B I 1 a.

17

Dieses Problem wird bis heute diskutiert. Vgl. hierzu Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), 12. Aufl. 1981, S. 248f: „Dieser Abschnitt wird v o m Bild des Körpers als Organismus beherrscht... Freilich ist nun umstritten, ob Paulus das Bild rein als solches verwendet oder ob der eigentliche Sinn von 'Leib Christi' (= Kirche) einwirkt. A u f die

168

C. Die Einheit der Kirche

Ausfuhrungen zum Organismusgedanken auf zwei verschiedene Weisen zu interpretieren. Man kann zum einen den Akzent auf 1 Kor 12,12f. legen und im Hinblick auf die folgenden Darlegungen des Paulus hervorheben, daß hier ein Vergleich vorliegt. Zum anderen ist es möglich, diesen Text von 1 Kor 12,27 her zu verstehen; dieser Vers wäre dann als eine Aussage über das Wesen der Kirche zu werten, die durch die vorangehenden Überlegungen zu den strukturellen Gemeinsamkeiten eines Organismus mit der Kirche (1 Kor 12,1226) vorbereitet wird. Bereits zur Zeit des Pelagius sind in der exegetischen Diskussion beide Interpretationsansätze vertreten worden. Der einflußreichste Pauluskommentator jener Zeit, der Ambrosiaster, interpretiert diesen Text ausgehend von 1 Kor 12,12f. Dies hat entscheidende Konsequenzen für das Gesamtverständnis des Textes. Die ekklesiologische Kernaussage, die durch den Vergleich mit dem Organismus angezeigt werden soll, sieht der Ambrosiaster im Einheitsgedanken. Demnach will Paulus durch den Vergleich mit einem Organismus anschaulich machen, daß die der Kirche angehörenden Christen eine Einheit bilden und daher auch im Austausch ihrer individuell unterschiedlichen Begabungen einträchtig zusammenwirken sollen: „Indem er (sc. Paulus) dieses sagt, zeigt er an, daß die Einheit eine Verschiedenheit an officio besitzt und diese Verschiedenheit nicht im Widerspruch zur Einheit des Wirkens (potestas) steht, da ja die Einheit eines corpus nicht in der Einzelheit {singularitas) besteht, sondern in verschiedenen membra, damit diese sich gegenseitig darbieten, was ihnen fehlt'"8. Mit dieser Auslegung wird der Ambrosiaster Paulus insofern gerecht, als er den Kerngedanken von 1 Kor 12,12ff. - die Verfaßtheit der Gemeinde als Einheit bei unterschiedlichem Wirken der ihr zugehörigen Mitglieder - durchaus trifft und als grundsätzlichen Wesenszug von Kirche anerkennt. Darüber hinaus wird jedoch der Vorstellung vom Organismus, auf dessen Grundlage Paulus diesen Gedanken entwickelt, keine weitere Relevanz für die Ekklesiologie zuerkannt. Vielmehr sind die weitergehenden Anschauungen des Ambrosiaster zur inneren Struktur der Kirche von anderen Vorstellungen bestimmt. Hier ist insbesondere die Auffassung leitend, daß die Kirche ihrer inneren Struktur nach analog zu anderen Institutionen des öffentlichen Lebens seiner Zeit organisiert ist". In erster Linie denkt der Ambrosiaster dabei offensichtzweite Deutung scheint der Bruch zwischen V. 12a und 12b hinzuweisen: Hier scheint für das Bild von einem Leibe die Sache selbst, der Leib Christi, einzutreten. Andererseits ist zu fragen, wie viel man dem Ausdruck abfordern darf: Handelt es sich nicht einfach um eine verkürzte Ausdrucksweise?" Ambrst., Com. ad Cor. I, S. 136,5-10 (1 Kor 12,14): Nam et corpus non est unum membrum, sed multa. hoc dicens ostendit unitatem habere varietates officiorum et diversitatem hanc non discrepare in unitate potestatis, quando corporis unitas non in singularitate consistit, sed in multis membris, ut invicem sibi praestent quod dehabent. Vgl. hierzu Ambrst., Com. ad Cor. I, S. 135,7-14 (1 Kor 12,11), wo der Gedanke formuliert wird, daß die Kirche sich in ihrer organisatorischen Struktur an ihrer Umwelt orientiert: unus

I. Die Ordnung der Kirche

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lieh an die innere Einteilung der Kirche in verschiedene Ämter {officio), die hierarchisch nach unterschiedlichen gradus abgestuft sind20. Die Kirche unterscheidet sich allerdings von den Institutionen ihrer Umwelt dadurch, daß in ihr der Heilige Geist die Ordnung stiftet und erhält21. Dabei setzt der Ambrosiaster voraus, daß das ordnende Wirken des Geistes auf den Nutzen der Gesamtkirche abzielt22. Daher erwartet er von jedem Amtsträger, daß er sein Amt in gehorsamem Respekt gegenüber Gott, dem Urheber aller Ämter, erfüllt und es dementsprechend auch nicht zur Selbstdarstellung mißbraucht23. In seiner Exegese von 1 Kor 12,12ff. setzt der Ambrosiaster diesen Kirchenbegriff als gegeben voraus. Die Mahnung zur Einheit, die er in 1 Kor 12,12ff. formuliert sieht, est tarnen deus, cuius gratia dividitur singulis prout vult, non ad meritum magis hominis, sed ad aedificationem ecclesiae suae, ut omnia quae mundus imitari vult, sed non implet, qui carnalis est, haec in ecclesia, quae domus dei est, singulorum oficiis dono et magisterio spiritus sancti indulta ad probationem veritatis in his, qui contemptibiles mundo sunt, videantur. 20

Dieser Gedanke klingt in Com. ad Cor. I, S. 131,19-26 (1 (Cor 12,3) an. Hier weist der Ambrosiaster auf Analogien zwischen der inneren Struktur der Amtskirche und der Organisation von heidnischen Kulten sowie Schulbetrieben hin: ... quia sicut idolorum imago in administris eius est ordinem suum habens per singulos gradus, totum tarnen hominis est, ita et in lege dominica gradus carismatum sunt offieiis ecclesiae non utique meritis humanis indulti, sed ut membra ad aedificationem ecclesiae pertinentia, quae per se et in se habent gloriam, sicut est etiam in humanis offieiis. scolae enim sunt, quae positis in se dant dignitatem, ut loci honor hominem faciat gloriosum, non propria laus ... - Vgl. ferner S. 138,5-16 (1 Kor 12,22). Hier vergleicht er die innere Struktur der Kirche mit der Organisation des Militärs: Sed multo magis, quae videntur membra corporis inßrmiora esse, necessariora sunt, manifestum est quia, quamvis aliquis dignitate sublimis sit, si subiectus tarnen defuerit, qui obsequiis suis ilium faciat gloriosum, ipsa dignitas contemptibilis erit. officium est enim, per quod dignitas constat, tale est, si imperatori desit exercitus. quamvis ergo magnus sit imperator, necessarium tarnen habet exercitum; membrum est enim corporis eius ante se habens tribunos, comités, magistros. his omnibus inferiores sunt milites et magis necessarii sunt, sicut membra corporis, quae cum inferiora videntur, plus utilia sunt; sine oculis enim manibus operatur et ambulans victum quaerit.

21

Vgl. hierzu Ambrst., Com. ad Cor. I, S. 135,7-14 (1 Kor 12,11), zitiert in Anm. 19. Im Hinblick auf die Kirche wird hier herausgestellt, daß es der Geist ist, der die Geistesgaben verteilt; von daher wird die Differenz zur Welt darin gesehen, daß diese, da sie „fleischlich ist" (Z. 1 Of.: qui carnalis est), nicht vom Geist erfüllt wird.

22

Vgl. Ambrst., Com. ad Cor. I, S. 135,7-10 (1 Kor 12,11): unus est tarnen deus, cuius gratia dividitur singulis prout vult, non ad meritum magis hominis, sed ad aedificationem ecclesiae suae ... - Vgl. auch S. 131,21-23 (1 Kor 12,3): ... ita et in lege dominica gradus carismatum sunt offieiis ecclesiae non utique meritis humanis indulti, sed ut membra ad aedificationem ecclesiae pertinentia ... - Vgl. auch S. 136,25-137,4 (1 Kor 12,18): Nunc autem deusposuit membra unumquodque eorum in corpore, sicut voluit. voluntatem dei, quia provida et rationabilis est, membra dicit corpori aptasse, ut nihil desit corpori, sed sit multis membris perfectum.

23

Siehe hierzu Ambrst., Com. ad Cor. I, S. 132,23-133,6 (1 Kor 12,4): Divisiones autem gratiarum sunt, non hoc humanis meritis vult adscribi sicut dixi, sed gratiae dei ad honorificentiam nominis eius. sicut enim qui dicit dominum Iesum in spiritu saneto dicit, qualisvis sit, ita et in loco ordinis oficii ecclesiastici positus gratiam habet, qualisvis sit, non utique propriam, sed ordinis per efficaciam spiritus sancti. unde inter initia dicit: 'neque qui plantat est aliquid, neque qui rigat, sed qui incrementum dat deus' (1 Kor 3,7).

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C. Die Einheit der Kirche

wird daher auf eine derartig verfaßte Kirche hin ausgelegt. Da die Kirche hierarchisch abgestuft ist, gibt es in ihr Amtsträger mit höheren und niederen gradus24. All diese sind gemeinsam aufgerufen, ihren eigenen gradus und den ihrer Kollegen zu respektieren. Zum einen haben ja alle Gnadengaben ihren gemeinsamen Ursprung in Gott, so daß das Ansehen, das mit einer Gabe verbunden ist, nicht deren Träger, sondern Gott zu gelten hat. Von daher ist es unangemessen, die Träger von Gnadengaben von ihrem jeweiligen Rang her als besonders ehrenhaft oder minderwertig zu bewerten25. Zum anderen sind ja die Christen, deren Gnadengaben gemeinsam auf das Wohl der Kirche abzielen, aufeinander angewiesen; so ist auch die geringste Gabe von Nutzen für die Kirche, weshalb ihr Träger auch dementsprechend zu ehren ist26. Während der Ambrosiaster in seiner Auslegung dem Organismusgedanken vor allem die Mahnung zu einer einträchtigen Zusammenarbeit in der Kirche entnimmt, kommt diesem Text innerhalb der zweiten Auslegungsrichtung, die in ihrer Deutung von 1 Kor 12,12ff. die Vorstellung vom corpus Christi einbezieht, ein wesentlich größeres Gewicht zu. Repräsentativ sei hier auf die Auslegung Augustins verwiesen 27 . Dieser setzt in seiner Deutung die in Eph und

24

Vgl. hierzu Ambrst., Com. ad Cor. I, S. 137,5-10 (1 Kor 12,19), wo der Ambrosiaster die je unterschiedliche dignitas, die sich aus der hierarchischen Abstufung der Ämter ergibt, ausdrücklich verteidigt: Si autem faissent omnia unum membrum, ubi corpus? manifestum est quia si omnes unius fuissent dignitatis, non dicerentur membra neque corpus, ideo quia variis membrorum officiis gubernatur. omnia enim unum membrum esse non poterant. ideo autem multa sunt, quia ab invicem differunt dignitate.

25

Vgl. hierzu Ambrst., Com. ad Cor. I, S. 135,15-136,4 (1 Kor 12,12f.): Sicut enim corpus unum est, membra autem habet multa, omnia autem membra ex uno corpore, cum sint multa, unum sunt corpus, ita et Christus. 13 etenim in uno spiritu nos omnes in unum corpus baptizati sumus, sive Iudaei sive Graeci sive servi sive liberi; et omnes unum spiritum potavimus. per haec docet nullius personam quasi despecti contcmnendam neque alicuius, quasi perfecta sit, praeferendam nec gloriam, quae soli deo debetur, hominibus tribuendam, quando in Omnibus unus atque idem deus sit gloriosus, quippe cum omnes et unum baptisma habeamus et unum atque eundem spiritum sanctum; hoc proter supra dictam causam, quia in aliquibus gloriabantur, aliquos vero velut contemptibiles spernebant.

26

Ambrst., Com. ad Cor. I, S. 137,11-19 (1 Kor 12,20): Nunc vero (autem) multa quidem membra, unum autem corpus, hoc dicit quia multa membra, cum invicem sui egeant, non discrepant in unitate naturae, quamvis diversa sint, quia diversitas haec in unum concurrit, ut corporis utilitas expleatur, sicut et ea quibus ipse mundus constat, cum sint diversa non solum officiis, sed et naturis, ad unius tarnen mundi proficiunt perfectionem; et ex omnibus his nascitur temperies quaedam in fructibus, qui humanae proficiunt utilitati. - Der hier bereits anklingende Gedanke, daß auch den membra, die nur eine geringe Gabe empfangen haben, aufgrund ihres Nutzens für die Kirche Ehre gebührt, wird dann in der Auslegung von 1 Kor 12,21-24 unter verschiedenen Aspekten entfaltet. Exemplarisch sei auf die Auslegung von 1 Kor 12,22 verwiesen, die bereits oben (Anm. 20) zitiert worden ist.

27

In den frühen exegetischen Schriften Augustins, die Pelagius zugänglich gewesen sein dürften, findet sich keine ausführliche Interpretation von 1 Kor 12,12ff., sondern nur gelegentliche Bemerkungen, denen sich jedoch Augustins Interpretationsansatz für diesen biblischen Text entnehmen läßt. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf qu. 69,10 aus Augustins früher exegetischer Schrift De diversis quaestionibus LXXXIII.

I. Die Ordnung der Kirche

171

Kol entwickelte Vorstellung von der Kirche als corpus Christi, das sich aus Christus als caput und den Gläubigen als membra zusammensetzt, bereits voraus. Von daher gewinnen die Bildelemente, die Paulus in 1 Kor 12,12ff. aufführt, eine stärkere theologische Relevanz. In ihnen zeigt Paulus gleichnishaft die lebendige Verbundenheit von Christus und den Gläubigen an, die das Innenleben des corpus Christi bestimmt: „Und wenn er zu den Korinthem über die Liebe spricht, indem er auf die similitudo der membra des corpus Christi hinweist, sagt er: 'So wie das corpus eines ist und viele membra hat, alle jedoch membra des corpus sind, obwohl sie viele sind, so auch Christus' (1 Kor 12,12); er hat hier nicht gesagt: 'so auch (sc. das corpus) Christi', sondern: 'so auch Christus', womit er anzeigt, daß 'Christus' richtigerweise als ganzer zu verstehen ist, das heißt, als caput mit seinem corpus, welches die Kirche ist"28. Der entscheidende Unterschied dieser Deutung zu der des Ambrosiaster besteht in dem jeweils vorausgesetzten Bild von Kirche. In ihrer Gesamttendenz zielt die Auslegung des Ambrosiaster auf die hierarchisch gegliederte Amtskirche; von daher erscheint ihm das geordnete Zusammenwirken der officio als das zentrale Problem des Textes. Bei Augustin kommt Kirche hingegen eher als eine lebendige Gemeinschaft in den Blick, in der die Gläubigen mit Christus eine organische Einheit bilden. Das Interesse richtet sich dabei stärker auf die Beziehung, die zwischen den membra untereinander sowie zu Christus besteht. Indem Augustin somit der wechselseitigen Beziehung zwischen den einzelnen Teilen des corpus Christi eine größere Bedeutung zuerkennt, verleiht er seinem Kirchenbegriff ein dynamisches Moment, das dem auf geordnete Strukturen abzielenden Kirchenverständnis des Ambrosiaster fehlt. Gerade dies mag für Pelagius der entscheidende Grund dafür gewesen sein, daß er in seiner eigenen Auslegung von 1 Kor 12,12ff. den Interpretationsansatz von Augustin aufnimmt 2 '; denn nach seiner Überzeugung sind sowohl der einzelne 28

Augustin, De div. quaest., q. 69,10, S. 105,253-106,269: Et ad Corinthios cum de caritate diceret, de membris corporis similitudinem ducens: Sicut enim corpus unum est, inquit, et membra habet multa, omnia autem membra corporis, cum sint multa, unum est corpus, ita et Christus; non dixit ita et Christi, sed ita et Christus, ostendens Christum recte appellari etiam uniuersum, hoc est caput cum corpore suo, quod est ecclesia. - Vgl. hierzu femer Enar. in Ps. XXX,II, s. 1,4 (CC.SL 38), S. 193,21-31: Loquatur ergo Christus, quia in Christo loquitur ecclesia, et in ecclesia loquitur Christus; et corpus in capite, et caput in corpore. Audi apostolum hoc ipsum euidentius exprimentem: Sicut enim corpus unum est et membra habet multa, omnia autem membra corporis cum sint multa, unum est corpus, sie et Christus (1 Kor 12,12). Loquens de membris Christi, hoc est de fidelibus, non ait: sic et membra Christi; sed totum hoc quod dixit, Christum appellauit. Sicut enim corpus unum, et membra habet multa, omnia autem membra corporis cum sint multa, unum est corpus, sie et Christus. Membra multa, unum corpus: Christus.

M

Vgl. hierzu Pelagius' Bemerkung zu 1 Kor 12,12, wonach die Sache, auf die Paulus in seinem Vergleich hinweist, Christus per corpus suum ist, was mit der ecclesia gleichzusetzen ist: Ita et Christus. Notandum quod Christus per corpus suum dicatur ecclesia (Exp., S. 197,13-15). - Mit dieser Bemerkung weist Pelagius seine Leser daraufhin, daß in dem

172

C. Die Einheit der Kirche

Christ wie auch die gesamte Kirche in einem fortwährenden Entwicklungsprozeß begriffen10. Diesem Interesse vermag ein an der Vorstellung des corpus Christi orientierter Kirchenbegriff gerecht zu werden, wohingegen das eher statische Kirchenverständnis des Ambrosiaster dafür kaum Raum läßt. Zudem hat Pelagius bereits im Rahmen seiner Tauflehre eine in sich geschlossene Konzeption von der Kirche als corpus Christi entwickelt31; da in 1 Kor 12,27 dieser Begriff erwähnt wird, legt es sich nahe, ihn in die Auslegung von 1 Kor 12,12ff. einzubeziehen. Auch wenn Pelagius vor allem an der organischen Struktur des corpus Christus interessiert ist, so muß er als Exeget dem Umstand Rechnung tragen, daß in 1 Kor 12,12ff. über das corpus Christi in Form eines Vergleiches gesprochen wird. Der Organismus in 1 Kor 12,12ff. kann deshalb nicht ohne weiteres mit dem corpus Christi gleichgesetzt werden. Ein Vergleich setzt jedoch immer eine bestimmte Ähnlichkeit (similitudo) voraus, die es erlaubt, wesensmäßige Gemeinsamkeiten zwischen dem Bild und der damit verglichenen Sache zu erkennen32. Gerade diese similitudo will Pelagius in seiner Auslegung vermitteln. Da jedoch das Bild vom Organismus der damit verglichenen Sache, dem organismusartig strukturierten corpus Christi, bereits sehr ähnlich ist, weicht er im Verlaufe seiner Auslegung die Unterscheidung zwischen Bild und Sache immer stärker auf. Zu Beginn seiner Exegese strebt er eine deutliche Unterscheidung zwischen Bild und Sache an. Bis zu seiner Exegese von 1 Kor 12,17 wird diese Unterscheidung durchgehalten. 1 Kor 12,12a und 12,14-17 ordnet Pelagius dem Bild zu33, 1 Kor 12,12b.13 dagegen bezieht er auf das Sein der Kirche als corpus ChristiJedoch bereits in seinem Kommentar zu 1 Kor 12,14-17 zeichnet sich eine langsame Aufhebung der Trennung von Bild und Sache ab, werden doch hier Züge des Bildes allegorisiert

folgenden Text 1 Kor 12,13ff. von der Kirche als corpus

Christi

die Rede ist. Damit legt

Pelagius seiner Auslegung einen ähnlichen Interpretationsansatz zugrunde wie Augustin in D e div. quaest., q. 69,10 (vgl. Anm. 28). Trotz der unterschiedlichen Terminologie, die Pelagius und Augustin verwenden, halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß Pelagius sich von Augustin hat inspirieren lassen. Allerdings ist zu bedenken, daß beide in ihren Interpretationen der Vorstellung des corpus

Christi jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen (vgl.

unten, S. 177, Anm. 56). Der Einfluß Augustins auf die Auslegung des Pelagius wäre daher allein darin zu sehen, daß er Pelagius dazu angeregt hat, seiner Interpretation einen Kirchenbegriff im Sinne des corpus Christi

zugrundezulegen.

Siehe hierzu oben, B II 2. Siehe hierzu oben, B I 1 a. Zur pelagischen Lehre von der similitudo

siehe oben, S. 125, Anm. 127.

In den Kommentar zu diesen Passagen weist Pelagius jeweils daraufhin, daß von einem Bild die Rede ist. Vgl. Exp., S. 197,11 (1 Kor 12,12): Per comparationem corporis ostendit ... ; S. 198,1 f. (1 Kor 12,14): Reuertitur ad exemplum. Vgl. Exp., S. 197,13f. (1 Kor 12,12b): Ita et Christus. suum dicatur ecclesia.

Notandum quod Christus per corpus

I. Die Ordnung der Kirche

173

und auf Handlungen der Kirche bezogen35. Dadurch wird es Pelagius möglich, die paulinischen Aussagen in 1 Kor 12,21 ff., in denen das Bild vom Organismus mit den in 1 Kor 12,14-17 verwendeten Bildelementen erneut aufgegriffen wird, direkt auf die Kirche zu beziehen. Eine eindeutige Trennung von Bild und Sache ist in diesem Teil seiner Auslegung dann auch kaum noch durchführbar113, zumal ja zentrale Begriffe des Bildes vom Organismus wie caput, corpus, membrum identisch mit der corpus-Christi-Terminologie sind und dementsprechend der Unterschied zwischen Bild und Sache auch nicht anhand der Begrifflichkeit aufgeschlüsselt werden kann. Offensichtlich besteht nach Ansicht von Pelagius eine so große Ähnlichkeit zwischen Organismus und corpus Christi, daß nach einer kurzen Erklärung des Ähnlichkeitsverhältnisses zu Beginn seiner Auslegung dann im weiteren das Bild als Ausdruck für die Sache stehen gelassen werden kann, ohne daß er befurchten muß, daß die im Bild enthaltene Aussage über die Sache von seinen Lesern unverstanden bleibt. Inhaltlich lassen sich der similitudo, die Pelagius zwischen dem Organismus und dem corpus Christi erkennt, mehrere Momente zuordnen. Das Ähnlichkeitsmoment, das Pelagius in seiner Auslegung am deutlichsten entwickelt, stellt die similitudo in der inneren Struktur dar. Ein Organismus besitzt verschiedene Organe, die jeweils unterschiedliche Funktionen haben". Ähnlich ist die Kirche gegliedert. Auch sie setzt sich aus membra zusammen: „Als Gesamtheit sind sie (sc. die Christen) corpus, als einzelne membra"n. Aufgrund der Mannigfaltigkeit der Gnadengaben sind die membra der Kirche „verschiedene membra1™ mit „verschiedenen officio"". In einem Organismus sind die verschiedenen Organe mit ihren unterschiedlichen Funktionen in einer sinnvollen Ordnung aufeinander abgestimmt, so daß sie sich ergänzen. Eine derartige Struktur besitzt auch die Kirche: „So wie in einem Organismus die Organe

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In 1 Kor 12,14-17 werden Fuß, Hand, Ohr Auge und Mund genannt. Pelagius setzt diese Organe mit den Fürbitte Leistenden (Fuß), Wirkenden (Hand), weisen Zuhörern (Ohr), Verständigen (Auge) und Lehrenden bzw. Zungenrednern (Mund) innerhalb der Kirche gleich (vgl. Exp., S. 198,4ff.). Nur noch vereinzelt werden Organismus und Kirche miteinander verglichen, so etwa in Exp., S. 199,6-10 (1 Kor 12, 22): Sed multo magis quae uidentur membra corporis infirmiora esse, necessariora sunt. Membra quae spernitis in ecclesia, maioris utilitatis esse adprobantur, sicut in corpore sine manibus pedibusque uiuitur, sine intestinis omnino non uiuitur. - Ob in Exp., S. 200,1-4 (zu 1 Kor 12,25: Sed id ipsum pro inuicem sollicita sint membra. Sicut oculi uiam pedibus prouident et manus pro toto corpore operantur, et omnia alterutrum membra deseruiunt) noch ein derartiger Vergleich vorliegt, ist nicht eindeutig. Exp., S. 198,2-4 (1 Kor 12,14): Non est unum membrum, sed multa. Non potest totum corpus unum officium agere, sed unum quodque membrum ad quod aptum est. Exp., S. 200,12f. (1 Kor 12,27): Et membra de membro. Omnes corpus, singuli membra. Exp., S. 363,14f. (Eph 4,7): Uni cuique autum nostrum data est gratia. Non multa sunt corpora per uarietatem gratiarum, sed membra diuersa. Exp., S. 197,8-12 (1 Kor 12,12): Sicut enim corpus unum est, membra autem habet multa: omnia autem membra de corpore [uno], cum sint multa, unum corpus sunt. Per comparationem corporis ostendit non naturam membrorum, sed officia esse diuersa ...

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C. Die Einheit der Kirche

passend und geordnet festgesetzt sind, so wird auch in der Kirche ein jeder dem, wozu er paßt, zugeordnet"41. Gerade an diesen Punkt, der harmonischen Ordnung der membra, sieht Pelagius die entscheidende similitudo, auf die Paulus als Reaktion auf Streitigkeiten in der Gemeinde hinweisen will: „Durch den Vergleich mit dem Organismus ermahnt er sie zur Eintracht, damit sie nicht deshalb unruhig werden, weil sie verschiedene Gaben empfangen haben. Denn weder können einzelne alles haben ..., noch alle dasselbe, damit sich die similitudo mit dem corpus Christi an uns zeigt "42. Insgesamt gesehen erinnern diese Ausführungen sehr stark an die Auslegung des Ambrosiaster. So sieht auch dieser in der Einheit der membra bei gleichzeitiger Verschiedenheit der von ihnen ausgeführten Aufgaben die Kernaussage von 1 Kor 12,12ff., die er im Hinblick auf das kirchliche Leben mit Nachdruck zur Geltung bringt43. Bei näherem Hinsehen kann man jedoch erkennen, daß Pelagius diesen Gedanken anders akzentuiert als der Ambrosiaster. So fällt auf, daß Pelagius in seiner Auslegung der hierarchischen Struktur der Kirche nur relativ wenig Beachtung schenkt. Andererseits hebt er sehr viel stärker die Fürsorge und wechselseitige Liebe hervor, die sich die membra untereinander erweisen sollen. Dieses stärkere Interesse an der zwischen den membra bestehenden Beziehung wird man von der Anthropologie herleiten dürfen, die Pelagius seiner Ekklesiologie zugrunde legt. Ihr zufolge handelt es sich bei den membra des corpus Christi um Menschen, die an dem Entschluß, Mitglied der Kirche zu sein, kraft ihres freien Willens festhalten. Der Wille des Menschen ist jedoch veränderlich; es ist also grundsätzlich möglich, daß die membra ihren Entschluß revidieren. Allerdings läßt sich die Bereitschaft, an einem Entschluß festzuhalten, durch Ermunterung stärken44. Im Einklang zu dieser Sicht des Menschen fordert Pelagius die Kirchenglieder auf, „umeinander besorgt" zu sein45 und dadurch die innere Einheit der kirchlichen Gemeinschaft zu stärken. Diese Forderung erstreckt sich nicht nur auf die Amtsträger, die ja in einer besonderen Verantwortung für die Gemeinde stehen46, sondern gilt prinzipiell allen Christen47. Exp., S. 198,16-19 (1 Kor 12,18): Nunc autem posuit deus membra, unum quodque eorum in corpore, sicut uoluit. Sicut in corpore apte et ordinate constituta sunt membra, ita et in ecclesia unus quisque a deo ad id quod aptus est ordinatur. Exp., S. 95,19-96,1 (Röm 12,4): Sicut enim in uno corpore multa membra habemus. Per comparationem corporis eos ad concordiam cohortatur, ne uel hinc [com]moueantur quia dona accepere diuersa: non enim poterant omnia habere singuli, ne superbìrent nullius egentes, nec omnes ea[n]dem, ut corporis Christi in nobis similitudo monstretur. Siehe oben, S. 168ff. Siehe hierzu oben, B II 1. Exp., S. 199,18-200,1 (1 Kor 12,25): Ut non ii[«]i scisma[la] in corpore. Ut pro inuicem solliciti simus, dum alter[utr]o indigemus, ne quis se queratur et gratia et honore priuatum. Vgl. hierzu unten, D I, wo auf die Aufgaben und Pflichten der Amtsträger ausführlich eingegangen wird. Pelagius hebt dies ausdrücklich in seinem Kommentar zu 2 Kor 13,11 (Exp., S. 304,14-17) hervor: De cetera, fratres, [gaudete et] perfecti estote, [et\ consolamini. Notandum quod ora-

I. Die Ordnung der Kirche

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Die Forderung, umeinander besorgt zu sein, klingt in der Auslegung des Ambrosiaster nur sehr kurz an, ohne daß weiteres dazu ausgeführt wird48. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, liegt doch sein Hauptinteresse auf der institutionellen Ordnung der Kirche. Von den Kirchengliedern erwartet er daher in erster Linie den gehorsamen Respekt gegenüber den bestehenden kirchlichen Strukturen. Der Organismusgedanke ist ihm dafür nur insofern von Bedeutung, als er das Bewußtsein für die Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen Ämter stärkt und damit die Bereitschaft zur Anerkennung der kirchlichen Strukturen fördert49. Unter formalen Gesichtspunkten betrachtet, lassen sich die bei Pelagius und dem Ambrosiaster unterschiedlichen Bewertungen der Aktivität der membra darauf zurückführen, daß sie den Einfluß von göttlichem und menschlichem Handeln für die Gestaltung der kirchlichen Einheit je verschieden bewerten. Der Ambrosiaster sieht Einheit und Ordnung in erster Linie an das Wirken des Heiligen Geistes gebunden. Daher erwartet er von den membra die gehorsame Zustimmung zu den vom Geist geschaffenen Strukturen. Pelagius hingegen räumt aufgrund seiner anthropologischen Grundüberzeugungen dem Menschen einen größeren Einfluß auf die Gestaltung der kirchlichen Gemeinschaft ein. Durch aktive Zuwendung zu seinen Mitbrüdern und Mitschwestern sollen die membra dazu beitragen, daß die Kirche in ihrer inneren Einheit gestärkt wird. Auch wenn diese Überlegungen den - gerade im Hinblick auf Fragen der Gnadenlehre so stark sensibilisierten - Exegeten Pelagius bei seiner Auslegung entscheidend beeinflußt haben dürften, ist zu überlegen, ob seine Sichtweise des kirchlichen Lebens nicht auch durch den Organismusgedanken mitbestimmt ist. In einem lebendigen Organismus sind ja die Einzelglieder miteinander verbunden und stehen in ständigem Austausch; somit ist das Innenleben eines Organismus kontinuierlich durch dynamische Prozesse bestimmt. Sollte Pelagius bei seiner Auslegung auch dieses Strukturmoment mitbedacht haben, so wäre es denkbar, daß er hier bewußt dem statischen Bild des kirchlichen Innenlebens, wie es der Ambrosiaster in seiner Auslegung entwickelt, eine andere Sichtweise des Zusammenlebens der membra gegenüberstellen will, die die Ähnlichkeit der kirchlichen Gemeinschaft mit der Lebendigkeit und Dynamik eines Organismus berücksichtigt. In Pelagius' Kommentar zu 1 Kor 12,12 finden sich Bemerkungen, in denen möglicherweise auf eine weitere similitudo hingewiesen werden soll. Pelagius leitet hier die Auslegung der folgenden Verse ein. Zunächst benennt

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ni ecclesiae scribens dicit eos omnes debere esse perfectos, et quod laicos iubet se inuicem exhortari. Vgl. Ambrst., Com. ad Cor. I, S. 140,4-10 (1 Kor 12,25): Ut non sii scisma in corpore, sed in id ipsum pro inuicem sollicita sint membra, sic dicit a domino moderatum humanum corpus, ut omnia membra eius necessaria sint ac per hoc pro se invicem sollicita, quia aliud sine altero non potest, et quod inferius putatur, magis necessarium est, sicut et de fratribus expositum est vel disputatum quia nullus debet velut inutilis despici. Siehe hierzu oben, S. 168ff.

