Kindheitsjahre. Erinnerungen an Gjirokastra 1908-1927: Kommentierte Studienausgabe. Herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Basil Schader [1 ed.] 9783205214571, 9783205213055

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Kindheitsjahre. Erinnerungen an Gjirokastra 1908-1927: Kommentierte Studienausgabe. Herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Basil Schader [1 ed.]
 9783205214571, 9783205213055

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ZUR KUNDE SÜDOSTEUROPAS . Band II/46

ENVER HOXHA Kindheitsjahre Erinnerungen an Gjirokastra 1908 –1927 Kommentierte Studienausgabe

Herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Basil Schader

Z U R K U N DE SÜ DOS T EU ROPA S I I / 46 Herausgegeben vom Institut für Geschichte der Universität Graz , Fachbereich Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie Karl Kaser

Enver Hoxha

Kindheitsjahre. Erinnerungen an Gjirokastra 1908–1927 Kommentierte Studienausgabe Herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Basil Schader

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Familienfoto aus dem Archiv der Familie Hoxha. V.l. Sano Hoxha, Zihni Çuçi, Sado Gami, Großmutter mütterlicherseits Hasije Çuçi Açe, Enver Hoxha, Malo Gami, Zejnepe Gami. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien

Layout: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21457-1

Inhalt Vorwort von Karl Kaser   Einleitung   1. Zu Enver Hoxhas Kindheitserinnerungen  2. Zur kommentierten Studienausgabe  3. Entstehungsgeschichte der «Kindheitsjahre»; zwei Adressatenkreise  4. Historischer und biografischer Kontext der «Kindheitsjahre» und der Jahre ihrer Abfassung  4.a Die Jahre 1912–1927  

4.b Die Periode der Verschriftlichung der «Kindheitserinnerungen» (1968–1974)  

5. Gliederung und Aufbau  6. Zum Bildkonzept der Originalausgabe und der vorliegenden Übersetzung  7. Rezeption  8. Gattungstypologische Aspekte  9. Parallel- und Vergleichstexte, weitere Quellen  10. Zur Sprache der «Kindheitserinnerungen»  11. Chronologischer Überblick  11.a Zur albanischen Geschichte, Fokus Gjirokastra   11.b Zur Biografie von Enver Hoxha   12. Zur Aussprache des Albanischen  13. Literaturverzeichnis 

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Inhalt

Enver Hoxha: Kindheitsjahre. Erinnerungen an Gjirokastra  55 Anstelle eines Vorwortes (Nexhmije Hoxha)   58 Teil I: Burg-Stadt  Schätze der volkstümlichen Architektur  Durch Häuser und Gassen 

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Teil II: Kindheitsjahre  Ferne November  Meine Schulen  Heitere Schulausflüge  Unsere Vergnügungen  Eine Reise mit dem «Schmetterling» 

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Teil III: Einfache Menschen  Mit den Augen der Erinnerung  Die Bäcker der Stadtteile  Meister des Steins und des Eisens  Die Verachteten sind glücklich geworden  Schlag fröhlich die Stunden, alte Uhr 

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Vorwort Karl Kaser Zu Beginn des Jahres 1946, also 75 Jahre vor dem Erscheinen dieses Bandes, trat ein gewisser Enver Hoxha (1908–1985) als Vorsitzender einer provisorischen Regierung in Tirana vor die neu gewählte Verfassungsgebende Versammlung Albaniens, die die Monarchie abschaffte und eine Volksrepublik proklamierte. Auf der Grundlage einer im darauffolgenden März verabschiedeten Verfassung bildete Hoxha eine neue Regierung, in der er auch das Außen- und Verteidigungsministerium übernahm und die den Anbruch eines goldenen Zeitalters für Albanien und seine Bevölkerung versprach. Damit begann der lange Lebensabschnitt des damals in der internationalen Politik noch weitgehend unbekannten, siebenunddreißigjährigen Vorsitzenden der Albanischen Kommunistischen Partei als politischer und ideologischer Führer des kleinen Balkanlandes. Die Partei war erst wenige Jahre zuvor gegründet worden, das weitgehend muslimische Land war von der Unterdrückung durch eine kleine großgrundbesitzende Elite geprägt, aber die kommunistische Befreiungsideologie hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht Wurzeln in der Bevölkerung schlagen können. Der junge Hoxha als einer der wenigen kommunistischen Protagonisten des Landes bewies nicht nur politisches Geschick, sondern auch jene Portion an bedingungslosem Durchsetzungsvermögen, die ihm binnen kurzer Zeit sowohl den Durchbruch an die Spitze von Partei und Staat als auch die Etablierung einer rigiden und – wie viele meinen – fatalen Entwicklungsdiktatur ermöglichte. *** Albanien war ein kleines und rückständiges Land, das ohne internationale Hilfe nicht lebensfähig war, als es sich 1912 nach einem halben Jahrtausend vom Osmanischen Reich lossagte. War es bis zum Ende des Ersten Weltkriegs vom Habsburgerreich abhängig, ging es in der Zwischenkriegszeit in die politische und wirtschaftliche Einflusssphäre Italiens über, wurde am Karfreitag des Jahres 1939 besetzt, in das faschistische Königreich Italien integriert und von einem Statthalter regiert. Nach der italienischen Kapitulation im September 1943 rückten deutsche Truppen aus dem besetzten Jugoslawien und Griechenland nach, schlossen den großteils von albanischer Bevölkerung bewohnten Kosovo an und versprachen dem so geschaffenen Großalbanien eine pro forma unabhängige Regierung. Allerdings war auch die deutsche Militärpräsenz nur von kurzer Dauer, denn im Herbst 1944 setzte ihr Rückzug aus den Balkangebieten ein, so auch Ende November desselben Jahres aus Albanien.

8Vorwort

Widerstand und Neugründung Albaniens unter Hoxha Neben vielen Kollaborateuren, die mit der italienischen Besatzungsmacht zusammen­ arbeiteten, formierten sich allerdings auch Widerstandsgruppen, die nur phasenweise miteinander, je mehr es dem Kriegsende zuging jedoch zusehends gegeneinander kämpften. Entscheidend für die Zukunft des Landes sollte die Nationale Befreiungsfront unter Führung der noch jungen Kommunistischen Partei werden. Albanien war ein Agrarland mit einem Anteil von etwa 85 % an landwirtschaftlicher, großteils illiterater Bevölkerung und einigen wenigen großgrundbesitzenden Familien, die sich das fruchtbare Land untereinander aufgeteilt hatten und bis dahin eine gerechtere Bodenverteilung verhindern konnten. Dementsprechend gab es zwar ein umfangreiches ländliches Proletariat, an einer klassischen Arbeiterklasse als Basis für kommunistische Aktivitäten hingegen fehlte es vollkommen. Die Schriften von Marx, Engels und Lenin waren noch nicht ins Albanische übersetzt worden. Dementsprechend gab es nicht mehr als etwa ein Dutzend junger, gebildeter kommunistischer Aktivisten, die teilweise untereinander rivalisierend den Kern der späteren politischen Macht bilden sollten. Zu diesen zählte der zu Kriegsbeginn etwa dreißigjährige Hoxha, der einer Kaufmannsfamilie im Süden des Landes entstammte und 1930 mithilfe eines staatlichen Stipendiums das Studium der Botanik im französischen Montpellier begann, ohne dieses jedoch abzuschließen. 1936 kehrte er nach Albanien zurück, unterrichtete als Lehrer, kam mit verstreuten kommunistischen Widerständlern in Kontakt und wurde 1940/41 Mitglied der kommunistischen Zelle in Tirana. Die Gründung einer einheitlich ausgerichteten Albanischen Kommunistischen Partei, an der Hoxha entscheidend mitwirkte, erfolgte im November 1941. Dies gelang unter maßgeblicher organisatorischer und ideologischer Mitwirkung von jugoslawischen Genossen, die sowohl die Gründung als auch den Auf bau einer breiten Volksfront nach jugoslawischem Vorbild, die neben den Kommunisten möglichst viele Widerstandskräfte bündeln sollte, begleiteten. Diese albanisch-jugoslawische Achse sollte über den Krieg hinaus bestehen bleiben und eine wichtige Komponente für den Aufstieg Hoxhas bilden. Hoxha erwies sich als geschickte Führungspersönlichkeit mit Organisationstalent. Er gründete 1942 die Parteizeitung «Volksstimme», wurde 1943 Generalsekretär der rasch anwachsenden Partei und im Mai  1944 zum politischen Kopf der Antifaschistischen Nationalen Befreiungsarmee ernannt, die sich den anderen Widerstandsgruppen gegenüber als organisatorisch und zahlenmäßig überlegen erwies. Dazu trug nicht nur bei, dass ihr Programm der sozialen Gerechtigkeit für rechtlose junge Landarbeiter attraktiv war. Bedeutsam war, neben der Unterstützung durch die jugoslawischen Kommunisten, insbesondere auch jene durch Großbritannien, das sowohl die jugoslawische als auch die albanische Partisanenarmee logistisch und mit Waffenlieferungen in ihrem Kampf gegen die italienischen und deutschen Besatzungstruppen unterstützte.

Vorwort9

Die Befreiungsarmee hatte aufgrund dieser breiten Basis vergleichsweise leichtes Spiel, sich gegen den restlichen Widerstand durchzusetzen und im Gefolge der abziehenden deutschen Truppen am 28. November 1944 Tirana zu besetzen. Hoxha hatte bereits im Vormonat das Amt des Ministerpräsidenten einer provisorischen Regierung übernommen und nutzte das Jahr bis zu den ersten Wahlen Anfang Dezember 1945, um klare Verhältnisse zu schaffen. So wurde jeglicher politische Widerstand im Rahmen eines umfassenden Schauprozesses gebrochen, der Großgrundbesitz enteignet und das Land an Besitzlose verteilt. Die Wirtschaft wurde zum Großteil verstaatlicht und eine zentrale Wirtschaftslenkung nach jugoslawischem und sowjetischem Muster installiert. Die Wahlen bildeten dann lediglich ein unverblümtes Bestätigungsritual für die Alleinherrschaft der «Albanischen Kommunistischen Partei», die sich bald darauf in «Partei der Arbeit Albaniens» umbenannte, um den jugoslawischen Bündnisgenossen gegenüber nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, dass sich die Partei auch für den Kosovo, der wieder von Albanien getrennt und mit Jugoslawien vereint worden war, zuständig fühlte. Von beinahe hundertprozentiger Zustimmung getragen, trat am 10.1.1946 in Tirana die besagte Verfassungsgebende Versammlung zusammen, die definitiv Weichen für die kommunistische Einparteienherrschaft stellte. Die neue Regierung unter Hoxha sah sich mit zwei nur schwer zu lösenden Problemen konfrontiert. Das erste bildete ihre internationale Anerkennung. Diese war unschwer vonseiten Jugoslawiens, der Sowjetunion und ihrer Verbündeten zu erlangen, nicht jedoch von den westlichen Alliierten, die die staatsstreichartige Machtübernahme durch die Kommunisten missbilligten. Hoxhas Albanien wurde etwa von den USA, Großbritannien, aber auch von der BRD nie und vorläufig auch nicht vom benachbarten Griechenland anerkannt. Vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Griechenland (1946–1949) zwischen einer von Großbritannien gestützten Regierung und kommunistischen Aufständischen, die an die Macht drängten, hatten die USA im März 1947 die Truman-Doktrin verkündet, in deren Folge US-amerikanische Truppen aufseiten der griechischen Regierung in die Kämpfe, die sich auch unweit des griechisch-albanischen Grenzgebiets entfalteten, eingreifen sollten. Während sich im Rah­­men des aufziehenden Kalten Krieges Albaniens Beziehungen zu den westlichen Mächten, die die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern suchten, drastisch verschlechterten, sollte im Jahr darauf selbst der wichtigste Bündnispartner, Jugoslawien, verlorengehen, wodurch ständig frisches Wasser auf das Mühlrad einer sich abzeichnenden Isolationspolitik zu sprudeln begann. Das zweite Problem bildete die rasche Transformation des landwirtschaftlich geprägten Landes in eine Industrienation.

10Vorwort

Stalinistische Entwicklungsdiktatur Während die Regierung Hoxha die internationale Lage des Landes mithilfe der diplomatischen Unterstützung der Sowjetunion einigermaßen stabilisieren konnte, blieb die innenpolitische Lage unübersichtlich und von parteiinternen Rivalitäten über den einzuschlagenden Kurs geprägt. Albaniens Gesellschaft war rückständig, agrarisch strukturiert, arm, illiterat und stark patriarchalisch ausgerichtet. Die albanischen Kom­­munisten waren angetreten, um das Land binnen kurzer Zeit in ein modernes, säkulares sozialistisches Industriestaatsparadies umzugestalten. Religiöse Bindungen, traditionelle Familienwerte, das uralte Gewohnheitsrecht, ungleiche Besitzverhältnisse, die Unterwerfung der Frauen – dies alles wurde alsbald von der allein regierenden Partei infrage gestellt. Diese Radikalität rief allerdings viel Unverständnis und vor allem auch entschiedenen Widerstand seitens der Bevölkerung hervor. Eben noch im Zuge der Agrarreform mit Grund und Boden versehen, wurden die Kleinbauern mit der Forderung nach Vergenossenschaftlichung ihres Besitzes konfrontiert. Die albanische Führung ging kompromisslos vor und sah in der stalinistischen Gewalt- und Modernisierungspolitik der 1930er-Jahre ihr Vorbild: radikale Unterdrückung jeglichen bäuerlichen Widerstands, um der Mechanisierung zum Durchbruch zu verhelfen. Die totale Vergenossenschaftlichung und teilweise Verstaatlichung von Grund und Boden sollten das rückständige Bauerntum in ein modernes, aufstrebendes landwirtschaftlich-industrielles Proletariat umwandeln und die durch Rationalisierungsmaßnahmen freigesetzten Männer und Frauen zur Industriearbeiteravantgarde der sozialistischen Gesellschaft aufsteigen lassen. Unter dem Deckmantel von Fortschritt und Modernisierung etablierte die Partei eine Entwicklungsdiktatur, die in ihrer Kompromisslosigkeit zwar dem stalinistischen Terror der 1930er-Jahre, jedoch keinem anderen sozialistischen Land in Osteuropa vergleichbar war. Tausende von Menschen, hauptsächlich Männer, denen oft obskure Vergehen vorgeworfen wurden, verschwanden oft für viele Jahrzehnte in Arbeitslagern, wo sie unter primitivsten hygienischen und sozialen Bedingungen kräftezehrende Arbeiten zum «Auf bau des Sozialismus» zu leisten gezwungen wurden. 1967, als das Land sich bereits an das maoistische China angelehnt hatte, wurde eine albanische Version der chinesischen Kulturrevolution ausgerufen. Als eine ihrer drastischen Maßnahmen wurde jegliche öffentliche und private Ausübung der Religion untersagt, Sakralbauten wurden zerstört oder anderen Zwecken, etwa der Nutzung als Industrie- und Sportstätten, zugeführt und das religiöse Personal verhaftet, zur Zwangsarbeit verurteilt oder getötet. Als Abschluss der atheistischen Kampagne wurde das Land zum ersten atheistischen Staat der Welt erklärt. Bekannte Künstler wurden wegen ideologischer Abweichungen ins Gefängnis gesteckt, Männern das Tragen von Bärten und langem Haar verboten. Jegliches Privateigentum an Produk­ tionsmitteln wurde im Sinne der Vollkollektivierung von Handwerk und Gewerbe abgeschafft. Im Sinne der «umfassenden Revolutionierung des gesamten Lebens» war

Vorwort11

bereits im Jahr zuvor das Justizministerium, da ein solches in einer sozialistischen Gesellschaft nicht mehr notwendig sei, abgeschafft und waren dessen Agenden dem Innenministerium übertragen worden. Derartig radikale Maßnahmen wurden weder in der Sowjetunion noch in ihren osteuropäischen Satellitenstaaten ergriffen, lösten dort Irritationen aus und verstärkten die sich bereits seit einiger Zeit abzeich­nende Isolation des Landes.

Weg in die internationale Isolation Die überstürzte Industrialisierungspolitik des Hoxha-Regimes führte das Land in die paradoxe Situation, dass es außer an Arbeitskräften an allem mangelte, was zur Umsetzung seiner entwicklungsdiktatorischen Maßnahmen Voraussetzung gewesen wäre: Fachkräfte für beinahe jeden Bereich, Ausbildungs- und Produktionsstätten, Maschinen, Fabriken, Infrastruktur, Eisenbahnen, Straßen, Brücken und vor allem Staatskapital – die einzig verbliebene Kapitalquelle des Landes. Als ärmstes Land des Ostblocks konnte die neue Führung zwar auf die internationale sozialistische Solidarität pochen, aber diese sollte, wie sich bald herausstellte, politischen Konjunkturen unterworfen sein. Der schwer nachvollziehbare außenpolitische Kurs des Landes ist nur unter dem Prätext der angedeuteten überhasteten Entwicklungsmaßnahmen, denen es an finanzieller Begleitung fehlte, zu verstehen, denn ohne wohlwollende Unterstützung von potenten Geberländern waren sowohl das Land ökonomisch als auch die Partei politisch bald nicht mehr überlebensfähig. Solche Allianzen bargen allerdings auch Gefahren in sich, die Hoxha und seine Berater offenbar unterschätzten. Jugoslawien war der erste in der Reihe von Gönnerstaaten, der Albanien allerdings als zukünftigen Teil einer jugoslawisch-bulgarischen Balkanföderation einstufte und ab 1946 auf gutem Weg war, Albanien zu einem jugoslawischen Bundesstaat zu degradieren. Das Nachbarland leistete einen beträchtlichen Beitrag zum albanischen Staatsbudget, bestand jedoch im Gegenzug darauf, dass Währung und Wirtschaftsstruktur an die jugoslawischen Verhältnisse angepasst würden. Dies alles geschah anfänglich unter ausdrücklicher Billigung Stalins, bis es Mitte 1948 zum ideologischen und außenpolitischen Bruch zwischen Stalin und Tito kam. In dieser unerwarteten Konfrontation blieb Hoxha nichts anderes übrig, als den «imperialistischen Kurs» Jugoslawiens gegenüber Albanien zu verurteilen und sich zum Lager Stalins zu bekennen. Während in Jugoslawien Stalinisten massiven Verfolgungen ausgesetzt waren, wurden in Albanien «Titoisten» verfolgt und hingerichtet. Nun sorgten jedoch die Sowjetunion, aber auch ihre Verbündeten, für regelmäßige hohe zins- oder rückzahlfreie Kredite, Waren- und Getreidelieferungen sowie für die Ausbildung von Fachkräften und Studierenden. Komplette Industrieanlagen wurden geliefert, die von mitgeschickten Fachkräften errichtet, aber zumeist nie zur Gänze in

12Vorwort

Betrieb genommen werden konnten, weil es an wichtigen Voraussetzungen im Land mangelte. Niemand geringerer als Stalin selbst warnte Hoxha mehrmals davor, die Landwirtschaft und die damit in Zusammenhang stehende Konsumgüterindustrie zugunsten der Schwerindustrie zu vernachlässigen, aber dies beeindruckte die albanische Führung nicht. Als die Sowjetunion 1959/60 ihren Vorstellungen von Albanien als Agrarland in Form der Verweigerung von Getreidelieferungen Nachdruck verlieh, schwenkte Albanien abrupt auf ein Bündnis mit China um, das gerade in eine tiefe ideologische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion geraten war. Dieser abenteuerliche Kurswechsel schien sich anfänglich zu rechnen, denn das alte Spiel wiederholte sich nun. China zahlte in den albanischen Budgettopf, lieferte Fabrikanlagen und stellte Kredite und Berater und Beraterinnen zur Verfügung. Es kam allerdings der Punkt, als China die Rückzahlung von Krediten verlangte (1975), wovon sich Hoxha und sein Politbüro überrascht zeigten und dies mit der neuen «verräterischen» und «imperialistischen» Politik Chinas begründeten. Der Hintergrund war, dass nach geheimen Vorbereitungen durch seinen Außenminister Henry Kissinger der US-amerikanische Präsident Richard Nixon 1972 China besucht und damit eine Normalisierung der Beziehungen der beiden verfeindeten Großmächte eingeleitet hatte. Somit hatten beide Seiten – der kommunistische Goliath China und der exzentrische David Albanien – ausreichend Grund, in den ideologischen Boxring zu steigen und das Ende des chinesisch-albanischen Bündnisses zu begründen. Was nun nach drei gescheiterten Allianzen vonseiten der albanischen Staats- und Parteiführung mit Hoxha an der Spitze folgte, kann entweder nur mit ideologischer Verblendung oder völliger Verkennung der Lage, in die sie das Land manövriert hatte, begründet werden. Vermutlich war das Zusammenwirken beider Faktoren für diese kollektive Fehleinschätzung maßgeblich. 1976 legte die albanische Führung fest, dass das einzige stalinistische und somit einzig wahre sozialistische Land der Welt keine ausländischen Kredite mehr aufnehmen und nur mehr so viel importieren dürfe, wie es zu exportieren imstande war. Neben einigen wenigen seltenen Rohstoffen waren allerdings kaum albanische Produkte, schon gar nicht Fertigprodukte, wettbewerbsfähig, was zur Folge hatte, dass immer weniger Konsumgüter importiert werden konnten. Der neue Kurs sollte deutlich zutage fördern, was sich in den Jahrzehnten zuvor bereits manifestiert hatte, nämlich dass das Land nicht in der Lage war, nachholende Entwicklungspolitik aus sich heraus zu schaffen – selbst nicht unter Konsumverzicht und äußersten Gewaltmaßnahmen durch das nach wie vor sich stalinistisch nennende Regime. Am Ende der 45-jährigen sozialistischen Ära litt die Bevölkerung an Hunger, an ärztlicher Unterversorgung, an der Unterdrückung ihrer ohnedies bescheidenen Kon­ sumbedürfnisse und am Glauben an eine Zukunft des Landes. Die geschenkten Indus­ trieanlagen und die Versprechungen der Partei waren nichts mehr wert, und die jungen Menschen verließen auf der Suche nach einer Existenzgrundlage in Scharen das

Vorwort13

Land  – vornehmlich in Richtung Italien und Griechenland. Nach verlorenen Jahrzehnten stand das Land wieder am Anfang – dort wo Hoxha vor 75 Jahren den Anbruch eines goldenen Zeitalters verkündet hatte. *** Manche werden sich fragen, ob es sinnvoll ist, die Kindheitserinnerungen des kommunistischen Diktators, der dies alles letztlich zu verantworten hatte, aber den Untergang seines Regimes nicht mehr erleben musste, zu veröffentlichen, zumal in Albanien mit der kommunistischen Vergangenheit mittlerweile hart abgerechnet wird. Sämtliche erinnerungskultische Artefakte Enver Hoxhas wurden aus dem öffentlichen Raum entfernt; die Erinnerung an ihn sollte dem Vergessen weichen. Wenn nun ein Schweizer Albanologe, von einem österreichischen Buchreihenherausgeber unterstützt, die in albanischer Sprache seit 1983 vorliegenden Kindheitserinnerungen Hoxhas in deutscher Übersetzung publiziert, dann mutet dies nach einem Akt des Revisionismus an. Soll dem vor beinahe vier Jahrzehnten verstorbenen Diktator im Ausland neues Leben eingehaucht werden? Dies wäre ein abwegiges Unterfangen und einer seriösen Wissenschaft unwürdig. Der Anstoß zur Publikation der Kindheitserinnerungen ist vielmehr ein anderer, ein ganz und gar unpolitischer. Es können nämlich zwei gerechtfertigte Erkenntnisinteressen mit dieser Publikation befriedigt werden. Erstens wissen wir aufgrund der nur mäßig verbreiteten Schriftlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhun­ derts wenig über das Alltagsleben in den südalbanischen Kleinstädten Bescheid. Hoxhas Kindheitserinnerungen können als alltagsgeschichtliche Quelle nicht einfach deshalb ignoriert werden, weil er Albanern und Albanerinnen und seinem Land großes Leid zugefügt hat. Diesen Ausschließungsgrund auf andere Länder und Zeiten übertragend, würde erkleckliches Quellenmaterial der Forschung verwehrt bleiben, was aus gutem Grund nicht gelebte Praxis ist. Wir können daher nicht bloß wegsperren, sondern müssen das, dessen wir habhaft werden können, kritisch beurteilen. Für die Beurteilung dieser Quelle gilt, was für alle Quellen, egal welcher Provenienz, vorgesehen ist – sie muss historisch-kritisch und stets die Position des Verfassers reflektierend analysiert werden. Zweitens können wir Texte, die uns helfen, die psychische Binnenstruktur von historischen Akteuren und Akteurinnen zu erschließen, nicht einfach ignorieren. Im Gegenteil, die Geschichtswissenschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten mit Vehemenz versucht, sogenannte Egodokumente, wie sie Tagebücher und Erinnerungswerke darstellen, zu sammeln, zu publizieren und auszuwerten. Auch diesbezüglich gilt der Grundsatz, dass politisch unliebsame Provenienz kein Ausschließungsgrund sein darf. Die beinahe unerzählbare Geschichte des Holocaust wäre ohne Berücksichtigung der Sichtweise der verbrecherischen Täter kaum erschließbar. Wir wissen, dass Erinnerungen nicht als Wahrheitszeugnisse aufzufassen sind, sondern ein Resultat eines zumeist langen Lebens sowie soziopolitischer und kulturspezifischer Fakto-

14Vorwort

ren darstellen. Selbstverständlich hat der Staats- und Parteiführer die vorliegenden Erinnerungen verfasst und nicht der bloße Mensch Enver Hoxha, und klarerweise wurden seine Schriftstücke von außenstehender Hand überarbeitet und redigiert. Die Erinnerungen, wie sie vorliegen, weisen aber unzweifelhaft authentische Verknüp­ fungen zur historischen und nicht nur zu einer ideologisch-fiktionalen Realität auf. Auf die ihm als angemessen erscheinende Art und Weise erklärt uns der politische Führer Hoxha seine Kindheit, seine Eltern und Verwandten, seine Nachbarn und die sozioökonomischen Zustände im Gjirokaster des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts. Er selektiert, scheidet das ihm unwichtig Scheinende vom Wichtigen, er bewertet manchmal subtil, manchmal aufdringlich. Hoxhas Kindheitserinnerungen in deutscher Sprache erscheinen somit nicht in einem politischen, sondern in einem seriösen wissenschaftlichen Kontext. Dazu gehört die möglichst textgetreue Übertragung vom Albanischen in das Deutsche ebenso wie die akribischen Fußnoten und Kommentare. Beides wurde in sprichwörtlicher Schweizer Präzisionsarbeit von Basil Schader ins Werk gesetzt, wofür ihm zu danken ist. Graz und Piran im Mai 2021

Einleitung

1. Zu Enver Hoxhas Kindheitserinnerungen Enver Hoxhas «Kindheitsjahre» beschreibt die Erinnerungen des ehemaligen albanischen Partei- und zeitweiligen Regierungschefs an seine Kindheit in der südalba­ni­ schen Stadt Gjirokastra in den 1910er- und 20er-Jahren. Im Gegensatz zum Großteil der überaus reichen, meist aber klar politisch fokussierten publizistischen Produktion Hoxhas umfassen die «Kindheitsjahre» eine breite thematische Palette. Unter anderem bietet das Buch einen Einblick in die Vor- und Frühgeschichte des eben erst (1912) gegründeten Staates Albanien, gibt detaillierte Informationen zur Stadt Gjirokastra und zum dortigen Schulwesen und ist bedeutsam als ethnographische Quelle zur Volks-, Kinder- und musikalischen Kultur wie auch zur damaligen Lebensweise vorzugsweise der unterprivilegierten Schichten. Gleichzeitig vermitteln die «Kindheitsjahre» einen authentischen Einblick in das Aufwachsen, das Familienleben und die kindliche Lebens- und Gedankenwelt des nachmaligen politischen Führers Albaniens. Dadurch stellt das Buch einen wichtigen Referenztext zu dessen Herkunft und früher Biografie und zu seinem vertieften Verständnis dar. Durch ihre Informationsfülle, die Engagiertheit und Emotionalität der Darstellung und die Vielzahl an oft witzigen Anekdoten werden die «Kindheitsjahre» zugleich zu einer unterhaltsamen und anregenden Lektüre. Dazu mag beitragen, dass der behandelte Zeitraum – die Jahre von 1908 bis 19271 – eine Phase im Leben des Autors umfasst, in der zwar Ereignisse der Tagespolitik und des nur kurz zurückliegenden Unabhängigkeitskampfs hoch präsent waren, in der sich aber die ideologischen Implikationen in altersbedingt engem Rahmen hielten. Die «Kindheitsjahre» haben, wie ihr Verfasser selber schreibt, «eher einen persönlichen Charakter und stammen aus einer Zeit, in der ich noch kein revolutionäres Bewusstsein gewonnen hatte» (siehe S. 70). Zu den Besonderheiten des Buchs zählt das ausgeprägte Interesse des Autors an ethnologischen und kulturgeschichtlichen Themen (Gesang, Kinderspiele, Handwerk etc.). Bemerkenswert ist auch sein starkes Engagement für den sorgsamen Umgang mit den historischen Bauwerken und für eine verantwortungsvolle neue Architektur. 2 Die 1 Genauer wäre wohl 1912–1927, da Hoxhas erste eigene Erinnerungen kaum vorher eingesetzt haben dürften. Durch die in der Familie und Bevölkerung noch sehr gegenwärtigen und auch in den «Kindheitserinnerungen» immer wieder thematisierten Erinnerungen an die Zeit des Widerstands gegen das osmanische Reich und an die Staatsgründung erweitert sich der Erinnerungsraum allerdings bis in die 1870-er Jahre. 2 Siehe S.  79 ff., 91 ff. und 102 sowie Nexhmije Hoxha 2001, S. 92–96. Gut denkbar ist, dass dieses Engagement auch im Kontext des Kampfs gegen «fremde Erscheinungen» und Liberalismus

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Detailliertheit und Genauigkeit der Aufzeichnungen lassen die «Kindheitsjahre» denn auch zum wertvollen kulturgeschichtlichen und ethnographischen Quellen- und Referenztext werden. Grundlage dafür waren fraglos das offenbar legendäre Gedächtnis des Autors und die ausgeprägt visuelle Orientierung dieses Gedächtnisses, wie sie sich unter anderem in der detaillierten Beschreibung der Fenster und weiterer Details der Häuser von Gjirokastra spiegelt. 3 Hoxha äußert sich selbst hierzu wie folgt: «Erinnerungen sind für mich etwas von hoher Bedeutung. Sie tauchen in meinem Kopf auf, als hätte ich sie fotografiert und ordnen sich dort wie in einem schön gestalteten Album  – so wie ich das Gjirokastra meiner Kindheit und Jugend vor Augen habe.» (S. 95). Im Zitat tritt zugleich eine zweite Besonderheit des Buchs zu Tage, nämlich dessen hohe Emotionalität.4 Positiv äußert sich diese in ästhetischer Hinsicht als Liebe zu seinem Geburtsort und dessen Architektur, in sozialer Hinsicht vor allem als Ausdruck der engen Beziehung zu unterprivilegierten Gruppen (vgl. hierzu v.a. Teil 3, «Einfache Menschen»). Negativ spürbar wird diese Emotionalität, wenn es um die Brandmarkung architektonischer und urbanistischer Fehlentscheide geht (siehe oben), vor allem aber dort, wo – teils explizit, teils mit dem Stilmittel der Ironie – die Vertreter der religiösen Klasse als Parasiten und Verdummer des Volks und jene der besitzenden Klasse (Agas, Bejs, Ahmet Zogu und seine Anhänger) als dessen Ausbeuter gebrandmarkt werden. 5 Erinnerungen sind immer selektiv, und neben Elementen der Rekonstruktion umfassen sie stets auch solche der Konstruktion und retrospektiven Selbstdarstellung oder ‑stilisierung. Die durch Goethe für Memoiren und Autobiografien programmatisch gewordene Formel «Dichtung und Wahrheit» (in neuerer Terminologie: Fiktion/ Konstruktion und/vs. Wahrhaftigkeit)6 gilt natürlich auch für Hoxhas «Kindheitsjahre». So stehen – als Beispiele für den selektiven Charakter – der fast fotografisch genauen Darstellung von Gebäuden oder Werkstätten z. B. Lücken hinsichtlich der Datierung des Hausbrandes und der Wohnorte der Familie Hoxha in verschiedenen Vierteln von Gjirokastra gegenüber (siehe unten Kap. 11b und S. 111, 254 f., 274). Und





verstärkt wurde, der zur Zeit der Verschriftlichung der «Kindheitsjahre» die politische und ideologische Diskussion beherrschte (siehe unten Kap. 4b). 3 Zum Interesse Enver Hoxhas an ethnologischen Themen siehe S. 60 und das Kapitel «Bewunderer der volkstümlichen Traditionen» in Nexhmije Hoxha 2001, S. 79–96; zu seinem phänomenalen Gedächtnis ebd. S. 309. Eine starke Visualität des autobiografischen Gedächtnisses ist lt. Wagner-Egelhaaf 2005, S. 88, ein oft zu beobachtendes Phänomen. 4 Vgl. hierzu auch Keta/Sima 1985, S. 24 f. und Kalo 2019, der S. 561 die echte Freude und Spontaneität Enver Hoxhas anläßlich von dessen Besuch in Gjirokastra im März  1978 beschreibt. Vgl. auch S.  64  f. 5 Zu negativen Äußerungen gegenüber religiösen Würdenträgern siehe S. 102, 162 f., 2111 etc.; zu solchen gegenüber Agas, Bejs, Ahmet Zogu und seinen Anhängern S. 76 f., 176, 253, 269. 6 Vgl. Wagner-Egelhaaf 2005 und 2017 passim.

Zur kommentierten Studienausgabe17

wenn sich der Autor als schon in frühen Jahren dezidiert religionskritisch charakterisiert und sein Engagement für Arme, Ausgebeutete und Randgruppen wie die «Ägypter» betont, spielen fraglos auch Momente der Selbstkonstruktion und -stilisierung mit bzw. werden, beinahe im Sinne der Präfiguration, Topoi aktiviert, die schon die Kindheit des Autors in einen stringent sozialistisch orientierten Lebensentwurf integrieren. Dass dies aus der Feder der politischen und ideologischen Leitfigur des sozialistischen Albanien nicht erstaunt, liegt auf der Hand; dasselbe gilt für jene Passagen, in denen Hoxha die Verdienste der Partei der Arbeit Albaniens um den Auf bau des Landes und um die Wohlfahrt der Menschen betont und sie mit den Verhältnissen während seiner Kindheit vergleicht.7 Naiv wäre jedenfalls, den historischen Kontext der Aufzeichnung der Erinnerungen  – die Jahre 1968–1976  – und die damals ideologisch dominanten The­­men nicht mitzubedenken (siehe hierzu unten Kap. 4.b). Ebenso darf nicht vergessen gehen, dass Enver Hoxha auch als Memoirenschreiber immer in der Rolle des Vordenkers und «Volkserziehers» stand und diese Rolle auch wahr- und ernstnahm. Angesichts des in den «Kindheitserinnerungen» beschriebenen Altersausschnitts und der inhaltlich-ideologischen Unverfänglichkeit weiter Passagen des Buchs (z. B. der stark ethnographisch orientierten Kapitel zu Kinderspielen oder zu labischem Gesang, aber auch zu Architektur und Schulwesen) dürften sich die retrospektiven Konstruktionen freilich sehr in Grenzen halten.8 In der Stratigraphie des Textes lassen sich die eigentlichen Kindheitserinnerungen und die a posteriori – rund 50 Jahre später – erfolgten ideologischen Kommentare und Ergänzungen jedenfalls problemlos unterscheiden; letztere dürften etwa 5 % des Textes ausmachen. Zum Schicksal des Buches gehört, dass es ohne diese 5 % und mit einem anderen Autorennamen heute fraglos eine angemessenere Würdigung erfahren würde; siehe hierzu unten bei «Rezeption».

2. Zur kommentierten Studienausgabe Die vorliegende Ausgabe will Enver Hoxhas unter verschiedenen Aspekten bedeutsame «Kindheitserinnerungen» als Quellen- und Referenztext für die betreffenden Fachdisziplinen (Balkanwissenschaften, Albanologie, Ethnographie, Kindheitsfor­ schung, Biographik etc.) wie auch für ein breiteres interessiertes Publikum im deutsch 7 Explizit werden die Verdienste der Partei um die Entwicklung des albanischen Staats elfmal hervorgehoben (S. 70, 111, 131, 218, 251, 253, 289, 292 f., 295, 298, 299), besonders markant z. B. S. 251: «Wie sehr hat die Partei doch Albanien verwandelt! (…) Die Partei hat die Armen an die Macht gebracht und sie zu den Herren des Landes gemacht.» In untergeordneten Zusammenhängen (z. B. «Kice (…) ist Mitglied der Partei», S. 280 f.), erscheint der Begriff 51x. Der Begriff Kommunismus taucht zweimal auf (S. 196, S. 238), der Begriff Sozialismus und das Adjektiv sozialistisch fünf- bzw. siebenmal. 8 In diesem Sinne meint auch der sonst eher skeptische Fevziu (2016, S. 13) «(…) they [die «Kindheitserinnerungen, BS»] sound nonetheless sincere». Siehe hierzu unten Kap. 7.

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sprachigen Raum zugänglich machen. Angesichts der geographischen, zeitlichen und kulturellen Distanz des Textes war dabei zur Unterstützung des Verständnisses eine Vielzahl von Fußnoten zur Klärung historischer, architektonischer, kulinarischer, botanischer und vieler weiterer Sachverhalte unerläßlich. Dem Ziel einer besseren Kontextualisierung und Verständlichkeit dienen neben dem Vorwort von Karl Kaser auch die Einleitung und die kurzen Übersichten zur Zeitgeschichte und zur Biografie von Enver Hoxha. Einen Schwerpunkt legt die Einleitung auf die Entstehungs- und Re­ zeptionsgeschichte der «Kindheitsjahre», auf Parallel- und Vergleichstexte und auf gattungstypologische Fragen; untersucht werden sodann einige sprachliche Aspekte des Buchs. Auf Wertungen und ausgreifende inhaltliche Interpretationen wird dezidiert verzichtet; die Leserinnen und Leser werden ihre Gedanken und Einschätzungen zu den sie interessierenden thematischen Aspekten selbst anstellen. Nicht eingegangen wird auch auf die ausufernde Polemik im Kontext von Enver Hoxha, die im Internet und in der albanischen Literatur teilweise groteske Blüten treibt. Durch ihren großteils von contra- und proenveristischen Ressentiments, von Selbstlegitimation und aben­ teuerlicher Geschichtsklitterung geprägten Charakter trägt sie wenig zur Klärung der Fragen bei, die eine seriöse Aufarbeitung durchaus verdienen würden; vgl. hierzu das ­K apitel «Rezeption». Zu ergänzen bleibt immerhin, dass an der Autorschaft und Authentizität der «Kindheitserinnerungen» von keiner Seite je Zweifel geäußert ­w urden. In verschiedener Hinsicht wären vertiefte Untersuchungen möglich und wünschbar, hätten aber den Rahmen der vorliegenden Textedition gesprengt. Direkt auf das Werk bezogen betrifft dies u.a. die Klärung einiger biografischer, geografischer und weiterer Details (z. B. Wohnorte der Familie, siehe oben), die in Kooperation mit den albanischen Archiven zu leisten wäre. Nicht möglich war leider auch ein Vergleich der Druckausgabe von 1983 mit den originalen Manuskripten, über deren Verbleib, vermutlich im staatlichen Zentralarchiv, nichts zu erfahren war (siehe unten). Neben diese direkt auf den Text bezogenen weiterführenden Recherchen treten natürlich zahlreiche vertiefende Fragestellungen und Vergleiche, wie sie sich je nach fachlichem Fokus oder Interesse der Lesenden ergeben. Die Übersetzung hält sich, wie bei Quellenwerken üblich, möglichst eng an den Originaltext. Auch wenn Texttreue damit über literarische Qualität gestellt wurde, waren Eingriffe vor allem im Bereich der Syntax unerläßlich, um die teilweise überlangen albanischen Perioden in eine auch auf Deutsch lesbare Form zu bringen. Probleme mit der Mehrdeutigkeit mancher albanischen Begriffe stellten sich schon beim Titel des Buches, Vite të vegjëlisë: «Vegjëli» – das Substantiv zum Adjektiv «i/e vogël» (klein) – bedeutet «Kleinheit» im doppelten Sinne von altersmäßiger (Kindheit) und sozialer Kleinheit (die kleinen = armen Leute). Im vorliegenden Falle ist fraglos primär Ersteres gemeint. Das Mitschwingen der zweiten Nuance dürfte indes auch aus ideologischen Gründen durchaus intendiert und willkommen gewesen sein und trug

Entstehungsgeschichte der «Kindheitsjahre»; zwei Adressatenkreise19

wohl dazu bei, dass der Autor für «Kindheit» nicht die sonst gängigen Termini «fëmijëri» oder «vogëli» wählte.9,10 Seitenverweise: Diese beziehen sich stets auf die vorliegende deutsche Ausgabe. Der besseren Vergleichbarkeit und Orientierung halber sind im übersetzten Text aber die Seitenzahlen des albanischen Originals in eckigen Klammern angegeben. Dank: Eine Fülle sprachlicher und inhaltlicher Fragen hätte nicht ohne die Hilfe zahlreicher Fachleute und Gewährspersonen im albanischen und deutschen Sprachraum geklärt werden können. Ihnen allen sei herzlicher Dank ausgesprochen. Ohne ihre wertvollen Hinweise und Erklärungen hätte die Übersetzung und Kommentierung maßgeblich an Genauigkeit eingebüßt.

3. Entstehungsgeschichte der «Kindheitsjahre»; zwei Adressatenkreise Enver Hoxha hing sehr an seiner Geburtsstadt Gjirokastra und an den mit ihr verbundenen Erinnerungen. Diesbezügliche Gespräche gehörten zum festen Bestand der familiären Unterhaltung, zunächst als lebhafter Austausch mit seiner Mutter, die bis zu ihrem Tod 1969 bei der Familie ihres Sohns in Tirana lebte, später dann als Erzählungen für die Kinder. Hoxhas Gattin Nexhmije – «die diese Geschichten wohl Dutzende Male gehört hat», (S. 70) und schon auch einmal abwehrte: «Enver, nicht schon wieder! Ich kenne das alles längst auswendig und weiß sogar, dass Xha Huzos Schnurrbart schneeweiß war» (S. 247) – schildert diese häuslichen Unterhaltungen im Vorwort (S.  61 ff.) anschaulich und humorvoll.11 Damit die Erinnerungen auch für die Kinder und Enkel erhalten blieben, bat sie ihren Mann (der allerdings nicht von «bitten», sondern von «insistieren» spricht), sie auch schriftlich festzuhalten. Da die ersten Auf­ zeich­nungen (das Kapitel «Die Verachteten sind glücklich geworden») auf 1968 datiert sind, erfolgte diese Anregung entweder spätestens in diesem Jahr oder hatte Hoxha 9 Die Begriffe «vogëli» und «fëmijëri» kommen drei- bzw. fünfmal vor; absolut dominant ist der Begriff «vegjëli». In den meisten Fällen steht er für Kindheit, einige Male aber sehr wohl auch für «die kleinen/armen Leute», so z. B. S. 267, 277, 289. In vielen Fällen klingen auch beide Bedeutungsnuancen an, so etwa, wenn die Rede von den «shokët e mi të vegjëlisë» ist, was sowohl «meine Freunde aus der Kindheit» als auch «meine Freunde aus den armen Schichten» bedeuten kann. 10 Eine zweite, etwas spitzfindige Mehrdeutigkeit verbindet sich mit dem «për» im Untertitel des Buchs (Kujtime për Gjirokastrën). «Kujtime për» heißt nicht nur «Erinnerungen an», sondern auch «Erinnerungen für», was im Deutschen z. B. mit «Requiem für Gjirokastra» wiederzugeben wäre. 11 Zur Entstehung des Vorworts der «Kindheitsjahre» siehe unten S. 19 und Anm. 64.

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bereits vor der betreffenden Bitte mit dem Schreiben begonnen.12 Jedenfalls überreichte er seiner Frau zu deren 50. Geburtstag am 8. Februar 1971 die bis dahin fertiggestellten Teile der «Kindheitserinnerungen» (s. S.  65  f. und S. 3 im Vorwort des Folgebands «Jugendjahre»).13 In der das Geschenk begleitenden Widmung bezeichnet er seine Auf­­zeichnungen explizit als unvollständig, nicht überarbeitet und nur für seine Frau, Kinder und künftigen Großkinder bestimmt (siehe S.  65  f.). Ausführlicher äußert er sich hierzu und zu den Zielen seiner Aufzeichnungen zu Beginn des 1975 verfassten Kapitels «Die Bäcker der Stadtteile» (S.  260 f.): «Ich bin kein Schriftsteller, der sich Geschichten ausdenkt; ich halte einfach meine Erinnerungen fest, wie es Nexhmije gefordert hat. Ich halte sie für unsere Kinder und für die Enkelkinder fest, die wir bald haben werden, damit sie meine Grillen, mein Leben und die innersten Empfindungen meines Herzens kennenlernen: Die Empfindungen gegenüber den Menschen aus meiner Umgebung, mit denen ich lebte, die sahen, wie ich aufwuchs, die mich auf ihre Weise gelehrt und ernährt haben, mir Ratschläge gaben, mich manchmal auch an den Ohren gezogen oder mir eine Ohrfeige verpasst haben, weil ich ja trotz meiner zarten Jugend gewiss kein Engel gewesen bin. Alles, was ich von ihnen habe, hat mich im Leben weitergebracht, hat mir gutgetan.»

Den ersten und eigentlichen Verwendungskontext und Adressatenkreis der «Kindheitsjahre» stellt also die Familie dar. Dieser Adressatenkreis wird auch einige Male direkt oder mittelbar angesprochen, so z. B. S. 218, wo es heißt «Meine lieben Kinder, dies also sind einige Erinnerungen aus meiner Kindheit. Schmunzelt, wenn ihr wollt, aber viel anderes habe ich nicht zu berichten».14 12 Im Vorwort des Folgebandes («Jugendjahre», S. 3) schreibt Nexhmije Hoxha, dass ihr Mann – nach vielem Bitten und Insistieren ihrerseits  – mit den Aufzeichnungen im Laufe des Jahres 1970 begonnen hatte. Allerdings geht aus dem Text nicht klar hervor, ob damit die «Kindheitsjahre» (von denen drei Kapitel auf die Jahre 1968/69 datiert sind) oder die «Jugendjahre» gemeint sind. Vgl. zur Entstehung der «Kindheitsjahre» auch Nexhmije Hoxha: Mein Leben mit Enver, Band 2, S. 307 f. Was aus den originalen Aufzeichnungen geworden ist, konnte nicht eruiert werden. Nachfragen beim staatlichen Zentralarchiv (Drejtoria e përgjithshme e Arkivave, arkiva.gov.al), in das sie vermutlich 1991 aus dem Zentralarchiv der Partei umgelagert worden waren, blieben ohne Ergebnis. Zu hoffen ist, dass sie nicht das gleiche Schicksal wie die nach dem Systemwechsel geplünderte und teilweise verbrannte Bibliothek von Enver Hoxha mit ihren 25 000 Bänden erlitten, siehe hierzu Nexhmije Hoxha 2001, S. 9 ff. und 42 ff. 13 In den «Kindheitsjahren» (S.  65  f.) ist nur von einem Familienfest die Rede. Dass es sich um den 50. Geburtstag von Nexhmije Hoxha handelte, geht aus dem Vorwort zu den «Jugendjahren», S. 3 hervor. 14 Vgl. auch Seite 182: «Meine lieben Kinder! Eines Abends hat mir eure Mutter eine Falle gestellt (…)» und Seite 168: «Wenn meine Kinder lesen, was ich hier für sie aufschreibe, müssen sie sicherlich lachen. (…) Und meine Kinder werden sich auch wundern und ausrufen: ‹Ist das wirk-

Entstehungsgeschichte der «Kindheitsjahre»; zwei Adressatenkreise 21

Mit Blick auf die Datierung der einzelnen Texte (s. u.) muss es sich beim genannten Geburtstagsgeschenk um die Kapitel «Die Verachteten sind glücklich geworden» (1968), «Meine Schulen» (1969) und «Unsere Vergnügungen» (1969) handeln. Dazu kommen eventuell ein oder mehrere der drei undatierten Kapitel «Durch Häuser und Gassen», «Heitere Schulausflüge» und «Reise mit dem ‹Schmetterling›»; alle drei würden inhaltlich gut passen. Die Entstehungszeit der fünf anderen Kapitel ist auf die Jahre nach 1971 datiert (1972–1976, siehe die Übersicht unten). Der dem Band als Schlusskapitel beigegebene Brief von 1962 («Schlage jetzt fröhlich die Stunden, alte Uhr») entstand unabhängig und kann nicht zu den eigentlichen «Erinnerungen» gezählt werden. Zu einem nicht datierten Zeitpunkt, sicher aber spätestens im Anschluss an das Geburtstagsgeschenk von 1971, entstand auf Anregung von Nexhmije Hoxha das Projekt einer Buchpublikation. Wie sie in ihrem Vorwort vom Juli 1983 (S. 67) ausführt, hätte sie es bedauert, wenn die Erinnerungen ihres Mannes nicht auch einem breiteren Publikum zugänglich gemacht würden: «Gerade weil Envers Erinnerungen eine so breite Palette von Themen beleuchten, hielt ich es nicht für recht, sie nur für uns, für den Kreis unserer Familie, zu behalten. Sie können vielen Genossen und Freunden, die noch leben, Freude machen, aber auch den Kindern und Verwandten jener, die nicht mehr unter uns sind. Zwar haben die Erinnerungen einen etwas intimen und familiären Charakter und beleuchten eine Phase vor der revolutionären Formung Envers. Aber auch so können sie für einen weiteren Kreis von Menschen von Interesse sein und beitragen, das Umfeld und die Menschen zu verstehen, die ihn inspirierten, sich auf den revolutionären Weg zum Besten der Freiheit des Volkes und des Sieges des Kommunismus zu machen.».

Enver Hoxha stimmte zu, dass auf seinen 75. Geburtstag hin (16. Oktober 1983) von seinen Aufzeichnungen jene als Buch publiziert würden, die mit seiner Geburtsstadt Gjirokastra zusammenhängen (a. a. O.).15 Ein zweiter Band, dessen Thema die Jahre 1927–1936 sind (Besuch der letzten drei Klassen des Lyzeums in Korça, Studienjahre in Montpellier, Paris und Brüssel, Tätigkeit im albanischen Konsulat in Brüssel), er-

lich unser Vater, um den es hier geht?› – denn sie kennen mich ja nur als Mann in etwas reiferem Alter und als jemand eher Ernsthaften.» Alle drei Zitate stammen aus dem 1969 verfassten Kapitel «Unsere Vergnügungen». Die Anreden an den erweiterten zweiten Adressatenkreis finden sich demgegenüber bezeichnenderweise in zwei erst 1976 verfassten Kapiteln, siehe unten. 15 Etwas erstaunlich ist der Zeitraum von sieben Jahren zwischen der Fertigstellung des Manuskripts (1976) und seiner Publikation 1983, zum 75. Geburtstag Hoxhas. Gegen eine Publikation schon 1978, zum 70. Geburtstag, sprach möglicherweise die Priorität anderer Projekte und Ereignisse (Eröffnung des metallurgischen Kombinats «Stahl der Partei» in Elbasan und des Wasserkraftwerks «Licht der Partei» in Fierza; Bruch mit China).

22Einleitung

schien 1988 unter dem Titel «Jugendjahre» (Vite të rinisë)16 posthum zum 80. Geburtstag des 1985 verstorbenen Enver Hoxha. Mit der Abfassung der fünf auf 1972–1976 datierten Kapitel löst der Autor die Zusicherung ein, dass er die bisherigen, unvollständigen Aufzeichnungen ergänzen werde, sobald er Zeit habe (vgl. S. 66: «Es [mein Geschreibsel (shkarravinat), BS] ist unvollständig, aber ich werde es fertigstellen, sobald ich Zeit habe»). Wie im Vorwort zum Folgeband «Jugendjahre» (S. 3, Fußnote) nachzulesen ist, war dies offenbar von 1971–1975 der Fall. Etwas irritierend ist bei dieser Angabe, dass die Kapitel «Mit den Augen der Erinnerung» und «Schätze der volkstümlichen Architektur» auf September 1976 datiert sind.17 Dass die ab 1972 verfassten Kapitel schon mit Blick auf das erweiterte Publikum geschrieben wurden, ist nicht auszuschließen. Fast gewiss ist dies für die zwei im September 1976 verfassten Kapitel, wird in ihnen doch nicht mehr nur die Familie, sondern bereits eine erweiterte Leserschaft direkt angesprochen.18 Meist geschieht dies im Kontext der Ermahnungen zu einem sorgsamen Umgang mit dem architektonischen Erbe (siehe z. B. S.  80, 93 ff.), aber auch in direkter Form wie etwa S.  230 f.: «Wie gerne würde ich öfters in meine Heimatstadt reisen! (…) Da ich persönlich nicht häufig hinfahren kann, mache ich diese Reisen nun halt in der Erinnerung. Auf diese Weise lebe ich weiterhin mit Gjirokastra und mit den Menschen meiner Jugendzeit – und ich versichere euch, dass ich dabei eine geistige und körperliche Erholung verspüre.»19 [Hervorhebung BS]. 16 Die (nicht im Einzelnen datierten) Kapitel des zweiten Teils wurden laut dem dortigen Vorwort (S. 3) in den Jahren 1970/1971–75 verfasst, wobei nicht restlos klar ist, ob hier die «Kindheits-» oder die «Jugendjahre» gemeint sind, siehe oben Kap. 3. Die Auflage der «Jugendjahre» umfasste 50 000 Exemplare. Der ursprüngliche Titel des Manuskripts, «Kujtime të djalërise» (Erinne­ rungen an die Knaben-/Jugendjahre», wurde in Analogie zum ersten Band geändert zu «Vite të rinisë» (Jugendjahre). 17 Siehe die Datierungen S. 259 bzw. S. 94. 18 Eine Ausnahme bildet der Schlussabschnitt des Kapitels «Mit den Augen der Erinnerung» (S. 259), wo die eigenen Kinder noch einmal direkt angesprochen werden («Meine lieben Kinder, eure Mutter hat sicher recht, sie ist ja rührend um meine Gesundheit besorgt.»). Im Kapitel «Die Bäcker der Stadtteile» (verfasst 1975) wiederum wird S.  260 f. noch einmal das Narrativ aufgegriffen, dass Hoxha seine Erinnerungen «für unsere Kinder und für die Enkelkinder» verfasst hat, «damit sie meine Grillen, mein Leben und die innersten Empfindungen meines Herzens kennenlernen». 19 Auf den erweiterten Adressatenkreis bezieht sich auch die Passage S. 231, etwas weiter unten: «Gut möglich, dass die Enkelkinder der Menschen, über die ich hier schreiben will, sich gar nicht mehr an sie erinnern. Mein Ziel ist, ihnen ihre Großeltern in Erinnerung zu rufen, mit allem, was mir zu ihnen im Gedächtnis geblieben ist.» [Hervorhebungen BS]. Direkte Ansprachen von extrafamiliären Gruppen finden sich ferner im 1975 verfassten Bäcker-Kapitel (S. 276: «Ich liebe euch und ich habe große Achtung vor euch, ihr Bäcker, wo immer ihr auch seid, wo immer ihr auch arbeitet. Ich habe euch schon geliebt, als ich noch klein und jung war (…)») und im 1976

Entstehungsgeschichte der «Kindheitsjahre»; zwei Adressatenkreise 23

Das Kapitel «Schätze der volkstümlichen Architektur» – das letzte der nach 1971 verfassten und mit einem Datum versehenen – ist jenes, das im Buch an erster Stelle steht. Mit seinen 34 Seiten ist es (nach «Unsere Vergnügungen») das zweitlängste Kapitel des Buchs. Das autobiografische Moment tritt in ihm besonders stark in den Hintergrund; Protagonist ist hier eindeutig die Stadt Gjirokastra – ihre Anlage, ihre Burg, ihre Häuser – die ausführlich und detailreich, beinahe in der Art eines architekturhistorischen Führers, vorgestellt wird. Es unterscheidet sich mit diesem Duktus vom Rest des Buches, auch vom nachfolgenden, inhaltlich verwandten (undatierten) Kapitel «Durch Häuser und Gassen», das den anderen Kapiteln durch seine höhere Personalisiertheit eher entspricht. Die Annahme, dass das Kapitel «Schätze der volkstümlichen Architektur» bereits mit Blick auf eine Buchpublikation verfasst wurde, in der es als eine Art Einleitungs- und Überblickskapitel fungieren sollte, lässt sich nicht belegen, scheint aber naheliegend. Die Buchpublikation bedeutete, dass neben den ersten Verwendungskontext und Adressatenkreis des Buches – die Familie Hoxha – ein zweiter treten würde, nämlich das breite albanische Lesepublikum (vgl. die Auflage von 75 000 Exemplaren!). Manches, was beim intrafamiliären Gebrauch der Aufzeichnungen als bekannt vorausgesetzt werden, in direkter Kommunikation oder durch Rückgriff auf private Fotoalben geklärt werden konnte, verlangte damit nach zusätzlicher Erklärung oder Illustration. Eine stringente Gliederung der Texte, die Beigabe von Sach- und Worterklärungen und eine Veranschaulichung durch Bilder waren mit Blick auf den stark erweiterten Adressatenkreis unerläßlich. In diesem Sinne wurden die 1976 vorliegenden elf Kapitel und der Brief von 1962 («Schlage die Stunden …») für die Buchpublikation auf drei thematische Blöcke verteilt und wurde umfangreiches Bildmaterial zur Illustration zusammengetragen, ferner wurden gut 60 erläuternde Fußnoten eingefügt. Zuständig für die Schlussredaktion (përgatitja për botim) waren Mitarbeitende des von Nexhmije Hoxha geleiteten Instituts für Marxismus-Leninismus, Redakteure und Spezialisten des Verlags «8 Nëntori» und des Polygrafischen Kombinats (vgl. S. 57); die Federführung hatte fraglos Nexhmije Hoxha. In den Text wurde, wie sie S. 67 erklärt, nicht eingegriffen: «Das Buch bringt die Erinnerungen so, wie wir sie als Geschenk erhielten». Entfernt wurden, mit Einverständnis des Autors, einzig einige allzu intime oder familiäre Passagen und (zum Bedauern des Autors) einige Bubenstreiche, die etwas allzu gewagt schienen (ebd.). Hoxha selbst nahm keine Schlussredaktion und Ergänzung der Texte vor (ebd.). 20 Als verfassten Kapitel «Mit den Augen der Erinnerung» (S.  237 f.: «Wenn ich jetzt an dich denke, Xha Hasip, du ehrenhafter Arbeiter (…)»). 20 In Band 2 von «Jeta ime me Enverin» (mein Leben mit Enver), S. 313 f., schildert Nexhmije Hoxha, dass ihr Mann keine Zeit auf die Überarbeitung seiner Manuskripte verwenden mochte, siehe unten Kap. 8. Verantwortlich hierfür waren sein Sekretär Haxhi Kroi und die Zuständigen

24Einleitung

Indiz für die geringe Bearbeitung der Texte können vielleicht zwei Redundanzen gelten, die bei einer eingehenderen Überarbeitung hätten auffallen müssen. 21 Anzuneh­ men ist, dass als weiteres Element der Schlussredaktion die Rechtschreibung den Normen der vereinheitlichten albanischen Schriftsprache angepasst wurden, die überhaupt erst 1972 festgelegt worden waren. Die Erweiterung auf einen zweiten, viel breiteren Adressatenkreis bot für die späteren Kapitel zugleich die Möglichkeit, Appelle wie diejenigen betreffend den sorgsamen Umgang mit historischen Bauwerken und die Berücksichtigung des landestypischen Stils bei neuen Gebäuden zu implementieren  – Ermahnungen, die mit Be­­zug auf den ersten, bloß intrafamiliären Adressatenkreis weniger sinnvoll gewesen wären. 22 Diese Appelle sind sicher auch im Kontext der Rückbesinnung auf nationale Werte und des Kampfs gegen fremde Erscheinungen bzw. Einflüsse (siehe unten) zu sehen. Explizit «politische» Passagen, in denen die Verdienste der Partei für die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte hervorgehoben werden, finden sich hingegen sowohl in den frühen wie auch in den späteren Kapiteln.23 Zusammenfassend ist zur Entstehungsgeschichte der «Kindheitsjahre» Folgendes anzunehmen: Um einen Kreis von drei Texten aus den Jahren 1968/69, die für den intrafamiliären Gebrauch – bzw. als Geschenk zu Nexhmije Hoxhas 50. Geburtstag im Februar 1971 – konzipiert waren, legte sich eine Gruppe von fünf Texten aus den Jahren 1972–1976. Diese wurden höchstwahrscheinlich bereits mit Blick auf eine Buchpublikation für ein breites Publikum verfasst, an das sie sich z.T. direkt wenden. Drei undatierte Texte (siehe die Übersicht unten) lassen sich keiner der beiden Gruppen stringent zuordnen. Die Gruppierung und Bebilderung der Texte, wie auch die Ergänzung durch eine Einleitung und Fußnoten, wurden mit Blick auf die Buchpublikation von 1983 vorgenommen.

im Sektor für Publikationen. Oft war es wohl Nexhmije Hoxha selbst, die Änderungen anregte und vornahm. 21 Die eine dieser Redundanzen betrifft die Schilderung des vom Bej zum Wasserträger heruntergekommenen Abaz, die sich in sehr ähnlicher Form in den Kapiteln «Schätze der volkstümlichen Architektur» (S. 77) und «Durch Häuser und Gassen» (S. 98) findet. Die zweite betrifft die verschiedenen Kinderspiele, die im undatierten Kapitel «Heitere Schulausflüge» (S. 164) und 12 Seiten später im 1969 verfassten Kapitel «Unsere Vergnügungen» (S.  174 f.) nochmals (wenngleich ausführlicher) beschrieben werden. 22 Siehe S. 80, 91–94, 102. 23 Belege in den 1968 und 1969 verfassten Kapiteln: S. 131, 218, 289, 292, 295. In den zwischen 1972 und 1976 verfassten Kapitel: S. 70, 111, 251, 259. Keine Bezüge zu den Verdiensten der Partei finden sich in den drei undatierten Kapiteln «Durch Häuser und Gassen», «Heitere Schulausflüge», «Eine Reise mit dem ‹Schmetterling›» und im Kapitel «Die Bäcker der Stadtteile» von 1975.

Historischer und biografischer Kontext der «Kindheitsjahre»25

4. Historischer und biografischer Kontext der «Kindheitsjahre» und der Jahre ihrer Abfassung Die zeitlichen Umstände bzw. der historische Kontext der Kindheit in Gjirokastra (1908–1927) waren fraglos bedeutungsvoll für Hoxhas Biografie und dürften dessen spätere politische und weltanschauliche Orientierung in verschiedener Hinsicht mitgeprägt haben. Mit der Aufzeichnung der (in mündlicher Form stets präsenten) Kindheitserin­ nerungen begann Hoxha knapp 50 Jahre später und arbeitete daran von 1968–1976. Dass auch die Verschriftlichung nicht unbeeinflusst vom historischen und politischen Kontext dieser Jahre und von Hoxhas damaliger biografischer Situation blieb, liegt nahe. Als Ergänzung zum Vorwort von Karl Kaser und zum chronologischen Überblick (siehe Kap. 11) werden nachfolgend die historischen und politischen Hintergründe der Jahre 1912–1927 und 1968–1974 kurz zusammengefasst 24 und auf Prägungen und Einflüsse befragt, die sie auf Hoxha und den Text der «Kindheitserinnerungen» ausgeübt haben mochten.