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C. Die Einheit der Kirche

er dasjenige Strukturmoment der Kirche, das durch den Vergleich mit einem Organismus anschaulich gemacht werden soll, die Gliederung der Kirche in membra mit unterschiedlichen officior50. Es schließt sich eine zweite Aussage an, in der auf die Eintracht der Christen in der organismusartig strukturierten Kirche eingegangen wird: Niemand soll sich sorgen, „was für ein officium er besitzt, solange alle von ein und demselben Geist beseelt sind"51. Mit dieser Aussage greift Pelagius den Grundgedanken von 1 Kor 12,3-11 wieder auf, wonach der Heilige Geist Geber aller gratia bzw. officia ist. Allerdings wird der Gedanke hier in eine neue Perspektive gerückt. Es geht nicht mehr um den einzelnen und seine Gnadengabe, sondern nun wird die Kirche in ihrer Gesamtheit thematisiert. Vor diesem Hintergrund erscheint der Gedanke vom Heiligen Geist als Geber der Gnadengaben in einem neuen Licht. Es wird nicht mehr nur festgestellt, daß der Geist die Gaben verteilt, darüber hinaus wird auch ausgesagt, daß diese durch den Geist in sinnvoller Weise zugewiesen werden, so daß jegliche Kritik der Kirchenglieder an ihrer jeweiligen Stellung innerhalb des corpus Christi gegenstandslos wird. Der Heilige Geist erscheint damit als das ordnende und strukturierende Prinzip des corpus Christi, dem es zu verdanken ist, „daß wir zu einem corpus in Christo gebildet werden"52. Es ist m. E. nicht ausgeschlossen, daß das Bild vom Organismus auf diese Bestimmung des spiritus eingewirkt hat. Betrachtet man den sehr weit gefächerten Bedeutungsgehalt des Begriffes spiritus, so legt sich eine solche Vermutung nahe. Spiritus kann nämlich nicht nur den spiritus sanctus bezeichnen; als Terminus der Anthropologie kann dieser Begriff auch für den „nichtleiblichen Bereich einer Person" stehen und von daher die Bedeutung von „Seele" annehmen". Geht man davon aus, daß Pelagius bei seinen Lesern auch Assoziationen zur Vorstellung von spiritus im Sinne von Seele wecken will54, so wäre auch dort eine Ähnlichkeit zwischen Organismus und Kirche vorausgesetzt. Nach einer weitverbreiteten Ansicht der antiken Philosophie, von der Pelagius und seine gebildeten Leser Kenntnis gehabt haben dürften, wird näm511

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Exp., S. 197,8-12 (1 Kor 12,12); Sicut enim corpus unum est, membra autem habet multa: omnia autem membra de corpore [uno], cum sint multa, unum corpus sunt. Per comparationem corporis ostendit non naturam membrorum, sed officia esse diuersa ... Exp., S. 197,12f. (1 Kor 12,12): (sc. ostendit) ... et neminem debere curare cuius sit officii, dum omnes uno eodemque spiritu animentur. Vgl. Exp., S. 197,15-17 (1 Kor 12,13): Etenim in uno spiritu nos omnes in unum corpus baptizati sumus, siue ludaei siue Graeci, siue liberi siue serui. Ut unum corpus efficeremur in Christo. - In seiner Bewertung des Geistes als Urheber der kirchlichen Ordnung scheint Pelagius dem Ambrosiaster zu folgen (siehe oben, S. 168ff). Er setzt allerdings in seiner Auslegung einen eigenen Akzent, indem er hier einen gedanklichen Zusammenhang zwischen Geist und corpus Christi herstellt. Vgl. P. W. Glare, Oxford Latin Dictonary, Oxford 1982, Bd. 2, Art. spiritus, 4., S. 1806: „The non-coporal part from a person, ... spirit, soul". - Vgl. auch Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Wörterbuch, achte verbesserte und vermehrte Auflage von Heinrich Georges, Hannover/Leipzig 1913, Bd. II, Art. spiritus, II A, Sp. 2765. Vgl. das Verb animentur in Exp., S. 197,13, das denselben Wortstamm wie anima besitzt.

I. Die Ordnung der Kirche

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lieh der Körper von der Seele beherrscht - und dementsprechend organisiert55. Seine Leser dürften dann mitgehört haben, daß der Heilige Geist in der Kirche eine analoge Funktion ausübt wie die Seele in einem Organismus: Wie im Körper die Seele das sinnvolle Zusammenwirken der membra organisiert, so sorgt in der Kirche der Heilige Geist - gewissermaßen als Seele des corpus Christi - für eine harmonisch abgestimmte Zusammenarbeit aller membra. Die besondere Bedeutung des Heiligen Geistes für die Kirche, die beispielsweise in der These von der Heiligkeit der Kirche anklingt, wäre in einer derartigen Interpretation des Geistes als Seele der Kirche von Pelagius angemessen gewürdigt56. 55

Als zwei besonders einflußreiche Vertreter des Leib-Seele-Dualismus seien hier Piaton und Aristoteles genannt. Bei der Gegenüberstellung von Körper und Seele legt Piaton den Hauptakzent auf die Seele: „Sie ist im Gegensatz zum Körperlichen das sich selbst Bewegende und damit Urgrund aller Bewegung" (Friedrich Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie, Erster Teil: Die Philosophie des Altertums, Zwölfte, umgearbeitete und erweiterte, mit einem Philosophen- und Literaturregister versehene Auflage, bearbeitet von Karl Praechter, Berlin 1926, S. 334). Entsprechend gering wird die Bedeutung des Körpers eingeschätzt. Bei Aristoteles erscheinen Körper und Seele nicht mehr als ein so starker Gegensatz. Die Bedeutung des Körpers für die Seele wird hier stärker betont, indem herausgestellt wird, daß die Seele nur in Verbindung mit dem Körper existiert. Allerdings ist innerhalb dieser Verbindung der Körper der Seele ganz untergeordnet: „Die Seele wird in einem Bewegungsursache, Zweckursache und Formursache für den Körper, der seinerseits lediglich Materialursache für die Seele des Lebewesens darstellt. Konkret heißt dies, daß die Seele den Körper in Bewegung setzt und darüber hinaus der Zweck ist, auf den hin der Körper aktiviert wird". Im Hinblick auf jegliche Aktivität des Körpers folgt daraus, „daß die Seele den Körper organisiert" (Olof Gigon, Aristoteles I, in: TRE 3 (1978), S. 726-768, dort S. 752,2-8).- Sofern in Exp., S. 197,12f. Pelagius den antiken Körper-Seele-Dualismus aufgreift, läge sein Verständnis nahe bei Aristoteles.

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Trifft diese Annahme zu, wiche Pelagius in seiner Interpretation von dem kirchlichen Innenleben des corpus Christi von Augustin ab, der j a 1 Kor 12,12fr. im Lichte der CorpusC7?ra//-VorstelIung verstanden wissen will, wie sie im Eph und Kol entwickelt wird. Möglicherweise haben exegetische Bedenken Pelagius dazu bewogen, Augustin darin nicht zu folgen. Wenn man nämlich 1 Kor 12,12ff. mit den Ausführungen des Eph und Kol zum corpus Christi vergleicht, so zeigt sich, daß 1 Kor 12,12ff. andere Akzente setzt als der Eph und Kol. Es geht hier nicht um die Unterscheidung zwischen caput und corpus, sondern vielmehr um die membra, die in ihrer Gesamtheit das corpus Christi bilden. Dabei schlägt Paulus in 1 Kor 12,11 eine Brücke zwischen dem in 1 Kor 12,12ff. entwickelten Organismusgedanken und der in 1 Kor 12,3-10 entwickelten Vorstellung vom Heiligen Geist als Urheber der Geistesgaben. Wenn Pelagius in seiner Auslegung das corpus Christi als Einheit von spiritus und membra beschreibt, hält er sich insgesamt stärker an den Gesamtduktus von 1 Kor 12 als Augustin. Ob auch theologische Erwägungen Pelagius bei seiner Auslegung beeinflußt haben, läßt sich angesichts der sehr schmalen Quellenbasis nicht ermitteln. Grundsätzlich wird man hierzu nur festhalten dürfen, daß die von Augustin abweichende Interpretation des corpus Christi nicht notwendig auf einen theologischen Gegensatz schließen läßt. Pelagius ist j a in seinem Denken stark trinitarisch orientiert; caput Christi und spiritus sanetus sind von daher letztlich austauschbare Kategorien, so daß die augustinische Unterscheidung von caput und membra zu der pelagischen von spiritus und membra kompatibel ist. Auf der anderen Seite ist unübersehbar, daß Augustin sehr viel nachdrücklicher als Pelagius die Bedeutung des caput für die membra betont. Insofern klingt darin ein tieferer theologischer Gegensatz zu Pela-

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C. Die Einheit der Kirche

2. Die Zuteilung der Gnadengaben an die Gläubigen Paulus' Ausfuhrungen zur kirchlichen Einheit in 1 Kor 12,12ff. gehen Überlegungen zu den Charismen der Gemeindeglieder voran (1 Kor 12,3-11). Hier erläutert der Apostel das Wesen und den Zweck der Gnadengaben. Zunächst stellt er fest, daß der vielfältige Reichtum der Gnadengaben „seinen Ursprung darin [hat], daß Gott durch seinen Geist die Charismen verschieden zuteilt"57 (vgl. 1 Kor 12,4-6). Im Anschluß daran legt er dar, daß alle Gnadengaben demselben Zweck dienen. Die Offenbarung des Geistes wird einem jeden Christen „'zum Nutzen' gegeben, d. h. nicht zum privaten Genuß, sondern zum Dienst an allen und zur Auferbauung der Gemeinde"58 (vgl. 1 Kor 12,7). In den folgenden Versen 1 Kor 12,8-10 illustriert Paulus diese These anhand einzelner Gnadengaben, die der Gemeinde in Korinth aus ihrem Gemeindeleben vertraut sind. Ein Schlußsatz, in dem Paulus noch einmal den einheitlichen Ursprung der Charismen hervorhebt, faßt die Kemaussage seiner Ausfuhrungen zusammen und leitet zum folgenden Abschnitt über die Einheit der Gemeinde 1 Kor 12,12ff. über. Eine gedankliche Parallele zu 1 Kor 12 bieten Paulus' Ausführungen in Rom 12,3-8. Auch hier geht er auf die Charismen der Gemeinde ein (Röm 12,3.6-8), deren Bedeutung für das Gemeindeleben ebenso wie in 1 Kor 12,12ff. durch einen Vergleich mit einem Organismus veranschaulicht wird (Röm 12,4f.). Allerdings begegnen in diesem Text auch Aussagen, die gegenüber 1 Kor 12 neu sind. Dazu gehört die Bemerkung in Röm 12,6, wonach Gott die Gnadengabe der Prophetie „in Entsprechung zum Glauben" zuteilt. Eine sachliche Parallele hat diese Bemerkung in Röm 12,3, wo die Christen aufgefordert werden, „nach dem Glaubensmaß, das Gott zuteilt", besonnen zu sein. Bis heute ist umstritten, was man unter dem Glaubensmaß zu verstehen hat59. Die Schwierigkeit, einen Konsens über die Bedeutung dieser Verse zu erzielen, ist nicht allein in der Offenheit der hier verwendeten Formulierungen begründet, sondern auch in dem theologischen Problem, das diese Verse aufwerfen. Wenn Paulus nämlich im Rahmen seiner Ausfuhrungen zu den Gnadengaben die fldes anspricht, stellt er einen gedanklichen Zusammenhang zwischen den göttlichen Charismen und der bei den Menschen anzutreffenden fides her. Damit erhebt sich sogleich die Frage, ob der fides irgendeine Bedeutung für die Verleihung der Gnadengaben zukommt. Da die An-

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gius an. Im Gegensatz zu Augustin mißt dieser dem menschlichen Wirken ein größeres Gewicht zu, weshalb er auch in seiner eigenen Interpretation des corpus Christi der Aktivität der membra mehr Aufmerksamkeit zukommen läßt, als es wohl Augustin getan hat. Lang, Die Briefe an die Korinther, S. 168. Ebd. Vgl. hierzu die Auslegungen von Otto Michel, Der Brief an die Römer (KEK 4), 14. Auflage, 5., bearbeitete Auflage dieser Auslegung, Göttingen 1978, S. 375 und Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer, 3. Teilband (Röm 12-16) [EKK VI/3], Zürich/Einsiedeln/Köln/Neukirchen-Vluyn 1982, dort S. 1 lf.

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sichten der Exegeten zu dieser Fragestellung auseinandergehen, werden Rom 12,3-6 bis heute unterschiedlich ausgelegt. Bereits die Exegeten der Alten Kirche sind sich des theologischen Problems bewußt gewesen, das sich mit Rom 12,3.6 verbindet. Daher haben diese Verse eine exegetische Diskussion angeregt, in deren Rahmen erörtert worden ist, in welcher Weise die Verleihung der Gnadengaben sich vollzieht und welche Rolle dabei Gott und der Mensch spielen. Ich setze im folgenden bei dieser exegetischen Diskussion ein, um Pelagius' eigene Interpretation der Charismen zu entwickeln, zu der er in Auseinandersetzung mit der ihm vorliegenden Tradition gelangt ist. Dabei beschränke ich mich auf die exegetischen Werke, die er gekannt und bei seiner Abfassung der Expositiones benutzt hat. Den ausfuhrlichsten Beitrag zur exegetischen Diskussion um Rom 12,6 bietet Origenes-Rufin in seinem Römerbriefkommentar. Seine Auslegung ist vom Interesse bestimmt, die Zuweisung der Gnadengaben unter Berücksichtigung der menschlichen Entscheidungsfreiheit zu deuten. Im Einklang mit diesem Ansatz legt er die Aussage, daß die Gnadengabe nach dem Maß des Glaubens zugeteilt wird, dahingehend aus, daß er hier einen aktiven Beitrag des Menschen für ihren Empfang angesprochen sieht60. Aus der Sicht des Menschen ist von daher das Maß des Glaubens als Bedingung {causa) für den Empfang der Gnadengabe anzusehen". Worin die vom Menschen zu erbringende Bedingung besteht, führt Origenes-Rufin mit Hilfe des Verdienstgedankens aus. Aus eigener Kraft und Bemühung kann der Mensch seinen Glauben festigen und intensivieren; hat er auf diese Weise ein hohes Glaubensmaß erreicht, so verdient er sich dadurch, von Gott eine Gnadengabe zu empfangen62. Dabei setzt Origenes-Rufin voraus, daß ein hohes Glaubensmaß nicht nur für den Empfang einer Gnadengabe notwendig ist, sondern auch für ihren Bestand. Wenn nämlich ein Mensch nachlässig mit einer solchen Gabe umgeht, geht sie verloren 61 . Nach Origenes-Rufin ist aber neben dem Glaubens-

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Origenes-Rufin, Com. ad Rom. IX 3, Sp. 1213C (Rom 12,6-8): Ponit ergo et „mensuram fidei" esse, per quam quis gratiam capit ... Ut ergo tanta in nobis fides inveniatur, quanta possit sublimiorem gratiam promereri, nostri operis videtur et studii. - Diese Interpretation setzt voraus, daß der Ausdruck secundum werden kann mit dem Ausdruck secundum

rationem fidei (Röm 12,6) sachlich gleichgesetzt mensuram

fidei,

der in Röm 12,3 begegnet. Ori-

genes-Rufin spricht diesen Punkt in Sp. 1213A/B an, w o er mittels philologischer Argumente diese Voraussetzung begründet. 61 62

AaO., Sp. 1213B: Et hic quidem mensuram fidei causam capiendarum posuit gratiarum ... Vgl. aaO., Sp. 1213C: Ut ergo tanta in nobis fides inveniatur, quanta possit sublimiorem gratiam promereri, nostri operis videtur et studii; - Dieser Gedanke klingt ferner aaO., Sp. 1214A an: ... potest fieri, ut etsi sit in aliquo mensura fidei tanta, quae excelsiorem gratiam mereatur accipere ...

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Vgl. aaO., Sp. 1214A/B: (sc. videmus) ... alios accepisse quidem gratiam, sed negligentia animi et vitae desidia corrupisse; unde erat et ille, qui acceptum denarium in sudario colligavit nec operari ex eo aliquid voluit. Propterea denique et apostolus scibit ad carissimum sibi filium dicens: Noli negligere

gratiam,

tiam per negligentiam deperire.

quae in te est (1 Tim 4,14), tamquam sciens posse gra-

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C. Die Einheit der Kirche

maß noch ein weiterer modus capiendi gratiam zu berücksichtigen. Es handelt sich dabei um den in 1 Kor 12,7 formulierten Gedanken, wonach die Gaben zum Nutzen zugeteilt werden64. Origenes-Rufin hält es nicht für ausgeschlossen, daß Gott sich aufgrund dieses weiteren Kriteriums dazu entschließt, einem Menschen mit hohen Glaubensmaß keine Gnadengabe zuzuteilen. In seiner praescientia verfügt Gott nämlich über das Wissen um das Zukünftige und kennt daher auch die weitere Entwicklung eines Menschen. Er kann deshalb beurteilen, ob ein Christ mit einer ihm verliehen Gnadengabe angemessen umgehen würde oder nicht. Kommt er zu dem Urteil, daß die Gabe dem Empfänger nichts nützt, so wird er sie diesem Menschen vorenthalten, obwohl sein Glaubensmaß groß genug ist, sie zu empfangen". Mit diesen Überlegungen zum Nutzen der Gnadengaben modifiziert Origenes-Rufin seine im Anschluß an die Aussage vom Glaubensmaß entwickelte theologische Sicht der Gnadengaben leicht, ihr Kerngedanke bleibt jedoch erhalten. So bleibt für ihn die Zuteilung von Charismen ein Geschehen, bei dem der Mensch mit Gott kooperiert. Zwar „besteht hier das meiste in der Freigebigkeit Gottes", dennoch ist es notwendig, „daß etwas von uns gewirkt wird"66, denn ohne das hohe Maß an Glauben, das der Mensch in Freiheit seiner Entscheidung aufzubringen hat, verdient er es nicht, von Gott mit Gnadengaben ausgestattet zu werden. In ganz anderer Weise bewertet der Ambrosiaster die Rolle des Menschen beim Empfang von Charismen. Im Vergleich zu Origenes-Rufin schätzt er die Bedeutung des göttlichen Wirkens innerhalb dieses Geschehens wesentlich höher ein. Zwar spricht auch er von einem meritum fidei, das die Christen als

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Vgl. aaO., Sp. 1213B/C: ad Corinthios vero scribens ait: Unicuique autem datur manifestio spiritus ad id, quod expedit (1 Kor 12,7) ... ponit (sc. Paulus) et (sc. gratiam) ad id, quod expedit dari... ut autem ad id detur, quod expedit, et utile sit accipienti, Dei judicium est. - Als dritten modus capiendi gratiam will Origenes-Rufin außerdem noch 1 Kor 12,11 (Omnia autem operatur unus atque idem spiritus dividens unicuique prout vult) berücksichtigt wissen. Da dieser modus in Spannung zum Prinzip der Entscheidungsfreiheit steht, das OrigenesRufin gewahrt wissen will, wird ihm faktisch keine größere Bedeutung zugemessen. Sehr deutlich klingt diese Sichtweise aaO., Sp. 1213C-1214A an: ... vel omnino, si dari velit, in ipso est. Ideo et in aliis idem apostolus dicit: Nunc autem deus posuit in corpore unumquodque membrum prout voluit... Nisi forte ita aliquis et hoc velit intelligere: Deus posuit in corpore unumquodque membrum prout voluit, ut voluit ad membrum magis referatur, hoc est prout voluit, prout eligit, prout operam dedit, ne videatur de homine arbitrii potestas auferri.

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Vgl. hierzu aaO., Sp. 1214A: Verumtamen ex hoc, quod ait gratiam ad id, quod expedit, potest fieri, ut, etsi sit in aliquo mensura fidei tanta, quae excelsiorem gratiam mereatur accipere, si Sanctus Spiritus futura prospiciens expedire accipienti non iudicet, necessario dividat unicuique prout vult et expedit. - Die Konsequenz, daß der vom Heiligen Geist bewertete Christ die Gnadengabe nicht erhält, wird nicht ausdrücklich expliziert, sie ergibt sich aber mit einer gewissen Folgerichtigkeit aus der Argumentation von Origenes-Rufin.

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Vgl. aaO., 1213B/C: Unde mihi videtur tarn ad Romanos quam ad Corinthios scribens tres capiendiae gratiae modos docere, ut ex nobis in eo agi aliquid ostendat, plurimum tarnen in Dei largitione consistere.

I. Die Ordnung der Kirche

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Vorbedingung für den Empfang der Gnadengaben aufzuweisen haben67; daß der Glaube ein bestimmtes Maß besitzen muß, um als meritum vor Gott zu gelten, wird jedoch nicht behauptet. Offensichtlich will der Ambrosiaster mit seinem Hinweis auf das meritum fidei lediglich festhalten, daß Charismen nur Gläubigen zugeteilt werden. Aus dem Umstand, daß er nicht über weitere zu erbringende Vorbedingungen der Gläubigen reflektiert, wird man folgern dürfen, daß nach seiner Auffassung die Entscheidung, welcher Christ mit welcher Gnadengabe ausgestattet wird, allein bei Gott liegt. Offensichtlich scheint der Ambrosiaster darauf zu vertrauen, daß Gottes Pläne für die Kirche am besten ihr Gemeinwohl und ihre Auferbauung zu garantieren vermögen. Obgleich der Ambrosiaster dem Menschen keinen Einfluß auf den Empfang der Gnadengabe zugesteht, geht er davon aus, daß ein Christ, wenn er einmal über eine Gnadengabe verfügt, eine Verantwortung für ihre Entfaltung besitzt. Offensichtlich hat er aus der paulinischen Rede vom Glaubensmaß in Rom 12,6 den Gedanken abgeleitet, daß der Christ die Intensität seiner Gnadengabe durch das Maß seiner fides beeinflußt 68 . Dabei scheint er vorauszusetzen, daß mit der jeweiligen Stärke der fides eine entsprechend hohe Bereitschaft korreliert, die empfangene Gnadengabe für die Gemeinde zur Anwendung zu bringen6'. In dem Maße, wie der Christ bereit ist, sich zu engagieren, unterstützt ihn Gott zu der seiner Gabe entsprechenden Tätigkeit mittels des Heiligen Geistes™. Daher schließt die Aussage, daß dem Christen die Gnaden67

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Ambrst., Com. ad Rom., S. 397,20-22 (Röm 12,6): Habentes autem donationes dei diversas secundum gratiam, quae data est nobis, nunc autem ipsa officia deputata membris merito fidei enumerat,... Dies läßt sich seiner Auslegung von Röm 12,6b-8 ablesen, wo mehrfach ein Zusammenhang zwischen der Quantität der fides und derjenigen der Gnadengabe angesprochen wird. Vgl. Com. ad Rom., S. 399,3-5 (Röm 12,7): ad obsequium ecclesiae praebendum in tantum minister firmatur, quantum credit debere se obsequi ...; S. 399,9f.: ... ut in quantum fides eius est ad docendum, in tantum inspiretur... ; S. 399, 13f.: et hunc eodem modo in eo ipso, in quo se extendit, auxilio spiritus praeparari, ut habeat gratiam ... ; vgl. auch S. 399,1 f. (Röm 12,6): haec (sc. profetia) ergo datur pro modo accipientis, hoc est quantum causa exigit, propter quam datur. - Die causa, die der Ambrosiaster in der zweiten Satzhälfte nennt, ist gemäß der im vorangehenden Satz formulierten Aussage, wonach die Propheten credentes sind (vgl. S. 397,27: denique credentes accepto spiritu profetabant), gleichzusetzen mit dem Empfangenden, der fides besitzt. Man hat also zu Ubersetzen: „Diese (sc. Gabe der Prophetie) wird also nach dem Maß des Empfangenden gegeben, das heißt, wie sehr die Ursache (sc. der Empfangende, der credens ist) es verlangt, um dessentwillen sie (sc. die Prophetie) gegeben wird". Dieser Gedanke klingt in der Auslegung des Ambrosiaster von Röm 12,7 an. Die Begriffe credere bzw. fides besitzen hier offensichtlich eine doppelte Bedeutung. Einerseits stehen sie für die fides gegenüber Gott, zugleich bezeichnen sie den Wunsch, die Gabe auszuüben. Vgl. Ambrst., Com. ad Rom., S. 399,3-5: ad obsequium ecclesiae praebendum in tantum minister firmatur, quantum credit debere se obsequi ... ; aaO., S. 399,8f.: similiter dicit adiuvari doctorem in doctrina, ut in quantum fides eius est ad docendum, in tantum inspiretur... Explizit spricht der Ambrosiaster das unterstützende Wirken des Heiligen Geistes in Com. ad Rom., S. 399,12-14 (Röm 12,8) an: Sive qui exhortatur, in exhortatione. et hunc eodem modo in eo ipso, in quo se extendit, auxilio spiritus praeparari, ut habeat gratiam, dum provocai. -

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C. Die Einheit der Kirche

gäbe „gemäß seiner fides" zugeteilt wird, die Anweisung ein, die empfangene Gabe in dem Maße einzusetzen, das den eigenen Kräften entspricht; denn „einem jeden folgt das, was er von Herzen versucht". Müht sich ein Christ, der mit einer Gnadengabe ausgestattet ist, über das Maß seiner fides, so „ermüdet er umsonst"11. Gegenüber der Auslegung von Origenes-Rufin wird hier der menschliche Beitrag am Empfang der Gnadengabe erheblich eingeschränkt. Zwar erkennt auch der Ambrosiaster an, daß das willentliche Engagement des Charismatikers für den Einsatz der Gabe notwendig ist, doch dessen Einfluß beschränkt sich allein auf die Intensität der Gabe. Einen Schritt weiter in der Einschätzung des menschlichen Anteils am Empfang der Gnadengabe geht der Anonymus in seinem Pauluskommentar. Er bestreitet generell, daß die fides, die im Zusammenhang mit den Charismen erwähnt wird, als Beitrag des Menschen gewertet werden kann. Statt dessen will er diese fides ebenso wie die Gnadengabe als göttliche Gabe an den Menschen verstanden wissen'2. Damit wird dem Menschen letztlich jegliche Beteiligung an der Begabung und dem Einsatz von Gnadengaben abgesprochen; die Entscheidung über die Zuweisung und jeweilige Intensität der Gabe wird ganz allein bei Gott gesehen. In Erwiderung auf diese These des Anonymus verteidigt Pelagius in seinen Expositiones ein synergistisches Verständnis der Zuteilung der Charismen. In seiner theologischen Gesamtbewertung der Gnadengaben schließt er sich dabei an Origenes-Rufin an; denn diesem geht es ja ebenso wie Pelagius um die Entscheidungsfreiheit des Menschen. Aufgrund dieses gemeinsamen theologischen Anliegens macht sich Pelagius die Kerngedanken der origenistischen Auslegung zu eigen und fuhrt sie gegen die Deutung des Anonymus an. So hebt er hervor, daß zwar Gott die Gabe zuteilt, der Mensch jedoch einen eige-

Aber auch in seiner Auslegung von Röm 12,7 läßt er anklingen, daß Gott dem Menschen durch seine Unterstüzung die Anwendung der Gandengabe ermöglicht. Vgl. hierzu aaO., S. 399,3-5: ad obsequium ecclesiae praebendum in tantum minister firmatur, quantum credit debere se obsequi ... Die synergistische Struktur des explizierten Verständnisses der Gnadengaben kommt hier sehr gut zum Ausdruck. Das Verb firmatur steht für das göttliche Einwirken auf den Menschen durch den Heiligen Geist, quantum credit debere se obsequi spricht den Eigenanteil des Menschen an. Auch in seiner Auslegung von Röm 12,7b stellt der Ambrosiaster in ähnlicher Weise das Wirken Gottes und den Eigenanteil des Menschen heraus. Vgl. aaO., S. 399,8-11: Sive qui docet, in doctrina. similiter dicit adiuvari doctorem in doctrina, ut in quantum fides eius est ad docendum, in tantum inspiretur ad tradendam disciplinam caelestem. Vgl. hierzu Ambrst., Com. ad Rom., S. 399,3-7 (Röm 12,7), wo der Ambrosiaster dieses Verständnis am Beispiel des minister (= Amtsträger im allgemeinen?) veranschaulicht: Sive ministerium in ministrando. ad obsequium ecclesiae praebendum in tantum minister firmatur, quantum credit debere se obsequi, ne ultra fidem laborans in obsequio fatigetur in cassum, quia hoc sequitur unumquemque, quod conatur ex corde. Anonymus, Com. in ep. Pauli, Rom 0123 (zu Röm 12,6), ed. Frede, Ein neuer Paulustext, Bd. 2, S. 80: Non secundum fidem quae ex nobis est, sed secundum fidem quae unicuique a deo data est et concessa.

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I. Die Ordnung der Kirche

nen Beitrag leisten muß, um der Gabe teilhaftig zu werden73. Ebenso wie Origenes-Rufin umschreibt er diesen Beitrag mit Hilfe des Verdienstgedankens. Demnach muß der Mensch ein „reines Herz" besitzen, „damit er dieses (sc. den Empfang der Gnadengabe) verdient"74. Obgleich Pelagius den theologischen Ansatz für die Deutung der Charismen von Origenes-Rufin weitgehend unverändert übernimmt, weisen seine Ausfuhrungen auch Momente auf, die als typisch pelagisch zu bewerten sind. So bemüht er sich, in seinem kurzen Kommentar zu Rom 12,6 den göttlichen und menschlichen Anteil an der Zuteilung von Gnadengaben möglichst präzise zu erfassen. Dabei klingt an, daß er sich auch hier von seiner Fundamentalunterscheidung zwischen posse und uelle hat leiten lassen. Im Sinne dieser Unterscheidung stellt er fest, daß die Gabe nicht im menschlichen arbitrium, sondern in dem Gottes begründet ist75. Der Ursprung der Gabe liegt somit nicht beim Menschen, sondern sie ist, wie er an anderer Stelle anmerkt, in der göttlichen potestas fundiert76. Dieser steht als menschlicher Beitrag an der Zuteilung der Gabe das credere gegenüber77. Darüber hinaus bezieht Pelagius in seine Darlegungen eine andere gewichtige Vorstellung seiner Theologie ein, und zwar seine Lehre von der similitudo dei. Einen Zusammenhang von Gnadengabe und similitudo dei deutet er durch den Hinweis auf das reine Herz an, durch das sich der Mensch den Empfang der Gnadengabe verdient78. Wie bereits oben ausgeführt ist™, sieht er die Reinheit des Herzens in engem Bezug zum Prozeß der Verähnlichung mit Gott, steht doch das reine Herz für eine Lebensweise, in welcher sich der Christ aus eigener Entscheidung dem Willen Gottes angleicht, so daß er - im Wollen Gott ähnlich - seine exklusive Gemeinschaft mit Gott bewahrt. In erster Linie ist die Reinheit des Herzens für den Heilserwerb notwendig. Nur wenn der Christ Gott verbunden bleibt - was ja nur unter der Voraussetzung einer Reinheit des Herzens, die den Christen Gott ähnlich macht, möglich ist - wird er als membrum des corpus Christi mit seinem caput Christus mitauferstehen und - Christus ähnlich - Herrlichkeit erlangen80. Im Kommentar zu Rom 12,6 klingt diese für die Zukunft des Christen so gewichtige Bedeutung der Reinheit des Her71

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Exp., S. 96,6-8 (Röm 12,6): Habentes autem donationes {secundum gratiam} quae data est nobis {différentes}. Donum non ex nostro, sed ex donantis pendet arbitrio ... AaO., S. 96,8-10: ... et omnibus quidem credentibus gloria promittitur in futuro, sed qui ita mundum cor habuerit ut hoc mereatur, gratiam uirtutum accipit etiam in praesenti ... AaO., S. 96,7f.: Donum non ex nostro, sed ex donantis pendet arbritrio ... Vgl. Exp., S. 197,2-7 (1 Kor 12,11): Haec autem omnia operatur unus atque idem spiritus. Si omnia unus spiritus operatur, quare contristaris quod aliam partem gratiam accipisti, et alium, quasi maiorem inuaserit, aemularis, cum hoc non in nostra, sed in donantis sit positum potestate? Dies läßt Pelagius in Exp., S. 95,17-19 (Röm 12,3) anklingen: Mensuram [fidei] uirtutum intellegenda est gratia, quam non nisi fideles accipiunt. Siehe Anm. 74. Siehe hierzu B 13 b. Ebd.

fidei.

Mensura

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zens an. Der Akzent liegt jedoch auf einer davon unterschiedenen gegenwärtig erfahrbaren Auswirkung der Reinheit des Herzens, die im Empfang von Gnadengaben zu sehen ist: „Zwar ist allen Gläubigen die Herrlichkeit in der Zukunft verheißen, jedoch empfängt derjenige, der sein Herz so rein gehalten hat, daß er es verdient, zudem auch in der Gegenwart gratia zu Kräften"" 1 . Die Reinheit des Herzens ist also nicht nur Bedingung für das zukünftige Mitauferstehen, sondern genauso Voraussetzung für den Empfang von Gnadengaben. Berücksichtigt man dabei, daß die Reinheit des Herzens für den Modus steht, unter dem sich der Prozeß der Verähnlichung gestaltet, läßt sich folgern, daß Gnadengaben daran eng gebunden sind: Nur wenn der Mensch mit Gott in einer exklusiven Gemeinschaft verbunden ist und die Zugehörigkeit dazu durch seine willentliche Angleichung an Gott aufrechterhält, überträgt Gott ihm jenes besondere göttliche posse, das aus der Sicht des Menschen Gnadengabe ist. Man wird als vorläufiges Fazit festhalten dürfen, daß Pelagius für seine Interpretation der Gnadengaben Gedanken von Origenes-Rufin aufgreift, sie jedoch aus einer theologischen Gesamtperspektive beleuchtet, die für ihn typisch ist. So handelt es sich ja bei den Theologumena, die er hier einbezieht (Unterscheidung von posse und uelle sowie die Vorstellung von der similitudo dei), um zentrale Leitgedanken seiner Soteriologie, die er eigenständig durchdacht hat. Die Anregung, diese soteriologischen Kategorien für die Interpretation der Gnadengaben heranzuziehen, hat er jedoch offensichtlich von Origenes-Rufin empfangen. Dieser hat ja bereits durch die Einbeziehung des Verdienstgedankens in seine Auslegung von Rom 12,3.6 einen Zusammenhang zwischen der Lehre von den Gnadengaben und der Soteriologie hergestellt, wie ihn dann auch Pelagius bei seiner eigenen Interpretation der Gnadengaben voraussetzt. Trotz grundlegender Übereinstimmungen setzen Origenes-Rufin und Pelagius in ihrer jeweiligen Ausdeutung dieses Zusammenhanges von Charismenlehre und Soteriologie unterschiedliche Akzente. Dies läßt sich durch einen Vergleich der pelagischen Auslegung von Rom 12,6 mit einer gedanklich parallelen Passage aus dem Römerbriefkommentar Origenes-Rufins aufzeigen. Origenes-Rufin stellt dort Überlegungen zum gedanklichen Zusammenhang zwischen der Verleihung der Gnadengaben und der Verherrlichung der Christen nach dem Endgericht an. Die wesentliche Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden Formen göttlichen Heilshandelns am Menschen erkennt er darin, daß Gott auf ein vom Menschen selbst verantwortetes Handeln reagiert. Im Falle der Gnadengaben handelt es sich um das hohe Glaubensmaß, das der Mensch erbringt, im Falle der Verherrlichung nach dem Endgericht um die im Leben Exp., S. 96,6-11 (ROm 12,6): Habentes autem donationes {secundum gratiam} quae data est nobis {différentes}. Donum non ex nostro, sed ex donantis pendet arbitrio, et omnibus quidem credentibus gloria promittitur in futuro, sed qui ita mundum cor habuerit, ut hoc mereatur, gratiam uirtutum accipit etiam in praesenti, [quam deus ei donare uoluerit].

I. Die Ordnung der Kirche

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erbrachten merita. Die Zuteilung von Gnadengaben stellt ein Handeln Gottes in der Gegenwart dar. Es kann jedoch hier als Beweis für das noch ausstehende, zukünftige Heilshandeln Gottes angeführt werden*2, denn „wenn in der gegenwärtigen Welt die göttliche Weltregierung (dispensario) derartig ist (sc. wie sie sich bei Gottes Zuteilung der Gnadengaben erweist), so wird sie auch in der zukünftigen Welt derartig sein; wieso sollte man auch nicht annehmen, daß in den vergangenen Zeitaltern, die vor uns gewesen sind, es eine ähnliche göttliche Weltregierung gegenüber jeder vernunftbegabten Kreatur gegeben hat?"". Stellt man diese Ausführungen Origenes-Ruflns der Charismenlehre des Pelagius gegenüber, so läßt sich eine Übereinstimmung in wesentlichen Grundfragen ausmachen. Ebenso wie Origenes-Rufin begreift Pelagius die Verleihung von Charismen in der Gegenwart sowie die zukünftige Verherrlichung vor dem Hintergrund des Verdienstgedankens. Er scheint somit den von Origenes-Rufin formulierten Grundsatz zuzustimmen, wonach die dispensatio Gottes in Gegenwart und Zukunft denselben Prinzipien folgt. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß er die Verleihung der Gnadengaben in der Gegenwart unter Aufnahme der Vorstellung von der similitudo dei entfaltet, bringt er doch auch gerade damit den von Origenes-Rufin formulierten Grundsatz zur Anwendung. Man darf jedoch auch nicht den Unterschied zwischen den beiden Exegeten übersehen. Nach der Schöpfungslehre des Orígenes haben vor der derzeit bestehenden Welt noch andere Welten existiert bzw. werden danach existieren, die der unsrigen ähnlich sind84. Deshalb wird man Origenes-Rufins These, daß die göttliche Weltregierung zu allen Zeiten ähnlich ist, nicht nur auf die Zeitalter dieser Welt zu beziehen haben, sondern zugleich auf die anderen Welten vor und nach der gegenwärtigen Welt. Es geht ihm also letztlich um die Kontinuität des Wirkens Gottes in einer - zumindest theoretisch unendlichen Geschichte der Welt. Pelagius hingegen geht in seiner Schöpfungstheologie von einer einzigen Welt aus, die einmal geschaffen worden ist und am Tage des Gerichtes vollendet wird. Diesem Verständnis der Welt entspricht ein Geschichtsdenken, das durch den Entwicklungsgedanken bestimmt ist. Die menschliche Geschichte ist ein langwieriger Entwicklungsprozeß, in dessen Verlauf die Menschheit zu immer größerer Vollkommenheit fortschreitet, bis schließlich am Ende aller Zeiten Gott die Entwicklung der Menschheit durch das Gericht zu Ende bringt85. Im Sinne dieses Geschichtsbildes erscheint die Verleihung von Gnadengaben in der Gegenwart als ein un82

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Origenes-Rufin, Com. ad Rom., IX 3, Sp. 1214C (ROm 12,6-8): Si enim in praesenti saeculo dat Deus unicuique gratiam secundum mensuram fidei, sine dubio et in futuro dabit unicuique gratiam pro mensura meritorum. AaO., Sp. 1214C: et si in praesenti saeculo talis est Dei dispensatio, et talis erit etiam in futuro; quomodo non et in praeteritis saeculis, quae fuerunt ante nos, similis Dei dispensatio erga omnem rationabilem creaturam fuisse credetur? Vgl. hierzu Origenes-Rufin, De princ. II 3,1-5, S. 48,16-56,18. Zu dem Geschichtsverstandnis des Pelagius siehe oben, B II 2.

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C. Die Einheit der Kirche

vollkommener Vorgriff auf das endgültige Heil, das am Ende der Zeit in vollkommener Weise zugeteilt wird. Ich halte es für denkbar, daß Pelagius aus dem proleptischen Charakter der Gnadengaben weitergehende Konsequenzen für ihre theologische Bewertung abgeleitet hat. In erster Linie wird man hier an den Zusammenhang zwischen erbrachtem Verdienst und dadurch ermöglichter Zuteilung der Gnadengabe zu denken haben. Wendet man den Verdienstgedanken konsequent auf die Charismen an, so müßte man folgern, daß jeder Christ, sofern er aus eigener Kraft die notwendigen Bedingungen für eine Zuteilung einer Geistbegabung erfüllt, diese auch zwangsläufig erhält. Eine derartige Schlußfolgerung hat man offensichtlich als theologisch problematisch empfunden, da sie die Bedeutung des Menschen gegenüber Gott zu stark aufwertet. So hat sich selbst ein so entschiedener Verfechter der menschlichen Entscheidungsfreiheit wie OrigenesRufin davor gescheut, eine /wangsläufige Beziehung zwischen erbrachtem Verdienst und Geistbegabung zu postulieren. Er hält es daher prinzipiell für möglich, daß ein Mensch das Glaubensmaß aufbringt, die Gabe dann aber dennoch nicht empfängt; allerdings sieht er die letztlich ausschlaggebenden Gründe schließlich doch beim Menschen86. Aus dem, was bisher über die pelagische Interpretation der Gnadengaben ausgeführt worden ist, wird man folgern dürfen, daß Pelagius hier anders urteilt. Für ihn ist jede Gnadengabe ein unvollkommener Zugriff auf das Heil, das allen Menschen am Ende aller Zeiten zuteil wird. Wer eine solche Gabe besitzt, ist als ein Mensch ausgezeichnet, der in seiner Heiligung weit fortgeschritten und daher einer derartigen Gabe auch würdig ist. Der Besitz der Gnadengabe an sich hat jedoch keinen Einfluß auf (Jas Urteil, das Gott im Jüngsten Gericht über den Menschen ausspricht. Dort sind es ja die eigenen Verdienste, die bewertet werden, und nicht der Besitz eines Charisma, das im Vorgriff auf das Urteil Gottes gewährt worden ist. Im Hinblick auf das Ziel christlichen Lebens, die Verherrlichung des Menschen zu einer Gottähnlichkeit, ist es also vollkommen gleichgültig, ob dem Christ im gegenwärtigen Leben eine Gnadengabe zuteil wird oder nicht. Deshalb dürfte es Pelagius leicht fallen, trotz seines großen Interesses an der menschlichen Entscheidungsfreiheit Gott eine größere Freiheit bei der Zuteilung von Charismen einzuräumen. So merkt er ja in seinem Kommentar zu Rom 12,6 ausdrücklich an, daß die „Gabe nicht von unserem arbitrium abhängt, sondern von dem des Gebers"87. Versteht man diese Aussage dahingehend, daß er auf jene Entscheidungsfreiheit Gottes hinweisen will, so würde dies bedeuten, daß er in dieser Frage der Entscheidung Gottes ein stärkeres Gewicht zumißt als der des Menschen. Es wäre somit ein eingeschränkter Synergismus vorausgesetzt. Das reine Herz des Menschen wäre dann eine notwendige, jedoch keinesfalls hinreichende Bedingung für den Empfang einer Gnadengabe; denn „in der Gegenwart empfängt" der Mensch „die Gna-

1,7

Siehe oben, S. 179f. Siehe oben, Anm. 75.

I. Die Ordnung der Kirche

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dengabe, die Gott ihm geben will"88 - was prinzipiell die Möglichkeit einschließt, daß Gott sich hier anders entscheidet und dem Menschen die Gabe vorenthält. Neben der von Origenes-Rufin thematisierten Frage, inwieweit dem Menschen ein Einfluß auf die Zuweisung von Gnadengaben zuzusprechen ist, setzt sich Pelagius in seinen Expositiones auch mit der vom Ambrosiaster entwikkelten These auseinander, wonach der Mensch das Maß der ihm verliehenen Gnadengabe beeinflußt. Daß er mit dem Ambrosiaster grundsätzlich übereinstimmt, läßt sein kurzer Kommentar zu Röm 12,6b erkennen. Dort stimmt er der Auffassung des Ambrosiaster zu, wonach die Intensität der Gabe dem vom Menschen erbrachten Grad an fides entspricht: „Ein jeder empfängt nämlich soviel, wie er glaubt" 89 . Es ist grundsätzlich denkbar, daß Pelagius mit seiner Zustimmung zur These des Ambrosiaster zugleich auch ihre theologische Herleitung anerkennt. Ich halte es jedoch für wahrscheinlicher, daß es eigene Überlegungen gewesen sind, die ihn zu demselben Ergebnis geführt haben. Wenn man nämlich von der pelagischen Lehre der similitudo dei ausgeht, läßt sich von hier das oben angeführte Zitat als ihre Konsequenz herleiten. Diese Lehre setzt j a voraus, daß ein Zusammenhang zwischen dem Grad der willentlichen Verähnlichung mit Gott und der Intensität der Heiligung besteht. Je mehr sich der Mensch an den Willen Gottes angeglichen hat - was sich im Grad der Zustimmung zu Gott, d. h. im Grad der fides ausdrückt'" - desto fester ist seine Gemeinschaft mit Gott. Daraus läßt sich ableiten, daß eine Intensivierung der Gemeinschaft mit Gott sich auf die Intensität einer Gnadengabe, über die ein Christ verfügt, auswirkt; denn je enger das Band zwischen dem Christen und Gott wird, um so mehr kann das von Gott übertragene posse

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Exp., S. 96,9-11 (Röm 12,6): ... qui ita mundum cor habuerit, ut hoc mereatur, gratiam uirtutum accipit etiam in praesenti, [quam deus ei donare uoluerit]. - Die pelagische Herkunft des nachgestellten Relativsatzes quam deus ei donare uoluerit ist, wie Souter durch eckige Klammem anzeigt, nach textkritischem Befund unsicher. Nach einer erneuten Prüfung der Textüberlieferung ist de Bruyn, Commentary, S. 33f., zu dem Ergebnis gelangt, daß dieser Relativsatz neben anderen Zusätzen, die stärker das Handeln Gottes herausstellen, als pelagisch zu beurteilen sind.

8;

Exp., S. 96,11-13 (Röm 12,6): Siue {prophetiam} secundum rationem fidei. Fidei, non legis. Aliter: Quia fides illa[m] meretur. unus quisque enim tantum accipit quantum credit. - Zur Position des Ambrosiaster, auf die Pelagius hier Bezug nimmt, siehe oben, S. 181f. Wenn Pelagius den Zusammenhang, den der Ambrosiaster zwischen fides und Gnadengabe herstellt, als mereri charakterisiert, so expliziert er damit lediglich einen Gedanken, der in der synergistischen Konzeption des Ambrosiaster implizit angelegt ist.

'

Nach Ansicht von Pelagius lassen sich solche Willensbekundungen des Menschen, die Gott in einem stärkeren Maße als verdienstvoll bewertet, von anderen unterscheiden, bei denen dies in einem geringeren Maße der Fall ist. Dementsprechend lassen sich auch unterschiedliche Grade der willentlichen Zustimmung des Christen zu Gott voneinander abheben. Siehe hierzu B II 2 a, dort insbesondere S. 144ff. Vgl. ferner auch Pelagius' Überlegungen zur Buße, auf die unten (D II 2) eingegangen wird.

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C. Die Einheit der Kirche

aktualisiert werden - was sich in der gesteigerten Intensität der Gnadengabe zeigt. Mit der Reinheit des Herzens und der fides weist Pelagius auf eine bestimmte Form menschlicher Aktivität hin, durch die der Besitz von Gnadengaben ermöglicht und die Gabe selbst qualitativ aufgewertet wird. Ist die Gnadengabe zu einem dauerhaften Besitz des Christen geworden, soll sie auch angewendet werden, denn „es mißachtet die Gnadengabe, wer das empfangene Talent nicht ausübt"". Nach Ansicht von Pelagius muß jedoch die aktive Ausübung einer empfangenen Gabe durch ein bestimmtes menschliches Handeln vorbereitet werden. Abschließend soll gezeigt werden, worin dieses Handeln besteht und wie sein Bezug zur Gnadengabe zu verstehen ist. Textgrundlage bildet Pelagius' Kommentierung zu Eph 4,7, in der dieser beispielhaft zwei Formen eines derartigen Handelns anspricht. Um sich zu verdeutlichen, weshalb er an dieser Stelle ein derartiges Handeln thematisiert, soll zuvor dargestellt werden, auf welchem Stand sich die exegetische Diskussion über Eph 4,7 zu seiner Zeit befindet. Ebenso wie in Röm 12,6 ist in Eph 4,7 davon die Rede, daß Gott Gemeindegliedern Charismen zuteilt. In diesem Zusammenhang wird auch erwähnt, daß die Zuteilung nach einem bestimmten Maß erfolgt; allerdings handelt es sich dabei nicht um das Glaubensmaß (vgl. Röm 12,3), sondern um das „Maß der Gaben Christi". Der Ambrosiaster und Hieronymus zeigen sich in ihrer Auslegung dieses Verses besonders an der Frage interessiert, in welcher Weise Gott bei der Zuteilung des Maßes an Gnadengaben die Konditionen des Menschen berücksichtigt. Dazu entwickeln sie den Gedanken, daß Gott bei der Zuteilung des Maßes der Gnadengabe die Beschaffenheit des Menschen nicht einfach verändert, sondern sich vielmehr am individuell verschiedenen Fassungsvermögen des Menschen orientiert. In der Art von Gefäßen, die mit Wasser gefüllt werden, teilt Gott die Gnadengabe mit, und zwar „indem er soviel einer Gabe zuteilt, wie jener, dem gegeben wird, aufnehmen kann"92. Wenn Pelagius in seinem Kommentar zu Eph 4,7 stichwortartig anmerkt, daß das Maß der Gnadengabe sowohl an unserem Fassungsvermögen (capacitas) wie

" 92

Exp., S. 492,9f. (1 Tim 4,14): Noli neglegere gratiam quae in te est. Neglegit gratiam qui acceptum talentum non exercet. Hieronymus, Com. ad Eph., Sp. 497B/C (zu Eph 4,7): Unicuique autem nostrum data est gratia secundum mensuram donationis Christi. Licet Deus Pater super omnia sit, et per omnes et in omnibus, tarnen gratia iuxta mensuram credentibus datur. Non quod ad mensuram spiritum et gratiam tribuat Deus (magnificentiae enim eius non est finis), sed quod iuxta mensuram vascuiorum infudat liquorem, tantum muneris largiens, quantum potest ille cui donatur, accipere. - Der Sache nach entspricht diese Deutung der Ansicht des Ambrosiaster. Vgl. Ambrst., Com. ad Eph., S. 96,26-97,2 (zu Eph 4,7): unicuique autem tantum dari dicit gratiae, quantum donare dignatus fuerit dominus; non tarnen sine aequitatis mensura, quia unicuique pro viribus tribuet, ut tantum hauriat quantum sitit.

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auch an Gottes Freigebigkeit (largitas) hängt", stimmt er dieser Auslegungstradition generell zu. Allerdings scheinen nach seiner Ansicht diese Überlegungen nicht auszureichen, um die in Eph 4,7 angesprochene Zuteilung von Gnadengaben in angemessener Weise zu erklären. Daher läßt er noch weitere Überlegungen folgen, in denen er der Frage nachgeht, in welcher Weise der Mensch sich die ihm verliehenen Gnadengaben aneignet. Damit will er die Auslegungen des Ambrosiaster und des Hieronymus ergänzen, die mit ihren Erwägungen zur capacitas und largitas die Zuteilung von Gnadengaben allein aus der Perspektive Gottes beleuchten. Da er daran interessiert ist, die Übertragung von Charismen als ein Geschehen zu beschreiben, bei dem Gott und Mensch kooperativ zusammenwirken, fehlen ihm hier nämlich Aussagen, in denen auf das menschliche Handeln eingegangen wird, das an das Wirken Gottes anknüpft und es Teil der gelebten Wirklichkeit des Menschen werden läßt. Dieses nimmt er in seinem Kommentar zu Eph 4,7 in den Blick. Wie Pelagius hier darlegt, vollzieht sich die dem göttlichen Wirken korrelierende Aneignung der Gnadengabe darin, daß sich der Christ der Gabe anpaßt: „Wer sich an irgendeine Gnadengabe angepaßt hat, der macht sich dieselbe auch zu eigen"94. Es folgen zwei Beispiele, mit denen er diese These illustriert: „Wie zum Beispiel, wer eifrig auf das Gesetz bedacht ist, sapientia (sc. sich aneignet), wer viel betet und fastet, (sc. sich aneignet) die potestas, Geister auszutreiben"". Sein zweites Beispiel spielt auf Mt 10,1 und 17,5ff. an96. Liest man diese Texte vor dem Hintergrund der pelagischen Charismenlehre, so läßt sich nachzeichnen, wie die These, die hier veranschaulicht werden soll, aufzufassen ist. In Mt 10,1 ist davon die Rede, daß Jesus den Zwölf die „Macht über unreine Geister" verliehen hat, „damit sie diese austreiben und alle Mattheit und alle Schwachheit heilen"97. Aus Pelagius' Auslegung von Eph 4,7 geht hervor, daß er diesen biblischen Vers im Kontext seiner Charismenlehre verstanden wissen will. Nach seiner Ansicht beschreibt also Mt 10,1 die Verleihung einer Gnadengabe. Mit solch einer Interpretation läßt sich gut vereinbaren, daß im biblischen Text Jesus als Geber der Gabe bezeichnet wird, da es doch Pelagius von den Prinzipien seiner Trinitätslehre leicht möglich ist, in Jesus den dreieinigen

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Exp., S. 363,15f. (Eph 4,7): Secundum mensuram. Tarn nostrae capacitatis quam illius largitatis. Exp., S. 363,17f. (Eph 4,7): Donationes Christi. Qui ad quam gratiam se aptauerit, ipsam consequetur... Exp., S. 363,18f. (Eph 4,7): ut puta, qui studiosus legis est, sapientiam, multum orans et ieiunans, eicendi spiritus potestatem. Der Ausdruck multum orans et ieiunans (Exp., S. 363,19) spielt auf die Formulierung in Mt 17,20 an: „Hoc uero genus non egreditur nisi oratione et ieiuno"; eiciendi spiritus potestatem (ebd.) lehnt sich an Mt 10,1 an: ... dedit illis potestatem spirituum inmundorum ut eicerent eos ... Mt 10,1 (Vulgata): dedit illis potestatem spirituum inmundorum, ut eicerent eos et curarent omnem languorum et omnem infirmitatem.

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Gott selbst am Wirken zu sehen98. Das Motiv von der potestas spirituum wird in Mt 17,15-20 wieder aufgegriffen. Hier wird berichtet, daß die Jünger ihre Gabe nicht ausüben konnten: Sie bringen es nicht fertig, einen von einem bösen Geist besessenen Knaben zu heilen (Mt 17,15f.). Daraufhin nimmt Jesus selbst die Heilung vor (Mt 17,17). Auf die Ursache ihres Versagens hin gefragt, verweist Jesus die Jünger zunächst auf ihren Unglauben (Mt 17,18f.). Im Schlußvers dieser kurzen Erzählung folgt ein weiteres Jesuswort, das die Jünger anweist, die Austreibung unreiner Geister unter Beten und Fasten vorzunehmen: „Diese Art fährt nur aus unter Beten und Fasten"". In seiner Auslegung von Eph 4,7 kennzeichnet Pelagius das in Mt 17,20 erwähnte Beten und Fasten als Beispiel für ein Handeln, durch das man sich einer Gnadengabe anpaßt. Er führt also das Versagen der Jünger darauf zurück, daß sie diese Anpassung nicht vorgenommen haben. Auch wenn offen bleibt, inwiefern sich die Jünger durch Beten und Fasten ihrer potestas anpassen, so kann man diesem Beispiel des Pelagius zumindest entnehmen, daß die Anpassung Ausbildung einer bereits empfangenen Gabe ist. Wie in Mt 10,1 geschildert wird, war ja die Gabe den Jüngern zuvor verliehen worden. Unterbleibt die Ausbildung einer Gabe - in diesem Fall das Beten und Fasten - so bleibt die Gabe inaktiv, so daß sie für ihren Träger nicht verfugbar ist. Die Bedeutung des adaptiven Handelns für die Ausbildung einer Gnadengabe tritt in dem anderen Beispiel, das Pelagius in seiner Auslegung von Eph 4,7 anfuhrt, etwas klarer hervor. Die Gabe, um die es hier geht, ist die sapientia. Aufgabe der sapientia ist die Erkenntnis des Gotteswillens. Pelagius macht dies in seinem Kommentar zu Eph l,8f. deutlich, wo er hervorhebt, „daß er (sc. Gott) nicht nur ... Sünden erläßt, sondern uns auch soviel sapientia verleiht, daß wir die verborgenen Geheimnisse seines Willens erkennen"100. Durchaus angemessen zu dieser Zweckbestimmung der sapientia ordnet Pelagius ihr als adaptives Handeln das Studium des Gesetzes - d. h. der Heiligen Schrift - zu10'. Weitere Ausführungen dazu macht er an dieser Stelle nicht. Allerdings finden sich in einem anderen Text des Pelagius Aussagen zu dieser Thematik, und zwar in c. 23 seiner Epistula ad Demetriadem. Dort legt er dar, in welcher Weise Demetrias die Bibel lesen soll. In diesem Zusammenhang hebt er hervor, daß die Schrift stets als Zeugnis des Gotteswillens aufzufassen ist: „Lies die Heiligen Schriften so, daß Du immer eingedenk bist, daß jene Worte von Gott sind, der befiehlt, daß sein Gesetz nicht nur gekannt, sondern "" " '""

Zur Trinitatslehre des Pelagius siehe oben, B II2 b p. Mt 17,20 (Vulgata): Hoc uero genus egreditur nisi oratione et ieiuno. Exp., S. 346,10-16 (Eph l,7b.8f.): Secundum diuitias {gratiae eius}, 8 quae superabundant in nobis in omni {sapientia etprudentia, 9 ut) notum {faceret nobis sacramentum) uoluntatis suae, secundum bonumplacitum {eius}, quod {proposuit} in eo. Plus quam abundauit, ut non solum a morte redemptis gratis peccata dimitteret, sed etiam tantam nobis sapientiam donaret, ut uoluntatis eius occulta mysteria nosceremus.

""

Vgl. Exp., S. 363,18f. (Eph 4,6): ... ut puta, qui studiosus legis ist, sapientiam (sc. consequetur) ...

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auch erfüllt wird"102. Daher soll Demetrias das Gelesene als Anweisung für die eigene Lebensführung aufnehmen: „Am besten nutzt Du die göttliche Lektüre, wenn Du sie Dir wie ein Spiegelbild vorhältst, damit dabei die Seele wie auf ihr Bild zurückschaut und alles Abstoßende bessert und alles Schöne noch mehr schmückt"103. Alles, was Demetrias auf diese Weise an wichtigen Erkenntnissen für sich gewonnen hat, soll sie im Gedächtnis bewahren und durch weiteres Nachdenken vertiefen: „Was kultiviert werden muß, pflanze fest dem Gedächtnis ein und pflege es durch beständige Überlegung"104. Durch beharrliche Meditation über unklare Stellen in der Schrift mehrt Demetrias ihre Kenntnis des göttlichen Gesetzes. Ergebnis der intensiven Aneignung derartiger Kenntnisse ist schließlich der Besitz von sapientia. Durch die Rede von der himmlischen Schule, die Pelagius in diesem Zusammenhang gebraucht, macht er dabei deutlich, daß er in dieser Form der Aneignung von sapientia einen Lernprozeß sieht: „Was zur Reife gebracht werden muß, überdenke immer wieder neu, damit dieses göttliche Studium und diese himmlische Schule ... Dich Heiligkeit mit sapientia lehren. Deshalb heißt es in der Schrift: Alle, die Gott suchen, werden sapientia mit iustitia finden"105. Von diesem Abschnitt des Demetriasbriefs her läßt sich folgern, daß die Anpassung an die sapientia, die Pelagius in seinem Kommentar zu Eph 4,7 erwähnt, sich durch Lernen vollzieht. Das Moment des Prozeßhaften, das in diesem Beispiel eines anpassenden Handelns deutlich hervortritt, kann m. E. als allgemeines Charakteristikum der pelagischen Interpretation des anpassenden Handelns aufgefaßt werden, denn es entspricht der inneren Logik der pelagischen Gnadenlehre. Ihr zufolge ist ja die gratia sapientiae lediglich ein von Gott übertragenes posse von sapientia, d. h. die bloße Anlage des Christen, den Gotteswillen verstehen zu können. Um diese Anlage zu entfalten, muß der Christ sie auch anregen und über einen längeren Zeitraum ausbilden, was im Falle der gratia sapientiae durch ausdauerndes Schriftstudium erfolgt. Gibt die hier rekonstruierte Lehre von der Anpassung an Gnadengaben die Position des Pelagius zutreffend wieder, so ergeben sich daraus gewichtige Konsequenzen für seinen Amtsbegriff, insofern doch jedes Amt auf einer entsprechenden Gnadengabe beruht. Muß nun eine Gnadengabe erst ausgeformt werden, bevor sie für deren Träger auch aktiv verfügbar ist, so folgt daraus, daß Träger eines kirchlichen Amtes vor Beginn ihrer Amtstätigkeit eine bestimmte Ausbildung genießen müssen, in der noch nicht entfaltete Charismen Ad Dem. 23, Sp. 37C: Ita Scripturas sacras lege, ut semper memineris Dei ilia verba esse, qui legem suam non solum sciri, sed etiam impleri iubet. AaO.: Optime uteris lectione divina, si earn tibi adhibeas speculi vice, ut ibi velut ad imaginem suam anima respiciat, et vel foeda quaeque corrigat, vel pulchra plus ornet. AaO., Sp. 37D: Quae paranda sunt, memoriae penitus insere: eaque iugi meditatione conserva. AaO.: Quae maturanda sunt, frequenter revolve, ut divinum hoc Studium, et coelestis schola, et mores simul virginis ornent et sensum tradantque tibi cum sapientiam sanctitatem. Unde scriptura dicit: Qui quaerunt Deum, invenient sapientiam cum iustitiam.

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C. Die Einheit der Kirche

entwickelt werden. Dies gilt besonders für die höheren Ämter, an die Pelagius besondere Ansprüche stellt. So setzt z. B. das Bischofsamt einen Grad an theologischer Bildung voraus, der den des gemeinen Laien bei weitem übertrifft100. Einen derart hohen Bildungsgrad besitzen nur erfahrene und in sich gefestigte Christen, die sich in einem langen Studium großes Wissen über das göttliche Gesetz angeeignet haben. Diesen Christen wird man die perfecti zuzurechnen haben, die in ihrem Streben nach Heiligung intensiv an der Entfaltung ihrer Tugenden und Begabungen gearbeitet haben und die sich von daher für die führenden Ämter der Kirche besonders empfehlen. Es ist somit in der pelagischen Lehre von der Anpassung an die Charismen eine Ämterlehre angelegt, die dem besonderen Interesse des Pelagius, das Mönchtum in die Kirche einzubinden, sehr stark entgegenkommt.

Vgl. hierzu den Kommentar zu 1 Tim 3,2 (Exp., S. 484,9-12), wo es um den Bildungsstand der Bischöfe geht: Doctorem. Ut tarn uerbo doceat quam exemplo: si enim omnes uult scire quo modo omnibus debeant respondere, quanto magis 'sacerdos de' cuius 'ore legem exquirent, quifa] angelus domini omnipotentis est'! (vgl. Mal 2,7)

II. Einheit durch caritas

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II. Einheit durch Caritas Nach Pelagius umfaßt die Caritas der Christen 1 die Liebe zu Gott wie die Liebe zum Nächsten 2 . Den eindeutigen Vorrang räumt er dabei der Gottesliebe ein. Sie soll den Christen ganz und gar bestimmen, so daß alles Lieben in einem Bezug zur Gottesliebe steht und von hier aus begründet wird'. Dementspre1

Ein Beitrag zur Caritas-Lehre des Pelagius liefert Jakob Speigl mit seiner Untersuchung „Das Hauptgebot der Liebe in den pelagischen Schriften" (in: Scientia Augustiana, FS Adolar Zumkeller [Cassiac. 30], Würzburg 1975, S. 137-154), die, wie bereits im Titel anklingt, sich mit einem wichtigen Teilbereich der pelagischen Caritas-Lehre befaßt, der Nächstenliebe. Speigl versteht seine Untersuchung als „Vorarbeit" zu einem Vergleich der Auffassungen Augustins und Pelagius' zur Nächstenliebe, in der bei Pelagius angesetzt und nur gelegentlich ein „Seitenblick" auf Augustin geworfen werden soll (S. 138). Als Proprium des pelagischen Verständnisses der Nächstenliebe erkennt Speigl eine starke Tendenz zur Ethisierung; er führt diese auf das grundlegende Anliegen des Pelagius zurück, „seine Zeitgenossen, von denen viele nur halbherzige Christen waren, die sich auch gerne aus der Weltverantwortung zurückzogen, zu praktischem Christentum, manche meinen sogar zu reformatorischem Christentum [zu] erwecken" (S. 143). Einen entscheidenden Anteil für diese ethisierende Deutung der Nächstenliebe kommt nach Speigl der Goldenen Regel zu, die Pelagius zur Interpretation der Nächstenliebe herangezogen hat, da sie geeignet war, „von der Theorie zum Handeln überzuführen" (S. 144). Dementsprechend nehmen Überlegungen zur Goldenen Regel bei Pelagius den größten Raum in Speigls Untersuchung ein (S. 143-151). Auf diese Weise gelingt es ihm, zentrale Züge des pelagischen Verständnisses der Nächstenliebe nachzuzeichnen. Im Hinblick auf das Wesen der Caritas macht er allerdings nur unscharfe Aussagen. Zwar weist er auf die von Pelagius vorgenommene Verortung der Caritas in der potestas des Menschen hin (S. 140); auch wird angemerkt, daß Caritas durch lex und exemplum Christi angeregt werden (S. 141). Aber diese vereinzelten Aussagen zur formalen Gestalt der Caritas werden nicht systematisiert und zu einem geschlossenen Caritas-Begriff zusammengeführt, von dem ausgehend man die pelagische Deutung der Nächstenliebe entfalten könnte. Infolge des Verzichtes auf eine formale Definition des pelagischen caWtas-Begriffs bleibt auch eine Vielzahl von Fragen ungeklärt (so z. B. das Verhältnis der Caritas zu den opera caritatis, die Differenz zwischen Bruderliebe und Nächstenliebe, die Bedeutung der Gottesliebe für die Nächstenliebe), deren Beantwortung es erleichtern würde - wie von Speigl beabsichtigt - , Gemeinsamkeiten und Unterschiede der pelagischen Caritas-Lehre zu der Augustins schärfer zu erfassen.