4.a  Die Jahre 1912–192725 Der Zeitraum, der den Hintergrund der «Kindheitsjahre» darstellt – in etwa die Jahre 1912–1927  – zählt zu den bewegtesten Epochen der albanischen Geschichte. Nach jahrelangem Widerstand gegen die fast 500-jährige osmanische Herrschaft wurde am 28.  November  1912 in Vlora die Unabhängigkeit des albanischen Staates ausgerufen und 1913 von der Londoner Botschafterkonferenz 26 anerkannt. Bereits im Frühling 1913 erfolgte die griechische Besatzung von Teilen Südalbaniens, 1914 wurde Gjirokastra zur Hauptstadt der «Autonomen Republik Nordepirus» erklärt. Die Stadt hatte damals knapp 10 000 Einwohner, die sich auf eine muslimische Mehrheit und eine orthodoxe Minderheit verteilten. 1914 wurde die griechische durch eine italienische Besatzung abgelöst, die bis 1920 dauerte. Von September  1914 bis August  1920 hatte Albanien keine Zentralregierung und war durch sieben kriegsführende Mächte besetzt. Die Jahre 1912–1925 bilden die Periode der «Fourteen Successive Ineffective Go 24 Als hauptsächliche Quellen wurden beigezogen Grothusen 1993 und die Bände III und IV der Historia e popullit shqiptar (Hg. Akademia e Shkencave e Shqipërisë, 2007/2008); vgl. im Übrigen die Bibliografie. 25 Enver Hoxha wurde am 16. Oktober 1908 geboren; seine Erinnerungen dürften aber frühestens auf das Jahr 1912 zurückgehen, siehe oben Kap. 1. 26 Zur Botschafterkonferenz gehörten die Abgesandten der sechs Großmächte Deutschland, Großbritannien, Italien, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland. Eine eingeschränkte Anerkennung der Unabhängigkeit fand bereits im Dezember 1912 statt.

26Einleitung

vernments», 27 womit sowohl nationale Regierungen wie auch solche der Besatzungsmächte gemeint sind. 1922 wurde Ahmet Zogu Ministerpräsident, 1925 Präsident der albanischen Republik, 1928 ließ er sich zum König der Albaner ausrufen, 1939 floh er vor den italienischen Besatzern ins Ausland. Enver Hoxha kam als Bürger des osmanischen Reichs zur Welt. Erst nach seinem vierten Geburtstag wurde die Unabhängigkeit Albaniens ausgerufen, allerdings nur, um sogleich während Jahren und von verschiedenen Seiten ernsthaft bedroht zu werden. Entsprechend dem damaligen Alter des Autors und seinem als Kind noch wenig entwickelten politischen Bewusstsein 28 geht es in den «Kindheitserinnerungen» zwar primär um Erinnerungen an Freunde, an die Schule, an die Menschen im Umfeld und an Gjirokastra. Zugleich ist klar, dass politische Themen im Elternhaus Hoxhas einen hohen Stellenwert hatten. Verantwortlich hierfür war in erster Linie Hoxhas Onkel Hysen, genannt Baba Çen. Er war nicht nur das Oberhaupt der Familie (siehe S. 288) und die zentrale Bezugsperson für den jungen Enver, sondern als ehemaliger Mitstreiter für die Unabhängigkeit und als Bürgermeister von Gjirokastra intensiv in die Tagespolitik involviert. Während die Turbulenzen auf nationaler Ebene und die verschiedenen Regierungen in den «Kindheitserinnerungen» nur marginal zur Sprache kommen, nehmen die griechische und italienische Besatzung der Jahre 1913–1918 einen deutlich breiteren Raum ein.29 Sehr präsent sind auch die Erinnerungen an die Vertreter der Rilindja, 30 an die Widerstandskämpfer gegen das osmanische Reich bzw. für die Unabhängigkeit Albaniens (Çerçiz Topulli u.a.) und an die Gründer des jungen Staates. Diese Erinnerungen waren in der Familie wohl umso präsenter, als in ihnen auch Baba Çen eine aktive Rolle gespielt hatte, zudem wurden sie auch von patriotischen Lehrern ausführlich thematisiert (siehe S. 160–162). Vergleichsweise häufig sind auch negative Äußerungen zu Ahmet Zogu, der spätestens seit 1920/21 auf der politischen Bühne mitspielte. 31 Der Zustand einer permanenten Bedrohung der kaum gewonnenen Eigenstaatlichkeit durch fremde Besatzer, wie auch die Verunsicherung durch das «obskurantistische Regime» von Zogu (S. 152) hinterließen fraglos einen prägenden Eindruck beim jungen Hoxha. Verstärkt und in eine politische Richtung gelenkt wurde diese Prägung durch Baba Çen als Politiker und Identifikationsfigur, der den jungen Enver nicht nur an seinen Erinnerungen als alter Freiheitskämpfer, sondern auch an mehr oder weniger 27 Edwin Jacques (1995): The Albanians; An Ethnic History from Prehistoric Times to the Present (Jefferson/NC, London: Mc Farland); zitiert bei Akulli (2018) S. 19. 28 In der Formulierung von Enver Hoxha (S. 70): «Meine Aufzeichnungen … stammen aus einer Zeit, in der ich noch kein revolutionäres Bewusstsein gewonnen hatte.» 29 Zur griechischen Besatzung siehe v.a. S. 108–115, 125–129, 170–176, 297, zur italienischen v.a. S. 115–118, 126–130. 30 Zur Rilindja siehe Kap. 11a und S. 90, 118 f., 135, 256 f., 278. 31 Zu Zogu und seinen Anhängern siehe z. B. S. 132, 136–138, 147–153, 196.

Historischer und biografischer Kontext der «Kindheitsjahre»

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klandestinen Treffen und politisch motivierten Zusammenstößen teilhaben ließ (siehe S.  109 f., 116 f., 125 f., 170 f., 269). Ein Zusammenhang zwischen den politisch höchst gefährdeten und labilen Umständen der Kindheit von Enver Hoxha und dessen späterer rigider Abwehrhaltung gegen alles Fremde, die in der weitestgehenden Abschottung Albaniens und in höchster Aufmerksamkeit gegen alles, was nach Verrat aussah, gipfelte, dürfte kaum von der Hand zu weisen sein.

4.b  Die Periode der Verschriftlichung der Erinnerungen (1968–1975) Die Abfassungszeit der «Kindheitserinnerungen» – die Jahre von 1968–1976 – fallen in die mittlere und späte Periode der chinesisch-albanischen Freundschaft, die von 1961– 1978 dauerte. Geprägt waren diese Jahre unter anderem durch den Bruch mit dem Warschauer Pakt (1968), die spätestens ab 1975 zunehmenden Krisen in den chinesischalbanischen Beziehungen und das gespannte Verhältnis zu Griechenland. Wirtschaftliche Schwerpunkte bildeten die Industrialisierung, vor allem der Auf bau einer Schwerindustrie, und ab 1966 die Kollektivierung der Landwirtschaft. Innenpolitisch kam es zu ideologischen Streitigkeiten und zu umfassenden «Säuberungswellen», die sich gegen «fremde Erscheinungen», Liberalismus in kultureller und ideologischer Hinsicht und Sektierertum richteten. Bereits 1967 war die Religionsausübung verboten worden und hatte sich Albanien zum ersten atheistischen Staat erklärt. Die frühen 1970-er Jahre nennt Schmidt-Neke (1993b, S. 73) eine «Ära der neuen innenpolitischen Eiszeit».32 Für die Verschärfungen besonders bedeutsame Ereignisse waren der VI. und VII. Parteitag (1971 bzw. 1976) und Hoxhas Bericht zum Kampf gegen fremde Erscheinungen und Liberalismus am 4. ZK-Plenum zur Kulturpolitik 1973. Einen Überblick über die Ereignisse und Entwicklungen während dieser Periode vermitteln die Zeittafeln im Südosteuropa-Handbuch Albanien (Grothusen 1993), S. 737 f., und in Band IV der «Historia e popullit shqiptar» (Hg. Akademia e Shkencave e Shqipërisë, 2008), S. 436 f.; vertiefte Informationen finden sich in den entsprechenden Kapiteln der genannten Werke (siehe v.a. Schmidt-Neke in Grothusen 1993, S. 68–78 (Innenpolitik), Grothusen ib., S. 125–135 (Außenpolitik) und «Historia e popullit shqiptar» 2008, S. 274–320).33 32 Das dürfte vor allem für die Zeit ab 1973 gelten. Die Jahre 1971/72 waren demgegenüber offenbar eine «Zeit des relativen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs wie auch der Öffnung hin zum Ausland» (Bejko 2003, S. 210; vgl. ebd. S. 192). 33 Ein anschauliches Bild der Probleme und Herausforderungen der 1960-er bis 80-er Jahre aus der Sicht der einfachen Bevölkerung bieten die Erinnerungen von Waltraud Bejko «Albanien  – Mein Leben 1959–1996». Für die Entwicklung nach 1975 siehe die ausgezeichnete Darstellung von Idrit Idrizi «Herrschaft und Alltag im albanischen Spätsozialismus» (2018) mit den beiden Großkapiteln bzw. Perspektiven «Die Herrschaftspraxis parteistaatlicher Akteure» und «Das Leben in, mit und unter dem kommunistischen Herrschaftssystem: Die Perspektive(n) ‹von

28Einleitung

Die Gesundheit Hoxhas war zur Zeit der Abfassung bereits durch seinen Diabetes mellitus, reichlichen Zigarettenkonsum und eine zunehmende Beeinträchtigung der Sehfähigkeit angeschlagen (vgl. Nexhmije Hoxha 2001, S. 188–227; 2019, S. 142–147). 1973 erlitt er einen ersten Herzinfarkt, am VII. Parteitag im November 1976 vermochte er nurmehr Anfang und Schluss seines Rechenschaftsberichts vorzulesen, der Rest wurde ab Tonband abgespielt. Dennoch sind es die Jahre von 1976–1983, in die eine überaus reiche publizistische Aktivität von Enver Hoxha fällt. Zu seinen vielen Büchern, die in dieser Zeit erschienen, 34 zählen nicht weniger als neun Bände mit Erinnerungen politischer und persönlicher Art.35 Mit der Arbeit an den «Kindheitsjahren» befasste sich Hoxha umso lieber, als sie ihm eine wohltuende Abwechslung und Erholung von den Tagesgeschäften bot. Dem entspricht, dass er, wie Nexhmije Hoxha im Vorwort (S. 59) schreibt, am häuslichen Abendtisch die Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit bevorzugt gerade dann aufleben ließ, wenn der äußere Druck und Ärger am größten waren. Hoxha selbst äußert sich zum fast therapeutischen Aspekt, den das Sich-Erinnern und Schreiben auf ihn ausübte, explizit im Kapitel «Mit den Augen der Erinnerung». Dieses Kapitel verfasste er zwischen dem 4. und 18. September 1976 (siehe Anm. 527), mitten in der anspruchsvollen Vorbereitung des VII. Parteitags, der vom 1.-7. November 1976 stattfand. Er selbst äußert sich hierzu wie folgt: «Mit der Niederschrift dieser Erinnerungen begann ich zu einer Zeit, in der mir der Schädel brummt, weil ich intensiv für die Vorbereitung des Parteitags arbeiten muss und mit verschiedenen Berichten und anderen Problemen beschäftigt bin. Aber gerade während all dieser Arbeiten, gleichsam zur Erholung, nehme ich gerne dieses Heft zur Hand und

unten›». Ein wohl allzu euphorisches Bild der Anfangs- und Auf bauperiode des Sozialismus, auf die Hoxha bisweilen verweist, vermittelt u.a. Kurt Seligers Reisebuch «Albanien – Land der Adlersöhne» von 1958. 34 Zur außerordentlich reichen publizistischen Tätigkeit von Enver Hoxha siehe Nexhmije Hoxha 2001, S. 299–319. Von 1968–1978 erschienen 71 Bände der «Werke» (Vepra), bis 1984 ferner 14 Bände «Tagebuch zu internationalen Fragen» (für den internen Gebrauch) und 10 Bände «Tagebuch zu internen Fragen»; der Großteil ist downloadbar von der Website enver-hoxha.net. Vgl. auch Fevziu 2016, S. 245 f., der den Umfang von Hoxhas publizistischer Produktivität einzigartig nennt. Herausgegeben wurden die Werke Enver Hoxhas vom Institut für Marxistisch-Leninistische Studien, dessen Direktorin Nexhmije Hoxha war. Im Verlag «8 Nëntori» war eine eigene Abteilung mit der Edition der Werke Enver Hoxhas beschäftigt; vgl. hierzu Helena Kadare 2009, S. 6, 26 f., 38–41, 45, 71 etc. 35 Mit Stalin, Erinnerungen: 1978; Die Chruschtschowianer, Erinnerungen: 1980; Als die Partei entstand, Erinnerungen: 1981; Die anglo-amerikanische Gefahr für Albanien: Erinnerungen: 1982; Die Titoisten, historische Notizen: 1982; Kindheitsjahre: 1983; Als die Fundamente des neuen Albanien gelegt wurden: 1984; Unter einfachen Menschen, Erinnerungen: 1984; Jugendjahre: 1988. Fevziu 2016, S. 245 kommt durch eine offenbar weitere Fassung des Begriffs sogar auf 13 Titel mit Erinnerungen.

Historischer und biografischer Kontext der «Kindheitsjahre»

29

schreibe mit großer Freude die schönsten Erinnerungen aus meiner Kindheit auf! Ich fühle mich dabei belebt, kehre in meine Jugendzeit zurück und habe den Eindruck, dass ich dabei an Stärke gewinne. Wenn dann Nexhmije kommt, verstecke ich das Heft schnell, weil sie sonst schimpft: ‹Was soll das, Enver; warum mühst du dich auch noch damit ab, wo du doch schon mit dem Parteitag voll ausgelastet bist …›». (S. 259)

Aufschlussreich mit Blick auf die Funktion des Erinnerns und Schreibens ist auch die folgende Passage: «Sorgen habe ich schon – aber die Menschen der damaligen Zeit hatten Berge von Sorgen und trotzten ihnen standhafter als Berge. Ich werde über das Leben der einfachen Leute schreiben, denn sie sind es, die das Volk ausmachen, das sich abrackerte, schwitzte, manchmal zu essen hatte und manchmal hungerte. (…) Und wenn ich mich am Feierabend an sie erinnere, kommt es mir vor, als würde ich selbst jünger, stärker, schärfer in meinen Gedanken und mutiger in meinen Taten. Diese Erinnerungen elektrisieren mich, sie beleben die Zellen meines Körpers und meines Gehirns.» (S. 231)

Dass Hoxha seine Erinnerungen gerade in einer Periode der Säuberungen und des Kampfs gegen fremde Erscheinungen bzw. Einflüsse verfasste, ist wohl kein Zufall. Schmidt-Neke (1993b, S. 71) spricht davon, dass die albanische «Kulturrevolution» der damaligen Jahre gekennzeichnet war von einer, «wenn auch eklektizistischen, Rückbesinnung auf die eigene nationale Kultur und Vergangenheit». 36 In den «Kindheitserinnerungen» entsprechen dem zum einen die vielen Erinnerungen an die Befreiungskämpfer, an die Gründer des neuen Staates, an die großartigen Baumeister und Handwerker der Stadt Gjirokastra, wie auch der dringende Appell zu achtsamem Umgang mit diesem kulturell-architektonischen Erbe (siehe Kap. 1). Entsprechend seiner ideologischen Orientierung besinnt sich Hoxha aber nicht nur auf das, was von konventioneller historischer und kultureller Bedeutung ist, sondern vor allem auf die «einfachen Menschen», die ihr Leben trotz Armut und gesellschaftlicher Ächtung meisterten und ihm in mancher Hinsicht zu Lehrmeistern und Vorbildern wurden. Am explizitesten kommt die Rückbesinnung auf architektonische und künstlerische Werte im Kapitel «Schätze der volkstümlichen Architektur» zum Ausdruck, während die oben zitierten Gedanken zu den einfachen Menschen aus dem Kapitel «Mit den Augen der Erinnerung» stammen. Beide Kapitel entstanden unmittelbar nacheinander im

36 Vgl. Bartl 1995, S. 255 f.: «An die Stelle der Religion trat – das ist ein Unterschied zu China – eine verstärkte Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit (die Illyrer, Skanderbeg, die Rilindja-Kultur und – parallel zu China – ein ins Extreme gesteigerter Personenkult um Enver Hoxha, der zum Klassiker des Marxismus-Leninismus avancierte (…)».

30Einleitung

September  1976, 37 mitten während der Vorbereitungen des VII. Parteitags und der fraglos noch nicht abgeschlossenen Debatte um fremde Erscheinungen bzw. Einflüsse und den liberalen Umgang mit diesen. Bedenkenswert ist vielleicht die Überlegung von Fevziu, 38 dass Hoxhas späte Jahre durch eine zunehmende Vereinsamung gekennzeichnet waren, wozu auch seine stark angeschlagene Gesundheit beitrug. Die intensive publizistische Tätigkeit, besonders aber die Erinnerungen an die in mancher Hinsicht unbeschwerten Kindheitsjahre und das – vielleicht idealisierte – alte Gjirokastra übten in dieser Situation möglicherweise einen kompensatorischen und tröstlichen Effekt aus.

5. Gliederung und Aufbau In der endgültigen, 1983 in einer Großauflage von 75 000 Exemplaren zum 75. Geburtstag von Enver Hoxha erschienenen Buchausgabe umfassen die «Kindheitsjahre» ein Vorwort von Nexhmije Hoxha (S. 58–67) und die drei thematischen Teile «Burg-Stadt» (56 S.), «Kindheitsjahre» (139 S.), «Einfache Menschen» (84 S.) mit insgesamt 12 Kapiteln. Die neue Gliederung, die zahlreichen Illustrationen wie auch die über 60 Fußnoten verweisen deutlich auf die sinnvolle und unerläßliche Auf bereitung des Textes für den erweiterten Adressatenkreis. Die prägnanten Abweichungen in der Reihenfolge und Komposition der Kapitel der Druckfassung gegenüber den Abfassungsdaten der einzelnen Kapitel zeigt die nachfolgende Zusammenstellung. Reihenfolge der Kapitel nach Entstehungszeit

Reihenfolge/Aufbau in der Druckfassung von 1983 Vorwort (Titel: «Anstelle eines Vorworts») von Nexhmije Hoxha, S. 5–13 Teil I: Burg-Stadt (qytet kështjellë), S. 15–71

1962: Schlage jetzt fröhlich die Stunden, alte Uhr *) 1968: Die Verachteten sind glücklich geworden

Kap. I/1: Schätze der volkstümlichen Architektur Kap. I/2: Durch Häuser und Gassen

1969: Meine Schulen

Teil II: Kindheitsjahre (vite të vegjëlisë), S. 73–212

1969: Unsere Vergnügungen

Kap. II/1: Ferne November

1972: Ferne November

Kap. II/2: Meine Schulen

1974: Meister des Steins und des Eisens

Kap. II/3: Heitere Schulausflüge

1975: Die Bäcker der Stadtteile

Kap. II/4: Unsere Vergnügungen

37 Das Kapitel «Mit den Augen der Erinnerung» wurde vom 4.-18. September 1976 verfasst (siehe S. 215), das Kapitel «Schätze der volkstümlichen Architektur» ist mit 24. September 1976 datiert. 38 Fevziu 2016, S. 241–253, v.a. S. 244 f., 247 (Kap. «The Years of Solitude»).

Zum Bildkonzept der Originalausgabe und der vorliegenden Übersetzung31

1976: Mit den Augen der Erinnerung

Kap. II/5: Reise mit dem «Schmetterling»

1976: Schätze der volkstümlichen Architektur

Teil III: Einfache Menschen (njerëz të thjeshtë), S. 213–297

Undatiert: Durch Häuser und Gassen

Kap. III/1: Mit den Augen der Erinnerung

Undatiert: Heitere Schulausflüge

Kap. III/2: Die Bäcker der Stadtteile

Undatiert: Reise mit dem «Schmetterling»

Kap. III/3: Meister des Steins und des Eisens Kap. III/4: Die Verachteten sind glücklich geworden Kap. III/5: Schlage jetzt fröhlich die Stunden, alte Uhr

*)

Das an den Schluss gestellte Kapitel «Këndo tani o sahat» (Schlage jetzt [fröhlich] die Stunden, [alte] Uhr, S. 293–297) ist eigentlich ein Brief Enver Hoxhas an die Schüler und Lehrer seines ehemaligen Gymnasiums «Asim Zeneli», der aus dem Jahr 1962 stammt.

6. Zum Bildkonzept der Originalausgabe und der vorliegenden Übersetzung Die albanische Ausgabe der «Kindheitsjahre» enthält nicht weniger als 111 Fotografien; sie wird damit nicht nur zum Lese-, sondern auch zum Bilder- und Anschauungsbuch. Angesichts der großteils unklaren Urheberrechte der Bilder, die aus verschiedensten Archiven stammen (siehe unten) und deren teilweise schwacher Qualität wurde für die vorliegende deutsche Ausgabe auf einen Bildteil verzichtet. Sämtliche Bilder (allerdings nur schwarz/weiß) und Kommentare können eingesehen werden unter http:// www.enver-hoxha.net/content/content_shqip/librat/librat-eh_vite_te_vegjelise.htm. Die Fotografien in der Originalausgabe verteilen sich auf 43 in die einzelnen Kapitel integrierte Einzelbilder und drei Bildteile von 15, 24 und 8 Seiten (nach den Seiten 64, 208 und 288) mit insgesamt 65 Fotografien, dazu kommen die beiden zweiseitigen Landschaftsaufnahmen auf der vorderen und hinteren Innenseite und ein ganzseitiges Porträt Enver Hoxhas vor seiner Heimatstadt nach dem Innentitel. Der Großteil der Illustrationen dient der Veranschaulichung von im Text erwähn­ ten Ansichten und Gebäuden (Gesamtansichten der Stadt, Burg, Häuser der Zekos, Angonis etc.) und architektonischen Details (Hoftore, Kamine, Interieurs etc.). Dies betrifft 76 Fotos, von denen sich 24 im Teil I des Buches (Burg-Stadt) finden, in dem Veranschaulichungen als Verständnishilfe besonders wichtig sind. 25 weitere Illustrationen (16 davon im Bildteil 2) zeigen Hoxha und seine Familie, Lehrer und Kollegen. Auf zehn weiteren Bildern schließlich (großteils in den Bildteilen 2 und 3) finden sich diverse Personen (z. B. die Lehrerschaft des französischen Lyzeums in Gjirokastra) und Sujets, die zur Illustration des Texts dienen (z. B. die S. 296 ff. erwähnte Wanduhr). Auffinden, Auswahl und Zuordnung der Fotografien gehörte fraglos zu den Aufgaben, die im Zuge der Vorbereitung der Druckversion der «Kindheitserinnerungen» 1982/83 anstanden. Die Vorbemerkung auf S. 57 nennt als Quellen das Zentralarchiv

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der Partei, das Institut für Kulturdenkmäler, das Institut Nr. 1 für Studien und Projektierungen, die albanische telegrafische Agentur, die Universität Tirana, die Handelskammer und das Museum des Nationalen Befreiungskrieges in Gjirokastra. Dass auch private Fotoalben Hoxhas, die seiner Frau ja sicher zugänglich waren, einbezogen wurden, liegt nahe; zumindest ein solches Album erwähnt der Autor S. 131 und 211.

7. Rezeption Die Rezeption der «Kindheitsjahre» zerfällt in zwei stark konträre Phasen, deren scharfe Grenze der Zusammenbruch des sozialistischen Regimes in Albanien im Jahr 1991 bildet. Gemeinsam ist beiden Phasen, dass die Rezeption oft weniger durch sachliche Aspekte – den Text selbst – als emotional durch den Namen und die Persönlichkeit des Autors, Enver Hoxha, geprägt ist. Dies führte in der ersten Phase (1983–1991) zu einer unkritisch positiven, begeisterten Aufnahme 39 und zu einer Großauflage von 75 000 Exemplaren, in der zweiten Phase aber zu einer meist unkritisch negativen Beurteilung resp. zum gänzlichen Totschweigen sogar in Werken, die an sich einer untendenziösen Darstellungsweise verpflichtet sein müssten. Der Name des Autors wur­de dem Buch damit sowohl zum Segen als zum Fluch. Zu Letzterem mögen auch einige nach dem Systemwechsel politisch-ideologisch obsolet gewordene Stellen (z. B. zu den Verdiensten der Partei) beigetragen haben. Rezeptionsästhetisch und ‑theoretisch präsentiert sich der scharfe Wandel beinahe als Musterstück für den Einfluss, den der Erwartungshorizont der Lesenden auf die Wahrnehmung und Bewertung eines Textes ausübt: Was von Enver Hoxha stammte, musste vor 1991 kategorisch gut und nach 1991 kategorisch schlecht sein.40 Kritische Aspekte fehlen in der Rezeption bis 1991, die Aufnahme ist durchwegs positiv. Dritëro Agolli (1931–2017), der neben Ismail Kadare bedeutendste albanische Autor der Nachkriegszeit, charakterisiert das Buch als «Lied des Heimwehs und der Liebe (…), als Schilderung einer Zeit und Generation, die mit großen Hoffnungen in die Zukunft blickten» (zit. bei Keta/Sima 1985, S. 17), der bedeutende Linguist Androkli Kostallari (1922–1992) hebt den unprätentiösen, authentischen Sprachgebrauch hervor (ebd., S. 17 f.). Als Charakteristikum betont werden auch die Wärme und Emotionalität der Darstellung, für die Keta/Sima diverse Belegstellen zusammentragen (ebd. S. 24 f.) und der ethnologische und soziale Scharf blick des Beobachters. Auf die zahlreichen Studien und Analysen zur Sprache Hoxhas allgemein und zu jener der «Kindheitserinnerungen» und ihres Wortschatzes im Besonderen geht unten Kapi 39 Siehe z. B. Keta/Sima 1985, S. 28, die das Buch «zu den besten Werken der künstlerischen Literatur» rechnen. 40 Vgl. Wagner-Egelhaaf 2005, S. 66, zum Begriff des Erwartungshorizonts, der die Bedingungen des Lesens setzt und das Verständnis des Textes präformiert.

Rezeption33

tel 10, «Zur Sprache der ‹Kindheitserinnerungen›» ein. Die entsprechenden Untersuchungen bieten neben den zeitüblichen Elogen teilweise auch sehr differenzierte Aussagen und linguistische Analysen, die durch die gute Erschließung des Materials und die Bezüge zu anderen Werken noch immer wertvoll sind. Die zweite Phase der Rezeption, ab 1991, lässt sich eher als Phase der ideologisch begründeten Nicht- oder Nicht-mehr-Rezeption beschreiben, der damit freilich ein Werk zum Opfer fiel, dem durchaus ein Wert als historische, ethnologische, biografi­ sche etc. Quelle zukommt. Dass die «Kindheitsjahre» und der erst 1988 erschienene Folgeband «Jugendjahre» schlicht in Vergessenheit geraten waren, ist kaum anzunehmen. Dies belegen auch die durchwegs dezidiert Hoxha-kritischen neueren Monografien von Myftaraj (2008), Fevziu (2011, engl. 2016) und Baruti (2013 und 201741). Sie alle nutzen für Hoxhas frühe Jahre auch die «Kindheitserinnerungen» als Quelle; ihren diesbezüglichen Wert siedeln sie im Spektrum von «± aufrichtig» (Fevziu) bis hin zu (sinngemäß) «propagandistisches Lügengespinst» (Myftaraj) an.42 Siehe zu diesen Werken unten bei «Parallel- und Vergleichstexte, weitere Quellen». Eine wertneutrale Nutzung als Quellentext finden die «Kindheitserinnerungen» in Akullis Dissertation zu Enver Hoxhas Erziehungsphilosophie (Akulli 2018, vor allem S. 15–22). Nicht erwähnt werden die «Kindheitsjahre» in der Geschichte der albanischen Literatur von Robert Elsie (albanische Ausgabe 1995), welche freilich auch kein spezielles Kapitel zur albanischen Autobiographik enthält. Hoxha wird hier nur als Politiker erwähnt. Desgleichen fehlt der Titel in Çiraku/Gjinajs Bibliographie «Albanische Literatur, Autoren und Werke» (2001). In der Monographie «Gjirokastra in geschichtlicher, sprachlicher, ethnologischer Sicht» von Mimoza Karagjozi Kore (2014) figuriert Hoxha pikanterweise nicht einmal im Namen-, geschweige denn im Quellenverzeichnis. – Eine umfassende Recherche in der historischen, ethnologischen und linguistischen Literatur des albanischen Sprachraums hätte den Rahmen der vorliegenden Ausgabe gesprengt; die Tendenz der Nichtbeachtung oder a priori negativen Bewertung scheint aber mit Blick auch auf andere Aspekte der Aufarbeitung der sozialistischen Periode evident.

41 Von Barutis «Enver Hoxha në optikë të re» (Enver Hoxha in einer neuen Optik) (2013) erschien 2017 eine von 371 auf 685 Seiten erweiterte Ausgabe unter dem Titel «Enver Hoxha; Gjysma tjetër e hënës (die andere Seite des Monds), die uns leider nicht zur Verfügung stand. Den Kommentaren im Internet nach sind Duktus und Zuverläßigkeit der beiden Bände identisch. 42 Siehe Myftaraj 2008, v.a. S. 31–132 und Baruti 2013 S. 23–48 mit diversen überaus negativen Bewertungen und «Entlarvungen» sowie Fevziu 2011 (hier zitiert nach der engl. Ausgabe 2016), siehe v.a. S. 10–14. Fevziu kommt S. 13 zu folgender Einschätzung «Making allowances for some embellishments which no one dared to challenge at the time, they sound nonetheless sincere: his was an ordinary childhood, with the usual difficulties and aspirations for a good education».

34Einleitung

Interessant und nützlich auch mit Blick auf die von uns erwähnte Literatur sind die übergreifenden Ausführungen von Ksenafo Akulli (2018) zur jüngeren Hoxha-Rezeption. Den Ausgangspunkt bildet Akullis Feststellung «There is a tendency to ignore Hoxha entirely or to paint him as a mysterious figure»: Wo Hoxha in den Medien oder in Biographien zum Thema wird, gehe es oft vor allem um spektakuläre «Entdeckun­ gen» und «Entlarvungen». Kaum oder nicht als Quelle zu einem besseren Verständnis genutzt würden hingegen die eigenen Schriften Hoxhas. Hier setzt Akulli an, der die 70 Bände der «Werke» gleichsam im Sinne einer werkimmanenten Interpretation zur Basis seiner Untersuchung zu Hoxhas Erziehungsphilosophie macht, wobei er auch dessen autobiografische Schriften einbezieht. Die Verfasser der jüngeren Kontroversen, Publikationen und Medienbeiträge zu Hoxha teilt Akulli (a. a. O., S. 11–13) in sechs nicht immer trennscharfe Gruppen ein, die je ihre eigene Literatur entwickelt hätten.43 Von Bedeutung mit Bezug auf die von uns oben erwähnte Literatur sind dabei insbesondere die Gruppen 1 (Gegner, «the Antagonists») und 2 (Anhänger, «the Faithful»), auf die wir uns hier beschränken. Zu Ersteren zählt Akulli auch Fevziu, zu ergänzen wären natürlich die diesbezüglich noch deutlich pointierteren Myftaraj und Baruti. Zur Gruppe 2 gehören die Biografien von 1947 und 1986 sowie die Erinnerungen von Nexhmije und Ilir Hoxha.

8. Gattungstypologische Aspekte Gattungsmäßig unterscheiden sich die drei Teile des Buches voneinander. Der erste, «Burg-Stadt», lässt sich – vor allem was das lange Kapitel «Schätze der volkstümlichen Architektur» betrifft – beinahe als Monographie zur Stadt Gjirokastra in den 1910erund 20er-Jahren, zu ihrer Anlage und ihren Gebäuden lesen. Im umfangreichen zweiten Teil, «Kindheitsjahre», dominieren (wie schon im Kapitel «Durch Häuser und Gassen» im ersten Teil) autobiografische Züge; im Zentrum stehen hier der Autor und seine Erlebnisse. Allerdings orientieren sich die fünf Kapitel dieses Teils nicht an der biografischen Chronologie des Protagonisten, sondern an ausgewählten Themen aus dessen Lebenswelt als Kind (Schule, Ausflüge, Vergnügungen etc.).44 Der dritte Teil, 43 Gemeint sind die folgenden sechs Gruppen: 1) die Gegner («the Antagonists»), die in unterschiedlich derber Weise gegen Hoxha polemisieren, 2) die Anhänger («the Faithful»), 3) die anmaßenden Opportunisten («the Pretentious Opportunists»), d. h. selbsternannte Experten beider Couleur, 4) die einzig an der sensationellen Entlarvung vermeintlicher Geheimnisse und Mysterien interessierten Agnostiker («the Agnostics»), 5) die Indifferenten («the Indifferent»), welche jede Beschäftigung mit Hoxha für müßig halten, 6) die Akademiker («the Academics»), die wegen ihrer meist stark präsentistischen, an heutigen Werten orientierten Sichtweise sich kaum um ein Verständnis von Ideen, Begriffen etc. aus deren historischem Kontext bemühen. 44 Eine Ausnahme bildet höchstens das Kapitel «Ferne November», bei dem es primär um Erinnerungen an Baba Çen und dessen patriotisches Engagement geht. Seinen Titel verdankt die-

Parallel- und Vergleichstexte, weitere Quellen35

«Einfache Menschen», wäre am ehesten der Gattung Memoiren zuzurechnen;45 die in ihm enthaltenen Kapitel (mit Ausnahme des letzten) können aber auch als Sozialreportagen oder Milieustudien gelten. Der Fokus verschiebt sich hier weg vom Autor (der als Ich-Erzähler freilich immer sehr präsent bleibt) hin zu den gesellschaftlich benachteiligten Gruppen der Bäcker, Schmiede, «Ägypter» (s. S. 66) etc. Gemeinsam sind allen drei Teilen der detailreiche ethnographische Blick des Autors und eine starke Emotionalität. Anders als Kadares «Chronik in Stein» und seine weitere autobiografische Prosa (siehe unten) sind die «Kindheitserinnerungen» kein literarisch durchgeformter Text und erheben auch keine diesbezüglichen Ansprüche. Zu lesen sind sie vielmehr, wie Hoxha mehrfach ausführt, als unvollständige, nicht überarbeitete und zunächst nur für die engere Familie bestimmte dokumentarische und biografische Aufzeichnungen, siehe z. B. das oben in Kap. 3 zitierte Statement. Dass ihr Gatte sich nicht mit dem Überarbeiten seiner Texte abgeben mochte, schreibt auch Nexhmije Hoxha (2001, S. 313): «Enver wandte keine Zeit auf das «Glätten» der Wörter und Sätze und auf das «Ausputzen» der Abschnitte an. ‹Wenn ich mich damit lange aufhalte›, sagte er, ‹bleibt mir keine Zeit mehr für die vielen Themen, mit denen uns das Leben konfrontiert›».

9. Parallel- und Vergleichstexte, weitere Quellen Für die vorliegende Ausgabe wurde eine Reihe von literarischen, autobiografischen und biografischen Quellen beigezogen, die Hoxhas «Kindheitsjahre» um zusätzliche Informationen ergänzen. Ein Teil dieser Quellen bezieht sich auf das Aufwachsen in Gjirokastra, andere liefern biografische Details zu den frühen Jahren von Enver Hoxha und zu seiner Familie. Als literarische Parallel- und Vergleichstexte, die die «Kindheitsjahre» teilweise ergänzen, sind insbesondere Ismael Kadares «Chronik in Stein» (Kronikë në gur, 1971), sein Roman «Die Puppe» (Kukulla, 2015) und drei weitere autobiografische Texte (Kadare 2019, s. u.) zu nennen. ses Kapitel dem Umstand, dass es offenbar am 28. November 1972 in Vlora verfasst (oder begonnen oder vollendet) wurde, wo sich Hoxha zum 60. Jahrestag der Unabhängigkeit aufhielt (siehe S. 119). 45 Die Unterscheidung Autobiografie – Memoiren ist oft wenig trennscharf und wird auch in der einschlägigen Fachliteratur kontrovers diskutiert, vgl. Wagner-Egelhaaf 2005, S. 6 f. und 55–57. Im Vergleich mit Kadares stärker autobiografischer «Chronik in Stein» sind die «Kindheitsjahre» insgesamt eher den Memoiren zuzurechnen. In der Zusammenschau der beiden Bände «Kindheitsjahre» und «Jugendjahre» zeigt sich allerdings auch, dass die Herausbildung eines sozialen, später sozialistischen Bewusstseins eine Art roten Faden bildet, dies im weitesten Sinne in der Art eines Entwicklungsromans.

36Einleitung

Kadares «Chronik in Stein» trägt den Untertitel «Roman» und erschien 1971, d. h. in jenem Jahr, als Nexhmije Hoxha die ersten Kapitel der seit 1968 festgehaltenen Kindheitserinnerungen ihres Mannes als Geburtstagsgeschenk erhielt. Kadare wurde im Januar 1936 in Gjirokastra geboren, gut 27 Jahre nach Enver Hoxha. Gegenstand seiner stark autobiografisch geprägten, literarisch auf hohem Niveau durchkomponier­ ten «Chronik in Stein» ist ebenfalls das Aufwachsen in Gjirokastra, allerdings bilden den zeitlichen Hintergrund hier die späten 1930-er und die 1940-er Jahre und die damaligen Kriegsgeschehnisse. Trotzdem begegnet man in der «Chronik in Stein» vielen auch von Hoxhas «Kindheitserinnerungen» her bekannten Schauplätzen. Erwähnt wird auch (zu Beginn von Kapitel 15) die Person Enver Hoxhas, so wie umgekehrt in den «Kindheitsjahren» S. 100 und 192 die Häuser der Familie Kadare und S. 247 auch Ismail Kadare bzw. dessen Vater Halil erwähnt werden. Verschiedene Bezüge (z. B. zur legendären Brautschmückerin Kako Pino, siehe S. 97) und Anekdotisches zu Brauchtum, Familienstrukturen und Auto- und Heterostereotypien der gjirokastritischen Clans finden sich auch in Kadares 2015 erschienenem Kurzroman «Die Puppe» (Kukulla; gemeint ist die Mutter des Autors). Auch dieser Text spielt eine Generation später als die «Kindheitserinnerungen», angesichts der Traditionalität vieler der beschriebenen Phänomene ergänzt er diese dennoch um authentische Aperçus. Von Gjirokastra und Kadares dortiger Kindheit und Jugend handeln drei weitere literarisch-autobiografische Texte, die 2019 unter dem Titel «Geboren aus Stein» auch in einer deutschen Ausgabe erschienen.46 Auch sie betreffen die 1940-er Jahre, mithin eine Zeit, zu der Hoxha schon länger nicht mehr in Gjirokastra lebte. Dessen Person und die Machtübernahme durch die kommunistische Partei werden verschiedentlich erwähnt; interessant sind die Texte insbesondere durch die kindliche Perspektive der Wahrnehmung des Spannungsfeldes von traditioneller und neuer Ordnung. Zu ergänzen bleibt, dass die oft eher peinliche, auf albanischen Websites und in einschlägigen Publikationen noch immer aktuelle Polemik um Kadares Verhältnis zu Hoxha und seinem Regime auch Hoxhas Kindheitsjahre nicht ausspart. So stellte Kadare sowohl den Status der Familie Hoxha in Gjirokastra in Frage,47 wie er Hoxha offenbar auch vorwarf, dieser habe mit seinen «Kindheitserinnerungen» die «Chronik 46 Der Sammelband enthält die Texte «Narrendinge» (2004), «Eine Geschichte aus drei Zeiten» (1986), «Wie Hamlet mir half, die Gespenster zu vertreiben» (2004) sowie den erwähnten Roman «Die Puppe» (2013). 47 Vgl. Fevziu 2016, S. 11. Es geht um Kadares Aussage, die Hoxhas seien keine alteingesessene gjirokastritische Familie gewesen und von den Alteingesessenen eher verächtlich behandelt worden. Wie Kadares Roman «Die Puppe» nahelegt, bilden den Hintergrund hier traditionelle Polemiken und Autostereotypien der verschiedenen gjirokastritischen Clans, die sich u.a. durch ihren Sozialstatus, das Alter und die Bauweise ihrer Häuser und durch die Dauer ihrer Anwesenheit in Gjirokastra gegeneinander abgrenzten und profilierten. Zu weiteren Auseinandersetzungen Hoxha – Kadare siehe Kalo S. 61–75. Überaus kühne Bezüge zwischen der «Chronik

Parallel- und Vergleichstexte, weitere Quellen37

in Stein» imitieren und sich als Schriftsteller aufspielen wollen. Nexhmije Hoxha (2001, S. 145) nennt dies einen absurden Vorwurf, da zum Zeitpunkt der Publikation der «Chronik in Stein» Teile der «Kindheitserinnerungen» bereits geschrieben waren; überdies habe ihr Gatte im März 1971 die bis dahin vorliegenden Kapitel Ismail Kadare als Quellenmaterial zur Verfügung gestellt. Als weitere autobiografische Referenztexte sind Hamit Kokalaris «Erinnerungen 1» 48 (2008) und (für die Lyzeumsjahre in Korça und die Person Enver Hoxhas) die «Erinnerungen» von Vedat Kokona (2005) zu nennen. Im Gegensatz zu Kadares «Chronik in Stein» erheben die «Erinnerungen 1» von Hamit Kokalari (1909–1989) keinerlei literarische Ansprüche, sind aber wertvoll als Quellen- und Referenztexte vor allem zu den französischen Lyzeen in Gjirokastra und Korça und zu deren Lehrern (siehe v.a. S. 11–53). Kokalari  – später ein bedeutender Übersetzer – war ein Altersgenosse und Mitschüler von Hoxha; er, seine Brüder und seine Familie werden in dessen «Kindheitserinnerungen» mehrfach erwähnt (vgl. z. B. S. 144 f., 152, 231, 262). Ein literarischer Parallel- und Vergleichstext nicht für die Jahre in Gjirokastra, sondern für jene am Lyzeum in Korça, die Hoxha im Folgeband «Jugendjahre» beschreibt, ist der Band «In den Schleier der Zeit gewebt. Erinnerungen» (Endur në tisin e Kohës. Kujtime) von Vedat Kokona. Der Schriftsteller, Lexikologe und Übersetzer Vedat Kokona (1913–1998) war im Lyzeum in Korça zwar fünf Klassen unter Enver Hoxha, bewunderte und kannte diesen aber von seinem Bruder Selahudin,49 einem Klassenkameraden Hoxhas, her. Seine Memoiren zeichnen ein lebendiges Bild des Lyzeums in Korça (siehe Kokona 2005, S. 30–57; zu Enver Hoxha S. 44–46). Eine besonders reiche biografische Quelle im Kontext der «Kindheitsjahre» sind die zwei Bände «Mein Leben mit Enver, Erinnerungen 1 und 2» (Jeta ime me Enverin, Kujtime 1 dhe 2), die Nexhmije Hoxha 1998 bzw. 2001 publizierte. In ihren Memoiren liefert Hoxhas Witwe Hintergrund- und Zusatzinformationen wie auch Anekdotisches zu verschiedenen Aspekten, so etwa zur Familie, zu Details aus Hoxhas Jugend in Gjirokastra, zu seinen Lese- und Schreibgewohnheiten, zu seinen Affinitäten gegenüber dem labischen Gesang und volkstümlichen Traditionen, zur Entstehung der Kindheits- und Jugenderinnerungen (in Band 2, S. 307–311) und zu seinem Gesundheitszustand in den Jahren der Abfassung der «Kindheitsjahre». Zusammen mit den diesbezüglich ebenfalls ergiebigen Vorworten von Nexhmije Hoxha zu den Kindheitsin Stein» und Enver Hoxhas Erinnerungen stellt Myftaraj (2008, S. 50 ff.) an; angesichts ihres geringen Erkenntniswerts erübrigt sich eine detaillierte Darstellung. 48 Ein zweiter Band von Kokalaris Erinnerungen war für 2019 angekündigt, tauchte aber nie im Handel auf. 49 Selahudin Kokona wird in den «Kindheitsjahren» mehrfach erwähnt, so z. B. S. 145, 152, 204 f., 218.

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und Jugendjahren ergibt sich ein reicher Fundus an Informationen, der durch ein 18-seitiges, detailliertes Namensregister am Schluss des zweiten Bandes von «Mein Leben mit Enver» zudem bestens erschlossen ist. Eine weitere, allerdings vor allem auf die Jahre ab 1939 fokussierte Quelle ist der 2019 erschienene Band «Erfahrungen und Überlegungen in meinem politischen Leben» derselben Autorin. Ebenfalls aus dem familiären Umfeld stammen die Erinnerungen von Ilir Hoxha «Mein Vater Enver Hoxha» (1998). Sie bieten Zusatzinformationen und Anekdotisches u.a. zur Mutter von Enver Hoxha (Gjulo; S. 27–29), zum Kindermädchen Bonia (S. 42 f., vgl. unten S.  63 f.) und zu Hoxhas Liebe für Blumen und Tiere (S. 44–48). Zu den weiteren albanischen Quellen, in denen die Periode der Kindheit in Gjirokastra allerdings einen meist höchst beschränkten Raum einnimmt, sind fünf Bio- resp. Monographien zu Enver Hoxha zu nennen, von denen zwei vor und drei nach dem Systemwechsel erschienen. 50 Gemäß der Systematik von Akulli 2018 (siehe oben Kap. 7) würden die ersten zwei (wie auch die Erinnerungen von Nexhmije und Ilir Hoxha) zur Gruppe der «Faithful» gehören, die letzteren drei zu jener der «Antagonists». Im 1947 anonym erschienen Büchlein «Enver Hoxha, Biografi e shkurtër» (E. H., eine Kurzbiografie) nehmen Herkunft und Kindheitsjahre nur gerade zwei Seiten (S. 9–11) ein. Im Album «Enver Hoxha: Jeta dhe Vepra» (E.H., Leben und Werke, 1986 vom Institut für Marxistisch-Leninistische Studien herausgegeben) sind es acht Seiten (S. 14–21) mit einer Fülle wertvoller (teilweise retuschierter) fotografischer Dokumente. Entsprechend ihrer Entstehungszeit verzichten beide Bücher auf kritische Be- und Anmerkungen, dienen aber dennoch zur Verifizierung einiger Daten und Sachverhalte. Die drei nach dem Systemwechsel entstandenen albanischen Monographien, in denen auch Hoxhas Kindheit vorkommt (Myftaraj, 2008; Fevziu, 2011/engl. 2016; ­Baruti, 2013/2017), 51 legen ihren Schwerpunkt darauf, den «wahren», entmystifizierten

50 Zu ergänzen wäre Ksenafo Akulli (2018), der S. 15–22 auf die Kindheits- und Jugendjahre in Gjirokastra eingeht, wobei er sich vor allem auf die Biografien von 1947 und 1986 und auf Erinnerungen von Nexhmije und Ilir Hoxha stützt und keine über diese hinausgehenden Erkenntnisse bringt. – Auf nicht-albanische Biografien zu Enver Hoxha gehen wir nicht ein; zu nennen wären hier z. B. Jon Halliday (1986): The Artful Albanian: The Memoirs of Enver Hoxha; Thomas Schreiber (1994): Enver Hodja, le sultan rouge oder Rino Benincasa (1995): Enver Hoxha: Der Pharao des Sozialismus und der Söhne des albanischen Adlers. (Der letztgenannte Titel zeichnet sich durch seine christlich-fundamentalistische Orientierung und eine besonders schwache Fundiertheit aus.) 51 Zu Baruti 2017 siehe oben Kap. 7. – Auf Zeitungsartikel, Fernsehinterviews etc. gehen wir hier der schieren Fülle wegen nicht ein. Bei den Büchern zu Hoxha wäre Beqir Ajazis «Kush ishte Enver Hoxha» (Wer war Enver Hoxha; Tiranë 2007: Sht. bot. ‹55›) zu ergänzen; mit Blick auf die Herkunft und Jugend finden sich in diesem rigide antienveristischen Werk S. 23 ff. ein paar Episoden zur bereits früh ausgeprägten Bosheit Hoxhas.

Parallel- und Vergleichstexte, weitere Quellen39

Hoxha zu zeigen, 52 alle drei versprechen ein wissenschaftliches, quellenbasiertes Vorgehen. Bei Myftaraj beziehen sich die Quellen fast ausschließlich auf Passagen aus den Werken von Hoxha und auf teilweise überaus abenteuerliche Schlussfolgerungen, «Enthüllungen» und Spekulationen in Zusammenhang mit diesen. Wo sich keine schriftlichen Quellen bemühen lassen, wird gerne auch die «mündliche Tradition» von Gjirokastra, Korça oder der albanischen Studenten in Paris bemüht. Ein nennenswerter Erkenntnisgewinn verbindet sich mit diesen Spekulationen nicht. Baruti zieht deutlich mehr Quellen (Archivalien, Bücher, Periodica) bei, geht mit diesen aber in ähnlich kreativ-spekulativer Weise um, so dass sich der wissenschaftliche Duktus meist bald verflüchtigt. Zu den Erkenntnissen von Myftaraj und Baruti in Zusammenhang mit der Herkunft und Kindheit Hoxhas zählt u. a., dass die Hoxhas chronische Kollborateure waren – zuerst mit den Osmanen, dann mit den Griechen, dann mit den Italienern –, dass Enver Hoxha der uneheliche Sohn des bosnischstämmigen Bimbashs und Vorstehers der Gendarmerie von Gjirokastra war, dass er Träger inzestuöser Gene war, dass er selbst den Brand seines Elternhauses auf dem Gewissen hatte, dass er gar kein so guter Schüler, dafür aber später Agent im Dienste Zogus war etc. 53 Zeitlich zwischen den Büchern von Myftaraj und Baruti liegt die albanische Ausgabe von Fevzius Hoxha-Biografie, die 2016 in einer von Robert Elsie eingeleiteten und herausgegebenen englischen Fassung erschien. 54 Fevziu stützt sich auf eine Fülle von Quellen, zu denen auch Filmaufnahmen und Texte von nicht-albanischen Autoren, kaum aber Archivalien zählen. Seine Darstellung wirkt eindeutig zurückhaltender, seriöser und faktenbasierter als jene von Myftaraj und Baruti; sie ist deutlich Hoxhakritisch, verzichtet aber auf die Kolportage unbewiesener Gerüchte und diffamierender Unterstellungen. Als übergreifende historische Quellen für die 1920-er und 30-er Jahre und für die Abfassungszeit der «Kindheitserinnerungen» wurden für die vorliegende Edition vor allem die Bände II-IV der «Historia e popullit shqiptar» (Hg. Akademia e Shkencave e Shqipërisë, 2002/07/09) und diverse Beiträge im Band «Albanien» des SüdosteuropaHandbuchs (Hg. K.-D. Grothusen, 1993) beigezogen. Dazu kam eine Fülle von Monographien, Artikeln und Links zu Gjirokastra, zu einzelnen Persönlichkeiten und zu

52 Vgl. die diesbezüglich programmatischen Titel der Monographien von Myftaraj, Band I («Das geheime/versteckte Leben von Enver Hoxha») und Baruti («Enver Hoxha in neuer Optik»). Das Buch von Fevziu trug in der albanischen Ausgabe (2011) den Titel «Enver Hoxha», in der englischen (2016), von Robert Elsie eingeleiteten und herausgegebenen Ausgabe heißt es «Enver Hoxha, the Iron Fist of Albania». 53 Die Liste wäre mit Bezug auf die späteren Jahre um zahlreiche Pikanterien der gleichen Preisklasse fortzuführen. 54 Wir beziehen uns hier auf die genannte englische Ausgabe. Ob und inwiefern sie inhaltlich von der albanischen Ausgabe abweicht, wurde nicht überprüft.

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thematischen Teilaspekten; vgl. die Bibliographie und die entsprechenden Verweise im Text und den Fußnoten.

10. Zur Sprache der «Kindheitserinnerungen» Sprache, Sprachgebrauch und sprachlicher Stil von Enver Hoxha waren zumindest in den 1980er-Jahren, wofern nicht schon früher, aktuelle und in der albanischen Linguistik präsente Forschungsthemen. In den Fachzeitschriften «Studime Filologjike» und «Gjuha Jonë» (unsere Sprache) erschienen allein 1985 mindestens 6 (SF) bzw. 3 (GjJ) Artikel zur Sprache von Hoxha (vgl. Borkent u.a. 1987), sie beziehen sich teils auf die Analyse einzelner Werke, teils auf bestimmte sprachliche Aspekte (Dialektismen etc.). Die Zahl der Artikel und weiterer Publikationen in den vorangegangenen und folgenden Jahren war nicht zu eruieren. Als Autoren treten alle namhaften Linguisten der damaligen Zeit auf (Androkli Kostallari, Mahir Domi, Jani Thomai, Enver Hysa, Gjovalin Shkurtaj etc.). Die Abfassung einschlägiger Publikationen hatte für deren Verfasser/innen fraglos auch einen legitimatorischen Charakter, hierzu gehören auch die rituellen Huldigungen an den Autor und der Verzicht auf die Thematisierung potenziell problematischer Aspekte. Sieht man hiervon ab, stellen viele dieser Beiträge indes noch heute wertvolle, auch für die weitere Forschung nutzbare Material- und Quellensammlungen dar. Hinsichtlich der «Kindheitsjahre» ist von besonderem Interesse der Artikel von Beatriçe Keta und Kornelja Sima «Veçori të leksikut në veprën e shokut Enver Hoxha ‹Vite të vegjëlisë›» (Besonderheiten des Wortschatzes im Werk «Kindheitsjahre» des Genossen Enver Hoxha) in «Studime Filologjike» 39/3, 1985, S. 17–31. Die Autorinnen gliedern die lexikalischen Besonderheiten zunächst in sechs Themenbereiche (Architektur, Ethnographie, Spiele und Spielzeug, Berufsbezeichnungen, Speisen, Pflanzen), innerhalb derer sie das Material dokumentieren und typologisieren. In weiteren Kapiteln gehen sie vertieft und übergreifend auf die typologischen Kategorien (Dialektismen, Lehnwörter, Fremdwörter, Turzismen, Gräzismen etc.) ein. Breit thematisiert und durch Beispiele belegt werden sodann Aspekte der Phraseologie und der von Hoxha verwendeten stilistischen Mittel (Wiederholungen, Ausrufe, Vergleiche etc.). Ein eigenes Kapitel ist den verschiedenen Arten gewidmet, wie Hoxha die Bedeutung seltener Wörter textimmanent erklärt (z. B. durch Synonyme, Umschreibungen, Sacherklärungen); wie unten zu zeigen ist, sind die Autorinnen hier etwas allzu euphorisch. Trotz einiger Einschränkungen, v.a. was die wertenden Teile betrifft, ist der Aufsatz von Keta/Sima durch seine Systematik und sorgfältige Dokumentation in seinen strikte linguistischen Teilen noch heute brauchbar.

Zur Sprache der «Kindheitserinnerungen»41

Mit Blick auf die Sprache der «Kindheitserinnerungen» fallen in erster Linie drei Dinge ins Auge, die die Bereiche Lexikon, Syntax und Stilistik/Integration von Dialektismen betreffen. In lexikalischer Hinsicht erstaunt die Fülle von «seltenen» Wörtern, d. h. von dialektalen und/oder nicht mehr gebräuchlichen oder (vor allem aus dem Türkisch-Osmanischen oder Griechischen) entlehnten Lexemen. Viele davon sind auch in umfangreichen Nachschlagewerken (Akademia 1984, Dhrimo 2005 etc.) oder in dialektal spezialisierten Wörterbüchern (Tase 2006, Zazani 1999 etc.) nicht zu finden. Als nützlich erwies sich hier einzig Xhaxhius Wörterbuch zur Mundart von Gjirokastra (Xhaxhiu 2010); für einen Teil der idiomatischen Wendungen bewährte sich das phraseologische Wörterbuch von Thomai (1999). Bei Lehnwörtern boten in einigen Fällen Dizdari 2005 (Orientalismen im Albanischen) oder Wörterbücher des Griechischen und Türkischen Hilfe; vielfach führten aber erst Nachfragen bei Spezialisten oder gar, mittelbar, bei betagten Gewährsleuten aus Gjirokastra zur Klärung. Die lexikalischen Schwierigkeiten des Werks begründen sich in erster Linie mit dessen Zeit- und Ortsgebundenheit und mit dem Bemühen des Autors um Authentizität und Lokalkolorit. Als zeitgebunden erweisen sich z. B. diverse religiöse, militärische und verwaltungsbezogene Begriffe, in denen sich noch der türkisch-osmanische Sprachgebrauch gehalten hat (mejtep, huqumet, hezber, derhem etc.). Zeit- und teilweise auch ortsgebunden sind auch die Begriffe für manche Kinderspiele und (z.T. lokale) Speisen, die heute außer Gebrauch geraten sind (arabadaule, turana; skordhan, koshalva etc.); dasselbe gilt für einen Teil der vielen architektonischen und handwerklichen Fachbegriffe (dhipato, sufa, sobalkë; bragaç, pallackë etc.). Als ortsgebunden lassen sich die dialektalen Wörter und Wendungen bezeichnen, von denen viele zugleich heute nicht mehr gebräuchlich sind (camunxë, ingjire, paça, zapanat, holasem etc.). Anzunehmen ist, dass viele der lexikalischen Schwierigkeiten das Verständnis bereits zur Zeit der Abfassung der einzelnen Kapitel (1968–76) erschwerten, bzw. dass die entsprechenden Begriffe schon damals nicht mehr als allgemein bekannt vorausgesetzt werden konnten. Für den primären Verwendungskontext des späteren Buches, d. h. für den intrafamiliären Gebrauch, stellte dies kein größeres Problem dar, da Unklarheiten zumindest zu Lebzeiten des Autors ja jederzeit direkt geklärt werden konnten. Mit Blick auf diesen Kontext ist auch plausibel, dass der Autor die ungebräuchlichen Wörter und Wendungen nicht ersetzte, sondern sie höchstens vereinzelt paraphrasierte oder mit Zusätzen in der Art von «wie man damals sagte» ergänzte (s. z. B. S. 128, 175). Für die Buchpublikation und damit für ein breites Publikum (vgl. die Auflage von 75 000 Exemplaren!) reichte dies freilich nicht mehr. In der Tat wurden hier in den rund 60 Fußnoten neben Sach- auch einige Worterklärungen gegeben. Gesamthaft halten sich die entsprechenden Verständnishilfen aber in Grenzen, was zur Aussage im

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Vorwort (s. u. S.  67) passt, dass der Autor nicht für eine Überarbeitung zu gewinnen war. Angepasst wurden die Rechtschreibung und Morphologie, die durchwegs den Normen der vereinheitlichten albanischen Schriftsprache entsprechen, wie sie am Rechtschreibe-Kongress vom 20.-25. November 1972 festgelegt wurden. Die originalen Aufzeichnungen entstanden zu einem guten Teil vor dieser Normierung. Da sie uns nicht einsehbar waren, lässt sich nicht beurteilen, ob und inwiefern weitere sprachliche Aspekte (Grammatik, v.a. Morphologie) aktualisiert wurden; fest steht einzig, dass das originale Vokabular offenbar weitgehend oder ganz in seiner authentischen Form belassen wurde. In syntaktischer Hinsicht ist die Sprache der «Kindheitserinnerungen» unauffällig, was Satzbau und syntaktische Komplexität betrifft. Überraschend ist die Länge mancher Perioden, worunter bisweilen die Übersichtlichkeit und Leserfreundlichkeit leiden. Den Spitzenwert in der Detailanalyse eines exemplarischen Kapitels («Durch Häuser und Gassen», s. u. S. 95–106) erreicht ein Satz mit nicht weniger als 161 Wörtern; der Durchschnittswert aller Sätze dieses Kapitels beläuft sich auf 26,6 Wörtern pro Satz. Dieser Wert ist zwar doppelt so hoch wie jener für deutsche Texte (12,98 W/S), 55 liegt aber durchaus im Rahmen von vier ebenfalls ausgezählten albanischen Vergleichstexten. 56 Selbstverständlich wären hier weitere Untersuchungen nötig, zumal die Satzlänge nur eine von verschiedenen Variablen ist, welche die Verständlichkeit eines Textes beeinflussen. Stilistisch und im Spannungsfeld von Dialekt und Standardsprache fällt auf, dass der Autor sparsam, aber bewusst Äußerungen von Einheimischen in der lokalen Mundart wiedergibt, dies fraglos mit dem Ziel höherer Authentizität. Dialektale Elemente setzt Hoxha auch in anderen seiner Bücher ein. Shkurtaj hat dieses Stilmittel in seinem Aufsatz «Sprachliche Typisierung in einigen Werken des Genossen Enver Hoxha» (Shkurtaj 1987) anhand der Werke «Unter einfachen Menschen» (1984) und «die Titoisten» (1982) dokumentiert und analysiert; Keta/Sima (1985) liefern Beispiele für die «Kindheitsjahre». Naheliegenderweise geht es in den «Kindheitsjahren» vor allem um Einsprengsel aus der Mundart von Gjirokastra, die zur toskisch-südalbanischen Dialektgruppe gehört (vgl. die Darstellungen von Karagjozi Kore 2014, Zazani 1999, 55 Wert für die Textsorte nichtdialogisierter Roman (nach Pieper 1979, zit. in Wikipedia «Satzlänge»). 56 Ausgezählt wurden Ismail Kadare: Kapitel 1 der «Chronik in Stein» (14,2 Wörter/Satz; stärker dialogisierter Text); Nexhmije Hoxha: Vorwort zu den «Kindheitsjahren» (28,7 W/S); je zwei Artikel von Okt./Nov. 2019 aus den Tageszeitungen «Koha jonë» (26,4 W/S) und «Gazeta Telegraf» (30,6 W/S).

Chronologischer Überblick43

summarisch Xhaxhiu 2010). Zu deren Charakteristika zählt im Bereich der Phonematik u.a. die Ersetzung des standardsprachlichen (Lautwert ü) durch , die sich auch in den «Kindheitsjahren» findet (Bsp.: «hira te dhoma e krietarit» statt «hyra në dhomën e kryetarit» (ich ging ins Zimmer des Bürgermeisters), S. 105 im Original; «na mbite» statt «na mbyte» (du bringst uns noch um), S. 176 i.O.), dazu kommen diverse Eigenheiten im Bereich der Morphologie, des Wortschatzes und der Phraseologie (Bsp.: «kë ngjave kështu, kishe një deli baba, nuk bën të piç me këta njerëz» statt «kujt i ke ngjarë kështu, kishe një babë trim, nuk bën që të pish me këta njerëz» (wem schlägst du denn da nach; du hattest doch einen vorbildlichen Vater, du sollst doch nicht mit diesen Leuten trinken), S. 262 i.O. Zum Lokalkolorit tragen sodann einige Einsprengsel aus dem benachbarten Griechischen bei, z. B. «qir» < kyrios, Herr; «pe­ ­d himu» < paidi mou, mein Kind; «stodhiavolo», zum Teufel.

11. Chronologischer Überblick 11.a  Zur albanischen Geschichte, Fokus Gjirokastra 1419–1912 Gjirokastra (türkischer Name: Ergiri) gehört zum osmanischen Reich, seit 1867 zu dessen Vilayet Janina. um 1830–1912  Bewegung der albanischen Rilindja Kombëtare (nationale Wiedergeburt) mit den Zielen der Schaffung eines albanischen Staates, Schulwesens und Kulturbetriebs. 57 1878 Berliner Kongress zur Neuregelung der Grenzziehungen auf dem Balkan. Gegen die Abtretung albanisch besiedelter Territorien an die Balkanstaaten wendet sich die Liga von Prizren, ein muslimischer, hauptsächlich von Albanern dominierter Zusammenschluss. Sie tritt zunächst für den Verbleib der albanischen Siedlungsgebiete beim Osmanischen Reich ein, wendet sich dann aber gegen die osmanische Regierung, die die Gebietsabtretungen umsetzt. 1878–1881 Aufstand der Liga von Prizren gegen die Abtretung albanischer Territorien an die Nachbarstaaten; Gjirokastra wird zum Zentrum der Liga im Süden. Diese wird 1881 durch osmanische Truppen militärisch zerschla­ gen. 1908 16. Oktober: Geburt Enver Hoxhas in Gjirokastra. 57 Zur Rilindja siehe den kurzen Überblick bei Schmidt-Neke 1993a, S. 30–34 und den Band II der «Historia e popullit shqiptar» (Hg. Akademia e Shkencave e Shqipërisë, 2002), der ganz der Rilindja bzw. dem Zeitraum 1830–1912 gewidmet ist. Die Rilindja und ihre Vertreter, zu denen auch Hoxhas Onkel Hysen (Baba Çen) gehörte, wird in den «Kindheitserinnerungen» diverse Male erwähnt, siehe z. B. S. 90, 118 f., 135.