2

Vgl. Exp., S. 475,13-16 (1 Tim 1,5), wo Pelagius Caritas mit Bezug auf Mt 22,37-40 als Gottes- und Nächstenliebe expliziert: Finis autem praecepti[s] [ei/] Caritas de corde puro. Caritas 'dei' et 'proximi, in' qua 'tota lex pendet et prophetae': haec si [de] corde puro sit, difficile delinquere poterimus. - Auch die Einteilung der Caritas in vier Modi, die Pelagius in Exp., S. 334,17-335,11 (Gal 5,14) vornimmt, ist in Mt 22,37-40 verankert. Die Selbstliebe, die Pelagius hier neben Gottes- und Nächstenliebe nennt, ist j a in der Formulierung des Gebotes zur Nächstenliebe in Mt 22,39 (diliges proximum sicut te ipsutn) durch den Rückverweis auf das Selbst des Menschen als Maßstab für die Art und Weise, wie der Nächste geliebt werden soll - das sicut te ipsum - mit berücksichtigt (vgl. aaO., S. 335,4). Die Feindesliebe, die Pelagius hier in Anschluß an Mt 5,44 ebenfalls anführt und als vierten Modus der caritas nennt (S. 334,20), muß man als Spezialfall von Nächstenliebe ansehen, soll sie doch in der Art der Nächstenliebe erfolgen (vgl. S. 335,4-6). Vgl. zu diesem Text auch Speigl, Das Hauptgebot der Liebe, S. 141-143.

3

Vgl. Exp., S. 334,20-335,9 (Gal 5,14): deum ergo plus quam nos diligere debemus; proximum [,sicut nos; inimicum, ut proximum], [proximus] diligebatur in lege, et, nisi deum primo

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C. Die Einheit der Kirche

chend ist die Nächstenliebe als eine aus der Gottesliebe abgeleitete Form des Liebens aufzufassen; in ihr wird also der Nächste nicht um seiner selbst willen geliebt - denn das wäre ja weltliche Liebe, die mit Gottesliebe nicht vereinbar ist4 sondern aufgrund seiner Bezogenheit zu Gott. Da Pelagius die Nächstenliebe in einer inneren Abhängigkeit zur Gottesliebe sieht, setze ich in der folgenden Entfaltung der pelagischen Caritas-Lehre auch an diesem Punkt ein (1). Von hier aus beleuchte ich dann Pelagius' Verständnis der Nächstenliebe. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Pelagius im Anschluß an biblische Gedanken zwischen der Bruderliebe, die die Beziehung der Christen untereinander bestimmt, und der Nächstenliebe im allgemeinen unterscheidet. Für die Ekklesiologie ist in erster Linie die Bruderliebe bedeutsam, da sie ausschließlich an das Leben im Raum der Kirche gebunden ist. Um meinen Ausführungen zur pelagischen Caritas-Lehre eine gewisse Vollständigkeit zu geben, werde ich im Abschnitt über die Caritas gegenüber dem Mitmenschen neben der Bruderliebe jedoch auch die für die Ekklesiologie weniger relevante Nächstenliebe behandeln (2).

dilexerimus, nos minime possumus non peccando diligere; et si nos non diligimus, ad quam f o r m a m proximos diligemus? quod si proximum non amamus, quando inimicum amare poterimus? si ergo uolumus dilectionem habere, primo deum plus quam nos[t]ras animas diligamus: quod inde probatur, si propter deum etiam salutem nostram et ipsas animas contemnamus. - Die hier von Pelagius vorgetragene These ist im Sinne eines formalen Prinzips zu verstehen, das einzig und allein den Grundsatz formuliert, daß alles Lieben von der Gottesliebe her zu erfassen ist. Rückschlüsse über die Art und Weise der Verknüpfung der einzelnen Modi von Caritas lassen sich aus diesem Text nicht ableiten. Dieser Umstand wird von Speigl, Das Hauptgebot der Liebe, nicht ausreichend berücksichtigt. Daher gelingt es ihm in seiner Untersuchung auch nicht, den eigentlichen Ansatz von Pelagius' caritas-Begriff aufzuzeigen. Speigl begnügt sich lediglich damit, auf die Verankerung der Caritas in der Selbstliebe des Menschen hinzuweisen: „Pelagius baut seine Unterweisung zum Liebesgebot auf dem Leitwort sicut teipsum a u f (S. 143). Es wäre durchaus möglich, Speigls zutreffende Aussage formal zu interpretieren; in diesem Falle wäre sie als ein Hinweis zu werten, daß Pelagius' Caritas-Begriff eudämonistisch geprägt ist. Aber auch wenn man derartige Überlegungen anstellt - was Speigl nicht tut - wäre damit noch nicht beantwortet, wie das Zustandekommen von Caritas zu denken ist. 4

Liebe zur Welt setzt Pelagius mit einem Beherrschtsein durch uoluptates gleich, was mit einer Ausrichtung nach den praecepta domini nicht vereinbar ist. Vgl. Exp., S. 518,4-7 (2 Tim 3,4): Pro\p)terui, tumidi, uoluptatum amatores magis quam dei. [Maior] sollicitudo indicium est abundantioris amoris: qui enim saeculi uoluptates potius quam domini praecepta libentius aut audit aut loquitur, talis est. - Freundschaft mit der Welt ist daher Feindschaft gegen Gott. Vgl. Exp., S. 44,20-24 (Röm 5,10): Si enim, cum inimici essemus, reconciliati sumus deo per mortem fllii eius. Peccatores inimici sunt contemnendo, sicut dicit apostolus: 'nescitis quia amicitia huius mundi inimica est deo? quicumque [ergo] uoluerit amicus fieri huic saeculo, inimicus dei constituitur' (Jac 4,4).

II. Einheit durch caritas

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1. Gottesliebe Der Begriff Caritas5, der in allen proto- und deuteropaulinischen Schriften belegt ist, ist ein Schlüsselbegriff der paulinischen Ethik. Paulus und seine Schüler verwenden ihn in recht unterschiedlichen Zusammenhängen. So sprechen sie von der Caritas, die Gott bzw. Christus den Gläubigen erweist (Rom 5,8; 8,35.39; Eph 1,15), aber auch von der Caritas der Christen, die auf Gott (2 Thess 3,5), den Mitchristen (Gal 5,13; Eph 4,2) sowie den Nächsten im allgemeinen (Rom 13,10) abzielt. Zumeist wird der Begriff Caritas mit kürzeren, erklärenden Zusätzen in die Argumentation eingebunden. Gelegentlich wird jedoch die Caritas auch eingehender thematisiert, so etwa in Rom 5,5b10; 13,8-10 und 1 Kor 13. Für das Gesamtverständnis des paulinischen caritasBegriffes ist insbesondere Rom 5,5b-10 aufschlußreich. Dort spricht Paulus von der Caritas dei, die von Gott ausgeht und dadurch, daß sie in das Innerste des Menschen dringt, den Christen in seinem Verhältnis zu Gott und seinem Mitmenschen bestimmt 6 . Paulus eröffnet seine Ausfuhrungen mit der These, daß die Caritas dei durch den Heiligen Geist, „der uns gegeben ist, ... in unsere Herzen ausgegossen ist"(Röm 5,5b). Worin die Caritas dei besteht, legt er in Rom 5,6-10 dar. Zunächst führt er aus, daß Gott die Sünder trotz ihrer Feindschaft ihm gegenüber liebt, wie Christi Tod am Kreuz gezeigt hat. Daraus wird in Rom 5,8-10 abgeleitet, daß die Caritas dei größer ist als menschliche Liebe; denn nach den Maßstäben der Weltwirklichkeit ist es undenkbar, daß ein Mensch eine derartige Liebe, wie sie Christus in seiner freiwilligen Hingabe für die Sünder gezeigt hat, aufbringen könnte (Rom 5,7b.8b-10). Trotz seiner recht durchsichtigen Struktur wirft dieser Text bestimmte Fragen auf, mit denen sich die altkirchlichen Exegeten in ihren Kommentaren auseinandergesetzt haben. Für das Verständnis des hier entfalteten caritasBegriffes stellt sich die Frage, in welcher Weise man die Beziehung von Rom 5,5b zu Röm 5,6-10 zu bestimmen hat. Einerseits wird der in Rom 5,5b formulierte Gedanke, daß Gott die Caritas dei in die Herzen der Menschen ausgießt, in Röm 5,6-10 nicht mehr aufgegriffen. Dies würde die Schlußfolgerung erlauben, daß der Zusammenhang zwischen Röm 5,5b zum folgenden Text allein durch das Stichwort Caritas dei gegeben ist. Die Aussage, daß Gott durch den Geist Caritas zuteilt, stände somit für sich allein und könnte daher auch unabhängig von seinem Kontext interpretiert werden. Andererseits haben die altkirchlichen Exegeten beobachtet, daß es auch in Röm 5,6-10 um ein Handeln Gottes geht, das auf den Menschen abzielt. Besonders deutlich klingt dies in Röm 5,8 an, wo es heißt, daß Gott in Christi Sterben uns seine Caritas „erweist" (ouviornoiv). Im Hinblick auf das Verständnis dieses Verses bei Caritas ist das lateinische Äquivalent fllr den griechischen Ausdruck äYctJtri. Da meine folgenden Ausführungen sich auf die lateinische Exegese beziehen, verwende ich hier den lateinischen Begriff. Siehe hierzu Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer, 1. Teilband (Röm 1-5) [EKK VI/1], Zürich/Einsiedeln/Köln/Neukirchen-Vluyn 1978, S. 293.

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C. Die Einheit der Kirche

den lateinischen Exegeten muß man berücksichtigen, daß sowohl der ältere lateinische Bibeltext wie auch die von Pelagius benutze Vulgata das - in seinem Bedeutungsgehalt weit gefächerte - Verb auvioTTiaiv („er erweist"; man kann auch übersetzen: „er empfiehlt") mit dem semantisch eindeutigeren lateinischen Verb commendat („er empfiehlt") übersetzt. So erlangt Röm 5,6-10 einen Sinn, den dieser Text vom Wortlaut des Griechischen her zwar auch haben kann, der sich jedoch nicht zwingend nahelegt. Christi Sterben erscheint nun als Liebeserweis Gottes, mit dem Gott seine Liebe zu den Menschen empfiehlt; diese Aussage kann dahingehend verstanden werden, daß Gott gleichsam um die Liebe der Menschen wirbt. In dieser Weise interpretiert, könnte Röm 5,8a als ein zu Röm 5,5b konkurrierender Erklärungsansatz für das Hervorgehen von Caritas dei bei den Menschen aufgefaßt werden. Für das Gesamtverständnis von Röm 5,5-10 - und damit zugleich für das jeweils vorausgesetzte Verständnis der Caritas - ist somit entscheidend, ob in der Auslegung dieses Textes das Entstehen von Caritas dei bei den Menschen ausgehend von Röm 5,5b oder Röm 5,8a interpretiert wird. Die lateinischen Kommentare vertreten dazu recht unterschiedliche Auffassungen. Äußerst knapp geht Augustin in dem im Jahr 394 verfaßten Römerbriefkommentar auf die ersten Verse von Röm 5 ein. Allerdings geht aus seinen kurzen Bemerkungen hervor, daß er das Entstehen der Caritas von Röm 5,5b her begriffen wissen will. Besonders wichtig erscheint ihm der Umstand, daß die Ausgießung der Caritas in die Herzen der Menschen ein Handeln Gottes darstellt. In diesem Sinne wertet er Röm 5,5b als einen Beleg dafür, daß sich die Caritas des Menschen Gott verdankt und daher auch ihm zuzurechnen ist: „Er (sc. Paulus) zeigt, daß all jenes, was wir uns zuschreiben können, Gott zuzuschreiben ist, der geruht hat, durch den Heiligen Geist Gnade zuzuteilen" 7 . Mit diesen Ausfuhrungen bietet Augustin freilich nur eine unvollständige Vorstellung davon, wie die Caritas beim Menschen zustandekommt, denn er beleuchtet hier j a das Hervorgehen von Caritas allein aus der Perspektive Gottes. Inwieweit der mit einem freien Willen begabte Mensch in dieses Geschehen einbezogen ist, läßt er dabei vollkommen unberücksichtigt 8 . Dagegen ist der Ambrosiaster in seiner Auslegung stärker daran interessiert, die Eigenständigkeit des Menschen beim Hervorgehen von Caritas herauszustellen. Daher orientiert er sich in seinen Aussagen über die Entstehung von Caritas an Röm 5,8a. Aus der Aussage, daß Gott dem Menschen seine Caritas empfiehlt, leitet der Ambrosiaster die Vorstellung ab, daß das Hervorgehen von Caritas beim Menschen in ein dialogisches Geschehen eingebunden ist, das sich zwischen ihm und Gott abspielt. Gott zeigt dem Menschen seine Liebe, „wenn er gegenüber seinen bisherigen Feinden gütig ist und den 7

*

Augustin, Exp. ad Rom. 20 (26), S. 10,17-19: monstrat ilia omnia, quae possemus nobis tribuere, deo esse tribuenda, qui per spiritum sanctum gratiam dare dignatus est. Mit dieser Fragestellung setzt sich Augustin in seiner 397 verfaßten Schrift Ad Simplicianum auseinander. Siehe hierzu unten, S. 204, Anm. 37.

II. Einheit durch caritas

197

schickt, der sie erlöst, auch wenn sie dieses durchaus nicht verdienen"9. Diese Liebestat Gottes ruft als Reaktion beim Menschen Dankbarkeit hervor10. Auch wenn der Begriff Caritas hier nicht explizit erwähnt wird, so ist er der Sache nach in die Dankbarkeit eingeschlossen. Trifft diese Annahme zu, so würde der Ambrosiaster die menschliche Caritas gegenüber Gott als Erwiderung der Liebe Gottes zu den Menschen begreifen. Vor dem Hintergrund eines derartigen car/tas-Verständnisses interpretiert der Ambrosiaster auch Röm 5,5b. Nach seiner Auffassung ist die Caritas dei, die, wie es in Röm 5,5b heißt, in die Herzen der Menschen ausgegossen ist, sachlich mit dem Heiligen Geist gleichzusetzen. Dem Ambrosiaster geht es in diesem Zusammenhang weniger um dasjenige, was der Geist am Menschen wirkt - die Aussage, daß der Heilige Geist die Caritas des Menschen inspiriert, wird vermieden" - , sondern vielmehr hat er hier dasjenige im Blick, was der Mensch aus der Tatsache, daß ihm der Geist verliehen worden ist, für sich ableiten kann. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist der Geist Unterpfand der Liebe Gottes'2. Der Ambrosiaster begründet diese These mit dem Hinweis auf die Treue Gottes zu seinen Verheißungen. Gemäß Act 2 stellt die Gabe des

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10

Ambrst., Com. ad Rom., S. 159,25.161,lf. (Röm 5,8): Conmendat autem suam caritatem deus in nobis. sie conmendat caritatem suam dum adhuc inimicis benivolus est et mittit qui salvet eos, cum utique non mereantur. Dieser Gedanke klingt in Com. ad Rom., S. 161,10-14 (Röm 5,8b.9) an. Dort geht der Ambrosiaster auf die Reaktionen des Menschen auf Gottes Liebestat ein, wobei er sich auf diejenigen Menschen konzentriert, die sich gegenüber Gott verschließen. Daraus läßt sich freilich folgern, welche positive Reaktion er von den Christen erwartet: quoniam enim bonitas dei nullum perire vult, morte dignis misericordiam dedit, ut intelligentibus dei gratiam circa se adderet dignitatem et gloriam. ingrati hi sunt qui deo vocante dissentiunt, dei gratiam abnuentes, ut in proposito erroris et malignitatis permaneant. - Vgl. auch Com. ad Rom., S. 161,25-27 (Röm 5,11), wo der Ambrosiaster den Kemgedanken seiner Auslegung von Röm 5,8f. kurz zusammenfaßt: non tantum pro aeeepta salvatione et securitate deo gratias agendas docet...

"

Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß auch der Ambrosiaster in seiner Caritas-Lehre den Gedanken vertritt, daß der Heilige Geist den Menschen zur Liebe inspiriert. Allerdings bringt er diesen Gedanken hinsichtlich der Nächstenliebe zur Geltung, auf die weiter unten noch eingegangen wird. Weshalb der Ambrosiaster bei seiner Herleitung der Gottesliebe auf die Einbeziehung der Pneumatologie verzichtet, wird m. W. innerhalb seiner Schriften nicht weiter thematisiert. Möglicherweise spielt hier der Gedanke eine Rolle, daß der Gläubige erst bei seiner Taufe den Heiligen Geist empfängt. Die religiöse Vorgeschichte des Christen, d. h. seine Bekehrung, der die Ausbildung des Glaubens und einer Liebe zu Gott zuzurechnen ist, wäre demnach ohne ein direktes Einwirken des Heiligen Geistes zu denken. Diese Überlegung könnte den Ambrosiaster dazu bewogen haben, einerseits für die Gottesliebe, zu der auch ein sich zu Gott bekehrender Mensch fähig sein soll, kein Wirken des Heiligen Geistes anzunehmen, andererseits für Nächstenliebe, die von jedem Christen (d. h. dem durch den Geist geheiligten Menschen) gefordert wird, ein solches Wirken vorauszusetzen.

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Ambrst., Com. ad Rom., S. 155,7-12 (Röm 5,5): Spes autem non confundit, quia Caritas dei diffusa est in cordibus nostris per spiritum sanetum, qui datus est nobis. spes non confundit, dum stulti et hebetes a perfidis iudicamur, credentes inpossibilia mundo, pignus enim caritatis dei habemus in nobis per spiritum sanetum datum nobis.

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C. Die Einheit der Kirche

Geistes die Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung Joel 3,1-5 dar. Insofern ist der Heilige Geist, der „den Aposteln und uns gegeben worden ist", Beweis für die Treue Gottes in seinen Verheißungen 13 . Eine solche Treue ist Ausdruck der Caritas gegenüber denjenigen, denen die Verheißungen gelten. Keiner, der liebt, will nämlich den Geliebten eine Enttäuschung bereiten. Somit können die Christen aus dem Besitz des einst verheißenen Geistes für sich ableiten, daß Gott sie liebt. Als Reaktion hierauf können sie Liebe zu Gott und Vertrauen auf die Erfüllung der noch ausstehenden Verheißungen gewinnen, wissen sie doch, „daß es Gott ist, der die Verheißungen gemacht hat und denen verheißt, die er lieb haben will" u . Auch wenn der Ambrosiaster die theologischen Prämissen seiner caritasLehre in seiner Auslegung nicht expliziert, so läßt sich m. E. aus dem Gesamtduktus seiner Exegese ablesen, daß hier ein Interesse an der Willensfreiheit des Menschen leitend ist. Er will festhalten, daß die liebevolle Zuwendung zu Gott, wie sie in spes und fides zum Ausdruck kommt, aus dem eigenen Wollen des Menschen hervorgeht. Zugleich will er den Gedanken aufrechterhalten, daß Gott diese liebende Haltung anregt. Indem er die liebende Haltung gegenüber Gott als Antwort auf die Caritas Gottes gegenüber den Menschen wertet, bringt er diese beiden Interessen zum Ausgleich; denn im Antwortcharakter der menschlichen Gottesliebe liegt ein Freiheitsmoment, das auch die Möglichkeit einschließt, daß die Menschen sich der Einsicht in ihr Geliebtwerden verschließen und sie statt dessen „in der Entscheidung für Irrtum und Schlechtigkeit verbleiben'" 5 . Die Auslegung von Origenes-Rufin setzt wie die von Augustin bei Rom 5,5b ein, weist aber auch Gemeinsamkeiten mit der Exegese des Ambrosiaster auf. Mit Augustin teilt Origenes-Rufin die Überzeugung, daß die Caritas dei

11

Ambrst., Com. ad Rom., S. 155,12-15 (Röm 5,5): ... fidele enim esse promissum dei probat spiritus sanctus datus apostolis et nobis, qui diversis linguis praestitit, ut inperiti loquerentur cum interpretationibus ad confirmandam spem ... - Die Formulierung spiritus sanctus datus aposotolis et nobis, qui diveris linguis praestitit, ut inperiti loquerentur cum interpretationibus spielt auf die Pfingstgeschichte Act 2 an (vgl. Act 2,14). Die Aussage, daß der Geist verheißen worden ist, wird man daher auf die Verheißung Joel 2,28-32 beziehen können, die in Act 2,17-21 zitiert wird.

14

Ambrst., Com. ad Rom., S. 155,12-17 (Röm 5,5): fidele enim esse promissum dei probat spiritus sanctus datus apostolis et nobis, qui diversis linguis praestitit, ut inperiti loquerentur cum interpretationibus ad confirmandam spem, ut et caritatem dei conmendaret in nobis, ut quia caros falli inpossibile est, securos nos faceret de promissione, quia et deus est qui promisit et his quos caros habere vult promisit. - Daß die Caritas dei in nobis die Liebe des Menschen gegenüber Gott meint, läßt sich aus dem hier kommentierten Bibeltext Röm 5,5 ablesen, nach dem - ebenso wie es auch der Ambrosiaster in seiner Exegese voraussetzt - die spes der Christen in der Caritas begründet ist.

15

Vgl. Ambrst., Com. ad Rom., S. 161,12-14 (Röm 5,9): ingrati hi sunt qui deo vocante dissentiunt, dei gratiam abnuentes, ut in proposito erroris et malignitatis permaneant.

II. Einheit durch caritas

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des Menschen eine durch den Heiligen Geist verliehene Gabe Gottes darstellt16. Man hat allerdings diese Aussage vor dem Hintergrund seiner Lehre von der Heiligung zu sehen. Diese Lehre ist von dem Gedanken bestimmt, daß das Leben der Christen sich als ein fortwährender Entwicklungsprozeß gestaltet, in dessen Verlauf sie immer stärker Anteil am Leben des göttlichen Logos nehmen sollen17. Hat der Christ in seinem Fortschritt eine gewisse Vollkommenheit erreicht18, so erlangt er vermöge seiner participatio an der göttlichen Natur Caritas dei. Gott ist nämlich seinem Wesen nach Liebe; die Anteilhabe an der göttlichen Natur schließt somit Teilhabe an der Caritas ein". Die Aussage in Rom 5,5b, wonach die Caritas dei in die Herzen der Menschen ausgegossen ist, hat man demnach dahingehend zu verstehen, daß Gott aus Liebe die Gabe der Caritas dei mitteilt, wodurch wiederum die damit begnadeten Menschen Gott lieben20. Ebenso wie dem Ambrosiaster ist es jedoch auch Origenes-Rufin wichtig, daß bei seiner Interpretation der Caritas dei auch die Entscheidungsfreiheit des Menschen berücksichtigt wird. Indirekt spricht Origenes-Rufin diese an, wenn er hervorhebt, daß allein perfecti die Caritas dei empfangen21. Nach seiner Ansicht kann sich nämlich der Mensch perfectio allein kraft seiner willentli-

16

17

ls

Origenes-Rufin, Com. ad Rom. IV 9, Sp. 993 B/C (zu Röm 5,3-5): Fidem namque et spem consequitur Caritas Dei, quae omnium maior est, et non solum replet mentem nostram, sed et abundat ac diffunditur in cordibus nostris, pro eo quod non humana a nobis arte acquiritur, sed per gratiam sancti spiritus infunditur. Siehe hierzu Williams, Art. Origenes/Origenismus, S. 41 If. Vgl. ferner meine Ausführungen zur Taufdeutung des Origenes (oben, B I 1 a), wo auf dieses Heiligkeitsverständnis eingegangen worden ist. Daß Röm 5,5b von den perfecti spricht, stellt Origenes-Rufin in Com. ad Rom IV 9 (Röm 5,3-5), Sp. 997A heraus: Quod autem dixit Caritas Dei diffusa est in cordibus nostris, diligentius considerandum est, in quorum cordibus Dei Caritas diffundatur. Ego puto, quod in illorum, qui iam non habent spiritus servitutis iterum in timore, sed et ¡Horum, in quibus perfecta Caritas foras mittit timorem (1 Joh 4,18) et quibus spiritus adoptionis datur, qui clamet in cordibus eorum: Abba, pater. Non est ergo cuiusque hominis nisi perfecti et talis, qualis erat Paulus, in cuius corde diffundatur Caritas Dei per spiritum sanctum. (Röm 5,5).

"

Vgl. hierzu Com. ad Rom. IV 9 (Röm 5,3-5), Sp. 997 B/C: Nam et ipse Paulus nominat spiritum caritatis, et Deus Caritas dicitur, et Christus filius caritatis appellatur. Quod si et spiritus Caritas et filius caritatis et Deus caritatis invenitur, certum est, quod ex uno patemae Deitatis fönte et filius intelligendus est et spiritus sanctus, ex cuius abundantia etiam sanctorum cordibus ad participationem capiendam divinae naturae, sicut Petrus apostolus edocuit, abundantia caritatis infunditur, ut per istud sancti spiritus donum compleatur ille sermo, quem Dominus dicit: Sicut tu, pater, in me et ego in te, et isti in nobis unum sint (Joh 17,21), divinae scilicet naturae paticipes effecti in abundantia caritatis per spiritum sanctum ministratae.

20

Com. ad Rom. IV 9 (Röm 5,3-5), Sp. 997 B: ... certum est, quod velut summum et maximum donum sancti spiritus caritatem ponat, quo velut munere prius suscepto a Deo per hoc ipsum diligere possumus Deum, quod diligimur a Deo. Siehe oben, Anm. 18.

21

200

C. Die Einheit der Kirche

chen Bemühung erwerben 22 . Daher ist davon auszugehen, daß er mit einem eigenen Beitrag des Menschen für die Ausbildung von Caritas rechnet. Dieser Beitrag stellt jedoch nur die Bereitschaft dar, die der Mensch als Voraussetzung für seine Begabung mit Caritas zu erbringen hat; die Caritas ist jedoch nicht - wie es offensichtlich der Ambrosiaster voraussetzt - mit einem Willensakt identisch, der aus freier Entscheidung hervorgeht. In den Expositiones setzt sich Pelagius mit den ihm vorgegebenen Interpretationen von Augustin, dem Ambrosiaster und Origenes-Rufin auseinander und stellt ihnen seine eigene Deutung von Rom 5,5b-10 entgegen. Seine Auslegung ist von dem Anliegen bestimmt, die Caritas als willentliche Regung des Menschen zu betrachten, zu der zwar Gott den Anstoß gegeben hat, die jedoch ganz in der eigenen Verantwortung des Menschen liegt. Er knüpft dabei positiv an die Überlegungen des Ambrosiaster an, in denen dieser Gedanke bereits im Ansatz vorhanden ist. Zugleich grenzt er sich damit von den pneumatologischen car/tas-Interpretationen Augustins und Origenes-Rufins ab. An Augustins Deutung dürfte er als störend empfunden haben, daß hier ausschließlich von Gottes Handeln die Rede ist, wohingegen der Mensch lediglich als Empfänger göttlicher Gnadenwirkungen beschrieben wird. Obgleich Pelagius den sehr offenen Formulierungen Augustins wohl zustimmen könnte 23 , hat er hier möglicherweise die Gefahr gesehen, daß diese Aussagen dahingehend verstanden werden könnten, daß der Mensch als ein durch Gott determiniertes und insofern unfreies Geschöpf begriffen wird. Ebenso dürfte er auch die Deutung von Origenes-Rufin als problematisch angesehen haben. Insbesondere die Vorstellung, daß die Caritas auf eine seinsmäßige Teilhabe an der göttlichen Natur zurückzufuhren ist, wird er abgelehnt haben. Zwar geht er wie OrigenesRufin davon aus, daß der Christ in einem Entwicklungsprozeß steht, dessen Ziel die willens- und seinsmäßige Ähnlichkeit zu Gott darstellt. Doch während nach Ansicht von Origenes-Rufin das seinsmäßige und das willensmäßige Moment dieses Entwicklungsprozesses sehr stark ineinandergreifen, neigt Pelagius dazu, sie stärker zu unterscheiden. Gerade was die seinsmäßige Ähnlichkeit mit Gott angeht, hält er sich sehr stark zurück. Aufgrund seines starken Antimanichäismus will er ja ein Verständnis des Menschen vermeiden, das ihn als ein durch Gott bestimmtes Wesen begreift. In dieser Weise könnte jedoch der Mensch verstanden werden, wenn man das Handeln Gottes betont, durch das der Mensch in seinem Sein verändert wird. Um dieser Gefahr zu entgehen, Vgl. hierzu Hermann Josef Vogt, Das Kirchenverständnis des Origenes (BBK 4), Köln/Wien 1974, S. 84-87. Augustin spricht in Exp. ad Rom. 20 (26), S. 10,17-19 (siehe oben, Anm. 7) j a lediglich an, daß die von Gott empfangene Caritas sich Gott verdankt und wir von daher diese nicht als die unsrige bezeichnen können. Da Augustin hier nicht den Willen des Menschen thematisiert, ist diese Aussage offen genug, um vor dem Hintergrund der pelagischen Fundamentalunterscheidung von posse und uelle interpretiert zu werden. In dieser Weise gedeutet, ließen sich die Ausführungen Augustins als Aussage über das von Gott geschenkte Lieben-Können verstehen; unter dieser Voraussetzung könnte Pelagius ihr problemlos zustimmen.

II. Einheit durch caritas

201

sagt Pelagius nur sehr wenig über die seinsmäßige Veränderung des Menschen während seiner Heiligung. Statt dessen stellt er die seinsmäßige Ähnlichkeit zu Gott als ein zukünftiges Heilsgut heraus, das der Mensch am Ende der Tage als meritum für seine Verdienste erhalten wird24. Pelagius' Zurückhaltung gegenüber dem Gedanken einer seinsmäßigen Veränderung am Menschen schließt jedoch zugleich die Konsequenz ein, daß der Fortschritt des Christen im Rahmen seiner Heiligung dafür stärker an den Entwicklungen des Willens gemessen wird. Von daher kann nicht weiter verwundern, daß er in seiner Exegese von Rom 5 an die stärker voluntaristisch ausgerichtete Auslegung des Ambrosiaster anknüpft. Pelagius' Deutung von Rom 5,5b-10 unterscheidet sich von der des Ambrosiaster vor allem dadurch, daß er von einem Caritas-Begriff ausgeht, der stärker reflektiert ist als derjenige des Ambrosiaster. Man wird Pelagius' Interesse an der Psychologie der Caritas vor dem Hintergrund seines Antimanichäismus zu sehen haben. Es ist ja gerade die gedankliche Auseinandersetzung mit dem manichäischen Determinismus, die ihn dazu angeregt hat, über den Willen des Menschen intensiver nachzudenken. Da er die Caritas als eine Form des Wollens sieht25, kommen die Einsichten, die er über die Psychologie des Willens gewonnen hat, seinem ca/v/os-Begriff zugute. Der Umstand, daß er die Caritas in der Psychologie des Willens begründet sieht, schließt ein, daß sich von seinen psychologischen Leitgedanken her bereits einige prinzipielle Aussagen darüber ableiten lassen, wie er sich die Art und Weise des Entstehens von Caritas denkt26. Den innerseelischen Vorgang, durch den ein in Freiheit zur Entscheidung hervorgehendes Wollen zustandekommt, begreift Pelagius als ein Zusammenspiel von Wissen und Wollen: Dem menschlichen Geist wird ein Wissen über etwas vermittelt, das dem Menschen angenehm ist. Der Geist wird von der Attraktivität dieser Annehmlichkeit angezogen, so daß er schließlich dem Dargebotenen zustimmt und es will. Vor dem Hintergrund dieser psychologischen Konzeption hat man auch das Entstehen des liebenden Wollens, der Caritas zu sehen. Im Hinblick auf die Caritas modifiziert Pelagius diese Konzeption leicht, wenn er der Caritas das besondere Merkmal zuschreibt, daß das Angenehme, wodurch das Wollen der Caritas beim Menschen geweckt wird, wiederum selbst in Caritas besteht, die dem nun Liebenden zuvor erwiesen worden ist27. Daß die Caritas von dem, der sie empfangt, als 24 25

26

27

Siehe hierzu oben, B 13 b. Vgl. Exp., S. 64,13-15 (Röm 8,15): ... illi ergo qui operari caritatis uoluntate nolebant, timoris necessitate coguntur; nos uero omnia uoluntarie operemur, ut filios nos probemus. Zu den psychologischen Grundlagen der pelagischen Lehre von der Entscheidung, auf die ich mich im folgenden beziehe, siehe oben, A 13. Dieser Gedanke spielt bei Pelagius' Exegese von Phil 2,25-27 eine zentrale Rolle. In diesen Versen kündigt Paulus der Gemeinde in Philippi den Besuch seines Mitarbeiters Epaphroditus an (Phil 2,25), der noch vor kurzem erkrankt war, jetzt aber wieder genesen ist (Phil 2,27). Epaphroditus' Besuch erfolgt auf dessen eigenen Wunsch. Wie ihm nämlich zu Ohren gekommen ist, haben die Philipper von seiner Krankheit erfahren. Dies wiederum hat Epa-

202

C. Die Einheit der Kirche

angenehm empfunden wird, liegt im ihrem Wesen begründet. Wer nämlich jemanden liebt, ist dem Geliebten wohlgesinnt und auf dessen persönliches Glück bedacht 28 . Diese altruistische Haltung des Liebenden macht dessen Liebe für den Geliebten angenehm, so daß der Geliebte dadurch veranlaßt wird, den Liebenden mit Gegenliebe zu bedenken. Bedeutet nun Caritas das liebende Wollen eines geliebten Gegenübers, so läßt sich der Rahmen, in dem sich Caritas vollzieht, als eine Beziehung zwischen einem Liebenden und einem Geliebten bestimmen. Aus der Logik des pelagischen Caritas-Verständnisses folgt, daß diese Beziehung darauf angelegt ist, sich als ein wechselseitiges Lieben und Geliebtwerden zu gestalten, ist doch der Geliebte eine Person, die für das Angenehme der ihr vom Liebenden entgegengebrachten Liebe empfanglich ist und dementsprechend hierauf mit Gegenliebe zu reagieren vermag. In seiner Auslegung von Röm 5,5-10 wendet Pelagius diesen CaritasBegriff an, um mit seiner Hilfe die hier thematisierte Beziehung zwischen Gott und den Christen zu beschreiben. Daß es sich dabei um eine auf Liebe und Gegenliebe gründende Beziehung handelt, hat Pelagius bereits beim Ambrosiaster lesen können, der in Paulus' Bemerkungen in Röm 5,5 und Röm 5,8 ein Wechselspiel zwischen dem Liebeserweis Gottes und der hierauf antwortenden Gegenliebe des Menschen angedeutet sieht. Pelagius geht in seiner eigenen Auslegung von Röm 5,5-10 über den Ambrosiaster hinaus, indem er die Vorstellung vom Entstehen der Caritas im Rahmen eines dialogischen Geschehens zwischen Gott und Mensch zum Leitgedanken des gesamten biblischen Textes erhebt. Damit weitet er die zeitliche Gesamtperspektive, unter der dieses dialogische Geschehen zu sehen ist, erheblich aus. Röm 5,5ff. enthält nämlich nicht nur Aussagen, die auf das gegenwärtige Verhältnis der Christen zu beziehen sind, vielmehr wird hier auch auf die vorchristliche Vergangenheit der Gläubigen zurückgeblickt, eine Zeit, in der diese noch von Gott abgekehrte Sünder waren (Röm 5,10), obwohl Gott sie bereits geliebt hat (Röm 5,8). Dementsprechend befaßt sich Pelagius in seiner Auslegung nicht allein mit der gegenwärtigen Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch, sondern berücksichtigt auch ihre Vorgeschichte und erklärt, wodurch diese Liebe angeregt worden ist. Ich zeichne im folgenden die zentralen Grundgedanken dieser theologischen Konzeption in systematisierter Form nach.

phroditus geschmerzt, offensichtlich wegen der Betrübnis, die die Philipper in ihrer Anteilnahme seinetwegen empfunden haben. Wie Pelagius in seiner Exegese zu Phil 2,26 darlegt, „macht" diese Besorgnis um das Wohl der Philipper, die Ausdruck seiner Liebe ist, ihnen die Liebe des Epaphroditus „angenehm" (commendat), so daß diese zu einer größeren Liebe zu Epaphroditus angeregt werden: Quoniam

quidem

omnes uos desiderabat.

Caritatem eius cir-

ca illos sollicitam commendat, ut et ipse [ab eis] amplius diligatur (Exp., S. 4 0 3 , 8 - 1 0 zu Phil 2,26). "

Zu dem altruistischen Charakter der Caritas vgl. Exp., S. 204,3-6 (1 Kor 13,4): (Sc. Benigna

est. Semper bene uolens. Caritas

non aemulatur.

Caritas)

N e m o illi quem uere amat inuidet,

cuiusuis eum gloriae esse conspiciat uel honoris, sed omnem eius felicitatem quasi suam libenter amplectitur.

II. Einheit durch caritas

203

Voraussetzung für diese Beziehung zwischen Gott und den Christen bildet Gottes Liebe zu den Sündern. Es handelt sich dabei um eine einseitige Liebesbeziehung: Gott liebt den Sünder, der sich wiederum Gott versagt und sich dadurch als dessen Feind erweist29. Es fällt auf, daß dieses einseitige Lieben Gottes ohne Bezugnahme auf das Angenehme erfolgt. Dadurch erweist sich seine Liebe zu den Sündern als ein bedingungs- und grundloses Lieben, eine Form des Liebens, zu der Menschen nicht imstande wären, da menschliches Lieben doch immer Reaktion auf bereits Vorgegebenes ist. Insofern dieses menschenunmögliche, voraussetzungslose Lieben Gottes den Anstoß für die menschliche Liebe zu Gott bildet, wodurch der Mensch in eine heilvolle Gemeinschaft mit ihm eintritt (vgl. Rom 5,1-4), muß man es m. E. im Sinne des Pelagius als Gnade bewerten. Wenn man es nämlich aus der Perspektive der pelagischen Fundamentalunterscheidung von posse und uelle betrachtet30, erscheint es als ein von Gott geschenkter Ermöglichungsgrund (posse) für die wechselseitige Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch, in die der Mensch eingebunden wird, wenn er die ihm entgegengebrachte Liebe seinerseits durch ein liebendes Wollen (uelle) beantwortet. Es ist somit Gott selbst, der durch seine Liebe zu den Sündern den Anstoß zur Gottesliebe des Menschen schafft. Wie groß und intensiv diese Liebe ist, zeigt Gott in seinen, auf das Heil der Sünder abzielenden beneficia, die inhaltlich mit Christi Sühnetod am Kreuz gleichzusetzen sind". Die Größe der Liebe Gottes zu den Sündern kommt in diesem Tod vor allem deshalb so deutlich zum Ausdruck, weil sich Gott hier ganz und gar „ungeschuldet" - d. h. ohne moralische oder juristische Schuldigkeit - für die Sünder hingegeben hat", während es doch eigentlich die davon profitierenden Sünder sind, die den Tod Vgl. Exp., S. 352,10-13 (Eph 2,4). Hier charakterisiert Pelagius die Liebe Gottes zu den Sündern als die Liebe zu rebelies: Propter nimiam caritatem {qua (sc. deus) dilexit nos}. Nimia Caritas est rebelles seruos quasi filios diligere, unde considerandum est quantum diligat [iam] sanctos effectos, qui tantum dignatus est diligere peccatores. Zu dieser Unterscheidung, mittels derer Pelagius seinen Gnadenbegriff begründet, siehe oben, B I 3 a. Der Begriff beneficium begegnet wiederholt in solchen Auslegungen, wo von dem Kreuzestod die Rede ist (vgl. etwa Exp., S. 43f. zu Röm 5,5-10). Die Gleichstellung des Sühnetodes mit einem beneficium ist dabei implizit vorausgesetzt. Explizit wird der Kreuzestod in der Auslegung von Gal l,3f. (Exp., S. 307,11-13) als beneficium bezeichnet: Et domino Iesu Christo, 4 qui dedet semet ipsum pro peccatis nostris. Ostendit beneficia Christi, quibus exsistebant ingrati ... - Daß der Erweis des beneficium Ausdruck der Liebe Gottes ist, zeigt sich daran, daß wiederholt die Caritas Gottes als Motivation für die Hingabe am Kreuz herausgestellt wird: Exp., S. 71,5-8 (Röm 8,37): Sed in his omnibus superamus propter eum qui {dilexit nos). Has omnes tribulationes pro nihilo ducimus propter eum qui nos tantum dilexit ut etiam moreretur pro nobis ... - S. 317,3-5 (Gal 2,21): Non abicio gratiam dei. Non debeo esse ilii ingratus, qui me tantum dilexit, ut pro me etiam moreretur: abiecta est enim gratia, si mihi sola non sufficit. Exp., S. 43,11-14 (Röm 5,6): Ut quid {enim) Christus, cum adhuc infirmi essemus? Ut quid indebite pro nobis mortuus est, nisi ut manifestaret suam caritatem, cum adhuc peccatorum et scelerum languoribus premeremur?

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C. Die Einheit der Kirche

verdienten". Indem Gott die Sünder Kenntnis über die Liebe erlangen läßt, aus der er derartige benificia wirkt, macht er sie bei diesen Menschen liebenswert34. Durch Überlegung erschließt sich nämlich den Sündern die Bedeutung und Attraktivität der Liebe Gottes, die sich in seinen beneficia erweist". Sie erkennen nun, daß angesichts ihrer eigenen Unwürdigkeit die Selbsthingabe des in seiner Würde so erhabenen Gottes, die ihnen zugute kommt, vollkommen unverdient ist, was ihnen die Caritas Gottes besonders angenehm und anziehend macht'6. Sind sie zur Einsicht in die radikale Hingabebereitschaft der Liebe Gottes gelangt, beginnen sie Gott zu lieben, ist ihnen doch jetzt ersichtlich, „daß nichts einem so heiligen und wohltätigen (sc. Gott) vorgezogen werden darf, wenn jener uns Ungläubigen weder sein Leben vorgezogen hat noch den für uns unvermeidlichen Tod von sich gewiesen hat"37. Hat sich

Vgl. Exp., S. 33,5-9 (Röm 3,24): ... omnes enim rei eramus mortis, cui se ille indebite tradidit, ut nos suo sanguine redimeret. unde propheta praedixerat: 'gratis uenundati estis, et sine pecunia redimenini'. hoc est quia nihil pro uobis accepistis et Christi estis sanguine redimendi. Exp., S. 44,5-7 (Röm 5,8): Commendaiautem {suam caritatem deus}in nobis. Amabilem (se. suam caritatem) facit, cum insinuât quantum nos diligat. - Vgl. hierzu Origenes-Rufin, Com. ad Rom. IV 11, Sp. 1000A (Röm 5,8f.): Commendai ergo suam caritatem Deus in nobis. Hic commendai vel confirmât intelligitur vel amabilem facit bro beneficiis. - Allerdings ist bei Pelagius und Origenes-Rufin dieser Gedanke jeweils unterschiedlich akzentuiert. OrigenesRufin bezieht diese Aussage auf die Christen, die bereits Gott lieben und aus dem Rückblick auf die bereits geschehenen Liebestaten Gottes zuversichtliche Hoffnung fur ihr künftiges Heil gewinnen können (vgl. aaO., Sp. 1000A/B.: Quod enim Christus, cum adhuc peccatores essemus, pro nobis mortuus est, spem nobis dat, quod multo magis nos a peccato purgatos et iustifreatos ab ira, quae imminet peccatoribus, salvabit per ipsum; et qui alienos et inimicos ita dilexit, ut pro nobis ad mortem unicum suum daret, multo magis suos effectos et réconciliâtes sibi aeterna salute donabit). Pelagius versteht diese Aussage als eine generelle Begründung für die caritas gegenüber Gott. Vgl. hierzu seine weiteren Ausführungen in seinem Kommentar zu Röm 5,8a in Exp., S. 44,7-11 : ... quando enim indebite aliquit praestatur, tune maxime caritas commendatur. quid enim tam indebitum quam ut sine peccato dominus pro seruis impiis moreretur, et uniuersitatis conditor impenderetur pro portione propriae creaturae? - Da Pelagius diesen Gedanken hier in einer derart prinzipiellen Weise formuliert, wird man ihn dementsprechend nicht allein auf die bereits Gott liebenden Christen zu beziehen haben, sondern ihn zugleich auch als Motivation für die Bekehrung eines Sünders zu Gott auffassen dürfen. Daß die Ausbildung der Liebe Gottes im Erwägen der beneficia Gottes gründet, klingt in Exp., S. 43,17-19 (Röm 5,6) an, wo von einer contemplano beneficiorum die Rede ist: Pro impiis mortuus est. Uult ostendere quia pro impiis mortuus est, ut ex beneficiorum contemplatione eius gratiam commendaret, et inmerito dilecti quantum eum debeamus dilegere demonstrare [t] ... Exp., S. 44,5-11 (Röm 5,8): Commendai autem {suam caritatem) deus in nobis. Amabilem facit, cum insinuât quantum nos diligat. quando enim indebite aliquit praestatur, tune maxime caritas commendatur. quid enim tam indebitum quam ut sine peccato dominus pro seruis impiis moreretur, et uniuersitatis conditor impenderetur pro portione propriae creaturae? Exp., S. 43,21-23 (Röm 5,6): ... [et] an tam benefico et saneto aliquit praeponendum sit uideremus, cum ille nobis impiis nec uitam suam praeposuerit nec necessariam nobis denegauerit mortem. - An diesem Punkt läßt sich die Differenz zwischen der augustinischen und

II. Einheit durch caritas

205

ein Sünder aus Liebe zu Gott bekehrt, so wird bei diesem, der sich der Schuldhaftigkeit seines bisherigen sündhaften Lebens bewußt geworden ist38, nach der Zueignung der Sündenvergebung in der Taufe die Liebe zu Gott noch zusätzlich gemehrt. Angesichts der Größe der vergebenen Sündenschuld ist nämlich eine entsprechend dankbare Gegenliebe die einzig gebührende Reaktion. In diesem Sinne merkt Pelagius in seinem Kommentar zu Rom 5,20b an: „So sagt der Erlöser: 'Wem über Gebühr vergeben wird, der liebt noch leidenschaftlicher'. Das Ausmaß der Sünde ist darum offenbart, damit man die Größe der Gunst (sc. Gottes) erkennt und wir angemessen das Gebührende an Liebe zurückgeben"3'. Mit der Taufe des Sünders und dem Empfang der Sündenvergebung hat der Prozeß des Entstehens der Liebe zu Gott seinen Abschluß erreicht. Der einstige Sünder, dem bisher Gottes einseitige Liebe gegolten hat, hat sich zu Gott bekehrt und erwidert die empfangene Liebe durch Gegenliebe. Aber auch jetzt, wo der Christ mit Gott in wechselseitiger Liebe verbunden ist, erweist Gott ihm aus Liebe weiterhin beneficia, die seine Liebe zu Gott noch zusätzlich intensivieren. Im Anschluß an den Ambrosiaster legt Pelagius in seiner Auslegung von Rom 5,5 dar, daß die Gabe des Heiligen Geistes als ein solches be-

pelagischen ccntas-Interpretation aufzeigen. Unter formalem Gesichtspunkten betrachtet, bewerten Augustin und Pelagius die Caritas nach denselben psychologischen Kategorien. So ist auch für Augustin die Caritas eine Form des Wollens, die der Mensch in eigener Verantwortung hervorbringt. Augustin ist sich auch darin mit Pelagius einig, daß sie dadurch hervorgerufen wird, daß dieses Wollen durch die Attraktivität von bestimmten Zielen und Vorstellungen angeregt wird. Während jedoch Pelagius davon überzeugt ist, daß die willentliche Entscheidung eine Fähigkeit des Menschen an sich darstellt, die auch die Möglichkeit einschließt, daß Gott Gegenstand des aus freier Entscheidung hervorgehenden Wollens wird, bestreitet Augustin dies im Hinblick auf den Sünder. Nach der Ansicht von Augustin liegt es nämlich prinzipiell nicht in der Verfügung des Menschen, daß sich entsprechende Ziele und Vorstellungen, die den Willen an sich ziehen, auch tatsächlich im menschlichen Geist einstellen. Vielmehr setzt er voraus, daß in dem Moment, w o „uns das ergötzt, wodurch wir uns auf Gott zubewegen", dies „durch die Gnade Gottes inspiriert und gewährt" ist (vgl. Ad Simpl. 1,11 21, S. 53,750-758: Quis habet in potestati tali uiso attingi mentem suam, quo eius uoluntas mouetur ad fidem? Quis autem in animo amplectitur aliquid quod eum non delectat? Aut quis habet in potestate, uel ut occurat quod eum delectare possit, uel delectet cum occurrerit? C u m ergo nos ea delectant quibus proficiamus ad deum, inspiratur hoc et praebetur gratia dei, non nutu nostro et industria aut operum meritis comparatur, quia ut sit nutus uoluntatis, ut sit industria studii, ut sint opera caritate feruentia, ille tribuit, ille largitur). - Zu diesem Text und d e m dort entwickelten WillensbegrifF siehe Ekkehard Mühlenberg, Biographie und Theologie, in: P H I L A N T R O P I A KAI E U S E B E I A . Festschrift für Albrecht Dihle z u m 70. Geburtstag, herausgegeben von Glenn W. Most, Hubert Petersmann und Adolf Martin Ritter, Göttingen 1993, S. 313-326, dort S. 316-318. 38

Wie bereits oben, S. 83f sowie S. 87f, dargelegt worden ist, impliziert die Bekehrung zu Gott die Ausbildung eines Bewußtseins der eigenen Schuldhaftigkeit.

39

Exp., S. 48,14-18 (Röm 5,20): IJbi autem abundauit delictum, superabundauit gratia. Sicut ait saluator: 'cui plus dimittitur amplius diligit' (Lk 7,47). Manifes[ta]ta est enim quantitas peccati, ut sciretur gratiae magnitudo et redderemus competens debitum caritatis.

206

C. Die Einheit der Kirche

neficium anzusehen ist40. In diesem Zusammenhang merkt Pelagius an, daß der Geist dem Christen die Fähigkeit verleiht, auf die künftige Herrlichkeit zu blicken, die Gott den Heiligen verheißen hat41. Auch diese geistgewirkte Fähigkeit steht in einem engen Bezug zur Caritas des Menschen. Dem Christen ist sie nämlich eine Hilfe, um durch die Schau des künftigen Heilsgutes seine Liebe zu Gott noch weiter anzuregen; denn aus der Betrachtung des Künftigen erschließt sich ihm dessen Faszination, so daß der davon ergriffene Christ Gott als Garanten des künftigen Heils noch um so leidenschaftlicher liebt. Die Attraktivität, die Pelagius der verheißenen künftigen Herrlichkeit zuschreibt, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. So zieht er in seinen Schriften immer wieder neue Bilder und Vergleiche heran, um seinen Lesern die Faszination des ewigen Lebens zu vermitteln. Exemplarisch sei hier auf seinen Kommentar zu 1 Kor 7,31 hingewiesen, wo dieser Gedanke besonders deutlich hervortritt. Dort stellt Pelagius die gegenwärtige irdische Welt und die verheißene, zukünftige Welt im Hinblick auf ihre Liebe erweckende Attraktivität vergleichend nebeneinander. Demnach ist die gegenwärtige Welt Bild (imago) des Zukünftigen 42 ; das Gemeinsame, aufgrund dessen sich Bild und die hierauf bezogene Sache ähnlich sind43, erblickt er darin, daß beide Momente des Angenehmen besitzen und folglich Objekte des Liebens sind. Als imago b z w . f i g u r a des Künftigen enthält die gegenwärtige Welt jedoch weniger an Angenehmem als die ueritas, der diese imago ähnlich ist, d. h. die zukünftige Welt. Somit gilt: „Wenn also bereits die imago derart beschaffen ist, welcher Art ist dann erst die ueritas selbst! Wenn ihr also dieses (sc. die gegenwärtige Welt) so inständig liebt, um wieviel leidenschaftlicher müßt ihr dann erst jenes (sc. die zukünftige Welt) lieben"44. Besitzt die künftige Herrlichkeit eine so große Attraktivität, daß sie sogar den Reiz alles Irdischen übersteigt, muß die davon geweckte Liebe zu Gott auch eine derart starke Hingabebereitschaft besitzen, daß der Christ darin sogar seine Bezogenheit auf sich selbst überwindet und Gott mehr liebt als sich selbst. In seinem Kommentar zu Gal 5,14 beschreibt Pelagius eine derartige, die Selbstliebe überragende Liebe zu Gott als die ideale Gottesliebe, die allen Christen zu eigen sein soll: „Wenn wir also Liebe besitzen wollen, so sollen

40

Exp., S. 43,7-11 (Röm 5,5): Per spiritum sanctum

qui datus est nobis. Quo modo nos [deus]

diligat ex hoc cognoscimus, quia non solum nobis per filii sui mortem peccata dimisit sed et spiritum sanctum nobis dedit, qui iam ostendat gloriam futurorum. 41

Vgl. Exp., S. 43,10f. (Röm 5,5): ... et spiritum sanctum nobis dedit, qui iam ostendat gloriam futurorum.

42

Exp., S. 168,1 -5 (1 Kor 7,31): Praeterit

enim figura huius mundi. Hoc saeculum quasi umbra

pertransit: nolite ergo de eo multum esse solliciti, ne possessionem perdatis aeternam, et figuram quaerentes incipiatis amittere ueritatem: hic enim mundus imago futuri est. 43

Zu dem pelagischen Verständnis der zwischen imago

und ueritas

bzw. res

bestehenden

Ähnlichkeitsbeziehung siehe S. 125, Anm. 127. 44

Exp., S. 168,5-7 (1 Kor 7,31): ... si ergo talis est imago, ipsa ueritas qualis est! unde si hoc tarn impense diligitis, quanta magis illut impensius amare debetis!

II. Einheit durch caritas

207

wir zuerst Gott mehr als unsere Seelen lieben, was dann erwiesen wird, wenn wir wegen Gott auch unser Wohlergehen und selbst unsere Seelen verachten" 45 . 2. Die Caritas gegenüber dem Mitmenschen In den neutestamentlichen Schriften wird wiederholt der Gedanke formuliert, daß nicht nur die Beziehung des Christen zu Gott, sondern auch das Verhältnis zum Mitmenschen durch Caritas bestimmt sein soll. Dabei wird vorausgesetzt, daß die Liebe gegenüber dem Mitmenschen ihre Begründung und Basis in der Gottesliebe findet (vgl. Mt 22,34-40; Röm 13,8-10; 1 Joh 4,7-21). Obgleich die verschiedenen neutestamentlichen Aussagen zur Liebe gegenüber dem Mitmenschen damit eine gemeinsame Grundlage besitzen, wird diese Mahnung zur Nächstenliebe thematisch sehr weit aufgefächert. Je nachdem, wer als Adressat der Caritas in den Blick genommen wird, werden nämlich recht unterschiedliche Aspekte der Caritas angesprochen. Die umfassendsten Aussagen zur Liebe gegenüber dem Mitmenschen finden sich innerhalb der synoptischen Evangelien. Möglicherweise klingen in ihnen Gedanken aus der Botschaft des historischen Jesus nach. Dieser hat in Weiterführung alttestamentlicher und spätjüdischer Traditionen die Forderung formuliert, Gott und seinen Nächsten zu lieben. Das grundsätzlich Neue an seiner Forderung stellt ihr universalistischer Grundzug dar. Es soll nicht allein der Volksgenosse geliebt werden, sondern der Mitmensch generell. Das schließt nicht nur die Liebe zu den Hilfsbedürftigen und den Außenseitern der Gesellschaft ein, sondern auch die Feindesliebe, die - insofern es sich hier j a um eine Liebe ohne Gegenliebe handelt - die radikalste Konsequenz der von Jesus geforderten Nächstenliebe darstellt 46 . Auch in den paulinischen Schriften wird die Mahnung zur Nächstenliebe aufgegriffen und mit Nachdruck zur Geltung gebracht. Allerdings wird das Gebot hier anders akzentuiert, denn Paulus und seine Schüler schreiben ihre Briefe an Christen, die sich Gott in einer besonderen Weise verbunden fühlen und diesen Glauben im Rahmen eines gemeinschaftlichen Lebens innerhalb der Gemeinde zum Ausdruck bringen. Zwar richtet Paulus an diese Christen Weisungen, die in der Tradition der jesuanischen Mahnung zur Nächstenliebe stehen (vgl. Röm 13,8-10). Im Blick auf die Lebenssituation in der Gemeinde konkretisieren Paulus und seine Schüler allerdings zumeist das Gebot zur Nächstenliebe als Mahnung zur christlichen Bruderliebe, die sich auf das Wohl der Mitbrüder und -schwestern richtet und damit zugleich auf das Wohl der

Exp., S. 335,6-9 (Gal 5,14): ... si ergo uolumus dilectionem habere, primo deum plus quam nos[t]ras animas diligamus: quod inde probatur, si propter deum etiam salutem nostram et ipsas animas contemnamus. Siehe hierzu Ethelbert Stauffer, Art. àyanàa, 55, dort S. 44-48.

ayanti, àyajtrixôç, in: T h W N T 1(1933), S. 20-

208

C. Die Einheit der Kirche

gesamten Gemeinde abzielt (Gal 5,13-17; Röm 12,9f.; Eph 4,2; Kol 3,12-15 u. ö.). Einen Schritt weiter in der ekklesiologischen Umdeutung des Gebotes zur Nächstenliebe gehen die Verfasser der johanneischen Schriften. Die Nächstenliebe kommt hier ausschließlich als Bruderliebe in Blick, denn die Liebe wird hier im Kontext einer theologischen Konzeption gesehen, die Caritas als ein Kennzeichen all derer versteht, die in das von Christus vermittelte Heil einbezogen sind. Quelle der Liebe stellt der Vater dar. Er läßt dem Sohn all seine Liebe zukommen (Joh 3,35; 10,17 u. ö.). Als der vom Vater geliebte Sohn vermittelt dieser die Liebe an die Seinen, die ihm im Glauben verbunden sind, so daß, wie es der Verfasser des Johannesevangeliums als eigenes Wort Jesu formuliert, „die Liebe, mit der du (sc. der Vater) mich (sc. den Sohn) geliebt hast, in ihnen (sc. den Seinen) sei und ich in ihnen" (Joh 17,26). Für die mit Christus verbundenen Gläubigen soll daher die Liebe das Kennzeichen ihres Lebens darstellen. Dabei lassen die Verfasser der johanneischen Schriften „die Liebe zu Gott oder zu Christus zurücktreten hinter der Liebe zu den Brüdern, die in Gott ihren Ursprung und in Christus ihr Urbild hat. In der Bruderliebe schließt sich der Kreis zwischen dem Vater und dem Sohn und den Seinen zu einer Gemeinschaft, die nicht von dieser Welt ist. Die Liebe Gottes ist die letzte Lebenswirklichkeit für diese Gemeinschaft, Bleiben in seiner Liebe ist ihr Lebensgesetz" 47 . Obgleich sich in den neutestamentlichen Schriften der Gedanke der Bruderliebe aus dem Gebot zur Nächstenliebe zu einer Thematik mit eigenem Gewicht entwickelt, besitzt innerhalb der exegetischen Diskussion der Alten Kirche die Bruderliebe eine verhältnismäßig geringe Bedeutung. Dies läßt sich den von Pelagius benutzen Pauluskommentaren des Ambrosiaster und des Origenes-Rufins deutlich ablesen. So spricht der Ambrosiaster zwar gelegentlich die Bruderliebe an, die das Leben in der Kirche bestimmen soll48. Allerdings scheint er sie lediglich als einen Aspekt der Nächstenliebe zu verstehen, die generell von jedem Christen gefordert ist4'. Noch stärker setzt OrigenesRufin Bruderliebe und Nächstenliebe in eins. So zieht er bei seiner Auslegung der paulinischen Mahnung zur Nächstenliebe in Röm 13,8f. Verse aus dem

47 48

4J

Stauffer, ThWNT 1, S. 53,25-30. Vgl. Ambrst., Com. ad Gal., S. 58,7-59,3 (Gal 5,13-15); Com. ad Eph., S. 95,13-26 (Eph 4,2). Vgl. hierzu Ambrst., Com. ad Gal., S. 58,20-25 (Gal 5,14). Dort charakterisiert der Ambrosiaster die carilas gegenüber dem Mitmenschen als einen Aspekt der Heiligung. Damit legt er den Hauptakzent auf die Haltung des Liebe übenden Christen; ob diese Liebe sich an den Mitbruder richtet oder an den Mitmenschen im allgemeinen, ist in diesem Zusammenhang nicht wichtig, auch wenn sich aus den Ausführungen des Ambrosiaster ablesen läßt, daß er dem biblischen Text folgend die Bruderliebe im Blick hat: {Universa} enim lex in vobis uno verbo impletur: diliges proximum tuum sicut te ipsum. hoc scriptum est in Levitico, hoc est quod supra dictum est, quia perfectio salutis per dilectionem operatur, quia 'qui non diligit fratrem, non diligit deum', dicit Iohannes apostolus (1 Joh 4,20).

II. Einheit durch caritas

209

ersten Johannesbrief heran, die sich auf die Bruderliebe beziehen. Dadurch läßt er den Unterschied zwischen dem Nächsten und dem Bruder verblassen; Nächstenliebe erscheint nun als die generelle Liebe zum Mitmenschen, die alle Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche einschließt50. In ihren Ausfuhrungen zur Nächstenliebe sind Origenes-Rufin und der Ambrosiaster gleichermaßen bemüht, den neutestamentlichen Gedanken zur Geltung zu bringen, daß die Nächstenliebe in der Gottesliebe gründet. Origenes-Rufin knüpft dabei an den pneumatologischen Interpretationsansatz an, mittels dessen er bereits die Gottesliebe erklärt. Demnach empfangt der Mensch Liebe von Gott, der sie durch den Heiligen Geist vermittelt5'. Aus ihr heraus liebt der Mensch Gott. Diese Liebe zu Gott schließt allerdings auch ein, daß der Mensch das liebt, was Gott will52. Deshalb findet die Liebe zum Mitmenschen hier ihre Grundlage, da sie eine von Gott gewollte Liebe ist. Ergänzend zu diesen Aussagen ist Origenes-Rufins Auslegung von Röm 13,8f. zu berücksichtigen. Hier beschreibt er, wie sich die Liebe gegenüber dem Mitmenschen aus der Perspektive des liebenden Christen darstellt. Auch hier setzt Origenes-Rufin bei der Gottesliebe an. Diese weckt im Christen das Verlangen, Christus zu Gefallen zu leben. Aus dieser Motivation heraus befolgt der Christ die Gebote Gottes, zu denen auch das Gebot der Nächstenliebe gehört53. 50

Origenes-Rufin, Com. ad Rom. IX 32, Sp. 1232 B (zu Röm 13,8f.): Necessario autem qui diligit Christum, diligit et proximum suum. Hoc enim solo indicio Christi esse discipulus designator, si caritatem cum proximis habeat. Certuni est enim, quod, qui non diligit proximum, nesciat Christum. - Origenes-Rufin spielt hier auf Bibelstellen aus den johanneischen Schriften an, in denen die Liebe zum Bruder als Ausweis der Liebe zu Gott verstanden wird. Vgl. 1 Joh 4,20f. (Vulgata): si quis dixerit quoniam diligo Deum et fratrem suum oderit, mendax est; qui enim non diligit fratrem suum, quem vidit, Deum, quem non vidit, quomodo potest diligere? et hoc mandatum habemus ab eo, ut qui diligit, Deum diligat et fratrem suum. - Vgl. ferner Joh 13,34f. (Vulgata): mandatum novum do vobis, ut diligatis invicem, sicut dilexi vos, ut et vos diligatis invicem. in hoc cognoscent omnes, quia mei discipuli estis, si dilectionem habueritis ad invicem. - Wie sich aus diesen Bibelzitaten entnehmen läßt, ist hier von der Bruderliebe die Rede, die eine wechselseitige Liebe der von Gott geliebten Christen darstellt. Origenes-Rufin hingegen erset2t in seinen paraphrasierenden Ausführungen fratres durch proximus. Die theologischen Vorstellungen, mit denen die Verfasser der johanneischen Schriften die Bruderliebe begründen, werden dadurch für die theologische Legitimation der Nächstenliebe im allgemeinen vereinnahmt.