44Einleitung

1908 1912

1912–1925 1913 1913

1914–1920 1914 1914 1914 1916–1918

1917 1918 1920 1920 1922 1928 1939–1945 1939 1939–1944

Kongress von Monastir/Manastir; Einigung über das Alphabet, das für Albanisch verwendet werden soll. Eröffnung der ersten albanischen Schule («Liria») in Gjirokastra. 28.  November: Proklamation der Unabhängigkeit Albaniens in Vlora. Gjirokastra wird Hauptort des gleichnamigen Sanxhaks (Verwaltungsbezirk, später: Präfektur). Albanien zählt zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Ländern Europas. Periode der «Fourteen Successive Ineffective Governments» (E. Jacques, siehe oben Kap. 4.a). Frühling: Griechische Besatzung der Landschaft Nord-Epirus unter dem Generalgouverneur Christakis-Zographos. 30.  Mai: Abschluss der Botschafterkonferenz in London. Anerkennung des Staats Albanien als unabhängiges Fürstentum, allerdings innerhalb von Grenzen, die nur etwa die Hälfte der albanischen Siedlungsgebiete umfassen. Albanien ist ein Land ohne Zentralregierung, es wird zur Transit- und Besatzungszone verschiedener Kriegsparteien im Ersten Weltkrieg. März – September: Regime des Prinzen Wilhelm von Wied als König von Albanien. Wieds Regierung wird von den Epiroten im Süden nicht anerkannt. 1. März: Ausrufung der «Autonomen Republik Nord-Epirus» mit Gjirokastra als Hauptstadt und dem Ziel eines Anschlusses an Griechenland. Italienische Besatzung von Vlora. Besatzung von Nord- und Mittelalbanien durch Österreich und von Südalbanien durch Italien und Frankreich. Gjirokastra fällt unter die restriktive italienische Besatzung. Erst am 1. März 1917 wird das Hissen der albanischen Fahne erlaubt. 3. Juni: Italien ruft in Gjirokastra die Unabhängigkeit von Albanien aus; Albanien soll ein italienisches Protektorat sein. Bildung einer provisorischen albanischen Regierung. Rückzug der Österreicher und Franzosen. Aufstand gegen die Italiener in Vlora. Januar: Reorganisation der provisorischen Regierung am Kongress von Lushnja. Ahmet Zogu wird Ministerpräsident, ab 1925 Präsident der Republik Albanien. Ahmet Zogu erklärt sich zum König von Albanien. Zweiter Weltkrieg. Einmarsch italienischer Truppen in Albanien, Flucht Ahmet Zogus. Nationaler Befreiungskrieg in Albanien.

Chronologischer Überblick45

1941

8. November: Gründung der Kommunistischen Partei Albaniens (ab 1948: Partei der Arbeit Albaniens). 1943 Kapitulation Italiens; Besatzung Albaniens durch deutsche Truppen. 1944 Befreiung (Abzug der deutschen Truppen) am 29. November; Bildung der kommunistischen Regierung; Enver Hoxha wird Premierminister. 1944–1948 Enge Beziehungen zu Jugoslawien bis zu dessen Ausschluss aus dem Kominform. 1946 Ausrufung der Volksrepublik Albanien mit Enver Hoxha als Premier-, Aussen- und Verteidigungsminister. 1948–1961 Anlehnung an die Sowjetunion; Krise ab 1958/59. 1954 Enver Hoxha gibt das Amt des Premierministers und später auch das des Aussen- und Verteidigungsministers ab. Er bleibt bis 1985 Erster Sekretär des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Albaniens. 1961 Abbruch der Beziehungen zur Sowjetunion aus ideologischen Gründen; Beginn der Annäherung an die Volksrepublik China. 1966–1969 und Folgejahre: albanische «Kulturrevolution» (Religionsverbot, Vollkollektivierung, Emanzipation der Frauen, Kampf gegen Bürokratie, fremde Erscheinungen und Liberalismus). 1967 Verbot jeglicher Religionsausübung; Albanien wird zum ersten atheistischen Staat der Welt. 1968 Austritt Albaniens aus dem Warschauer Pakt. 1968–1978 Vertiefung der Beziehungen zur Volksrepublik China; Krise ab 1975; 1978 Bruch aus ideologischen Gründen; Einstellung der chinesischen Wirtschaftshilfe. 1972 «Säuberungswellen» in verschiedenen Bereichen, Verschärfung des Klas­ sen­­k ampfs. 1973 «Kampf gegen fremde Erscheinungen und liberale Haltungen diesen gegen­­über» als Hauptthema des 4. ZK-Plenums zur Kulturpolitik. 1978–1990 «Albanischer Alleingang», zunehmende Isolation und wirtschaftliche Probleme. 1985 11. April, Tod Enver Hoxhas. Sein Nachfolger wird Ramiz Alia. 1990/91 Sturz der sozialistischen Regierung in Albanien; Wirren, Massenflucht, Neuwahlen.

11.b  Zur Biografie von Enver Hoxha Nähere Verwandtschaft Eltern: Halil (1875–1957) und Gjylihane, genannt Gjyle oder Gjulo (1880–1969), geborene Çuçi. Der Vater war Kaufmann (Tuchhändler, nach anderen An­­gaben Apotheker, lt. Fevziu (2016, S. 12) auch Imam), später städtischer

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Angestellter (Waagemeister; siehe S. 279) und stand dem Bektashi-Orden nahe. Die Familie gehörte dem Mittelstand an. 58 Siehe auch S. 109. Geschwister:  Fahrije, verh. Omari (1898–1970), Beqir (1900–1927), Haxhire, genannt Haxho, verh. Çipi, (1903–1991), Sanije, genannt Sano (1912–2004) und weitere, als Kleinkinder Verstorbene, siehe S. 109, 288, 297, 298. Wichtigster Onkel und zentrale Bezugsperson:  Hysen Hoxha, genannt Baba Çen (1861–1934), Politiker und Bürgermeister von Gjirokastra, «Oberhaupt» der Familie; siehe S. 109, 288. Kinder: Ilir (geb. 1949; verheiratet mit Teuta), Pranvera (geb. 1954; verwitwet von Klement Kolaneci), Sokol (geb. 1957, verheiratet mit Liliana). Großeltern väterlicherseits:  Nexhip und Jeko Hoxha. Großeltern mütterlicherseits:  Die Großmutter hieß Hasije Çuçi Açeja. Der Name ihres früh verstorbenen (siehe S. 275) Gatten war nicht zu eruieren. Daten 1908

16. Oktober, Geburt Enver Hoxhas in Gjirokastra, Stadtteil Palorto. 59 Zwischen 1913 und 1916: Brand des Hauses der Familie Hoxha in Palorto während der griechischen Besatzung (siehe Anm. 29). Anschließende Wohnorte: Nach dem Brand bleibt die Familie zunächst eine Zeitlang im Viertel Palorto «im Haus von Gjulfidan» (siehe S. 172), zieht dann für ein oder einige Jahre ins Viertel Cfaka (siehe S.  254 ff., 272 f.) und schließlich (zur Zeit, als Enver Hoxha die Stadtschule be-

58 Gemäß der anonymen «Biografi e shkurtër» von 1947 (S. 7 f.) stammt Enver Hoxha aus einer «mittleren» (mittelständischen) Intellektuellenfamilie. Seine Großeltern bzw. Vorfahren hatten türkische Schulen besucht und waren als Friedensrichter in Albanien, Makedonien und anderen Gebieten des osmanischen Reichs tätig gewesen. Der Grundbesitz der Familie beschränkte sich auf 4 Hektaren Land in der Landschaft Dropull (lt. Myftaraj (2008, S. 64) 71 dynym = 7,1 Hektaren im Dorf Haskova im Dropull) und das Haus in Gjirokastra. Die ökonomische Lage der Familie zur Zeit von Enver Hoxhas Kindheit war außerordentlich schlecht, dies war auch der Grund, dass sein Vater und Bruder als Arbeitsmigranten in die USA gingen (Biografi e shkurtër, S. 8). Lt. Myftaraj (2008, S. 39), einer allerdings überaus tendenziösen Quelle, war die Familie Hoxha traditionell «eine Art islamisch-osmanischer Kleriker und Bürokraten, die mittels des Gehalts eng mit dem Sultan verbunden waren» und gleichsam den Prototyp einer osmanophilen Kollaborateuren-Sippe darstellte. Auch zur Vaterschaft von Halil Hoxha serviert Myftaraj (a. a. O., S. 32 ff.) ebenso spektakuläre wie unbelegte Erkenntnisse: Der wahre Vater Enver Ho­ ­x has sei der bosnische Bimbash Halil Musa Bej gewesen (siehe S.  160 f.), der Enver Hoxhas Mutter umso leichter verführte, als deren Ehemann Halil «ein idiotischer, hässlicher Zwerg» (S. 33) gewesen sei. Benincasa wiederum, der Enver Hoxha als Inkarnation des Antichrists entlarvt, weiß, dass Hoxha eine streng islamische Erziehung genoss und keine finanziellen Probleme kannte. «Er blieb den armen Leuten und der Not seiner Heimat fern» (1995, S. 10). 59 Fevziu (2016, S. 10) gibt mit Bezug auf verschiedene Dokumente vier weitere Geburtsdaten an; Baruti (2013, S. 30 f.) sogar sieben, von denen er den 12. Mai 1908 (Eintrag im Zivilstandsregister von Gjirokastra) am wahrscheinlichsten findet.

Chronologischer Überblick47

suchte, siehe S. 284) in den Stadtteil Hazmurat, wo ihr der Bruder von Enver Hoxhas Mutter, Shyqyr Çuçi, ein Haus zur Verfügung stellt, siehe S. 254, 274, 284. 1914/15–1926  Schulbesuch in Gjirokastra60 - 4–5 Jahre (d. h. von 1914/15–1918/1920) Elementar- bzw. Grundschule (zuerst muslimische Elementarschule «Mejtep» unter Mullah Kaman, siehe S. 121, dann Unterricht zunächst in der Moschee mit Vehip Hoxha als Lehrer, siehe S. 121 f., ab Februar  1917 in der eben erst eröffneten Schule «Drita» (siehe S. 123, 126), wo Hoxha auch Italienisch lernt. - 2–3 Jahre (wohl ab 1920/21–1923) «Stadtschule» (shkolla qytetëse, vermutlich ähnlich der Sekundarstufe I), siehe S.  136 f. - 3 Jahre (Nov. 1923–1926) Übertritt in die sechste Klasse des eben erst eröffneten Lycée français in Gjirokastra (eigentlich «Halblyzeum» mit nur vier Klassen), siehe S. 138 ff.). 1924 Enver Hoxha ist Mitbegründer des kulturell orientierten Schüler- und Studentenklubs «Studenti» (siehe S.  194 f.). 1927–1930 Besuch des Lycée français in Korça (mit einem Stipendium), Abschluss mit dem Baccalauréat. 1930–1933 Enver Hoxha erhält ein Stipendium für das Fach Botanik und studiert dies in Montpellier.61 1934 Streichung des Stipendiums; Abreise nach Paris. Hier wie schon in Montpellier Kontakt mit kommunistischen Kreisen (u.a. mit Paul Vaillant Cou­ turier, Chefredaktor des Zentralorgans der französischen KP «l’Huma­ nité») und Vertiefung in die entsprechende Literatur. 60 Die exakten Daten sind schwer zu eruieren und waren Enver Hoxha offensichtlich auch nicht mehr gegenwärtig, vgl. S.  138 f. Die Angaben in den eingesehenen Hoxha-Biografien (hier v.a.: Instituti … 1986, S. 18–21, Baruti 2013, S. 34 f., Fevziu 2016, S. 13 f.) tragen wenig zur Präzisierung bei und sind teilweise widersprüchlich (so spricht z. B. Baruti a. a. O. von drei Jahren Besuch des Mejteps oder geben Fevziu und Baruti die Dauer des Lyzeumbesuchs mit nur zwei Jahren an). Auf die Unklarheiten hinsichtlich der Datierungen des Besuchs der verschiedenen Schulen weist auch Myftaraj (2008, S. 69 ff.) detailliert hin; klar ist für ihn (siehe v.a. S. 73 f.), dass es sich auch hier um böswilige Verschleierungsmanöver handelt. (Dass Enver Hoxha z. B. nur zwei Jahre in den Mejtep ging und keine Karriere als islamischer Geistlicher einschlug, hänge mit den Schulkameraden im Mejtep zusammen, die ihn als «Bastard des Bimbashs» aus dem Mejtep ekelten, worauf ihn Vehip Hoxha in seine Schule aufnahm.) – Mitzubedenken ist, dass die Zeit von Hoxhas Schulbesuchs in eine politisch überaus wirre Periode fällt. 61 Lt. der anonymen «Biografi e shkurtër» von 1947, S. 11, dauerte das Studium in Montpellier nur ein Jahr, lt. Baruti (2013, S. 43) dreieinhalb Jahre. Dass Enver Hoxha ein Stipendium erhielt, erklärt Baruti (a. a. O., S. 40–43) auf abenteuerliche Weise damit, dass sich dieser als Gegenleistung vom Geheimdienst Ahmed Zogus als Agent anwerben ließ. Bezüglich Hoxhas Aufenthalt in Paris hält Baruti es für ziemlich wahrscheinlich, dass der Bonvivant Hoxha ein Verhältnis mit Edith Piaf hatte (a. a. O. S. 53).

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1935 1936

1939–1944 1941 1941–1985 1944 1945 1946 1949–1957 1973–1985 1974 1976–1983 1985

Studium (Jus) in Brüssel und Tätigkeit als Sekretär des albanischen Konsulats daselbst. Rückkehr nach Albanien; Tätigkeit als Lehrer am Gymnasium von Tirana und (ab April 1937) als Hilfslehrer für Moral am Lyzeum von Korça; 1939 Berufsverbot. Intensive Kontaktpflege mit albanischen Kommunisten, Antifaschisten und Gegnern des Königs Ahmet Zogu; Vorbereitung der Gründung der Kommunistischen Partei. Als Partisan und Militärführer engagiert im Nationalen Befreiungskrieg. Gründung der Kommunistischen Partei Albaniens. Enver Hoxha wird Erster Sekretär der Zentralkomitees und behält dieses Amt bis zu seinem Tod. Enver Hoxha bezieht die Villa Belloti im sog. Blloku in Tirana, wo die Familie bis 1974 lebt. 1. Januar, Heirat mit Nexhmije Xhuglini (1921–2020). Wahl zum Premier-, Außen- und Verteidigungsminister; diese Ämter gibt er ab 1954 ab (siehe oben). Geburt der Kinder Ilir (1949), Pranvera (1954) und Sokol (1957). Erster Herzinfarkt 1973; gesundheitliche Probleme (Sehfähigkeit; Diabetes seit 1948; siehe Kap. 4.b). Umzug der Familie Hoxha in ein größeres Haus im Blloku. Periode intensiver publizistischer Tätigkeit, es erscheinen diverse Bücher, darunter auch die «Kindheitserinnerungen» (1983) und weitere Memoiren (siehe Kap. 4.b). 11. April: Tod Enver Hoxhas.

12. Zur Aussprache des Albanischen c z ç tsch dh stimmhaftes th wie in Englisch «that» ë wenn betont: wie ö; wenn unbetont: nicht ausgesprochen oder wie schwaches e wie in «ich lache» gj stimmhaftes dsch wie in «Dschungel» ll «dickes» l wie in Englisch «all» q stimmloses tj/tschj wie in «tja» oder «tschüss» rr stark gerolltes r s immer stimmlos ausgesprochen sh stimmloses sch th stimmloses th wie in Englisch «thing» v w

Literaturverzeichnis49

x ds (d + stimmhaftes s) xh dsch (d + stimmhaftes sch) y ü z stimmhaftes s zh stimmhaftes sch

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Links Deutsch-Albanische Freundschaftsgesellschaft (DAFG): http://www.albanien-dafg. de/ Website, die u.a. auch eine Rubrik «Publikationen» enthält, wo die seit 1972 erscheinenden «Albanischen Hefte» einsehbar sind. Enver-Hoxha Net: http://www.enver-hoxha.net/content/content_deutsch/home.htm Website in den Sprachen Albanisch, Englisch, Deutsch; Rubriken Lebenslauf von Enver Hoxha, Fotoalbum, Bücher (in der albanischen Version inkl. 70 der 71 Bände «Werke»). Link zum pdf der illustrierten albanischen Ausgabe der Kindheitsjahre: http://www.enver-hoxha.net/content/content_shqip/librat/librat-eh_vite_te_vegjelise.htm Enver Hoxha Multilingual Website: http://www.enverhoxha.info/ (Lebenslauf, Bücher, Fotos, Videos etc.). Gjirokastra Foundation: Website http://www.gjirokastra.org. Website mit Links zu Informationen über Gjirokastra (gjirokastra.org/gjirokastra; Geschichte, Architektur, Kultur, Region etc.) / Führungen durch Gjirokastra und zur Gjirokastra Foundation (gjirokastra.org/gjirokastra-foundation) (Englisch). Gjirokastra online: http://gjirokastraonline.com/: Website mit den Rubriken Geschichte/ Küche/Tourismus/‹Ungesagtes› (Varia)/Sport/Events/Kontakt (nur Alba­nisch). Munzinger Archiv GmbH: Albanien (Bearbeitung Michael Schmidt-Neke): https:// www.munzinger.de/search/go/land.jsp?id=alb&name=Albanien (fundierte Daten und Informationen zu Geschichte, Politik, Wirtschaft etc.; registrierungspflich­tig).

Enver Hoxha: Kindheitsjahre.   Erinnerungen an Gjirokastra

[S. 4] An den Vorbereitungen für die Veröffentlichung dieses Buches arbeiteten außer den Redaktoren des Instituts für marxistisch-leninistische Studien63 mit Sorg falt Redaktoren und Spezialisten des Verlags «8 Nëntori» und des Polygrafischen Kombinats mit. Bei den fotografischen Illustrationen halfen: Das Zentralarchiv der Partei, das Institut für Kulturdenkmäler, das Institut Nr. 1 für Studien und Projektierungen, die albanische telegrafische Agentur, die Universität Tirana, die Handelskammer und das Museum des Nationalen Befreiungskampfes in Gjirokastra.

63 Direktorin des Instituts für marxistisch-leninistische Studien war Enver Hoxhas Gattin Ne­ ­x hmije.

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Enver Hoxha: Kindheitsjahre.  Erinnerungen an Gjirokastra

[S. 5] Anstelle eines Vorwortes64 Ich habe Gjirokastra gekannt – weniger durch meine Arbeitsreisen oder die Besuche, die mich dorthin führten, als durch Envers Erzählungen in den Abendstunden am Kamin und durch die Gespräche, die er während des Nachtessens mit seiner Mutter führte.65 In späteren Jahren setzten wir uns zu ihr ans Bett oder an den Kamin, denn das Alter setzte ihr zu und bewirkte, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte – sie, eine so arbeitsame und geduldige Frau, ungebeugt durch die Sorgen des Lebens, die Abwesenheit ihres Mannes,66 den Brand ihres Hauses oder den Tod von Kindern:67 Leidfälle, wie sie damals üblich und verbreitet waren. Genosse Enver empfand eine ganz besondere Zuneigung zu seiner Mutter, dies nicht nur wegen der guten Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, sondern auch wegen all der Ängste und Sorgen um ihren einzigen Sohn, die sie während der Jahre des Nationalen Befreiungskampfes durchgemacht hatte. Enver war damals als Illegaler unter höchsten Risiken von einem Ort zum anderen gezogen, von den Besatzern schon zum Tod verurteilt, oder er stieg in Schneestürmen über Berge und fand bescheidene Unterkunft in den Hütten des Volkes, wo er ein Stück Maisbrot mit etwas dünnem Jo 64 Zur Entstehung dieses Vorworts schreibt Nexhmije Hoxha im zweiten Band von «Jeta ime me Enverin» [mein Leben mit Enver], 2001, S. 310: «Ich schrieb ein Vorwort, das Enver aber überhaupt nicht gefiel. Er sagte mir: ‹Das passt nicht zu diesem Buch. Was soll dieser offizielle, trockene Stil? Bring das so zu Papier, wie wir es ungezwungen mit meiner Mutter besprochen haben, bei den gemeinsamen Mahlzeiten oder an ihrem Bett› etc. Also setzte ich mich hin und schrieb ein [neues] Vorwort mit Freude und leichter Hand. Ich begann nach dem Mittagessen und war vor dem Nachtessen fertig. Ich gab es Enver zu lesen und sah schon seinen Augen an, dass es ihm gefiel. Und wirklich sagte er mir schließlich: ‹Ja, so passt es gut.›» 65 Die Eltern von Enver Hoxha (Halil (1875–1957) und Gjylihane bzw. Gjyle oder Gjulo; 1880– 1969), sowie Envers unverheiratete Schwester Sanije (Sano; 1912–2004) und die verwitwete Schwester Haxhire (Haxho; 1903–1991) mit ihren drei Kindern lebten mit der Familie ihres Sohnes in Tirana, wohin diese nach der Befreiung (Ende 1944/Anfang 1945) übersiedelt war. Vgl. hierzu und zu den Eltern von Enver Hoxha und zu dessen Schwester Sanije oben S. 45 f. und Nexhmije Hoxha: Jeta ime me Enverin (mein Leben mit Enver), Band 1, S. 162 ff. und speziell zur Großmutter Ilir Hoxha: Babai im Enver Hoxha (Mein Vater Enver Hoxha), S. 27–29. Der Wohnsitz der Familie in Tirana war bis 1974 die Villa Belloti, anschließend ein Neubau; beide liegen im sog. Blloku. 66 Der Vater von Enver Hoxha, Halil Hoxha (1875–1957) war zusammen mit seinem älteren Sohn Beqir einige Jahre Arbeitsmigrant in den USA gewesen und hatten in einem Stahlwerk in Detroit gearbeitet (lt. Fevziu (2016, S. 13) waren Vater und Bruder fünf Jahre abwesend, lt. der anonymen «Biografi e shkurtër» von 1947, S. 8, dauerte der Aufenthalt in den USA bloß ein Jahr). Gemäß Myftaraj (2008, S. 65), einer allerdings wenig vertrauenswürdigen Quelle, emigrierten Halil und Beqir zunächst nach Frankreich, wo sie in Bergwerken arbeiteten, dann aber, mit Beginn des Ersten Weltkrieges, in die USA weiterzogen. 67 Ob neben Beqir Hoxha (1900–1927) weitere Geschwister Enver Hoxhas (evtl. im Säuglingsalter) verstorben sind, war nicht zu eruieren; es liegt aber angesichts der Stelle S. 288 nahe, wo Enver Hoxha schreibt, dass seinem Vater drei Söhne und fünf Töchter geboren wurden.

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ghurt zu essen bekam. Kein Zweifel, dass er sich in diesen Momenten an die schmackhaften Speisen seiner Mutter erinnerte, an das warme Fladenbrot, das sie ihm als Proviant [S. 6] mitgab, wenn er zur Schule oder zu einem Picknick ging, oder an den gebratenen Käse, den sie ihm auf der Glut zubereitete. Diese Gespräche belebten unser Familienleben; nicht nur seine Eltern, sondern auch ich genoss sie, weil ich dabei immer mehr Details aus dem Leben meines Mannes, seiner Familie und der Leute, unter denen er aufgewachsen war, kennenlernte. Was mir besonderen Eindruck gemacht hat und mich noch heute beeindruckt ist, wie er diese Gespräche genau dann beginnt und in seinen Erinnerungen an frühere Zeiten versinkt, wenn der äußere Druck am größten ist. So etwa, wenn er an lärmigen Versammlungen teilgenommen und Zusammenstöße mit Gegnern wie Sejfulla Ma­ lëshova,68 Koçi Xoxe69 und deren Kumpanen, mit Leuten wie Stojnić und Zlatić70 durchgestanden hatte. Setzten wir uns aber zum Essen, so fing er mit allerlei Gesprächen an, vor allem mit seiner Mutter. Envers Vater hingegen, «der Onkel», wie ihn alle nannten,71 saß ruhig da und hörte zu. Ab und zu warf er mir einen Blick zu, schüttelte den Kopf oder verzog den Mund, als ob er mir sagen wollte: «Wem will er da wohl etwas vormachen mit diesem Gelächter?» Der «Onkel» wie auch die ganze Familie wussten sehr wohl, dass Enver viel Arbeit hatte, dass das Land arm war und am Boden lag. Es kamen und gingen auch unabläßig Leute zu uns, es wurden Versammlungen abgehalten, die die ganze Nacht über und oft bis in die Morgenstunden dauerten. Was in diesen Versammlungen diskutiert wurde, wussten Envers Eltern nicht, aber sein Vater hatte die Gewohnheit, schon um vier Uhr aufzustehen, den Küchenofen einzuheizen und sich einen Kaffee zuzubereiten. Anschließend streifte er durch das Haus oder den Hof, je nach Jahreszeit.72 Und oft staunte er nicht schlecht, wenn er aus seinem Zimmer kam und im Salon noch immer Stimmen hörte. Wenn dann auch ich aus 68 Sejfulla Malëshova (1900 oder 1901–1971), Lyriker, Politiker, hoher Parteifunktionär; Gegner von Koçi Xoxe; geriet schon in den 1940-er Jahren in Widerspruch mit Enver Hoxha und wurde 1946 seiner Ämter enthoben. 69 Koçi Xoxe (1911–1949), Politiker, in den 1940-er Jahren hoher, jugoslawienfreundlicher Parteifunktionär und Rivale Enver Hoxhas; wurde 1948 aus der Partei ausgeschlossen und als Verräter hingerichtet. 70 Velimir Stojnić (1916–1990) 1944–1945 jugoslawischer Militärgesandter in Albanien; Savo Zlatić (1912–2007), hoher jugoslawischer Funktionär, 1946–1948 Gesandter der KP von Jugoslawien in Albanien. 71 Zu Enver Hoxhas Vater Halil, genannt «der Onkel», siehe S. 109. 72 Vgl. hierzu Vera Bekteshi: Vila me tri porta, S. 10: «… dort kam eben der Vater des Chefs [= Enver Hoxha] vorbei, gekleidet in seine lange Dolloma, die uns Kinder immer sprachlos ließ; aber wir wagten nicht zu fragen, warum er sie trug». Die Dolloma bzw. der Dolman ist ein knielanger, vorne offener Mantel aus Tuch oder Filz, der zur traditionellen Kleidung älterer muslimischer Frauen und Männer gehörte und im Tirana der 1960er-Jahre offenbar eher exotisch wirkte. Die Dolloma von Halil Hoxha war aus einem Stück graugrünen Stoffs geschneidert, wie Bekteshi weiter ausführt.

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dem Schlafzimmer kam, weil ich keine Ruhe fand und darauf wartete, dass die Sitzung zu einem Ende käme, fragte er mich: «Schwiegertochter,73 sind die noch immer nicht fertig? Was machen die bloß, warum schreien sie, warum zanken sie sich?» Envers Vater konnte nicht begreifen, dass sein Sohn gerade weil er so viel Sorgen hatte, diese manchmal beiseiteschieben und zumindest für eine kurze Zeit in die süßen Erinnerungen seiner Kindheit tauchen wollte, die für ihn wie eine erfrischende Dusche waren. Das konnte folgendermaßen beginnen: «Erinnerst du dich noch, Mutter, wie ich das erste Mal zur Schule ging …? Erinnerst du dich noch, wie du mir aus Lappen einen Ball gemacht hast …? Weißt du noch, wie ihr mir diese Schuhe mit den genagelten Sohlen gemacht habt, weil die anderen immer zerrissen waren …? Erinnerst du dich noch, wie ich mir den Kopf verletzt habe und du mir gebratenen Käse aufgelegt hast …? Weißt du noch, wie wir zur Großmutter gingen, und zur Tante Soundso, weißt du dies noch, erinnerst du dich an jenes noch?» So ging es weiter, bis wir fertig gegessen hatten und wieder zur Arbeit gehen mussten. [S. 7] «Uu», sagte die Mutter jeweils, «wie sollte ich das vergessen haben!» Und wenn Enver sie fragte, was wohl aus dieser oder jener Alten in Gjirokastra geworden sei, antwortete sie ihm in ihrem Dialekt: «Uu, mein Enver, was stellst du denn da für Fragen! Die ist doch schon vor Jahren von uns gegangen.» Sie kannte noch immer jedes Haus und jede Familie in Gjirokastra, wusste Bescheid über die Kinder, wusste, wer in Gjirokastra geblieben und wer nach Tirana umgezogen war und vieles mehr. Manchmal nahmen am Gespräch auch Envers Schwestern Haxho und Sano teil, die bei uns wohnten, oder die ältere Schwester Fahrije, wenn sie zu Besuch kam. Das Gedächtnis von Enver ist legendär, aber seine Mutter stand ihm in nichts nach. Enver fragte sie, was für Vorräte sie damals über das Jahr, besonders aber für den Winter gemäß der Tradition angelegt hätten. Und unverzüglich konnte ihm die Mutter aufzählen, wie viele Maße74 Mais, wie viele Oka75 Butter, wie viele Blechbüchsen mit Käse es waren und was für Peta, Turshi und Oshaf 76 sie zubereitet hatte. Wie ein Ethnograph speicherte Enver das alles in seinem Gedächtnis oder ließ das Tonband laufen. In der gleichen Art stellte er Fragen zu den Stegreifgedichten77 und zu den Liedern, die damals gesungen wurden, worauf seine Mutter sich viele Verse und Lieder – unterhaltsame, patriotische – vergegenwärtigte und sie uns vortrug.78

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Im Original: «Nuse», Braut; siehe S. 108. Im Original «qase»; entspricht 40 kg. Oka: 1,4 kg. Peta: Blätterteig(-pastete); Turshi: eingemachtes, mariniertes Gemüse in der Art von Mixed Pickles; Oshaf: Pudding aus Schafsmilch und Feigen. 77 Albanisch «bejte», was auch Spott- und Scherzgedichte oder generell Gereimtes bezeichnen kann. 78 Zu Enver Hoxhas starken ethnographischen Interessen und Affinitäten vgl. auch Nexhmije Hoxha, Jeta ime me Enverin, Band 2, S. 79–96, v.a. S. 89 ff.

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Enver konnte sich bei diesen Gesprächen nicht nur erholen, sie dienten ihm zugleich dazu, seine Erinnerungen zu «restaurieren», da diese durch die Zeit und die Wechselfälle des Lebens vielleicht etwas verblasst waren, so wie ja auch Fresken verblassen oder wie in den antiken Mosaiken sich manchmal Steine lösen. Envers Vater interessierte sich nicht für diese Themen; er kannte ihren Inhalt und sie schienen ihm zu weit zurückzuliegen. Lieber ließ er sich auf der anderen Seite des Kamins nieder und las in seinen vom Alter vergilbten Schmökern in arabischer Schrift.79 Wenn es ihm zu viel wurde und er Enver auf andere Gedanken bringen wollte, sagte er: «Lass dieses Geschwätz und hör einmal, was dieser Philosoph hier sagt», worauf er mit seiner Erzählung begann. Enver pflegte ihm eine gewisse Zeit respektvoll zuzuhören, schließlich aber fragte er ihn: «Dauert es noch lange? … Lass um alles in der Welt diese islamischen Philosophierereien. Komm, wir stimmen ein Lied an wie in Gjirokastra!» Das taten sie dann auch; der Vater begann in langsamem Tempo und Enver sang die Antwortzeile.80 Wenn meine eigene Mutter81 diesen Gesang hörte, sagte sie zu Enver: «Ihr singt schon gut, aber nicht so wie Avdalli. Und mir gefallen unsere Lieder ohnehin besser, Aziz Ndreu82 übertrifft Xhevat Avdalli83 jedenfalls.» Enver entgegnete lachend: «Was soll ich da sagen, liebe Schwiegermutter, jeder nach seinem Geschmack! Aber ich mag auch die Lieder aus eurer Gegend, mit der Çifteli und der Lahuta;84 man witzelt ja nicht von ungefähr ‹Woher stammst du?› – ‹Aus dem Dorf meiner Frau›». Anhand dieser Gespräche lernte ich Gjirokastra kennen, zugleich wuchs meine [S. 8] Liebe zu dieser Stadt und ihren Bewohnern. So oft ich dorthin kam, betrachtete ich alles aufmerksam und mit verändertem Blick. Ich wusste ja, dass ich nach meiner Rückkehr eine gestrenge «Prüfung» abzulegen hätte, um Envers Neugier gegenüber allem, was sich dort vielleicht verändert hatte, zu befriedigen. Auf keinen Fall wollte ich den Fehler wiederholen, den ich bei meinem ersten Besuch in Gjirokastra beging. Es war kurz nach der Befreiung, als ich arbeitshalber und 79 Vgl. zu dieser Szene Nexhmije Hoxha: Jeta ime me Enverin, Band 1 (s.o.), S. 177 f. Zu Halil Hoxhas Religiosität vgl. a. a. O. S. 178 und Vera Bekteshi, Vila me tri porta, S. 10: «… aber wir wussten, dass er [= Enver Hoxhas Vater Halil, genannt ‹der Mullah›] in seiner Welt der Religion lebte und sich nicht in die Probleme der Familie oder des Staates verwickeln ließ». 80 Siehe hierzu S.  178 f. 81 Gemeint ist Naxhije Xhuglini; der Vater hieß Tefik; beide stammen aus Dibra, zogen aber nach Manastir um, wo Nexhmije Hoxha 1921 zur Welt kam. 1928 zog die Familie nach Tirana. Die Mutter lebte später mit der Familie Hoxha zusammen, siehe S. 231 und Nexhmije Hoxha, Jeta ime me Enverin, Band 2, S. 83 und 253. 82 Aziz (Haziz) Ndreu (1928–2000): Berühmter Rhapsode aus Dibra. 83 Xhevat Avdalli aus Gjirokastra (1910–1992), Bäcker, Meister des isopolyphonen Gesangs, siehe S.  180, 266 f. sowie Nexhmije Hoxha, Jeta ime me Enverin, Band 2, S. 80–81, 86, 360. 84 Çifteli: Zweisaitige Langhalslaute. Lahuta (Gusla): Einsaitiges Streichinstrument. Beide Ins­ trumente sind typisch vor allem für die nordalbanische Volksmusik.

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um die Geburtsstadt meines Mannes besser kennenzulernen dorthin reiste. Leider regnete es während aller vier Tage meines Aufenthalts ununterbrochen; die Nässe und die Kälte gingen mir durch Mark und Bein. Auf den steilen Straßen trieben die Regenfluten Steine vor sich her und ich musste mit äußerster Vorsicht gehen, um nicht zu straucheln oder auszurutschen. Als ich wieder in Tirana war, fragte mich Enver: «Und, wie hat dir mein Gjirokastra gefallen?» «Was soll ich sagen», antwortete ich, «ich fand es eine düstere Stadt, lauter Steine …». Weiter ließ er mich nicht sprechen. Gekränkt durch dieses Sakrileg gegenüber der Stadt seiner Geburt schnitt er mir das Wort ab und sagte: «Du hast offensichtlich keinen Sinn für Schönheit! Hast du denn nicht gesehen, wie herrlich und meisterhaft diese Häuser, eins über dem anderen, gebaut sind und sich an den Berghang schmiegen? Und vom unverfälschten Geist der wunderbaren Bewohner dieser Stadt  – einfacher, fleissiger, sparsamer und gastfreundlicher Leute  – hast du offenbar auch nichts mitbekommen …» Jetzt war es an mir, ihn zu unterbrechen und ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen: «Sei so gut», sagte ich, «ich habe kein Wort über die Menschen dort gesagt. Im Gegenteil, ich wurde aufs Herzlichste empfangen; es war ein edler Wettkampf, wer mich, die «Braut» ihres Sohnes, die «zur Besichtigung»85 kam, als Erster zum Mittagoder Nachtessen einladen durfte». Dies also war meine erste Geschichtslektion zu Gjirokastra. Ich hatte zu jener Zeit noch keines seiner Gespräche über seine Heimatstadt mitverfolgt und wusste nichts von der Schwäche und Sehnsucht, die er ihr gegenüber empfand. Während des Krieges hatten wir hierfür schlicht keine Zeit, zudem war unser Kopf voll anderer Probleme. Selten einmal war die Rede auf unsere Herkunftsorte gekommen und stellten wir Vergleiche zu deren Traditionen und Charakteristika an. Meist endeten diese Gespräche mit Gelächter und dem Wettstreit, wer seinen Geburtsort in höheren Tönen lobte. «Schon gut», pflegte er dann zu sagen, «auch ihr Leute aus Dibra seid bekannt für eure Reinlichkeit, bloß habt ihr ja Wasser im Überfluss. In Gjirokastra hingegen ist es ein Wunder, wie die Menschen ganz ohne Quellen und Brunnen eine vorbildliche Sauberkeit aufrechterhalten, indem sie jeden Regentropfen sammeln und ihn «nga ulluqet e në muslluqe», von der Dachrinne zum [S. 9] Zapfhahn,86 umleiten. Weißt du das eigentlich?» Ich muss zugeben, damals wusste ich noch nicht, was eine «muslluqe» war. Als ich dann mit Skanderbeg auftrumpfte, den ich natürlich gerne in Beziehung

85 Im Original: «në të parë». Diese (hier leicht ironisch gemeinte) Wendung bezeichnet eigentlich den ersten Besuch der frischverheirateten Braut im Elternhaus, einige Tage nach der Hochzeit. 86 Gemeint sind Zapfhahnen an den Wasserbehältern, die von Hand mit Wasser aus der Zisterne oder eben aus der Dachrinne gefüllt wurden.

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mit dem Dorf Kastriot im Landkreis Dibra87 brachte, entgegnete er mir: «Lass doch Skanderbeg, übertreib’s nicht und usurpiere ihn nicht für euch. Ich will ja gar nicht leugnen, dass aus euren Reihen Helden stammen, aber bei uns gab es nicht nur Persönlichkeiten, die sich mit der Waffe, sondern auch solche, die sich mit der Feder auszeichneten». Und dann erzählte er mir von Çerçiz und Bajo Topulli,88 Andon Zako Çajupi89 und anderen. Nachdem Envers Eltern verstorben waren, blieb ich die beflissene Zuhörerin seiner Erinnerungen an Gjirokastra und an die Jahre seiner Kindheit und Jugend. Ich wurde mit den Gassen und Plätzen, den Häusern und Gärten so vertraut, als ob ich selbst dort gelebt und gespielt hätte. Ich lernte nicht nur den heldenhaften Baba Çen90 und die Großmutter mütterlicherseits,91 eine wackere Kämpferin, kennen, sondern wusste sogar, wie sich Fuat Nano, der Freund von Envers Vater Halil, kleidete: Er trug einen schwarzen, wollenen Hirtenumhang über den Schultern und dazu die «kalca», die traditionellen weissen Schuhe. Bald wusste ich mehr über die Alten in Gjirokastra als über meine eigenen Großeltern, die ich leider nie kennengelernt habe und über die wir auch zu Hause nicht gesprochen hatten. Ich staunte und staune noch heute, wie viel die Gjirokastriten voneinander wissen und wie eng sie miteinander verbunden sind. Zwar leben sie clan- und quartierweise getrennt, und doch sind sie zusammen eins: Gjirokastra. Die Männer pflegten sich an der «Qafa e Pazarit», dem «Hals des Marktes», zu treffen, die Frauen bei Hochzeitsfeiern, geselligen Zusammenkünften und Beileidsbesuchen, die Kinder und Jugendlichen in der Schule oder dort, wo sie spielten. Und auch wenn ab und zu ein «Krieg» zwischen den einzelnen Vierteln ausbrach, konnten sie doch nicht ohne einander leben. Als ich die Erinnerungen von Enver schon fast auswendig kannte, wurden unsere Kinder langsam größer. Nun begann er, ihnen von der Stadt und von seiner Familie und davon, was er gespielt hatte, zu erzählen (nicht aber von seinen Schelmenstücken: das wäre pädagogisch unverantwortlich gewesen). Manchmal kamen die Kinder weinerlich zu ihm und beklagten sich: «Babi, Bonia92 hat mit uns geschimpft; sie sagt, 87 Das Fürstengeschlecht der Kastrioti, dem der Volksheld Gjergj Kastrioti, genannt Skanderbeg (1405–1468) entstammt, hatte seinen Wohnsitz im heutigen Landkreis Dibra. Die Dörfer Kastriot und Sina beanspruchen, Geburtsort von Skanderbeg zu sein. 88 Bajo und Çerçiz Topulli aus Gjirokastra (1868–1930 resp. 1880–1915): Anführer des albanischen Befreiungskampfes gegen die Osmanen, der 1912 mit der Ausrufung der Unabhängigkeit endete. 89 Andon Zako Çajupi (1866–1930): Bedeutender Schriftsteller der albanischen Rilindja (Wiedergeburt, siehe hierzu Kap. 11a und S. 135). 90 Baba Çen: Enver Hoxhas Onkel Hysen Hoxha (1861–1934), siehe Kap. 11b, Anm. 144 und S. 108 f. 91 Großmutter mütterlicherseits: Hasije Çuçi Açe. Ihr Mann war früh gestorben und ließ sie mit zwei Töchtern und einem Sohn zurück, siehe S.  274 f. Anekdotisches zu ihr findet sich bei Ilir Hoxha: Babai im Enver Hoxha (Mein Vater Enver Hoxha), S. 27–29. 92 Das Kindermädchen Bonia war eine kinderlose Witwe; lt. Nexhmije Hoxha: Jeta ime me Enverin, Band 1, S. 386 f., war sie eine entfernte Verwandte («nga farefisi i hoxhate»). Siehe zu ihr auch Ilir Hoxha: Babai im Enver Hoxha, S. 42 f.

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wir seien wie …» und dann wollten sie unbedingt wissen, wer die genannte Person gewesen sei. Enver musste laut lachen und sagte den Kindern: «Geht und sagt Bonia, sie soll euch nicht so beschimpfen, denn euer Vater ist gut mit dem ausgekommen!» Bonia, die unsere Kinder großzog, war eine geborene Shapllo, die in die Familie Hoxha eingeheiratet hatte. Und da auch sie Gjirokastra gut kannte, hängte sie den Kindern allerlei Namen und Übernamen von dort an, wenn sie allzu übermütig spielten, sich schmutzig machten oder sich die Kleider und Schuhe zerrissen. Wenn Enver nach Gjirokastra ging, tat er dies jedes Mal mit großer Freude und [S. 10] starken Emotionen. Bei seinem ersten Besuch nach der Befreiung, im Oktober 1947, schrieb er unter anderem: «Der furchtbare Kampf gegen die italienischen und deutschen Besatzer hat mich eine lange Zeit von meiner Stadt getrennt – von der Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, in der ich meinen ersten Schulunterricht erhielt, in der ich meine Kindheit mit all ihren Freuden, Leiden und Hoffnungen verlebt habe, in der sich mein Charakter und mein Bewusstsein entwickelten, in der mir wie allen anderen einfachen Söhnen dieser heroischen Stadt die Liebe zum Vaterland und zu unserem Volk, das so viel gelitten hat, eingepflanzt wurde.»93 Nach Gjirokastra ist Enver auch mehrfach in Zusammenhang mit Vollversammlungen der Partei gefahren. Aber wenn immer er dorthin fährt, trifft er sich auch mit den einfachen Leuten aus dem Volk. Er geht zu ihnen auf Besuch, hält auf der Straße an, um mit ihnen zu sprechen, oder er hält stundenlange Meetings ab, bei denen er so ungezwungen mit ihnen spricht, als wäre er bei jedem zu Hause gewesen. Dabei ruft er seinen ehemaligen Kameraden die Spiele in Erinnerung, die sie zusammen gespielt hatten, die ehemaligen Lehrer erinnert er an die Ratschläge, die sie erteilt hatten und die alten Mütterchen an die Bonbons oder Äpfel, die sie ihm in die Hand gedrückt hatten. Als wir im März 1978 zusammen nach Gjirokastra gingen, zeigte er mir vom Balkon aus der Reihe nach alle jene Ensembles von Häusern, die für ihre architektonische Schönheit berühmt sind, so etwa die Häuser der Familien Zeko, Skënduli, Bakiri und Reso, wie auch die Häuser seiner Freunde, die ich inzwischen kennengelernt hatte und jene von vielen anderen Genossen und Genossinnen, die mit uns gekämpft hatten und von denen viele inzwischen verantwortungsvollen Aufgaben in Tirana und in allen Landesteilen nachgingen. Enver wollte mir auch den Markt und die Gässchen und Plätze zeigen, wo er gespielt hatte, aber als wir aus dem Haus kamen, strömte eine derartige Menge von Menschen in den engen Gassen zusammen, dass man überhaupt nichts sehen konnte. Und dass er sich mit mir befasst hätte, war ganz unmöglich: Die Gjirokastriten, Männer und Frauen, Junge und Alte, umzingelten ihn förmlich. So beschlossen wir, erst spät 93 Fußnote im albanischen Original: Enver Hoxha, Werke, Band 4, S. 227. – Das Zitat ist im Original der «Kindheitsjahre» (S. 10) fett gedruckt.

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abends auszugehen, um 22 Uhr, wenn die Leute schon zu Hause waren und wir uns freier bewegen konnten. Kaum waren wir aber auf dem Çerçiz-Platz angekommen und wollten zur Qafa e Pazarit gehen, waren wir schon wieder von ganzen Gruppen junger Männer und Frauen umringt, die gerade auf dem Heimweg von der zweiten Schicht ihrer Arbeit waren. So wurde zwar nichts aus einer Geschichtslektion, aber dennoch freuten wir uns sehr. Enver scherzte mit den Jungen und fragte sie, [S. 11] zu welcher Familie sie gehörten. Besser als ihre Väter kannte er allerdings meist ihre Grossväter, von denen er ihnen dann ein paar Anekdoten erzählte. Abschließend sagte er, wie froh er sei, dass sich die Zeiten so gewandelt hatten: «Heutzutage, ihr Mädchen und Jungen, könnt ihr sogar nachts in aller Ruhe nach Hause gehen. Meine Mutter hingegen erzählte mir, dass sie in ihrem ganzen Leben nie über den Marktplatz gegangen sei, nicht einmal verschleiert, damit nur ja niemand sie erkenne und die Männer sich nach ihr umsähen. Und als sie einmal nicht anders konnte, als den Markt zu überqueren, erfuhr mein Vater sofort davon und machte ihr zu Hause eine Szene.» Was für eine Zeit und was für eine Stadt – mit ganz eigenen Wunderlichkeiten und Schönheiten, mit Kämpfen fürs Leben, für Freiheit, für Bildung! In diesem Teil des Vaterlandes und inmitten der Menschen dieser Stadt wurde Enver geboren,94 hier verbrachte er seine Kindheit und einen Teil seiner Jugend. So ist es nichts als natürlich, dass er Heimweh nach seiner Stadt und eine besondere Liebe für sie empfindet. Diese Gefühle veranlassten ihn, in Augenblicken, wo er seine Sehnsucht stillen und sich etwas ausruhen wollte, seine Erinnerungen an Gjirokastra, an die Jahre seiner Kindheit aufzuschreiben, die Gegenstand dieses Buches sind. Enver schrieb seine Erinnerungen zu verschiedenen Zeitpunkten auf, und er schrieb sie nicht mit Blick auf eine Veröffentlichung auf. Der Grund war vielmehr, dass ich ihn dringend bat, sie für seine Kinder und künftigen Enkelkinder festzuhalten.95 Anlässlich eines Familienfestes machte uns Enver dann die Originale dieses Zyklus’ von Erinnerungen zum Geschenk, die im vorliegenden Band versammelt sind, wie auch jene zu seinen Jahren am Lyzeum in Korça und seinen Studien und seinem Aufenthalt im Ausland.96 In der Widmung, die dieses Geschenk begleitete, schrieb er: «… du hast mich gebeten, einige der Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend festzuhalten; diese Bitte konnte ich natürlich nicht ablehnen und begann also mit meinem 94 Als Geburtstag gilt der 16. Oktober 1908. Fevziu (2016, S. 10) gibt vier weitere Geburtsdaten an, die sich auf verschiedenen Dokumenten finden; Baruti (2013, S. 30) nennt sieben Daten. 95 Siehe hierzu Einleitung, Kap. 3. 96 Die Erinnerungen an die Zeit in Korça und im Ausland erschienen 1988 unter dem Titel «Jugendjahre»; 1971 dürften erst Teile davon fertiggestellt gewesen sein (vgl. zu den Datierungsfragen Einleitung, Kap. 3). Die Umstände der Übergabe des Geschenks sind genauer beschrieben im (ebenfalls von Nexhmije Hoxha verfassten) Vorwort der «Jugendjahre», S. 3: «Am 8. Februar [1971], zu meinem 50. Geburtstag, überreichte er mir einen Teil derselben [sc. seiner Aufzeichnungen], in schöner und sauberer Schrift und begleitet von einem Brief, in dem er unter anderem sagte …» [es folgt der oben als Widmung zitierte Text].

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Geschreibsel. Es ist unvollständig, aber ich werde es fertigstellen, sobald ich Zeit finde. Diese Aufzeichnungen sind nur für dich und für unsere Kinder Ilir, Sokol und Pranvera bestimmt. Sie sind nicht gut geschrieben; ich weiß, dass die Feder mir davongeeilt ist, ohne zurückzukehren, um zu korrigieren oder zu verbessern … Mein materielles Geschenk an euch ist armselig, anders sieht es mit dem geistigen aus … Mögen wir glücklich und frohgemut mit unseren lieben Kindern leben und sie verheiraten, so dass sie uns viele Enkel bringen; mögen wir stark und gesund bleiben, damit wir bis zu unserem Tod ehrenhaft und treu der Partei und unserem Volk dienen, die uns geboren, aufgezogen und zu kommunistischen Kämpfern gemacht haben …». Für mich und die Kinder war es ein Geschenk von unschätzbarem Wert: Etwas, das [S. 12] nicht nur unsere Liebe zu Gjirokastra und Korça wachsen ließ, wo Enver seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, sondern zu unserem ganzen Vaterland, für dessen Befreiung er zusammen mit den kommunistischen Genossen, mit dem Volk und mit der Partei an der Spitze gekämpft hatte und immer noch kämpft, um es stets schöner, stärker und wohlhabender werden zu lassen. Envers Beschreibungen zeichnen ein farbiges Bild von Gjirokastra, vom Leben, der Geschichte und der einmaligen Architektur dieser Stadt. Die Sehnsucht, die Liebe und der Respekt, mit denen der Autor einfache Menschen in Erinnerung ruft und beschreibt – angefangen von seinen Familienangehörigen, über seine Spielkameraden bis hin zu den Bäckern, den «Ägyptern»,97 Maurern und Schmieden –, setzen wie ein roter Faden seine Überzeugung um:98 «Die Liebe zum Vaterland ist kein abstrakter Begriff, nein: es geht um diesen Boden, diese Berge und Täler, Städte, Häuser, um diese Menschen, um die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um unsere Vorfahren, um uns und um die Generationen, die folgen werden». Gerade weil Envers Erinnerungen eine so breite Palette von Themen beleuchten, hielt ich es nicht für recht, sie nur für uns, für den Kreis unserer Familie, zu behalten. Sie können vielen Genossen und Freunden, die noch leben, Freude machen, aber auch den Kindern und Verwandten jener, die nicht mehr unter uns sind. Zwar haben die Erinnerungen einen etwas intimen und familiären Charakter und beleuchten eine Phase vor der revolutionären Formung Envers. Aber auch so können sie für einen weiteren Kreis von Menschen von Interesse sein und können beitragen, das Umfeld und die Menschen zu verstehen, die ihn inspirierten, sich auf den revolutionären Weg zum Besten der Freiheit des Volkes und des Sieges des Kommunismus zu machen. Hiervon konnte ich schließlich auch Enver überzeugen. Er gab mir die Erlaubnis, zu seinem 75. Geburtstag aus dem Zyklus seiner Erinnerungen jene zu veröffentlichen, die in Be 97 Alban. evgjitë. Gemeint ist die Gruppe sesshafter Roma, die der Legende nach aus Ägypten stammen soll, sich selbst aber ausdrücklich nicht als Roma versteht (zu den Hintergründen s. Schmidt-Neke 2009). Den Ägyptern gewidmet ist in den «Kindheitsjahren» das Kapitel «Die Verachteten sind glücklich geworden», siehe S. 287–295, vgl. auch S. 156 f., 193, 199, 256, 282. 98 Das folgende Zitat ist im Original fettgedruckt; ein Quellenverweis fehlt.

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ziehung zu Gjirokastra stehen, wo Genosse Enver seine Kindheit und frühe Jugend verbracht hat (1908–1927). Das Buch bringt die Erinnerungen so, wie wir sie als Geschenk erhielten.99 Dass der Verfasser sie vor der Publikation nochmals überarbeitet und ergänzt hätte, war nicht möglich. Mit seiner Erlaubnis haben wir den einen oder anderen Abschnitt weggelassen, der zu intim und familiär war; desgleichen ein paar Episoden zu Bubenstreichen, die er als Kind zu Hause, beim Spielen oder in der Schule gespielt hatte. Diese Streiche hatte er wunderbar beschrieben – allerdings derart realistisch, dass es Lehrern und Eltern wohl schwergefallen wäre, ihre Kinder zu überzeugen, dasjenige nicht zu tun, was Onkel Enver als Kind doch auch getan hatte! Natürlich steht es außer Frage, dass Kinder früher wie heute Kinder sind und zu Hause, [S. 13] in der Schule, auf der Straße oder auf den Plätzen, wo sie spielen, Unfug machen. Genosse Enver war mit der Streichung dieser Episoden, die ihn noch heute zum Lachen bringen, einverstanden, bedauerte sie aber auch. Er versuchte sogar, ihre Beibehaltung mit dem Argument zu stützen, dass die Eltern und Lehrer den Kindern doch erklären könnten, es habe damals, als Onkel Enver und seine Freunde diesen Unfug anstellten, halt noch keine Partei, keine Jungpioniere, Pioniere oder sonstige Jugendorganisationen gegeben! Zum 75. Geburtstag von Genosse Enver soll dieses Buch ein Geschenk an das Volk sein, für das er eine grenzenlose Liebe, Wertschätzung und Dankbarkeit empfindet. Ganz besonders gilt das für das Volk von Gjirokastra und die heldenhaften, patriotischen und arbeitsamen Menschen, unter denen er geboren wurde, aufwuchs und für den revolutionären Weg des Sozialismus vorbereitet wurde. Nexhmije Hoxha Juli 1983

99 Siehe aber in Kap. 3 und 5 der Einleitung die Bemerkungen zur Neugruppierung, Bebilderung und Gliederung der Texte in drei Teile für die Druckfassung.



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[S. 17] Schätze der volkstümlichen Architektur Ich möchte von einigen Erinnerungen an meinen Geburtsort, an Gjirokastra, berichten. Diese Erinnerungen stammen vor allem aus der Zeit meiner Kindheit und frühen Jugend. Sie zu vergegenwärtigen bereitet nicht nur mir, der ich dort geboren bin, Freude und Befriedigung. Auch jeder andere Besucher von Gjirokastra wird Freude empfinden, weil es hier um eine wirklich alte Stadt geht, die mit so viel Geschmack errichtet wurde, dass man über die Meisterschaft ihrer Erbauer nur staunen kann. Als ich ein Kind war, hatte ich die Empfindungen noch nicht, die ich heute für meine Stadt fühle, was ganz natürlich ist. Ich habe ja mittlerweile ein breiteres kulturelles Verständnis für verschiedene Problematiken, für Fragen der Geschichte und der Urbanistik. Die jahrzehntelange Parteiarbeit, wie auch die Studien und Lektüren, die ich betrieb und betreibe, ermöglichen es mir, die Eindrücke aus meiner Kindheit in einen breiteren politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmen einzuordnen. Welchen Wert meine Aufzeichnungen haben werden, wird man sehen; sie haben eher einen persönlichen [S. 18] Charakter und stammen aus einer Zeit, in der ich noch kein revolutionäres Bewusstsein gewonnen hatte. Für mich aber sind diese Erinnerungen teuer und wichtig, denn in dieser Stadt, in ihren steinigen Häusern und Gassen, tat ich meine ersten Schritte, entwickelten sich mein Verstand und meine Gefühle. Hier wuchs ich auf und lernte die ersten Lektionen meines Lebens im Kreis der Familie, der Lehrer und Schulkameraden, inmitten der einfachen und wundervollen Menschen meiner Heimatstadt. Betonen will ich hier, dass ich mich auf das Drängen von Nexhmije hin an die Aufzeichnung meiner Kindheits- und Jugenderinnerungen mache.100 Sie hat sie wohl Dutzende Male im Verlauf unserer Unterhaltungen in der Familie gehört, und ich schreibe sie hier so auf, wie sie mir gerade einfallen, ohne Anspruch, sie zu veröffentlichen. Ich schreibe sie für meine Kinder und Enkelkinder auf, damit sie auch diesen Teil des Lebens ihres Vaters und Großvaters kennenlernen, damit sie die Geschichte seines Geburtsortes kennen, so wie sie die Geschichte unseres ganzen Landes und Volkes kennen sollen. Solcherart wird in ihrem Verstand und Herzen stark, unauslöschlich und für das ganze Leben die Liebe für das Vaterland, das Volk und die Partei verwurzelt werden – für die Partei, die in unserem Land alles wiederbelebt hat, die auch den alten Monumenten der Volkskultur ihre einstige Frische und Schönheit wiedergegeben hat, die die großen Verdienste des albanischen Volkes in der Vergangenheit und Gegenwart ins Licht rückt und ihm Perspektiven für die Zukunft öffnet. Als Erstes werde ich über den Anblick schreiben, den die Stadt in architektonischer Hinsicht bietet. Ich bin selbstverständlich kein Architekt, aber da ich Gjirokastra 100 Siehe hierzu in der Einleitung, Kap. 3, vgl. die entsprechende Stelle im Vorwort von Nexhmije Hoxha S. 63, 65.

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schon als Kind gut kennengelernt habe, glaube ich doch, gewisse Charakteristika seiner Gebäude erfassen zu können, so wie ich sie – und sei es auch als Laie – vor mir sehe und sie in meinem Bewusstsein und Herzen behalten habe. Gjirokastra ist keine Stadt, die ohne Plan und Kriterien aufgebaut wurde. Ich will hier nicht auf seine Vorgeschichte eingehen, sondern bloß einige Überlegungen zur gegenwärtigen Situation anstellen, d. h. zu den Jahren seit meiner Geburt und besonders zur Zeit, als ich so weit war, die Schönheit dieser Stadt ganz zu erkennen und zu erfassen. Bekanntlich ist Gjirokastra an der Flanke des Mal i Gjerë, des Breiten Berges, erbaut. Diese Lage gibt der Stadt eine ganz besondere Schönheit, vor allem [S. 19] von jener Seite her gesehen, von der man in die Stadt kommt, sei es am Tag oder in der Nacht. Der Standort ist von den ersten Bewohnern der Stadt gewiss nicht zufällig gewählt worden, sondern aufgrund einiger einleuchtender Gründe. Dazu zählte meiner Ansicht nach in erster Linie die Erhaltung des Ackerlandes [in der Ebene], d. h. der sorgsame Umgang mit dem Boden, auf dem Getreide angebaut werden konnte. Die Wahl des Standortes für die Stadt beeinträchtigte die Bewohner nicht, zumal sie ja auch Viehwirtschaft betrieben und mit Hingabe Kleinvieh züchteten, das sie im schmackhaften Gras des nahegelegenen Mal i Gjerë weiden ließen. Soweit der erste Grund. Ein weiteres starkes und überlebenswichtiges Argument, Gjirokastra dort zu bauen, wo es nun steht, war sicher die Notwendigkeit, sich vor fremden Unterdrückern, aber auch vor den Großgrundbesitzern und Bejs zu schützen, die die Stadt immer wieder angegriffen haben. [S. 20] Wenn wir den Auf bau von Gjirokastra genau betrachten, sehen wir, dass vom Ende des Stadtteils Varosh bis zum Felsen von Kuculla101 und den Vierteln Dunavat, Manalat und Palorto, welche die bedeutendsten Viertel der Stadt sind, alle sich an den Bergrücken schmiegen. Dies bedeutet, dass die Stadt von dieser Seite her gesichert war. Abgesehen vom Rückhalt durch den Berg sind Teile der Viertel auf den Hügeln gebaut, die sich nach unten zur Ebene ziehen. Die Häuser stehen somit immer in dominanter Position oberhalb der möglichen Angriffswege der Feinde. Wenn man sich die Viertel vorstellt, wie sie auf diesen Hügeln liegen, zum Beispiel das Viertel Pazari i Vjetër,102 und zusammen mit Pllaka der hintere Teil von Hazmurat oder jener von Cfaka etc., dann wirkt das, als ob man vor sich die Form einer Hand habe. Die Handfläche entspricht dem Haupt- und Innenteil der Stadt, die Finger ihren Ausläufern. Zwischen diesen Fingern hat es einige leere Flächen, um das so zu nennen, sie entsprechen den Bachläufen. Hier wurden in der Regel keine Häuser gebaut, vielmehr beließ man sie als Brache oder nutzte sie als Gärten; dazwischen gab es auch Wege, die 1 01 Zum Felsen von Kuculla, einem der Lieblingsspielorte von Enver Hoxha als Kind, siehe S. 209. 102 Pazari i Vjetër: Der alte Markt.

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zur Stadt hinaufführten. Allerdings gab es auch leere Flächen ohne jeden Weg. Alle diese Orte wurden von den Häusern auf den Hügeln dominiert. In strategischer Hinsicht gleicht die ganze Stadt meiner Meinung nach einer Art Festung. Sie einzunehmen war für die Feinde aus früheren Zeiten und mit den damaligen Waffen gewiss nichts Einfaches, zumal wenn die Einwohner ihren Widerstand organisiert hatten. Der Feind hätte die Stadt entweder von oben her überrennen müssen, was höchst mühsam und eigentlich unmöglich war, da die Bürger von Gjirokastra den Berg allezeit bewachten, oder er hätte seitlich oder über die Leerflächen zwischen den Hügeln eindringen müssen, auf denen aber Häuser thronten. Angesichts dieser Gegebenheiten muss man sagen, dass das strategische Konzept der Erbauer von Gjirokastra außerordentlich durchdacht war, zumal die Viertel Çetemel103 und Palorto vom Çullo-Bach beschützt wurden, dessen Oberlauf unter der Kontrolle der Stadt war. In den Stadtteil Manalat hätte man über den sogenannten Shesh i Zinxhirëve, den «Kettenplatz», wie wir damals sagten, eindringen müssen, aber der Aufstieg dorthin war wiederum von der Stadt dominiert und kontrolliert. So hatten die Gjirokastriten den Feind stets unter sich. Wenn dieser versucht hätte, [S. 21] sich den Bachufern entlang anzuschleichen oder am Ufer unterhalb der Hügel, wo Häuser standen, wäre er in die Falle gegangen. So gesehen kann man sagen, dass die Anlage von Gjirokastra wirklich einen ausgesprochenen Verteidigungscharakter hat. Ich denke, dass die ersten Einwohner der Stadt und jene, die sie später weiterbauten, diesem Aspekt erste Priorität eingeräumt hatten. Der erste Grund, den ich oben erwähnte – die Erhaltung des fruchtbaren Landes – hängt eng mit dem Bemühen unserer Vorfahren zusammen, Ackerland nicht mit Häusern zu überbauen, und erklärt sich aus demselben. Dies zeugt vom ausgesprochen sparsamen Charakter der Bewohner von Gjirokastra. Es zeigt, dass seine Bewohner angesichts der Gegebenheiten ihrer Umwelt sowohl an die Verteidigung wie auch an den Ackerbau und das Futter für die Nutztiere dachten. Die hauptsächlichen Tätigkeiten der Stadtbewohner bezogen sich auf die zwei Bereiche Landwirtschaft und Viehzucht. Natürlich [S. 22] entstand und entwickelte sich daneben auch das Handwerk, mussten doch die Bedürfnisse des Volkes nach Kleidung, Schuhwerk und anderen Dingen und Dienstleistungen ebenfalls befriedigt werden. Trotzdem waren Landwirtschaft und Viehzucht die hauptsächlichen Erwerbszweige der Gjirokastriten, für deren Sicherung fortlaufend gesorgt werden musste.

103 Das auch in Kadares «Chronik in Stein» erwähnte Viertel Çetemel existiert unter diesem Namen nicht mehr; auch sonst wurden die von Hoxha verwendeten Namen einiger Viertel vor und nach dem Systemwechsel 1992 geändert. Unter der sozialistischen Regierung wurden z. B. die Viertel Hazmurat und Meçite unter dem Namen «11 janari» zusammengelegt, Teqe wurde zu «Partizani» umbenannt (freundliche Auskunft von Matthias Bickert), Dervish Bej zu «Punëtore» (siehe Fußnote 683).