51

Siehe hierzu oben, S. 198f. Vgl. hierzu Origenes-Rufin, Com. ad Rom., IX 4, Sp. 1218A/B (zu Röm 12,9): Etenim creator animae Deus idcirco ei cum ceteris virtutibus etiam affectum caritatis inseruit, ut diligat Deum et ea, quae vult Deus. Cum ergo opus hoc in animam dederit caritatis, quicumque aliud aliquid dilexerit quam Deus et quae Deo placent, Caritas in eo ficta et simulata dicenda est. Origenes-Rufin, Com. ad Rom. IX 31, Sp. 1232 A/B (Röm 13,9f.): Hunc ergo proximum si diligamus, omnem legem et universa mandata in ipsius amore complemus. 'Finis enim legis Christus ad iustitiam omni credenti' (Röm 10,4), nec fieri ullo pacto potest, ut qui ex toto corde et ex totis visceribus suis diligit Christum, faciat aliquid, quod non placeat Christo. Ilium enim qui diligit, non solum non occidit, quod prohibet lex, sed nec irascitur fratri suo. Qui ita delectatur ilio, quem diligit, non solum facit adulterium, sed nec mulierem respicit ad

52

53

210

C. Die Einheit der Kirche

Ähnliche Überlegungen wie in Origenes-Rufins Auslegung von Röm 13,8f. finden sich beim Ambrosiaster. Auch er sieht in dem aus der Gottesliebe hervorgehenden Verlangen, Gott zu gefallen, den Ausgangspunkt für die Nächstenliebe 54 . Allerdings reicht nach seiner Ansicht dieses Verlangen als Grundlage für die Nächstenliebe nicht aus, denn er hält es nicht für möglich, daß der Mensch „mittels des Affektes der caro Caritas" haben kann; vielmehr benötigt er dazu die Hilfe des Heiligen Geistes 55 . Diese wird dem Christen jedoch gewährt, wenn sein Verlangen nach einer gottwohlgefälligen Nächstenliebe einem „gottergebenen Geist" (devota mens) entspringt 56 . Daß der Ambrosiaster für die Nächstenliebe die Hilfe des Geistes als notwendig erachtet, wird man nicht zuletzt auch darauf zurückführen dürfen, daß er in ihr eine Form des Liebens sieht, die die Kategorien weltlichen Liebens übersteigt, handelt es sich doch um ein Lieben, das dem Wollen Gottes entspricht und daher auch eine Intensität zu erreichen vermag, der sich der Mensch ohne die Hilfe Gottes nicht anzugleichen vermag. Am deutlichsten zeigt sich das alles weltliche Lieben übersteigende Maß der christlichen Nächstenliebe in der Feindesliebe. Ohne ein entsprechendes Entgegenkommen zu erwarten, wird hier dem Feind all das gewünscht, wodurch er Gott als ihm wohlgeneigt ansehen kann. Eine derartige Haltung entzieht sich den Denkkategorien der Welt. Der Ambrosiaster nennt sie daher eine himmlische iustitia, denn eine derartige Liebe „macht sie (sc. die Christen) Gott, dem Vater ähnlich (similes), der auch denjenigen, die ihn nicht verehren, jährliche Gaben zuteilt" 57 . Einige wesentliche Momente der von Origenes-Rufin und dem Ambrosiaster entwickelten Caritas-Lehre greift Pelagius in seiner eigenen Deutung der Nächstenliebe auf. So geht auch er davon aus, daß die Nächstenliebe ihre Basis concupiscendum, sed dicit ad ipsum magis: 'Concupiscit et deficit anima mea in Deum vivum' (Ps 84,3) ... Necessario autem, qui diligit Christum, diligit et proximum suum. Hoc enim solo indicio Christi esse discipulus designatur, si caritatem cum proximis habeat. Certuni est enim, quod, qui non diligit proximum, nesciat Christum. Ambrst., Com. ad Rom., S. 403,1-3 (Röm 12,9): Dilectio sine simulatione. huic menti, quae hoc meditatur, ut ideo diligat fratrem, quia seit hoc piacere auctori deo ... Ambrst., Com. ad Rom., S. 403,1-5 (Röm 12,9): Dilectio sine simulatione. huic menti, quae hoc meditatur, ut ideo diligat fratrem, quia seit hoc piacere auctori deo, non ut in adulatione praesentis vitae hoc agat, subvenit spiritus, ut, quia hoc devota mente quaerit, obsequiis possit implere. - Zum Geist als dem Vermittler des affectus caritatis vgl. Ambrst., Com. ad Gal., S. 58,16-19 (Gal 5,13): Sed per dilectionem spiritus servite vobis invicem. non per affectum carnis caritatem habendam, sed per spiritus exhortatur, ut invicem sibi subiecti sint. Ambrst., Com. ad Rom., S. 403,4f. (Röm 12,9): ... subvenit spiritus, ut, quia hoc devota mente quaerit, obsequiis possit implere. Vgl. hierzu Ambrst., Com. ad Rom., S. 425,21; 427,1-8 (Röm 13,10): 'plenitudo legis est dilectio' (Röm 13,10), ut iustitia sit diligere proximum, abundans vero et perfecta iustitia etiam inimicos diligere, inimicum autem diligere quid est aliud, quam optare desinere illum ab odio et nihil asperum petere adversum illum? hoc est amare illum: ea tili optare, per quae deum habeat propitium. haec caelestis iustitia est. haec deo patri similes faciat, qui et non colentibus se annua dona largitur. nam et dominus in cruce positus postulai pro inimicis, ut plenitudinem iustitiae, quam docuerat, demonstraret.

II. Einheit durch caritas

211

in der Gottesliebe besitzt 58 . Der bei Origenes-Rufin und dem Ambrosiaster anklingende Gedanke, daß die vom Christen geübte Nächstenliebe in Zusammenhang mit einer vom Christen anzustrebenden similitudo des eigenen Wollens mit dem Wollen Gottes steht, gilt auch ihm als Voraussetzung seiner Caritas- Lehre". In seiner Herleitung des Entstehens von Nächstenliebe grenzt sich Pelagius allerdings von Origenes-Rufin und dem Ambrosiaster ab. Diese sehen den Affekt zur Caritas im Wirken des Heiligen Geistes begründet. Pelagius hingegen will ebenso wie bei seiner Herleitung der Gottesliebe das Entstehen der Caritas konsequent auf psychologischer Grundlage erklären, da dadurch das Moment der Entscheidungsfreiheit gewahrt bleibt, das ihm so wichtig ist. Sein Interesse, die Nächstenliebe unter Berücksichtigung der psychologischen Strukturen des Menschen zu bestimmen, macht es notwendig, das Objekt der Nächstenliebe, d. h. den Mitbruder bzw. Mitmenschen in einen Bezug zum Angenehmen zu setzen, aus dem heraus sich die Liebe zu diesen Menschen motivieren läßt. Diese psychologische Prämisse muß er mit dem von ihm anerkannten theologischen Grundsatz harmonisieren, wonach die Nächstenliebe aus der Gottesliebe entspringt. Eine Synthese dieser beiden Denkvoraussetzungen hat Pelagius in seiner Interpretation der Gottesliebe vorbereitet. Hier hat er die Liebe des Christen zu Gott dadurch begründet, daß er Gott als das für den Menschen Angenehme schlechthin herausstellt, auf das sich daher auch das gesamte liebende Wollen des Menschen richten soll60. Aus dieser Interpretation der Gottesliebe läßt sich der Gedanke ableiten, daß all das, was in einem Zusammenhang mit Gott steht, um seiner Bezogenheit auf Gott willen dem Christen als attraktives Objekt des Liebens zu erscheinen vermag. Auf dieser Basis kann Pelagius die Nächstenliebe begründen. Er konstatiert einen Zusammenhang zwischen dem Mitmenschen und Gott; die Bezogenheit auf Gott läßt dem Christen den Mitmenschen als angenehm und liebenswert erscheinen, so daß sich dadurch für den Christen eine Liebe zu ihm motiviert. Nun sind allerdings die Mitmenschen, die der Christ in der Nächstenliebe liebt, nicht alle im gleichen Maße mit Gott verbunden. Vielmehr muß man hier im Sinne des Pelagius zwischen den mit Gott kraft ihrer Heiligkeit besonders eng verbundenen Christen und den dieser Heiligkeit ermangelnden übrigen Mitmenschen unterscheiden. Dementsprechend werden von Pelagius die christliche Bruderliebe, die eine wechselseitige Liebe der Christen untereinander ist, und die Nächstenliebe im weiteren Sinne, die auch die Nichtchristen miteinschließt 61 , als zwei eigenständige Formen der Liebe zum Mitmenschen

58 w 6,1 61

Siehe hierzu oben, S. 193f. Siehe oben, S. 164. Siehe hierzu oben, S. 202ff. Die Unterscheidung zwischen Bruder- und Nächstenliebe tritt besonders deutlich in Exp., S. 428,3-5 (1 Thess 3,12) hervor. In dem von Pelagius kommentierten biblischen Text formuliert Paulus die Bitte an Christus, daß die Caritas der Gemeinde überreich sein soll, und

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C. Die Einheit der Kirche

unterschieden. Die Bruderliebe ist dabei aufgrund der engeren Beziehung der Christen zu Gott intensiver als die allgemeine Nächstenliebe gegenüber allen übrigen Mitmenschen. Im folgenden soll aufgezeigt werden, wie Pelagius diese beiden Formen der Liebe zum Mitmenschen im einzelnen jeweils begründet. a. Bruderliebe Innerhalb der Kirche stehen die Christen in einer besonderen Beziehung zu Gott. In der Taufe werden sie durch das Mitsterben mit Christus zu einer Einheit mit Christus verbunden", dem Christus per corpus suum, also zur ecclesicf\ Innerhalb dieser Einheit bleiben allerdings die Getauften und Christus deutlich unterschieden. Der Zusammenhalt und die Einheitlichkeit der Kirche ist nämlich ganz von Christus als ihrem caput abhängig, so daß sie sich als „ein vom caput her verbundenes corpus" darstellt64. Gleichwohl kann Pelagius die Zusammengehörigkeit von Christus und den Getauften so stark hervorheben, daß die Christen als ein Teil dieses Christus per corpus suum herausgestellt werden, als „von seinem Fleisch und von seinen Knochen" 65 Das partielle Ineinssetzen von Christus und den Getauften, das Pelagius mittels seiner Ekklesiologie möglich ist, erlaubt es ihm, Gottesliebe und brüderliche Liebe miteinander zu verknüpfen. Da die Getauften als membra des corpus Christi mit ihrem caput Christus eine Einheit bilden, muß sich nämlich die Liebe, die zwischen den Getauften und ihrem caput Christus besteht, auch auf die mit diesem caput verbundenen membra erstrecken: „Wer das caput liebt, liebt notwendigerweise auch alle membra"66. Diese Begründung der Bruderliebe steht in keinem Widerspruch zum Postulat des Pelagius, demzufolge der Christ als erstes Gott lieben soll67. Dasjenige, was der Christ im Rahmen brüderlicher Liebe liebt, ist ja nicht der Mitbruder an sich, sondern

zwar inuicem et in omnes. Das zuerst genannte inuicem bezieht Pelagius in seiner Auslegung auf die Christen, das folgende in omnes auf die „Menschen aller Überzeugungsrichtungen": [In] inuicem et in omnes. Ut non solum Christianos, sed etiam omnis sectae homines, non erroris, sed naturae gratia diligatis ... Vgl. hierzu oben, B I 1 a. Exp., S. 197,13-15 (1 Kor 12,12): Ita et Christus. Notandum quod Christus per corpus suum dicatur ecclesia. Vgl. Exp., S. 366,11-15 (Eph 4,15b. 16): Qui est caput Christus, 16 ex quo totum corpus compactum et conexum per omnem iuncturam subministrationis secundum operationem. Ex capite conexum corpus per omnem subiunctionem operationis crescit... Exp., S. 200,10-12 (1 Kor 12,27): Uos autem estis corpus Christi. Hoc est, ecclesia 'de carne eius et de ossibus eius', sicut ad Ephesios ait (vgl. Eph 5,30). Exp., S. 537,5f. (Phlm 5): (sc. Caritatem) Quam habes in domino lesu [et in omnes sanctos]. Qui diligit caput, necesse est eum omnia membra diligere. Exp., S. 335,6-9 (Gal 5,14): ... si ergo uolumus dilectionem habere, primo deum plus quam no[s]tras animas diligamus: quod inde probatur, si propter deum etiam salutem nostram et ipsas animas contemnamus.

II. Einheit durch caritas

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dessen Heiligkeit, d. h. die Gegenwart Gottes in ihm68. Somit ist es Christus selbst, der in der brüderlichen Liebe geliebt wird, und zwar als einer, der unter den membra gegenwärtig ist. Betrachtet der Christ seine Mitbrüder als solche, unter denen Christus anwesend ist, so folgt daraus, daß das Engagement für Christus, mit dem der getaufte Christ die von Christus erwiesene Liebe erwidert, auch diesen Mitbrüdern zugute kommen soll: „Es ist notwendig, daß wir wenigstens einigermaßen für seine (sc. Christi) Liebe Gleiches mit Gleichem vergelten, das heißt, wir sollen für das corpus desjenigen leiden, der sich bereit gefunden hat, stellvertretend für unseren Tod zu sterben"6'. Daher soll der Christ auch in Liebe seinen Mitbruder stützen70, ihn erbauen71, ja sogar, wenn dies nötig ist, für seinen Mitbruder sterben72. Diese christologisch-ekklesiologische Interpretation der Bruderliebe, die ich hier nachgezeichnet habe, stellt die theologisch gewichtigste und von Pelagius am weitesten entfaltete Begründung für die wechselseitige Caritas im corpus Christi dar, sie ist in den Expositiones jedoch nicht die alleinige. Vielmehr hat der neutestamentliche Text, den Pelagius auslegt, ihn noch zu weite-

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Vgl. hierzu Exp., S. 451,3-10 (Kol 1,1-4), wo Pelagius hervorhebt, daß die Christen an den Personen allein die Heiligkeit lieben sollen: Paulus apostolus Christi Jesu per uoluntatem dei et Timotheus frater 2 his qui sunt Colosenses [sanctis] et fidelibus fratribus in Christo lesu: gratia uobis et pax a deo patre nostro, [et Christo lesu domino nostro], 3 gratias agimus deo [et] patri nostri lesu Christi, semprerpro uobis orantes, 4 audientes fidem uestram in Christo lesu, et dilectionem quam habetis in sanctos omnes. Sine acceptione personae uel notitiae solam in omnibus diligitis sanctitatem. - Vgl. auch Exp., S. 348,14-16 (Eph 1,15): Et {dilectionem in) omnes sanctos. [Et omnes bonos] sine exceptionae persone uel notitiae diligatis ...

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Exp., S. 260,3-6 (2 Kor 5,14): Caritas enim Christi urget nos, iudicantes hoc. Necesse est nos uel aliquatenus uicem eius rependere caritati [ualeamus], id est, [ut] pro eius corpore patiamur qui mori pro nostra morte dignatus est. - Bei der Rede von einer passio pro corpore Christi liegt möglicherweise ein Anklang an Kol 1,24 vor.

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Exp., S. 467,6-9 (Kol 3,14): Super haec autem omnia caritatem [habete], Super haec omnia est Caritas, quia omnem quem diligimus, sustinemus, [et] [non] omnem quem sufferimus, et amamus. - Vgl. auch Exp., S. 362,12-14 (Eph 4,2): Subportantes inuicem in caritate. Sufferunt et philosophi, sed non in caritate: nos uero, non ut laudemur, sed ut ille quem sustinemus proficiat, diligenter sustinere debemus.

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Exp., S. 172,4-6 (1 Kor 8,3): Si quis autem diligit deum, hic cognitus est ab eo. Ille diligit deum, qui aedificat fratres, sicut dicitur Petro: 'si amas me, pasce oues meas' (Joh 21,17). Vgl. auch Exp., S. 206,14-17 (1 Kor 14,5): Nam maior est qui prophetat quam qui loquitur Unguis. Quia hoc opus est caritatis per quod multi proficiunt, et ideo maius est quam illut quod uos maximum aestimatis.

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Exp., S. 97,3-7 (Röm 12,9): Dilectio sine simulatione, {odientes} malum, adhaerentes bono. Tota puritas debet esse in Christiano, sicut deus pura lux est: fingere enim seruorum est. et diligamus non lingua tantum, sed opere et ueritate, ita ut etiam, si necesse fuerit, [pro nobis] inuicem moriamur. - S. 431,5-10 (1 Thess 4,9f.): Ipsi enim [uos\ a deo didicistis ut diligatis inuicem: 10 et enim facitis illut in omnes fratres [in uniuersa Macedonia], A Christo qui dixit: 'mandatum nouum do uobis, ut diligatis inuicem' (Joh 13,34). hoc nouum est, ut pro alterutro moriamur, quia hoc uetus non iusserat testamentum.

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C. Die Einheit der Kirche

ren Deutungen der Caritas fraterna angeregt, die allerdings nur ansatzweise ausgeführt werden. Anklänge an eine anders akzentuierte Interpretation der Bruderliebe sind möglicherweise in Pelagius' Exegese von Rom 12,10 zu finden. Die Caritas fraterna, die sich die Christen Paulus zufolge untereinander erweisen sollen, vergleicht Pelagius hier mit der Liebe unter Geschwistern: „Liebt euch so, als ob ihr von einer Mutter geboren seid"73. Dieses Bild könnte mit Bedacht gewählt worden sein. Es ist nicht auszuschließen, daß hier eine Anspielung auf die Allegorese der Geschichte von Hagar und Sara vorliegt (Gal 4,21-31), in deren Kontext von „Jerusalem droben" als „Mutter von uns allen" (sc. Gläubigen) die Rede ist (Gal 4,26), was Pelagius als Umschreibung für die ecclesia auffaßt74. Wenn man voraussetzt, daß Pelagius mit seinem Bild in der Exegese von Rom 12,10 Assoziationen zu Gal 4,26 wecken will, so würde in der Ermahnung zu brüderlicher Liebe ein Appell an das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Christen aufgrund ihrer gemeinsamen Mitgliedschaft in der ecclesia mitschwingen: Die Christen, die alle gemeinsam die Kirche zur Mutter haben, sollen sich aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung wie Geschwister lieben. In seiner Auslegung von Röm 12 und 1 Kor 12 fuhrt Pelagius noch eine weitere Begründung für die wechselseitige Liebe der membra des corpus Christi an, die das Entstehen von Caritas in der organismusartigen Struktur des corpus Christi begründet sieht. Wie er dort hervorhebt, wird die Einheitlichkeit des corpus Christi dadurch hergestellt, daß die membra zusammenwirken, indem sie ihre jeweiligen Gnadengaben einander zur Verfügung stellen: „So wie die Augen den Weg für die Füße voraussehen, und die Hände für das ganze corpus wirken, so dienen alle membra einander"75. Dies setzt allerdings die Bereitschaft der membra voraus, ihre jeweiligen Charismen mit ihren Mitbrüdern zu teilen. Um diese Bereitschaft zu fördern, teilt Gott die Fülle der verschiedenen Charismen derartig auf, daß jedes einzelne membrum nur einige wenige Gnadengaben aus dem sehr viel breiteren Spektrum der göttlichen Begabungen erhält76. Dadurch ist nämlich gewährleistet, daß jedes membrum auf die übrigen membra mit ihren Begabungen angewiesen ist und deshalb auch um diese besorgt ist77. Wäre dies nicht der Fall, so käme es zu Hochmut; denn ein membrum, das alles an Charismen besitzt, wäre nicht mehr auf die Exp., S. 97,8f. (Röm 12,10): {Cantate fraternitatis inuicem diligentes}. Ita uos diligite quasi ex una matre generati. Exp., S. 330,4-7 (Gal 4,26): Quae autem sursum est Hierusalem libera est, quae est mater omnium nostrum. Ecclesia, quae mater est tarn gentilium credentium quam etiam Iudaeorum, cuius filli serui esse non possunt. Exp., S. 200,1-4 (1 Kor 12,25): Sect id ipsum pro inuicem sollicita sint membra. Sicut oculi uiam pedibus prouident et manus pro toto corpore operantur, et omnia alterutrum membra deseruiunt. Zur Verteilung der Gnadengaben innerhalb des corpus Christi siehe oben, S. 173ff. Exp., S. 199,18-200,1 (1 Kor 12,25): Ut non s/[n]i scisma[ta] in corpore. Ut pro inuicem solliciti simus, dum alter[utr]o indigemus, ne quis se queratur et gratia et honore priuatum.

II. Einheit durch caritas

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übrigen membra angewiesen, weshalb es verachtend auf seine Mitbrüder herabschauen würde78. Indem nun die membra in ihrer wechselseitigen Fürsorge sich gegenseitig ihre Gnadengaben zukommen lassen, regen sie eine Intensivierung der wechselseitigen Caritas an, macht doch der Empfang der fremden Gabe den Mitbruder angenehm und liebenswert". Auch diese Herleitung der Caritas steht im Einklang mit dem von Pelagius postulierten Primat der Gottesliebe vor jeder anderen Liebe. Das Objekt, dessen der Christ ermangelt und um dessentwillen ihm sein Mitbruder als angenehm erscheint, ist ja die Gnadengabe, die, insofern sie ein von Gott verliehenes posse darstellt, selbst etwas Göttliches ist. Daher kann man diese Herleitung der brüderlichen Liebe letztlich als eine Variation desselben Grundgedankens ansehen, der auch der christologisch-ekklesiologischen Interpretation brüderlicher Liebe zugrunde liegt, und zwar der Vorstellung, daß man den Bruder um seiner Heiligkeit willen liebt. b. Nächstenliebe Brüderliche Liebe gründet auf der Heiligkeit der Christen und kann daher auch nur von Geheiligten ausgesagt werden, d. h. von den zur Kirche versammelten Christen, welche die bei ihrer Taufe empfangene Heiligkeit bewahrt haben. Im Unterschied dazu ist die Nächstenliebe allgemeiner gefaßt. Dort wird nicht eine bestimmte Gruppe von Menschen in den Blick genommen, sondern jeder Mitmensch: „Gemäß dem Gleichnis des Herrn, der anordnet, allen ohne Unterschied Erbarmen zu erweisen, ist jeder Mensch als unser Nächster zu betrachten"80. Um die Nächstenliebe zu begründen, benötigt Pelagius daher auch eine breitere Argumentationsbasis, die es ihm erlaubt, alle Menschen über ihre Verschiedenheiten hinweg zusammenzusehen. Er findet diese Basis in der allen Menschen gemeinsamen Natur. Explizit wird dieser Gedanke in seiner Auslegung von 1 Thess 3,12 formuliert, wo er die „Caritas gegenüber allen" (sc. Menschen) gleichsetzt mit der Liebe zu den „Menschen jeglicher Über78

Exp., S. 199,1-4 (1 Kor 12,21): Non potest [autem] dicere oculus manui: 'Opera tua non desidero'. Ideo inuicem indigemus, ut magis ac magis Caritas confirmetur; nam si unus omnia haberet, aduersos ceteros inflaretur. - Vgl. auch Exp., S. 95,19-22 (Röm 12,4): Sicut ertim in uno corpore multa membra habemus. Per comparationem corporis eos ad concordiam cohortatur, ne uel hinc [com]moueantur quia dona accepere diuersa: non enim poterant omnia habere singuli, ne superbirent nullius egentes ...

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Vgl. Exp., S. 96,3-5 (Röm 12,5): Ita multi unum corpus sumus irt {Christo}: singuli autem alter alterius membra. Ut praestando alter utrum quod habemus, magis ac magis Caritas confirmetur. Vgl. auch Exp., S. 199,1-4 (1 Kor 12,21), zitiert in Anm. 78. Exp., S. 103,13-15 (Röm 13,8): Qui enim diligit proximum. Secundum domini parabolam, sine discretione cunctis misericordiam fieri iubentis, omnis homo proximus esse censendus est. - Pelagius spielt hier auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter Lk 10,25-37 an, auf das bereits Origenes-Rufin in seinem Kommentar zur selben Stelle (vgl. Com. ad Rom. IX 31, Sp. 1231C-D) hingewiesen hat.

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C. Die Einheit der Kirche

zeugungsrichtung", und zwar „nicht ihrer Verblendung, sondern ihrer Natur zuliebe""'. Die Begründung der Nächstenliebe durch den Hinweis auf die Natur des Menschen erlangt ihre Schlüssigkeit vor dem Hintergrund der Gottesliebe der Christen. Wie Pelagius nämlich in seinen Schriften wiederholt herausstellt, ist alles, was sich auf die Natur des Menschen bezieht, Gott zuzurechnen, da dieser der Urheber der Natur ist82. Ist nun dasjenige, was den Nächsten für den Christen liebenswert macht, die - Gott zuzurechnende - Natur des Mitmenschen, so ist es letztlich der Schöpfergott, der in der Liebe zum Nächsten geliebt wird. Nächstenliebe ist folglich - ähnlich wie die Bruderliebe - als eine Form der Gottesliebe der Christen zu verstehen. Im Unterschied zur Bruderliebe wird in ihr jedoch nicht Gott als Erlöser in Christus und als Heiligung wirkender Geist geliebt, sondern als der Schöpfer der Welt. Da jedoch Schöpfer, Erlöser und Heiliger Geist der eine Gott sind83, sind Bruderliebe und Nächstenliebe dennoch als die Liebe zu demselben Gott zu verstehen. Daß die Nächstenliebe in einer schöpfungstheologischen Gesamtperspektive betrachtet werden muß, hat Pelagius der auf Lev 19,18 zurückgehenden Formulierung entnehmen können, die im Neuen Testament wiederholt als pointierte Zusammenfassung des Gebotes zur Nächstenliebe zitiert wird („Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" Vgl. Mt 19,19; 22,39; Mk 12,31.33; Lk 10,27; Rom 13,9; Gal 5,14; Jak 2,8). Aus dieser Formulierung hat Pelagius abgeleitet, daß die Selbstliebe als forma („Vorbild") für die Nächstenliebe aufzufassen ist84. Damit erkennt er der Selbstliebe die Funktion einer Norm zu, die den zwischenmenschlichen Umgang regelt. Als eine derartige Norm läßt sie sich jedoch nur dann fassen, wenn sie als ein konstantes Phänomen verstanden wird, das bei jedem Menschen gleichermaßen anzutreffen ist. Solche Phänomene muß man, insofern sie charakteristische Merkmale eines jeden Menschen sind, dem Menschsein an sich, d. h. der menschlichen Natur zurechnen. Der Schritt zu einer Einbindung der Nächstenliebe in einen schöpfungstheologischen Kontext hat Pelagius also bereits dadurch vollzogen, daß

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Exp., S. 428,2-7 (1 Thess 3,12): Uos autem dominus multiplicet [et] abundare facial cantate. Quia iam plena est [et] opere comprobata. [In] inuicem et in omnes. Ut non solum Christianos, sed edam omnis sectae homines, non erroris, sed naturae gratia diligatis, et eis, [in] quo indiguerint, misericordiam quam illis in praesenti deus exhibet, non negetis. Dieser Grundsatz bildet ein wesentliches Fundament seiner Gnadenlehre und wird daher von ihm auch wiederholt entfaltet. Vgl. beispielsweise De nat., zitiert in Augustins Schrift De nat. et grat., 51,59, CSEL 60, S. 276,11-15: ipsa, inquit, non peccandi possibilitas non tarn in arbitrii potestate quam in naturae necessitate est. quicquid in naturae necessitate positum est, ad naturae pertinere non dubitatur auctorem, utique deum. quomodo ergo, inquit, absque dei gratia dici existimatur, quod ad deum proprie pertinere monstratur? Zur Trinitätslehre des Pelagius siehe oben, B I 1 b. Vgl. hierzu Exp., S. 335,3f. (Gal 5,14), wo Pelagius diesen Gedanken in einer rhetorischen Frage formuliert: ... et si nos non diligimus, ad quam formam proximos diligemus?

II. Einheit durch caritas

217

er die im Neuen Testament formulierte Verhältnisbestimmung von Selbstliebe und Nächstenliebe rezipiert. Das Liebesgebot ist sehr allgemein und offen formuliert. So ist auch die darin enthaltene Anweisung, seinen Nächsten nach dem Vorbild der Liebe zum eigenen Selbst zu lieben, für sich allein gesehen zu abstrakt, als daß man daraus konkrete Normen für das menschliche Miteinander ableiten kann. Dafür bedarf es einer weiterfuhrenden Interpretation, die sichtbar macht, wie aus der nach dem Vorbild der Selbstliebe gestalteten Nächstenliebe ein bestimmtes Verhalten hervorgeht. Pelagius gelangt zu einer weiteren Ausdeutung des Liebesgebotes, indem er es mittels der Goldenen Regel („Was ihr wollt, daß es euch die Menschen tun, das tut auch ihnen" Mt 7,12) auslegt85. Angesichts der gedanklichen Nähe des Liebesgebotes zur Goldenen Regel liegt diese Auslegung nahe. Hier wie dort geht es um das Verhältnis des Christen zum Mitmenschen; außerdem ist beiden Geboten gemeinsam, daß dieses Verhältnis in der Art und Weise gestaltet werden soll, wie sich der Christ auf sich selbst bezieht. Unterschiedlich ist die jeweilige Akzentuierung dieser Gebote. Hält man sich diese Unterschiede vor Augen, so läßt sich zeigen, inwiefern das Liebesgebot durch die Kombination mit der Goldenen Regel zu einer praktikablen Regel für den Umgang mit den Mitmenschen weiterentwickelt wird. 1. Das Liebesgebot handelt von der Nächstenliebe, die nach dem Vorbild der Selbstliebe geformt ist. In der Goldenen Regel ist dagegen von den Wünschen und Erwartungen für das Selbst die Rede; diese sollen als Richtschnur für den Umgang mit dem Nächsten dienen. Indem Pelagius diese Aussagen verknüpft, gelangt er zu einem umfassenden Begriff von Selbstliebe, der es ihm erlaubt zu erklären, wie aus Selbstliebe Normen für den Umgang mit dem Nächsten erwachsen. Im Lichte des Liebesgebotes betrachtet, erscheinen nämlich die Wünsche für das Selbst, von denen in der Goldenen Regel die Rede ist, als Ausdruck von Selbstliebe. Sind nun diese Wünsche der Selbstliebe entsprungen, so muß man im Hinblick auf ihren Gehalt folgern, daß sie - gemäß dem pelagischen Grundverständnis von Caritas - gute, auf das eigene Wohl bedachte Wünsche sind86. Somit kann der Christ an der Betrachtung der Wünsche, die durch seine Selbstliebe hervorgebracht werden, ablesen, was wohlgefällig und angenehm ist; dies soll ihm als Richtschnur für den Umgang mit dem Nächsten dienen. 2. Das Liebesgebot fordert zu Caritas im allgemeinen auf 7 . Die Goldene Regel dagegen ist konkreter; sie ermahnt zu einem Tun, das nach dem Vorbild

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Vgl. hierzu Pelagius' Auslegung von Röm 13,9, wo Liebesgebot und Goldene Regel miteinander kombiniert werden: ... qui enim sicut se diligit proximum, non solum illi malum non facit, sed etiam bonum facit, quia et circa se utrumque impleri desiderat (Exp., S. 103,22104,1). Zu der auf das Glück des Geliebten bedachten Haltung, die die Caritas beim Liebenden bewirkt, siehe oben, S. 201f. Vgl. Exp., S. 103,19f. = Röm 13,9: diligesproximum tuum sicut te ipsum.

218

C. Die Einheit der Kirche

der eigenen Erwartungen das Wohl des Mitmenschen sucht88. Zieht Pelagius die Goldene Regel zur Auslegung des Liebesgebotes heran, so wird es um das ethische Moment bereichert, das der Goldenen Regel innewohnt. Dadurch wird - durchaus im Einklang mit dem pelagischen Grundverständnis von Caritas89 der Nächstenliebe das Wesensmerkmal zugeschrieben, daß sie sich auch in wohlgefälligen Taten gegenüber dem Nächsten praktisch erweist. Das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" muß man demnach als Anweisung zu wohltätigem Handeln am Mitmenschen auffassen: „Wer nämlich den Nächsten liebt wie sich selbst, der tut ihm nicht nur kein Übel, sondern er tut ihm vielmehr Gutes, weil er ja wünscht, daß beides auch ihm gegenüber eingehalten werde'" 0 . Im Neuen Testament wird dem Liebesgebot eine Sonderstellung unter den Geboten Gottes zugewiesen. So gehört nach Mt 22,37-40 die Nächstenliebe gemeinsam mit der ihr vorgeordneten Gottesliebe zu den beiden „größten" Geboten, „an denen das Gesetz und die Propheten hängt" (Mt 22,40). Paulus sieht im Liebesgebot die Zusammenfassung aller göttlichen Gebote, so daß die Nächstenliebe die Erfüllung des Gesetzes darstellt (Rom 13,8-10; Gal 5,13f.). Um nun im Anschluß an diese Aussagen den Gedanken zum Ausdruck zu bringen, daß die Nächstenliebe Inbegriff dessen ist, was Gottes Wille für den Menschen bedeutet, qualifiziert Pelagius die Nächstenliebe als iustitiaAllgemein betrachtet, besteht nämlich die allen Menschen aufgetragene iustia darin, daß Gutes getan und Schlechtes vermieden werden soll' 2 . Wie oben

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Vgl. Ad Dem. 9, Sp. 24 C, wo Pelagius Mt 7,12 zitiert: Quaecumque vultis ut faciant vobis homines, haec et vos facite Ulis. Das ethische Moment der Caritas zeigt sich im Zusammenhang von Caritas und beneßcia. Vgl. hierzu exemplarisch Pelagius' Verständnis der Liebe Gottes zu den Menschen (siehe dazu oben, S. 203ff). Exp., S. 103,22-104,1 (Röm 13,9): ... qui enim sicut se diligit proximum, non solum illi malum non facit, sed etiam bonum facit, quia et circa se utrumque impleri desiderat. - Vgl. auch Ad Dem. 9, Sp. 24 C: Quaecumque vultis ut faciant vobis homines, haec et vos facite illis: hoc est, ut nihil mali inferamus aliis, sed praestemus omne, quod bonum est: quia volumus hoc ab aliis in nos utrumque servari. Exp., S. 103,17-21 (Röm 13,9): Nam non adulterabis, non occides, non furaberis, non concupisces, et si quod aliut mandatum, in hoc uerbo restauratur: diliges proximum tuum, sicut te ipsum. Recapitulatur omnis iustitia in proximi dilectione ... - S. 110,15-17 (Röm 14,17): Sed iustitia et pax et gaudium in spiritu sancto. Quae per abstinentiam facilius custodi[un]tur: ubi enim iustitia, sicut se proximum diligendo, ibi et pax ... - S. 103,13.16f. (Röm 13,8): Qui enim diligit proximum ... Legem impleuit. Ideo dilectionem praemisit quia fidelibus scribebat et de iustitiae conuersatione tractabat. - Vgl. ferner Exp., S. 434,16f. (1 Thess 5,8): Induti lorica[m] fldei et caritatis [, et galeam spem salutis]. Fide et caritate omnis iustitia constat, quam loricae alibi comparauit (vgl. Eph 6,14). Siehe hierzu Ad Dem. 9, Sp. 24B/C. Pelagius qualifiziert hier das Verbot von mala und das Gebot zu bona als das von Gott Befohlene und setzt dieses mit der von Gott angeordneten iustitia gleich: Prohibentur mala, praecipiuntur bona ... In duobus ¡Iiis ... peccatum omne concluditur: in utroque enim Dei continetur imperium. Et non solum praecipere, sed et prohibere ipsum, iubentis est. Generaliter namque omnibus mandatur iustitia ...

II. Einheit durch

caritas

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gezeigt worden ist, leitet dazu das durch die Goldene Regel interpretierte Liebesgebot an; daher kann Pelagius auch feststellen, daß „die gesamte iustitia in der Nächstenliebe zusammengefaßt ist"". Dieser Konzeption liegt allerdings der Gedanke zugrunde, daß die Vorstellung von bonum und malum, die der Christ aus seiner Selbstliebe ableitet, mit dem übereinstimmt, was Gott als bonum und malum ansieht. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt worden ist, geht Pelagius tatsächlich davon aus, daß der Mensch mit seiner die sanctitas naturalis bzw. lex naturalis eine Instanz in sich trägt, die ihn zu einer Beurteilung von bonum und malum befähigt, die mit dem göttlichen Willen harmoniert 94 . In ihr muß man daher auch die eigentliche Ursache dafür erblicken, daß der Mensch aus seiner Selbstliebe gerechte Normen ableiten kann' 5 . Daß die Normen der Nächstenliebe auf eine Instanz zurückgeführt werden, die der Natur des Menschen angehört, ist vor allem bedeutsam für die Wirkung der Nächstenliebe beim Mitmenschen. Da ja nicht nur der Christ, der die Nächstenliebe ausübt, sondern auch der Mitmensch, dem die erwiesene Nächstenliebe gilt, über eine lex naturalis verfügt, ist dieser auch befähigt, die ihm erwiesene Nächstenliebe als beneßcium zu begreifen und sie durch Gegenliebe zu beantworten. Insofern nun unterschiedslos alle Menschen auf erwiesene Nächstenliebe ansprechbar sind, ist es auch prinzipiell möglich, daß die gesamte Menschheit zu einer umfassenden, durch wechselseitige Caritas verbundenen Gemeinschaft zusammengeführt wird. Wie Pelagius in der Epistula ad Celantiam darlegt, stellt die Einigung der Menschheit zu einer derartigen, universalen Gemeinschaft den eigentlichen Zweck dar, um dessentwillen das Gebot zur Nächstenliebe von Gott erlassen worden ist: „Er (sc. Christus) sagt: ,Alles, was ihr wollt, daß es euch die Menschen tun, das tut ihnen'. Er will, daß unter uns die Caritas verknüpft und verflochten werde durch wechselseitige beneflcia, und alle Menschen durch solidarische Liebe untereinander verbunden werden, so daß, wenn einer dem anderen darbietet, was er wünscht, daß es ihm von allen anderen dargeboten werde, die gesamte iustitia und dieses Gebot Gottes der gemeinsame Nutzen aller Menschen sei'" 6 .

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Exp., S. 103,20f. ( R ö m 13,9): Recapitulatur omnis iustitia in proximi dilectione ...

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Zur lex naturalis

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Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß nach Pelagius die Umsetzung der gerechten Normen der lex naturalis

siehe oben, A 1 2 b. nur unter der Voraussetzung möglich ist, daß der Wille des Menschen durch

keine sündhafte consuetudo

blockiert ist. Dies bedeutet zugleich, daß die Nächstenliebe allein

von Christen ausgeübt werden kann, da diese doch bei ihrer Taufe von der mala

consuetudo

befreit worden sind. Sündige Menschen dagegen sind zwar prinzipiell zur Erkenntnis des göttlichen Willens aus der lex naturalis

imstande, nicht jedoch zur Umsetzung des Erkannten

in ein Tun. Siehe hierzu oben, A 1 2 a. Ad Cel. 15, S. 447,15-20: omnia, inquit, quaecumque uultis ut faciant uobis homines, haec et uos facite illis (Mt 7,12). coniungi uult inter nos atque conecti per mutua beneficia caritatem omnesque homines uicario inter se amore copulari, ut id unoque praestante alteri, quod sibi ab omnibus praestari uelit, tota iustitia et praeceptum hoc dei communis sit utilitas hominum.

D. Das Wirken der Kirche an ihren membra Pelagius sieht in der Kirche eine dynamische Größe, die ihrem Wesen nach auf eine ständige Weiterentwicklung angelegt ist. Dem Entwicklungsprozeß, der die Geschichte der Kirche bestimmt, rechnet Pelagius zwei Momente zu. Zum einen gehört zu diesem Prozeß ein quantitatives Wachstum der Kirche, in dessen Verlauf diese ihren Mitgliederbestand kontinuierlich vergrößert, bis sie schließlich die gesamte Menschheit einschließt. Zum anderen zielt die geschichtliche Entwicklung der Kirche auf ein inneres, d. h. qualitatives Wachstum ab, das sich im Fortschreiten ihrer membra bis hin zur perfectio vollzieht1. Dieser Entwicklungsprozeß wird ermöglicht und gefördert durch bestimmte Handlungen, welche die Kirche an den Menschen in ihr und außerhalb ihrer wirkt. Hält man sich an die beiden das Wachstum der Kirche bestimmenden Momente, lassen sich von hier aus zwei Grundformen kirchlichen Handelns unterscheiden. Um ein quantitatives Wachstum der Kirche anzuregen, sind Handlungen notwendig, durch welche die Menschen zu Mitgliedern des corpus Christi werden bzw. durch welche deren Zugehörigkeit hierzu erneuert oder bekräftigt wird. Zu diesen Handlungen gehören die beiden sacramenta Taufe und Mahlfeier sowie die Buße; dabei wird letztere von Pelagius in einem engen gedanklichen Bezug zur Taufe interpretiert, weshalb man ihr ebenfalls einen sakramentalen Charakter zuerkennen muß. Das qualitative Wachstum der Kirche wird hingegen durch die Handlungen gefordert, welche die Bereitschaft der Christen zu einem Fortschreiten in ihrer Heiligung stärken. Dazu kann man die Belehrung und Ermahnung der membra rechnen, also all diejenigen kirchlichen Tätigkeiten, die sich den Oberbegriffen Verkündigung und Seelsorge zuordnen lassen. Das jeweilige Proprium dieser beiden Grundformen kirchlichen Handelns läßt sich mittels der pelagischen Fundamentalunterscheidung von posse und uelle präziser erfassen2. Demnach wird man das Eigentümliche der Handlungen, die auf das quantitative Wachstum der Kirche bezogenen sind (Taufe, Buße, Mahlfeier), darin erblicken dürfen, daß Gott in ihnen dem Menschen die Möglichkeit (posse) eröffnet, die Zugehörigkeit zur Kirche zu erlangen. Sind die sakramentalen Handlungen somit ihrer Struktur nach göttliches posse, folgt im Hinblick auf ihre Wirksamkeit, daß ihnen ein entsprechendes menschliches uelle korrelieren muß. Dieses uelle anzuregen und zu stärken, ist der Zweck von Verkündigung und Seelsorge, also der beiSiehe hierzu oben, S. 136f. Zur Fundamentalunterscheidung von posse und uelle siehe oben, B I 3 a.

I. Die Ämter der Kirche

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den kirchlichen Handlungen, die an den einzelnen Christen im Raum der Kirche vollzogen werden. Im folgenden Kapitel soll die pelagische Lehre von den kirchlichen Handlungen eingehend behandelt werden. Um ein möglichst umfassendes Bild der pelagischen Lehre vom Wirken der Kirche an ihren Gliedern zu gewinnen, sollen dabei nicht nur Pelagius' Interpretation dieser Handlungen selbst nachgezeichnet werden, sondern auch seine Auffassungen zu den mit dem Vollzug dieser Handlungen beauftragten Amtsträgern. Es besteht nämlich ein grundlegender Zusammenhang zwischen der Lehre der kirchlichen Handlungen und der Deutung der Ämter, insofern als jedes Amts Verständnis den optimalen Vollzug der kirchlichen Handlungen im Blick hat. Es sind zwar bereits im vorangehenden Kapitel grundlegende Aspekte des pelagischen Amtsverständnisses behandelt worden3, diese Ausführungen haben sich jedoch darauf beschränkt, die theologische Grundlegung des Amtsbegriffes durch Pelagius nachzuzeichnen. Welche officio im einzelnen innerhalb der Kirche ausgeübt werden und welchen Stellenwert Pelagius ihnen zuerkennt, ist hingegen unberücksichtigt geblieben. Der erste Abschnitt des folgenden Kapitels wird sich mit diesem bisher ausgesparten Teilbereich der pelagischen Ämterlehre beschäftigen. Es soll hier ein kurzer Überblick über die wichtigsten Ämter gegeben werden, die Pelagius anspricht. Dieser Überblick wird ergänzt durch Ausfuhrungen zur pelagischen Pastoraltheologie, in deren Zusammenhang auf die Frage eingegangen wird, in welcher Weise die pelagische Ämterlehre durch monastische Vorstellungen beeinflußt ist (I). Der zweite Abschnitt des Kapitels beschäftigt sich mit den kirchlichen Handlungen. Da Ansichten des Pelagius zur doctrina und ihrem positiven Einfluß auf die Heiligung der Kirchenglieder bereits an anderer Stelle ausfuhrlich entfaltet worden sind4, werden in diesem Abschnitt (II) ausschließlich seine Deutung der Handlungen nachgezeichnet, die das quantitative Wachstum der Kirche fordern (Taufe, Buße, Mahlfeier).

I. Die Ämter der Kirche Bevor Pelagius' Ansichten zu den kirchlichen Ämtern im einzelnen entfaltet werden, soll geklärt werden, wo sich dem Exegeten Pelagius innerhalb der Paulusbriefe Anknüpfungspunkte für Überlegungen zu einzelnen kirchlichen Ämtern bieten und wie es ihm gelingt, die biblischen Aussagen, auf die er sich bezieht, im Hinblick auf die aktuelle Situation der Kirche seiner Zeit nutzbar zu machen. Die Frage, wie Pelagius den biblischen Text aufgreift und aktualisiert, ist gerade im Hinblick auf sein Verständnis der kirchlichen Ämter von besonders großem Interesse. Die römische Kirche des 5. Jahrhunderts, die er und seine Leser vor Augen haben, unterscheidet sich nämlich in ihrer Ämter3 4

Siehe hierzu oben C I 2. Vgl. hierzu oben, S. 85f. sowie S. 137ff.

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D. Das Wirken der Kirche an ihren membra

struktur z. T. erheblich von dem, was in den Paulusbriefen - vor allem in 1 Kor 12 und Rom 12 - als kirchliche Realität beschrieben wird. Um einen Bezug zur Situation seiner zeitgenössischen Kirche herstellen zu können, muß Pelagius in seiner Exegese zu dieser Diskrepanz Stellung nehmen (1). Anschließend soll seine Ämterlehre in ihren Einzelheiten dargestellt werden. Hierzu soll in einem längeren Abschnitt nachgezeichnet werden, wie nach seiner Ansicht die kirchlichen Ämter untereinander angeordnet sind und welche Aufgaben sie innerhalb des kirchlichen Alltags zu erfüllen haben (2). Damit die Amtsträger auch den Anforderungen ihres Amtes gerecht werden, müssen sie über bestimmte Fähigkeiten und Tugenden verfügen. Welche Ansichten Pelagius dazu vertritt, soll im dritten Abschnitt aufgezeigt werden (3). 1. Kirchliche Ämter in den Paulusbriefen und den Expositiones des Pelagius In den paulinischen Briefen, die Pelagius in seinem Kommentar auslegt, werden mehrfach Dienste und Ämter der Gemeinde angesprochen. Diese Aussagen lassen sich vergröbernd in zwei Gruppen einteilen. Eine erste Gruppe von Texten stellen die Kataloge von Diensten und Ämtern dar, die von Paulus selbst bzw. in der ersten Generation nach seinem Tod formuliert wurden (1 Kor 12,8-10; 1 Kor 12,28; Rom 12,6-8; Eph 4,11). Diese Kataloge spiegeln die organisatorischen Verhältnisse der paulinischen Gemeinden zu Lebzeiten des Apostels (Röm 12; 1 Kor 12) sowie in der ersten Generation nach seinem Tod (Eph 4) wider. Die einzelnen Dienste sind hier aus den jeweils aktuellen Bedürfnissen der Gemeinde hervorgegangen. Ein Trend zu festen Ämtern läßt sich lediglich in Ansätzen erkennen5. Insgesamt betrachtet sind „in einem erstaunlichen Maße pragmatische Gesichtspunkte^] ja Improvisation" bestimmend6. Als eine zweite Gruppe von Texten können die ausführlichen Anweisungen an die Gemeindeleitung angesehen werden, die in den eine weitere Generation später abgefaßten Briefen 1 Tim und Tit (hier vor allem 1 Tim 3f.; 5,18-21; Tit 1,5-10) formuliert werden. Zur Entstehungszeit dieser Briefe haben sich in den paulinischen Gemeinden Ämter mit klar abgegrenzten Aufgabenbereichen herausgebildet. Die bereits in Phil 1,1 erwähnten episcopi und diaconi erscheinen als die fuhrenden Ämter in der Gemeinde. 1 Tim 3 entfaltet ausführlich die Kriterien, welche die Anwärter auf diese Ämter zu erfüllen haben. Neben diesen beiden Ämtern werden in 1 Tim und Tit auch die „Ältesten" (presbyteri) erwähnt (1 Tim 5,18ff; Tit l,5ff.). Dieses Amt, das ursprünglich ein „EhMan beachte etwa die Wiederaufnahme von 1 Kor 12,28a im Ämterkatalog Eph 4,11, ein Umstand, der auf die Ausbildung einer Ämtertradition hinweist. Allerdings muß man berücksichtigen, daß fllr den Verfasser des Eph die in 1 Kor 12,28a betont an den Anfang gestellten apostoli und prophetae bereits der Vergangenheit angehören. Dafllr wird der Katalog um die euangelistae und pastores erweitert, zwei Ämter, die offensichtlich zur Abfassungszeit des Eph in den paulinischen Gemeinden eine größere Bedeutung besessen haben. Jürgen Roloff, Amt IV, in: TRE 2 (1978), S. 509-533, dort S. 518f.

I. Die Ämter der Kirche

223

renamt mit stark repräsentativen Zügen"7 darstellt, ist offensichtlich erst spät in die Gemeindeordnung der paulinischen Gemeinden aufgenommen worden. Um es in einen Ausgleich zu den bereits bestehenden Ämtern des episcopus und des diaconus zu bringen, wird im 1 Tim das Ältestenamt neu interpretiert, und zwar als ein leitendes Amt ähnlich dem des episcopus (vgl. 1 Tim 5,18). Der Verfasser von Tit geht hier noch einen Schritt weiter, indem er episcopus und presbyter parallel setzt (vgl. Tit 1,5 mit Tit 1,7). Es ist nicht weiter verwunderlich, daß die Kirchenordnungen der Alten Kirche vor allem an 1 Tim und Tit anknüpfen, werden hier doch nicht bloß beiläufige Bemerkungen zum kirchlichen Amt dargeboten (wie in Röm 12; 1 Kor 12; Eph 4), sondern der Entwurf einer Gemeindeordnung, dessen Verwirklichung unter der Autorität des Apostels eingefordert wird. Somit hat der prägende Einfluß von 1 Tim und Tit entscheidend dazu beigetragen, daß die Ämter des episcopus, presbyter und diaconus zu einem festen Bestandteil der institutionellen Struktur der Alten Kirche werden konnten. Die historische Kontinuität dieser Ämter, die bis zu den Lebzeiten des Pelagius im wesentlichen ungebrochen ist, hat Rückwirkung auf die Exegese des Pelagius und der von ihm benutzten Kommentare des Ambrosiaster und des Hieronymus. Im Bewußtsein, daß sich die Kirche ihrer Zeit den Weisungen des Apostels verpflichtet fühlt, wissen sich der Ambrosiaster, Hieronymus und Pelagius dazu berechtigt, die biblischen Vorstellungen vom kirchlichen Amt, die sie in ihren Auslegungen von 1 Tim und Tit interpretierend neu formulieren, für die Praxis ihrer Kirche einzufordern. Dies kann z. B. derart erfolgen, daß sich der Ausleger darauf beschränkt, in seiner Exegese ein Ideal für seine Kirche zu zeichnen (so Pelagius in seinen Expositiones), oder offene Kritik an kirchlichen Mißständen zu üben (so Hieronymus in seinem Commentarius ad Titum). Größere Schwierigkeiten bereiten dagegen die Ämterkataloge aus Röm 12; 1 Kor 12 und Eph 4. Auch sie sind Apostelwort und besitzen deshalb normative Bedeutung. Ihrem Gehalt nach lassen sie sich allerdings nur schwer mit 1 Tim und Tit - und der durch diese Briefe geprägten kirchlichen Realität des 4. und 5. Jahrhunderts - vereinbaren. Um diesem Problem zu begegnen, bedienen sich der Ambrosiaster, Hieronymus und Pelagius historischer Erklärungsmodelle8. Sie entwickeln ein bestimmtes Bild der historischen Gegebenheiten zur Zeit der Kirchengründung, das den historischen Ort der einzelnen Paulusbriefe erhellt und so Diskrepanzen zu den kirchlichen Verhältnissen der späteren Zeit einsichtig macht.

7

Jürgen Roloff, Der erste Brief an Timotheus (EICK 15), Zürich/Neukirchen-Vluyn

1988,

S. 171. 8

In den folgenden Ausführungen wird der Römerbriefkommentar des Origenes-Rufin, den Pelagius bei der Abfassung der Expositiones

benutzt hat, nicht berücksichtigt werden, da die-

ser Kommentar bei der Auslegung von Röm 12,3ff. auf Überlegungen zum geschichtlichen Hintergrund der Ämter verzichtet.

224

D. Das Wirken der Kirche an ihren membra

Die deutlichsten Aussagen in diesem Sinne finden sich bei dem Ambrosiaster, der in seinem Kommentar zu Eph 4,11 einen kurzen Überblick über die Entwicklung der institutionellen Strukturen in der Frühgeschichte der Kirche gibt. Gleich zu Beginn seines Überblicks hebt er hervor, daß die Amtsstrukturen in der Kirche anfangs noch nicht bestanden haben, sondern sich erst in einer späteren Phase herausgebildet haben 9 . In der Anfangszeit des Christentums geht es vor allem darum, das Christentum auszubreiten und somit Kirche überhaupt erst möglich zu machen. Daher ist diese Anfangsphase eine Zeit der verstärkten Mission. Institutionelle Strukturen sind kaum vorhanden. Sieht man einmal von den sieben diaconi in Jerusalem ab, so hat es noch keine ordinierten Amtsträger gegeben 10 . Vielmehr liegen Sakramentsverwaltung, Verkündigung und Lehre in den Händen aller Christen: „Um das Kirchenvolk anwachsen zu lassen, war es während der ersten Anfänge allen (sc. Christen) erlaubt, das Evangelium zu verkündigen, zu taufen und in der Kirche die Schrift auszulegen" 11 . Dies ändert sich, sobald die Kirche alle Orte der Welt erreicht hat. Es werden einzelne Ortsgemeinden gebildet, für die man ein Leitungsamt und andere officio mit genau abgegrenzten Kompetenzen bestimmt 12 . Der Ambrosiaster sieht diese Maßnahme durch die Überlegung veranlaßt, daß allein dadurch, daß man die wichtigsten kirchlichen Handlungen auf wenige Amtsträger konzentriert hat, ihren hohen Wert erhalten kann, denn „wenn alle dieselbe Funktion ausüben könnten, wäre es unvernünftig und die Sache erschiene als gewöhnlich und wertlos" 13 . Dieses Bild der frühen Kirche erlaubt es dem Ambrosiaster, die Unterschiede zwischen dem, was in den Paulusbriefen ausgesagt wird, und dem, was es J e t z t in der Kirche gibt", in der geschichtlichen Entwicklung der kirchlichen Ämter begründet zu sehen. Paulus verfaßt nämlich seine Briefe „während der Zeit der Anfänge", also zu einem Zeitpunkt, an dem die Ausbildung der kirchlichen Amtsstrukturen noch nicht abgeschlossen ist14. Allerdings geht der Ambrosiaster davon aus, daß die

Ambrst., Com. ad Ef., S. 99,14-16 (Eph 4,1 lf.): tarnen postquam omnibus locis ecelesiae sunt constitutae et officia ordinata, aliter conposita res est quam coeperat. Ambrst., Com. ad Ef., S. 99,24f. (Eph 4,11 f.): adhuc enim praeter Septem diacones nullus fuerat ordinatus. - Der Ambrosiaster bezieht sich hier auf Act 6,1-6. Ambrst., Com. ad Ef., S. 99,25-100,2 (Eph 4,1 lf.): ut ergo cresceret plebs et multiplicaretur, omnibus inter initia concessum est et evangelizare et baptizare et scripturas in ecclesia explanare. Ambrst., Com. ad Ef., S. 100,2-6 (Eph 4,1 If.): at ubi autem omnia loca circumplexa est ecclesia, conventícula constituta sunt et rectores et cetera officia ecclesiis sunt ordinata, ut nullus de clero auderet, qui ordinatus non esset, praesumere officium, quod sciret non sibi creditum vel concessum. Ambrst., Com. ad Ef., S. 100,6-9 (Eph 4,11 f.): et coepit alio ordine et Providentia ecclesia gubemari, quia, si omnes eadem possent, inrationabile esset et vulgaris res et vilissima videretur. Ambrst., Com. ad Ef., S. 100,11-13 (Eph 4,1 lf.): ideo non per omnia conveniunt scripta apostoli ordinationi, quae nunc in ecclesia est, quia haec inter ipsa primordia sunt scripta. -

I. Die Ämter der Kirche

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Mehrheit der Ämter seiner eigenen Zeit zu Zeiten des Paulus bereits vorhanden ist. Daher ist es ihm möglich, die in Eph 4,11 aufgelisteten ojficia mit Ämtern seiner zeitgenössischen Kirche gleichzusetzen 15 . Im Unterschied zu den historisch interessierten Exegeten Ambrosiaster und Hieronymus 16 spielen bei Pelagius Überlegungen zum geschichtlichen Rahmen der Paulusbriefe eine verhältnismäßig geringe Rolle. Berücksichtigt man die Interessen, die Pelagius mit der Schriftauslegung verbindet, so kann dies auch nicht weiter verwundern. Wie dieser nämlich in seiner Epistula ad Demetriadem darlegt, soll Exegese vor allem das Ziel haben, aus der Schrift den aktuellen Willen Gottes für die Gegenwart zu ermitteln. Daraus sollen dann die Christen entnehmen, wie sie den Willen Gottes in ihrem Lebenswandel verwirklichen können17. Wie man der in den Expositiones zu beobachtenden Tendenz seiner Auslegungen zu gegenwartsbezogenen Fragestellungen deutlich ablesen kann, ist Pelagius bemüht, diesen Grundsatz in seiner eigenen exegetischen Arbeit umzusetzen. Steht somit bereits sein hermeneutisches Grundanliegen historischen Betrachtungen entgegen, so wird in seinen Expositiones der Raum dafür zusätzlich eingeschränkt durch sein Bemühen, seine Auslegungen möglichst knapp und kurz zu halten. Dennoch kann Pelagius nicht ganz auf historische Anmerkungen verzichten. Ähnlich wie der Ambrosiaster ist er ja bestrebt, den Literalsinn der Schrift zu erheben18. Als Exeget, der sich des historischen Abstands zur neutestamentlichen Zeit bewußt ist, kann er deshalb den geschichtlichen Hintergrund der auszulegenden Texte nicht unberücksichtigt lassen. Seine Anmerkungen dazu beschränken sich allerdings zumeist auf knappe Hinweise. Überblickt man diese in ihrer Gesamtheit, so lassen sie sich zu einem fragmentarischen Bild der kirchlichen Frühgeschichte zusammenfügen. In der Periodisierung der frühen Kirchengeschichte scheint Pelagius im wesentlichen mit dem Ambrosiaster übereinzustimmen. So kennt auch Pelagius eine erste Phase der Mission, die sich von einer späteren Phase der inneren Konsolidierung abhebt. Sein

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Auf das Problem der Verhältnisbestimmung von episcopus und sacerdos, das der Ambrosiaster damit zu lösen sucht, wird weiter unten (S. 233fi) eingegangen. Vgl. Ambrst., Com. ad Ef„ S. 98,20-99,7 (Eph 4,1 lf.). Hier identifiziert der Ambrosiaster die apostoli, profetae und magistri mit den episcopi, Auslegern der Schrift, diaconi, lectores und exorcistae, also Ämtern, die der Amtshierarchie seiner zeitgenössischen Kirche angehören. Auch Hieronymus bezieht historische Betrachtungen in seine Auslegung ein, um dadurch bestimmte exegetische Probleme zu lösen, so etwa bei der Frage nach dem Verhältnis von episcopus undpresbyter. Hierzu siehe unten, S. 233ff. Vgl. hierzu Ad Dem. 23, Sp. 37 CD. Daß die Kenntnis des Gotteswillens Voraussetzung für dessen Befolgung ist, stellt Pelagius zu Beginn des zweiten, auf die Lebensführung der Demetrias bezogenen Hauptteil seines Briefes in Kap. 9 (Sp. 24A/B) heraus. Daß die Schrift die Quelle für das Ermitteln des Gotteswillens darstellt, wird hier von Pelagius ausdrücklich angesprochen. Auf allegorische Auslegungen verzichtet Pelagius nicht ganz (vgl. etwa seine Auslegung von 1 Kor 10,6 in Exp., S. 181,3-24), sie bleiben, insgesamt gesehen, selten. Es dominiert eine Auslegung im Literalsinn.

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D. Das Wirken der Kirche an ihren membra

Verständnis der frühen Missionszeit weicht allerdings von dem des Ambrosiaster stark ab. Pelagius sieht nämlich die Mission der kirchlichen Gründerzeit nicht allein von der Wortverkündigung getragen, sondern auch durch Wunder, die von den urchristlichen Missionaren gewirkt worden sind". Ihr missionarischer Nutzen besteht darin, daß sie als Zeichen für die Macht des Christentums den Heiden die Überlegenheit der christlichen Religion demonstrieren. Auf diese Weise wecken die Wunder unter den Heiden die Bereitschaft zur Bekehrung, rufen sie doch bei ihnen Erstaunen hervor und bewegen so zu den ersten Anfängen des Glaubens20. Als singulare Basis des Glaubens sind die signa allerdings ungeeignet; vielmehr muß ein auf signa beruhender Glaube durch doctrina gefestigt werden21. Dieses Verständnis der urchristlichen Mission prägt auch Pelagius' Bild von den Ämtern jener Gründungszeit. Da das gesamte Wirken der entstehenden Kirche auf ihre Vergrößerung durch Mission ausgerichtet ist, besitzen die Ämter einen ausgesprochen missionarischen Charakter. Dies zeigt sich besonders deutlich am Bild, das Pelagius vom Apostel Paulus zeichnet. Als überragender Missionar der heidnischen Welt22 besitzt der Apostel ein Amtscharisma, das die Begabung zu signa und doctrina in sich vereinigt. So ist der Apostel einerseits mit wunderhaften Begabungen ausgestattet, die über die normalen menschlichen Fähigkeiten weit hinausgehen 21 . Andererseits ist er die höchste 19

Pelagius hat diesen Gedanken der Apostelgeschichte entnommen. Hier ist wiederholt von signa et prodigia die Rede, die von den Missionaren der ersten Generation gewirkt worden sind. So wird dies über die Apostel in Jerusalem (Act 2,43; 5,12), Stephanus (Act 6,8), Paulus und Barnabas (Act 14,3; 15,12) und schließlich über Paulus allein (Act 19,11) ausgesagt. Pelagius kann diesen Gedanken bei Paulus wiederfinden, da der Apostel selbst auch von Signa et prodigia spricht, die er in der Kraft des Geistes gewirkt hat (vgl. Röm 15,19; 2 Kor 12,12).

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Zur glaubensweckenden Kraft der signa vgl. Exp., S. 174,19-22 (1 Kor 8,2): Nam signaculum apostolatus mei uos estis in domino. Indicium apostolatus mei est, quod per me domino credistis, signis et uirtutibus prouocati. - Vgl. auch Exp., S. 141,20f. (1 Kor 3,5f.): ... Hoc ipsum non ex nobis, sed per dei donum est, ut manus meas signa fierent, quae uos excitarent ad fidem ... - Daß hierbei die admiratio einen Beweggrund darstellt, klingt in Exp., S. 209,1821(1 Kor 14,22) an: Itaque linguae in Signum sunt non fidelibus. Hie ostenditur crescente fide signa cessare, quando infidelium causa danda esse praedicebantur. Sed infidelibus. Ut saltim admiratione moueantur.

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Vgl. hierzu das Nebeneinander von signa und doctrina in Exp., S. 141,19-142,2 (1 Kor 3,5): Et unicuique, sicut dominus dcdit. 6 ego plantaui, Apollo [in]rigauit, [sed\ deus incrementum dedit. Hoc ipsum non ex nobis, sed dei donum est, ut per manus meas signa fierent, quae uos excitarent ad fidem, et Apollo sua uos doctrina firmaret; quia, sicut planta sine aqua, sic fides sine doctrina marcescit. Pelagius spricht die apostolische Sendung des Apostels in seinen Expositiones mehrfach an. Vgl. etwa Exp., S. 142,16-19 (1 Kor 3,10): Secundum gratiam dei, quae data est mihi. Non secundum meam uirtutem. [Siue:] Ponendi fundamenti gratiam aeeepi, ut ibi praedicarem ubi Christus non fuerat nominatus. So besitzt der Apostel beispielsweise die gratia, daß er jederzeit und an jedem Ort der Welt über die Zustände seiner Gemeinden informiert ist. Vgl. hierzu Exp., S. 458,5-9 (Kol 2,5): Nam et si corpore absen[s] sum, sed spiritu uobiscum sum, sup[p]lens et uidens ordinationem

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I. Die Ämter der Kirche

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Autorität in der doctrina2\ die er durch Wort und Vorbild seinen Hörern vermittelt. Doch neben dem Apostel gibt es in der Anfangsphase der Kirche noch andere zeichenhafte oder lehrhafte Ämter, die dem Aufbau der Kirche dienen sollen. Pelagius sieht derartige Ämter in 1 Kor 12,8-10 aufgelistet25. So charakterisiert Pelagius die in 1 Kor 12,8 genannten sermones sapientiae und scientiae als Charismen, die auf die doctrina bezogen sind, und zwar die erste als Fähigkeit, Wissen mündlich zu vermitteln26, letztere als die Begabung, Wissen (durch Schriftauslegung) zu ergründen und in ihrer Bedeutung für Vergangenheit und Zukunft herauszustellen". Den in 1 Kor 12,9f. genannten Charismen ist gemeinsam, daß sie übernatürliche Begabungen - also signa darstellen: die fides als die Gabe, Wunder zu wirken28, die Begabung zu Krankenheilungen29, die Kraft, Dämonen auszutreiben und Tote aufzuerwecken™,

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uestram [,etßrmamenlum fidei quae est in Christo], Habebant hanc gratiam apostoli, ut alibi positi quid alibi ageretur agnoscerent, sicut Elisaei spiritus cum Giezi fuit in uia. - Im allgemeinen begnügt sich Pelagius damit, pauschal auf das apostolische Vermögen zu signa et prodigia hinzuweisen (vgl. Exp., S. 300,3-7 zu 2 Kor 12,1 If.; S. 174,19-22 zu 1 Kor 8,2). Der Apostel hat die doctrina von Gott selbst empfangen. Vgl. Exp., S. 191,11-14 (1 Kor 11,23): Ego enim accepi a domino quod et tradidi uobis. Non est meum quod uobis tradidi, sed a domino accepi illud, sicut ipse alibi dicit, non [se] ab hominibus, sed omnia a domino didicisse. - Der Apostel ist somit Vermittler der doctrina Gottes. Daher ist es angemessen, in ihm einen Lehrer zu sehen. Allerdings muß dabei beachtet werden, daß dies nur im Hinblick auf sein Wirken an den Menschen ausgesagt werden darf, denn strenggenommen ist Christus der einzige Lehrer. Vgl. Exp., S. 509,6-9 (2 Tim 1,11): In quopositus sum egopraedicator et apostolus et magister gentium. Ad conparationem aliorum possunt dici magistri: ad Christi uero conparationem nemo magister est uerus.