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Ich will mich nicht länger bei Landwirtschaft und Viehzucht aufhalten. Vielmehr will ich hervorheben, dass sich die Bewohner von Gjirokastra angesichts der besonderen Lage ihrer Stadt mit der Frage konfrontiert sahen, welche Materialien sie zum Bau der Häuser verwenden sollten. Charakteristisch ist, dass jedes Haus in Gjirokastra aus Stein gebaut ist. Aus Stein ist nicht nur die majestätische Burg104 mit ihren mächtigen Zinnen gebaut, die durch ihren imposanten Charakter als Bauwerk wie auch durch ihren grandiosen Anblick zuoberst auf einem Hügel, der fast alle Viertel der Stadt überragt, eine Art Unsterblichkeit ausstrahlt. Die Burg befindet sich an einer Stelle, die strategisch überaus gut gegen Angriffe gewappnet ist, und sie ist so angelegt, dass die dort stationierten Krieger sie problemlos verlassen konnten, um Feinde zu überwältigen, falls solche es wirklich bis in die Stadtviertel hinaufgeschafft hatten. Die Burg von Gjirokastra wird oft mit einem Schiff verglichen. Mir selbst scheint sie wie ein Kreuzer, der in einem Häusermeer schwimmt. Ich meine einen Kreuzer, der die Wellen bricht, denn mit ihrem vorderen Teil, der wie ein Messer gestaltet ist, erinnert sie nicht nur an eine Burg, die sich verteidigt, sondern die auch vorwärtsdrängt und angreift. Der Haupteingang der Burg, gegen das Viertel Pazari i Vjetër und die Ebene hin gelegen, ist eng und von starken Zinnen umgeben, die innen zwei, drei Stockwerke umfassen und militärische Manöver ermöglichen. Demgegenüber ist das andere, gegen Dunavat gelegene Tor der Burg breiter, da die Gefahr ja nicht vom Berg herkommen konnte. [S. 23] Ein weiteres typisches Merkmal dieser berühmten Burg (die, soweit ich es studiert habe, im Mittelalter kaum ihresgleichen fand) ist ihre Lage ganz oben auf dem Hügel. Zu ihren Charakteristika zählt auch, dass sie nicht als Wohnraum für die feudalen Herrschaften, sondern als Verteidigungs- und Angriffsbasis für das ganze Volk konzipiert war, das von dort aus feindliche Attacken abwehren würde. Wenn man sich die Burg einmal ohne alle die Häuser der Viertel rund um sie herum vorstellt, dann sieht man den steilen Abgrund, der sie umgibt und jedem Feind Angst einflößen musste, der sie angriff oder belagerte. Auch die Innenanlage der Burg zeugt von großem militärischem Sachverstand. Die Wege zu den Toren führen durch Tunnels, deren Ausgänge aber nicht einfach gegenüber den Toren liegen, so dass man beim Angriff wie auch beim Rückzug vor Treffern geschützt war. Das Zentrum der Burg ließ sich nicht ohne gewaltige Verluste seitens der Angreifer erobern. Die Bogengänge, Tunnels und inneren Portale waren als gefährliche Fallen angelegt. Und bei alledem hat dieses majestätische Monument der albanischen Stärke eine verblüffende Eleganz. Ich sagte vorher, dass ich die Burg von Gjirokastra mit einem Kreuzer vergleiche, sogar mit einem großen Kreuzer. Wenn man die Burg von allen vier Seiten her be-

104 Fußnote im albanischen Original: Die Burg ist der Ursprung der Stadt. In einer ersten Periode fehlten die Verteidigungsanlagen des südwestlichen Teils. Dieser Teil, der die zweite Phase ausmacht, gehört zur Bauaktivität von Ali Pasha Tepelena in den Jahren 1811–1812.

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trachtet – von der Höhe von Dunavat, von den Häusern von Aqif Selfo105 her – verharrt man wirklich in ehrfürchtigem Staunen angesichts der Großartigkeit, Kraft und Eleganz, die ihre Planer und Erbauer ihr verliehen und diese Eigenschaften gleichzeitig mit den militärischen Aspekten verbunden haben. Bei genauerer Betrachtung der Burg sieht man auch, dass diese nicht einfach von einer zusammenhängenden, breiten und starken Mauer umgeben ist, sondern dass es auf allen vier Seiten runde Türme hat. In deren Mauern gibt es Bogen aus vorspringenden Steinen – Gürtel, könnte man sagen –, die diese Teile noch viel stärker und uneinnehmbarer werden lassen. Gewiss waren dies die strategisch bedeutenden Stellen der Burg, von denen aus der Feind angegriffen wurde, denn von diesen vorspringenden Türmen aus ließen sich der Ansturm der Feinde auf die Burg, aber auch die Mauerabschnitte zwischen den Türmen kontrollieren. Diese Türme haben auch Schießscharten, von denen aus die Belagerer beschossen werden konnten. Charakteristisch ist die vorspringende Verteidigungszinne, die mit ihren Fundamenten im Fels einen Eindruck ihrer Kraft vermittelt. Man sieht [S. 24] diesen Wehrgang auf allen Seiten, vor allem aber vom Eingang her, unter dem Glockenturm und auf dem obersten Punkt der Burg, der gegenüber dem Viertel Dunavat und dem Mal i Gjerë liegt. Oberhalb der «Dullga» genannten Örtlichkeit hatten die einstigen Verteidiger der Burg am Fundament der Zinne eine Kanone aufgestellt, auf deren Rohr wir uns als Kinder rittlings setzten und die wir wie ein Pferd sattelten.106 Die Verteidigungszinne symbolisiert gleichsam die ganze Stärke der Burg. Innerhalb der Burg liegt, nahe beim Eingang, das Zentrum. Dies ist heutzutage (wie wohl auch früher) ein offener, aber von allen vier Seiten geschützter Platz. Weiter vorne ist die «Spitze» der Burg, die wie ein Schwert auf die Ebene gerichtet ist. Seitlich hat es noch heute [S. 25] Öffnungen in der Mauer – große Fenster, durch die die Kanonen, Pulvergeschütze oder Mörser auf die Feinde schossen, die von der Ebene oder vom Shamanja-Bach her anrückten. Diese innen gelegenen Kampforte und Stellungen waren durch feste Mauern und Tunnels mit einem weitläufigen Labyrinth von Brücken und Bogengängen verbunden, das auch zum unteren Zentrum der Burg führte. Dort hat es Unterkünfte für die Soldaten, Munitionsdepots, Gefängniszellen und Küchen. Es gab aber auch Gänge, die auf die obere, offene Ebene der Burg führten, von wo aus man wiederum in Untergeschosse mit Gewölben hinuntersteigen konnte, die einen bis zum Ende der Burg, nach Dullga, führten. Auf dieser Seite hatte sich auch das Aquädukt (oder die großen Brücken, wie wir sagten) befunden, die Ali Pasha Tepelena hatte bauen lassen, um die Burg vom Sopot-Gebirge her mit Wasser zu ver-

105 Aqif Selfo (1905-?): Jugendfreund von Enver Hoxha, später Widerstandskämpfer, Lehrer, Bildungsbeamter; Träger des Titels «Lehrer des Volkes», vgl. S. 136, 150, 196, 200, 210, 253. 106 Vgl. S. 206.

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sorgen.107 Frühe Ignoranten und solche aus der Zeit der Herrschaft Ahmet Zogus haben diese wunderbaren Monumente abgebrochen. Dass für den Hausbau während Jahrhunderten Steine verwendet wurden, hängt nicht nur mit ökonomischen Aspekten zusammen, d. h. weil Steine als hauptsächliches Baumaterial in unmittelbarer Nähe der Stadt zur Verfügung standen. Steinhäuser sind zugleich um ein Vielfaches widerstandsfähiger als solche aus Backsteinen oder Lehmziegeln. Hinter den Steinhäusern in Gjirokastra stehen mithin ökonomische Überlegungen (Steine als Baumaterial waren leicht verfügbar), ein wichtiger Aspekt aber war auch jener der Verteidigung. Es war wichtig, dass die Häuser stark und wetterfest waren, aber gleichzeitig mussten sie auch gegen andere Bedrohungen gefeit sein. So stellten sie eine Art kleiner Festungen rund um die große Festung, die Burg, dar. Jedes Haus in Gjirokastra, ob groß oder klein, ist von Schutzmauern umgeben. Überhaupt zählen Mauern zu den herausragendsten Merkmalen bei der Anlage der Stadt. Die Schutzmauern stürzten im Verlauf der Jahrhunderte manchmal ein und wurden zum Teil wiederhergestellt; davon zeugt auch [S. 26] der Umstand, dass die Straßen noch heute mit Steinen übersät sind. Man darf sie nicht, wie es manche vielleicht tun, als Ausdruck des fanatischen Wunschs der Leute nach Abgeschlossenheit missverstehen – damit von außen nichts sichtbar würde, das im Haus geschah, und damit vor allem die Frauen vor neugierigen Blicken geschützt seien. Auch ging es nicht nur darum, die Grenzen des eigenen Besitzes zu markieren; hierfür hätte ja ein einfacher Zaun gereicht. Vielmehr müssen diese Schutzmauern als erste Verteidigungsmaßnahme gegen Gefahren betrachtet werden, die dem Haus von außen drohen mochten. Dabei konnte es sich um eine individuelle Bedrohung der Familie handeln, [S. 27] zum Beispiel eine Blutrache, oder um eine generelle Bedrohung, die die ganze Stadt betraf. Wer den Charakter der Gjirokastriten kennt, die jede unnütze Ausgabe vermeiden, wird rasch erkennen, dass der Bau solcher Mauern außerhalb des eigentlichen Hauses auch unter dem Aspekt potenzieller Bedrohungen gesehen werden muss. Die Mauern um die Häuser von Gjirokastra bestanden in der Regel aus eher kleinen, nur zur Hälfte behauenen Steinen, je nach Reichtum der Besitzer mit oder ohne Mörtel dazwischen. Demgegenüber wurden die eigentlichen Hausmauern aus großen, oft sorgfältig behauenen Steinen und meist mit Mörtel hergestellt. Nicht selten umfassten die Mauern auch einen «Gürtel» aus Holz, dies sicherlich als Erdbebenschutz.

107 Fußnote im albanischen Original: Das Aquädukt der Burg war ungefähr zehn Kilometer lang. Gleichzeitig mit ihm wurden verschiedene weitere kunstvolle Bauwerke errichtet, darunter zwei große Brücken: Die eine verband den Çeribash-Felsen mit dem Dullga-Hügel bei der Burg, die andere war die Brücke über das Viertel Manalat. Diese Brücke ruht auf einem Fundament aus Fels und schwingt sich mit einem Bogen von 16 Metern Höhe, mit einer Länge von 40 Metern und einer Breite von 2,3 Metern elegant über den Fels. Vgl. auch S.  206 f.

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Die Haupttüren vieler Häuser in Gjirokastra gehen zur Straße. Die «große Tür», d. h. das äußere Hoftor, [S. 28] wurde meist mit besonderer Sorgfalt und künstleri­ schem Geschmack errichtet. Der Bogen oberhalb des Tors war formvollendet, der Schlussstein in der Mitte war oben breiter und unten schmaler. Auf diesem Stein war oft das Baujahr oder ein Ornament eingemeißelt. Auf beiden Seiten des Torbogens waren die Mauern, die das Tor einfassten, aus großen, behauenen Steinen errichtet. Auch innerhalb des Haupttors gibt es Mauern, in bisweilen ziemlicher Distanz zum eigentlichen Haus. Abhängig war dies vom Wohlstand der Besitzer. Jedenfalls wurden diese Mauern nicht nur zur Markierung der Grenzen des Grundstücks, sondern auch mit Blick auf die Verteidigung errichtet. Der Verteidigungscharakter der Häuser von Gjirokastra ist überall erkennbar, am besten aber bei den Häusern der großen Agas. Diese hatten meist zwei auseinanderliegende und durch Mauern voneinander abgetrennte Innenhöfe. Man musste also zunächst durch ein Tor in den ersten Hof gelangen und dann, wiederum durch ein Hoftor, in den zweiten. Der erste Innenhof glich einem breiten Weg, der beidseits von Obst- und anderen Bäumen gesäumt war. Je nach dem Charakter der Familie wurde diese Fläche als Gemüsegarten genutzt oder aber mit Steinplatten belegt, so dass sie einer Mauer glich und im Gefahrenfall als Hindernis diente, das den Feind bei seinem Ansturm aufs Haus bremste. Es gibt aber in Gjirokastra auch Häuser, bei denen man vom Hoftor direkt zum überdachten Vorplatz oder Vestibül gelangte – zum Hajat, wie wir sagten. Die meisten Häuser in Gjirokastra haben zwei, manche sogar drei Geschosse, welche immer sehr hoch sind. Es gibt auch ärmere Häuser, bei denen man direkt in den ersten Stock 108 eintritt. Allerdings findet man kaum Häuser, die im Erdgeschoss nicht einen Stall haben, in dem das Vieh gehalten wird: ein paar Schafe oder Ziegen, vielleicht ein Pferd oder ein Esel usw. Diese Räume bilden das erste Geschoss, im darüber liegenden Stockwerk befinden sich die Wohnräume der Menschen. Selbstverständlich gibt es zwischen den einzelnen Häusern in Gjirokastra beträchtliche Unterschiede, die mit der Klassenzugehörigkeit ihrer Besitzer zusammenhängen. Im Allgemeinen gab es in den Städten ja eine Klasse der Agas, der Großgrundbesitzer, die wir heute Kulaken nennen. Auch [S. 29] in Gjirokastra gab es mächtige Agas, Grundeigentümer mit großem Vermögen, viel Land, Gutshöfen und großen Viehherden. Die meisten von ihnen hatten ihr Vermögen geerbt, aber es gab auch welche, die ihren land- und viehwirtschaftlichen Reichtum selbst geschaffen und ihn später durch Unterdrückung, Raub und Zinswucher erweitert hatten, wobei sie zunehmend zu Verwaltern wurden, ohne allerdings ihr Wesen als Viehzüchter und Großgrundbesitzer abzulegen. Während sie sich bereicherten und ökonomisch stark wurden, bauten diese Leute auch ihren Einfluss in der Stadt aus. Zur Zeit meiner Kindheit, vor rund 60 Jahren, hatten sie durchaus einen gewissen Einfluss, der aber bei 108 D.h. ins Wohngeschoss, das bei den vornehmeren Häusern eine Etage höher liegt. Die Zählung der Stockwerke in Albanien beginnt beim Erdgeschoss, das als erster Stock gezählt wird.

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der armen Bevölkerung in der Stadt nicht sehr verfing. Generell waren die besitzlosen Schichten in Gjirokastra  – sowohl die, welche sich als Arbeiter in der Land- oder Viehwirtschaft verdingten, wie auch die Handwerker, Säger, Gerber usw. – weder dem Einfluss der Agas ausgesetzt noch, zu einem späteren Zeitpunkt, dem der Wucherer. Sie hatten einen freiheitlichen Charakter, das Gefühl der Freiheit war gleichsam in ihrem Wesen verwurzelt. Trotzdem konnten sie der Unterdrückung durch die reichen Agas, Efendis und orthodoxen Großbürger, in deren Händen die wirtschaftliche Macht lag, nicht vollständig entgehen. Alle diese Aspekte spielten fraglos eine Rolle hinsichtlich der Bauwerke in Gjirokastra. Die Häuser der Agas gehören zu den größten und am besten unterhaltenen, weil ihre Besitzer über die entsprechenden Mittel sowohl beim Hausbau verfügten wie auch später, wenn es um Reparaturen, Unterhalt und Anpassungen an die Erfordernisse der Bewohner ging. Aber auch einfache Leute, die es schafften, im Schweiße ihres Angesichts ein kleines oder mittleres Haus zu bauen, mochten nicht zurückstehen, wenn es darum ging, ihr Anwesen gemäß dem architektonischen Charakter unseres Landes zu gestalten und komfortable Lebensbedingungen zu schaffen, die mit dem Klima und den oben erwähnten Faktoren übereinstimmten. Und warum dies? Der Grund ist, dass die einfachen Leute aus den armen Schichten sich nicht nur vor einem eventuellen äußeren Feind schützen mussten – in diesem Falle würden sie die kollektive Verteidigung der gesamten Bürgerschaft organisieren –, auch nicht nur vor [S. 30] Fehden und Blutrache, sondern auch vor der Brutalität der Agas. Ich spreche hier nur von den Agas, weil die Bejs als feudale Klasse in Gjirokastra Bankrott gegangen waren, nachdem die Agas deren Grundbesitz aufgekauft und damit ihre ökonomische Stärke gebrochen hatten.109 Selbst die Häuser der Bejs gehörten inzwischen den Agas. Bejs gab es damals überhaupt nicht mehr, abgesehen höchstens von einigen, denen der Titel gleichsam als Erbe geblieben war. Über solche Bejs pflegte meine Großmutter zu sagen: «Abaz Bej grub einen Brunnen, und heraus kam dürres Kraut».110 Abaz Bej war einer jener heruntergekommenen Bejs, er besaß ein altersschwaches Pferd, dem er zwei Wasserfässchen aufgebunden hatte, die er jeden Tag fünf-, sechsmal am Fluss füllte und das Wasser dann in der Stadt verkaufte. Ein Bej war auch der Präfekt von Gjirokastra, Javer Hurshiti, dessen Haus die Agas gekauft hatten. Er stammte von den ehemaligen Bejs in Gjirokastra ab, die im Ortsteil Hazmurat lebten, 109 Aga und Bej: Nicht trennscharf verwendete Titel aus osmanischer Zeit. Im vorliegenden Kontext bezeichnet Aga einen Großgrundbesitzer, Bej einen Landadeligen und Großgrundbesitzer. Vergleiche zu den beiden Gruppen auch Anm. 109 und S. 176 f. Die im Text geschilderte Ruinierung der (offenbar traditionelleren) Klasse der Bejs durch die (offenbar dynamischeren) Agas wäre näher zu untersuchen. 110 Im Original klingt der gereimte Spottvers besser: «Bëri Abaz Beu një krua, po i doli kserikua». Kseriko (von griechisch ξερός dürr, trocken) ist lt. Muzafer Xhaxhius Dialektwörterbuch ein Begriff für etwas, was ohne Wasser wächst. – Zu Abaz Bej siehe auch S. 98.

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und wurde dann zum Gefolgsmann von Ahmet Zogu, der ihn zum Präfekten machte. Später geriet er wie alle Bejs im Land auf den Abweg des Vaterlandsverrats, indem er sich den italienischen und dann auch den deutschen Besatzern andiente. Nachdem er seine Schuld vor dem Volksgericht eingestanden hatte, wurde er schließlich als Verräter erschossen. Wenn ich über die Architektur und die Schönheit von Gjirokastra spreche, tue ich das nicht nur deshalb mit so viel Hingabe, weil es die Stadt meiner Geburt ist, die ich sehr liebe und mit der mich unauslöschliche Erinnerungen verbinden. Und trotzdem: Auch wenn ich voller Hingabe spreche, bin ich überzeugt, nicht alles gesagt zu haben. Oh! Wie weit bin ich davon entfernt, wie viel Sprachgewalt fehlt mir, um in kompetenter Weise die wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Aspekte der Architektur zu dokumentieren! Aber starke Gefühle überkommen mich, wenn ich die Stadt, ihre Viertel, die vereinzelt stehenden und doch zusammengehörenden Häusergruppen sehe, wenn ich die Häuser betrachte, das eine so schön wie das andere, das eine sogar oft noch schöner als das andere! Alles an diesen Gebäuden, die mit so viel Wissen, Geschmack und Ästhetik gebaut wurden, fesselt die Aufmerksamkeit. So weit geht der gute Geschmack, dass manche Erbauer sogar die Mauer des Empfangszimmers, um den Anblick der Straße nicht zu beeinträchtigen, [S. 31] in der Art eines Erkers über die Straße gestalten ließen. Dies verleiht dem Empfangszimmer ein abwechslungsreiches Aussehen, zugleich erlaubt es den Passanten, die Perspektive der Straße durch allerhand Winkel, Erker und Nischen zu genießen. Wie weit weg sind wir hier von den langen, eintönigen Straßen mit ihrem Beton und ihren ewig gleichen Balkonen! Ja: Gjirokastra hat keine modernen Balkone, aber die, welche es hat, sind wunderschön, sind ganz erstaunlich! Man nennt sie hier «offene Dielen»; sie befinden sich jeweils zwischen zwei hohen, burgähnlichen Hausteilen. Manche dieser Balkone haben ein mächtiges Dach mit starken Stützbalken, andere, die man Kamerjé nennt, sind offene Terrassen, eingefasst von schmiedeeisernen Gittern, wie sie Kunstschmiede wie Aziz Buduku111 und andere kunstvoll verfertigten. Von diesen Balkonen und von den Fensterbrüstungen mit ihren Ziergittern hängen Blumen herunter, überall gibt es Töpfe mit Blumen. [S. 32] Die Bewohner dieser rauen Gegend, in der der Stein in jedem Winkel gegenwärtig ist, schwärmen für Blumen, sehnen sich nach dem Grün. Bei all ihrer Tapferkeit als Krieger haben sie den Geschmack für feine, hübsche Gebäude, die Freude an den Farben der Blumen und am Duft von Basilikum, Geranien und Majoran bewahrt. Die Leute von Gjirokastra pflücken normalerweise keine Blumen, sie vergöttern sie, liebkosen sie mit ihren Händen und begnügen sich damit, sie anzusehen. Blumen gehören zu ihren Häusern, und auch wenn Wasser früher Mangelware war, fanden sie für ihre Blumen doch stets welches und gossen sie. Wenn die Frauen die Kaffeebohnen im Mörser zerstießen, unterließen 111 Zum Schmied Aziz Buduku siehe unten S. 285.

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sie es nie, in die Kaffeebüchse ein Zweiglein Majoran zu geben, was dem Kaffee ein besonderes und angenehmes Aroma gab. Diesen [S. 33] tiefen Respekt gegenüber den Blumen habe auch ich, ohne es zu wollen oder zu verstehen, geerbt. Blumen zu pflücken geht mir wider den Strich und ich weise auch meine Kinder an, Blumen nicht zu zertreten oder zu pflücken.112 Die Liebe für das Grüne ist bei den Gjirokastriten, die ja inmitten von Steinen leben, eine wahre Leidenschaft. Jeden Stein bedecken sie mit Bäumen, mit Blumen, mit Klematis. Wer ein Stücklein Garten sein Eigen nennt, wird dort gleich Bäume pflanzen – Obst-, Feigen-, Maulbeer-, Zürgel- und Judasbäume und andere. In jede Grube und Grotte werfen sie etwas Erde, geben einen Samen dazu und schon wächst am Fuß einer alten Mauer ein Feigenbaum! Es gibt Häuser, an denen die Klematis nicht zufällig hochrankt, sondern weil sie bewusst gepflanzt wurde. Es gibt Pflanzen, die winters wie sommers grün bleiben, andere werden im Herbst golden, wieder andere rot wie Klatschmohn! Ich bin weder Dichter noch Maler; ich sage das, was ich fühle, so gut ich es kann und so, wie ich es fühle; durchdrungen von der Schönheit der Stadt meiner Geburt. Von welcher Seite man Gjirokastra auch betrachtet, immer setzt es einen in Erstaunen. Wenn man von der Landstraße her die Gruppen der Häuser der Maliles, Çuçis, Halimis, Muhajs und von Xha113 Mujman in der Morgensonne liegen sieht, lässt einen diese märchenhafte Schönheit buchstäblich erstarren. Als würden sie zusammen eine eigentliche Festung bilden, so wirken diese [S. 34] Häusergruppen auf der Hügelspitze, und links am Horizont, gleich daneben, sieht man den Lunxhëria-Berg. Und alle diese Fenster! Hunderte von Fenstern im Sonnenlicht! Jedes dieser Häuser hat von außen und innen her seine eigene Bauweise, seinen eigenen Stil, aber alles passt harmonisch zueinander, nichts stört einander, weder die Gebäudekomplexe noch die Mauern noch die Bäume. Ich kenne die erwähnten Häuser ja gut, weil unsere Familie in verschiedenen Stadtteilen gewohnt hat.114 Alles an ihnen ist ähnlich und doch verschieden. Die Eingangstore scheinen identisch, doch wenn man näher herbeitritt, sieht man, dass dem nicht so ist. Jedes Tor unterscheidet sich 112 Zu Enver Hoxhas Liebe gegenüber Blumen und Tieren vgl. das gleichnamige Kapitel in Ilir Hoxhas Erinnerungen (Babai im, Enver Hoxha), S. 44–48.  – Ein Zerrbild von fast grotesker Bösartigkeit zeichnet Myftaraj (2008, S. 48), wenn er schreibt, dass die artifizielle, unnatürliche und lebensfeindliche Architektur von Gjirokastra und die inzestuösen Schäden der Einwohner (siehe Anm. 156) bei diesen (und besonders natürlich bei Enver Hoxha) geradezu zu einer Phobie, ja sogar zu einem Hass gegenüber der Natur und zu einer Verachtung gegenüber allem Grünen geführt habe. 113 Xha: Eigentlich «Onkel», wird aber (dem Vornamen vorangestellt) allgemein zur respektvollen Anrede älterer Männer gebraucht, so wie «Teto» (Tante) für ältere Frauen. Da die Anreden «Onkel» und «Tante» für Bekannte auf Deutsch veraltet wirken (s.u. Anm. 156), behalten wir die albanischen Formen Xha und Teto bei, wenn es sich nicht um Blutsverwandte handelt. 114 Als Wohnsitze der Familie Hoxha werden im Folgetext namentlich erwähnt die Viertel Palorto, Cfaka und Hazmurat, siehe S. Anm. 205 und S. 288; S. 254 f., S. 274.

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nicht nur durch seine Größe, nicht nur durch die Türflügel, sondern auch durch die steinernen Torbogen. Das eine hat einen Torbogen aus großen Steinen, das andere hat darüber einen zweiten, zierlicheren Steinbogen, das dritte [S. 35] sogar zwei oder drei. Was für großartige Künstler! Was für ein unvergleichlicher künstlerischer Geschmack! Und alle diese Dinge, alle diese staunenswerten Bauwerke findet man nicht nur bei den großen Häusern der Angonis, Hadëris, Kalos, Kabilis, Skëndulis, sondern auch bei den Häusern der einfachen Leute. Ich kann überzeugt versichern, dass man in diesen einfachen Häusern reihenweise Schätze der Kunstfertigkeit des Volkes findet. Diese unsterblichen, tragischerweise anonymen Meister115 waren schon im Mittelalter voller Leidenschaft und proletarischen Geists, reichen die Anfänge von Gjirokastra, wie ich gehört habe, doch bis ins 6. Jahrhundert unserer Zeit zurück. Man nimmt an, dass die Zahl dieser Baumeister hoch war, dass sie in Gruppen arbeiteten und ihr Handwerk Generation um Generation an ihre Söhne weitergaben. Ein Charakteristikum sticht hervor: Auch wenn die Meister ihren individuellen Stil hatten, so hatten sie doch stets die Umgebung, in der sie arbeiteten – die umliegenden Häuser – vor Augen und gestalteten ihre Bauwerke deshalb so, dass sie mit den anderen harmonierten. Dies macht nur eines der Talente dieser genialen Meister aus. Sie haben einen unschätzbaren Schatz hinterlassen, bloß muss dieser bewahrt, bewahrt, bewahrt116 werden  – und wenn ich nochmal tausendmal wiederhole, dass er bewahrt werden muss, so denke ich trotzdem, dass ich es noch öfter hätte sagen sollen … Diese Meister des Baus haben jeden Flecken Erde genutzt und dabei die Grundsätze beachtet, die ich eingangs ausgeführt habe. Grund und Boden war eine Kostbarkeit! Und damit hängen auch die Straßen, die Tore zur Straße und unterhalb derselben, die gewundenen und verwinkelten Gassen zusammen, die von Hofmauern mit Bäumen und Gärten dahinter eingefasst waren. Eine ganz eigene Poesie haben die Straßen von Gjirokastra; wegen ihnen wirkt Gjirokastra sowohl wie eine Stadt wie auch als großes und wehrhaftes Dorf. Es gibt Gässchen zwischen den Häusern, die so schmal sind, dass zwei Menschen nicht aneinander vorbeigehen könnten. Zur Zeit meiner Kindheit waren die Straßen und Gassen mit kaputtem Kopfsteinpflaster gedeckt, mehr aber noch mit Steinbrocken, die von eingestürzten Mauern oder Kaminen stammten und liegengeblieben waren. Den Schutt wegräumen zu lassen, hätte zu viel gekostet. Heutzutage aber kümmert sich die Volksmacht darum, sie hat Häuser renoviert, breite gepflasterte Straßen und kleine Gassen wiederhergestellt, so dass ihr Anblick eine wahre Freude ist! [S. 36] Die Unterschiede bei den Häusern reichen bis zu den verschiedenen Typen der Schornsteine. Deren Öffnungen oben sind in durchdachter Weise so gestaltet, dass sie nicht nur den Rauch abziehen lassen, sondern auch durch ihren Geschmack und 115 «Mjeshtër» bedeutet sowohl Meister wie auch Maurer, beide Bedeutungen (wie auch das unten verwendete «Baumeister») passen hier. 116 Albanisch «të ruhet», mit den Nuancen bewahren, schützen, bewachen.

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ihre Ästhetik gefallen. Manche Schornsteine haben zwei, manche drei Abzüge nebeneinander, bei manchen sind die Abzüge lang, bei manchen kurz. Und auf die Steinplatte, die als Abdeckung dient, wird manchmal ein weißer Stein in der Art eines spitzen Fes’ gesetzt, manchmal nichts. Auf jenen ohne zusätzlichen Stein bauten die Störche, die aus heißen Ländern kamen, ihr Nest, das wie eine Wollmütze aussah. Aus diesen Storchennestern erklang das Schnabelgeklapper der [S. 37] «Storchenpilger»,117 wie wir sie nannten, denn unsere Mütter hatten uns erklärt, «diese Vögel kommen von der Kaaba, deshalb sind sie Mekkapilger.» Den Markt von Gjirokastra habe ich in meinen Erinnerungen vielfach erwähnt,118 aber ich muss auch hier über ihn sprechen.119 Der Mittelpunkt des Marktes, die «Qafa e Pazarit», der «Hals des Marktes», wie wir zu sagen pflegen, ist ein besonders schöner und gut unterhaltener Platz. Von ihm her nehmen alle Straßen ihren Ausgang, die in die verschiedenen Viertel hinauf- oder hinunterführen und die Stadtteile miteinander verbinden. Die Qafa e Pazarit ist wie ein Balkon, auf dem die Menschen herumstehen; dort treffen sie sich, diskutieren, schauen, wer hinauf- und wer hinuntergeht, in welchen Laden er geht, was er kauft oder nicht kauft, und wenn er den Laden verlässt, bleiben die Fragen nicht aus: «Was hast du gekauft?», «Wie teuer war es?». Für eine antike Stadt wie Gjirokastra stellt die Qafa e Pazarit eine wirklich bemerkenswerte künstlerische und architektonische Lösung dar. Die Straßen, die in die Qafa münden, sind alle unterschiedlich lang, aber beinahe gleich breit, ohne dass das irgendwie eintönig wirken würde. Durch die verschiedenen Gebäude – Läden, Herbergen, Cafés – mit ihren Treppen, Steinbänklein, Türen, Fenstern, hölzernen Gittern vor den Fenstern und steinernen Auf- und Anbauten erhalten diese Straßen eine seltene Anmut, zu der die Vielfalt der Bauwerke, der Formen, der Größen, ja sogar die Buntheit der Waren, die dort gehandelt werden, beitragen. Im oberen Teil der Qafa, am Eckpunkt zweier Straßen, treffen die Läden in einem hohen Gebäude mit Fachwerk, großen Fenstern und schönen Balkonen mit Eisengeländern aufeinander. Die oberen Gemächer dieses Hauses springen, getragen von eisernen Stützen, so hervor, dass sie wie in den Himmel gehängt wirken. Zur Zeit meiner Jugend dienten diese Räume meist als Zentren der patriotischen Gesellschaften und Klubs der Studenten. Dort befand sich die Bibliothek unserer Jugendzeit, wo wir lasen und auf die Balkone traten, Mandoline und Gitarre spielten und die Leute auf dem Marktplatz unterhielten.120

1 17 Albanisch «haxhilejlek», von «haxhi», Mekka- oder Hadschpilger, und «lejlek», Storch. 118 Dies bezieht sich auf die folgenden Kapitel, die zeitlich aber teilweise früher verfasst wurden. 119 Fußnote im albanischen Original: Die Fakten zeigen, dass der städtische Markt anfangs nahe der Burg abgehalten wurde, genau dort, wo sich heute das Viertel «Alter Markt» befindet. Später wurde der neue Markt gebaut, dessen Zentrum «Qafa e Pazarit» heißt. 120 Siehe hierzu S. 193–198.

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Wenden wir uns jetzt etwas genauer dem Inneren der Häuser von Gjirokastra zu! Kennzeichnend für diese Häuser ist die Sorgfalt der Handwerker, wenn es darum ging, ein Umfeld zu schaffen, [S. 38] das den Erfordernissen des täglichen Lebens entsprach. Im unteren Geschoss der Häuser befinden sich normalerweise die Vorratsräume – die qilare, wie wir in Gjirokastra sagen – sowie die Zisterne und der Stall, wobei dieser manchmal auch außerhalb, im Hof, stand. Diese Räume gehören zu den kühlsten des Hauses, deshalb eignen sie sich auch als Lagerraum für die Lebensmittelvorräte. Man darf ja nicht vergessen, dass die Gjirokastriten, auch die armen, über ein entwickeltes ökonomisches Bewusstsein verfügten. Gemäß seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten legte ein jeder Vorräte an – vielleicht nicht gerade für ein ganzes Jahr, aber doch für drei oder sechs Monate – und baute sich ein Lager an Brennholz und Esswaren auf, wobei natürlich darauf zu achten war, dass letztere nicht verdarben. Die Räume des unteren Geschosses dienten somit vor allem der Lagerung von Esswaren und all jener Dinge des Haushalts, die man nicht täglich benutzt. Dazu kamen alte Sachen, die man nicht fortwarf, sondern reparierte. In den Häusern der reicheren Familien, die über größere Vorräte verfügten, waren diese Räumlichkeiten weitläufiger und besser durchlüftet. Bei den kleineren Häusern folgte auf das Unter- das Obergeschoss. Je nach den Mitteln des Hausherrn verfügt es über zwei, drei Gemächer, von denen eines die «Oda e madhe», das Empfangszimmer, genannt wurde. Ferner gab es das «Pat», ein weiter hinten liegendes Winterzimmer mit kleinen Fenstern.121 Die Fenster der Oda e madhe sind entweder gleich groß wie jene des Pat oder größer. Die Oda e madhe – das Gastoder Empfangszimmer – war der am besten unterhaltene und geputzte Raum. Natürlich gab es in Gjirokastra auch Häuser mit zwei Wohngeschossen. Diese gehörten den Reicheren. Hier gab es außer dem Untergeschoss mit den Keller- bzw. Vorratsräumen und dem ersten Geschoss, das im Sommer, vor allem aber im Winter genutzt wurde, noch ein Obergeschoss. In diesem wohnte man, wenn es wärmer wurde, d. h. im Frühling, Sommer und Frühherbst. Man muss wissen, dass Gjirokastra ja ein kontinentales Klima hat, d. h. große Hitze im Sommer und große Kälte im Winter. Stein hat bekanntlich die Eigenschaft, sich nicht nur zu erwärmen, sondern die Wärme auch zu speichern und sie dann langsam abzugeben, vor allem tagsüber. Die Hitze ist mithin nicht nur außer-, sondern auch innerhalb der Häuser sehr drückend. Aus diesem Grund verbrachten viele Familien von Gjirokastra den Sommer [S. 39] nicht im Obergeschoss, sondern im Hajat, dem Windfang oder Vorplatz im Untergeschoss, wo die Zisterne und die Türen zu den Kellern waren. Die Böden dieser Vorräume sind meist mit Steinplatten belegt und wurden mit einer öligen Flüssigkeit gestrichen; die 121 Zum Pat, das im Winter auch als Empfangszimmer diente, siehe S. 84–86. Gute Übersichten der Räume in traditionellen gjirokastritischen Häusern finden sich bei Riza (2015), S. 105–112 (wie auch in anderen Beiträgen der Publikation «Monumentet 53/2013) und bei Xuhano (2002), S. 71–75.

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Fugen waren teils rot gestrichen, teils gekalkt. Entlang der Wände wurden Sitzbänke und mit Maisstroh gefüllte Kissen aufgestellt. Hier hielt man sich zur Mittagszeit auf, hier wurde die Sofra122 gedeckt und wurde gegessen, während man zum Schlafen ins Obergeschoss ging. Die Treppen der Häuser in Gjirokastra sind meist aus Stein gebaut. Beide Treppen – die, welche ins erste und die, welche ins zweite oder Obergeschoss führt – sind sorgfältig mit Steinen aus dem Fluss ausgeführt und mit polierten und gescheuerten Platten belegt. Diese Treppen sind oft lang. Seitlich haben sie hölzerne Geländer mit polierten Knäufen. Es finden sich aber auch viele Treppen ohne Geländer, die für die kleinen Kinder natürlich gefährlich sind. Bisweilen ist auch die untere Treppe aus Stein, die obere aber aus Holz, d. h. aus Brettern, die von den Frauen im Haus fortwährend geschrubbt wurden und immer ihre anmutige honigbraune Farbe bewahrten. Das Gleiche galt für die Divane – die Dielen oder Vorräume –, die in der ganzen Stadt ebenfalls sehr sauber gehalten wurden, was als ein Charakteristikum von Gjirokastra galt. Bohnerwachs war damals noch nicht bekannt; die Bodenbretter wurden mit Wasser und Seife gereinigt. Dieses Verfahren machte die Bretter nicht nur haltbar, es sorgte auch dafür, dass sie immer glänzten und schön aussahen. Auf die Dielen, die einen beträchtlichen Platz im Haus einnahmen, gingen alle Türen der einzelnen Zimmer. So viele Räume ein Geschoss hatte, so viele Türen waren es. Diese Dielen waren bevorzugte Aufenthaltsräume für die Familie; vor allem im Frühling und Sommer unterhielt man sich dort und empfing dort manchmal sogar Besuch.123 Die Diele oder Terrasse im zweiten, d. h. obersten Geschoss vor allem der großen Häuser, war oft offen. Dort blies im Sommer und Winter der Wind. Zu diesen Dielen oder gedeckten Terrassen gelangte man über eine Treppe, die meist aus Stein gebaut war. Die Hausmauer reichte auf der Seite der Treppe bis zur Höhe der Terrasse. Meist stand auf dieser Mauer eine Reihe hübscher, bisweilen bemalter Säulen [S. 40] aus altem Holz, welche die Decke trugen und gleichzeitig eine Art von offenen Rahmen bildeten, fast wie Fenster ohne Fensterflügel. Auch wenn es nach Kräften stürmte und blies, konnte der Regen nicht über die Treppe in die gedeckte Terrasse gelangen, er wurde durch die Steinbänke, die vor dem Geländer standen, durch die Hausmauer oder durch die Treppe selbst aufgehalten. An alles hatten die Erbauer gedacht!

122 Sofra: Niedriger, runder Esstisch, um den herum man sich zum Essen auf Kissen auf den Boden setzte und der nach Gebrauch weggeräumt und an die Wand gestellt wurde. 123 Einen Eindruck von Lage und Größe der Divane bzw. Dielen vermitteln die Grundrisse des Zekatë-Hauses, die sich z. B. in Booth/Roshi: Gjirokastra – the essential guide, S. 37 finden; vgl. auch in der Zeitschrift «Monumentet», Nr. 53/2015, S. 120 f. – Zum Begriff «Divan» steuert Myftaraj (2008, S. 47) eine besonders originelle Erklärung bei: Der Begriff bezeichnete in der osmanischen Administration ein Büro; die alten Gjirokastriten, die im osmanischen Reich gedient hatten, verwendeten ihn in nostalgischer Erinnerung für ihre Dielen.

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Auf der Seite gegenüber der Treppe befand sich eine hübsche Brüstung aus Brettern, welche die Terrasse oder Diele unterteilte. Deren Boden bestand ebenfalls aus Brettern. Vorne stand oft eine Art erhöhtes Podest auf hölzernen Säulen. Von hier ging der Blick zur großen Außentreppe, über die Hofmauer, den Garten und die ganze Stadt. Dieses Podest war auf allen Seiten offen. Man konnte es von der Terrasse her über ein paar Stufen besteigen, die sich auf beiden Seiten fanden. Im Sommer wurden rings um das Podest Liegen und Kissen aufgestellt; im Winter wurde alles entfernt, was von der Feuchtigkeit Schaden nehmen könnte. Im inneren Teil der Diele hingegen blieben die seitlich aufgestellten Sitzbänke das ganze Jahr über bestehen. Der Aufenthalt in dieser Diele oder Terrasse, die man meist den «Divan i madh», die große Diele, nannte, war im Sommer sehr angenehm, zur Zeit der größten Hitze schliefen die Familienangehörigen sogar hier. Im daruntergelegenen Stockwerk, zwischen dem Divan i madh und dem Kelleroder Untergeschoss, befand sich oben an der Treppe die große Haustür. Es folgte eine weitere Tür, die ebenfalls abgeschlossen werden konnte. Von dort gelangte man in eine Diele von gleicher Größe wie der Divan i madh oben. Sie war wärmer als dieser, da sie dem Wind nicht ausgesetzt war und weil sie im Winter durch eine Tür geschlossen werden konnte. Durch diese «Blockade» konnte der Wind von der oberen Diele nicht in die untere gelangen. Die untere Diele hatte kleinere Fenster und war dunkler. Auf sie gingen die Türen der Winterzimmer, wie wir das in Gjirokastra nannten; sie wurden benutzt, sobald es kälter wurde. Zu ihnen gehörte, je nach Anzahl der Familienangehörigen, auch das «Pat i madh», das große Gemach oder Winterzimmer. Der Umfang all dieser Anlagen und Einrichtungen hing von der ökonomischen Lage der Familie ab, die das Haus hatte bauen lassen. Bei Familien mit großen Einkünften war auch das Pat i madh größer.124 Gewöhnlich lag es auf der Südseite; so konnte [S. 41] die Sonnenwärme hier zur Heizung mitgenutzt werden. In die Wand dieses Raums ist meist ein offener Kamin eingebaut, der oben einen Rauchabzug aus Steinplatten hat. Dieser wird in der Regel mit einem Vorhang abgedeckt, der bis in die Mitte des Kamins herunterhängt. Dadurch wird einerseits die Öffnung verkleinert, aus der das Feuer kommt, wenn Holz verbrannt wird, andererseits wird so verhindert, dass sich der Rauch im ganzen Zimmer ausbreitet.125 124 Das Pat i madh, in vielen Häusern offenbar der einzige beheizbare Wohnraum, war im Winter wohl der zentrale Aufenthalts- und Schlafraum für die Familie, in dem auch Gäste empfangen wurden. Bei wärmeren Temperaturen verteilten sich die Funktionen Aufenthalts-, Schlaf- und Empfangsraum auf verschiedene Bereiche des Hauses und seiner Stockwerke, siehe hierzu S. 82–86. Als Empfangsraum diente dann die Oda e madhe. Die Beschreibung des Pats einer armen Familie findet sich S. 263. 125 Die Beschreibung tönt etwas abenteuerlich, wird aber plausibler, wenn man sich z. B. das Bild des Kamins im Geburtshaus von Enver Hoxha anschaut (im Internet unter «muzeu etnografik i Gjirokastrës» abruf bar; weitere, deutlich prunkvollere Modelle mit gemauertem «Vorhang» finden sich unter dem Suchbegriff «oxhak Gjirokastra»).

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Charakteristisch für das gjirokastritische Pat sind auch die großen Wandschränke, die bei uns «Musandra» hießen. In ihnen wurden die Matratzen, Steppdecken und Kissen aufgestapelt, die man zur Schlafenszeit herausholte und am Boden ausbreitete. Manchmal sind auch hölzerne Schlafstätten entlang den Wänden fest angebracht. Auf ihnen wurden dann die Matratzen und die mit Heu oder Maisstroh gefüllten Kissen hingelegt, deren Bezüge in ansprechender Weise mit runden Stoffflicken, «Karfoma», zusammengenäht waren.126 Links und rechts des Kamins standen niedere Ruhebänke, die oft mit Wolldecken oder Filztüchern abgedeckt waren, je nach Vermögen der Familie. Auf jeder Seite des Kamins gab es [S. 42] eine Nische in der Wand. Die Öllampe wurde auf den Kamin gestellt, hierhin oder in eine der Nischen stellte das Familienoberhaupt auch das Tablett mit Zigaretten etc. für die Gäste. Auf den Kamin wurden auch das runde Blech mit den Kaffeetässchen, dem langstieligen Kaffeekännchen – der Xhezve – und den mit Zucker und Kaffee gefüllten Dosen gestellt. Letztere nahm die Hausherrin, um den Gästen Kaffee zuzubereiten. Die Gäste wurden im Winter im Pat empfangen, im Sommer hingegen, sobald es heller und wärmer wurde, diente die Oda e madhe als Gast- und Empfangszimmer. Familienangehörige wurden auch im weiter hinten liegenden Zimmer empfangen. Der Ausbau des Pat war geschmackvoll. Seine Fenster, die manchmal in der Art von Erkern vorsprangen, waren in der Regel kleiner als jene der Räume im oberen Stockwerk, zu denen auch die Oda e madhe, das hauptsächliche Gast- und Empfangszimmer, zählte. Die Fenster des Pat hatten außer den Scheiben meist auch innen angebrachte Holzläden, die in der Nacht mit einem eisernen Riegel geschlossen wurden. Jedoch waren weder diese Läden noch die Türen der Einbauschränke oder die Holzdecken der Räume dieses Stockwerks mit den schönen Ornamenten verziert, die man in den im Sommer genutzten Gastzimmern des oberen Stockwerks fand. Trotzdem strahlte das Pat im unteren Stock eine behagliche Wärme aus. Verantwortlich hierfür war nicht nur der offene Kamin, der in aller Regel kunstvoll gestaltet, der Größe des Raumes angepasst und so positioniert war, dass der Nordwind den Rauch nicht ins Zimmer zurückblasen konnte. Auch die Türen der freistehenden Schränke, in die Blumenmotive, Vögel oder geometrische Muster geschnitzt waren, trugen hierzu bei. Im Pat gab es oft einen oder zwei solcher Schränke, die oben ein paar mit Schnitzereien verzierte Fächer hatten, z. B. einen Vogel links und rechts und in der Mitte ein Rad. All das war so geschnitzt, dass es beim Schließen der Türflügel genau in der Mitte des Schranks lag. Auch die Türflügel selbst waren mit Schnitzereien von Blumen und Vögeln verziert. Oft waren im Pat in einer Höhe von anderthalb Metern oder mehr Regale für die Dinge des unmittelbaren Gebrauchs angebracht, z. B. für die Turbane oder Fese, welche die Hausfreunde auszogen, bevor sie sich setzten, oder für einen Teller und andere Dinge. Allerdings wurden Teller und Schüsseln eher in der Küche auf bewahrt, wo man auch die Speisen zubereitete. Hinten im Pat befand sich 126 Karfoma: Siehe auch S. 263.

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stets die Musandra, der große Wandschrank, dessen hölzerne Türen [S. 43] ökonomisch besser gestellte Familien in der Regel mit schönen Schnitzereien verzieren ließen. Aber auch die armen Familien hatten einen sehr entwickelten Geschmack und stellten die Schnitzereien entweder in meisterhafter Weise selbst her oder ließen sie durch Bekannte machen, die das für sie erledigten oder sie bei den Verzierungen unterstützten. Selbstverständlich standen im Pat gepolsterte Sitzbänke. Wer es vermochte, breitete in der Mitte auch einen Teppich aus. Sich im Winter im Pat aufzuhalten, war eine sehr angenehme Sache! In der Diele gab es eine Tür, die in ein Zimmer führte, das normalerweise auf der Rückseite des Hauses lag, dort, wo sich düstere Weglein zwischen der Haus- und der Hofmauer durchschlängelten. Die Fenster der rückseitig gelegenen Zimmer waren natürlich kleiner, diese Räume waren auch dunkler; wir nannten sie «oda të futura», die «hineingedrückten», zurückliegenden Räume. Hier befand sich auch die Küche mit ihrem offenen Kamin, dessen Größe je nach Umfang der Familie variierte. In der Küche standen Schränke – Bänke oder Tische sah man zu jener Zeit selten – und es gab Nägel, an denen die Schöpfkellen und andere Küchenutensilien aufgehängt wurden. Hier bereiteten die Frauen die Speisen zu. Manche der reichen Familien hatten in der Küche sogar einen Backofen. Selbstverständlich stellten die Vermögenden Byrek, Tava und andere Speisen her und buken sie im eigenen Ofen, während die ärmeren, die keinen Ofen hatten, ihr Brot und ihre Spinat- oder Käsepasteten zum Backen in die Backstuben des Viertels brachten.127 In der Diele dieses Stockwerks128 gab es ein Zimmer, das zwar zu den Winterzimmern zählte, aber kalt war. War die Familie sehr groß, schlief ein Teil der Familienangehörigen hier. Dieses Zimmer konnte nicht beheizt werden; die dort Schlafenden deckten sich mit Decken zu. Wenn die Kälte allzu schneidend war, wurde manchmal ein Kohlebecken aufgestellt, um den Raum etwas zu erwärmen. Natürlich nahm man hierfür die Glut von Holz- und nicht von Steinkohle, da es allen bewusst war, dass Steinkohle wegen des Kohlenmonoxyds gefährlich war. Häuser wie die oben geschilderten gibt es auch heute noch in Gjirokastra. Ihre ganz eigene Atmosphäre lässt den Aufenthalt in ihnen zu einem Erlebnis von besonderer Anmut und spezieller Schönheit werden. Nicht nur die Aufteilung der Innenräume, die sich an den Bedürfnissen der Familie orientiert, sondern auch die Gestaltung des Umfelds zeugt von Stil und Geschmack, [S. 44] sind doch sowohl die Mauern wie auch die Dächer  – beide mit Steinplatten gedeckt  – in ansprechender Weise und mit schönen Steinbögen gebaut. Dies hängt nicht nur damit zusammen, dass Ziegel zu jener Zeit nicht so bekannt und bequem zu handhaben waren, vielmehr waren Steinplatten ein Baumaterial aus dem unmittelbaren Umfeld, das leicht beschafft werden konnte. 1 27 Siehe hierzu das Kapitel «Die Bäcker der Stadtteile», S. 260–281. 128 Die Rede ist immer noch vom ersten, oberhalb des Untergeschosses gelegenen Stockwerk.

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Zur besonderen Schönheit der Häuser von Gjirokastra trug der Anblick der Dachkonstruktionen bei. Hierfür waren zahllose Balken erforderlich, da das Gewicht der Steinplatten gewaltig war. Wenn diese Balken gesetzt waren, bildeten sie ein riesiges Labyrinth unter dem Steindach, in das sich außer neugierigen Kindern nie jemand verirrte. Die Dächer sprangen über die Mauern vor und wurden von starken Balken gestützt, die oft dicht nebeneinanderstanden. Auf diese Weise trugen sie das Gewicht des Dachs, gleichzeitig verliehen sie dem Haus eine besondere, majestätische Schönheit. Es gab auch eine Konstruktionsweise mit Tragbalken in der Art von abgewin­ kelten Ellbogen, sogenannte «Ellbogendächer». Die betreffenden Häuser wirkten hierdurch breiter, schöner und auch höher. Manche Häuser hatten zuoberst an der Mauer, unmittelbar unter dem Dach, ein rundes Fenster und unterhalb desselben Balken mit aufgemalten Blumen, Tieren, Löwen, kreisförmigen Gebilden, einem türkischen Koranvers oder dem Namen und einer Jahreszahl des Erbauers oder Besitzers. Diese Häuser sind alt, sie wurden vor mehr als 100 oder 120 Jahren erbaut129 und stehen immer noch. Errichtet wurden sie zu einer Zeit, als das lateinische Alphabet noch nicht zur Verschriftlichung unserer Sprache verwendet wurde, deshalb sind die Inschriften in türkischer Schrift angebracht. Häuser dieser Art findet man reihenweise in Gjirokastra. Charakteristisch für sie sind vor allem die folgenden Punkte: Die Fenster auf ihrer Vorderseite, vor allem jene des ersten Stockwerks, sind groß. Jene des zweiten und des Untergeschosses sind kleiner. Zur Zeit meiner Jugend gab es hinten im großen Empfangszimmer – der Oda e madhe – oberhalb der Tür einige kleine Fensterchen, die vor allem bei Hochzeiten und Festen benutzt wurden. Diese Guckfensterchen waren nicht einfach eine Zierde, vielmehr konnten die Frauen durch sie sehen, was in der Oda vorging. Hinter diesen Fensterchen waren nämlich die Dipatos,130 wie wir diese Zwischenräume nannten. Vor den Fensterchen waren hölzerne Gitterchen angebracht. [S. 45] Durch sie konnten die Frauen den Männern zusehen, wenn diese an Festen oder Hochzeiten tranken und sangen – während umgekehrt die Männer die Frauen nicht sahen. Unter diesen Fens­ terchen befanden sich Schränke, meist mit einer Glastür,131 in denen Zierstücke aus Glas ausgestellt wurden. Diese gehörten damals wegen ihrer Seltenheit zu den wertvollsten Objekten überhaupt. Wir nannten sie «gota farfuri», Porzellantassen oder -lampen. Sämtliche oben beschriebenen Merkmale der gjirokastritischen Häuser, insbe­son­ dere auch ihren Verteidigungscharakter, findet man vereint im großen Haus der 129 Diese Schätzung ist zu vorsichtig, das tatsächliche Alter mancher Häuser reicht bis mindestens ins 18. Jahrhundert zurück. 130 Albanisch dhipato, von griechisch δίπατο, «mit doppeltem Boden». Gemeint ist ein Zwischenraum zwischen dem Wandschrank (Musandra, siehe oben) und der Zimmerdecke. 131 Unklare Stelle, da sich unterhalb des Dipatos ja eigentlich die Musandra, der große Wandschrank befand. Gemeint sind vielleicht Vitrinen zwischen Musandra und Dipato; das eingesehene Bildmaterial ergab keine Klärung.

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Zekos – der shtëpia e Zekatëve – das oben in Palorto steht.132 Der Anblick dieses charakteristischen Gebäudes hat nichts mit dem eines einfachen Hauses zu tun, vielmehr ist es eine Festung im eigentlichen Sinne des Wortes. Seine Höhe ist überragend nicht nur wegen des Standortes, den sein Erbauer gewählt hat, sondern auch angesichts der Größe und Großartigkeit, die er seinem Wohnsitz zugedacht hat. Dieses Haus ist an einer Stelle erbaut, die die ganze Stadt beherrscht und freien Ausblick nach allen vier Seiten gewährt. Im Haus selbst hat es zahlreiche steinerne Treppen. Die Mauern dieses Hauses stehen den Zinnen auf der Burg in nichts nach, das Haus selbst hat drei Geschosse. Das oberste, d. h. das dritte und höchste, hat große Fenster, jene der unteren Geschosse sind kleiner. Sehr stark sind auch die Hofmauern und die Portale. Es heißt, dass dieses Haus von der Familie Zeko, den Zekatë, erbaut wurde,133 die Verbündete von Ali Pasha Tepelena134 waren. Man weiß, dass Ali Pasha gegen Gjirokastra und seine Bürger Krieg führte und dass er gegenüber Gjirokastra die Burg Shën Triadha135 bauen ließ. Als er dann die Burg von Gjirokastra im Kampf erobert hatte, richtete er in ihr Stellungen für die damals verwendeten Waffen ein, d. h. für Kanonen und Pulvergeschütze. Wie man weiß, hatte Ali Tepelena, als er Pascha von Janina [Ioannina] wurde, französische Offiziere im Dienst seiner Artillerie. Er lebte zur Zeit, als in Frankreich Napoleon Bonaparte an der Macht war, zu dessen Herrschaftsgebiet auch die Inseln Korfu, Kephalonia und andere gehörten.136 Napoleons Stellvertreter, der diese Inseln regierte, hieß Danzelo,137 wenn ich mich nicht irre. Dieser stand in stetem Kontakt mit Ali Pasha Tepelena, der ihn von der Festung Butrint und von Arta her mit Proviant versorgte. In einem Brief, den Napoleon diesem General [S. 46] schickte, riet er ihm, sich vor Ali Pasha zu hüten, weil ihn dieser als mächtiger, schlauer und gewiefter Politiker sonst über den Tisch ziehen werde, falls ihm das nicht eh schon gelungen sei. (Dies habe ich in einem französischen Buch gelesen, in dem alle Archivalien zu den Beziehungen Napoleon  – Ali Pasha Tepelena abgedruckt sind.) Ali Pasha installierte auch in der Burg von Gjirokastra solche Geschütze. Es leuchtet aber ein, dass die Schäden an den steinernen, mit Steinplatten gedeckten Häusern, wenn er 132 Vgl. zu diesem Haus den ausführlichen, reich illustrierten Artikel von Emin Riza (dem Autor des ausgezeichneten Bildbands «Gjirokastra, Museumsstadt, Tirana, 1978) in der Zeitschrift «Monumentet» 53/2015 (Themenheft zur 10-jährigen Aufnahme von Gjirokastra ins UNESCOWelterbe), S. 103–124, französisches Résumé S. 125–128, als pdf downloadbar). 133 Dies gilt als unbestritten. Erbaut wurde das berühmte Haus unter der Ägide von Beqir Zeko in den Jahren 1811–1812. 134 Ali Pasha Tepelena (1740/41–1822): Osmanischer Pascha, Statthalter der Provinz Janina, um 1810 faktisch Herrscher über Südalbanien, Epirus, Thessalien und Teile von Makedonien. Wegen Untreue gegenüber der Hohen Pforte 1822 hingerichtet. Siehe auch S.  93 f. und 206 f. 135 Die Burg Shën Triadha (Heilige Dreifaltigkeit) wurde in den Jahren 1809–1810 auf dem gleichnamigen Hügel gegenüber Gjirokastra errichtet; ihr heutiger Zustand ist offenbar prekär. 136 Die Ionischen Inseln, zu denen Korfu und Kefalonia gehörten, waren von 1797–1799 und dann wieder während der Napoleonischen Kriege von 1806–1809 französisch besetzt. 137 Gemeint ist der französische Politiker und General François-Xavier Donzelot (1764–1843).

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sie unter Beschuss genommen hätte, nicht so verheerend ausgefallen wären wie bei anderen, weniger solide gebauten Gebäuden. Betrachtet man das Haus der Zekatë unter diesem Blickwinkel, hat es wirklich einen ausgeprägten Wehrcharakter. Zugleich ist es ein wunderschönes Gebäude, und seine Besucher staunen über die Meisterschaft, die Fähigkeiten und die goldenen Hände der damaligen Baumeister, auch wenn sie mit der Geschichte dieser Art von Gebäude nicht vertraut sind. Die Meister des Maurerhandwerks haben ihre Fähigkeiten allerdings nicht nur bei den Häusern von Agas oder mächtigen Herrschaften unter Beweis gestellt, in deren Händen damals alle Macht lag. Freilich gelang es diesen Herrschaften trotzdem nicht, wie schon oben gesagt, der armen Bevölkerung von Gjirokastra ihren Willen aufzudrängen. Wie wir Älteren gut wissen, ist es ja ein Charakteristikum der Städte, dass dort die Existenz von Geschlechtern oder Clans, die ihren Niederschlag auch in den Gebäuden findet, den Machtmissbrauch der Mächtigen einschränkte. So stehen zum Beispiel die größeren und kleineren Häuser eines Clans, auch wenn er seit Jahren getrennt in verschiedenen Zweigen lebt, noch immer nahe beieinander. Dies – vor allem die räumliche Nähe – verkörpert das Konzept, dass die Familie immer durch ihre Zusammengehörigkeit geschützt sein wird, auch wenn ihre späteren Zweige getrennt leben. Nehmen wir als Beispiel die Familie Bakiri.138 Alle Häuser dieser Familie sind miteinander verknüpft und nahe beieinander gebaut, wenngleich natürlich durch Mauern voneinander getrennt. Eines dieser Häuser, das von Selim Bakiri, ist größer – offenbar deswegen, weil Selims Großeltern vermögender waren. [S. 47] In den nachfolgenden Generationen teilte sich die Familie auf, so dass die später gebauten Häuser kleiner waren. Jene, die vor etwa 80 oder weniger Jahren gebaut wurden, unterscheiden sich hinsichtlich des Baustils vom Haus von Selim Bakiri. Letzteres gilt natürlich als erhaltenswertes Haus mit musealem Wert. So wie die Häuser der Bakiris sind auch jene der Skëndulis. Das heisst, auch deren Familien leben so wie die unsere, die Hoxhas, ebenfalls eng beieinander. Alle unsere Häuser, dasjenige von Resul, das von Fetah, von Nexhmo, von Muço, von Çuço139 und von anderen, bilden zusammen eine Einheit. Zurück zur Frage der Agas und der Familien, die wirtschaftlich stark waren oder Beziehungen zu Ali Pasha oder ähnlichen Widersachern und Agas hatten. [S. 48] Wenn sie etwas gegen ärmere Leute unternehmen wollten, hatten sie es nicht einfach, ein einzelnes Familienmitglied zu bedrängen oder zu bekämpfen. Abgesehen vom Widerstand der betreffenden Person wäre dann nämlich sofort die Einheit des ganzen Geschlechts, des Clans, zum Tragen gekommen.

1 38 Die Bakiris waren entfernte Verwandte der Familie Hoxha, vgl. S. 244, 290. 139 Bei Çuço handelt es sich vielleicht um jemanden aus der Familie Çuçi, aus welcher auch Enver Hoxhas Mutter stammte.

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Sehr schön ist auch das Haus der Familie Topulli,140 das mir immer gefallen hat. Die Topullis sind ein Geschlecht, aus dem, wie jedermann weiß, Helden des albanischen Volkes stammen: Bajo, Çerçiz, unser Genosse Ago Topulli, Partisan, der Sohn von Halil Topulli. Auch dieses wirklich sehr ansprechende Haus ist verdientermaßen in ein Museum umgewandelt worden. Sein Wert liegt nicht nur darin, dass in ihm kostbare Objekte – angefangen von den Waffen der Helden bis hin zu Dokumenten aus ihrem Leben und anderem – versammelt sind, was der Partei zu verdanken ist, der es gelungen ist, in diesem Museum das Werk der gjirokastritischen Vertreter der Rilindja141 ins Licht zu setzen. Nein, zu seinem Wert trägt auch seine Architektur bei. Sie bringt eindrucksvoll die Größe und den Stolz dieser großen patriotischen Familie zum Ausdruck, die eine mächtige Bedrohung für die Bejs und Türkenfreunde darstellte. Kapo Topulli war Mitglied des Kommandos von Gjirokastra, das für die Befreiung der Stadt kämpfte; zusammen mit Hysen Hoxha, Idriz Guri, Hasan Xhiku142 und anderen Patrioten widerstand er den Besatzern und ihren Handlangern. Die ganze Familie von Kapo Topulli lebte damals in diesem Haus, ringsumher wohnten andere Familien. Die Stadtteile Dunavat und Manalat stellten zur Zeit des Nationalen Befreiungskampfes eine starke Basis für die als Guerillas kämpfenden Partisanen dar. Kein Besatzer hätte es gewagt, seinen Fuß hierhin zu setzen, zu groß war die Gefahr, in den verwinkelten und gewundenen Gässchen umgebracht zu werden. Ähnlich war es schon zur Zeit von Bajo und Çerçiz. Nachdem Çeço [Çerçiz] die Türken im Dorf Mashkullora umgebracht hatte,143 durchbrach er die Umzingelung – aber: wohin sollte er fliehen? Natürlich vom Mal i Gjerë in sein eigenes Haus. Alle [S. 49] Bewohner ringsumher, erzählte mir Baba Çen,144 wussten, dass Çerçiz in seinem Haus war und hielten ihre Mauser-Gewehre bereit. Çerçiz ging mit seiner Freischar nach Korça, verbrachte einige Tage in Hirtenhütten auf dem Mal i Gjerë und ging dann zu Haso145 nach Hause. All dies erzählte mir Baba Çen und ergänzte: «Die türkischen Feinde

1 40 Fußnote im albanischen Original: Heute historisches Museum 1839–1939 [was aktuell, 2021, nicht mehr stimmt]. Das Haus ist abgebildet in Booth/Roshi 2009, S. 56. Zu den Gebrüdern Çerçiz und Bajo Topulli siehe S. 63. 141 Rilindja: Siehe Einleitung, Kap. 11a, und S. 135. 142 Zu Hysen Hoxha, d. h. Enver Hoxhas Onkel Baba Çen, siehe die untenstehende Fußnote und S. 109; zu Idriz Guri und Hasan Xhiku siehe S.  148 ff. 143 Siehe hierzu S.  160 f. 144 Fußnote im albanischen Original: Hysen Hoxha (1861–1934), Onkel von Genosse Enver Hoxha, Patriot, Initiant der Eröffnung der ersten albanischen Schule in Gjirokastra, Vorsteher der Gesellschaft «Bashkimi» und des «Ältestenrats» (Pleqëria) des Klubs «Drita». Im Jahr 1912 war er Delegierter von Gjirokastra bei der Ausrufung der Unabhängigkeit Albaniens in Vlora. 1913– 1914 leistete er Widerstand gegen die griechischen Besatzer und sagte zu Papulas, dem General von Zographos, «Ihr werdet Gjirokastra nicht in Flammen legen können, weil es uneinnehmbar ist», «ihr werdet Gjirokastra nicht in Flammen legen können, weil es ein Fels ist». 145 Die Mutter von Çerçiz Topulli, siehe S. 182.