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Daß es hier um Begabungen zu signa und doctrina geht, deutet Pelagius in seiner Exegese der Einleitung des Charismenkatalogs (1 Kor 12,7) an. Im biblischen Text ist davon die Rede, daß die Offenbarungen des Geistes, die den Gläubigen zuteil werden, zum Nutzen dienen sollen. In seiner Auslegung setzt Pelagius diesen Nutzen mit dem gleich, was er als Wirkung der signa und doctrina ansieht, und zwar der Glaubenserweckung bei den Ungläubigen (= Signa) und die Stärkung der Glaubenden (= doctrina): Uni cuique autem nostrum datur manifestatio spiritus. Ut appareat ilium spiritum sanctum accepisse. Ad utilitatem. Et incredulorum, ut credant, et credentium, ut firmentur (Exp., S. 196,5-8 zu 1 Kor 12,7). - Für das Verständnis von 1 Kor 12,8-10 folgt aus dieser Bestimmung des Nutzens, daß die im folgenden aufgelisteten Charismen als Begabungen zu signa und doctrina aufzufassen sind.

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Exp., S. 196,8-13 (1 Kor 12,8): AIii autem datur per spiritum sermo sapientiae. Sapientiae sermo est sapienter et apte ac rationabiliter loqui et posse disserere uel docere, quod oris est. sane qui ex dono habet sapientiam, sine suo conatu loquitur et labore, et nemo illi, sicut beato Stephano, praeualeat contraire. Exp., S. 196,13-15 (1 Kor 12,8): Alii autem [sermo] scientiae secundum eundem spiritum. Ut sciat legis mysteria explanare, uel ut praeterita nouerit et aestimet de futuris. Exp., S. 196, 15-17 (1 Kor 12,9): Alterifides in eodem spiritu. Hic fides ad prodigia facienda, quae montes transfert: abusiue enim rem posuit pro effectu. Exp., S. 196,17f. (1 Kor 12,9): Alii gratia sanitatum in uno spiritu. Ut curaret aegraetos. Exp., S. 196,18-20 (1 Kor 12,10): Alii operatio uirtutum. Opus uirtutis est daemonium eicere uel mortuum suscitare.

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D. Das Wirken der Kirche an ihren membra

die prophetische Gabe, das Zukünftige zu sehen31, die Kraft, die Geister zu scheiden32, sowie die Begabung zur Glossolalie und ihrer Deutung33. Insgesamt gesehen schenkt Pelagius den signa innerhalb seiner Expositiones nur wenig Aufmerksamkeit. Seine knappen Anmerkungen zu diesem Thema sind im wesentlichen darauf beschränkt, die wunderhaften Charismen, die er hier angesprochen sieht, kurz zu erläutern, wobei er zumeist andere neutestamentliche Stellen zu ihrer Deutung heranzieht34. Sein geringes Interesse an den signa macht deutlich, daß er derartigen Charismen keine aktuelle Bedeutung mehr zuweist, sondern sie als Phänomene der Vergangenheit ansieht. Eine Erklärung für das Verschwinden der signa, das sich im Verlauf der Kirchengeschichte vollzogen haben muß, findet er in 1 Kor 14,20-22. In diesen Versen widerspricht Paulus einer übersteigerten Wertschätzung der Glossolalie, wie sie in der Gemeinde der Korinther weit verbreitet gewesen ist. Die Basis der apostolischen Kritik bildet die These, daß die Christen in ihrem Verstehen vollkommen sein sollen35. Glossolalie erfolgt indes ohne Beteiligung des Verstandes (vgl. 1 Kor 14,14). Sie ist daher ihrer eigentlichen Bedeutung nach nicht für die Christen bestimmt, sondern, wie Jes 28,11 f. belegt, zum Zeichen für die Ungläubigen (1 Kor 14,21 f.). Pelagius leitet aus dieser Argumentation des Paulus die Konsequenz ab, daß die signa, zu denen man auch die Glossolalie zählen muß, nur als göttliche Gaben für die Entstehungszeit des Christentums anzusehen sind. Wenn nämlich fides und Erkennen zusammengehören, so besitzen die unverständlichen signa nur solange eine Relevanz, wie sich die Christen einer überwiegend ungläubig-heidnischen Welt gegenübersehen. Sobald sich jedoch das Christentum in einem größeren Maße durchgesetzt hat, beginnen die für die verstehenden Christen nutzlosen signa überflüssig zu werden; deshalb verschwinden sie schließlich36.

Exp., S. 196,19f. (1 Kor 12,10): Alioprophetatio. Hoc est, ut futura praedicat. Exp., S. 196,20f. (1 Kor 12,10): A Iii discretatio spirituum. Ut quali quis spiritu ueniat uel loquatur, intellegat. Exp., S. 197, If. (1 Kor 12,10): A Iii genera linguarum, alii interpretatio sermonum. Alius interpretari poterat quae alius loqueretur. Dies läßt sich an seiner Interpretation von 1 Kor 12,9f. deutlich ablesen. Hinter seiner Erklärung der gratia sanitatum und der operatio uirtutum steht offensichtlich Mt 10,1-10, wo davon die Rede ist, daß Jesus den Jüngern die potestas zu verschiedenen Dingen verleiht, darunter auch die Gabe zur Krankenheilung, der Dämonenaustreibung (Mt 10,1.10) und der Totenauferweckung (Mt 10,8). Pelagius' Erklärung der fides spielt auf Mt 21,21f. an; seine Interpretation der prophetia, hier verstanden als Sehergabe, geht offensichtlich auf Act 11,28 zurück, wo vom Propheten Agabus berichtet wird, der eine Hungersnot voraussagt. Die genera linguarum und interpretatio sermonum begreift Pelagius von 1 Kor 14 her. Nur die Deutung der discretatio spirituum scheint Pelagius aus dem Begriff selbst hergeleitet zu haben. Ich folge hier dem lateinischen Bibeltext des Pelagius, in dem teXeioi- was im Sinne des griechischen Bibeltextes als „erwachsen" zu verstehen wäre - mit perfecti übersetzt wird. Vgl. Exp., S. 209,18-20 (1 Kor 14,22): Itaque linguae in Signum sunt non fidelibus. Hic ostenditur crescente fide signa cessare, quando infidelium causa danda esse praedicebantur. Vgl. auch seine Einleitung zu 1 Kor 12 (Exp., S. 194,19-21): De spiritalibus autem. Causa

I. Die Ämter der Kirche

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Aus der These vom Schwinden der signa läßt sich ableiten, daß Pelagius damit rechnet, daß sich in der folgenden Zeit die institutionellen Verhältnisse der Kirche grundlegend gewandelt haben. In den Expositiones finden sich allerdings zu wenige Aussagen über diesen Abschnitt der urchristlichen Geschichte, als daß man ein ungefähres Bild dieser Zeit rekonstruieren könnte. Man wird jedoch zumindest voraussetzen können, daß Pelagius sie ähnlich wie der Ambrosiaster als eine Epoche innerer Konsolidierung ansieht. Eine derartige Sicht wird ja bereits durch die Pastoralbriefe vorbereitet, handelt es sich hier doch um Schreiben, die - anders als die übrigen Paulusbriefe - speziell an die Leitung einzelner Gemeinden gerichtet sind und die dementsprechend auch deren Pflichten und Aufgaben thematisieren. Offensichtlich geht Pelagius davon aus, daß es in dieser Zeit keine zeichenhaften Ämter - und damit auch kein Apostolat - mehr gibt. Hinsichtlich der doctrina besteht indes Kontinuität; es gibt ein festes Lehramt, das in den Händen der clerici und doctores ist". Auch in Hinsicht auf die Inhalte liegt Kontinuität vor, so daß die Kirche weiterhin den traditiones der Apostel verbunden bleibt. In 2 Thess 2,15 hat nämlich Paulus, der seine traditio vom Herrn selbst empfangen hat, mit seiner apostolischen Vollmacht in der Kirche angeordnet, daß „seine traditiones eingehalten werden" sollen, ohne „fremde traditiones hinzuzufügen"". Im Gehorsam gegenüber diesem Gebot hat die Kirche weltweit die Einheit in der Lehre bewahrt, die Pelagius bis in seine eigene Zeit erhalten sieht: „Die traditio apostolica ist ... diejenige, die in der ganzen Welt ausgeübt wird, wie beispielsweise die sacramenta der Taufe"39. 2. Die Ordnung der kirchlichen Ämter und deren Aufgaben in der Gemeinde Obwohl Pelagius Paulus einer Epoche zurechnet, deren besondere kirchliche Strukturen sich stark von denen seiner eigenen Zeit unterscheiden, weist er dessen Bemerkungen zu den Ämtern auch eine aktuelle Bedeutung für das Verständnis seiner zeitgenössischen Kirche zu. Wie bereits im vorangehenden Abschnitt erläutert worden ist, sind ja Pelagius zufolge nach der Gründerzeit die zeichenhaften Ämter verschwunden, wohingegen die Ämter, die mit der doctrina zu tun haben, weiterbestehen. Geht er nun davon aus, daß sich, zumindest partiell, institutionelle Strukturen seit der Zeit des Apostels erhalten haben, so ist es ihm auch möglich, zeitgenössische Vorstellungen zu den orga-

" ,8



incipit de spiritalibus donis. crescente enim fide iam linguarum gratia, quam propter infideles acceperant, desinebat. Zum Lehramt vgl. unten, S. 246f. Exp., S. 446,13-15 (2 Thess 2,15): Et tenete traditiones [nostras] quas accepistis, siue per uerbum siue per epistulam nostram. Quando suas uult teneri, non uult extraneas super addi Exp., S. 446,15f. (2 Thess 2,15): apostolica ... traditio est, quae in toto mundo celebratur, ut baptismi sacramenta.

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D. Das Wirken der Kirche an ihren membra

nisatorischen Strukturen der Kirche in den Worten des Apostels wiederzufinden. Eine Thematik, bei der sich dies besonders gut beobachten läßt, stellt die Frage nach der Anordnung der einzelnen kirchlichen Ämter dar40. Im 5. Jahrhundert hat sich allgemein die Vorstellung durchgesetzt, daß die geistlichen Ämter der Kirche mit unterschiedlichen Rängen in einer hierarchischen Abstufung angeordnet sind. Als die höchsten Ämter der Kirche gelten die bereits in den Pastoralbriefen erwähnten Ämter des episcopus, des presbyter und des diaconus. Sie stellen den ordo superior dar, der unterschieden wird von den niederen Ämtern des ordo inferior*1. In Pelagius' Wahlheimat Rom haben seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die Bischöfe die hierarchische Struktur der Stadtkirche weiter gefestigt, indem sie die Ausbildung der clerici in einem immer stärkeren Maße dem hierarchischen Aufbau der Kirche angepaßt haben. Die berufliche Laufbahn eines clericus ist so zu einem cursus honorum umgestaltet worden, einem stetigen Durchschreiten der einzelnen Stufen der Ämterhierarchie von den niedrigsten Ämtern bis hin zum ordo superior In der exegetischen Literatur ist die Vorstellung einer hierarchischen Ämterstufung gelegentlich aufgegriffen worden, um mit ihrer Hilfe Bibelverse zu interpretieren, in denen von mehreren Ämtern die Rede ist. Exemplarisch sei hier auf die Auslegung von Eph 4,11 im Pauluskommentar des Ambrosiaster verwiesen. Der vom Ambrosiaster kommentierte biblische Vers enthält eine Auflistung fünf verschiedener Gemeindeämter, die Christus der Gemeinde verleiht „zur Vollendung der Heiligen durch das Werk des Dienstes zur Erbauung des corpus Christi' (vgl. Eph 4,12). In seiner Auslegung geht der Ambrosiaster diese Ämter im einzelnen durch und erklärt die Aufgaben, die sich seiner Auffassung nach mit diesen Ämtern verbunden haben. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem in Eph 4,11 an erster Stelle genannten Amt des apostolus, das er mit dem Bischofsamt gleichsetzt43. Auf der Basis eines Amtsverständnisses, das der Vorstellung einer hierarchischen Anordnung der Ämter in seiner zeitgenössischen Kirche verpflichtet ist44, stellt er die besondere Wür40

Vgl. zum folgenden Jean Gaudemet, L' Église dans I' empire romain (IV-V siècles), Paris 1957, S. 100-107; Charles Pietri, Roma Christiana. Recherches sur 1' Église de Rome, son organisation, sa politique, son idéologie de Militiade à Sixte III (311-440), Rom 1976, S. 690-696.

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Die Unterscheidung zwischen ordo superior und ordo inferior begegnet bei Innozenz I. (ep. 2 III 5, MPL 20, Sp. 472A): Si quae autem causae vel contentiones inter clericos tarn superioris ordinis quam etiam inferioris fuerint exortae ... - Man hat sich jedoch auch anderer Ausdrucke bedient, um zwischen diesen beiden Gruppen zu differenzieren. So charakterisiert Hieronymus die niederen Ämter der exorcistae, lectores sowie aeditui als inferior gradus unter den clerici (vgl. Com. ad Tit., Sp. 590 B/C zu Tit 2,15).

42

Siehe hierzu Pietri, Roma Christiana, S. 696ff., der die Stufen des cursus honorum im einzelnen nachzeichnet. Ambrst., Com. ad Ef., S. 102,20 (Eph 4,11): apostoli episcopi sunt. Daß der Ambrosiaster die Strukturen seiner zeitgenössischen Kirche vor Augen hat, läßt sich an seiner Interpretation der übrigen Ämter ablesen, die in Eph 4,11 angeführt werden. Ebenso

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de des Bischofsamtes heraus. Nach seiner Ansicht zeigt sich diese darin, daß dem Bischofsamt als dem höchsten Amt der Kirche die Befugnis zu allen ihm rangmäßig untergeordneten Ämtern eignet. So bekleidet der episcopus nicht nur das Amt des primus sacerdos, vielmehr schließt das Episkopat auch die Würde und die Vollmacht zu den in Eph 4,11 genannten Ämtern des profeta, euangelista und der folgenden ein45. Aus dem Umstand, daß der Ambrosiaster seine Überlegungen zum Zusammenhang von Rang und Amtsvollmacht am Beispiel des episcopus entwickelt, wird man folgern dürfen, daß ihn bei der Formulierung dieser Aussagen ein aktuelles Interesse am Zustand seiner zeitgenössischen Kirche geleitet hat. Nach seiner Auffassung gehört ja das Episkopat zu den kirchlichen Ämtern, die seit den Anfängen der Kirche kontinuierlich bestanden haben. Anmerkungen zu diesem Amt besitzen von daher weiterhin eine aktuelle Bedeutung für die Kirche. In seinen Expositiones greift Pelagius die Überlegungen über den Zusammenhang von Rang und Vollmacht auf, die der Ambrosiaster in seinem Kommentar im Hinblick auf den episcopus ausführt. In seinen Darlegungen setzt Pelagius allerdings andere Schwerpunkte. Da er hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklung der kirchlichen Ämter mit einer partiellen Diskontinuität rechnet46, setzt er nur wenige biblische Ämter mit Ämtern seiner zeitgenössischen Kirche gleich. So werden von ihm allein die in Eph 4,11 erwähnten pastores und magistri mit kirchlichen Ämtern seiner eigenen Zeit parallelisiert. Die übrigen in Eph 4,11 genannten Ämter scheint er hingegen ausschließlich als Ämter der neutestamentlichen Zeit anzusehen, die es zu seiner Zeit bereits nicht mehr gegeben hat. Wie sich allerdings seiner Auslegung von Eph 4,11 ablesen läßt, setzt Pelagius ebenso wie der Ambrosiaster voraus, daß die in diesem Vers genannten Ämter hierarchisch angeordnet sind. Pelagius veranschaulicht dies an vier Ämtern, die er aus der funfgliedrigen Ämterliste in Eph 4,11 herausgegriffen hat. In seiner Auslegung stellt er jeweils zwei Ämter vergleichend nebeneinander (apostoli - euangelistae sowie pastores - magistri). Zu beiden Ämterpaaren merkt er an, daß jeweils demjenigen Amt die größere Amtsbefugnis zukommt, das innerhalb der Auflistung in Eph 4,11 zuerst genannt wird. So verfügt ein apostolus über die Befugnisse des ihm nachfolgend angeführten euangelista, umgekehrt kann jedoch der euangelista nicht die Amtsbefugnisse eines apostolus für sich geltend machen: „Jeder apostolus ist ein euangelista, nicht jedoch jeder euangelista ein apostolus..."". In gleicher Weise bestimmt Pelagius das Verhältnis eines pastor zu

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wie das Apostolat werden diese von ihm mit Ämtern seiner zeitgenössischen Kirche parallelisiert. Vgl. hierzu oben, S. 225, Anm. 15. Ambrst., Com. ad Ef., S. 99,11-14 (Eph 4,11): nam in episcopo omnes ordines sunt, qui et primus sacerdos est, hoc est princeps sacerdotum, et profeta et euangelista et cetera ad implenda officia ecclesiae in ministerio fidelium. Siehe hierzu oben, S. 228f. Exp., S. 364,16-18 (Eph 4,11): Alios uero evangelistas. Omnis apostolus euangelista, non omnis euangelista apostolus, sicut 'Philip[p]us, qui unus erat ex Septem' (Act 21,8). - Mit

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einem magister bzw. doctor. „Jeder pastor ist doctor, nicht jedoch jeder doctor ein pastor"4*. Mit dieser Interpretation gewinnt der vom Ambrosiaster - mit Blick auf den episcopus - formulierte Gedanke, demzufolge ein rangmäßig höheres Amt die Amtswürde eines unteren Amtes einschließt, größere Allgemeinheit. Pelagius' Aussagen zum Verhältnis von apostolus zu euangelista sowie pastor zum magister erscheinen hier als paradigmatische Veranschaulichung eines Ordnungsprinzips, das für die gesamte Ämterhierarchie gilt. Dabei setzt Pelagius voraus, daß dieses Prinzip bis in seine eigene Gegenwart die Gültigkeit bewahrt hat, mithin die Struktur seiner zeitgenössischen Kirche von hier aus zu verstehen ist. Daß er die kirchlichen Ämter seiner Zeit in dieser Weise begreift, läßt sich durch seine Auslegung von 1 Kor 1,17 untermauern. An dieser Stelle will Pelagius klären, weshalb der Apostel einerseits nicht das Taufen, sondern allein die Evangeliumsverkündigung als die Aufgabe seines Apostelamtes begreift (vgl. 1 Kor 1,17), er andererseits aber einräumt, daß er einige Male getauft hat (vgl. 1 Kor 1,14-16). Pelagius' Überlegungen dazu gründen auf der bereits bei der Auslegung von Eph 4,11 anklingenden These, wonach dem höheren Amt zusätzlich zu seinen besonderen Amtsbefugnissen auch die Amtsvollmachten der ihm rangmäßig untergeordneten Ämter zukommen. Von daher ist es Pelagius möglich, die paulinische Selbstaussage in 1 Kor 1,17 durch das Apostolat zu begründen. Als dem höchsten Amt der Kirche eignet diesem ja auch die Berechtigung zur Taufe. Pelagius zufolge drängt sich allerdings der Apostel nicht danach, geringere Amtshandlungen (wie die Taufe) durchzuführen, da er doch die Befugnis zu den höherstehenden Amtshandlungen des Apostolats besitzt49. Daß das Amtsverständnis, das Pelagius hier voraussetzt, sich an der zeitgenössischen Hierarchie der kirchlichen Ämter orientiert, zeigen seine weiteren Bemerkungen zu 1 Kor 1,17. Hier weist er auf eine analoge Zuordnung von höherem und minderem Amt innerhalb der kirchlichen Hierarchie seiner eigenen Zeit hin. Danach ist der episcopus ebenso wie der apostolus dazu berechtigt, die Amtshandlungen der ihm untergeordneten Amtsträger - Pelagius bezieht sich hier ganz konkret auf den diaconus - auszuüben50.

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seinem Hinweis auf Philippus unterstreicht Pelagius die Differenz zwischen apostoli und euangelistae zusätzlich. Die Sieben, die in Act 21,8 mit euangelistae gleichgesetzt werden, sind nämlich nach Act 6,1-7 durch die apostoli unter Handauflegung ordiniert worden, was bereits als ein Ausweis der Höherrangigkeit der apostoli gegenüber den euangelistae angesehen werden kann. Exp., S. 354,19-365,2 (Eph 4,11): Alios {autem} pastores et magistros. Pastores sunt sacerdotes, doctores uero omnes qui sunt idonei ad alios instruendos. omnis ergo pastor doctor, non omnis [qui] doctor, et pastor. Exp., S. 132,20f. (1 Kor 1,17): Non enim misit me Christus baptizare sed euangelizare. Non usurpauit minora facere, qui poterai [officia] implere maiora ... Exp., S. 133,lf. (1 Kor 1,17): ... sicuthodie episcopus et suum, si uoluerit, et diaconi poterit implere ministerium. - Vgl. hierzu auch die Auslegung des Ambrosiaster zu 1 Kor 1,17, an

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Obgleich Pelagius in seinen Ausführungen zur kirchlichen Hierarchie stärker verallgemeinert als der Ambrosiaster, so ist im Hinblick auf das zugrundegelegte Gesamtverständnis der kirchlichen Strukturen festzuhalten, daß Pelagius die Konzeption des Ambrosiaster im wesentlichen unverändert übernimmt. Dies ist insofern bedeutsam, als der Ambrosiaster mit seiner Deutung der Ämterhierarchie eine Kritik an der Organisation der Stadtkirche Roms verbindet. Indem Pelagius die Position des Ambrosiaster rezipiert, stellt er sich ebenfalls auf die Seite der Kritiker an der Stadtkirche Roms. Im Mittelpunkt der Kritik, die in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts vom Ambrosiaster und von Hieronymus erstmals formuliert worden ist51, steht das Verhältnis von presbyter und diaconus. In der Kirche der römischen Hauptstadt haben nämlich die diaconi eine derart einflußreiche Position innegehabt, daß Hieronymus und der Ambrosiaster die rangmäßige Superiorität der presbyteri gegenüber den diaconi gefährdet sehen. Die Ursachen für die Vormachtstellung der diaconi liegen in den besonderen Organisationsstrukturen der römischen Stadtkirche, die sich im Laufe ihrer Geschichte herausgebildet haben. Seit ihrer Gründung im 1. Jahrhundert hat sich die Gemeinde Roms kontinuierlich vergrößert. Mitte des 3. Jahrhunderts hat der beständige Zuwachs an Gemeindegliedern es schließlich erfordert, die Stadtgemeinde in sieben Unterbezirke einzuteilen52. In jeden dieser Bezirke sind presbyteri entsandt worden, um als legitime Vertreter des episcopus die Gemeindeglieder

die Pelagius hier anknüpft. Pelagius hat dort den Gedanken vorfinden können, daß der Apostel aufgrund seines höheren Ranges die Berechtigung zur Taufe besitzt, was hier allerdings in einen Zusammenhang mit dem Episkopat gebracht wird, da ftlr den Ambrosiaster der Apostel den Rang eines episcopus bekleidet: Non enim misil me Christus baptizare, sed evangelizare. quoniam maius est evangelizare quam baptizare, ideo non se missum baptizare dicit, sed evangelizare, quia in episcopo omnium ordinationum dignitas est. caput est enim ceterum membrorum (Com. ad Cor. I, S. 12,11-15). Der Ambrosiaster führt seine Kritik an den römischen Diakonen erstmals in seiner Quaestio De iactantia Romanorum Levitarum (Qu. vet. et nov. test., 101, S. 193,20-198) aus und greift seine wichtigsten Argumente im Pauluskommentar auf. Hieronymus spricht diese Problematik in seinem Com. ad Tit. (Tit 1,5), Sp. 564C-565 D an. Sehr viel ausführlicher geht er darauf im vermutlich nur wenige Jahre später abgefaßten Brief an den römischen Presbyter Evangelius ein (ep. 146, S. 308-312). Die Frage, ob Hieronymus die Äußerungen des Ambrosiaster bekannt gewesen sind oder nicht, läßt sich nur schwer beantworten. A. Souter (A Study of Ambrosiaster [TaS 4], Cambridge 1905, S. 170f.) kommt nach einem Vergleich von Hieronymus' ep. 146 mit der qu. 101 des Ambrosiaster zu einem positiven Urteil: „There is enough originality in Jerome's letter to save his credit, but he has clearly borrowed argument and illustration from his predecessor" (S. 171). Angesichts der unübersehbaren Unterschiede in der Argumentationsweise, die in beiden Texten verfolgt wird, wäre m. E. genauso die Annahme einer literarischen Unabhängigkeit des Hieronymus denkbar. Siehe hierzu Karl Baus, Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Großkirche (HKG (J) 1), Freiburg/Basel/Wien 1962, S. 424f.

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mit Lehre, Wort und Sakrament zu betreuen53. Diese Maßnahme war sehr personalintensiv, da die große Zahl zu betreuender Gemeindeglieder einen hohen Bedarf an presbyteri erforderlich machte. Während somit die presbyteri in Rom sehr zahlreich vertreten waren, blieb die Anzahl der diaconi auf sieben beschränkt, je einer für jeden Kirchenbezirk54. Wie Hieronymus anmerkt, hat die geringe Zahl der diaconi deren Ansehen in der Stadtgemeinde erheblich gestärkt: „Alles, was selten ist, wird um so mehr begehrt ... Somit macht die geringe Zahl die diaconi ehrenwert, die Masse dagegen die presbyteri verachtenswert"55. Kommt den diaconi bereits durch ihre geringe Anzahl eine vorteilhaftere Position als den presbyteri zu, so wird ihr Einfluß in der römischen Stadtkirche durch ihre besondere Stellung als persönliche Mitarbeiter des episcopus noch zusätzlich gestärkt. In dieser Funktion kommt ihnen nämlich nicht nur eine wichtige Rolle bei der Verwaltung des Kirchenvermögens zu, sondern auch die einflußreiche Aufgabe eines bischöflichen Ratgebers bei wichtigen Entscheidungsfragen5'. Die genannten Faktoren haben dazu gefuhrt, daß das Diakonat in Rom schließlich zum mächtigsten Amt nach dem Episkopat werden konnte. Der Umstand, daß im 4. und 5. Jahrhundert viele Bischöfe Roms aus den diaconi gewählt worden sind, bringt diese römische Besonderheit sichtbar zum Ausdruck57. Im Bewußtsein ihrer einflußreichen Position innerhalb der römischen Stadtkirche haben die diaconi Bestrebungen entwickelt, ihr Amt auch ideell gegenüber den ihnen übergeordneten presbyteri aufzuwerten. So berichten Hieronymus und der Ambrosiaster von einem römischen diaconus58, der offen

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Karl Baus/Eugen Ewig, Die Reichskirche nach Konstantin dem Großen (HKG (J) 2,1), Freiburg/Basel/Wien 1973, S. 281. Zu den priesterlichen Aufgaben der presbyteri siehe Gaudemet, L' église dans 1' empire romain, S. 101.

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Pietri, Roma Christiana, S. 134f. Hieronymus, ep. 146,2, S. 311,7-9: omne, quod rarum est, plus adpetitur ... diaconos paucitas honorabiles, presbyteros turba contemtibiles facit. Nähreres zu den einzelnen Aufgaben des diaconus siehe bei Gaudemet, L ' église dans 1' empire romain, S. 102f. - Vom Recht der diaconi, Empfehlungen für die Auswahl der presbyteri auszusprechen, spricht Hieronymus in ep. 146,2 (S. 31 l,4f.): Sed dices: 'quomodo Romae ad testimonium diaconi presbyter ordinatur?' - Auch der Ambrosiaster weist auf diese Regelung hin (Qu. vet. et nov. test., 101,9, S. 197,20): 'Sed testimonio', inquit 'diaconi fit presbiter'. - Wie der Ambrosiaster hervorhebt, haben die diaconi dadurch großen Einfluß gewonnen: aut timentur enim, ne male suggérant, aut emuntur, ut praestent (aaO., S. 197,14f.).

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Vgl. Pietri, Roma Christiana, S. 694; Gaudemet, L' église dans 1' empire romain, S. 103. Aus dem Hinweis des Ambrosiaster, daß dieser diaconus „den Namen eines falschen Gottes" trägt (Qu. vet. et nov. test., 101,2, S. 194,6: ... qui nomen habet falsi dei ...), hat man gefolgert, daß diese namentlich nicht genannte Person mit dem römischen Diakon Mercurius oder Concordius identisch sein könnte. Siehe hierzu Domagalski, Bernhard, Römische Diakone im 4. Jahrhundert: Zum Verhältnis von Bischof, Diakon und Presbyter, in: Joseph G. PIöger/Hermann Joh. Weber (Hrsg.), Der Diakon: Wiederentdeckung und Erneuerung seines Dienstes, Freiburg 1980, S. 44-56, dort S. 46.

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die rangmäßige Gleichstellung der diaconi zu den presbyteri einforderte", indem er auch für die diaconi bestimmte Ehrenrechte verlangte, die den presbyteri aufgrund ihres höheren Ranges zukamen60. Diesen selbstbewußten Forderungen des römischen diaconus treten der Ambrosiaster und Hieronymus entgegen. Im Widerspruch zu den Diakonen vertreten sie dabei die Interessen der presbyteri, indem sie nun ihrerseits die Nähe der presbyteri zum episcopus betonen und dadurch die rangmäßige Differenz von presbyter und diaconus stärker hervortreten lassen61. Auch wenn ihre Intention dieselbe ist, so gehen sie bei ihrer Begründung jeweils unterschiedliche Wege. Hieronymus argumentiert auf der Basis exegetischer und historischer Argumente. Den Ausgangspunkt seiner Begründung bildet die Beobachtung, daß die neutestamentlichen Schriften den presbyter und den episcopus gleichermaßen als zentrales Amt der Gemeindeleitung ansehen62. Aus diesem Befund folgert er, daß die beiden Begriffe ursprünglich ein und dasselbe Amt bezeichnet haben. Die doppelte Terminologie erklärt er etymologisch. Danach zielt der Begriff presbyter eigentlich auf das fortgeschrittene Alter der Amtsträger, während der Begriff episcopus auf die Funktionen hinweist, die die Träger dieses Amtes ausüben63. Die Differenzierung von episcopus und presbyter zu zwei verschiedenen Ämtern ist dagegen erst Ergebnis eines späteren Beschlusses der Kirche, der angesichts der Gefahr aufkeimender Spaltungen notwendig geworden ist64. Da nun die Unterscheidung von episcopus und presbyter ledig59

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Vgl. Ambrst., Qu. vet. et nov. test., 101,2, S. 194,6-8: Quidam igitur, qui nomen habet falsi dei, dulce stultitia et ciuitatis Romanae iactantia leuitas sacerdotibus et diaconos presbiteris coaequare contendit, non dicam praeferre. - Hieronymus, ep. 146,1 (S. 308,3-5): audio quendam in tantam erupisse uaecordiam, ut diacones presbyteris, id est episcopis, anteferret. Welche Forderungen der diaconus im einzelnen erhoben hat, läßt sich aus den Aussagen des Hieronymus und des Ambrosiaster nicht genau rekonstruieren. Möglicherweise hat das Privileg der presbyteri, während des Gottesdienstes sitzen zu dürfen, eine Rolle gespielt. Vgl. Ambrst., Qu. vet. et nov. test., 101,2, S. 194,10-14. Domagalski, Römische Diakone, S. 48f. In ep. 146,1 (S. 308,3-311,3) führt Hieronymus hierzu verschiedene Belege an, die er in drei Gruppen unterteilt: a. Phil 1,1 und Act 20,28: Der Begriff episcopus begegnet hier im Plural, woraus Hieronymus folgert, daß der episcopus innerhalb der urchristlichen Gemeinden in der Mehrzahl vertreten war. - b. Tit 1,5-7: Hier wird der episcopus mit dem presbyter gleichgestellt, was Hieronymus als Beleg dafür wertet, daß diese beiden Ämter ursprünglich zusammenfielen. - c. 1 Tim 4,14; 1 Petr 5,lf.; 2 Joh 1; 3 Joh 1: Hier wird davon ausgegangen, daß ein oder mehrere presbyteri die führende Position innerhalb der Gemeindeleitung eingenommen haben. Vgl. Hieronymus, ep. 146,2, S. 31 l,16f.: presbyter et episcopus, aliud aetatis, aliud dignitatis est nomen. - Bereits in ep. 146,1, S. 309,20f. hat Hieronymus erläutert: quod quidem Graece significantius dicitur E7ttaK07te'U0vteg, unde et nomen episcopi tractum est. - Daß der Begriff presbyter auf 7cpeoßwEpo