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hätten sich in unseren Gassen nicht bewegen können, sonst wäre es ihnen gleich gegangen wie dem Bimbash.»146 Anläßlich eines Besuchs, den ich dem Haus und Museum der Topullis abgestattet habe, habe ich den Genossen geraten, falls möglich vor diesem Haus eine breite steinerne Treppe zu errichten, die bis hin zur ehemaligen Backstube von Ciu führen würde. Dies würde den Ort, wo die großen Helden von Gjirokastra geboren wurden, noch mehr als imposantes Monument wirken lassen. Ich habe verschiedentlich über Häuserkomplexe dieser Art geschrieben. Sie stellen tatsächlich Monumente von außerordentlicher Schönheit dar und müssen deshalb auch mit der größten Sorgfalt geschützt werden. Wie ich sehe, behandeln die Partei und die Regierung in Gjirokastra diese Frage auch mit besonderer Priorität. Selbstverständlich ist es nicht einfach, in so kurzer Zeit alle Gebäude zu restaurieren oder instand zu halten, aber bereits sind schon viele Häuser repariert, wie ich es mit eigenen Augen gesehen habe oder wie man mir berichtet hat. Dabei hat man sich bemüht, den Stil, die Bauweise und die wundervolle alte architektonische Kunst der Stadt zu bewahren. Wichtig ist, dass dieser sorgfältige Umgang auch in der Zukunft gepflegt wird. Selbstverständlich sind damit gewisse Kosten für den Staat verbunden, doch muss man sich vergegenwärtigen, dass derartige Häuser heutzutage nicht mehr gebaut werden. Die Mehrheit ihrer Erbauer waren keine reichen Leute. Hier ist nicht die Rede von den Agas, vielmehr waren die meisten Bewohner von Gjirokastra leidgeprüfte Menschen, von denen manche sogar in die Fremde gingen, wo sie sich [S. 50] eine lange Zeit abrackerten, um etwas Geld für den Bau eines Hauses zusammenzukratzen. Just der Verstand und die goldenen Hände dieser Handwerker aber waren es, denen wir die unschätzbaren Gebäude verdanken, die Gjirokastra sogar zur MuseumsStadt werden ließen.147 Unsere Aufgabe ist es, diese Stadt für die künftigen Generationen zu bewahren. Unsere Baumeister und Architekten verfügen über eine kostbare materielle Basis, anhand derer sie wertvolle Folgerungen ziehen können, wie man auch die Gebäude der sozialistischen Periode gemäß dem landestypischen Stil und Aussehen gestalten könnte. Gemeint ist nicht, dass die alten, einstigen Häuser von Gjirokastra, Berat oder anderen Städten einfach kopiert werden. Vielmehr geht es darum, dass unsere Architekten, wenn sie diese Städte besuchen, achtsam sind gegenüber jeder noch so kleinen charakteristischen Nuance der alten Häuser, die zum nationalen Schatz der Gebäude148 gehören. Diese Häuser wurden von unseren Baumeistern der früheren – teilweise noch nicht lange zurückliegenden – Zeit erbaut. Die heutigen Architekten sollen überlegen 1 46 Bimbash: Offizier im Grad eines Majors in der osmanischen Armee; siehe auch S.  160 f. 147 Fußnote im albanischen Original: Auf besonderen Beschluss des Ministerrats wurde Gjirokastra 1961 zur Museumsstadt erklärt und unter staatlichen Schutz gestellt. 148 Es ist nicht klar, ob «thesar kombëtar i ndërtimeve» eine Metapher ist oder Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie geschützter Baudenkmäler nimmt.

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und wissen, wie sie deren schöne Charakteristika auf kreative Weise so entwickeln und aufnehmen können, dass sie zu den neuen, gegenwärtig gebauten Wohnungen und Häusern der sozialistischen Periode passen. Es sind nicht nur die Baumaterialien, die den eigenen, nationalen Charakter und die Schönheit der Häuser in den Stadtteilen Mangalem in Berat, Manalat, Palorto oder Hazmurat in Gjirokastra ausmachen. Ich glaube, in beiden Museumsstädten tragen dazu auch die Art des Entwurfs und der Planung der Häuser bei, sowie das kreative Vorstellungsvermögen der Planer und Erbauer bei der Gestaltung der äußeren und inneren Teile der Gebäude, das darauf abzielt, dem Gesamten den angemessenen Geist einzuhauchen und es mit einer Anmut zu versehen, die alles, ob innen oder außen, verschönert. Wenn jemand Kultivierter, der über gewisse Kenntnisse der mittelalterlichen Geschichte unseres und anderer Völker verfügt, den Komplex der Angoni-Häuser149 betrachtet, sieht er das Beispiel eines Ensembles, das in sich Merkmale vereint, wie sie für die Zeit der mittelalterlichen Feudalherren bei den zivilisierten Völker charakteristisch waren. Wohlverstanden: Die Angonis waren keine Feudalherren, aber sie waren ein großes [S. 51] Geschlecht. Der Geschmack und die Meisterhaftigkeit der Baumeister (in erster Linie gebühren die Loorbeeren ja den Handwerkern, den Zimmerleuten, Maurern und Schreinern) wie auch der Bauherren waren so vollendet, dass sich einem ein wahrhaft faszinierender Anblick eröffnet, wenn man diesen Komplex von der Qafa e Pazarit her betrachtet. Damals, zur Zeit meiner Jugend, gab es einige alte Gebäude diesseits des Flusses, so etwa Schlachthäuser, Ställe und Baracken. Sie standen dort bis vor wenigen Jahren und beeinträchtigten den harmonischen Anblick der Angoni-Häuser. Ich erteilte den Auftrag, sie abzureißen, was inzwischen geschehen ist. Desgleichen regte ich an, das Ensemble der Angoni-Häuser auf geschmackvolle Weise zu verputzen, was nun ebenfalls geschehen ist. Bei jedem Aufenthalt in Gjirokastra empfinde ich nun ein besonderes Wohlgefallen beim Anblick ihrer Schönheit. [S. 52] Rings um dieses Ensemble steht eine Ansammlung weiterer Häuser, die aussehen, als wären sie an- und übereinander aufgehängt. Sie bilden zusammen den Komplex der Dalipi-Häuser.150 Aus dieser Familie stammt Sami Dalipi, eine in ganz Gjirokastra verehrte und beliebte Persönlichkeit. Er war ein Lehrer der ersten Stunde, ein Patriot, ein fortschrittlich gesinnter Mensch, ein Gegner von Ahmet Zogu und ein Freund der Armen. Er war bekannt für seinen Frohsinn und hatte stets ein Lächeln im 149 Angoni-Häuser (shtëpitë e Angonatëve): Das größte der traditionellen Gebäude in Gjirokastra; 1881 von den Brüdern Hanko erbaut; siehe auch S. 271. Die Saga der Familie Hanko/Angoni hat Ismail Kadare 1977 im Kurzroman «Breznitë e Hankonatëve» (deutsch: «Das Geschlecht der Hankonen im Gang der Zeit») verewigt. 150 Die Mehrzahl «Häuser» muss sich hier und anderswo nicht zwingend auf mehrere getrennte Gebäude beziehen, sondern kann auch ein großes Gebäude (evtl. mit Vorgebäuden, Odajashtë, siehe unten S. 271, 282) meinen, in dem zwei oder mehrere Familien desselben Clans wohnten.

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Gesicht. Brannte es irgendwo, so war er unter den Ersten zuoberst auf dem Dach, war er doch der Koordinator der Feuerwehr. Sami liebte die Natur und war ein begeisterter Jäger. Wenn er am Sonntagabend von der Jagd zurückkehrte, hatte er Rebhühner oder Hasen in den Händen oder um die Hüften gehängt und sagte den Agas, die in den Cafés auf dem Marktplatz sassen: «Viel Spass mit eurem Geld! Ins Grab könnt ihr es nicht mitnehmen, Sami Dalipi aber» – er redete von sich selbst – «genießt sein Leben, spaziert in der reinen Luft der Berge und Felder, inmitten von Blumen und Vogelgezwitscher. Sami Dalipi lebt wie im Paradies, während ihr euer Hundeleben mit dem finanziert, was ihr den Armen abknöpft.» Nach den Häusern der Dalipis kommen jene des alten Arshi Ruca, eines vermögenden Mannes mit weißem Haarschopf und hängendem Schnurrbart, der seine kraus behaarte Brust sommers wie winters unbedeckt ließ. Über seinen schwarzen Pluderhosen trug er eine alte Pistole an einem silbernen Gehänge. Es folgen in dieser Gebäudegruppe das Haus von Çelo Kalo, die großen, schlossähnlichen Häuser der Karagjozis und ein Haus der Familie Hoxha. Sie alle schmiegen sich an den Hügel und bilden eine Einheit nicht nur in architektonischer Hinsicht, sondern auch mit Blick auf die Verteidigung. Alle diese Häuser sind charakteristisch und schön anzusehen; jedes Detail ist sinnig genutzt. Blickt man auf die Häuser der Angonis, sieht man diesseits des Flusses auch jene der Xhenetis, d. h. von Xha Kasem,151 einem guten Freund meines Vaters. Auch sie sind stattlich, sie stehen auf einem Fels über dem Fluss. Bei aller Herbheit des dortigen Umfelds haben ihre Besitzer doch Platz gefunden, einige Bäume und Klematis zu pflanzen, die die Häuser umgeben. In jedem Stadtteil, in jedem Viertel finden unsere Architekten somit etwas Sehenswertes, etwas, zu dem [S. 53] es sich lohnt, Aufzeichnungen zu machen. Bloß dürfen diese Aufzeichnungen nicht in ihren Heften schlummern, vielmehr sollen sie reflektiert und umgesetzt werden. Ähnlich wie alle anderen Bereiche unserer Kunst – Volksmusik, Malerei, Bildhauerei etc.  – sich entwickeln und voranschreiten, wird sich so auch unsere wunderbare Volksarchitektur entwickeln und neue Werke hervorbringen. Unsere Aufgabe ist es, gestützt auf dieses Erbe ansprechende Gebäude zu schaffen, und alle zusammen müssen wir dieses Erbe bewahren. Es gibt Leute, die die Bedeutung dieses Problems nicht erfassen. Jemand hat mir berichtet, dass geplant sei, im Areal der Burg von Ali Pasha in Tepelena – dort, wo dieser einst auch Byron empfangen hatte152 – ein Haus der Pioniere153 zu bauen. Was sind das für Albernheiten! Muss ausgerechnet in der Burg von Ali Pasha Tepelena ein Haus 1 51 Kasem Xheneti: Siehe S. 271. 152 Ali Pasha Tepelena (siehe S. 88) empfing in seiner Burg in Tepelena im Jahre 1809 Lord Byron, der darüber in seinen Briefen berichtet und die Burg im zweiten Canto seines Versepos’ «Childe Harold’s Pilgrimage» beschrieb. 153 Albanisch shtëpia e pionierit, Haus des Pioniers. Die «pionierë e Enverit» waren die Jugendorganisation der Partei der Arbeit Albaniens, die für Lager und Freizeitaktivitäten über eigene Häuser verfügte.

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der Pioniere gebaut werden?! Gibt es dort tatsächlich keinen anderen Platz, der sich hierfür eignen würde?! Natürlich hat es Platz, sogar beliebig viel! Tepelena war zur Zeit meiner Jugend ein Dorf, mittlerweile ist es eine der hübschesten Städte geworden. [S. 54] Weshalb also sollte das Haus der Pioniere gerade innerhalb der Burg von Ali Pasha Tepelena errichtet werden? Ohne jeden Zweifel gehört dieses Haus der Pioniere nicht dorthin, weil es ja ein modernes Gebäude sein soll. So etwas ist nicht tolerierbar. Statt dass die Genossen von Tepelena eine Aktion zur Säuberung der Burg von Ali Pasha starten, alle die Schuppen entfernen, die dort zu unserer Zeit aufgestellt wurden, und die Mauern des Palasts von Ali Pasha wieder so zur Geltung bringen, dass dieser ein nationales Monument bleibt, gehen sie hin und machen derartige Dummheiten. Es versteht sich: Ich habe hier zwar über Gjirokastra gesprochen, will aber betonen, dass nicht nur die alten Häuser von Gjirokastra, Berat oder Shkodra wunderschön und künstlerisch wertvoll sind. Schöne Bauwerke haben wir in jeder Stadt, in jedem Dorf unseres Landes. Ich betone: Auch in den Dörfern und im Bergland. Deshalb dürfen wir auch die wunderbaren Gebäude in unseren Dörfern mit ihren charakteristischen Häusern nicht vernachläßigen.154 Wir werden keine derartigen Häuser mehr bauen, aber es ist unsere Pflicht, denen, die zu unserem kulturellen Erbe gehören, Sorge zu tragen und sie zu bewahren. Sie sollen auch für die künftigen Generationen lebendig bleiben, die in neuen, moderneren und viel komfortableren Häusern wohnen werden – in Häusern, die gemäß den Charaktermerkmalen unserer kunstvollen nationalen Architektur erbaut wurden. 24. September 1976

154 Zu Enver Hoxhas Engagement für den Schutz historischer Monumente s. auch S. 80, 93 f., 102 und Nexhmije Hoxha 2001, S. 92–96. Wahrscheinlich ist, dass die entsprechenden Passagen auch im Kontext des ideologisch verschärften Führungskurses ab 1972 zu sehen sind («Säuberungen», Kampf gegen Liberalismus und fremde Einflüsse, Rückbesinnung auf nationale Werte, siehe Einleitung, Kap. 4b. Zu erinnern ist auch daran, dass Enver Hoxhas Tochter Pranvera zur Zeit der Abfassung dieses Kapitels Architektur studierte, was das diesbezügliche Sensorium ihres Vaters möglicherweise schärfte. Eine besondere Vorliebe für die Architektur hatte offenbar auch Nexhmije Hoxha, vgl. Kalo S. 289 f.

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[S. 55] Durch

Häuser und Gassen

Ich habe über dich geschrieben, mein liebes Gjirokastra, und irgendwo155 habe ich auch geschrieben, dass das ein Text ohne Ende sein wird – und so fahre ich denn jetzt weiter. Manche sagen, es sei schwierig, ein Ereignis mit Worten wiederzugeben  – geschweige denn eine ganze Stadt, mit der mich so viele Erinnerungen verbinden. Erinnerungen sind für mich etwas von hoher Bedeutung. Sie tauchen in meinem Kopf auf, als hätte ich sie fotografiert und ordnen sich dort wie in einem schön gestalteten Album – so wie ich das Gjirokastra meiner Kindheit und Jugend vor Augen habe. Beginnen wir mit dem «Sokaku i të Marrëve», der Gasse der Verrückten!156 «Du, Großmutter», fragte ich einmal, «warum sagt man eigentlich ‹Gasse der Verrückten›?» Sie antwortete mir: [S. 56] «Woher soll ich das wissen, Junge! Ich habe keine Ahnung, woher diese Gasse ihren Namen hat. Vielleicht, weil sie voll von Steinen ist, so dass es, wenn jemand hinuntergeht, einen Krach macht, als ob Verrückte vorbeitrampelten?» Dies war die Auskunft meiner Großmutter. Und genau diese Gasse der Verrückten ist mir nun in so lieber Erinnerung geblieben und ruft mir meine Kinderjahre ins Gedächtnis zurück. Ich stelle mir vor, wie ich als kleiner Junge, mit meinen schwarzen Schuhen mit genagelten Sohlen und nach oben gebogenen Spitzen, die Gasse der Verrückten hinunterlief. Linkerhand stand das Haus der Skëndulis, hoch, riesig hoch, mit einer Hofmauer, die bis zur halben Höhe des Hauses reichte. Zuoberst am Haus sah man ein paar vorspringende Fenster mit Eisengittern, darüber kam das Vordach. Es wurde von Stützbalken getragen, einer neben dem anderen, aufgereiht wie Soldaten. Über dem Dach erhoben sich drei, vier Schornsteine, zierlich wie meine Mutter, fröhlich wie meine Mutter. Wenn die Stör-

155 Im Original: «in einer meiner Schriften». Als Referenzstelle kommt der letzte Abschnitt des 1976 vollendeten Kapitels «Mit den Augen der Erinnerung» in Frage, siehe S. 259. Damit würden sich allerdings Probleme hinsichtlich der Datierung des vorliegenden Kapitels ergeben. 156 Fußnote im albanischen Original: Heute «rrugica Pionieri» [Pioniersträßchen], zu Ehren der kleinen Steinhauer, die diese Straße im Schuljahr 1967–1968 mit Kopfsteinpflaster deckten. [Dieser Namenswechsel wurde nach dem Regimewechsel wieder rückgängig gemacht.] In Kadares «Chronik in Stein» übersetzt Joachim Röhm den Straßennamen mit «Narrengasse». Myftaraj (2008, S. 45 f.) erklärt den Namen der Gasse in kreativer Weise damit, dass «dort Behinderte geboren wurden, (behindert) aufgrund der inzestuösen Heiraten mit Vettern/Basen. … Auch Enver Hoxha war Träger eines inzestuösen Gens (…)». Dies erstaunt lt. Myftaraj allerdings nicht, da die unnatürliche Architektur von Gjirokastra in Kombination mit den Inzestschäden ohnehin einen liederlichen und desorientierten Menschenschlag («personalitete të çregulluar», a. a. O. S. 46) hervorgebracht habe.

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che, die «Storchenpilger»,157 kamen, bauten sie dort ihre Nester und klapperten mit ihren Schnäbeln. Ich erinnere mich an den Winter, wie ich schaudernd vor Kälte die Gasse hinunter zur Schule ging, vor mir die zerklüfteten Berge der Lunxhëria,158 die aussahen, als hätten sie weiße Mützen aufgesetzt. Die Klüfte waren Folgen der jahrhundertelangen Erosion durch das Wasser. Wenn ich den steilen Heimweg bewältigt hatte, war ich zu Hause angelangt. Auf der anderen Seite der Gasse lag der Garten von Asllan und Isuf Zeko. Sie waren Vettern meiner Großmutter mütterlicherseits, die aus der Familie Zeko159 stammte. Asllan Zeko kannte ich; als Junge ging ich jeweils mit meiner Mutter zu ihm. Sein Bruder Isuf Arapi war ein gestrenger Offizier Ali Pasha Tepelenas und der Osmanen gewesen.160 «Oh Isuf, Isuf Arapi, dein Schwert [ist] wie ein Henker», sagte ein Lied. Isuf wiederum hatte sich für seinen Bruder Asllan das folgende Spottlied ausgedacht: «Oh Asllan, Narbengesicht, zum Leutnant konnte ich dich nicht machen». Dass er ihn nicht zum Leutnant machen konnte, sagte er, weil Asllan einfacher Soldat geblieben war. Der eine, Isuf, war hart, der andere, Asllan, sanft wie ein Lamm. Ich ging zu Xha Asllan, aber auch zu Xha Isuf, weil mir dessen Garten sehr gefiel. Er schien mir wie ein «Märchengarten», gab es dort doch Feigen- und einige Pflaumenbäume, desgleichen Zürgelbäume, Rebenspaliere und [S. 57] alles mögliche andere! Die Frau von Xha Asllan, die Mutter von Myftar, legte jeweils zwei, drei Beete mit Zwiebeln, Petersilie, Sauerampfer und Kohl an, womit sie Byrek oder Pasteten zubereitete. Richtig schön wurde dieser Garten aber im Herbst, wenn die Blätter sich gelb und rot verfärbten. Dann schien er mir wie ein wahrhaftiges Wunderwerk, wie das Bild eines Malers. Wenn ich mit Baba Çen161 in der Oda e madhe162 unseres Hauses saß, ein Buch in der Hand, sah ich durch die Fenster die ganze Farbenpracht, die sich mir darbot. Unter meinem Fenster reckte ein Wildfeigenbaum seine Äste in die Höhe, der am Fuß der Mauer auf einem Fleckchen Erde gewachsen war und jeweils ein paar Früchte hervorbrachte. Ihr Anblick freute mich, die Feigen bewahrte ich sorgfältig auf und warnte 1 57 Storchenpilger: Siehe S. 80 f. 158 Die Lunxhëria ist ein langer Bergzug im Südosten von Gjirokastra und eine ethnographisch bedeutende südalbanische Region. 159 Zur Familie Zeko siehe S.  172 f. Enver Hoxhas Großmutter mütterlicherseits war Hasije Çuçi Açe, siehe Anm. 91 und S. 274. Die angegebene Herkunft aus dem Geschlecht der Zekos ist vermutlich mittelbar über verwandtschaftliche Bindungen der Familien Zeko und Çuçi zu erklären. 160 Unklare Stelle. Ali Pasha Tepelena war 1822 gestorben; der Vetter der Großmutter Hasije Çuçi Açe, die wohl in den späten 1850-er-Jahren geboren wurde, konnte also kaum unter ihm gedient haben. 161 Zu Hysen Hoxha (Baba Çen), dem Onkel Enver Hoxhas, siehe S. 90, 109. 162 Zur Oda e madhe, dem großen Empfangszimmer, siehe S. 82.

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meine Schwester Sano, sich daran zu vergreifen. Manchmal fand ich trotzdem welche, die zur Hälfte aufgegessen waren; Sano versicherte dann jeweils, ein Vogel habe sie angepickt. Es ist lange her, seit ich durch die Gasse der Verrückten gegangen bin, und doch ziehen mich meine Erinnerungen jedes Mal dorthin, wenn ich an Gjirokastra denke. Ich habe gehört, dass die Pioniere sie mittlerweile stufenförmig mit Kopfsteinpflaster gedeckt haben, meisterhaft und wunderschön. Die großen und kleinen Fenster, die auf die Gasse gehen, wie auch die weißen Mauern, verleihen ihr nun eine ganz besondere Anmut. Mitten durch die einfachen Häuser links und rechts mit ihren Mauern aus Steinen, die bewundernswert kunstvoll und ohne Mörtel aufeinandergeschichtet sind, schlängelt sich die Gasse und führt einen schließlich zur Straße von Kako Pino.163 Wie oft bin ich durch diese Straße gezogen, wenn ich hinunter- und dann zur Backstube und dem Zeman-Platz hinaufging, dann zur Backstube von Xha Daut,164 um schließlich gegenüber meiner Schule zu landen, dem alten Lyzeum am Ufer des Bachs, wo zum ersten Mal ein Lyzeum in Gjirokastra eröffnet wurde. Wenn ich den Bach überquert hatte, blieb ich jedes Mal fasziniert vor dem Haus der Ficos stehen,165 das in der Tat wunderbar war. Natürlich verstand ich als Kind nichts von Architektur, aber der Stil dieses Hauses beeindruckte mich. Es war hoch, dunkelgelb verputzt und hatte zwei Stockwerke und einen Dachauf bau. Die Bauart dieses Gebäudes war wirklich bemerkenswert. Wenn man das Haus durch die große Tür betrat (was ich oft tat), sah man im unteren Geschoss die «Pat» genannten Wohnräume166 und den Windfang mit der Treppe ins Obergeschoss. Weiter [S. 58] gab es in diesem geräumigen Stockwerk zwei symmetrische, vorspringende Eckräume mit je drei Fenstern und dazwischen einen weiteren, nach hinten versetzten Raum. Oberhalb dieses mittleren Raums, in der Mitte des Dachs, das die seitlichen Räume bedeckte, erhob sich der Dachauf bau mit großen Fenstern auf allen Seiten und einem Giebeldach, das wie alle Häuser in Gjirokastra mit Steinplatten gedeckt war. Auf beiden Seiten dieser ansprechenden Raumkomposition erstreckte sich das Haus in die Breite. Offensichtlich waren die Ficos eine große und, wie man sagt, gut betuchte Familie gewesen. Ich erinnere mich, dass vor den Fenstern stets weiße Vorhänge wie im Untergeschoss hingen, mit Ausnahme der Fenster des Dachauf baus und jener der vorspringenden Eckräume, die mit schmiedeeisernen Gittern ausgestattet waren. Im Garten gab es eine gedeckte Pergola. Die Fenster des Fico-Hauses waren groß und blickten flussabwärts auf die Viertel Varosh und Gjobek. Dieses Gebäude mit seinem 1 63 Kako Pino: Eine Frau aus einem der Dörfer um Gjirokastra, die berühmt war für den Brautschmuck, den sie für die jungen Frauen in Gjirokastra herstellte; vgl. auch S. 258. Mit der KakoPino-Straße ist vermutlich die heutige Fato-Berberi-Straße gemeint. 164 Zum Bäcker Daut siehe S.  262 ff. 165 Fico: Altes gjirokastritisches Geschlecht. Zum genannten Haus, einem eindrücklichen, gegen Ende des 18. Jahrhunderts errichteten Gebäude, finden sich im Internet zahlreiche Abbildungen. 166 Pat: Siehe S.  84 f.

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ganz besonderen, man könnte fast sagen: märchenhaften, Stil ist wirklich ein Paradebeispiel für die schönen Häuser von Gjirokastra. [S. 59] Vom großen Hoftor der Ficos führte ein gepflasterter Weg nach oben. Über diesen bin ich oft gegangen, da in einem der Häuser, die dort dicht an dicht standen, mein Freund Kiço Karajan wohnte, der Bruder von Minella Karajan. Anschließend kam das Haus eines gewissen Abaz Bej.167 Dem unglücklichen Abaz war nichts geblieben als sein Titel «Bej», im Übrigen besaß er nur Lumpen und ein altersschwaches Pferd, eine «Rosinante». Mit dieser ging er zum Fluss, lud ihr dort mit Wasser gefüllte Fässchen auf, brachte diese dann nach Hause und verkaufte sie für zwei Lekë pro Fässchen. In dieser Häusergruppe stand auch das Haus von Vesaf Fico. Auch dorthin ging ich, weil Vesaf ein Freund meines Vaters war und eine Tochter aus der Familie Zeko geheiratet hatte. In Erinnerung geblieben sind mir auch die «Akrobatenstücke» meiner Kindheit. Ich weiß noch, dass ich in die Hofmauer von Vesaf Fico ein paar Löcher gemacht habe, so dass ich über die Mauer klettern und dann weiter hinaufgehen konnte, bis ich zu den Häusern der Zekos, zum Haus von Asllan Zeko und dann direkt auf den Schulhof gelangte. Ich werde nicht über ganz Palorto sprechen, das Viertel, in dem ich meine Kinderjahre verbracht habe,168 aber ich möchte noch einige Worte über die Treppe des Hauses von Kamber Xhepi sagen, dessen Frau sich im Brunnen ertränkt hatte. Diese Treppe war sehr speziell und derart hoch, dass ich noch heute den Eindruck habe, man hätte von ihr leicht herunterstürzen und sich ein Bein brechen können. Auf der rechten Seite war sie an die Hausmauer gebaut, links aber fehlte jegliches Geländer. Xha Kamber war offenbar sehr arm und hatte keine Mittel, um diese Treppe fertigzustellen; aus diesem Grund schickte er auch seinen jüngeren Sohn nach Amerika, damit er dort Arbeit fände. Die Treppe war aus weißen Steinplatten gebaut. Auf einer Seite war sie, wie schon gesagt, an die Mauer gebaut. Die Mauer selbst umfasste einen Teil, der mit Kalk verputzt war – dieses Stück führte zur Haustür – und einen unverputzten Teil. Der unverputzte Teil war hübsch: Die Steine waren kunstvoll in Reihen aufeinandergeschichtet, und in der Mitte der Mauer hatte es offenbar einmal auch eine Tür gegeben, vielleicht dort, wo der Stall gewesen war. Diese Tür war aber nicht mehr zugänglich. Ich weiß noch, dass sich über der ehemaligen Tür ein Steinbogen befand, bei dem die Steine nicht parallel lagen, sondern senkrecht standen. Am Ende der Treppe, im Hof, wuchs [S. 60] ein Baum, dessen Zweige in die Pergola hineinwuchsen, von der uns Xha Kambers Frau manchmal Trauben schenkte. Dieser Baum sah aus wie eine Birke, denn im Herbst, nachdem die Blätter verwelkt und zu Boden gefallen waren,

1 67 Zu Abaz Bej siehe auch S. 77. 168 Gemeint sind wohl nur die Jahre bis zum Brand des Hauses in Palorto (zwischen 1913 und 1916), anschließend lebte die Familie in Cfaka und Hazmurat, vgl. S. 111, 254 f., 274.

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war sein Stamm weiß wie der einer Birke. Ich glaube aber nicht, dass es wirklich eine solche war, denn Birken findet man kaum in Gjirokastra. Irgendwo in meinen Aufzeichnungen habe ich einmal geschrieben, dass wir in meiner Kindheit zum Shamanja-Bach gingen, um wilde Spargeln zu sammeln.169 Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie ich mit meinen Kollegen die von Steinen übersäte Straße dorthin hinauf- und hinunterlief. Links und rechts war sie von zweistöckigen Häusern gesäumt, deren unteres Geschoss jeweils im Winter genutzt wurde, das obere im Sommer. Das untere Geschoss war natürlich überall von Mauern umgeben, um den Hof vor neugierigen Blicken zu schützen, während das obere mit seinen großen Fenstern, den meist verputzen und gekalkten Mauern und dem plattengedeckten Dach im hellen Lichte lag. Auch hier klebten die Häuser buchstäblich aneinander, standen Schulter an Schulter, um dem Sturmwind zu widerstehen, der vom Bach her blies. Auch an diesem Ort voller Steine und Felsen keimte und gedieh der eine oder andere Obst-, Zürgel- oder Judasbaum oder eine Rebe, die im Frühling blühte, im Sommer vor Hitze kochte und im Herbst ihre Blätter gelb und rot verfärbte, was ihr und allem rundumher eine seltene Schönheit verlieh. Hinter dem letzten Haus dann wurde dasjenige sichtbar, was das Schönste und Großartigste war: der Shamanjaoder Çullo-Bach, sehr geheimnisvoll für uns Kinder und Jugendliche. Dorthin gingen wir an Ferientagen jeweils am Morgen, wenn die Sonne uns entgegenschien und die eine Seite des Bachs in glänzendes Licht tauchte, während die andere Seite noch im Dunkel lag. Wir glaubten Abgründe mit bedrohlichen Schatten zu sehen, als ob sich in jenem Dunkel wilde Tiere und Nachtgeister versteckten. Wenn wir riefen, hörte man ein Echo. Manche sagten dann, dass uns die «Geister der Nacht» geantwortet hätten, während andere dazwischenfuhren und spotteten: «Komm schon, was denn für Geister! Hat uns der Lehrer in der Schule nicht gesagt, dass das Märchen sind, die sich die Hodschas ausgedacht haben?» Der Bach schlängelte sich tief durch das Gelände; er führte wenig Wasser und war meistens gänzlich trocken – wenn er aber Wasser führte, war er reißend. Davon zeugten auch die großen Geröllblöcke, die man auf dem Weg [S. 61] zur Kirche170 sah und die im Sonnenlicht weiß schimmerten, sowie die angeschwemmten Felsbrocken und Steine, die der Shamanja-Bach mitgerissen hatte. Diese Brocken fügten sich harmonisch in die Umgebung ein; sie passten zu all den felsigen Erhöhungen rings umher, nackt und von keiner Pflanze bewachsen, abgesehen vielleicht von etwas Gras. Jenseits, am Horizont, waren die imposanten Berge der Mashkullora zu sehen, wo Çerçiz171 gekämpft hatte. Ich komme nun zu einem anderen Stadtteil. Über das Haus des Chauffeurs Çome habe ich, wenn ich mich nicht irre, noch nichts gesagt. Es war ein sehr ansprechendes 1 69 Siehe S. 159, 209, 240. 170 Fußnote im albanischen Original: Kisha e Varoshit (Kirche des Stadtteils Varosh), erbaut 1776 und wiederaufgebaut 1833 nach einem Brand. 171 Çerçiz Topulli: Siehe S. 63.

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Haus. Die Mutter von Çome war eine arbeitsame Frau. Ihr Haus war aus Stein gebaut. Zuerst sah man eine Mauer von drei bis vier Metern vor sich, darüber oder über dem Tor erblickte man dann die schöne, schräg vorkargende Oda e [S. 62] madhe mit ihrem Fachwerk auf der Vorderseite. Sie war allseits von Mauern eingefasst und hatte drei große Fenster, die wie üblich mit ganzen Reihen von Blumentöpfen vollgestellt waren, meistenteils mit roten Malven. Das Dach  – ein gjirokastritisches Dach!  – war mit Steinplatten gedeckt. Links und rechts des Hoftors gab es steinerne Sitzbänkchen; gegenüber dem Tor waren weitere Zimmer, die an die Mauer der Oda e madhe stießen, auf deren linker Seite sie errichtet waren. Dieser Teil des Hauses, der von einem steilen Dach bedeckt war, hatte zwei große und ein kleines Fenster. Der Anblick des Ganzen hatte etwas sehr Kunstvolles und erfreute das Auge. [S. 63] Mir gefielen diese Häuser, ich mochte sie sehr. Vielleicht war meine kleine Seele etwas romantisch gestimmt, und es war wohl auch meine Liebe zu den Kameraden, zu den Menschen, welche mir die Häuser noch schöner scheinen ließ, als sie waren. Aber meine Gefühle und mein Geschmack täuschten mich nicht. Auch als ich erwachsen wurde und auch jetzt noch lacht mein Herz, wenn ich nach Gjirokastra komme oder diese Häuser in einer Zeitschrift, einem Film oder im Fernsehen abgebildet sehe, und ich bin stolz auf die talentierten Arbeiter und Baumeister, die diese wunderbaren Werke vollendet haben, die man in jedem Viertel von Gjirokastra findet. Und die Lulo-Gasse in Hazmurat? Die sieht mittlerweile wohl wunderschön aus, denn ganz sicher wurde sie mit Kopfsteinpflaster belegt. Diese Gasse führte zum Haus von Thoma Papapano, meinem verehrten Lehrer.172 Wenn man vom Haus des Abaz Çuçi173 hinunterging, erhoben sich auf beiden Seiten der Gasse Häuser, rechts dasjenige der Lulos und links jene der Çenos. Letztere wirkten wie Festungen, sie dominierten die Häuser auf der rechten Seite. Die Häuser zur Rechten waren allerdings hübsch verziert, verputzt und zeitgemäßer als jene auf der Seite der Çenos, die wie Geier über unseren Köpfen hockten. In dieser Gegend sah man auch hier und da ein Haus mit einem Streifen gebrannter Tonziegel, was einen neuen Akzent in das Meer von Dächern von weißen oder dunklen Steinplatten setzte. Bevor man die Lulo-Gasse hinunterging, sah man die Häuser der Kadares174 aufragen. Ich habe den Genossen empfohlen, die Kadare-Häuser und ein paar andere in der Gegend zur Poliklinik zu machen, ohne irgendetwas an ihrem Stil zu verändern. Das ist offenbar aufs Präch 172 Thoma Papapano (1884–1970): Enver Hoxhas ehemaliger Albanisch-Lehrer, S. 117, 130, 135, 296; vgl. Hamit Kokalari, Kujtime 1, 2008, S. 28 und die Monografie von Andon Lula: «Rilindësi gjirokastriti Thoma Papapano», 2017. 173 Abaz Çuçi: Siehe S.  276 f. 174 Das Kadare-Haus, erbaut 1799, wiederaufgebaut nach einem Brand 1999, ist seit 2018 ein Museum. Vgl. zu diesem Haus Ismail Kadares «Chronik in Stein» passim und seinen Kurzroman «die Puppe» (deutsch in: «Geboren aus Stein», z. B. S. 178 ff., 194 ff., 213 ff.). Dass Enver Hoxha von Kadare-Häusern spricht, mag mit der Größe des (Mehrgenerationen-)Hauses oder mit weiteren Gebäuden der Familie Kadare zusammenhängen.

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tigste gelungen. Diese Häuser liegen oben an der Straße. Wenn man zum Çerçiz-Platz oberhalb der Landstraße heruntergeht, hat man diesen Komplex in seiner ganzen Schönheit vor Augen; er verleiht der Stadt Gjirokastra Anmut und Würde. Oft bin ich von der Lulo-Gasse zur Straße hinübergegangen, die sich zu den Häusern der Sollakus, Pleshtis, Galanxhis und Hashorvas schlängelte, von wo ich dann ins Lyzeum im Stadtteil Varosh hinaufstieg. Noch jetzt fühle ich die angenehme Kühle der Stellen, die die Sonne nicht erreichte und die im Schatten der hohen Mauern lagen. Diese Mauern waren wie Zinnen einer Burg, mit Öffnungen, mit Fenstern, die da und dort vorsprangen und teilweise vergittert waren. In der Nähe war eine gekalkte Hausecke zu sehen, [S. 64] die von weit her weiß leuchtete, mit hübschen gjirokastritischen Fenstern, die wie Tauben in einer Reihe nebeneinander standen, und einem hohen Schornstein auf dem Dach, aus dem im Winter Rauchwolken zum Himmel stiegen. Ein gut funktionierender Kamin war die Freude der Frauen im Haus; zog er den Rauch aber nicht gut ab, wurde er zum Opfer der schrecklichsten Verwünschungen. Bei den ehemaligen alten Tekken175 am Ausgang von Hazmurat, die heute sicher nicht mehr existieren oder zu Wohnhäusern umfunktioniert sind, wurde offenbar eine lange Straße gebaut, die durch Hazmurat bis zum Markt führt und schön gepflastert ist. Ich bin dort nicht mehr durchgekommen, aber fraglos wäre es wunderbar, wenn die Leute von Gjirokastra etwas aus dieser offenen Fläche zwischen dem Hügel der ehemaligen Tekken und dem Brachland oben gemacht hätten – wenn sie dort Terrassen oder Gärten angelegt oder das Gelände begrünt und darauf hübsche Häuser und Fabriken gebaut hätten. Was die historischen Gebäude betrifft, so bin ich sicher, dass sie renoviert, repariert und neu verputzt wurden. Ohne Zweifel wirken sie wie weiße Tauben, eins neben dem anderen, mit kleinen, von Mauern umgebenen Gärten, mit Hoftoren, vor denen Steinbänke stehen, [S. 65] mit Fenstern, die der Sonne, der Lunxhëria und der Stadt Libohova zugewandt sind. Wie gerne möchte ich diese Orte noch einmal sehen! Ich weiß noch, wie wir als Kinder auf den Hügeln der Tekken im Schatten lagen und von dort her die Stadt und die majestätische Burg mit ihren starken Zinnen bestaunten. Dabei ergingen wir uns in allerlei Schwärmereien: «Dort haben die Albaner mit der Prinzessin Argjiro176 gegen die fremden Besatzer gekämpft, dort haben die Zenebishis gekämpft,177 dort sind die türkischen Horden durchgezogen, dort wurde unser Volk umzingelt und hat sich doch nicht ergeben: in dieser Burg, die die Stadt wie ein Kreuzer beherrscht, der in den Wellen von zwölf Jahrhunderten unbezwungen blieb.»

1 75 Tekke (alban. teqe): Heiligtum des liberalen alevitischen Bektashi-Ordens. 176 Argjiro: Der Legende nach eine byzantinische Prinzessin und Namensgeberin der Stadt Gjirokastra (griechisch: Argyrokastro, Silberburg), vgl. S. 208. 177 Fußnote im albanischen Original: Gjin Zenebishi und sein Sohn Depe, Herrscher mit Sitz in Gjirokastra, kämpften im 15. Jahrhundert als Anführer des Volks gegen die fremden Besatzer.

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Wenn ich vom Hügel der Tekke von Baba Hasan178 spreche, fällt mir auch gleich die Tekke von Baba Mane,179 wie wir sie nannten, ein. Mit ihren Kammern und ihren Heiligengräbern lag sie gegenüber, inmitten von Zypressen. Dorthin machten wir, als wir klein waren, an den freien Tagen Schulausflüge. Wenn wir in dieser Tekke durch die Fenster in die düsteren Türben180 der Derwische schauten, fürchteten wir Kleinen uns, aber die Lehrer versicherten uns, dass dazu kein Grund bestehe und dass die Derwische Trottel seien. Ich denke, dass diese Gebäude nicht abgerissen wurden und dass auch die Zypressen noch stehen. So soll das Ganze als eine Art Andenken an die Vergangenheit  – nicht: an den verhassten Glauben  – bewahrt werden. Fraglos wurden auch dort andere Bäume gepflanzt. Ich habe mit den Genossen von Gjirokastra besprochen, dass auf allen diesen Hügeln neue Häuser für die Werktätigen, für die Arbeiterklasse, gebaut werden sollen, dass man aber darauf achten soll, dass das Äußere dieser Häuser einigermaßen die Form und den Stil der Häuser von Gjirokastra bewahren soll. Die Harmonie der Gebäude auf diesen «Fingern» des Stadtgebietes (wenn wir uns die Stadt als Hand vorstellen) darf nicht zerstört werden. Da wir im Sozialismus leben, soll aber natürlich mehr Platz zwischen den Häusern gelassen werden, soll es gemeinsame Gärten, Blumenbeete und Bäume geben, damit auch die Hitze nicht mehr so drückt und der Wind vom Çullo-Bach, von der Lunxhëria und der Zagoria freier blasen kann.181 Darüber werden sich die Bewohner dieses Viertels wie auch jene von ganz Gjirokastra freuen, [S. 66] das ja den ganzen Tag dem Sonnenlicht ausgesetzt ist. Dies trägt zur Schönheit der Stadt bei, denn die Sonne spendet Leben und Vitalität, auch wenn einen ihre Hitze im Sommer versengt. Ach, und ich erinnere mich auch an den Shesh i Bajraktarit, den Fahnenträgerplatz, im Stadtteil Meçite in der Nähe von Hazmurat, wo ich mit Elmaz, mit Sado, mit dem Sohn von Xhano vom Bach182 und vielen anderen Kameraden spielte. Es war ein kleiner Platz, aber uns kam er groß vor. Oberhalb dieses Platzes erhoben sich Mauern mit richtiggehenden Terrassen, dies waren die Terrassen des Hauses von Xha Idriz Konjari, dem Vater meines Kameraden Elmaz, der Häuser der Totos, der Çanos und anderen Familien. Hübsch war das Haus von Elmaz. Wenn man es vom Platz her betrachtete, bezauberte es einen mit seiner Reihe von 6–7 großen Fenstern. Dort habe ich mich zusammen mit Elmaz verweilt, habe gegessen und geschlafen. Die großen Fenster ragen wie Erker über die Hausmauer hinaus, was bei Sonnenschein Schatten wirft und die weiße Farbe der Fassade und der Mauer unterhalb unterstreicht. Rechts 1 78 Zur Tekke und Türbe von Baba Hasan siehe S. 136, 211. 179 Zur Tekke von Baba Mane siehe S.  162 f., 209. Die Szene, wie sich die Kleinen an den Fenstern der Türben fürchten, ist S. 163 beschrieben. 180 Türbe: Muslimisches Grabmal oder Mausoleum. 181 Vgl. zu Enver Hoxhas Engagement für historische Gebäude und für Sensibilität in architek­to­ nischen und urbanistischen Fragen auch S.  80, 93 f. 182 Zu Elmaz (gemeint ist wohl Elmaz Konjari), siehe S. 143, 180, 278, zu Sado (gemeint ist wohl Enver Hoxhas Cousin Sado Gami) S. 186, 226, zu Xhano vom Bach (Xhano e Përroit) S. 103, 171.

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der Hauptfassade zog sich das Haus mit zwei, drei weiteren Fenstern hin; vom anschließenden kleinen Hof mit seinem Steinplattenbelag und [S. 67] seinem Brunnen gelangte man dann in den tiefergelegenen Garten von Elmaz. Er war terrassiert, auf jeder Ebene waren viele Rosen gepflanzt, die betörend dufteten. Daneben gab es Flieder, Lilien, grün sprießende Bäume, die Schatten spendeten und Elmaz und mich mit ihrer Kühle erfreuten, wenn wir in der Gluthitze des Sommers dort lagen und unsere Schulaufgaben erledigten. Neben diesem Haus stand dasjenige der Karagjozis, es war ebenso schön wie das von Elmaz, sah aber anders aus: Die Fenster des oberen Geschosses bildeten keine zusammenhängende Reihe, sondern standen getrennt und gingen um die Ecke; einige nach vorne, andere, leicht zurückgesetzt, auf die beiden Seiten. Aber es waren ebenfalls große Fenster, und die Winterzimmer waren gleich wie überall. Und dann das Haus meiner Tante, der Schwester meiner Mutter! Es lag oberhalb des Bachs und war mir sehr lieb. Immer wieder erinnere ich mich an die Tante und ihren Vater Xha Nexhip, der uns liebte und den auch wir liebten. Im Sommer aßen wir dort im Windfang, wo es angenehm kühl war. Die Tante bereitete uns einen Skordhan183 aus Nüssen, zerstampften Brotbröseln und Knoblauch, all dies vermischte sie mit Wasser und gab etwas Essig dazu. Dies war dann der Skordhan, die Speise der Armen. Ihr Haus war klein, aber gemütlich. Es umfasste ein Gastzimmer, eine Diele und ein Winterzimmer. Die Fassade, schön anzusehen wie jene der anderen Häuser, war gemauert; die Fenster der Oda e madhe, der Diele und jene, die auf die Treppe gingen, waren groß. Die Haustür, ebenfalls ziemlich groß, war in der Mitte, ihr vorgelagert war ein mit Blechplatten gedeckter Schuppen. Wenn der Regen auf das Blechdach prasselte, klang es, als würde dort die Trommel geschlagen. Oberhalb des Hauses der Tante lag jenes von Qamadhi. Es hatte hohe Mauern und zwei große Fenster im oberen Geschoss. Sein Dach war durch ellbogenartig abgewinkelte Balken gestützt, die wie Soldaten aufgereiht waren. Von der Oda e madhe dieses Hauses her sah man links – dort wo das Haus meiner Tante lag – auf den Bach und auf das Haus von Xhano vom Bach. Die Hausherrin war eine liebenswürdige Frau. Ihre Tochter war unsere Spielkameradin; später heiratete sie und wanderte mit ihrem Mann nach Amerika aus. Über das Haus von Xhano vom Bach184 habe ich nirgends gesprochen und werde mich auch nicht lange dabei aufhalten. Ich will nur sagen, dass dieses ärmliche, aber reinliche Haus mittelgroße Fenster und einen Brunnen mit frischem Wasser hatte. Es war überwachsen von wilden [S. 68] Pflaumen- und Judasbäumen, von Kräutern und

183 Skordhan: Synonym zu Tarator, ein kaltes Gericht aus Joghurt, Knoblauch, Gurken, Olivenöl und Salz (vgl. Tsatsiki); wird auch als kalte Gurkensuppe oder als Dip bezeichnet. Die oben beschriebene Zubereitung stellt offenbar eine kostengünstige Variante dar. 184 Zu Xhano vom Bach (Xhano e përroit; Xhano ist eine Kurzform von Xhanfize oder Xhanfise) siehe auch S. 102 und 171.

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Dorngestrüpp. Die Schönheit der wilden Bäume trat vor allem im Herbst zutage. Ich weiß nicht, warum, aber für die rote Farbe hatte ich seit jeher eine Schwäche. Ich lasse den Blick meiner Erinnerung nun über Manalat hinaus zum Mal i Gjerë schweifen, zum Haus meines alten Professors Elmaz Çani.185 In seinem Haus wohnte auch ein französischer Professor namens Frédéric Marchand,186 er unterrichtete uns in Französisch und war zugleich ein talentierter Maler und Portraitist. Dieses Haus lag zwar weit entfernt vom Lyzeum, Marchand hatte es aber wegen der außerordentlichen Schönheit des Panoramas als Wohnsitz gewählt, das sich vor ihm ausbreitete. Ganz Gjirokastra und den Mal i Gjerë sah man von dorther. Und abgesehen davon, dass er Künstler war, gefielen Marchand auch die Gässchen und Weglein, die zum Haus von Elmaz Çani führten. Die engen Gässchen dort sind auch mir noch in Erinnerung, sie waren voller Steine, die von den Dächern und Mauern gefallen waren. Links und rechts erhoben sich Mauern aus Steinen, die symmetrisch einer auf den anderen geschichtet waren. Dicht dahinter standen die kleinen Häuser mit ihren steinplattengedeckten Dächern und mit Fenstern, die kleiner waren als jene unten in der Stadt, denn der Wind blies hier oben von allen Seiten her. Dennoch gab es dort auch verschiedene Bäume, darunter sogar Obstbäume. Durch eine enge Gasse gelangte man zum Haus von Elmaz Çani. Zu ihm gehörte ein großes Hoftor mit zwei hölzernen Flügeln, von denen jeder seinen kleinen Türklopfer hatte. Mit diesen musste man sich bemerkbar machen, damit einen die Besitzer überhaupt wahrnahmen, denn die Familie hielt sich weit hinten auf. Bevor man zum Haus gelangte, musste man einen hübschen Garten mit Bäumen durchqueren. Das Hoftor war zurückversetzt, so dass es vor Regen geschützt war. Neben ihm standen zwei Steinbänke und vorne, bei seinen Ecken, gab es je einen behauenen Stein. Was darauf gemeißelt war, weiß ich nicht mehr. Von besonderer Schönheit war, wie bei allen Portalen von Gjirokastra, der Torbogen. Mit seinen großen, weißen Steinen hob er sich von den übrigen Steinen der Hofmauer ab. Auf der Höhe der beiden Türklopfer fand sich eine Reihe parallel angeordneter rosafarbener Steine, die den darüberliegenden Torbogen dekorativ in Szene setzten. [S. 69] Wenn man das Tor öffnete, kam man in den Garten von Elmaz Çani. Dabei handelte es sich um ein weites Stück Land, das nichts mit den Felsen und dem Mal i Gjerë gemeinsam hatte. Die Familie von Elmaz Çani trug ihm ganz besondere Sorge, weil schon ihre Vorfahren dort gearbeitet hatten. In diesem Garten sprangen einem vor allem das viele Grün und die Bäume ins Auge. Diese leuchteten im Frühling und Sommer in saftiger Frische, im Herbst dann welkten ihre Blätter und verfärbten sich rot.

1 85 Elmaz Çani: Siehe S. 139. 186 Frédéric Marchand: Siehe S.  139 f., 147 f.

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Hinten in diesem Garten war ein zweistöckiges Haus mit Erd- und Obergeschoss zu sehen. Wenn ich mich nicht täusche, war das ganze Obergeschoss wie eine lange Veranda gestaltet, wie eine offene Diele mit hölzernen Geländern, hinter der sich die Zimmer mit ihren mäßig großen Fenstern befanden. Die Hälfte der Veranda war überdacht, so dass kein Regen eindringen konnte. Es waren aber auch Vorkehrungen getroffen worden, dass selbst bei starken Regenfällen kein Wasser in die Zimmer gelangen konnte. Die ganze Terrasse hatte die Familie von Elmaz mit Blumentöpfen vollgestellt, in denen Erdbeeren, Majoran, rote Malven und viele andere Pflanzen gediehen, deren Samen die französischen Professoren mitgebracht hatten. In der ganzen Länge dieses Hauses wuchsen verschiedene Bäume  – keine Obstbäume –, die für Schatten sorgten. Etwas weiter, wohl auf einem Hügelchen, stand ein anderes Haus, das zerfallen und ohne Dach war, wenn ich mich nicht irre. Vermutlich war es in vergangenen Zeiten eine Herberge gewesen; vielleicht wurden bei Hochzeiten dort die Männer empfangen, damit man sie nicht in das Haus bringen musste, in dem sich die Frauen aufhielten.187 Dieses Haus war kleiner, es hatte nur ein Stockwerk, zwei, drei Fenster und in der Mitte eine große Tür. Ich erinnere mich, dass auch dieses Haus von Bäumen umstanden war und dass der Boden auf seiner Vorderseite mit grauen Holzplatten gedeckt war. Das Schönste dort war aber der Schöpf brunnen, der rundum aus Steinen gebaut war. Besonders gefiel mir der oberirdische Teil des Brunnens; er hatte die Form eines gekappten Kegels, unten breit und oben etwas enger. Er war aus etwa sieben Reihen großer, übereinanderliegender Steine erbaut, die wie stattliche Ringe wirkten. Diesen Brunnen nutzten die Familie von Elmaz, aber auch Nachbarn, weil das Wasser dort ziemlich kostbar war. Bekanntlich trägt der «Mal i Thatë», der trockene Berg, seinen Namen ja aus dem Grund, [S. 70] dass Wasser dort rar war.188 Von diesem Schöpfbrunnen sagte der französische Professor Marchand, dass er wunderbar sei. Begeistert fertigte er zwei, drei, fünf Skizzen von ihm und den Steinplatten an, die die Steinhauer aus Dunavat und Manalat herbeigeschafft und rings um den Brunnen gelegt hatten. Noch etwas weiter stand auf einem fast weißen Felsen ein anderes, längliches Haus mit hohen Fenstern und einem niedrigen Dach, das nicht von Holzbalken, sondern von steinernen Stützen getragen wurde. Durch die Ritzen in seinen Mauern drängten 1 87 Die Rede ist von einem Konak, was an sich einfach Herberge oder Zimmer bedeutet. Gemeint ist hier wohl ein Haus, in das der Hochzeiter (i zoti i dasmës) gemäß der früheren Tradition seine männlichen Gäste (ohne die Frauen) einlud. Vgl. auch den Eintrag zu Konak bei Muzafer Xhaxhiu, Fjalor i të folmës së Gjirokastrës: «Haus eines anderen, in das der Hochzeiter seine Gäste/Freunde zum Nachtessen einlädt.» 188 Etwas unklare Stelle. Der Mal i Thatë, der trockene Berg, liegt im Kurvelesh, einer Gebirgslandschaft im Kreis Gjirokastra, und erreicht eine Höhe von 1568 Metern. Das im Text beschriebene Haus dürfte aber deutlich näher bei Gjirokastra gelegen haben. Möglichweise bezog es sein Wasser dennoch von Bächen oder Quellen, die vom Mal i Thatë flossen. – Der erwähnte Brunnen ist abgebildet in der albanischen Originalausgabe, S. 70.

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sich überall Wildblumen, Zürgel- und Judasbäume, was dieses Haus noch anmutiger scheinen ließ. Wenn wir es in den Blick fassten, sahen wir gleichzeitig weiter hinten die Berge der Lunxhëria und die Ebene des Drino-Flusses, während auf der dem Mal i Gjerë zugewandten Seite bloß trockene Felszacken und die übereinanderliegenden Gesteinsschichten zu sehen waren. Zweifellos waren es Schichten dieser Art, aus de­ nen die Steinhauer aus Dunavat und Manalat mühevoll mit Hämmern und Brecheisen die Steinplatten und -tafeln lösten, mit denen die Dächer von ganz Gjirokastra gedeckt sind. Wenn wir zum Haus von Elmaz Çani gingen, setzten wir uns jeweils auf eine Mauer und betrachteten die Hügelzüge des Mal i Gjerë, [S. 71] die den Flanken großer, vorwärts stürmender Pferde gleichen. Mittendrin floss der Bach, dessen Fluten im Winter Steine mit sich rissen und unten an den Kiesstrand der Tekke von Baba Ali schwemmten. Diesen Kiesstrand gibt es jetzt nicht mehr, da dort mittlerweile eine neue Stadt für Werktätige errichtet worden ist. Unterhalb des Hauses von Elmaz Çani stand ein anderes, das sich von Aussehen und Bauweise her stark unterschied. Dies war das Haus von Elmaz Boca. An ihn kann ich mich nur noch schwach erinnern, weiß aber, dass er ein Freund von Baba Çen und ebenfalls Delegierter bei der Unabhängigkeitserklärung in Vlora im Jahr 1912 war. Sein Haus war groß und umfasste zwei Stockwerke. Natürlich gehörte dazu auch eine Hofmauer mit einem Tor, das keine Türflügel hatte. Man trat ein, stieg die steinerne Treppe hinauf und gelangte so in die Dielen des unteren oder des oberen Geschosses. Die Dielen und Räume des oberen Stockwerks waren «havadane», wie wir es nannten, d. h. gut durchlüftet. Ich kann mich nicht erinnern, dass um dieses Haus herum Bäume gestanden haben. Ich schließe diese Aufzeichnungen vielleicht besser mit einem offenen Ende, denn die Erinnerungen an Gjirokastra hören nie auf. Es sind Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit, doch habe ich versucht, sie getreulich wiederzugeben. [undatiert]



[S. 73]

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[S. 75] Warum wohl ertönt aus den Türmen der Kindheit Dies seltsame Lied, zart wie eine Schneeflocke? .......................................... Vielleicht vergeht dies Lied für andere Menschen in Schweigen, vergeht so, wie die Zeiger der Uhr vorübergehen, mich aber verwirrt es und verlockt mich immerwährend: «April-Veilchen, mitten im Schnee».189 Dritëro Agolli

1 89 Fußnote im albanischen Original: Aus der Zeitschrift «Drita» [das Licht], 26.  Juni  1983.  – «April-Veilchen» (Manushaqe të prillit, në mes të dëborës») ist ein bekanntes Volkslied, das ursprünglich aus der Gegend von Kolonja im Kreis Korça stammt und offenbar besonders schön klingt, wenn es in polyphoner Weise gesungen wird.

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[S. 77] Ferne

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November190

Wir sind in Vlora angekommen – im heroischen Vlora, das uns mit seinem Heldenmut und als Schauplatz historischer Ereignisse191 schon in früher Jugend inspiriert hat. Die Novembertage hier lassen mich auf all die längst verflossenen November in Gjirokastra zurückblicken, die mir so teuer sind, an die ich so viele Erinnerungen habe. Jahre und Jahrzehnte sind vergangen seit jener Zeit, als Gjirokastra von der griechischen Armee unter Venizelos besetzt war.192 Ich muss so etwa acht oder neun Jahre alt gewesen sein, genau weiß ich das nicht mehr, aber unser Haus war damals noch nicht abgebrannt.193 [S. 78] An einem bestimmten Tag, ebenfalls im November, erhielten wir Besuch von einigen Männern. Mutter empfing sie unten an der Treppe und geleitete sie in eine Ecke des großen Gastzimmers, wo bereits Baba Çen194 wartete. Als alle eingetroffen waren, sagte er zur Mutter: «Frau,195 bring uns zum Kaffee auch von dem Lokum,196 den ich gestern in einem Packpapier gebracht und im Schrank des Pat197 versorgt habe.» «Gerne, Mullah»,198 entgegnete die Mutter. 1 90 Der November mit seinen zwei wichtigen nationalen Feiertagen hat in Albanien eine besondere Bedeutung. Der 28. November ist der Tag der Unabhängigkeit und der Flagge (Ausrufung der Unabhängigkeit Albaniens am 28. November 1912), der 29. November ist der Tag der Befreiung Albaniens (Abzug der deutschen Wehrmacht im Jahr 1944). 191 In der südalbanischen Hafenstadt Vlora rief Ismail Qemali am 28.  November  1912 die Unabhängigkeit Albaniens aus. Bis Anfang 1914 war Vlora der Regierungssitz des jungen Staates. Als kulturelles Zentrum und als Schauplatz wichtiger historischer Ereignisse spielte die Stadt eine wichtige Rolle in der neueren albanischen Geschichte. Enver Hoxha hielt am 28. November 1972 in Vlora eine vielbeachtete Rede zum Nationalfeiertag. 192 Fußnote im albanischen Original: Gjirokastra war vom 16. März 1913 bis Oktober 1916 von der griechischen Armee von Venizelos [griechischer Ministerpräsident von 1910–1920 und 1928– 1932, Anm. d. Ü.] besetzt. – Es folgt die Wiedergabe eines Telegramms, das Hysen Hoxha [= Baba Çen, siehe unten] am 26. Dezember 1912 an Ismail Qemali in Vlora gesandt hatte und in dem er dringend um militärische Unterstützung zur Verteidigung der bedrohten Ortschaft Delvina bittet. – Vgl. auch S. 125. 193 Das Haus der Familie Hoxha brannte zwischen 1913 und 1916 ab (siehe Anm. 205); Enver Hoxha war damals also höchstens 8 Jahre alt. Vgl. auch S. 297. 194 Der Onkel von Enver Hoxha, Hysen Hoxha, genannt «Baba Çen»; siehe Einleitung, Kap. 11b, Anm. 144 sowie S. 109. Çen ist eine gängige Kurz- und Koseform des Namens Hysen. Zur etwas verwirrenden Nomenklatur vgl. den folgenden Abschnitt. 195 Im Original: «Nuse», wörtlich «Braut, junge Frau», wurde (und wird z.T. noch) oft als allgemeine Anrede vor allem für die jüngeren angeheirateten Frauen im Haushalt, aber auch für die Ehefrau verwendet. 196 Ursprünglich türkische, auf dem Balkan weit verbreitete Süßigkeit. 197 Pat: Der v.a. im Winter genutzte, da beheizbare Aufenthalts- und Schlafraum, s. o. S.  84. 198 Mullah: Ehrentitel für islamische Religions-, aber auch andere Rechts- und Schriftgelehrte; offensichtlich auch innerfamiliär gebraucht. In Gjirokastra wurde der Titel offenbar bis spät für

Ferne November

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Ich folgte der Mutter, während sie die Gäste bediente, und half ihr dabei. Schließlich blieb ich bei Baba Çen und hörte zu, was diskutiert wurde. Als Erklärung muss ich vorausschicken, dass unser Onkel, Hysen Hoxha, von allen Kindern «Baba» (Vater) oder «Baba Çen» gerufen wurde, während wir unseren eigentlichen Vater, Halil Hoxha, bis zu seinem Tod Xhaxha (Onkel) nannten.199 Der Grund war sicherlich, dass Hysen Hoxha der ältere der Brüder war und dass er als Erster Kinder hatte. Wir, die später geborenen Kinder von Halil, nannten unseren Onkel also stets «Baba», Vater. Tatsächlich war er es auch, der uns auf- und erzog, denn unser eigentlicher Vater, Halil, war mit meinem älteren Bruder200 in die USA verreist, um dort Arbeit zu finden. So blieb ich als einziger Junge unter lauter Mädchen in unserem Haus, denn Baba Çen hatte nur Töchter201 und auch ich hatte, abgesehen von meinem Bruder, der damals in Amerika war, nur Schwestern.202 «Du bist unser Stammhalter», sagte Baba Çen, wenn er mich zu sich rief, dazu streichelte er mir den Kopf und reichte mir eine Birne, die er aus einer Tasche seiner Pluderhosen zog. Gewiss hatte er sie von Janaq Shkrapi, dem Obst- und Gemüsehändler bekommen. Selbst aß Baba Çen niemals Birnen, aber er brachte sie uns Kindern mit. alle Männer mit einem Minimum an religiöser oder allgemeiner Bildung verwendet (vgl. Tahir N. Dizdari: Fjalor i orientalizmave në gjuhën shqipe, S. 665), dementsprechend wurden sowohl der Hodscha der Moschee (siehe S. 121) wie auch Envers religiös indifferenter Onkel Baba Çen und sein Vater Halil mit Mullah angesprochen. Enver Hoxha selbst wird zumindest von einem sozial und körperlich beeinträchtigten Jüngling (Hajro Gaxhello) mit «Sohn des Mullahs» angesprochen, siehe S. 234. 199 Enver Hoxhas Vater Halil, genannt «Xhaxhai» (Onkel väterlicherseits), lebte von 1875–1957, seine Mutter Gjylihan (genannt Gjyle oder Gjulo) von 1880–1969. Der Vater war während eines Teils der Jugend von Enver Hoxha Arbeitsmigrant in den USA (siehe Anm. 66) und arbeitete dann als Kaufmann und kommunaler Angestellter (Waagemeister), vgl. Einleitung, Kap. 11b und S. 279. Er hatte starke Affinitäten zum Bektashi-Orden, einer liberalen Strömung im Islam. Der für Enver Hoxhas Jugend wohl deutlich einflussreichere Onkel Hysen Hoxha, genannt Baba (Vater) oder Baba Çen, war Politiker, Bürgermeister von Gjirokastra, Atheist und lebte von 1861–1934. Weiter unten (siehe S. 288) bezeichnet Enver Hoxha ihn als «Oberhaupt unserer großen patriarchalischen Familie». Zur Verdeutlichung übersetzen wir «Baba» immer mit «Baba Çen», wenn es sich um Hysen Hoxha handelt. Kastriot Myftaraj, immer gut für pikante Details, bezeichnet S. 59 f. Hysen Hoxha zunächst als Kollaborateur der Griechen, später dann als Spion der Italiener. 200 Der ältere Bruder von Enver Hoxha, Beqir, geboren 1900, starb 27-jährig an Tuberkulose. Er und sein Vater hatten in einem Stahlwerk in Detroit gearbeitet. 201 Baba Çen hatte elf Töchter, von denen sieben am Leben blieben bzw. vier offenbar schon früh starben, siehe S. 288. Eine hieß vermutlich Nadire (Nado) und war an Krebs erkrankt, siehe S. 257. 202 Gemeint sind die Schwestern Fahrije (1898–1970), Sanije (genannt Sano, 1912–2004) und Haxhire (genannt Haxho, 1903–1991). An anderer Stelle (siehe S. 288) schreibt Enver Hoxha allerdings, dass seinem Vater drei Söhne und fünf Töchter geboren wurden. Zum Tod einer der Töchter (als Säugling beim Hausbrand zwischen 1913 und 1916) siehe S. 297; möglicherweise verstarben eine weitere Tochter und ein Sohn ebenfalls als Kleinkinder, siehe S. 298.

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[S. 79] An jenem fernen Novembertag also saß Baba Çen mit seinen Gästen im Gastzimmer. Die Männer diskutierten des Langen und Breiten; einiges davon verstand ich, anderes nicht. Sie erwähnten alle möglichen Namen und schimpften fürch­ terlich über die Griechen, an denen sie kein gutes Haar ließen. «Schrei nicht so, Hysen», riefen die anderen, «sonst hören uns die Griechen noch und schicken uns in die Verbannung!» Aber Baba Çen ereiferte sich noch mehr und konnte seine Verwünschungen kaum zurückhalten. «Sollen sie zur Hölle fahren, diese Schurken! Stolzieren hier herum mit ihren Degen am Gurt und lassen sie auf dem Pflaster des Marktes scheppern, als ob sie damit jemandem Angst einjagen könnten!» Als Baba Çen die Degen erwähnte, musste ich gleich an die Truhen denken, die ganz in der Nähe, in einer Ecke des Erkers standen und randvoll mit Säbeln von den Großvätern und Baba Çen waren. Ich erinnere mich, wie ich einst, als Baba Çen über die Degen und Säbel der Griechen sprach, wie ein kleiner Hahn herumhüpfte und rief: «Warum holen wir eigentlich nicht auch unsere Säbel hervor? Hier in der Truhe sind sie, soll ich sie euch zeigen?» Die Erwachsenen lachten; Xha 203 Hasan Xhiku legte mir die Hand auf den Kopf und meinte: «Keine Sorge, mein Junge, ganz gewiss werden auch wir unsere Säbel aus den Truhen herausholen!» Die Männer, die sich an jenen fernen Novembertagen bei Baba Çen versammelten, sprachen über die Freiheit, über die Fahne von Vlora, über Ismail Qemali, über Cepo204 und vieles andere. Manchmal schickten sie mich aus dem Zimmer, vermutlich hatten sie dann Dinge zu besprechen, die nicht für meine Ohren bestimmt waren. Und manchmal hörte ich Baba Çen rufen: «Enver, sag der Mutter, sie solle uns Tabak und einen Bogen Zigarettenpapier bringen!» Die Gespräche zogen sich hin. Baba Çen hatte an einer Wand des Erkers, nahe dem Fenster, eine Fotografie aufgehängt, auf der viele schwarz gekleidete Männer zu sehen waren. Unter ihnen befand sich auch ein Greis mit weißen Haaren und weißem Bart. Dies war Ismail Qemali. «Hinter ihm bin auch ich auf dem Bild», sagte Baba Çen, «schaut, der da mit dem weißen Turban. Alle sind wir zur großen Versammlung der Abgeordneten in Vlora gekommen, wo wir die Nationalfahne hissten, die Unabhängigkeit ausriefen und die erste Regierung von Vlora bildeten, mit Ismail [S. 80] Qemali an der Spitze. Aber was will man, die niederträchtigen ausländischen Schurken lassen uns nicht in Ruhe.»

203 Zur Anrede Xha siehe Anm. 113. 204 Cepo: Gemeinde nördlich von Gjirokastra. Im April und Juli 1911 versammelten sich im dortigen Kloster die albanischen Aufständischen. Im Kloster von Cepo kam es 1914 zu einer blutigen Vergeltungsaktion der Albaner.

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Diese Fotografie zählte zu den liebsten und teuersten Dingen in unserem alten Haus, das später abbrannte. 205 Tragischerweise wurden bei diesem Brand sowohl die Truhe mit den Säbeln wie auch diese Fotografie ein Raub der Flammen. Nichts blieb übrig, mit Ausnahme einer Wanduhr. Diese Uhr habe ich der Mittelschule «Asim Zeneli» in Gjirokastra geschenkt. 206 Lange versuchte ich eine Kopie dieser Fotografie der Versammlung in Vlora zu finden, die einst in unserem abgebrannten Haus hing; leider ohne Erfolg. Viele Jahrzehnte mussten vergehen, bis ich anläßlich eines Besuchs des Unabhängigkeitsmuse­ ums am 28. November 1972 in einem der Räume plötzlich dieses mir so liebe Bild – eine vergrößerte Kopie der Versammlung von Vlora – entdeckte. Ich blieb wie angewurzelt stehen und konnte mich einfach nicht losreißen – bis der Museumsführer, der seine Erläuterungen längst abgeschlossen hatte, seiner Verwunderung Ausdruck gab, dass ich so endlos lange bei dieser Fotografie verweilte. «Wundere dich nicht», sagte ich ihm, «ich habe eben einen Schatz wiedergefunden, den ich verloren glaubte.» Du liebe Fotografie aus meiner Jugendzeit! Wie viele süße und bittere Erinnerungen rufst du in mir wach! Vor allem lässt du mich an das Leben und den patriotischen Kampf von Baba Çen denken, dieses bescheidenen Menschen, der als einfacher und geachteter Mann starb. Niemand gedachte seiner Leistungen, mit Ausnahme unserer Partei der Arbeit, die seine Verdienste und jene aller anderen Patrioten dokumentierte und ihn für sein vaterländisches Engagement auszeichnete. Als kleinem Kind, das ich damals war, machten mir einige Ereignisse besonderen Eindruck, die ich damals natürlich nicht alle begreifen konnte. Erst jetzt, nachdem 205 Die genaue Datierung dieses Brandes ist unklar. S. 297 schreibt Hoxha, dass er zur Zeit der ersten griechischen Besatzung stattgefunden habe, mithin zwischen 1913 und 1916. Die anonyme «Biografi e shkurtër» von 1947 sowie Myftaraj (2008, S. 62) und Akulli (2018) datieren den Brand auf 1913, Blendi Fevziu nennt in seiner Hoxha-Biografie das Jahr 1914 (engl. Ausgabe, Tirana 2016, S. 13); Vasfi Baruti (2013; S. 27 und 210) gibt das Jahr 2016 an. Myftaraj (2008, S. 63 f.) ergänzt in gewohnt fantasievoller Weise und diesmal mit Bezug auf die «mündliche Tradition in Gjirokastra», dass Enver Hoxha selbst es war, der den Brand gelegt hatte, indem er nächtens Kerzen bei den Fenstern aufgestellt habe; dies auf Geheiß seines «wahren Vaters», des bosnischen Bimbashs Halil Efendi bzw. Halil Musa Bej (siehe Einleitung, Kap. 9 und 11b), der ihn dazu im Traum angehalten habe. – Das abgebrannte Haus in Palorto datierte aus dem 19. Jahrhundert. Es wurde 1964–1966 wiederaufgebaut, nachdem es offenbar über 50 Jahre in Ruinen gelegen hatte (ob es nicht zumindest teilweise wieder bewohnbar gemacht wurde, ließ sich nicht eruieren) und beherbergt heute das ethnographische Museum. (Nach anderen Quellen wurde das Haus nach der Befreiung (Ende 1944) wiederaufgebaut und 1966 zum Museum umfunktioniert.) Lt. Website des muzeu etnografik in Gjirokastra orientierte sich der Wiederaufbau modellhaft an den schönsten und reichsten Häusern der Stadt, so dass das ‹rekonstruierte› Haus deutlich stattlicher als das originale, eher bescheidene Geburtshaus war, das offenbar nur über ein Geschoss (nach anderen Quellen: über drei Geschosse) und einen Kamin bzw. eine Feuerstelle verfügt hatte. Siehe zum Brand auch S. 297. 206 Siehe hierzu den mit diesem Geschenk verbundenen Brief an die Schüler und Lehrer S. 296 ff.

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viele Jahre vergangen sind, werden sie mir verständlich und rücken in ihrer Einfachheit ins richtige Licht. Als kleiner Junge hielt ich sie eher für innerfamiliäre Ereignisse, für die Erwachsenen freilich hatten sie eine ganz andere Bedeutung. Es musste eine Nacht vor dem 28. November gewesen sein, mithin an einem 27. November. Das Land war von den Griechen besetzt. Es herrschte eine große Krise und Mangel an allem. Brot war nur mit Mühe aufzutreiben und wenn wir welches hatten, verteilte es uns die Mutter häppchenweise. Die Griechen hatten versucht, Baba Çen aus dem Amt des [S. 81] Bürgermeisters zu drängen, kamen damit aber nicht durch, weil das Volk laut protestierte – alle zusammen, Muslime und Christen. An jenem 27. November also rief mich Baba Çen, der mit einer weißen Wolldecke um die Schultern auf dem Diwan saß, zu sich und sagte: «Zieh die Schuhe an, geh zu Bido Tushja und sag ihm Folgendes: ‹Baba Çen hat mir aufgetragen dir zu sagen, du sollst mir ein Dutzend Kerzen geben.› Wenn er antwortet, er habe keine, sagst du ihm lachend: ‹Gib sie her, sonst lässt er morgen deinen Laden schließen, lässt Baba Çen ausrichten.›» Ich zog die Schuhe an und rannte wie ein Wirbelwind los. Der Laden von Xha Bido lag nahe der Moschee am Marktplatz, unmittelbar beim Eingang ins Gewölbe. In dieses Geschäft ging ich immer gerne, weil ich mich dort kaum sattsehen konnte an all den Waren, dazu führte er auch Lokum und Bonbons. Xha Bido steckte mir jeweils ein Bonbon in den Mund und kniff mich dazu in die Wange. Als ich eintraf, unterhielt er sich gerade mit einem anderen Mann. «Was willst du, mein Junge?», fragte er. Ich richtete ihm aus, was mir Baba Çen aufgetragen hatte. Er blickte den anderen Mann an und sagte zu mir: [S. 82] «Wo um Himmels Willen sollen sich in diesen Zeiten Kerzen in meinem Laden finden lassen; sag das Mullah Hysen. Wenn er Kerzen will, soll er sie beim orthodoxen Bischof suchen gehen, denn der hat alle für die Kirchen eingezogen.» Hierauf wiederholte ich die «Drohung», die mir Baba Çen aufgetragen hatte, und lachte anschließend. Es war mir nämlich nicht ganz klar, wie ich den Satz «Baba Çen schließt sonst deinen Laden» sagen und gleichzeitig lachen sollte. Xha Bido war ein guter Mensch und ein enger Freund von Baba Çen. Nun erhob er sich, zog mich am Ohr zu seinem Verkaufstresen, der voller staubiger Hefte war, öffnete eine Schublade und sagte: «Siehst du, was das ist?» Ich erschrak: Es war eine alte Pistole. Xha Bido sagte: «Richte Mullah Hysen aus, dass er den Laden von Bido nicht schließen kann, denn vorher würde ich diese Pistole in seinen Bauch leerschießen.» Jetzt wurde ich ernsthaft wütend. Wie konnte Xha Bido nur unseren Baba Çen umbringen wollen, den wir alle so sehr liebten?! Ich sagte ihm: «Du kannst Baba Çen gar nicht umbringen, weil der dir den Kopf mit dem Säbel abhaut!» Bido Tushja und der andere Mann lachten, ich blieb mit düsterer Mine stehen. Schließlich ging Xha Bido in den Keller und kam mit zwei Packungen Kerzen zurück. Er schob sie mir unter die Achsel und trug mir auf: «Sag dem Mullah, dass Bido ein alter Fuchs ist und

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genau weiß, wofür der Mullah die Kerzen braucht. Eben darum habe ich sie bis auf den heutigen Tag auf bewahrt.» Ich freute mich sehr, nahm die Kerzen und wollte schon gehen, als Xha Bido mich nochmals zurückrief. «Warte», sagte er und drehte ein Stück Papier zu einer Tüte zusammen. Dann nahm er drei Stück Lokum aus einer Büchse, steckte sie in die Tüte und sagte mir: «Ein Stück ist für dich, eins für deine Schwester Sano und eins für deine Cousine Bale; aber ihr dürft sie erst morgen essen, nicht heute schon.» «Ganz wie du willst», entgegnete ich und machte mich davon. Auf dem Weg, mit den Kerzen unter der Achsel und den Süßigkeiten in der Hand, dachte ich: «Also dieser Xha Bido ist wirklich ein guter Mensch! Ich verstehe nur nicht, wieso man ein alter Fuchs sein muss, um zu verstehen, warum Baba Çen Kerzen will. Die braucht man doch, um nachts Licht zu machen, wenn wir Abend essen, oder wenn er ein Buch liest, wenn die Mutter näht oder die Großmutter uns Märchen erzählt.» [S. 83] Solchen Grübeleien hing ich auf dem Weg nach Hause nach, wo ich Baba Çen die Kerzen aushändigen wollte. Allerdings lag ich mit meinen Vermutungen falsch. Am Abend sollte ich die eine Hälfte und am nächsten und übernächsten Tag die andere Hälfte der wahren Gründe erfahren, die hinter dem Kerzenkauf standen. Als es an diesem Abend eindunkelte, rief Baba Çen meine Mutter, gab ihr die Kerzen und sagte: «Nimm diese Kerzen, schneide sie mit einem Messer in zwei Stücke und stelle sie in den Fenstern der großen Stube auf der Straßenseite auf. Nimm als Unterlage kleine Teller vom Kaffeegeschirr, damit es keine Wachsflecken gibt.» «Gerne, Mullah», antwortete die Mutter und nahm die Kerzen. «Warte mal, meine Liebe!», rief die Großmutter und wandte sich an Baba Çen: «Hysen, lass dieses Zeug, du bringst uns noch ins Unglück, und dich werden sie auf den Peloponnes in die Verbannung schicken!» «Hab keine Angst, Jeko», 207 erwiderte er, «Selbst wenn sie mich zitieren, habe ich in der Tasche eine treffliche Antwort für sie bereit, und Furcht vor diesen Strolchen habe ich schon gar nicht, meiner Treu …» (hier stieß er ein paar seiner Schimpfworte aus, die ich lieber nicht wiedergebe), «Wir erledigen unsere Arbeit, sollen die da die ihrige machen.» Ich folgte meiner Mutter und fragte sie, während wir die Kerzen halbierten, sie in die Fenster stellten und anzündeten, warum wir das machten. «Das machen wir, weil morgen unser Fest ist, mein Junge. Morgen ist der Tag unserer Flagge, die in Vlora gehisst wurde, damals, als auch Mullah Baba Çen aus Gjirokastra dorthin gegangen ist.» Aber sag das niemandem, sonst zünden sie uns das Haus an.» «Wieso sollen sie uns denn das Haus anzünden, wenn das doch unser Feiertag ist?» 207 Jeko (Kurzform): Die Großmutter väterlicherseits von Enver Hoxha, Gattin von Nexhip Hoxha.

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«Weil die Griechen unsere Feinde sind; sie haben unser Land besetzt. Wir aber, die den Tag der Flagge feiern, wollen in Freiheit leben.» Jetzt verstand ich den Sinn der Kerzen besser. Xha Bido, der «alte Fuchs», hatte recht gehabt – und jetzt begriff ich auch, warum er wollte, dass wir die Süßigkeiten erst morgen essen sollten, am 28. November, dem Tag der Flagge. «Xha Bido», dachte ich bei mir, «scheint gleicher Gesinnung zu sein wie Baba Çen.» [S. 84] Als wir wieder in Baba Çens Zimmer waren, ging ich zu ihm. Wortlos und voller Emotionen betrachtete und bestaunte ich diesen Mann mit seinem Bart und dem schwarzen Schnurrbart, der da mit gekreuzten Beinen, eine Wolldecke über den Schultern, im trüben Licht einer Öllampe saß und ein Buch las. Ich betrachtete ihn, streichelte mit meiner kleinen Hand seine Knie, und er schien mir groß und bedeutend. Schließlich blickte er auf und fragte: «Was blickst du mich so an, als ob du mich noch nie gesehen hättest? Geh jetzt schlafen und komm morgen wieder. Da werde ich dir ein paar Groschen geben, mit denen du Bonbons kaufen kannst, denn morgen ist unser Feiertag! Darum hör nicht auf das, was die Frauen sagen. Unsere Feinde haben keine Chance gegen uns!» Am nächsten Tag, dem 28. November, warteten alle in unserer Familie gespannt darauf, was wohl geschehen würde. Nur Baba Çen und wir Kleinen zerbrachen uns nicht den Kopf. Ich verzehrte mein Lokum schon vor Tagesanbruch, dann ging ich ins Zimmer von Baba Çen und rief: «Es lebe die Flagge!» Baba Çen umarmte mich; seine Frau hingegen (die an Tuberkulose erkrankt war) ermahnte mich: «Schrei draußen nicht so laut, sonst bringst du uns noch ins Verderben!» An diesem Tag geschah weiter nicht viel, außer dass die Leute sagten: «Hysens Haus ist hell erleuchtet! Hat er wohl eine Tochter verlobt oder einen Brief von seinem Bruder Halil aus Amerika erhalten?» Die Großmutter kommentierte das mit den Worten: «Umso besser, die Leute wollen offenbar kaschieren, was «der Verrückte» gestern Abend getan hat.» Als wir uns am Tag darauf zum Mittagessen hinsetzten, sagte Baba Çen zu seiner Mutter: «Jeko, der griechische Kommandant hat mich zitiert, bat mich, Platz zu nehmen, hat mir eine Zigarette angeboten und mich gefragt: Herr Bürgermeister, mir wurde gesagt, dass Sie vorgestern Abend Kerzen in Ihre Fenster gestellt haben; können Sie mir sagen, warum?» «Und meine Antwort war», sagte Baba Çen, «dass ich das tat, um dem Volk den Weg zu erhellen». Der Kommandant blickte auf, machte große Augen und bekam zittrige Hände. «‹Herr Kommandant›, sagte ich zu ihm, ‹es gibt keinen Grund zur Sorge. Ich bin der Bürgermeister und meine Pflicht ist, dem Volk [S. 85] in der Nacht die Wege zu beleuchten. Und da Sie mir sämtliche Mittel entzogen haben, muss ich mich halt begnügen, wenigstens meine Straße zu beleuchten.›»

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«Und warum machst du das dann nicht jede Nacht?», fragte mich der Kommandant. «Mir fehlen ganz einfach die Kerzen», erwiderte ich, «ansonsten würde ich es gewiss öfters, wenn auch vielleicht nicht jede Nacht, tun.» Der Kommandant sah ein, dass er mir nichts anhaben konnte; er erhob sich, gab mir die Hand und meinte: «Mein Herr, Hysen Hoxha, es ist wohl besser, wenn wir unsere gegenseitigen Beziehungen nicht allzu sehr strapazieren.» «So viel also zu deiner Angst, Jeko», sagte Baba Çen. «Ginge es nur um mich, so könnten die Griechen mich wohl auch umbringen, aber das ganze Volk umbringen, das können sie nicht. Und ich stehe hinter dem Volk, kämpfe für das Volk, deshalb können sie mich nicht so leicht packen.» «Auch der Bruder deines Großvaters Nexhip, Beqir hieß er, 208 war so ein Beses­ sener», meinte die Großmutter zu mir. «Der nahm nicht nur an den Aufständen gegen die Türken teil, sondern verfasste sogar Telegramme, um gegen die Grausamkeit zu protestieren, mit der Europa unser Land zerstückeln wollte.» Ich erinnere mich an ein anderes Ereignis, das noch in die Zeit des Ersten Weltkriegs fiel. Nachdem die Griechen vertrieben waren, besetzte Italien unser Land. Die italienischen Soldaten trugen Hüte mit Federn und hatten Gewehre, sie kamen mit Maultieren und Schoten des Johannisbrotbaums als Futter für dieselben. Überall herrschte Hunger. Die Mutter wies uns an, das Mehl fürs Brot mit dem Sägemehl zu strecken, das die Italiener beim Sägen der Bretter für ihre Kasernen produzierten. Baba Çen war immer noch Bürgermeister und zeigte sich gegenüber den Besatzern sehr distanziert. Immer mehr arme Leute aus der Stadt suchten Kontakt zu ihm, Muslime ebenso wie Christen – Christen sogar noch mehr, weil sie sich vor Verfolgungen fürchteten. Und Hysen Hoxha schützte sie alle. Einige Agas und Kaufleute begannen mit den neuen Besatzern zu fraternisieren und gerieten in Streit mit Baba Çen, der ihnen gegenüber kein Blatt vor den Mund nahm. [S. 86] Zu diesen Abtrünnigen zählte auch Baba Çens Schwager Xhevdet Selfo, den er mächtig auf der Pieke hatte. Mit den Einnahmen aus dem Vakëf, 209 die er gehortet hatte, und mit den Einkünften der Gemeinde organisierte er die Abgabe von Hilfsbeiträgen für die Armen; zugleich erhöhte er die Anzahl der Straßenwischer, um so einigen Mittellosen einen kleinen Verdienst zu ermöglichen. Bei der Verteilung der Lebensmittel, die er den Italienern für das Volk abringen konnte, war er mit dem Stock in der Hand zugegen und

208 Fußnote im albanischen Original: Beqir Hoxha war Mitglied der Liga von Prizren und vertrat dort Gjirokastra. Für seine Verdienste wurde er vom Präsidium des Volkskongresses ausgezeichnet. Lt. Myftaraj (2008, S. 40, ohne Quellenangaben) sind auch dies erfundene Nachrichten. 209 Vakëf: Stiftung bzw. Besitz der islamischen Institutionen.

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kontrollierte, dass sie wirklich den Bedürftigen zugutekamen. Den Hodschas kürzte er die Gehälter; ihr Protest blieb folgenlos, denn Baba Çen ignorierte ihn. Über die Wochen bildete sich nun eine Clique, die Hysen Hoxha feindlich war und ihn als Bürgermeister zu Fall bringen wollte. Allerdings blieben ihre Intrigen erfolglos, denn aus Angst vor den «Hungerleidern» wagten sie nicht, etwas Konkretes zu unternehmen. «Mullah Hysen hat alle Strolche, Straßenfeger, Metzger und Flickschuster hinter sich», sagten die Leute aus der Familie Karagjozi, die sein Amt besonders gerne an sich gerissen hätten. In Erinnerung geblieben ist mir ein Herbsttag. Baba Çen, der nachts auf dem Nachhauseweg ein Bein gebrochen hatte, war eben aus dem italienischen Armeespital entlassen worden. Es lag dort, wo heute die Schule «Asim Zeneli» steht, die damals noch Mejtep genannt wurde. 210 Am nächsten Morgen, als wir unsere Trahana 211 gegessen hatten, nahm mich Baba Çen beiseite und sagte: «Komm her, Junge, wir gehen zu Iljaz 212 und machen ihm einen Besuch.» Ich freute mich sehr, denn Xha Iljaz mochte ich gut, auch wenn er als Lehrer manchmal herumschrie. Er war es ja auch, der mir meinen Taufnamen ins Ohr geflüstert hatte – auf Albanisch, nicht auf Arabisch! 213 Auf den Besuch bei ihm freute ich mich umso mehr, als Xha Iljaz mir sicher eine Quitte oder ein paar Nüsse geben würde, je nachdem, was er gerade hatte. Und dass Baba Çen mich mitnahm, wenn er zu ihm, zu Selim Bakiri, Hasan Sino oder anderen auf Besuch ging, war für mich nichts Neues. Als wir bei Xha Iljaz eintraten, spürte ich gleich, dass etwas geschehen war, auch wenn ich nicht wusste, was. Im Empfangszimmer hatte es viele Leute. Ich zupfte an Baba Çens Weste und fragte ihn, ob vielleicht jemand aus Xha Iljaz’ Familie gestorben sei. «Nein, mein Junge», erwiderte er, «ganz im Gegenteil. Heute feiern wir den Tag der Flagge!» Ich war beruhigt und strahlte. Zuvorderst im Zimmer stand ein Priester mit [S. 87] weißem Bart, langer, schwarzer Priesterrobe und einem goldenen Kreuz um den Hals, das mit farbigen Edelsteinen verziert war. Ich wunderte mich, dass der Priester auch an unserem hohen Feiertag den ersten Platz einnehmen durfte. Befangen küsste ich allen Anwesenden die Hand und zog mich in den Hintergrund, nahe der Tür, zurück. Ich war gespannt, was hier, am 28. November, unter der italienischen Besatzung, 214 geschehen würde. Nachdem alle Kaffee getrunken hatten und ich ein paar Stück Lokum 2 10 Mejtep: Siehe S. 121. 211 Trahana: Traditionelle Speise in Albanien und vielen anderen Ländern; entfernt mit Spätzle vergleichbar und in verschiedensten Variationen zubereitet. 212 Gemeint ist der Lehrer Iljaz Hoxha, siehe S.  130 f. 213 Siehe hierzu S. 130. 214 Fußnote im albanischen Original: Die italienische Armee besetzte Gjirokastra im Oktober 1916, nachdem sie die griechischen Streitkräfte vertrieben hatte.

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erhalten hatte, erhob sich Xha Iljaz, öffnete den Schrank des Empfangszimmers und nahm aus ihm die Flagge mit dem schwarzen Adler. Er reckte sie hoch in die Luft und rief «Es lebe das freie Albanien!» Alle standen auf und riefen wie aus einem Mund «Es lebe das freie Albanien!» Xha Iljaz rief mich zu sich und sagte: «Fass die Flagge an den beiden Zipfeln, hebe sie hoch, so wie ich es gemacht habe, und bringe sie der Reihe nach allen, damit ein jeder sie küssen kann.» So machte ich es denn auch. Als Erstes brachte ich die Flagge natürlich Baba Çen, denn für mich waren er und die Flagge eins und dasselbe. Alle Anwesenden küssten die Fahne, auch der Priester, was mich erstaunte. Nach dieser Zeremonie begannen die Männer sich zu unterhalten, während ich in den Garten ging und dort auf Baba Çen wartete. Als schließlich alle herauskamen, war es schon spät; sicher hatten die Männer auch das eine und andere Glas getrunken. Auf dem Heimweg fragte ich Baba Çen, wer denn dieser Priester gewesen sei. «Wie denn, das weißt du nicht?», entgegnete er, «Das war Papapano, ein glühender Patriot. Die Priesterrobe und seine Kopf bedeckung trägt er nur zum Schein, denn er glaubt ebenso wenig an Christus wie ich an Mohammed glaube. Für uns gibt es nur einen «Gott», nämlich das Vaterland, unser Albanien. Alles andere ist Geschwätz. Der Priester, den du gesehen hast, ist übrigens der Vater deines ausgezeichneten Lehrers, des Patrioten Thoma Papapano.»215 «Den Lehrer Thoma habe ich sehr gerne, Baba Çen», sagte ich, «der lehrt uns nämlich Albanisch. Mullah Kaman 216 hingegen mag ich nicht, der versucht uns Türkisch beizubringen.» «Zieh den Mullahs eins mit dem Besen über», antwortete Baba Çen, «das sind Speichellecker, die einzig aufs Geld aus sind und mit ihren Märchen aus dem Koran herumschwadronieren.» «Aber, Baba Çen, auch du liest doch im Koran? Ich sehe dich jeden Abend darin lesen.» [S. 88] «Was, ich soll im Koran lesen! Lass mich in Ruhe mit solchem Zeug, Junge! Was ich lese, sind geschichtliche und philosophische Werke; sogar solche, die Stellung gegen den Koran beziehen!» An diesem 28.  November also schloss ich Freundschaft mit Papapano Çuçi. Er wohnte im Stadtteil Varosh, in der Nähe meines Onkels mütterlicherseits, dessen Nachname ebenfalls Çuçi war. Traf ich den Priester auf der Straße, hielt ich an und küsste ihm die Hand, worauf er mir über den Kopf strich und mich ermahnte: «Geh immer schön zur Schule, Sohn, denn dort werden dir die Augen geöffnet.»

2 15 Zum Albanisch-Lehrer Thoma Papapano siehe S. 100, 130, 135, 296 ff. 216 Zu Mullah Kaman siehe S.  121 f.

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In Erinnerung sind mir auch spätere Feiern zum 28. November, nach dem heroischen Krieg um Vlora, 217 als das Land auch von den italienischen Besatzern befreit war. Ich war damals schon größer und den Tag der Flagge feierten wir nun öffentlich. Die ganze Schule versammelte sich jeweils vor dem Rathaus, wo Reden gehalten wurden. Meine Mutter hatte mir für diesen Anlass eine rote Schärpe mit einem schwarzen Adler in der Mitte genäht, die ich über die Schultern warf und über der Brust zusammenhielt. An einem dieser Feiertage, so weiß ich noch, bestimmte unser Lehrer Xhafo Poshi mich als denjenigen, der die Flagge halten durfte. Welch unbeschreibliche Freude! Als wir von der Zeremonie zurückkehrten und die Straße vom Markt hinuntergingen – ich mit der Flagge auf der Schulter – kam uns Baba Çen entgegen und fragte, ob mir die Flagge nicht schwer erscheine. Ich verneinte, worauf er sagte: «Und doch ist sie schwer, denn sie umfasst die ganze Geschichte unseres Volkes. Halte sie fest, vor allem in bedrängten Zeiten, halte sie hoch und schau, dass sie niemals zu Boden fällt.» Baba Çen war ein gebildeter Mann. Er beherrschte die türkische, arabische und persische Sprache und studierte die griechischen Philosophen. Einen religiösen Glauben hatte er nicht. Schon während meiner Kindheit legte er uns nahe, die Christen wie unsere Brüder zu lieben, und er selbst war das beste Beispiel für diese Haltung. Zu seinen besten Freunden zählten Christen wie Thoma Papapano, Kristo Meksi, Xha Polo, Andrea Konomi und andere. Baba Çen betrachtete alle Menschen einzig unter dem Gesichtspunkt der Nation. [S. 89] «Was ist nur mit dem los, Jeko?», fragten die Brüder der Großmutter, «Der ist ja völlig verchristlicht!» «Zu Christen werden weder Hysen noch Halil», entgegnete die Großmutter, «sie haben einfach eine tiefe Zuneigung zu den Menschen.» Andererseits schimpfte die Großmutter auch mit Baba Çen und hielt ihm vor: «Hysen, such dir doch bitte deine Freunde etwas besser aus, sonst schauen dich die anderen bald schräg an!» «Für mich wäre es das größere Problem», erwiderte Baba Çen, «wenn mich gewisse Leute nicht schräg anschauen würden. Wer immer mich mag, soll mich so nehmen, wie ich bin.» Baba Çen war ein bescheidener, unkomplizierter Mensch. Er legte keinen Wert auf sein Äußeres, aber seine Ratschläge waren wertvoll. In der patriotischen Bewegung unserer Stadt engagierte er sich als einer der Ersten, zugleich war er ein Mitstreiter der Rilindja, der albanischen Wiedergeburt.218 Mit seinen Taten brüstete er sich nie, und nie sprach er davon, was er alles vollbracht hatte. Dies erfuhren wir erst von anderen, 217 Der Vlora-Krieg bestand aus einer Reihe von Kämpfen zwischen den italienischen Besatzungstruppen und albanischen Widerstandskämpfern, er dauerte von Juni bis September 1920. 218 Rilindja: Siehe Einleitung, Kap. 11a und S. 135.

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so etwa in der Schule von unseren Lehrern Herrn Thoma, Herrn Xhafo und Herrn Rexho. «Seht hier», sagte einer von ihnen, «Seht hier den Mullah, der heute mit seiner Blechkanne Joghurt bei Kapo Bolena kaufen geht! Er ist es, der an der Zusammenkunft in Cepo 1911 219 teilnahm, wo wir – über 2000 Männer mit unseren Gewehren in der Hand – uns versammelt hatten. Und Mullah Hysen rief den Kämpfern zu: ‹Haltet eure Gewehre fest, lasst sie nicht los. Nur wenn wir kämpfen, gewinnen wir unsere Freiheit! Die ganze Bevölkerung von Gjirokastra steht Gewehr bei Fuß.› In argen Schrecken versetzte Mullah Hysen auch den Präfekten von Gjirokastra, der ihm wegen seiner Teilnahme an der Versammlung in Cepo gedroht hatte: ‹Zweitausend Gewehre, Herr Präfekt›, sagte der Mullah ihm, ‹sind bereit die Stadt zu umzingeln, falls Sie unsere Aktivitäten behindern!›» Baba Çen war ein Patriot und ein gebildeter Mensch. Er war Mitglied und Vorstand des Komitees der Vertreter der Rilindja in Gjirokastra und stand in Kontakt mit Bajo Topulli 220 und anderen Teilnehmern des Kongresses von Manastir. 221 Er war einer der Pioniere bei der Eröffnung der Schule «Liria»222 [die Freiheit] in Gjirokastra – der ersten albanischen Schule in der Stadt überhaupt! – und Gründungsmitglied der vaterländischen Gesellschaft «Drita» [das Licht], 223 [S. 90] deren Vorsitzender er dann auch wurde. Er reiste von Dorf zu Dorf und motivierte die Menschen, die Regierung von Vlora zu verteidigen. Alle diese Erinnerungen an längst vergangene Ereignisse aus meiner Jugend erwachten zu neuem Leben, als wir nach Vlora kamen, um das historische Ereignis des Jahrestags der Unabhängigkeitserklärung zu feiern. Wie glücklich war ich, als ich mich unversehens vor der Fotografie der Versammlung in Vlora wiederfand, auf der auch Baba Çen zu sehen war! 60 Jahre vor mir war Baba Çen in Vlora gewesen, ich war damals erst vier Jahre alt. Sein Leben aber und das, was er mich gelehrt hat, prägten mein Bewusstsein und meine Überzeugungen tief. Dank seinen Lehren wuchs ich im Geiste des vollen Einsatzes für mein Vaterland auf. 2 19 Cepo: Siehe S. 110. 220 Bajo und Çerçiz Topulli: Siehe S. 63. 221 Der Kongress von Monastir/Bitola (albanisch: Manastir) vom 14.-22. November 1908 war eine Zusammenkunft albanischer Patrioten und Intellektueller, bei der sich diese u.a. auf ein einheitliches Alphabet für die albanische Schriftsprache einigten. 222 Fußnote im albanischen Original: Die albanische Schule «Liria» (siehe auch S. 296) wurde im September 1908 eröffnet und am 16. März 1913 geschlossen. [Lt. verschiedenen Websites wurde die Schule bereits am 30. März 1908 eröffnet; Anm. d. Ü.] 223 Fußnote im albanischen Original: Die Gesellschaft «Drita» wurde am 18. November 1908 gegründet. Hysen Hoxha wurde 1920 zum Vorsitzenden gewählt, parallel zu seinem Bürgermeisteramt.

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Ich bin stolz auf Baba Çen, diesen einfachen, heldenhaften und patriotischen Menschen. Vlora, 28. November 1972

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[S. 91] Meine

Schulen

Meine erste Schule, wenn ich mich recht erinnere, war der Mejtep,224 wo wir das ABC auf Albanisch, aber auch das arabische Elif Be225 auf Türkisch lernten. Der Mejtep lag bei der Moschee des Stadtteils Palorto; der dortige Hodscha war alt, klein und zerbrechlich und hatte ein winziges Gesichtchen. Von seinen Zähnen waren ihm nur wenige geblieben, und auf seinem Kinn sprossen einige Haare wie bei einem Ziegenböckchen. Die Leute nannten ihn Mullah 226 Kaman; unter uns Kindern aber trug er den Spitznamen Mullah Kaman Ziegenbock. Verließ er die Moschee, so sangen wir: Mullah Kaman Ziegenbock Ist aus dem Hühnerstall gekommen. 227

Diesen beiden Verslein ließen wir ein lautes Geblöke folgen. Dazu fassten wir uns mit einer Hand ans Kinn und steckten in diese den Daumen der anderen Hand, so dass es aussah wie ein Bärtchen. Wenn wir jetzt noch mit beiden Händen rüttelten, [S. 92] vibrierten unsere Stimmen präzise wie beim Geblöke eines Ziegenbocks. Klar, dass wir uns vor dem Mullah versteckten, wenn wir ihm diese Streiche spielten. Er selbst stellte sich manchmal, als ob er uns nicht gehört hätte und sperrte bloß die Tür der Moschee mit einem großen Schlüssel zu. Manchmal aber rief er auch «Habis-ollan»228 – wobei wir keine Ahnung hatten, was das bedeuten sollte. Mullah Kaman hat uns also angeblich das Elif Be beigebracht und auswendig Koranverse rezitieren gelehrt. Erinnern kann ich mich allerdings nur, dass ich das Elif Be gelernt habe; vor allem seine ersten Buchstaben sind mir heute noch präsent. Vom Übrigen ist mir nichts mehr im Gedächtnis geblieben. Anders verhielt es sich mit dem albanischen Alphabet. Unser erster Lehrer war hier ein Vehip Hoxha, Sohn des Kadis Asaf Efendi, 229 eines sehr gebildeten Menschen. Diese Familie wohnte in unserer Nachbarschaft, wir hatten sogar gemeinsame Vor 224 Mejtep: Zur Zeit der osmanischen Besatzung Name der muslimischen Elementarschule, in der auch die Grundlagen des Islam vermittelt wurden (türk. mektep, arab. makteb). 225 Elif Be: Das für die Koranlektüre relevante arabische ABC, nach den ersten zwei Buchstaben Alif und Bā. 226 Zum Titel bzw. zur Anrede Mullah siehe Anm. 198. 227 Hübscher tönt das gereimte Original: Mulla Kaman Keci / Doli nga koteci. – «Kotec» kann auch «Bruchbude» bedeuten. 228 Fußnote im albanischen Original: Aus dem Türkischen – Ihr Schlechten, ihr Bösen. [Ganz korrekt wäre vermutlich «Niederträchtige Buben», «ollan» ist wohl eine Fehlschreibung für «oğlan», Junge; Anm. d. Ü.] 229 Efendi: Im osmanischen Reich Titel für mittlere Beamte mit guter Ausbildung, so wie es der Kadi (Richter) war.

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fahren. Wo Vehip Hoxha Albanisch schreiben und lesen gelernt hatte, entzieht sich meiner Kenntnis, gewiss geschah dies heimlich anhand der ABC-Fibeln aus Istanbul.230 Vehip Hoxha war damals ein sehr fähiger junger Mann, initiativ und dynamisch. Uns etwas beizubringen, war sein großer Wunsch. Später erzählte mir Baba Çen – er war ein Freund, Mitarbeiter und Mitstreiter von Bajo und Çerçiz Topulli 231 und den Teilnehmern des Kongresses von Manastir232 – dass er Vehip eines Tages gerufen und ihm gesagt habe: «Mein Lieber, was vertrödelst du deine Tage und sitzt deinen Eltern nutzlos auf der Tasche? Wieso versammelst du nicht die Kinder unseres Viertels und bringst ihnen bei, wie man auf Albanisch liest und schreibt?» Vehip antwortete ohne zu zögern: «Noch so gerne, wofern du mir die Diele deines Hauses als Schulzimmer überlässt.» Baba Çen entgegnete, dass er einen Raum finden werde, «und zwar in der Moschee.» «Bist du wahnsinnig, Mullah Hysen?», antwortete Vehip. «Auf keinen Fall wird Mullah Kaman seine Moschee für so etwas zur Verfügung stellen! Du willst doch nicht, dass wir uns mit ihm darum prügeln?» «Mach dir da bloß keine Sorgen», beruhigte ihn Baba Çen, «diesen Kampf trage ich alleine aus. Bereite du dich schon mal vor, mach die Einschreibelisten für die Jungen und sag ihren Vätern, sie sollen jedem eine kleine Schiefertafel und einen Griffel zum Schreiben kaufen!». [S. 93] Schon wenige Tage später war alles geregelt. Mullah Kaman überliess uns die Moschee unter der Bedingung, dass wir sie selbst fegten, dass wir die Schuhe im Vorraum auszogen und dass er uns seinerseits das Elif Be beibringen dürfe. Selbstverständlich erhielt Mullah Kaman Ziegenbock die Konzession fürs Elif Be! Die Gebetsteppiche rollte er allerdings aus Angst vor Beschädigungen zusammen, so dass wir auf dem kalten Fußboden arg gefroren hätten. Baba Çen und Vehip besorgten stattdessen Bastmatten und spendierten aus ihrem eigenen Haushalt jedem von uns ein kleines Kissen, das uns anstelle eines Schülerpultes als Unterlage für die Schiefertafel diente. Vehip hatte eine große Wandtafel angefertigt und genau dort aufgestellt, wo sonst Mullah Kaman seine Gebete verrichtete. Das waren die Umstände, unter denen wir mit großem Eifer mit unserem Ele­ mentarunterricht begannen. Unter Vehips Anleitung lernten wir erfolgreich das ABC, bis wir nach einiger Zeit aus der Moschee disloziert wurden. Was für eine Freude für 230 Wichtige frühe albanische Leselehrgänge (Abetare, Fibel) erschienen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Istanbul; Autoren waren Vertreter der albanischen Rilindja (Wiedergeburt, siehe Einleitung, Kap. 11a und S. 135). Die erste Schule mit Albanisch als Unterrichtssprache wurde 1887 in Korça eröffnet. 231 Bajo und Çerçiz Topulli: Siehe S. 63. 232 Zum Kongress von Monastir/Bitola (albanisch: Manastir) siehe Anm. 221.

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uns! Wir würden in die neu eröffnete Schule «Drita», «das Licht», umziehen! 233 Dort würde es keinen Mullah Kaman mehr geben und auch keine Rutenhiebe auf Hände und Beine. Dieser Züchtigung war auch ich nicht entgangen – nicht, weil ich nicht gelernt hätte, sondern wegen eines Streiches, den ich einmal ausgeheckt hatte. Dazu muss man wissen, dass die Moschee außer der Diele unten auch einen Erker oben hatte. Dort lehrte der Mullah, während die einen unten in Albanisch unterrichtet wurden, den anderen Schülern Koransuren auf Arabisch. Eines schönen Tages nun waren wir mit dem Unterricht in der Diele schon früher fertig und verliessen die Moschee. Da sah ich, wie von der Brüstung des Erkers ein Zipfel der Xhybe, des Gewandes des Hodschas, herunterhing. Ich griff mir diesen Zipfel und hängte mich an ihn. Der Hodscha schrie «Habis-ollan, du zerreißt ja mein Gewand! Wer bist du? Wenn ich dich zu fassen kriege, bring ich dich um!» Bloß: Wen sollte er schon zu fassen kriegen? Ich jedenfalls nahm die Beine unter die Arme und rannte davon, so schnell ich konnte. Dennoch wurde er inne, dass ich es war, und am nächsten Tag – obwohl ich mich duckte wie ein Hühnchen, wie ein kreuzbraves Büblein – entging ich meinem Schicksal nicht. Ich erinnere mich an einen Tag, als uns Herr Vehip nach dem Unterricht [S. 94] sagte: «Morgen früh kommt ihr alle mit kurzen Hosen zur Schule; richtet das zu Hause aus. Wenn sie euch dort die Hosenbeine nicht einkürzen, werde ich sie euch mit der Schere abschneiden.» Zum Beweis zog er eine Schere aus der Tasche. Beim Mittagessen sagte ich zur Mutter, sie solle mir die Hosenbeine über dem Knie abschneiden. Mutter schaute mich entgeistert an; sie dachte wohl, ich sei verrückt geworden. «Bist du noch bei Sinnen?», fragte sie. «Was soll denn das? Wer bringt dir solchen Unsinn bei?» «Herr Vehip hat uns das aufgetragen», entgegnete ich. Die Mutter fasste mich bei der Hand und ging mit mir zum Zimmer von Baba Çen. «Hör mal, Mullah», spottete sie, «was Enver da erzählt: Asafs Sohn Vehip soll den Schülern gesagt haben, wir müssten ihnen ihre Hosen kürzen!» Baba Çen geriet in Rage; er erhob sich und schrie: «So ein Schelm! Dem lese ich höchstpersönlich die Leviten!» [S. 95] Und da unsere Häuser unmittelbar nebeneinanderstanden, brauchte er bloß ans Fenster zu gehen. Dort rief er so laut es ging nach Vehip und hieß ihn zu uns zu kommen – was dieser auch umgehend tat. 233 Fußnote im albanischen Original: Die Schule «Drita» wurde am 10. Februar 1917 eröffnet. Zu ihrem 65-jährigen Jubiläum am 10. Februar 1982 schickte Genosse Enver der Direktion der Museen von Gjirokastra einen Brief, in dem er unter anderem schrieb: «Als Sohn dieser Stadt und als Schüler der dortigen Schule gedenke ich mit großem Respekt der Gründer – der begabten, patriotischen und mutigen Lehrer – wie auch der tüchtigen Schüler der Zentralschule «Drita» und anderer Schulen. Sie haben sich, neben dem eigentlichen Unterricht und der Verbreitung von Wissen und Kenntnissen, unter den schwierigen Umständen der italienischen Besatzung unermüdlich und voller Mut für die Entwicklung und Verbreitung der patriotischen und demokratischen Bewegung in unserem Volk eingesetzt.»

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«Menschenskind, ich dachte, du seist ein guter Junge!», schimpfte Baba Çen, «Hast so einen ehrenhaften Vater, aber selbst scheinst du jetzt völlig den Verstand verloren zu haben! Was verlangst du da eigentlich von den Jungen?» «Reformen will ich durchführen, Mullah Hysen», antwortete Vehip. «Hoffentlich verlangst du nicht noch, dass sie den Arsch entblößen! Und überhaupt: Wer hat dir solche Reformen in den Kopf gesetzt?» «Du selbst warst das», entgegnete Vehip, «mit deinen Erzählungen über all die Geschichten, die du liest.» (Baba Çen hatte eine Leidenschaft für die Geschichte der Völker; in dieser Hinsicht sind wir uns sehr ähnlich.) Stolz verkündete Vehip: «Ich bin ein Reformator wie Peter der Große. Wenn ich schon den Hodschas nicht die Bärte stutzen kann, will ich wenigstens den Schuljungen die Hosen stutzen, wie das überall in Europa geschieht. Was ist da Schlimmes dabei?» Baba Çen bebte vor Wut und herrschte Vehip an: «Lass diesen Unfug, du bist ja völlig durchgedreht! Wenn du meinem Jungen die Hosenbeine abschneidest, dann schneide ich dir den Kopf ab!» Und damit blieb es mir erspart, jemals mit kurzen Hosen auszugehen. Vehip allerdings hielt an seinem Entschluss fest und konnte sogar einige Eltern überzeugen. Baba Çen allerdings nicht, auch wenn dieser ansonsten durchaus liberal und demokratisch gesinnt war. Baba Çen ging nie in die Moschee – auch nicht, als er alt wurde und nicht mehr Bürgermeister war, sondern nur noch für den Vakëf 234 arbeitete. Er sprach zu Hause mit uns nie über Religion und Glauben, im Gegensatz zu meinem Vater, der von allen Xha Halil genannt wurde. Dieser ging ab und zu in die Tekke235 am Marktplatz, meistens am Nachmittag und vor allem, um sich dort mit anderen zu unterhalten. Die Frauen in unserem Haushalt hielten den Ramadan ein, woran Baba Çen sie nicht hinderte. Er selbst aß in dieser Zeit jeweils mit uns Kindern. Einmal fragte ich ihn: «Baba Çen, wieso machst du nicht ebenfalls Ramadan?» Worauf er: «Halt den Mund und hör auf mit diesem Geschwätz. Glaub nicht an das, was die Hodschas erzählen; hör besser auf das, was ich dir sage.» So lehrte mich Baba Çen schon in meiner frühen Kindheit, nicht gläubig zu sein. Und trotzdem: Immer, wenn der Ramadan kam, hatte ich Lust, [S. 96] auf das Minarett zu steigen. Wenn nämlich Mullah Kaman am Abend dort hinaufstieg, um die Öllampen anzuzünden und den Gebetsruf, den Ezan, zu singen, nahm er jeweils eines von den Kindern mit, die ihn anbettelten: «Mullah Kaman, nimm mich mit, nimm mich mit!» Wenn wir dann die schwankenden Stufen des Minaretts hinaufkletterten, ging der Hodscha voran und wir, hinter ihm, durften die Flasche mit dem Lampenöl halten. Oben auf dem Balkon angekommen, drehte sich der Hodscha um und warnte uns: «Aufgepasst, dass ihr euch nicht zu weit herauslehnt, und hütet eure Blicke vor 2 34 Vakëf: Siehe S. 115. 235 Tekke: Siehe S. 101, 155.

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dem blinden Ceka, dem Qorri i Cekës!»236 Dabei handelte es sich um einen Mann in mittleren Jahren, der stets weite Kniehosen, die traditionelle Wolljacke und einen wollenen Umhang trug. Er hatte nur ein Auge, deshalb der Übername «Qorri», der Blinde. Er war Hirte und galt als sehr mutig; viele Leute fürchteten sich vor ihm. Die Hodschas mochte er nicht, er war auch nicht gläubig. Sein Haus lag genau unterhalb des Minaretts und wenn wir hinaufstiegen, um die Öllampen anzuzünden, schrie der «Blinde» von unten: «Komm raus, Ziegenbart, hoffentlich fällst du runter und brichst dir den Hals!». Worauf der Hodscha: «Mögest du auch dein zweites Auge verlieren, gottloser Lump, in der tiefsten Hölle sollst du schmoren!» Und so ging es mit Beschimpfungen weiter – hinauf und hinunter, hinunter und hinauf. Das Öl goss der Hodscha selbst und sehr vorsichtig in die Öllampen, die wir ihm hochreichen mussten. Dazu hockte er sich hin, während wir um ihn herumstanden. Unten war immer noch der «Blinde», der das Wortgefecht gerne fortführen wollte und mich mit Handzeichen aufforderte, den Hodscha aufmerksam zu machen. «Hodscha Efendi», sagte ich, «der Qorri i Cekës will dich sprechen.» «Achte nicht auf diesen Teufel, ich hab’s dir doch gesagt!» Aber schon wieder machte der «Blinde» Zeichen und ich wandte mich neuerlich an den Hodscha: «Hodscha Efendi, der Qorri i Cekës beleidigt dich!» Und so ging das weiter, bis wir vom Minarett herabstiegen. So beschimpfte das «Volk» unten den «Gott» oben. Ob während der griechischen Besatzung durch Venizelos, Zographos und andere237 griechische Schulen eröffnet wurden, weiß ich nicht mehr, da ich damals noch sehr jung war. Nur verschwommen erinnere ich mich an die griechischen Offiziere, die mit ihren Degen durch unsere Straße promenierten. In Erinnerung ist mir auch, wie unter unseren Fenstern bedürftige Christen aus dem Stadtteil Varosh herumstanden: Maurer, Gemüseverkäufer, Metzger, Straßenkehrer, alles Freunde von Baba Çen, die er gegen die Agas, die Großgrundbesitzer von Gjirokastra, verteidigte. Sie riefen ihm zu: [S. 97] «Mullah Hysen, hab keine Angst vor den Griechen, du hast ja uns!» Baba Çen trat ans Fenster und antwortete ihnen: «Habt Dank, aber geht jetzt zur Arbeit; ich fürchte mich nicht!» Als er eines Tages ausging, folgte ich ihm und zupfte ihn am Mantel: «Baba, die Mutter meint, du sollst nicht ausgehen, weil dich die Griechen sonst umbringen!»

2 36 Das Geschlecht Ceka gehört zu den alteingesessenen Familien von Gjirokastra. 237 Gjirokastra wurde am 15. März 1913 von Vertretern der griechischen Minderheit besetzt, die dort die Autonome Republik Nordepirus (mit Gjirokastra als Hauptstadt und Georgios ChristakisZographos als Ministerpräsidenten) ausriefen und den Anschluss an Griechenland proklamierten. Eleftherios Venizelos war von 1910–1920 und von 1928–1932 griechischer Ministerpräsident.

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Klarere Erinnerungen habe ich an die Zeit, als die Griechen aus Gjirokastra abgezogen waren und wir von der italienischen Armee besetzt wurden.238 Aus dieser Periode sind mir einige Ereignisse im Gedächtnis geblieben. Im ganzen Lande, und so auch in Gjirokastra, herrschte großer Hunger. Darunter litten wie alle anderen auch die Angehörigen unserer Familie. In seiner Funktion als Bürgermeister ging Baba Çen eines Tages an der Spitze einer Menschengruppe zum italienischen Kommando und forderte, dass wenigstens für die Schulkinder täglich ein paar Säcke Mehl herausgegeben würden. So könnte man jeden Morgen vor Schulbeginn allen Schülern ein Stück Brot verteilen. Zu dieser Zeit grassierte auch die Malaria, weshalb Baba Çen die Italiener auch um zwei Chinintabletten pro Kind und Tag bat, die dann zusammen mit dem Brot abgegeben würden. Und tatsächlich erinnere ich mich daran, dass der alte Schuldiener Vehip Shameti mit seinem Umhang und seiner Pumphose täglich eine Beige dünner, langer Brotschnitten vorbereitete, von denen wir vor Schulbeginn je eine bekamen, zusammen mit zwei Chinintabletten. Wenn der Hunger übermächtig wurde und uns zu sehr plagte, gingen wir, die Schultasche unter dem Arm, statt nach Hause an jenen Ort, wo die italienischen Soldaten ihre Maultiere hatten. Dort bettelten wir «pocco çiçibun, pocco çiçibun»239 und bekamen dann manchmal wirklich eine Handvoll wurmstichiger Schoten und getrocknete, vergammelte Saubohnen, die sie sonst den Maultieren verfütterten. Für uns war das ein «leckeres» Essen, denn die Johannisbrotfrüchte waren süß. Noch eine Reminiszenz an die Besatzung. In den Schulen begannen die Italiener, ihre Sprache einzubringen. Ich erinnere mich, dass der Lehrer, der uns Kleine unterrichtete, ein Offizier war, den wir «Signor Xhenko», Herrn Cenko, nannten. Eines Tages gab mir Signor Xhenko – gewiss, weil ich [S. 98] nicht gut gelernt hatte – eine ungenügende Note. Dazu riss er mich so stark an den Ohren, dass ich zu weinen begann – teils wegen des Schmerzes, teils aus Angst, dass ich wegen der schlechten Note zu Hause ausgeschimpft würde. Aber ich kam gut davon, denn Baba Çen empörte sich sehr über Signor Xhenko, ging in die Schule und sagte ihm alle Schande, dass er mir fast die Ohren ausgerissen hatte. Eine dritte Erinnerung. Einmal rutschte Baba Çen aus und brach sich ein Bein. Es kamen Männer zur Hilfe, fassten ihn unter den Armen und brachten ihn ins italienische Militärspital. Dieses befand sich beim Gebäude des Mejteps (so nannten wir die Elementarschule damals; später wurde daraus das Lyzeum und heute ist dort das Gymnasium «Asim Zeneli»). Im Militärspital legten sie Baba Çen einen Gips an und er musste eine lange Zeit dortbleiben. Sein Bett stand am Fenster, das auf die Straße 238 Gemeint ist nicht die Besatzung durch das faschistische Italien 1939, sondern die Zeit von 1916– 1918, während derer Albanien von fremden Mächten besetzt war (in Südalbanien waren dies vor allem italienische Truppen). 239 Schoten bzw. Früchte des Johannisbrotbaums, die auch als Tierfutter Verwendung fanden, siehe S. 115.

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zur Backstube ging. Die Männer, die dort vorbeikamen, riefen hinauf: «Xha Hysen, wie geht’s?» «Gut», antwortete er, «was gibt’s Neues?» Und schon begann die Unterhaltung. Vom Fenster aus erteilte er auch Anweisungen, da er ja der Bürgermeister war. Und ebenfalls aus dem Fenster wurden wir mit Kommissbrot beglückt: Weil Baba Çen wusste, dass wir wenig Brot hatten und Hunger litten, sparte er seine Ration im Spital auf und aß sie nicht selbst. Wenn nun wir – ich, meine Schwester Sano und meine Cousine Bale – am Abend vorbeikamen, riefen wir von der Straße her: «Baba Çen, Baba Çen!». Worauf er das Fenster öffnete und uns Brotstücke oder einen Zwieback herunterwarf, die er beiseitegelegt hatte. Die sammelten wir ein, rannten nach Hause und teilten sie dort miteinander. Bisweilen gab es auch Streit, wem das größte Stück zustehe. Selbstverständlich erhob ich den Anspruch darauf, weil ich ja ein Junge und erst noch der größte von uns dreien war. Zur Schule ging ich regelmäßig und fehlte kein einziges Mal. Im Winter gab mir die Mutter Trahana 240 mit einer Zwiebel mit und goss darüber etwas Salzlake aus dem Käsefass. In dieser Salzlake schwammen kleine Käsestücke, was die Trahana sehr schmackhaft machte. Manchmal drückte sie mir auch ein Stück Fladenbrot aus Maismehl und ein Stück Käse in die Hand, das aß ich dann auf dem Schulweg. Als die Zeit der Krise und des Hungers anbrach, sagte sie dazu immer: «Iss es schnell oder versteck es gut, denn leider gibt es genug andere, die gar nichts haben.» [S. 99] Meine Hausaufgaben erledigte ich immer sorgfältig und erhielt auch gute Noten dafür. Manchmal brachte mir Baba Çen zu meiner großen Freude grün oder rot lackierte Bleistifte mit, die ich dann mit dem Brotmesser anspitzte. Schlimm war bloß, wenn die Spitze abbrach, weil der Stift dadurch kleiner wurde. Die Hausaufgaben erledigten wir damals entweder an der Fensterbank, bäuchlings auf dem Boden oder auf einer Liege. In dieser Position lasen und schrieben wir. Die Hefte nähte uns anfangs die Mutter mit der Nadel zusammen; später gab es dann in den Läden eigentliche Schulhefte zu kaufen. Bücher waren eine Seltenheit bei uns; entsprechend trugen wir ihnen Sorge. Ich kann mich erinnern, dass die ABC-Fibeln in lateinischer Schrift gedruckt waren, aber viele Buchstaben sahen damals nicht so aus wie die heutigen. Lesebücher gab es nur wenige und ich weiß auch nicht, wo sie gedruckt wurden, aber sobald wir eines gekauft hatten balgten wir uns um darum. Bücher wie dasjenige mit den Gedichten von Naim Frashëri, 241 die ich so gerne mochte, oder «Baba Tomorri» von Andon Z. Çajupi 242 und ein paar andere trieb anfangs Baba Çen – ich weiß nicht wo – für mich auf. Ich weiß 2 40 Trahana: Siehe Anm. 211. 241 Naim Frashëri (1846–1900): Bedeutendster Schriftsteller der albanischen Rilindja (Wiedergeburt), verfasste Gedichte (z. B. den Band «Luletë e verës», Frühlingsblumen, Bukarest 1890), historische Schriften, Schul- und Lehrbücher. 242 «Baba Tomorri» (Vater Tomorr) von Andon Zako Çajupi (1866–1930) ist eine 1902 erschienene Gedichtsammlung mit patriotischem Charakter und ein wichtiges Werk der albanischen Rilindja.

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nur noch, dass sie in Sofia oder Bukarest erschienen waren, oder, wie es bei einigen anderen am Schluss vermerkt war, in Istanbul oder in einer «Shtypshkronja Mbrodhësia».243 Später erhielten wir aus Amerika einige Bücher, die von der Vereinigung «Vatra»244 herausgegeben wurden: Literarische Texte, gebunden und mit einem hellbraunen Umschlag versehen. Viele davon enthielten Übersetzungen aus der Feder von Fan Noli, 245 aber auch ein Buch mit Gedichten von Ramiz Harxhi 246 gehörte dazu, in dem der Dichter schmerzerfüllt die ferne Heimat, die gefährdete Freiheit, die Flagge und sein Haus beklagt. Ihm gegenüber empfand ich ganz besondere Liebe und Hochachtung, weil er einen natürlichen, einfachen Stil pflegte und im Dialekt von Gjirokastra schrieb. Einmal fragte mich mein Vater, was ich da lese, und ich bat ihn, mir von Ramiz Harxhi zu erzählen. «Ramiz ist ein ehrenwerter Mensch, ein Demokrat, der auf der Seite von Hysen, Bajo, Çerçiz, Hasan 247 und anderen stand», berichtete mein Vater, und mein Respekt für diesen Dichter nahm noch zu. An all dies erinnere ich mich noch gut; auch dass ich sehr bewegt war, wenn ich Bücher mit patriotischem Inhalt las. Später erhielten wir dann außer den Gedichten noch andere Bücher von Naim Frashëri, darunter vor allem den Band [S. 100] «Albanien, was es war, was es ist und was es sein wird.»248 In Erinnerung ist mir auch das Buch «Erveheja», 249 das ich sogar auswendig (oder hezber, 250 wie man damals sagte) gelernt hatte. Ich liebte die Bücher außerordentlich und las sie leidenschaftlich. Jedes neue Buch verschlang ich umgehend. In der Schule hatte ich besondere Freude am Fach Sprache und am Aufsatzschreiben; hierin war ich auch sehr erfolgreich. Aber auch in den anderen Fächern blieb ich nicht zurück. Baba Çen stellte mir die Aufgabe, die Kosten für das tägliche Frühstück zu berechnen. Das war seine Art, mich beim Lernen zu unterstützen und zu sehen, was ich in der Schule eigentlich trieb.

2 43 Gemeint ist die Druckerei «Mbrodhësia» in Sofia. 244 «Vatra» (Herdfeuer) ist eine noch heute bestehende patriotische Vereinigung albanischer Emigranten in den USA, 1912 von Faik Konica und Fan Noli gegründet. 245 Fan Noli (1882–1935): Bedeutender albanischer Staatsmann, Dichter und Übersetzer. 246 Fußnote im albanischen Original: Das Buch «Gefühle des Herzens», Gedichte. Gedruckt in der Druckerei «Dielli» [Die Sonne], Boston, März 1917. [Ramiz Harxhi, Dichter aus Gjirokastra, lebte von 1892–1966; Anm. d. Ü.] 247 Bajo, Çerçiz, Hasan: Wichtige Persönlichkeiten des albanischen Befreiungskampfes gegen die Osmanen. Zu Hysen Hoxha siehe S. 109, zu Bajo und Çerçiz Topulli S. 63 und zu Hasan Xhiku S. 149. 248 Shqipëria ç’ka qënë, ç’është e ç’do të bëhëtë (Bukarest 1899); zentrales Dokument der albanischen Rilindja. 249 Fußnote im albanischen Original: Verfasst von Muhamet Çami. [Erveheja (Frauenname) von Muhamet Kyçyku-Çami (1784–1844) ist ein romantisch-moralisches Gedicht über ein Frauenschicksal, in überarbeiteter Form 1888 in Bukarest veröffentlicht; Anm. d. Ü.] 250 Vgl. Türkisch ezbere = auswendig.

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Einmal bekamen wir ein Lesebuch, das auch ein schönes Gedicht von einem Shefqet Bajo aus Gjirokastra 251 enthielt. Ich hatte es sogar auswendig gelernt und war damals so beeindruckt, dass ich mich heute noch an diese Verse erinnere: Du, beklagenswerte Adria, Warum machst du nun keine Wellen, Wellen, Wogen und Stürme? Sie haben dir doch Vlora besetzt, Vlora und Karaburun. Vlora und Karaburun sind meine Heimat, Italien kann sie nicht behalten. 252

Das patriotische Bewusstsein der Leute von Gjirokastra war stark und feurig. Wie im Traum erinnere ich mich noch an Ansammlungen von Männern mit wollenen Umhängen, die singend und schreiend die Straßen vom Marktplatz zur Burg hinaufschritten. Etwas unterhalb befand sich dort im Haus von Pasha Kauri das griechische Konsulat. Diese Demonstration fand offensichtlich zur Zeit der griechischen Besatzung statt. Später – und daran erinnere ich mich besser, weil ich schon etwas älter war – fand eine große Zusammenkunft der Männer auf der Burg statt, bei der die albanische Flagge gehisst wurde. Wir Schuljungen gingen in einer Kolonne dorthin. Dieser Tag war ein Feiertag für uns – ganz besonders für mich, denn während dreier Tage hatte meine Mutter eine Fahne für mich genäht. [S. 101] Sie bestand aus zwei langen Stücken Satinstoff, schwarz und rot, die sie zusammengenäht hatte und in deren Mitte sie mir einen Adler stickte. Mutter war sehr geschickt im Verzieren von Hemden und Westen mit schönen Stickereien. Die Fahne, die sie damals fertigte, band sie mir in der Art einer Schärpe um, wie man heute sagen würde. Selbstverständlich war ich enorm stolz, und der Lehrer wies mir an der Manifestation einen Platz in der vordersten Reihe zu. In Erinnerung ist mir auch ein anderes, sogar noch wichtigeres Ereignis. Es fand später statt, als ich schon etwas größer war. Damals brachen die Freiwilligen von Gjirokastra in den Krieg um Vlora gegen die Italiener auf. 253 Tausende von Männern, Kindern und auch einige alte Mütter versammelten sich, Gruppen von Bewaffneten mit Gewehren und Patronengurten, mit wollenen Umhängen und ärmellosen Män2 51 Zuverläßige Angaben zu diesem Dichter waren nicht zu beschaffen. 252 Im Original: Ti, Adriatik i mjerë / Pse s’bën valë këtë herë, / Valë, dallgë e furtunë, / Se ti Vlorenë ta zunë, / Vlorën e Karaburunë, / Vlora dhe Karaburuni / Janë vatanet e mia / S’na i mban dot Italia. Das Gedicht spielt auf die italienische Okkupation der südalbanischen Stadt Vlora und der Halbinsel Karaburun im Südwesten von Vlora in der Zeit von Dezember 1914–1920 an. 253 Zum Krieg um Vlora siehe S. 118.

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teln, mit dem weißen Fes oder der schwarzen Kappe auf dem Kopf, mit Sandalen oder Opanken an den Füßen, ein jeder mit einer Umhängetasche: So brach die Menge vom Marktplatz auf, stieg zur Kirche von Varosh hinab und zum Hügel der Tekke von Baba Mane hinauf, wie das damals hieß. Wir Kinder hielten Fahnen in den Händen und sangen patriotische Lieder. Auf dem Hügel gab es eine Versammlung, dann folgte der Abschied mit Küssen und Umarmungen, und schließlich brachen die Freiwilligen auf die andere Seite des Hügels, in Richtung Viroi, auf. Es waren Hunderte, und sie bildeten eine lange Menschenschlange. Vom Hügel her riefen wir  – ebenfalls eine große Menge – ihnen zu und schwenkten unsere Mützen und Taschentücher. Bei mir und meinen Freunden hinterließ dieser Tag einen tiefen Eindruck, und die Bedeutung des Gedichts, das ich oben zitiert habe, wurde uns nun noch viel klarer. [S. 102] Als der Krieg um Vlora beendet war, kehrten die Kämpfer zurück. Einige kamen zu uns nach Hause, diskutierten mit den Alten und wir Kinder spitzten die Ohren. Ich erinnere mich nur noch, wie sie berichteten «Von der Burg (es muss die Burg von Kanina gewesen sein) brüllten die Kanonen und Maschinengewehre, und als das losging, riefen wir ‹Niederkauern, sonst sieht dich die Burg!› Und als sie uns erst noch Licht in den Schützengraben schickten, wurde es taghell.» (Damit waren wohl die Scheinwerfer gemeint.) Unsere Lehrer während der Kinderjahre waren Thoma Papapano, 254 Iljaz Hoxha, Xhafo Poshi, Rexho Muçi, Hysni Babameto, Arshi Bej, 255 Sadik Çelo und andere. Wir liebten unsere Lehrer sehr, eben so groß war unser Respekt vor ihnen. Manche sprachen wir mit «Herr Lehrer» an, andere mit «Herr Thoma», «Xha Iljaz» oder «Xha Rexho». Herr Thoma, der uns so wunderbar Albanisch beibrachte, war ein fröhlicher, liebenswerter Mensch von aufrechtem Wuchs und mit schwarzen Augenbrauen. Auf ihn hatten wir das folgende Liedchen gedichtet: «Der Thoma, ein scharfsinniger Mann / nahm die Fahne in die Hand …».

Xha Iljaz hingegen war ein strenger Lehrer; er zog uns die Ohren lang, wenn wir im Schulzimmer laut waren oder uns auf den Korridoren stritten. Xha Iljaz war es auch, der mir meinen Namen gegeben hatte, als ich geboren wurde. Und zwar hatten ihn, wie meine Mutter mir erzählte, die Alten gerufen und ihm aufgetragen, einen Namen für mich zu finden. Er besprach sich mit ihnen und gemeinsam wählten sie den Namen Enver. «Iljaz hat dir den Namen ins Ohr gesprochen, anschließend haben wir ihn zum Essen eingeladen», berichtete Mutter. 2 54 Vgl. zu diesen Lehrern den Folgetext, ferner zu Thoma Papapano S. 100, 117, 135, 296 ff., zu Iljaz Hoxha S. 116, zu Xhafo Poshi S. 118 und 160, zu Hysni Babameto S. 137, 139, 146, 198; vgl. auch Kokalari, Kujtime 1, S. 27 ff. 255 Gemeint ist Arshi Çabeu, siehe S.  165 f., 213.

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Xha Iljaz ist inzwischen in hohem Alter verstorben; 256 sein ganzes Leben lang hat er als Lehrer gearbeitet. Als ich einmal, noch vor seinem Tod, nach Gjirokastra fuhr, besuchte ich ihn in seinem Haus und sah, dass er alt geworden war. Ich unterhielt mich mit ihm über alles Mögliche. Er war ein großer Bewunderer der Partei. «Ach Enver», sagte er, «was für Wunder hat die Partei vollbracht; wie sehr hat sie das Angesicht Albaniens verändert. Überall gibt es jetzt Schulen und gebildete Menschen. Was für eine Freude für mich, wenn ich meinen ehemaligen Schülern begegne, die jetzt das Land regieren.» Und während er dies sagte, erhob sich mein alter Lehrer, öffnete den Schrank und gab mir eine Quitte. «Nimm die und steck sie in deine Tasche – wie früher, als ich dir ab und zu auch eine schenkte.» [S. 103] Wir gingen zusammen aus dem Haus, ich bot ihm meinen Arm und so gingen wir die Gasse hinauf. Hinter uns folgte uns eine Kinderschar, so wie wir in meiner Kindheit den Lehrern gefolgt waren. «Gehen wir zum Shesh i Xhepit, 257 Xha Iljaz», sagte ich, «ich habe großes Heimweh nach den Orten, wo ich als Kind gespielt habe.» «Gehen wir, Enver», antwortete er, «Auch ich habe meine Erinnerungen. An diesem Platz habe ich ja lange vor dir gespielt, zusammen mit Halil und Hysen.»258 Auf dem Platz wurden wir fotografiert; ich bewahre das Bild immer noch in meinem Erinnerungsalbum auf. Meinem alten Lehrer Xha Iljaz schickte ich einen vergrößerten und farbigen Abzug. Wenige Monate, nachdem ich ihn getroffen hatte, erhielt ich ein Telegramm aus Gjirokastra mit der Nachricht, dass Xha Iljaz gestorben war. 259 Diese Botschaft stimmte mich sehr traurig, hat Iljaz doch viel zu meiner Erziehung und Bildung in jungen Jahren beigetragen. Ihm wie auch Thoma, Xhafo und all meinen anderen alten Lehrern gegenüber bin ich voller Dankbarkeit. Was haben diese Pioniere unseres eben erst geschaffenen Schulsystems in ihrem Leben nicht gelitten, um uns zu unterrichten! Unerachtet ihrer misslichen Lebensumstände waren sie inspiriert und begeistert von ihrer hohen Mission, die sie aufs ehrenvollste erfüllten. Einige von ihnen leben als heitere und in unserem sozialistischen Regime geachtete Rentner noch heute. Andere

2 56 Iljaz Hoxha lebte von 1878–1960. 257 Der Shesh i Xhepit (wörtlich «Taschenplatz», möglicherweise aber auch «Platz der Familie Xhepi») war der bevorzugte Spielplatz von Enver Hoxha, siehe v. a. S. 155, 170, 231. 258 Halil und Hysen: Der Vater und der Onkel von Enver Hoxha. 259 Fußnote im albanischen Original: Zu diesem Anlass schickte Genosse Enver Hoxha der Frau seines ehemaligen Lehrers am 25. März 1960 ein Kondolenztelegramm, in dem er schreibt: «Mit großer Trauer erfahre ich vom Tod Ihres Mannes und meines Lehrers und lieben Freundes Xha Iljaz. Ich umarme Sie wie eine Mutter und komme, um Ihnen meine Anteilnahme und jene von Gjulo [Enver Hoxhas Mutter, Anm. d. Ü.] auszudrücken. Alles Gute Ihnen und allen Ihren Kindern. Der liebe Xha Iljaz wird unvergesslich sein für uns, die wir ihm nahestanden und für das Volk von Gjirokastra, dem er sein ganzes Leben lang in einer wichtigen Sache gedient hat.»

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sind nach der Befreiung gestorben, manche auch schon früher, zur Zeit des Regimes von Zogu. 260 Die Geschichte meines Lehrers Rexho Muçi kannte ich zwar schon aus Erzählungen. Als ich ihn aber später in Gjirokastra persönlich traf, fasste ich ihn am Arm und sagte ihm: «Xha Rexho, erzähle mir nochmals, wie du es diesem Bürgermeister von Gjirokastra, Sami Kokalari, besorgt hast!» [S. 104] «Lass diese alten Geschichten, Genosse Enver!», sagte Xha Rexho – und begann zu erzählen. In Klammern muss ich vorausschicken, dass Sami Kokalari ein massiger Mann war, korpulent und groß gewachsen, der einen von oben herab anschaute. Die Leute nannten ihn «Kane Petrili».261 Sami war der Gutsverwalter der Bejs von Libohova, er zählte zur Gefolgschaft von Myfi Bej Libohova.262 Dieser hatte ihn auch zum Bürgermeister von Gjirokastra gemacht, nachdem der gewählte Bürgermeister, Bajo Topulli, gestorben war. Sami Kokalari war ebenso aufgeblasen wie dumm. Besondere Freude hatte er an Lobhudeleien. Das Volk mochte ihn nicht, aber wen kümmerte unter dem Regime von Ahmet Zogu schon das Volk! Doch kehren wir zur Erzählung von Rexho Muçi zurück! «Als Lehrer», begann er, «erhielt ich meinen Lohn von der Stadtverwaltung, aber wie du ja selbst weißt, taugte die Regierung unter Zogu nicht viel. Zogu und seine Minister, z. B. Fejzi Bej, 263 stahlen mit beiden Händen, während wir Lehrer und alle anderen nicht einmal das tägliche Brot hatten. Sieben, acht Monate nacheinander wurde uns kein Lohn ausbezahlt, indes unsere Kinder uns um Nahrung anbettelten. Sooft ich Sami Kokalari begegnete, forderte ich ihn deshalb auf, mir die Gehälter auszubezahlen, die mir zustanden. Aber der Bürgermeister entgegnete bloß: ‹Wir haben kein Geld, Herr Rexho, aber wenn wir welches haben, ach, dann kriegst auch du etwas!› ‹Mein bester Herr Sami›, entgegnete ich ihm, ‹Sie selbst haben doch ein stattliches Gehalt und kriegen es Monat für Monat ausbezahlt. Wieso hat es offensichtlich Geld für Ihre Herrlichkeit, nicht aber für mich?› ‹Was denn; sind wir etwa gleichgestellt?›, erwiderte Sami, ‹Haben wir etwa zusammen Schweine gehütet? Das wäre ja noch schöner, wer würde sich da noch aus-

260 Vgl. den historischen Überblick, Einleitung Kap. 11. 261 Die Bedeutung des Übernamens ist unklar. Lt. Auskunft einer Gewährsperson in Gjirokastra war «Kane» offenbar ein in der griechisch-orthodoxen Bevölkerung verwendeter Name. 262 Myfi (oder Myfid) Bej Libohova (1876–1927): Albanischer Staatsmann und zwischen 1912 und 1925 Leiter verschiedener Ministerien. Lt. Fevziu (2016, S. 14 und 18) Wohltäter der Familie Hoxha, dem Enver Hoxha seine Stipendien für den Besuch des Lyzeums in Korça und die Studien in Frankreich verdankt, vgl. hierzu oben in der Einleitung, Kap. 11b, die abenteuerliche Variante von Baruti (2013, S. 40–43). – Zum Titel Bej siehe Anm. 109. 263 Fejzi Bej Alizoti: Siehe S. 152.

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kennen! Verzieh dich jetzt, Rexho, und komm mir nie wieder unter die Augen. Du gehst mir echt auf die Nerven, und wenn das nicht aufhört, werde ich dich entlassen.›» «Künftig kam ich nicht mehr über die Schwelle des Rathauses», fuhr Rexho fort, «weil der Herr Sami so wütend auf mich war, dass er dem wachhabenden Gendarmen verboten hatte mich einzulassen, wenn ich wieder vorbeikäme. Eines Tages ging ich verdrossen in den Laden von Murat Toto, um dort einen Raki zu trinken. ‹Was ist denn los, Rexho›, fragte mich Nexhmo Hoxha, ‹warum bist du so trübsinnig?› Ich erzählte Nexhmo von meinen Sorgen, worauf dieser antwortete. ‹Niemals wirst du deinen Lohn bekommen, wenn du nicht tust, was ich dir jetzt sage.› ‹Was soll ich denn tun, oh Nexhmo?› ‹Hör zu›, fuhr er fort, ‹Geh in das Café der Stadtverwaltung [S. 105], wo sich Sami Karagjozi 264 mit seinen Spießgesellen trifft. Die sind mit Sami Kokalari wie Hund und Katze, weil sie ihn als Bürgermeister loswerden wollen. Wenn es dort richtig viel Leute hat, dann lege los und preise Sami Kokalari so laut du kannst, greife Sami Karagjozi an und wirf dich für Sami Kokalari in die Bresche. Wenn du hierauf deinen Lohn nicht bekommst: Wohlan, dann will ich ihn dir aus der eigenen Tasche bezahlen!›» «Und so machte ich es denn auch», fuhr Rexho fort. «Ich befolgte den Rat von Nexhmo, ging in das Café, stritt mich mit Sami Karagjozi und pries Sami Kokalari in höchsten Tönen. Da ich sicher war, dass dem Herrn Bürgermeister mein verdienstvoller Einsatz umgehend zugetragen worden war, bezog ich am nächsten Morgen gut sichtbar Stellung an der Qafa e Pazarit beim Marktplatz. Wenn er dort vorbeikam, musste er mich zwangsläufig bemerken. Tatsächlich ging es nicht lange, bis «Kane Petrili» eintraf – wie immer hocherho­­ benen Hauptes und mit dem Regenschirm am Arm. Er sah mich aus einem Augenwinkel und sagte: ‹Herr Rexho, komm mal rasch in mein Büro; ich habe mit dir was zu besprechen.› ‹Wie Sie befehlen›, entgegnete ich. Ich ging hin und hatte zunächst Probleme mit dem Gendarmen, der sich an seinen Befehl hielt. Schließlich schaffte ich es, ins Büro des Bürgermeisters zu kommen. Er bot mir eine Zigarette an und sagte: ‹Du, Rexho, bist ein ehrenwerter und leidgeprüfter Mann. Ich ließ dich kommen, damit wir dir die ausstehenden Gehälter geben; du hast ja schließlich Kinder.› Er klingelte, worauf der Kassier, Qemal Kokalari, eintrat und die Anweisung erhielt: ‹Gib Rexho seine Gehälter›. Qemal sperrte die Augen auf: ‹Wirklich alle, Herr Bürgermeister?› ‹Alle›, erwiderte Sami. Als ich in Qemals Büro kam, um das Geld in Empfang zu nehmen, fragte dieser, aufs Höchste erstaunt: ‹Mensch, Rexho, wie hast du das denn geschafft?› Ich steckte das Geld ein und flüsterte Qemal ins Ohr: ‹Frag Nexhmo Hoxha, aber verrate niemandem etwas, sonst sieht es schlecht aus mit den künftigen Löhnen!›» Das war die Geschichte von Rexho. Er fuhr fort zu erzählen: 264 Sami Karagjozi: Vertreter der Klasse der Großgrundbesitzer, siehe S. 162, 293.

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«Du kennst ja die Teufelskerle aus der Sippe der Skëndulis, 265 den Spaßvogel Mullah Nustret Hoxha, Tahir und die anderen. Eines Tages beschlossen sie, es dem Sami [Kokalari] zu besorgen. Sie warteten, bis er aus seinem Haus trat (er wohnte ganz in ihrer Nähe) und legten dann rasch mitten auf die Straße eine Geldbörse, [S. 106] die sie mit getrockneter Sch…e gefüllt hatten. Nun linsten sie durch die Löcher des Fensterladens, um zu sehen, was Sami wohl tun würde. Er kam zum besagten Ort, erblickte die Börse, schaute sich um, ob niemand ihn beobachte, bückte sich, packte die Börse und steckte sie ein. Hierauf setzte er seinen Weg ins Büro fort, erhobenen Hauptes wie immer, aber diesmal mit fröhlicherer Miene, hatte er doch auf der Straße einen vermeintlichen Schatz gefunden. Sicher konnte er es kaum erwarten, sich im Büro zu verkriechen und die geheimnisvolle Brieftasche zu untersuchen!» Das war eine weitere gepfefferte Geschichte über den Bürgermeister, die mir Rexho erzählte – womit er gleichzeitig seinen Hass auf die die Anhänger von Ahmet Zogu und sein Regime zum Ausdruck brachte. Die Schulhäuser, in denen ich in Gjirokastra zur Schule ging, lagen an unterschiedlichen Orten. Im Stadtteil Palorto gab es eine Schule in der Nähe des alten Mejtep; sie wurde später das französische Lyzeum der Stadt. Dabei handelt es sich um ein altes, einstöckiges Haus mit einem Windfang unten, wo wir uns zusammendrängten, wenn es regnete. Dieses Gebäude besteht noch immer; es liegt unmittelbar an der Straße. Seine Fenster waren mit gewundenen Eisenstäben vergittert, die Unterrichtsräume waren klein und kalt im Winter. Aber für uns war die Schule der allerschönste Ort; wir liebten jeden ihrer Winkel, bis hin zur kleinen Grube am Fuß der Schulhausmauer auf der Straßenseite. Wenn wir Pause hatten, verschwanden wir in den Gassen rund um die Schule. Es gab ja kein WC, so dass wir unser Wasser an den Gartenmauern der Familien Dalipi oder Kokalari abschlugen. Für das «größere Geschäft» gingen wir etwas weiter und erledigten es in den Trümmern auf dem Land von Rustem Bej, dem Ordnungschef des Rathauses, einem degradierten Major oder Bimbash aus der Zeit der türkischen Besatzung. Ein anderes Schulgebäude war das Haus der Babathana, wie wir es nannten. Dies war ein altes, großes Haus, zweistöckig, im typischen Stil von Gjirokastra. Dorthin gingen wir, glaube ich, als die «Stadtschule», die Shkolla qytetëse, ihren Betrieb aufnahm.266 Dieses Schulhaus hatte geräumige Klassenzimmer und große Fenster. Umgeben war es von Gärten mit Pflaumenbäumen, an denen natürlich nie eine Pflaume hängen blieb. Nicht nur, dass wir die Früchte unreif abrissen, oft ließen wir sie nicht einmal richtig auswachsen. Diese Schule lag oberhalb der Moschee des Stadtteils Palorto. Der Garten unten an der Schule war sehr groß, dort spielten wir in der Pause. In 2 65 Skënduli/Skëndulatë: Angesehene Familie in Gjirokastra; ihr ehemaliges Haus (siehe S.  95 f.) zählt zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. 266 Zur «Stadtschule» (shkolla qytetëse) siehe S.  136 f.

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ihm stand auch das Haus von Xha Saliko, einem alten Mann. Eines Tages wurde unser Spiel von lautem Wehklagen unterbrochen: [S. 107] Es war die bittere Nachricht, dass die Frau des armen Xha Saliko gestorben war, der nun jämmerlich weinte und heulte. Zu den Schülern im Babathano-Schulhaus gehörte auch einer, den man Zamo nannte. Er war ziemlich schwer von Begriff und näselte. Er war in derselben Klasse wie ich und saß zusammen mit einem Jungen aus der Familie Xheneti stets in der hintersten Bankreihe, dies in der Hoffnung, dass er dort unbemerkt bleibe und ihn der Lehrer nicht aufrufe. Eines Tages verschwand Zamo dann ganz aus der Schule; der Vater ließ ihn nun Kühe hüten. Ich erinnere mich, dass es vorne beim Windfang der Schule, gegenüber der Schwengelpumpe, einen kleinen Raum mit einer Art Bank ringsherum gab. Diese Bank hatte Löcher, in welche die Hühner ihre Eier legten. Wenn die Glocke läutete, wetteiferten wir, wer als Erster dort war. Der Schuldiener, Xha Vehip, fragte uns dann: «Habt ihr ein Ei gefunden?» Eines Tages aber fand Xha Vehip statt eines Eis ganz etwas anderes – etwas, das … übel stank. Bald stellte sich heraus, dass der Verursacher unser Dummkopf Zamo war. Von da an wurden die Löcher mit Steinen und Planken zugesperrt – und Zamo änderte seinen Beruf vom Schüler zum Kuhhirten. Ein anderes Schulgebäude war der «Klub», wie man damals sagte. Es lag auf einem Hügelchen inmitten des Marktplatzes, hinter dem alten Rathaus und gegenüber dem Stadtteil Varosh. Von dort her hatte man eine wundervolle Aussicht auf ganz Palorto, den Felsen von Kuculla und den Hügel der Tekke. Was für ein großartiges Panorama! Der Schulhof in der Mitte der Anlage war teilweise mit Platten belegt, zwischen denen das Gras hervorspross, und gegen den Steilhang in Richtung Varosh war er mit einem Holzgeländer gesichert. Dies war der Ort, wo wir im Winter und Sommer unsere Pausen verbrachten. Der «Klub» hatte nicht mehr als vier oder fünf Schulzimmer, vermutlich deshalb, weil auch die Schülerzahl gering war. «Klub» hieß das Gebäude, weil sich dort, bevor es zum Schulhaus wurde, das Clublokal der «Rilindësve», der Anhänger der albanischen Wiedergeburt, befand, deren Vorsitzender Baba Çen war, wie er mir selbst berichtet hatte. All dies gehört zur Zeit der albanischen Rilindja und des Kongresses von Manastir, 267 als die ersten Schulen und Clubs der «Shqipëtaria», des Albanertums, gegründet wurden. Thoma Papapano unterrichtete dort die Männer im albanischen Alphabet und las ihnen die ersten Bücher in ihrer Muttersprache vor. Der «Klub» war für uns ein doppelt heiliger Ort: Erstens, weil er das Versammlungslokal der Patrioten gewesen war, und zweitens, weil er nun eine Schule war.

267 Die Bewegung der albanischen Wiedergeburt (Rilindja) setzte um 1830, verstärkt um 1870 ein, siehe Einleitung, Kap. 11a, und Schmidt-Neke 1993a, S. 30–34. Zum Kongress von Manastir (1908) siehe Anm. 221. Albanische Schulen wurden, mit wenigen Ausnahmen, erst seit der Unabhängigkeit 1912 eröffnet. Die genannten Ereignisse waren zur Zeit der Kindheit von Enver Hoxha somit noch in frischester Erinnerung.

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Dies war uns schon damals bewusst, und umso stolzer waren wir, dass wir dort lernen durften. [S. 108] Bisweilen ging wegen des Windes oder durch einen Steinwurf bei unseren Spielen eine Fensterscheibe zu Bruch. Ein Teil der Wände des «Klubs» war aus Holz; durch die Löcher pfiff der Wind, der trotz der geschützten Hanglage recht stark war. An einem Wintertrag stand ein Schüler auf und fragte: «Herr Lehrer, stimmt es, dass es Vampire gibt und dass man stirbt, wenn man nachts ein Messer in die Türbe268 von Baba Hasan steckt?» Er antwortete uns: «Lassen wir die Agas von Gjirokastra ruhig ihren Spaß daran haben, Napoleontaler269 auf dem Grab von Baba Hasan abzulegen! Mir soll’s recht sein, diese «Spenden» hole ich mir gerne ab. Und wenn es sein muss, stoße ich auch ein Messer in den Sarg, obwohl das nicht gerade fein ist, und ihr werdet sehen, dass mir nichts passiert. Mit dem Geld hingegen kann ich etwas Gutes anstellen: Ich kann Glas in die Fenster unserer Schule einsetzen lassen, wo uns der Wind fast fortbläst, und ich kann sogar einen Ofen fürs Schulzimmer kaufen, weil wir sonst noch erfrieren. Auf unsere Bitten und Eingaben hört ja sonst niemand, gewiss nicht die Regierung und erst recht nicht die Agas von Gjirokastra.» Während der Regierung von Ahmet Zogu war die Eröffnung einer Mittelschule in Gjirokastra ein besonders wunder Punkt. Zogu und seine Beamten waren gegen eine solche Schule. Mein Jahrgang war der zweite, der die Volksschule beendete; vor uns hatte die Klasse von Aqif Selfo, Selam Xhaxhiu 270 und anderen abgeschlossen. Nun begannen die Proteste der Bevölkerung, die eine «Shkolla qytetëse», eine «Stadtschule»271 forderte. Woher dieser Begriff kam, weiß ich nicht; Tatsache ist aber, dass Aqif Selfo und ein paar seiner Mitschüler die Mittelschule in Korça oder Tirana besuchten, sei es mit oder ohne Stipendium. Die Proteste der Bevölkerung von Gjirokastra und der gjirokastritischen Lehrer- und Schülerschaft zwangen Zogu und den damaligen Bildungsminister schließlich, auch hier eine Stadtschule zu eröffnen. Als unser Jahrgang die Grundschule abgeschlossen hatte, konnten wir somit in die Stadtschule, die shkolla qytetëse, übertreten. Die öffentliche Meinung war beruhigt und wir Schüler freuten uns riesig. Es schien uns, dass wir alles errungen hatten, und unser Lerneifer verdoppelte sich. Unsere patriotisch gesinnten Lehrer trieben uns zu Bestleistungen an, [S. 109] damit wir zu Vorbildern würden und Zogu und seine Leute nicht sagen könnten: «Die Schüler von Gjirokastra lernen nicht, also schließen wir ihnen die Schule wieder!» 2 68 Türbe: Siehe S. 102. 269 Napoleontaler (Napolon flori, Napoleondor): Weitverbreitete Goldmünze im Wert von 20 Goldfranken oder, zur Zeit von Ahmet Zogu, von 100 Lekë. 270 Zu Aqif Selfo und Selam Xhaxhiu siehe u. a. S. 74, 136, 150, 196, 200, 210, 253. 271 Mit «shkollë qytetëse» ist ein Schultyp gemeint, der offenbar der gymnasialen Unterstufe (Sekundarstufe I) entsprach. Lt. Myftaraj (2008, S. 73) war die shkolla qytetëse de facto ein Ausbau der Grundschule «Drita» zu einer 6-jährigen Schule.

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Blieb nur die Frage: Was sollte aus uns nach Abschluss der shkolla qytetëse werden? Unser Wunsch nach weiterer Ausbildung war groß; ein Leben ohne Bildung schien uns fast wie Selbstmord zu sein. In diesem Sinne führte auch das Volk von Gjirokastra seinen Kampf mit der Regierung in Tirana weiter. Eine Delegation nach der anderen wurde in die Hauptstadt geschickt, wo sich alle mit großer Hartnäckigkeit für die Eröffnung einer Mittelschule, eines «liceu», einsetzten, wie es in Korça eines gab. Nach endlosen Scharmützeln und Auseinandersetzungen und angesichts des entschiedenen Widerstands der Bevölkerung aus dem Süden sahen Zogu und seine Beamten sich endlich gezwungen, eine Mittelschule in Gjirokastra zu eröffnen. Es wurde beschlossen, ein «lice francez», ein französisches Lyzeum 272 zu schaffen, das mit dem achten Schuljahr begann und in das auch die «shkolla qytetëse», die Stadtschule, integriert wurde. Als Absolventen der Stadtschule konnten wir in die 6. Klasse des Lyzeums übertreten. Was für eine riesige Freude war dies für uns! Wir sangen und jauchzten, als uns diese frohe Nachricht mitgeteilt wurde. Und zusammen mit uns Schülern freute sich die ganze Stadt! Die «Stadtschule» schloss ich mit sehr guten Noten ab. Nun kam der Frühsommer, dann kamen die Sommerferien, und wir warteten alle gespannt auf die Ankunft des Direktors und der Professoren des französischen Lyzeums. Als dessen Vizedirektor wurde Hysni Babameto ernannt. Den fingen wir Tag für Tag auf der Straße ab und fragten ihn: «Herr Hysni, wann kommt der Direktor, wann kommen die Professoren?» «Seid ganz unbesorgt», erwiderte er, «die kommen gewiss!» Wir aber waren alles andere als unbesorgt und bangten Tag für Tag. Endlich kam der ersehnte Schulbeginn im Herbst. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde in Gjirokastra eine Mittelschule, das liceu francez, eröffnet!273 Leider konnte ich die Euphorie der ersten Woche an der neuen Schule nicht selbst miterleben, weil ich erkrankt war (woran, weiß ich nicht mehr) und das Haus nicht verlassen durfte. Was das für ein Verdruss für mich war, kann man sich wohl gut vorstellen! 274

272 Lyzeum und Gymnasium sind zwei nicht ganz trennscharfe Typen der Mittelschule, so ist z. B. stets die Rede vom Gymnasium von Shkodra (eröffnet 1922), aber von den Lyzeen von Korça (eröffnet 1917, geschlossen 1939) und Gjirokastra (eröffnet 1923, geschlossen 1928). Der hauptsächliche Unterschied zwischen Gymnasium und Lyzeum liegt wohl darin, dass an den Lyzeen die meisten Fächer in der Art des heutigen immersiven Unterrichts auf Französisch unterrichtet wurden, siehe hierzu S.  139 f. 273 «Liceu» ist die determinierte Form von «lice» (Lyzeum). Die Eröffnung fand am 23.  November 1923 statt. Eine äußerst wertvolle Quelle zum französischen Lyzeum in Gjirokastra und zu jenem in Korça stellen die «Erinnerungen» von Hamit Kokalari dar (Kujtime 1, S. 11–53). Der Autor lebte von 1909–1989 und war von der 5. (= zweituntersten) Klasse an bis zum Baccalauréat (Abitur) in Korça Mitschüler von Enver Hoxha. Seine Aufzeichnungen, die vom Februar 1985 datieren, liefern detaillierte Informationen zum Lehrkörper, zu den Klassenkameraden, zur Methodik, zur Schulorganisation und weiteren Aspekten. 274 Ausführlicher zu dieser Erkrankung siehe S.  284 f.

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Mein erster Tag in der neuen Schule aber würde überaus erfreulich sein. Ich würde ganz neue, uns noch unbekannte Lerninhalte kennenlernen, ich würde Professoren und Schulkameraden treffen, die ich schon kannte, aber auch die neuen, französischen Professoren. Klar, dass ich mich schon bei Tagesanbruch auf den Schulweg aufmachte! [S. 110] Das Lyzeum startete seinen Betrieb in einer ehemaligen Grundschule im Stadtteil Varosh, 275 in einem stattlichen Gebäude mit großen Fenstern und einem Pausenhof mit Steinplatten. Hinter dem Gebäude floss der Bach vorbei. Im Winter war er ziemlich laut, da er Geröll mit sich führte, das teilweise sogar vom Felsen von Kuculla her kam; im Sommer aber trocknete er aus.276 Unterhalb des Lyzeums, beim Pausenhof, lag eine weitere Schule, nämlich die Grundschule der Mädchen. Deren Direktorin war die alte Lehrerin Urani Rumbo.277 Sie hinkte, aber das Volk und alle Schüler und Schülerinnen liebten und respektierten sie sehr. Das Lyzeum von Gjirokastra führte nur bis zur dritten bzw. drittobersten Klasse, 278 mehr erlaubte Ahmet Zogu nicht.279 Um den Auf bau der damaligen Lyzeen besser zu verstehen, muss man wissen, dass sie mit der achten Klasse begannen und bis zur ersten, obersten führten. Wer die Schlussprüfungen der obersten Klasse bestanden hatte (das «baccalauréat, première partie»), konnte wahlweise in die Klasse für Philosophie oder in jene für Mathematik übertreten. Am Schluss dieses Jahres musste er weitere Prüfungen ablegen (das «baccalauréat, deuxième partie»). Erst wer auch dies bestanden hatte, bekam das Abschlussdiplom des Lyzeums. Wer den ersten Teil der Prüfungen nicht bestanden hatte, konnte nicht in die Philosophie- oder Mathematikklasse übertreten und erhielt kein Abschlussdiplom. Das Lyzeum hatte mithin neun Klassen.280 Ich absolvierte alle Klassen ordnungsgemäß, ohne eine zu wiederholen, wie wir weiter unten sehen werden. Wegen der Probleme, mit denen die Grundschule und die Stadtschule stets konfrontiert waren, und wegen der unkorrekten Berechnung der Schuljahre verlängerte sich unser Schulbesuch auf den Stufen Grundschule – Stadt2 75 Lt. Kokalari (a. a. O., S. 14) handelte es sich um das Gebäude der Grundschule «Koto Hoxhi». 276 Fußnote im albanischen Original: Dieser Bach ist heute nicht mehr zu sehen. Er wurde unter die Erde verlegt, über ihn führt jetzt eine asphaltierte Straße. 277 Gemeint ist die bekannte Lehrerin, Aktivistin, Feministin und Dramatikerin Urani Rumbo (1884–1936), die den Titel «Mësuesia e popullit», Lehrerin des Volkes, trug. 278 Kokalari a. a. O., S. 12 etc. spricht deswegen von einem «Halblyzeum» (gjysmëlice). 279 Sowohl die Beschränkung auf ein «Halblyzeum» wie auch die Schließung der französischen Lyzeen in Gjirokastra (1928) und Korça (1939) sind im Kontext der kulturellen Rivalität zwischen Frankreich und dem faschistischen Italien zu sehen, bei der Frankreich angesichts von Ahmet Zogus Anlehnung an Italien keine Chancen hatte. Vgl. hierzu Kokalari a. a. O., S. 12, 25, 29 f., 51–53. Kokalari (a. a. O., S. 50–53) beschreibt die Jahre seines (und Enver Hoxhas) Lyzeumsbesuchs (1923–1930) als weltgeschichtlich und politisch vergleichsweise ruhige und friedliche Zeit; mit Beginn der 1930er-Jahre änderte sich das Klima drastisch. 280 Vgl. zum Auf bau auch Kokalari a. a. O., S. 14 und S. 48. Das Baccalauréat des Lyzeums in Korça besaß Äquivalenz zu einem in Frankreich bestandenen Baccalauréat und berechtigte zum prüfungsfreien Übertritt an eine französische Universität; vgl. Kokalari a. a. O., S. 18.

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schule  – Lyzeum um ein oder zwei Jahre. So dass ich, nach vier oder fünf Jahren Grund- und zwei oder drei Jahren Stadtschule (ich erinnere mich nicht mehr genau) direkt in die sechste Klasse des Lyzeums übergetreten bin. Die dortigen Schüler und Professoren  – Albaner und Franzosen  – waren sehr freundlich und umgänglich. Der Direktor, ein Franzose, hieß Victor Coutant. 281 Seine Körperhaltung war untadelig, sein Gesichtsausdruck offen und aufrichtig. Er hatte [S. 111] einen leuchtenden Blick und schwarze, an den Schläfen schon etwas ergraute Haare. Seine Nase wirkte etwas eingedrückt und er näselte auch etwas. Der Direktor war stets sehr gepflegt, sowohl, was seinen Körper, als auch was seine Kleidung betraf. Meist trug er einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd mit Stehkragen, oft aber auch gestreifte Hosen. Von allem Anfang an liebten und respektierten wir unseren Direktor sehr. Er war außerordentlich korrekt und exakt und forderte von uns Ordnung, Disziplin und Reinlichkeit in jeder Hinsicht, sei bei unserer Kleidung, bei der Hygiene, beim Umgang mit den Schulbüchern und -heften, sei es, was unser Betragen in der Klasse und auf der Straße betraf. Der Vizedirektor des Lyzeums war Hysni Babameto, 282 ein alter Professor der Arithmetik, kompetent, gerecht, freundlich und fürsorglich. Auch ihn liebten und achteten wir sehr. Er schrie uns nie an, aber eine Zurechtweisung von ihm war die größte Schande, die wir uns vorstellen konnten. So richtete sich all unser Bestreben darauf, nicht von ihm getadelt zu werden. «Herr Hysni», so sagten wir, «bringt dich mit Baumwolle um». Zu unseren albanischen Lehrern und Professoren zählten Vesim und Mumtaz Kokalari, 283 welche Französisch konnten, Elmaz Çani, Hysni Babameto, 284 Ilia Dilo Sheperi, Pano Hido und andere. Die französischen Professoren hießen Brégeault und Marchand, 285 später kamen viele weitere dazu, an deren Namen ich

2 81 Im albanischen Original wird der Name (wie alle anderen französischen Namen) phonetisch wiedergegeben («Kutan»). Die französischen Schreibweisen der Namen finden sich bei Kokalari a. a. O., S. 11 und 18. Zu Victor Coutant, dessen Frau ebenfalls Französisch am Lyzeum unterrichtete, vgl. Kokalari a. a. O., S. 11 und 33 f. Coutant war angeblich Epileptiker und wurde 1927 in der Folge eines epileptischen Anfalls in Polen, wo er sich arbeitshalber aufhielt, tot in einem Bahncoupé aufgefunden (Kokalari a. a. O., S. 34). 282 Hysni Babameto: Siehe S. 137, 139, 146, 198; vgl. auch Kokalari, Kujtime 1, S. 27 ff. 283 Vesim und Mumtaz Kokalari: Die älteren Brüder von Hamit Kokalari; vgl. Kokalari a. a. O., S. 28, 31f., 54 ff., 74 ff. 284 Elmaz Çani: Siehe S.  104 ff., vgl. Kokalari a. a. O., S. 27 f. 285 André Brégeault unterrichtete Geschichte und Geografie und wechselte später ans Lyzeum in Korça; Frédéric Marchand, der aus der Franche Comté stammte, unterrichtete Französisch, Englisch und französische Literatur (Kokalari, a. a. O., S. 11; zu Marchand auch S. 35 f.). Marchand wechselte später ans Gymnasium nach Tirana und noch später nach Ägypten, wo er verstarb. Zu Brégeault (bei Kokalari fälschlicherweise «Brageault» geschrieben) siehe Thomas Schreiber (1994): Enver Hodja. Le sultan rouge. Paris: J.-C. Lattès, S. 23.

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mich teilweise nicht mehr erinnere. 286 Marchand und Liauzun 287 unterrichteten uns in der französischen Sprache und Literatur, Brégeault in Geschichte und Geografie. Für Mathematik war Hysni Babameto zuständig; Physik, Geologie und Botanik unterrichteten wiederum französische Professoren. Wir stürzten uns mit grossem Eifer auf alle diese Fächer, vor allem aber auf Französisch, weil das für uns etwas Neues war und man ohne Französischkenntnisse dem Unterricht gar nicht folgen konnte. Ich legte mich sehr ins Zeug und zählte in Französisch bald zu den besten meiner Klasse. Ich gab mir Mühe beim Lesen und bei der korrekten Aussprache und hielt mich strikte an die methodischen Hinweise, die uns die Professoren gaben. Lesen war mein größtes Vergnügen, und schon damals brachten uns die französischen Professoren nicht nur Sprachlehrbücher mit, sondern auch andere, für jedes Fach und jede Altersstufe. Es waren dieselben, wie sie auch in Frankreich und im Lyzeum von Korça verwendet wurden, worunter auch Märchensammlungen in einfachem Französisch und farbig bebilderte Textsammlungen, die uns außerordentlich gefielen. Diese Bücher waren wirklich schön, gut gebunden, mit Bildern, wie wir sie nie zuvor gesehen hatten. [S. 112] Sie übten einen unwiderstehlichen Reiz auf uns aus, und auch wenn wir sie anfangs nicht verstanden, ließen wir sie nicht aus den Händen. Die Professoren hatten auch Karten, Globen und andere Anschauungsmittel mitgebracht, die wir vorher nicht kannten, darunter auch farbige Schaubilder mit Darstellungen von Tieren, Blumen, Mineralien und vielem anderem. All dies trug natürlich dazu bei, dass der Unterricht sehr attraktiv und lebendig wurde.288 Selbstverständlich gaben sich auch die französischen Professoren die größte Mühe, damit wir die Sprache und die Literatur gründlich kennenlernten und uns den ganzen Lernstoff gut aneigneten. Bei meiner Klasse – wir waren ja statt in die achte gleich in die sechste Klasse eingetreten – achteten sie besonders sorgfältig darauf, dass wir den verpassten Stoff im Französischen baldmöglichst nacharbeiteten und so auch 286 Vgl. aber die längeren Listen der Namen der Professoren bei Kokalari, a. a. O., S. 11 resp. 18 (französische Professoren in Gjirokastra resp. Korça) und die Azfzeichnungen zu einigen albanischen Lehrern ebd. S. 27 ff. (Gjirokastra) und 32 ff. (Korça). 287 Edouard Liauzun stammte aus Vevey am Genfersee (siehe S.  143 f.). Gemäß freundlicher Auskunft der archives communales de Vevey dürfte es sich um jenen Edouard Liauzun (auch: Liausun) handeln, der 186? geboren wurde, als Französischprofessor nach Tiflis/Georgien verreist und wohl von dort nach Gjirokastra weitergereist war. Nach der Schließung des Lyzeums in Gjirokastra unterrichtete er Französisch am Gymnasium in Tirana. Dort starb er vereinsamt in einem Hotelzimmer; vgl. Kokalari a. a. O., S. 11, 16, 34 f. 288 Die fortschrittliche, auf Anschaulichkeit, Verständlichkeit und selbstständige Auseinandersetzung mit dem Stoff ausgerichtete Didaktik und Methodik der französischen Professoren stand in offensichtlich großem und sehr positiv erlebtem Kontrast zur Unterrichtsmethode des Auswendiglernens, wie sie von der osmanischen Schultradition und vom Koranunterricht her dominierte. Dies, wie auch besonders die Qualität und Anschaulichkeit der aus Frankreich eingeführten Schulbücher und Anschauungsmaterialien, betonen sowohl Enver Hoxha wie auch Hamit Kokalari (a. a. O., S. 15, 18, 45–48) mehrfach explizit.

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dem übrigen Unterricht folgen konnten, denn außer Albanisch und Mathematik wurden alle Fächer auf Französisch unterrichtet. Wir gaben unser Bestes und bewältigten diese Aufgabe; ich selbst erzielte in allen Fächern gute Noten. Besonders in Französisch war ich sehr erfolgreich und schaffte es, Bücher in dieser Sprache zu lesen, z. B. solche mit Märchen oder ausgewählten Gedichten. Ich hatte ein sehr gutes Gedächtnis; die Französischlehrer mochten mich. Die Zahl der Schüler, die ins Lyzeum eintraten, nahm Jahr für Jahr zu, desgleichen jene der Professoren, Albaner wie Franzosen. Da das bestehende Schulhaus definitiv zu wenig Platz bot, wurde das Lyzeum in jenes Gebäude verlagert, in dem sich heute das Gymnasium «Asim Zeneli» befindet. Da auch dieses über kurz oder lang zu klein war, wurden später seitlich weitere Klassenzimmer angebaut. Die Organisation des Lyzeums wurde in jeder Hinsicht immer professioneller. Es gab klar definierte Lehrpläne, die exakt befolgt wurden. Die Schulbücher aus Frankreich trafen pünktlich ein, so dass wir zu Beginn des neuen Schuljahrs jeweils alles Erforderliche zur Verfügung hatten. Selbstverständlich wurde auch die Bibliothek für die Schüler und Lehrer immer umfangreicher. Am Schluss jedes Schuljahrs, vor den großen Ferien, wurden Buchpreise verteilt, und zwar verschiedene literarische Werke, je nach Klasse und Fach. Einen Preis erhielten jeweils der beste und der zweitbeste Schüler eines Fachs; die drittbesten bekamen eine Ehrenurkunde. Diese Preisverteilung war für uns jedes Mal ein großer Feiertag. Durchgeführt wurde diese besondere Zeremonie in der großen Vorhalle der Schule. Gegenüber der Eingangstür wurde eine große Bank aufgestellt, auf der sich die schönen Bücher türmten, jedes mit einem roten Zierband geschmückt. Direktor Coutant und rund um ihn alle Professoren standen [S. 113] vor einem Tisch, die Schüler – geordnet nach Klassen und hübsch arrangiert – an den beiden Seiten der Halle. Der Direktor hielt die Gruss- und Eröffnungsrede, anschließend rief er die Gewinner der Ehrenpreise namentlich, einen nach dem anderen, auf. Dies war für uns der emotionalste Augenblick. Ich selbst erhielt immer erste Preise, vor allem in den Fächern Albanisch, Französisch, Geschichte, Geografie und anderen. Direktor Coutant und seine Kollegen schüttelten uns die Hand und sagten: «Très bien, félicitation!». Wenn wir dann das Schulgebäude verließen, warteten wir auf die Professoren und schritten zusammen mit ihnen zum Marktplatz (das taten wir eigentlich auch sonst, aber an diesem Tag war es etwas ganz Besonderes!). Alle – wir Schüler, die Professoren und auch die Leute auf der Straße, die uns mit den Beigen bändergeschmückter Bücher sahen  – waren voller Freude, vor allem aber waren wir Preisträger mächtig stolz auf diesen Auftritt. Das Lyzeum stand bei der Bevölkerung von Gjirokastra in hohem Ansehen und es dauerte nicht lange, bis sich sein kultureller Einfluss bemerkbar machte. Die französischen Professoren waren sehr freundlich zu den Leuten, diese liebten, achteten und grüßten sie ihrerseits. Wenn einer von ihnen in ein Geschäft ging, um Einkäufe zu tätigen, wurde er stets mit einem Lächeln bedient; die Stimmung, die ihnen gegenüber

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in Gjirokastra herrschte, war warm und herzlich. Die französischen Professoren hatten Zimmer zur Miete bezogen. Sie fanden großen Gefallen an unseren malerischen, romantischen Häusern mit ihren kleinen Gärten, in denen sie Blumen pflanzten, von deren Samen sie auch uns welche gaben. Ein besonderes Ereignis war jeweils der Tag der schriftlichen Prüfungen und das Warten auf die Ergebnisse. Die Namen derjenigen, die gute Noten erzielt hatten, wurden auf einer Ehrentafel im Korridor  – zwischen dem Büro des Direktors und dem Lehrerzimmer – vermerkt. Was für eine Freude, wenn man dort den eigenen Namen entdeckte! Bevor wir die Schulzimmer betraten, mussten wir uns jeweils klassenweise auf dem Schulhof aufstellen. Anschließend betraten wir – die unteren Klassen zuerst, die oberen nachher – zunächst die Vorhalle und dann die Klassenzimmer, alles in guter Ordnung und ohne Lärm. Gegenüber der Eingangstür stand in der Vorhalle stets der ­Direktor oder der Vizedirektor. Wir begrüßten ihn und er erwiderte den Gruß. Diesbezüglich sind mir zwei Begebenheiten in Erinnerung geblieben: [S. 114] Beim Spielen auf dem Pausenplatz hatte unser Kamerad Elmaz Konjari 289 einmal die Knöpfe seiner Jacke verloren. Als er sich im Schulzimmer in die Reihe stellte, fiel der Blick eines albanischen Professors auf die knopflose Jacke und er tadelte: «In Zukunft erscheinst du hier sauber, ordentlich und mit angenähten Knöpfen; wenn nicht, schicke ich dich gleich wieder nach Hause.» Zu unserem Erstaunen zeigte sich Elmaz gegenüber der Zurechtweisung gleichgültig und schnöde. Die Angelegenheit schaukelte sich soweit hoch, dass sie schließlich in der Konferenz der Professoren diskutiert wurde, welche Elmaz für zwei Tage von der Schule verwies. Für uns war das etwas Schreckliches und wir waren sehr betroffen. Einmal schritt Professor Salim Kokalari 290 über den Schulhof. Wie üblich begrüßte ich ihn, indem ich die Hand an die Stirn legte. Er hielt inne und verlangte: «Grüße mich nochmals!». Ich grüßte ihn also nochmals auf die gleiche Weise, wurde aber neuerlich aufgefordert, meinen Gruß zu wiederholen. Salim war absolut nicht zufrie­ den­­zustellen und stellte seine Forderung wieder und wieder, sicher fünfzehnmal. Mir war völlig unklar, was ihm an meinem Gruß derart missfiel. Die umstehenden Schüler schauten zu und lachten, während ich vor Scham errötete. Auch war mein Arm fast lahm geworden, und als er mich zur nächsten Wiederholung aufforderte, führte ich den Gruß mit der anderen Hand aus. Jetzt war er endlich zufrieden und nahm den Gruß an. Die ganze Zeit vorher nämlich hatte ich ihn mit der linken Hand gegrüßt, die man im Volksmund «die böse Hand» nennt. Das war eine nachdrückliche Lektion für mich, und von da an gab ich acht beim Grüßen und verwendete nur noch die rechte, die «gute» Hand.

289 Elmaz Konjari: Siehe u. a. S. 102, 142 f., 180 f., 200. 290 Salim Kokalari, geb., 1898, 1947 hingerichtet als Oppositioneller.

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Mit Elmaz Konjari war ich gut befreundet; wir wohnten nahe beieinander im gleichen Viertel. Wir besuchten uns gegenseitig, machten die Hausaufgaben zusammen, spielten und unternahmen Ausflüge. Elmaz war ein sehr kluger, gerechter und ehrlicher Junge; ich war kein einziges Mal wütend auf ihn. Sein Vater, Xha Idriz, war ein umgänglicher Mensch, allerdings arbeitete er nicht. Elmaz’ Mutter, Teto Bako, war eine überaus sanftmütige Frau, die uns sehr liebte und nie mit uns schimpfte. Bei Elmaz ging ich ein und aus wie zu Hause. Am liebsten hielten wir uns in Elmaz’ Garten auf  – «Garten» in Anführungszeichen! –, den wir aber liebten, weil er auf den Shesh i Bajraktarit, den Fahnenträger-Platz, ging. Dieser Garten bestand aus zwei, drei mit Steinen befestigten Terrassen; auf jeder [S. 115] hatte Xha Idriz zahllose Rosenstöcke, Blausterne, Flieder, Blumen und Bäume gepflanzt, die Schatten und Früchte spendeten. Dort legten wir uns in der Sommerhitze hin, machten unsere Schulaufgaben oder pflückten Rosen und Hyazinthen, die wir den Professoren am Mor­­gen brachten. Xha Idriz pflegte zu sagen: «Macht mir meinen Gülistan, meinen Rosengarten, nicht kaputt!». Er hatte in der Türkei gelebt, sprach Türkisch und achtete sehr darauf, dass der Lehrer Arshi Bej, wenn er uns sah, uns auf «europäische Weise» mit voller Namensnennung, z. B. «Konjari Elmaz, Debrari Hasan», ansprach. Elmaz verließ das Lyzeum vorzeitig und begann mit seinem Bruder Sulo zusammen ein Praktikum als Apotheker. Sulo gab uns immer eine Baldriantablette291 und eine Handvoll «citrato» (Zitronensäure) – Körnchen, die wir ohne Wasser im Munde zergehen ließen. Später ging Elmaz nach Frankreich und wurde Apotheker. Heute ist er ein wertvoller Mitarbeiter bei «Profarma» in Tirana. Unser erster Professor im Fach Französisch war Liauzun, 292 den wir «den Alten» nannten, weil er damals schon über 60 Jahre zählte. Er war Schweizer und stammte aus Vevey. Obwohl bejahrt, hielt er sich aufrecht und führte stets einen Spazierstock mit einer eisernen Spitze mit sich, wie es sonst Alpinisten tun. Er trug eine Art Stiefelhosen, unten eng, oben sehr weit, dazu Strümpfe und genagelte Bergschuhe, ferner einen Pullover mit umgeklapptem Kragen, so wie sie die Skifahrer tragen. Sein Kopf war vollständig kahl, er trug immer eine Schirmmütze, die er auch im Schulzimmer kaum je auszog, «weil mir sonst der Kopf gefriert», wie er zu sagen pflegte. Liauzun war ein überaus gutherziger Lehrer, wir liebten ihn und er liebte uns; und wenn wir ihn manchmal foppten, geschah das nie mit böser Absicht, denn wir respektierten ihn sehr. Er erzählte uns hingebungsvoll von der Schweiz und verteilte uns farbige Postkarten von Genf, von Vevey und vom Schloss Chillon. Diese Karten betrachteten wir mit großer Freude. Ich erinnere mich, dass ich sie einmal mit Bleistift und in größerem 291 Im Original «Kokërr valdë», wobei das sonst unbekannte «valdë» eine dialektale Variante von «valerianë», Baldrian, sein dürfte. Im albanischen Original findet sich die Fußnote «Milde, aromatische Tabletten, die man im Mund behielt und die zur Heilung von Halsweh beitrugen.» 292 Zu Liauzun siehe S. 140 und Kokalari a. a. O., v.a. S. 16 und 34 f., wo sich die gleiche, sehr wohlwollende Einschätzung dieses Lehrers findet.

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Format abgezeichnet und ihm gezeigt hatte. «Très bien, mon garçon», sehr gut, mein Junge, sagte er. Dies war auch stets seine Antwort, wenn wir im Unterricht eine gelungene Antwort gaben. Aus Sympathie imitierten wir seine Stimme und die Art, [S. 116] wie er sein «Très bien mon garçon» oder «Très mauvais», sehr schlecht, aussprach. Aber hierauf werde ich weiter unten noch zu sprechen kommen. Liauzun war ein leidenschaftlicher Blumenfreund. Das Haus, in dem er wohnte, hatte er mit allen möglichen Sorten ausgestattet. Wenn er aus dem Urlaub heimkehrte, brachte er immer verschiedenste Blumensamen mit, von denen er auch uns welche abgab und uns dabei erklärte, wann und wie wir sie säen sollten. Sein besonderer Liebling waren die «Kapuziner», die Kapuzinerkresse, in allen erdenklichen Farbtönen; diese Begeisterung gab er auch an uns weiter. Unter seiner Anleitung lernten wir die Namen der Blumen und anderer Pflanzen auf Französisch besser, als wir sie in Albanisch konnten, waren uns doch viele Blumennamen in unserer Muttersprache unbekannt. Neben den Blumen liebte Liauzun die französischen Klassiker, aus denen er ganze Passagen auswendig rezitieren konnte. Mit Begeisterung und Humor lehrte und erklärte er uns die Werke von Corneille, Racine, Molière, La Fontaine und anderen. Da wir ausgezeichnete Französischschüler waren, liebte Liauzun mich, Hamit Kokalari und Kiço Karajan ganz besonders. Allerdings gab es in unserer Klasse auch welche, die nicht gut lernten oder schwer von Begriff waren, wie z. B. Fejzi Selfo, Mahmut Karagjozi und andere. Und dann gab es noch unseren Kameraden Nesip Gjebreja, der gut lernte und zugleich ein großer Witzbold war. Besonders lustig war es, wenn Liauzun uns abfragte. Nachdem er uns den Stoff erklärt hatte, stellte er nämlich jeweils Fragen dazu und erteilte uns Noten. Da er aber schon ziemlich alt war, wurde er schnell müde. Während die Schüler auf seine Fragen antworteten, hörte er manchmal zu, oft aber dämmerte er einfach vor sich hin. Wie die Note ausfiel, konnten wir damit weitgehend selbst steuern: Wenn wir wollten, dass ein Mitschüler eine gute Zensur erhielt, riefen wir im Chor «Très bien, mon garçon», während wir im gegenteiligen Fall, wie z. B. bei Fejzi Selfo, riefen: «Très mauvais, mon garçon, asseyez-vous, vous ne savez rien!», sehr schlecht, mein Junge, setzen Sie sich, Sie wissen nichts! Liauzun schaute dann auf Hamit, Kiço und mich und setzte die Note entsprechend unserem Kommentar. Als Nesip Gjebreja einmal zum Abfragen aufgerufen worden war, nahm er dem Professor die Mütze vom Pult. Auf die Frage, was das denn solle, entgegnete er: «Ich will sie nur etwas sauber machen», wobei er so tat, [S. 117] als ob er die Mütze abwische. In Tat und Wahrheit aber klopfte er auf ihr herum und verdrehte sie. Über diese Faxen mussten wir laut lachen, bis der Professor endlich aufschaute und Nesip die Mütze wegnahm. Eines Tages bat uns Fejzi Selfo ihm zu helfen, damit auch er einmal eine gute Note bekäme. Wir sicherten ihm unsere Hilfe unter der Bedingung zu, dass er jedem Schüler in der Klasse, auch dem Professor, eine Birne mitbrächte, und zwar von den besten aus seinem Obstgarten. Und so geschah es: «Kopaçe», «der Strunk», brachte die Birnen

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mit. («Kopaçe» nannten wir ihn, weil er als Kind eine seiner Hände im Feuer verbrannt hatte, so dass sie nun wie ein Strunk aussah.) Nachdem wir die Birnen und Äpfel gegessen hatten, die Fejzi uns mitgebracht hatte, stand dieser auf, um sich abfragen zu lassen. Aber, oh weh! Er hatte absolut nichts gelernt. Und ausgerechnet an diesem Tag war der alte Professor hellwach, mit scharfem Blick und gespitzten Ohren, so dass die Sache für «Kopaçe» jämmerlich ausging, trotz aller Birnen, die er verteilt hatte. Der Professor entließ ihn mit den Worten «Oh! Très mauvais, mon garçon, asseyez-vous, vous ne savez rien». Unser Gelächter wollte kein Ende nehmen, und noch heute lachen wir über dieses Missgeschick. Fejzi Selfo wurde später ein nichtswürdiger Ballist, 293 Mahmut Karagjozi Gendarm unter König Zogu, und Nesip Gjebreja verließ das Lyzeum und wechselte an die Offiziersschule in Tirana, wo er versehentlich von einem seiner Kollegen getötet wurde. Nesips Schicksal berührte uns sehr, da er ein guter Freund war; die beiden anderen hingegen mochten wir schon damals nicht besonders. Mit Bedri Spahiu, einem weiteren Klassenkameraden, stritten wir uns oft wegen Hamit Kokalari. 294 Dieser war zusammen mit seiner Familie aus der Türkei zugezogen, ähnlich wie Selahudin Kokona, ein anderer Kollege aus unserer Klasse. Hamit war ein kluger Junge und lernte fleißig; Bedri war das Gegenteil. Dies weckte den Neid von Bedri, der nun einen Hass und Zorn auf Hamit entwickelte. Das ging soweit, dass er ihm offen drohte, er werde ihm eines Tages auf der Straße abpassen und ihn mit dem Messer erstechen. Tatsächlich führte Bedri stets ein Messer mit sich. Wir anderen gaben uns alle Mühe, die beiden zu versöhnen, aber Bedri blieb unnachgiebig. Schließlich teilten wir Bedri mit, dass wir alle gegen ihn seien, und von da an begleitete jeden Tag einer von uns Hamit nach Hause. Zu einem Ende kam dieser Konflikt erst, als Bedri vom Lyzeum an die Offiziersschule wechselte. Ebenfalls in Zusammenhang mit Hamit Kokalari brachen ein weiterer Streit und Neidereien aus, [S. 118] diesmal von Seiten von Kiço Karajan, den wir «Buzaç», den «Dicklipper» nannten. Seine Oberlippe war nämlich fett und hochgezogen. Auch Kiço kam mit Messerdrohungen, allerdings wollte er Hamit nicht gleich umbringen wie Bedri es geplant hatte, sondern ihn bloß stechen oder seine Jacke zerfetzen. Nun, er tat, was er nicht lassen konnte, setzte sich im Schulzimmer in eine Bank unmittelbar hinter Hamit und positionierte sein Messer solcherart in einer Spalte der Bank, dass es Hamit, wenn er sich zurücklehnte, stechen würde. Genau so geschah es dann auch: Die Spitze des Messers des «Dicklippers» bohrte sich schmerzhaft in Hamits Arm. 2 93 Ballist: Anhänger der nationalistischen und antikommunistischen Organisation «Balli kombëtar» (Nationale Front). 294 Gemeint ist der mehrfach zitierte Autor der «Erinnerungen 1» (Kujtime 1), Hamit Kokalari (1909–1989), dessen Familie von 1910–1920 in die Türkei emigriert war, wo Kokalari auch seine ersten Schuljahre verbrachte. Nach dem Baccalauréat studierte er in Toulouse Rechtswissenschaft, später arbeitete er als Übersetzer im Verlag ‹Naim Frashëri›. Seine beiden Brüder Mumtaz und Vesim wurden 1944 hingerichtet, seine Schwester, die Schriftstellerin Musine Kokalari, starb in einem Arbeitslager.

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Kiço bezog dafür kräftige Prügel von uns und verzichtete darauf, je wieder solche Scherze zu machen. Unser Professor für die albanische Sprache hieß Herr Dilo, 295 er stammte aus dem Dorf Sheper in der Zagoria in Südalbanien. Er hatte eine eigene Grammatik verfasst und las uns «gemäß seiner Sprache» vor. Vom Charakter her war er eher kühl. Er hatte ein breites Gesicht und trug eine Brille und einen Schnurrbart, auf den wir uns sogar ein Lied ausgedacht hatten: Eisig bläst der Wind Dilos Schnauz gefriert geschwind. 296

Wenn immer er nämlich sah, dass irgendwo ein Fenster offenstand, sagte er sofort: «Schließt das Fenster, es bläst ein stürmischer Wind!». Eines Tages hatte uns Herr Dilo als Hausaufgaben Grammatikübungen gegeben, die ich zu Hause im Aufgabenheft erledigte. Allerdings gab es bei uns daheim weder ein Arbeitspult noch Stühle. Zum Lernen legte ich mein Heft folglich immer entweder auf eine Sitzbank, vor der ich auf dem Boden kniete, oder ich erledigte sie in stehender Haltung in der oberen Diele auf dem «Tartaposh», 297 wie wir im Haus meines Onkels im Stadtteil Hazmurat sagten. Am nächsten Morgen gaben wir Herrn Dilo unsere Aufgabenhefte ab, worauf er sie korrigierte. Als er uns die Noten verkündigte, erfuhr ich zu meinem größten Erstaunen, dass er mich mit einer Null bewertet hatte. Indigniert fragte ich ihn, was das zu bedeuten habe. «Diese Null hast du verdient», entgegnete er, «weil du dich über mich lustig gemacht hast! Du hast mir ein leeres Heft abgegeben und die Übung überhaupt nicht gemacht; schau nur selber nach!» In der Tat war das Heft leer, doch war ich fest überzeugt, dass ich meine Aufgaben gemacht hatte. Ich sagte ihm: «Herr Dilo, ich habe meine Aufgabe erfüllt und akzeptiere [S. 119] die Null nicht. Ich werde zum Vizedirektor gehen und mich über Sie beschweren.» Worauf er: «Geh, wohin du willst; du kannst dich gerne auch direkt in Tirana beschweren». Ich ging also ins Direktionsbüro und beschwerte mich bei Hysni Babameto, dem ich die ganze Geschichte erzählte. «Herr Hysni», sagte ich, «ich bin sicher, dass ich meine Hausaufgaben pflichtgemäß gemacht habe». «Gut», meinte er, «aber wo sind sie 295 Dilo: Gemeint ist wohl Ilia Sheperi Dilo, 1872–1945, Autor der «Gramatika dhe sindaksa e gjuhës shqipe, sidomos e toskënishtes (për shkolla të mesme)», Vlora 1927; bei Kokalari wird er nicht erwähnt. 296 Im Original: Fryn një erë e suferinë / Mustaqet e Dilos ngrinë (wörtlich: Es bläst ein stürmischer Wind / Dilos Schnurrbart gefriert). 297 «Tartaposh» meint nach Auskunft einer Gewährsperson aus Gjirokastra die Treppe, die in den oberen Korridor des Hauses führte (bzw. deren obere Stufen, die hier zur Schreibfläche umfunktioniert werden).

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dann geblieben?». «Herr Dilo hat diese Seite wohl herausgerissen, damit er mir eine Null verpassen kann», antwortete ich. «Nein, nein, mein Junge; so etwas gibt es nicht. Aber bring dein Heft mal her, damit ich mich selber überzeugen kann.» Als er es durchgesehen hatte, schlug er es nicht nur von vorne, sondern auch von hinten und in der Mitte auf, blätterte darin – und fand meine Übung. Er warf mir einen seiner durchdringenden Blicke zu und meinte: «Die Schuld liegt ganz auf deiner Seite; Herr Dilo hat keinen Fehler gemacht. Du bist unaufmerksam gewesen, als du deine Aufgaben gemacht hast, hast das Heft einfach irgendwo geöffnet und dort geschrieben. Verständlich, dass Herr Dilo nicht damit gerechnet hat, dass du dein Heft von hinten her, oder wo es dich sonst gelüstet, benützt!» Ich wurde vor Scham rot wie eine Tomate, kehrte ins Schulzimmer zurück und entschuldigte mich bei Herrn Dilo. Auf meine Bitte hin korrigierte er meine Übung und berichtigte auch die Note. Im Lyzeum etablierte sich unter Führung von Mumtaz Kokalari nun auch die Pfadfinderbewegung.298 Mir und vielen meiner Klassenkameraden gefiel das nicht, wir boykottierten die «Boyscouts», meldeten uns nicht an, gingen nicht zu ihren Treffen und machten uns sogar über unsere Freunde lustig, die sich in dieser «Organisation» engagierten. Offenbar erhielt sie auch von der Schule keine Unterstützung, und so ging es nicht lange, bis sich die ganze Angelegenheit wie Salz im Wasser aufgelöst hatte. Für Professor Marchand, der uns ebenfalls in Französisch unterrichtete, hatten wir großen Respekt und seine Art zu unterrichten sagte uns sehr zu. Er war groß, schlank und lebhaft, von gesunder Gesichtsfarbe, mit hoher Stirn und blonden Haaren. Marchand spielte gut Tennis, er war aber auch ein begabter Maler und Portraitist. Malen war seine Leidenschaft, vor allem portraitierte er gerne Bauern und andere Menschen, die ihm interessant schienen. [S. 120] Seine Bilder malte er mit Ölfarben auf dicke Kartons in verschiedenen Formaten, die er von Frankreich mitbrachte. Wenn Markttag war, ging er jeweils hin und wählte einen Bauern, den er malen wollte. Diesem kaufte er seine Feigen oder anderen Früchte ab, fragte ihn um Erlaubnis und begann dann mit seiner Arbeit. Meist lächelte der Portraitierte und posierte schüchtern wie eine Braut. Wenn das Bild nach einer Sitzung noch nicht beendet war, fragte Marchand ihn, wann er wieder auf den Markt käme. Ich selbst durfte ihm einige Male als Übersetzer assistieren. Zu dieser Zeit hatte Ahmet Zogu in Gjirokastra einen Bajraktar, einen Fahnenträger, namens Preng Cali 299 gefangengesetzt. Preng war ein stattlicher, großer Mann, der stets die gestickte Nationaltracht der Hochländer trug, mit einer silbernen Pistole, 2 98 Vgl. hierzu Kokalari a. a. O., S. 29 f. Kokalari schreibt, dass die Pfadfinderbewegung sich in den Jahren 1920–25 stark entwickelte, von 1925–30 weniger und dass sie in den 1930er-Jahren gänzlich zum Stillstand kam, weil damals mit Billigung von Ahmet Zogu das italienische System der paramilitärischen Jugendorganisation (gemeint ist wohl die Balilla) eingeführt wurde. 299 Gemeint ist Prek Cali (1878–1945) aus Vermosh, der 1945 als Kollaborateur hingerichtet wurde.

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die ihm an einer Kette vom Hals hing, einer ebenfalls silbernen Tabakspfeife und weiteren Accessoires. Er war das bevorzugte Modell von Professor Marchand, der ihn Dutzende Male in verschiedenen Formaten portraitierte. Später wurde dieser reaktionäre Fahnenträger, der gemeinsame Sache mit den Faschisten gemacht und im Kelmend sein Gewehr gegen die Partisanen gerichtet hatte, von uns gefangengesetzt und erschossen. Damit ist alles, was von diesem verräterischen Feudalherrn übrigbleibt, eine Reihe von Portraits, die Marchand gemalt hatte und die nun in irgendeinem französischen Provinzmuseum oder in Privatsammlungen hängen mögen. Ein anderer Professor, Brégeault, genoss unseren Respekt, weil er so fröhlich war. Obwohl er jung war, hatte er bereits einen ziemlichen Bauch. Den Kopf hielt er beim Gehen geneigt, als hätte er einen schiefen Nacken oder als sei ihm die Mappe zu schwer, die er immer randvoll mit Büchern, Schulheften und Zeitungen mit sich schleppte. In dieser Mappe konnte man wirklich alles finden! Wenn er uns Geschichte lehrte  – vor allem die Geschichte Frankreichs  – hörten wir ihm stets gespannt zu. Ganz besonders begeisterte uns die Französische Revolution. Wir verglichen die damaligen Ereignisse mit dem, was auch bei uns gegen Ahmet Zogu und die Bejs und Agas, die zusammen mit dem König das Volk unterdrückten, unternommen werden sollte. Diese Vergleiche stellten wir nur im Kreis der engsten Freunde an. Niemand von uns mochte die Monarchie und Zogu. 300 Unsere Familie war als antizogistisch im Visier, dies wegen unserer Kontakte zu Bahri Omari, der damals politischer Flüchtling war. 301 Ebenso groß war unser Hass auf die Gendarmen von Hysni Dema und Taf Kaziu, 302 die Gjirokastra besetzten, als ob es erobertes Feindesland sei. Immer wieder äußerte die Bevölkerung ganz offen ihren Hass [S. 121] auf diese Söldner und Bürokraten im Dienste von Ahmet Zogu. In Erinnerung geblieben ist mir ein Ereignis, das sich vor der Präfektur abgespielt hatte. Es war am 28. November, am Tag der Flagge. Die Schüler aller Schulen wurden zur Präfektur geführt, wo es schon viele Leute hatte und der Festakt zelebriert werden sollte. Nun traten der Präfekt, der Kommandant der Gendarmerie und andere hohe Beamte auf die Treppe heraus. Man sang die Nationalhymne, worauf der Präfekt mit seiner Festrede begann, die selbstverständlich voll des Lobes auf Ahmet Zogu und sein Regime war. Als die Rede zu Ende war, war eine laute Männerstimme zu hören, die «Nieder mit dem Räubergesindel der Regierung!» schrie. Sofort brach ein riesiger Krawall aus. Wir Schüler des Lyzeums applaudierten, andere brüllten «aufhören!», indes der Präfekt sich ins Gebäude verzog und die Gendarmen sich in Bewegung setz 300 Ahmet Zogu ließ sich 1928 zum König der Albaner krönen; vorher war er seit 1925 Staatspräsident gewesen. 1939 floh er vor der italienischen Invasion ins Ausland; er verstarb 1961 in Frankreich. 301 Bahri Omari (1888–1945) aus Gjirokastra, Ehemann von Enver Hoxhas Schwester Fahrije; 1945 als Kollaborateur hingerichtet. 302 Hysni Dema war oberster Kommandant der albanischen Gendarmerie, Taf Kaziu ein hoher Offizier unter Ahmet Zogu.

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ten. Der festliche Anlass war ruiniert, auch unsere Reihen lösten sich auf. Derjenige, welcher geschrien hatte, war Hauptmann Idriz Guri.303 Er war ein Patriot, Freund von Çerçiz Topulli, Hasan Xhiku 304 und Baba Çen. Am betreffenden Tag trug er die Uniform der höheren Offiziere, mit einer schwarz-roten Kordel über der Brust, und dazu seinen Degen. Wir Schuljungen umringten ihn und begleiteten ihn ein Stück Weges bis zum Café der Stadtverwaltung, wie das damals hieß. Idriz war ganz bleich geworden, sein Schnurrbart hatte sich gesträubt und seine Augen funkelten vor Zorn. Ohne eine Spur von Furcht nahm er sich einen Stuhl und setzte sich beim Café hin. Nun kamen auch die Gendarmen und wollten uns vertreiben. Aber wer ließ sich schon vertreiben? Wir warteten und wollten sehen, was mit Xha Idriz passierte, denn wir mochten ihn sehr – und jetzt erst recht, nach dem Beweis des Heldenmuts, den er vor versammeltem Volk bewiesen hatte. Nach einer Viertelstunde kam ein Offizier der Garde von Xha Idriz mit drei Soldaten, die sich mit ihren Helmen auf dem Kopf näherten. Es herrschte eine Grabesstille. Wir alle warteten gespannt ab, was sich ereignen würde. Nun hörte man die Stimme des Offiziers: «Herr Hauptmann Idriz Guri, geben Sie Ihren Degen ab; Sie sind verhaftet.» Was würde nun geschehen? Ein dramatischer Moment! Xha Idriz erhob sich, machte drei Schritte nach vorn, zog seinen Degen und befahl: «Entfernen Sie sich, Herr Hauptmann; Idriz Guri ist es nicht gewohnt, seinen Degen auszuhändigen. Entweder Sie oder ich – einer von uns wird als Leiche hierbleiben!» Der Hauptmann war mehr als verblüfft. «Nur Mut, Idriz, bleib standhaft!» ertönte eine Stimme aus dem Café und dann kamen alle Männer heraus. Wir Jungen schrien: «Bleib fest, Xha Idriz! Es lebe Idriz Guri!» Die Gendarmen sahen sich umzingelt, [S. 122] konnten ihr Vorhaben nicht ausführen und waren schließlich gezwungen, mit leeren Händen abzuziehen. Unter der Obhut einiger Freunde kehrte Xha Idriz in sein Haus zurück. Angesichts des Widerstands aus dem Volk konnte ihn Ahmet Zogu zwar nicht gefangen setzen, aber er untersagte ihm, die Offiziersuniform zu tragen und verbreitete das Gerücht, er habe den Verstand verloren. Selbstverständlich hatte Idriz den Verstand keineswegs verloren, und seinen Kampf gegen Zogu führte er nun mit ganz eigenen Mitteln weiter: Er schnitzte Spazierstöcke in verschiedenen Formen, bemalte sie mit roter und schwarzer Farbe, beschriftete sie der ganzen Länge nach und kerbte allegorische Figuren ins Holz. Von jedem Wort der Beschriftung schrieb er nur den ersten oder die ersten paar Buchstaben.305 Mit diesen Stöcken ging er auf den Markt, auf die Straßen und 3 03 Idriz Guri (1870–1941), Offizier, Patriot und Antizogist; siehe auch S. 251. 304 Hasan Xhiku (1875–1945) aus Gjirokastra, wichtige Persönlichkeit im albanischen Unabhängigkeitskampf. 305 Fußnote im albanischen Original: So schrieb Idriz Guri beispielsweise auf einen Spazierstock: Sh L 28.XI.1912, und auf die andere Seite: V N 7 prill 1930, was folgende Bedeutung hat: «Shqipëria e lirë 28 Nëntor 1912» (Albanien frei 28. November 1912) und «Vdekje nacionale 7 prill 1939» (Nationaler Tod / Tod der Nation) 7. April 1939.

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Plätze, wobei er mit niemandem ein Wort sprach, den betreffenden Stock aber mit gestreckten Armen in die Luft hielt, ohne ihn je abzusetzen. Dadurch wurden die Stöcke von Idriz für alle unübersehbar. Sämtliche Parolen auf ihnen waren gegen das Regime gerichtet. Ihre Bedeutung erläuterte er nur seinen Vertrauten, welche die Erklärung dann von Mund zu Mund weiterverbreiteten. Während wir dem Patrioten Idriz großen Respekt entgegenbrachten, spotteten die Lakaien von Zogu und sagten: «Da geht der irre Idriz mit seinem Stock auf den Markt». Zu meiner Zeit als Schüler des Lyzeums von Gjirokastra gab es weder Elektrizität noch Radio, so dass man auch keine Nachrichten über die Ereignisse auf der Welt empfangen konnte. Die einzige lokale Zeitung erschien nur einmal wöchentlich und die Zeitungen aus Tirana brachten nichts als Lobhudeleien auf das feudalistische Regime. Sie beschimpften Lenin und verfluchten die bolschewistische Revolution. Worum es bei dieser Revolution überhaupt ging, blieb uns Jungen ein Rätsel. Die französischen Professoren äußerten sich nicht dazu; offensichtlich war sie ihnen suspekt, sonst hätten sie nicht derart standhaft geschwiegen. Wenn wir antizogistischen Jungen aber sahen, wie in den Blättern aus Tirana «ein gewisser Lenin» und die Oktoberrevolution in den Schmutz gezogen wurden, sagten wir uns: [S. 123] «Da muss mehr dahinterstecken. Diese Revolution ist sicher gegen den König gerichtet, gegen die Bejs und die Geldsäcke; das muss eine Revolution der Armen sein, deshalb machen sie sie so schlecht.» Von da an interessierten wir uns, es begann die Zeit der Tuscheleien, der Fragen unter vorgehaltener Hand und der Diskussionen mit guten Kameraden. In einem Sommer kamen dann zur Ferienzeit unsere Kollegen Aqif, Selam 306 und andere aus Korça zurück, wo sie das dortige Lyzeum besuchten. Als ich das Thema auch ihnen gegenüber ansprechen wollte, flüsterte mir Selam ins Ohr: «Kein Wort darüber in der Öffentlichkeit; die Spione von Ahmet Zogu könnten uns hören. Aber komm morgen zu mir nach Hause, da werde ich dir etwas zeigen.» Am nächsten Tag machte ich mich gleich am Morgen auf den Weg zu Selam. «Plaka», «die Alte» – so nannten wir Selam – wohnte in einem alten Haus beim Mamani-Platz im Stadtteil Palorto. 307 Sein Vater, Xha Fejo, war alt und gebeugt, er hatte einen sanftmütigen und aufrichtigen Charakter und arbeitete als Straßenwischer für die Gemeinde. Er mochte uns sehr. Selam hatte auch eine Mutter und eine jüngere Schwester; das Lyzeum in Korça konnte er dank eines Stipendiums besuchen. Seine Leidenschaft waren französische Bücher; um sie sich leisten zu können, lebte er sehr sparsam und konnte dafür manchmal ein Buch bestellen. Selam besaß ein paar marxistische und ein paar bürgerliche Bücher, auch solche mit Bildern, die in je unter-

3 06 Aqif Selfo und Selam Xhaxhiu: Siehe Anm. 270. 307 Vermutlich ist der Zeman-Platz gemeint, bei dem sich die Mamani-Backstube befand, siehe S. 261.

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schiedlicher Weise über die Oktoberrevolution, über Lenin, Stalin, Woroschilow308 und die Rote Armee sprachen. Ihr Besitz war das große Geheimnis von Selam, das er mir in fast verschwörerischer Weise an jenem Morgen offenbarte. Er hatte sie in einem verschließbaren Schrein unter der Zimmerdecke eingeschlossen. Wir lasen sie eins nach dem anderen auf Französisch durch und erfuhren, was in Russland wirklich geschehen war. An den Fotos von Lenin, Stalin und Woroschilow, der mit einer vorne erhöhten Militärmütze und einer breiten Schärpe über der Brust die Rote Armee zur Parade auf dem Roten Platz führte, konnten wir uns kaum sattsehen. In meinem jungen Hirn dämmerte die Morgenröte einer ganz neuen Welt. Hier, im Hause eines armen Proletariers, der die Straßen von Gjirokastra fegte – Xha Fejo Xhaxhiu – zündete der erste Funke eines großen Feuers. Dies muss im Jahr 1926 geschehen sein. 309 Nach und nach begann mein Verstand zu reifen, nach und nach [S. 124] verbreiterte sich der Horizont meiner Kenntnisse. Ich begann, die Dinge klarer zu sehen und besser zu verstehen. Vieles wurde mir von Tag zu Tag verständlicher, vieles kristallisierte sich nun heraus. In der Schule erzielte ich gute Noten, 310 insbesondere in den Fächern albanische und französische Sprache und Literatur, in Geschichte und Geografie. In Mathematik war ich zwar gut, aber nicht glänzend, 311 immerhin wurde ich auch in diesem Fach regulär promoviert. Die Professoren mochten mich und ich sie auch; keiner beschwerte sich je über mich. Französisch lernte ich gut lesen und schreiben, und selbstverständlich sprach ich es auch fließend, natürlich immer entsprechend dem Niveau des jeweiligen Schuljahrs. Dies war mir auch eine große Hilfe, ohne Probleme viele Bücher zu lesen  – von Schriftstellern, Dichtern, Dramen-, Komödien- und Geschichtsschreibern. Meine damaligen Lieblingsautoren waren Victor Hugo, Lamartine, Lafontaine, Alexander Dumas der Ältere, Perrault, die Brüder Grimm, Corneille, Racine, Molière, Boileau, La Bruyère, Emile Verhaeren, Anatole France, Théophile Gautier und viele andere. Später vertiefte ich mich weiter in sie und baute das Spektrum meiner Lektüren aus, 308 Kliment Jefremowitsch Woroschilow (1881–1969), Verteidigungsminister der Sowjetunion und später Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets. 309 Die letzten beiden Sätze sind im Original fettgedruckt. 310 Baruti (2013: S. 13 f.) stellt anhand eines «zufällig erhaltenen Protokolls» aus dem Archiv des Lyzeums dar, dass Enver Hoxhas Noten eher durchschnittlich waren. 311 Fußnote im albanischen Original: In der Rede, die Genosse Enver Hoxha am 25. Oktober 1962 vor Vertretern der Intelligenz in Tirana hielt, sagte er unter anderem: «Jetzt, wo ich so begeistert über die Wissenschaft und vor allem über die Mathematik spreche, lachen die Jüngeren vielleicht, so wie auch ich gelacht habe, als ich jung war. Denn ich muss gestehen, Genossen, dass ich die Mathematik nicht besonders mochte und dass die Mathematikstunden in der Mittelschule mich langweilten. In Tat und Wahrheit aber hat auch die Mathematik ihre eigene Poesie, sie ist faszinierend und überhaupt nicht so ‹bärbeißig›, wie ich sie in Erinnerung habe.» (Enver Hoxha, Werke, Bd. 23, S. 531–532.)

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dies vor allem zur Zeit, als ich das Lyzeum in Korça mit seinen viel umfangreicheren Bibliotheken besuchte. Dort konnte ich mein Französisch deutlich verbessern. Meinen ersten Professoren im Fach Albanisch, meiner Muttersprache, bin ich sehr dankbar, gleichermaßen aber auch meinen Französischprofessoren, hat mir deren Sprache, nach der albanischen, im Leben doch viel geholfen. Mit dem Besuch der dritten Klasse des Lyzeums begannen unsere Sorgen als Schüler von Neuem. In Tirana wurde nämlich die Frage erörtert, ob das Lyzeum in Gjirokastra bis zur Abschlussklasse ausgebaut werden solle – oder sollte es gar keine zweite Klasse mehr geben?312 Für uns und die bildungswillige Bevölkerung von Gjirokastra war dies Anlass zu großer Besorgnis. [S. 125] Was sollte aus uns Jungen werden, wenn wir die dritte Klasse des Lyzeums absolviert hatten? Sollten wir auf der Straße landen? Arbeit gab es nicht, die Regierung stand vor dem Bankrott, die Lehrkräfte und die Professoren hatten schon seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten. Auch unsere Familie war in ökonomischer Hinsicht übel dran. Unvorstellbar, dass mein Vater mich aus eigenen Mitteln nach Korça schicken könnte, um am dortigen Lyzeum meine Ausbildung fortzusetzen, hatten wir doch zu Hause kaum genug zu essen. Alle, wir und unsere Professoren, waren mehr als trübsinnig. Die französischen und albanischen Professoren legten beim Bildungsministerium in Tirana Protest ein, aber wer hörte schon auf sie! Dann begannen die Proteste der Bevölkerung und von uns Schülern, aber auch uns lieh niemand sein Ohr. «Wir haben eine Überproduktion von Intellektuellen», sollte später313 Fejzi Bej Alizoti, der Abgeordnete aus Gjirokastra, ausrufen, 314 der schließlich füsiliert wurde, nachdem wir Albanien von den fremden Besatzungen und dem Joch der einheimischen Feudalen und Bourgeois befreit hatten. Der Aufruhr steigerte sich, doch das obskurantistische Regime von Ahmet Zogu blieb bei seinem Entscheid, dass das französische Lyzeum von Gjirokastra vorläufig nur bis zur dritten Klasse geführt werde; später sollte es sogar gänzlich aufgehoben werden. Um die Unzufriedenheit etwas zu besänftigen, beschloss Tirana, dass unbemittelten Absolventen der dritten Klasse ein Stipendium ausgerichtet werde, damit sie ihre Ausbildung in Korça abschließen konnten. Einer von diesen unbemittelten Stipendiaten war denn auch ich. Selahudin Kokona, Hamit Kokalari 315 und ein paar

3 12 Die zweite Klasse wäre die Anschlussklasse an die dritte gewesen. 313 Fußnote im albanischen Original: Im Jahr 1935 gab Fejzi Alizoti im Parlament der Zogu-Clique Alarm wegen der Gefahr der «intellektuellen Überproduktion». (Siehe: Enver Hoxha, Werke, Bd. 5, S. 208–209.) 314 Fejzi (Bej) Alizoti, 1874–1945, Feudalherr, hoher Beamter und mehrfach Minister, galt als sehr italienfreundlich und wurde als Kollaborateur hingerichtet. 315 Selahudin Kokona: Der Bruder des bekannten Übersetzers, Lexikologen und Schriftstellers Vedat Kokona (1913–1998). Seine «Erinnerungen», in deren erstem Teil die Zeit des Lyzeums­ besuchs in Korça beschrieben werden, stellen einen wertvollen Vergleichs- und Paralleltext zu Enver Hoxhas «Jugendjahren» dar; siehe Einleitung, Kap. 9. – Zu Hamit Kokalari siehe S. 37, 145.

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andere, die finanziell gut gestellt waren, gingen aus eigenen Mitteln nach Korça, andere brachen die Schule gänzlich ab. Meine Freude, als wir die Zusicherung der Stipendien für das Lyzeum Korça erhielten, war riesig, war unbeschreiblich. Nun begannen die Vorbereitungen – und mit ihnen alle Arten von Träumen. Wir würden Korça sehen, das schöne Korça, von dem uns jeden Sommer die Kameraden erzählten, die das dortige Lyzeum bereits besuch­ ten. Aus ihren Berichten waren wir mit dem Leben im Lyzeum von Korça, den dortigen Professoren, ihren Gewohnheiten, Stärken und Schwächen, so vertraut, als wären wir längst schon dort gewesen. Mein Vater nahm Geld auf und ließ mir einen warmen Wintermantel und ein Paar Schuhe fertigen. Punkto Kleider hauten wir nicht über die Schnur, aber meine Mutter machte, was in ihren Möglichkeiten stand und schneiderte mir zwei Hemden und zwei [S. 126] Hosen. Dazu strickte sie mir zwei Paar Strümpfe aus Schaf- und zwei besonders robuste aus Ziegenwolle. All das packte ich sorgfältig in einen alten Koffer, den mein verstorbener Bruder Beqir316 aus Amerika mitgebracht hatte. Blieb bloß noch die Schülermütze, das einzige «Uniformstück» des Lyzeums von Korça. Ich bestürmte meinen Vater so lange, bis er eine solche Mütze beim Vater von Samuel Çifuti 317 bestellte, der sie aus Ioannina bringen würde. Sie kostete 25 Lek. Das rote Band mit zwei schwarzen Mittelstreifen würde ich mir selbst in Korça beschaffen. Vor lauter Vorfreude hielten wir es zu Hause kaum mehr aus, wir zählten die Tage bis zu unserer Abreise. Nun kehrten auch die Kollegen aus Korça in die Ferien zurück und während dieser ganzen Zeit diskutierten wir und machten Pläne. Endlich kam der ersehnte Tag. Allerdings war mir das Herz trotzdem schwer, denn nun würde ich Vater und Mutter, meine Schwester Sano und alle meine Lieben verlassen, die ich so liebte und die auch mich aus ganzem Herzen liebten. Es war das erste Mal, dass ich von ihnen getrennt wurde; ich fühlte mich, als würde ich sie mitten auf der Straße stehenlassen. Sie hatten doch nur mich, erwarteten alles von mir, sahen in mir ihre Zukunft. Sie hatten mich mit dem Wenigen, was ihnen zur Verfügung stand, aufgezogen, gemeinsam hatten wir so viele Schwierigkeiten und Sorgen bewältigt: All das schnürte mein Herz zusammen, besonders aber der Anblick meiner kummervollen Mutter und ihrer verstohlenen Tränen. Bevor ich dann abreiste, bekam ich noch eine tüchtige Ladung guter Ratschläge: Achtgeben, dass ich mich nicht erkälte, regelmäßig Briefe schreiben (da ihre Gedanken immer bei mir sein würden), fleißig lernen, mich gut aufführen, damit ich mich nicht vor mir selbst zu schämen brauchte und auch die Familie nicht beschämen würde. Mein Vater ließ es sich nicht nehmen zu sagen: «Schau, Enver, du weißt, dass wir arm sind; Geld, das wir dir schicken könnten, haben wir nicht, also verlang auch keines von uns. Ich stecke dir hier einen Napoleontaler zu, pass auf ihn auf, ver3 16 Beqir Hoxha: Siehe S. 58, 109, 213 ff., 288. 317 Wörtlich «Samuel, der Jude». Gemeint ist Samuel Kofina, siehe S.  193 f., 197 f.

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schwende ihn nicht, behalte ihn für eine besonders schwierige Situation.» Bei dieser Gelegenheit rechnete er mir auch gleich vor, wie viele Schulden er für meine Schuhe, Hemden, Strümpfe, meine Schülermütze und die Fahrkosten nach Korça machen musste. Meine Mutter richtete mir einen Proviant aus Byrek, ein paar trockenen Qofte, etwas Käse und einem Wecken. All dies packte sie in eine Tüte, damit ich es unterwegs essen könne, da wir eine Nacht in der Stadt Përmet schlafen würden. Am Morgen des Abreisetages bestiegen wir am «Shesh i Çerçizit», 318 wo schon viele Männer zu unserer Begleitung bereitstanden, das Automobil. Von der Mutter und der Schwester Sano verabschiedete ich mich mit Küssen und Umarmungen; alle drei mussten wir weinen, schon seit wir das Haus verlassen hatten. Unter Tränen begleiteten sie mich bis zur Bäckerei. [S. 127] Ich griff mir meinen Koffer, der Vater trug die Tasche mit den Lebensmitteln und den warmen Mantel. Von Neuem verabschiedeten wir uns und weinten bittere Tränen. Dann winkte ich meiner lieben Mutter und meiner Schwester Sano zu, die ich nun zurücklassen würde. Nachdem ich auch den Vater und die anderen auf dem Platz ein letztes Mal umarmt hatte, fuhr unser Lastwagen voller Studenten ab. Auf der Fahrt die Landstraße hinunter, wo wir so viele schöne Erinnerungen an unsere Kindheit, an unsere Jugend, zurückließen, stimmten wir ein Lied an. Die Straße, die Hügel, die Mauern und Bäume, die Brachfelder und Weiden, die «Ura e lumit»:319 Alles schien uns zuzuwinken, schien uns zu grüßen und uns zuzurufen: «Vergesst uns niemals, denn hier ist euer Herz». Nun öffnete sich eine neue Seite im Buch meines Lebens, voll mit großen Hoffnungen und schönen Träumen, mit Gedanken und Einfällen und mit einem gestärkten Gefühl der Verantwortung, was meine Pflichten als junger Mann gegenüber Familie und Vaterland betraf. Das Auto war in voller Fahrt, unsere Reise führte uns über Tepelena, Këlcyra, Përmet, Leskovik und Erseka, bis wir schließlich in Korça ankamen. Wie viele schöne Dinge sahen wir! Unsere Heimat schien uns groß, weit und grenzenlos. Dies war unser teures, geliebtes und schönes Vaterland – doch zugleich war es unser armes und verelendetes Vaterland, das unter der Fuchtel des Satrapen Ahmet Zogu und seiner Bejs und Agas litt. Ihnen sollte mein gnadenloser Kampf gelten, bis hin zu ihrer vollständigen Vernichtung und Ausmerzung. Februar 1969

3 18 Der nach dem Helden Çerçiz Topulli benannte Hauptplatz von Gjirokastra. 319 Wörtlich: «Die Brücke des Flusses»; gemeint ist die Brücke über den Drino.

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[S. 129] Heitere

Schulausflüge

Schulausflüge liebte ich über alles. Zu ihrem ganz besonderen Reiz trug wohl bei, dass wir die Orte, an denen wir täglich spielten  – die steinigen Gassen und den kleinen Platz vor der Moschee, den «Shesh i Xhepit», 320 und die Höhle vor der Tür von Xha Riko – hinter uns ließen und ins Freie, an die frische Luft herauskamen. Und eine besondere Freude war es auch, im Kreis aller Klassenkameraden unterwegs zu sein, zusammen mit unseren Lehrern, die bei diesen Ausflügen weniger unnahbar und viel ungezwungener waren. Auch jetzt, im fortgeschrittenen Alter, verbinden mich mit diesen Exkursionen sehnsüchtige Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit, meiner Jugend. Bisweilen schließe ich die Augen, wenn ich an diese Zeit zurückdenke, und dann ist mir, als würde ich wieder den Duft des Grases riechen, als würde ich den Wind fühlen, der durch die Zypressen streicht, als würde ich die Bienen hören, die zwischen der Jerusalemsalbei 321 mit ihren gelben Blüten herumsummen. Wenn ein Schulausflug bevorstand, kündigte der Lehrer das meist folgendermaßen an: «Morgen, Jungs, machen wir einen Ausflug, falls das Wetter mitspielt! Wir machen uns früh auf den Weg und kommen erst gegen Abend heim.» [S. 130] Kaum hatten wir diese frohe Botschaft vernommen, so klatschten wir, jauchzten und sprangen vor Freude in die Luft. Einer fragte: «Herr Lehrer, sollen wir Proviant mitnehmen?» «Unbedingt doch!», war die Antwort, «Aufgetischt kriegen wir sicher nichts.» Und ein anderer: «Herr Lehrer, und sollen wir auch eine Flasche Wasser dabeihaben?» Ein Dritter: «Wohin gehen wir denn? Etwa zum Shamanja-Bach?» «Was werden wir an der Quelle tun?» «Gehen wir doch zur Tekke 322 von Baba Mane auf dem Hügel!» «Nein, lieber in den Garten von Herrn Elmaz Çani!»323 «Nein, das ist zu weit!», «Nein, das ist ganz nah!», «Dort gibt’s Wasser!», «Gibt es nicht!», «Dort ist es schön schattig!», «Stimmt gar nicht!» – bis der Lehrer unsere fröhliche Debatte beendete und sagte: «Macht euch keine Gedanken; wir werden an einen schönen Ort gehen; Hauptsache, das Wetter bleibt gut.» «Oh ja, hoffentlich bleibt es wirklich gut!» 3 20 «Taschenplatz»: Siehe S. 131, 170, 231. 321 Jerusalemsalbei (salvia hierosolytama, Strauchbrandkraut): Eine in Mitteleuropa und im Nahen Osten verbreitete strauchartige Salbeivarietät. 322 Tekke (alban. teqe): Heiligtum des liberalen alevitischen Bektashi-Ordens mit seinen BektashiDerwischen. Der Baba (Vater) ist für die Predigten und die Gläubigen in der Tekke zuständig. 323 Elmaz Çani: Siehe S.  104 f., 139.

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Kaum hatten wir das Schulhaus verlassen, blickten alle zum Himmel. «Zum Teufel, es hat ein paar Wolken!» «Ach was, es ist wunderschön. Kristallklar!» «Wenn es nur während der Nacht nicht umschlägt!» Bevor wir an solchen Tagen zu Bett gingen, streckten wir nochmals den Kopf aus dem Fenster oder gingen zur Hofmauer und nahmen die Tiefen des Himmels und seine Mysterien in Augenschein. Würde er uns gnädig gestimmt sein, würde das Wetter passen? Der frühe Morgen fand uns schon wieder am Fenster oder bei der Mauer, wo wir nach dem Wetter schauten. Und wie immer versicherten wir: «Auf den Ausflug gehen wir auf jeden Fall; ob die Sonne nun scheint oder nicht. Wenn es bloß nicht regnet!» Was aber wie ein Damoklesschwert über uns hing, war natürlich der Entscheid des Lehrers oder des Schuldirektors. Den Ausdruck «Damoklesschwert» kannten wir damals zwar nicht, aber völlig klar war uns, dass der besagte Entscheid mit dem Himmel – mit dem blauen Himmel! – zusammenhing. Und von diesem Entscheid und diesem Himmel hing alles ab: ob an diesem Tag große Freude oder tiefe Traurigkeit unsere kleinen Herzen beherrschen würde. Wenn ich an so einem Tag, an dem der Lehrer uns für morgen einen Ausflug angekündigt hatte, [S. 131] nach Hause ging, hatte ich wie alle anderen auch meine Schultasche umgehängt. Kam zufällig Baba Çen vorbei, streifte ich sie flugs ab, damit er sie mir hilfsbereit heimbrachte. Und dann nichts wie los und heimgerannt! Einzig auf meine weiße Filzmütze musste ich aufpassen, damit sie mir nicht vom Kopf fiel. In meinen Opanken mit den genagelten Sohlen und den Spitzen vorne blieben Steinchen stecken. Die Mutter ermahnte mich dann jeweils: «Pass doch auf beim Laufen, Junge! Deine Opanken sind ja so zerrissen, wie wenn du sie mit den Zähnen zerfetzt hättest!» «Was soll ich denn tun, Mutter! Die Steine, nicht meine Zähne sind es, die den Opanken so zusetzen!» So kam ich im Flug zu Hause an. Ich hängte meine Schultasche an einen Nagel bei der Tür vor dem Pat, dem Familienzimmer, und eilte zur Mutter: «Mutter, morgen machen wir einen Schulausflug! Wir bleiben den ganzen Tag, drum sollen wir auch etwas zu essen mitnehmen. Was kannst du mir vorbereiten?» Worauf sie: «Gratuliere, mein Junge! Ich denke mir etwas aus; geh du jetzt spielen und komm nicht zu spät zurück!» So ging ich nach draußen, zum «Ulliri i Çuços»324 oder nach Karanxha 325 und spielte dort mit den «Ägyptern», 326 die während meiner Kindheit zu meinen engen 3 24 Ulliri i Çuços (Ölbaum des Çuço): Toponym in Gjirokastra. 325 Karanxha: Toponym in Gjirokastra; offenbar ein zum Spielen geeigneter Platz in der Nähe des Hauses der Familie Hoxha in Palorto; siehe S. 289. 326 Ägypter: Siehe S. 66, 287 ff.

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Freunden zählten und bei uns ein- und ausgingen. Wenn ich dann heimging, noch bevor die Männer zurückkehrten, stellte ich sogleich wieder dieselbe Frage: «Mutter, was bereitest du mir für morgen vor?» Und natürlich hatte die liebe Mutter an alles gedacht. Angesichts des Wenigen, was wir damals hatten, dürfte ihr das allerdings kaum großes Kopfzerbrechen bereitet haben. «Du kriegst ein gekochtes Ei, Käse, eine Zwiebel und zwei Köfte. 327 Dazu wickle ich dir etwas Salz und Oregano ein, um das Ei hineinzustippen. Das sollte reichen!» Ich umarmte die Mutter überglücklich und sagte ihr: «Wie lieb du bist! Wann machst du mir das alles bereit, heute Abend oder morgen früh?» «Mach dir keine Sorgen», antwortete sie. «Bevor du morgen aus dem Haus gehst, wickle ich dir den Proviant in ein Tuch ein und versorge ihn in der Schultasche, so dass du alles bereit hast. Und jetzt geh und mach deine Hausaufgaben!» An die Hausaufgaben dachte meine Mutter immer. Ich selbst vergaß sie an solchen fröhlichen Abenden manchmal und entgegnete: [S. 132] «Aber morgen haben wir doch gar keinen Unterricht!» «Was du heute kannst besorgen», lautete die Antwort, «das verschiebe nicht auf morgen!» Und mit diesen Worten zündete sie mir mein kleines Öllämpchen an. Ich lag bäuchlings auf dem Boden  – einen Tisch hatten wir nicht  – und schrieb oder lernte dort, bis Baba Çen und der Vater «vom Markt» kamen und wir unser Abendbrot aßen. (Damals sagte man in Gjirokastra nicht «die Männer kommen von der Arbeit» oder «gehen zur Arbeit», vielmehr hieß es: «Sie kommen vom Markt, sie gehen auf den Markt, sie sind auf dem Markt». Der Markt, der «Pazar» war der Mittelpunkt der Stadt.) Schon früh am nächsten Morgen waren wir in der Schule und trieben uns auf dem Pausenhof herum. Das Wetter war gut, die Sonne schien. Wir warteten sehnlich auf die vereinbarte Zeit und unterhielten uns angeregt: «Kommt wohl die ganze Schule auf den Ausflug mit oder nur einige Klassen?» «Natürlich werden wir alle zusammen gehen; wer möchte denn hierbleiben! Seht ihr nicht, auch die Schüler der anderen Klasse haben Proviant dabei!» Mit solchen Gesprächen vertrieben wir uns die Zeit, bis die Lehrer herauskamen und einer von ihnen in die Hände klatschte oder die Glocke läutete und dann verkündete: «Jungs» (Mädchen hatte es an unserer Schule keine), «stellt euch klassenweise in Kolonnen auf, trödelt nicht, macht keinen Lärm. Gleich brechen wir auf und wandern zur Tekke von Baba Mane.»

327 Alban. qofte, Fleischklösschen.

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Teil II:  Kindheitsjahre

Hurrarufe und Freudenschreie ertönten und alle rannten hin und her, um ihre Klasse und ihre Freunde zu finden. Nachdem sich der Tumult endlich beruhigt hatte, machten wir uns auf der Rruga e Varoshit, auf der Varosh-Straße, auf den Weg. Manchmal hatte ein Schüler von seinem Vater einen Groschen auf den Ausflug mitbekommen. Waren wir dann am Ende der kleinen Steinbrücke angekommen (sie führt nach unten zu den Häusern der Angonis 328 und darüber hinaus, um sich dann den Fundamenten der Gebäude entlang bis zum Flussufer zu schlängeln), so setzte sich dieser Schüler mit oder ohne Erlaubnis des Lehrers ab und verschwand im kleinen Laden des Zuckerbäckers Shaban Gega.329 Diesen Laden liebten wir Kleinen heiß. Dort gab es Süßigkeiten wie Tahinhalwa, Kadaif, Halwa und Koshalwa. Letztere war weiß und enthielt Nüsse; wenn man ein Stück kaufte, schlug Shaban es mit einem kleinen Beil ab. Zum Angebot gehörten des Weiteren Beblebli (geröstete Erbsen), Nüsse, gebrannter Zucker in Tafeln und lange Zariko-Riegel, 330 die manchmal weiß, manchmal aber auch mit einer roten Linie verziert waren, die einer Schlange glich. Was für Köstlichkeiten hielt Gega doch bereit! Alle sagten nur «bei Gega» oder «Gega ist gekommen», wenn er mit seinen Leckereien durchs Quartier zog, die auf einer runden Holzplatte aufgeschichtet waren. [S. 133] Diese Platte trug er, gesichert durch einen Tragring, auf dem Kopf, dazu hielt er in der Hand ein dreibeiniges Traggestell. Wenn man ihn bat: «Gega, ich hätte gerne einen Riegel» oder «Ich möchte für einen Groschen Tahina», 331 stellte er unverzüglich sein Dreibein auf, nahm die hölzerne Platte vom Kopf, schnitt das gewünschte Stück Tahina ab, nahm das Geld in Empfang, versorgte es in seiner Tasche und setzte seinen Weg mit dem Ruf «Koshalwa, Tahinhalwa!» fort. Unsere Kolonne bog jetzt in die Straße ein, die mitten durch das Viertel Varosh führt. Diese Straße ist steil und mit Kopfsteinpflaster belegt. Vor den Toren der Häuser – Häuser, die uns heute eher klein scheinen, uns damals aber sehr hoch vorkamen – gab es steinerne Sitzbänke. Am oberen Teil der Straße hatte es Geschäfte: den einen oder anderen Kramladen, Flickschuster, einige heruntergekommene Herbergen, Opankenmacher. Weiter unten, nachdem man das Haus meines Schulfreundes Fane Rodi 332 hinter sich gelassen hatte, [S. 134] gab es eine Bäckerei und, im Stockwerk darüber, ein Geschäft, in dem Baumwollstoff verkauft wurde. Alle diese Dinge leben in meiner Erinnerung, als sähe ich einen Film, der alt, uralt, mir aber so lieb und so voll Emotionen ist.

3 28 Alban. Angonatë, angesehenes Geschlecht im Stadtteil Teqe, siehe S. 92, 271. 329 Zuckerbäcker: Wörtlich Kos[h]allva- (Joghurt-Halwa-)Hersteller (koshallvaxhi). 330 Zariko: Weiße oder farbige Riegel aus Zucker, die von den Kindern in der Art von Schleckstängeln gelutscht wurden. 331 Tahina, alban. tahin: Sesammus. 332 Fane Rodi: Siehe S. 200, 204.

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Und hier kommt das Sträßchen, das zum Haus von Fane Hido führt, einem reichen Kaufmann. Seinen Namen kannte ich aus folgendem Grund: Wenn in unserer Familie Pluderhosen für die Schwestern und die Töchter von Baba Çen beschafft werden mussten, kam der Junge von Fane Hido zu uns und brachte einen Stapel Baumwollstoffe, aus dem die Frauen das Passende aussuchen konnten  – denn selbst gingen Frauen damals nicht auf den Markt. Und hier, weiter unten, kommt die Gasse, die zum Haus der Ficos führt. 333 Weiter drüben gelangte man vom «Sokaku i të Marrëve», der «Gasse der Verrückten»334 her zum Haus, in dem wir wohnten, nachdem unser erstes abgebrannt war. Alle diese Straßen waren mir wohlbekannt; ich liebte sie umso mehr, als später in einer dort gelegen Schule (ich berichtete schon darüber) das französische Lyzeum eröffnet wurde. 335 Diese Straßen und Gassen stellten also meinen damaligen Schulweg dar. [S. 135] Ich liebte sie auch deshalb, weil sie unser Weg waren, wenn wir mit der Mutter und den Schwestern den Onkel im Viertel Hazmurat besuchten und dabei durch den Stadtteil Gjobek und am Haus meines Freundes Çome, des Sohnes von Lipe Dhrami, vorbeikamen. Dieses Haus lag in der Nähe desjenigen von Çoro, dem Metzger, der mit seiner Paça 336 durch die Straßen zog und dabei rief «Paça mit Beinfleisch! Kauft Paça!» Auf der Varosh-Straße mussten wir teils in Zweier-, teils in Dreierkolonne gehen, weil die Straße bald enger, bald weiter wurde. Während des Marschierens sangen wir patriotische Lieder wie «Für das Mutterland» oder «Schon am ersten Januar». Schließlich verließen wir die Straße und ließen die letzten Häuser der Stadt zu unserer Linken zurück. Wir stürzten zum Kieselstrand des Çullo-Baches und verteilten uns gerade so wie die Kiesel des Bachs. Kolonnen gab es da nicht mehr, der Weg wurde streckenweise beschwerlich, weil man sich zwischen großen Steinbrocken durchschlängeln oder über diese kraxeln musste. Wir kamen oberhalb der Kirche und der Kirchhofmauer vorbei und waren dann schon bald am Fuß des Hügels, wo der Boden aus weichem Tuffstein bestand. Erlöst von den peinvollen Steinen des Bachs, und wie um es diesen zu zeigen, stürzten wir uns wie Ziegenböcklein in den Aufstieg, den wir «in einem Atemzug» bewältigten, wie wir damals sagten. Waren wir dann oben angekommen, verschwitzt und mit roten Köpfen, taten wir, als sei das gar nichts gewesen. Wir ließen uns auf Steinen oder Mauerresten nieder und betrachteten mit Behagen die Stadt und die Kameraden, die noch am Aufstieg waren. Jeder versuchte sein Haus oder das eines Freundes zu finden und es den anderen zu zeigen. Der Anblick des Çullo-Baches versetzte uns aus der Ferne in Schrecken, obgleich er uns von nahe, wenn wir dort mit Freunden wilden Spargel sammelten, 337 nicht so fürchterlich 3 33 Zum Haus der Ficos siehe S.  97 f. 334 Gasse der Verrückten: Siehe S.  95 f. 335 Vgl. oben im Kapitel «Meine Schulen» (S. 126, 134, 137 ff.). 336 Suppe aus Pansen, oft mit kleinen Stücken von Kopf- oder Beinfleisch. 337 Vgl. Seite 99, 209, 242.

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erschien. Wer weiß, vielleicht waren es gerade eben die grünen Wildspargelpflanzen, die ihn etwas freundlicher aussehen ließen! Als alle Schüler und Lehrer oben angekommen waren und wir uns etwas ausgeruht hatten, führte uns Herr Xhafo338 zur Straße, die zum Südwesten des Hügels führt und sagte: «Jungs, hier – an diesem Ort, wo wir uns jetzt befinden – war auch Çerçiz Topulli 339 mit seiner Kämpferschar. Er wartete hier auf die Rückkehr der beiden Kampfgenossen, die er nach Gjirokastra geschickt hatte, um den türkischen Bimbash 340 zu ermorden. Von diesem Platz her hörte er die Gewehrschüsse, die in der Stadt hallten, und sah mit eigenen Augen einen Adler dort drüben.»341 Dann wies Herr Xhafo mit dem Finger auf die Tekke von Baba Hasan 342 auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses und das Brachland von Embro Toto, wohin [S. 136] die beiden Kampfgenossen von Çerçiz gehen sollten, nachdem sie den Mord vollbracht hatten. «Der Bimbash sollte ermordet werden», fuhr Herr Xhafo fort, «und so geschah es denn auch. Und zwar auf der Straße, die vom Markt in den Stadtteil Hazmurat führt, denn dort lebte dieser miese Kerl. Beim Haus von Jup krachte der Gewehrschuss und der Bimbash, dieser Türkenfreund, stürzte wie ein verendetes Kalb aufs Pflaster. Die beiden Helden von Çerçiz aber rannten eilends die Gasse herab, bogen unten nicht zur Tekke von Baba Hasan ein, sondern eilten über die Lulo-Gasse, bis sie bei der Kirche herauskamen. Wie Rehe am Berg stürmten sie dahin, wie ein Wirbelwind war ihr Lauf. Çerçiz hörte die Gewehrschüsse und sprang auf», fuhr Herr Xhafo fort (wozu er ebenfalls aufstand), «und schrie freudig: ‹Der Türkenknecht ist tot! Es lebe das freie Albanien!› Dann gab er den Befehl ‹Gewehre laden!›. Sofort war das Krak-Krak des Ladens zu hören und die ganze Kämpferschar stand Gewehr bei Fuß. An vorderster Stelle stand Çerçiz. Ein wahrhaft stattlicher Mann mit seinem prall gefüllten Patronengurt und den wilden Haaren, die im Winde flatterten! ‹Schaut, die Kameraden sind bei der Kirche herausgekommen›, sagte Çerçiz. Um die beiden Kämpfer zu begrüßen und für ihre mutige patriotische Tat zu ehren, erteilte er seiner Schar den Befehl: ‹Bereit zum Schuss aufs Rathaus von Gjirokastra! Feuer!› Und so begannen die Feuersalven, deren Botschaft an die Türkei war: ‹Euer Rathaus haben wir unter Beschuss, euren Bimbash haben wir erledigt.›» 3 38 Gemeint ist der Lehrer Xhafo Poshi, vgl. S. 118, 130. 339 Çerçiz Topulli: Anführer des albanischen Freiheitskampfs, siehe S. 63. 340 Bimbash: Offizier im Grad eines Majors in der osmanischen Armee. Der bosnischstämmige Bimbash Halil Efendi war in Gjirokastra der Vorsteher der Gendarmerie und ein Gegenspieler der albanischen Freiheitskämpfer. Er wurde am 23. Februar 1908 erschossen. 341 Etwas unklare Stelle. Es könnte tatsächlich und höchst symbolträchtig ein Adler gemeint sein, denkbar ist aber auch, dass die Fahne mit dem albanischen Adler gemeint ist, die aufgezogen wurde. 342 Zur Tekke von Baba Hasan siehe S. 136, 211.

Heitere Schulausflüge161

«Hier also», so weiter Herr Xhafo mit hochgerecktem Kopf und Augen, die Funken sprühten wie jene von Çerçiz, «hier war die ganze Kriegerschar versammelt, die für Albanien und die Freiheit gekämpft hat. Und heute versammeln auch wir uns hier, Lehrer und Schüler, die wir Wissen zum Besten von Albanien erwerben wollen!» Mit grenzenloser Hochachtung bewunderten wir Kleinen Herrn Xhafo, unseren Lehrer! Unsere Köpfe reichten gerade einmal bis zur glänzenden Kette seiner Taschenuhr, die für unsere kleinen, verdutzten Augen in solchen Momenten fast wie der riesige Patro­ nengurt von Çerçiz Topulli aussah. «Herr Xhafo», rief ein Schüler, «hast du Çerçiz selbst gesehen?»343 «Ich habe ihn gesehen, Jungs, ich habe mich mit ihm unterhalten und mit ihm gegessen.» «Konnte Çerçiz auch Lieder anstimmen und singen?», wollte ein anderer wissen. [S. 137] «Wunderbar sogar! Er konnte Lieder nicht nur anstimmen, sondern auch die zweite Stimme singen. 344 Er war auch der einzige, der auf labische Weise 345 tanzen konnte. «Herr Xhafo, sag uns, was ist nachher geschehen?» «Das erzähle ich euch alles ein anderes Mal, Jungs!» «Oh bitte, Herr Xhafo, bitte jetzt!» Und so fuhr der Lehrer in seiner Erzählung fort: «Nachdem Çerçiz die beiden Gefährten, die den Bimbash getötet hatten, geküsst und umarmt hatte, machte sich die Kämpferschar auf den Weg ins Dorf Mashkull­ ora. – Dreht euch mal um, dann seht ihr Mashkullora; dort drüben am Berg! – Mit geschulterten Gewehren stiegen Çerçiz und seine Truppe sicheren Schrittes den Abhang hinunter, überquerten den Kiesstrand und kamen im Dorf an, bei ihren treuen Freunden aus Mashkullora. Sie ließen sich unter der großen, uralten Platane nieder und berichteten den Leuten vom bedeutungsschweren Ereignis. 346 Die Platane von

343 Die Anredeusanzen im Albanischen sind liberaler als im Deutschen; die Kombination ‹Herr› und ‹du› stellt keine Normverletzung dar. 344 Zum isopolyphonen Gesang, um den es hier geht, siehe S.  178 ff. 345 Die Region Labëria im südwestlichen Albanien war und ist bekannt für ihre Folklore, zu der auch die isopolyphonen Lieder und die labischen Tänze gehören. 346 Fußnote im albanischen Original: Am 20. März 1978 stattete Genosse Enver Hoxha dem Dorf Mashkullora einen Besuch ab und setzte sich Knie an Knie mit dem Volk bei der Platane hin. Hierzu schreibt er in seinem Tagebuch unter anderem Folgendes: «Dies war für mich ein wundervoller Tag. Wir kamen am Stall vorbei, wo Çerçiz während ganzer Stunden gegen die ottomanischen Horden gekämpft hatte …. Wir gingen durch die jubelnde Menge und machten uns zur berühmten Platane auf. Sehr bewegt betrachtete ich diesen majestätischen Baum, der für immer seinen Platz in der Geschichte unseres Landes hat … Ich bin hierhergekommen, um mich mit den Menschen dieser Gegend zu treffen, um euch zu sehen, um mich mit euch zu freuen und um die historische Platane zu sehen. Diese Platane hat starke Wurzeln, wie es auch Mashkullora und seine Bewohner haben …».

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Mashkullora wird immer in Erinnerung bleiben, weil dort Çerçiz mit seinen Gefährten wie Löwen gekämpft haben. 347 Ihr kennt ja das Lied: In Mashkullora, bei der Platane, [in] Gjirokastra wurde der Bimbash ermordet … Bei der Platane in Mashkullora Sprach Çerçiz höchstpersönlich.»348

Nach diesem geschichtlichen Exkurs, der unseren schönen Ausflug zusätzlich bereichert hatte, nahmen wir den Weg zur Tekke unter die Füße – einen Weg mit Gras, schattigen Plätzchen, Blumen und Jerusalemsalbei. 349 [S. 138] Wie Bienen in den Bie­ nenstock drängten wir uns durch das große Tor der Tekke, um dann gleich wieder in die Gärten, Wiesen, unter die Bäume, in den Schatten auszuschwärmen. Der Hof der Tekke war recht groß. Teile von ihm waren mit dunklen Holzplatten belegt, vor allem jene, die zum Haus führten, wo Baba Mane wohnte, und jene, die in die andere Ecke führten, wo die Derwische wohnten. Der Rest des Hofes bestand aus gestampfter Erde, der Dung des Viehs war weggekehrt. Dieser Teil diente offenbar auch als Pferch für die Ziegen, von denen die Tekke [S. 139] eine stattliche Herde besaß. Ziegen wurden der Tekke von jenen Menschen geschenkt, die Muhibë geworden waren. 350 Die Tekke hatte einen eigenen Zuständigkeitsbereich für die Muhibë  – die sogenannte «Einflusszone», in die sich keine andere Tekke einmischen durfte, weil es sonst zu Konflikten gekommen wäre. Der Tekke von Baba Mane gehörten als Muhibë einige Familien aus Gjirokastra an, so etwa die von Javer Bej, die von Sami Karagjozi und andere Großgrundbesitzer. Zu ihrer eigentlichen Einflusszone aber zählten die Dörfer Mashkullora, Plesat, Prongji, Picar und weitere. All dies war uns damals sehr fremd. Nicht nur, dass in der Schule nicht über Religion gesprochen wurde, vielmehr gab es auch Lehrer, die sich ihr gegenüber dezidiert kritisch äußerten. Und in unserer Familie, angefangen bei Baba Çen, wurden Derwische und Hodschas sowieso als Dummköpfe betrachtet. – Rings um den Hof und den Ziegenpferch hatte die Tekke auch noch Vorratsspeicher. Die Lehrer statteten dem Baba einen Besuch ab und wurden in seinem Gastzimmer mit Kaffee bewirtet. Dann führte er sie in den großen Wohnraum – eigentlich eine 347 Die monumentale Platane von Mashkullora, der berühmteste Baum Albaniens, fiel 2012 einem Sturm zu Opfer. Schon zuvor hatte der über 200-jährige Baum wegen Wurzelverletzungen im Anschluss an Bau- und Betonarbeiten geserbelt. 348 Siehe zu diesem bekannten Lied auch S. 182. 349 Eine Kurzversion dieses Berichts findet sich S. 209. 350 Fußnote im albanischen Original: [Muhibë =] Jene, die in die Reihen der Bektashis aufgenommen wurden. [Dazu konnten auch Frauen und ganze Familien gehören. Ihr Status ist vielleicht demjenigen von Laienbrüdern in katholischen Orden zu vergleichen; Anm. d. Ü.]

Heitere Schulausflüge163

Wohnküche – der Derwische, wo Hashure 351 zubereitet wurde und die Derwische das Tassenspiel spielten. 352 «Die haben ja nichts anderes zu tun», meinte Herr Rexho, einer der Lehrer, der am meisten über die Derwische herzog. 353 «Die da», so klärte er uns auf, als wir uns unter den Zypressen versammelten, «das sind die größten Faulpelze: sie essen, trinken, spielen das Tassenspiel und waschen sich nie, so dass sie stinken wie Ziegenböcke. Aber was kann man da tun. Und verratet niemandem, was ich euch da erzählt habe!» Wir stiegen am Ende des Hofes über ein paar Stufen und gelangten in einen anderen Hof, der vollständig mit Steinplatten belegt war. Links befand sich die Stützmauer gegen den Hügel, zur Rechten waren ein paar Gemächer und in einer Ecke bildeten ein paar Weinstöcke, die sich an Drähten rankten, eine schattenspendende Pergola. Zuoberst im Hof war eine kleine Tür, die zu den Gärten der Tekke führte. Von dort her schwärmten wir wie Bienen aus und verteilten uns in Grüppchen im Gelände. Für ganze Stunden würden nun die Natur, die Zypressen, die Judas- und Feigenbäume, die Zürgelbäume mit den Reben, die an ihnen rankten, das Gras und die Blumenwiesen bis hin zu den Gräbern und den Heiligtümern der Babas ganz allein uns gehören, würden von uns Schuljungen erobert und besetzt sein! [S. 140] Die Kleinen, die zum ersten Mal zum Hügel der Tekke kamen, hielten meistens bei den kleinen Fenstern der Türben 354 inne. Rings um die Türben, die von hohen, dunklen Zypressen umgeben waren, war es in aller Regel sauber. Die düsteren Zypressen wirkten auf uns wie große, wortkarge Wesen, welche die verstorbenen Babas bewachten. Durch die Fensterchen sahen wir deren kalte Steinsärge, jeder mit einem Taç, 355 einem grünen Tuch oder einem gestickten Sargtuch bedeckt. Vor Furcht schauerte es uns; schnell liefen wir wieder weg. In kleinen Gruppen suchten wir uns die schönsten Schattenplätzchen im Gras aus. Wie wir uns gemütlich unter den Bäumen niedergelassen hatten, legten alle die Tücher und Taschen ab, in denen sie ihren Proviant mitgebracht hatten. Einige zogen die Schuhe aus, andere (falls sie eine hatten) ihre Jacke, und dann begannen wir zu spielen.

3 51 Hashure: Süßspeise aus gekochtem Weizen, mit Zucker, Nüssen und weiteren Zutaten. 352 Für dieses Spiel werden zwei Mannschaften gebildet und neun umgekehrte Kaffeetassen aufgestellt. Unter einer von ihnen befindet sich ein Getreidekorn oder Ring, der nun gefunden werden muss. (Stark vereinfachte Darstellung der komplizierten Regeln, Quelle: https://2lonline.com/ loja-me-filxhane/.) 353 Rexho Muçi: Siehe S. 130, 132. 354 Türbe: Siehe S. 102. 355 Taç: Weißer Fes mit einem grünen Streifen, wie ihn der Scheich, die Babas und die BektashiDerwische trugen.

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Alle möglichen Spiele kannten wir! Arabadaule, 356 Turana, 357 Pëze, 358 Nimm Feuer, 359 das Stöckchenspiel, 360 das Spiel mit den Steinplättchen, 361 Ringen mit oder ohne Beinstellen. Zwischen den Spielen stimmten wir das eine oder andere Lied, das wir in der Schule gelernt hatten, oder ein labisches Lied an. Der Hügel wimmelte nur so von Kindern. Was für eine Freude! Ab und zu kamen die Lehrer vorbei und warfen ein Auge auf uns. Diese Augenscheine nutzten wir, um unsere Fähigkeiten beim Springen, Ringen und Singen unter Beweis zu stellen. Auch jetzt noch, im fortgeschrittenen Alter, erinnere ich mich gut, wie uns die frohen Spielstunden bei den Schulausflügen meiner Kindheit wie im Fluge vergingen. Wir spielten und spielten und wurden nicht müde, bis schließlich der Magen unüberhörbar knurrte: «Ich habe Hunger!» Also beschlossen wir zu essen und setzten uns im Schneidersitz an einem schattigen Plätzchen ins Gras. In unserer Mitte warteten die Lebensmittel, die wir als unzertrennliche Kameraden zusammengelegt hatten. Nach dem Essen stürzten wir zum Brunnen der Tekke, um uns am Wasser gütlich zu tun. Wir füllten unsere Hände und tranken daraus das erfrischende kalte Wasser, bis unser Durst gestillt war, wir wuschen die verschwitzten Gesichter, tauchten gar den ganzen Kopf ins kühlende Nass und überließen dann den Platz anderen Mitschülern, die schon in der Reihe standen. Im Anschluss faulenzten wir wie die Lämmer und lagen eine gute Weile im Schatten. Es herrschte eine wahre Gluthitze. Die Lehrer aßen in der Tekke ihr Mittagsmahl, vielleicht in Gesellschaft des Babas. Möglicherweise hatte er für sie sogar ein Tier schlachten lassen, wie das die Tekke bisweilen machte, wenn Gäste kamen. Das gehörte zur Tradition. Man brachte der Tekke fünf Schaf böcke, sie schlachtete ein Lamm. So auch für unsere Lehrer, unabhängig davon, [S. 141] dass keiner von ihnen gläubig war, keiner ein Geschenk in die Tekke brachte und Herr Rexho gegen sie stichelte, wo er konnte. Nachmittags um drei Uhr versammelten wir uns alle auf dem Dreschplatz der Tekke. Dies war ein weiter, von Steinbänken gesäumter und ringsum von Zypressen umstellter Platz. Jenseits sahen wir die Felder, den Fluss Drino, die Berge der Lunxhëria, 362 die Burg Shën Triadha. 363 Wie herrlich das alles im Licht der untergehenden Sonne aussah! Wir liebten unser Land mit großer Inbrunst. Wir saßen auf den Stein-

3 56 Arabadaule: Ein Spiel in der Art von Bockspringen, siehe die genauere Beschreibung S.  174 f. 357 Turana: Gemäß Auskunft einer lokalen Informantin evtl. identisch mit ‹urana›, einer Variante des Wettrennens. 358 Pëze: Siehe die genauere Beschreibung S. 175. 359 Alban. merr zjarr, eine Art Wettrennen. Das Spiel ist unten (S. 170) näher beschrieben. 360 Alban. pingël. Siehe hierzu S.  169 f.; das Spiel heißt dort mit vollem Namen «kuti dhe pingëli». 361 Der Verlauf dieses ebenfalls in vielen Varianten gespielten Spiels konnte nicht eruiert werden. 362 Lunxhëria: Siehe S. 96. 363 Burg Shën Triadha (Heilige Dreifaltigkeit): Siehe S. 88.

Heitere Schulausflüge165

bänken, schaukelten mit den Beinen und konnten uns kaum sattsehen an der wunderbaren Natur. Nun kam Herr Arshi, unser Geografielehrer, zu uns. 364 Er lehrte uns sämtliche Dörfer der Lunxhëria auswendig, von Erind, Karjan und Kakoz bis nach Stegopul. Dies konnte er jetzt sogar in freier Natur tun, und dazu zeigte er mit seinem zierlichen Finger in die Landschaft: «Seht, das ist Qesorat, und da ist Dhoksat.» «Wo? Wo denn?», riefen wir. «Da, das ist Qesorat», antwortete Herr Arshi, «das Dorf von Koto Hoxhi, 365 unserem großen Lehrer der albanischen Sprache. Jungs, vergesst diesen erleuchteten Patrioten niemals! Und da seht ihr Dhoksat, ein Dorf mit patriotischer Tradition. Die muslimischen Soldaten, die dort vorbeizogen, wurden von den Christen wie Brüder empfangen, wovon ihr ja in den Volksliedern auch schon gehört habt.» Und dann fuhr er fort: «Hört auch das Volkslied aus der Kriegszeit, das die Bewohner von Dhoksat sich gegen Räuberbanden 366 ausgedacht hatten. Sie überrumpelten diese Banden jeweils und schlugen auch diejenigen, welche an ihrem Dorf vorbeizogen. In der Diele bei Koço Duda Schwang das Tanzbein Hamit Guga. Er leert die Marmelade gläserweise, O Marmelade, Glas um Glas! Dich hat Kaço Shkurta gemacht, 367 O Hamit Guga, tapferer Mann, in Sopot wurde dein Schwung gebremst.»

Anschließend zeigte Herr Arshi mit seinem zierlichen Finger auf das Dorf Sopot, wo es ebenfalls zu Zusammenstößen mit den Feinden gekommen war. Wie verzaubert wendeten wir unsere Köpfe. Was für ein eigenartiges Land war das doch, wo wir lebten! Noch auf der hintersten Felszacke wurde gegen die Eindringlinge gekämpft! 3 64 Zu Arshi Çabeu bzw. Arshi Bej siehe S. 130, 213. 3 65 Konstantin (Koto) Hoxhi (1824–1895): Anhänger der albanischen Rilindja, setzte sich stark für die albanische Sprache und den Unterricht in ihr ein, war Co-Autor einer der ersten albanischen Fibeln. Für sein Engagement wurde er exkommuniziert und inhaftiert. 366 Es ist nicht ersichtlich, ob «Banden» (banda) hier marodierende Räuberbanden oder politisch (pro-osmanisch?) motivierte Banden meint. Die im Lied erwähnten Persönlichkeiten ließen sich nicht identifizieren, müssen aber dem Kontext des antiosmanischen Widerstands zugerechnet werden. 367 Der Originaltext (të kish bënë Kaço Shkurta) ist unklar; er könnte auch als «du bist Kaço Shkurta geworden« übersetzt werden. – In der albanischen Originalausgabe findet sich S. 142 eine Fotografie von Kaço Shkurta.

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[S. 142] Und wieder Herr Arshi: «Schönere Dörfer als die in der Lunxhëria, mit ihren Häusern inmitten von Obstbäumen, gibt es auf der ganzen Welt nicht. Wunderbare Birnen, Pflaumen, Maulbeeren, Kornelkirschen, Quitten, Wildbirnen, Feigen, Kirschen und Trauben gedeihen dort. Dazu gibt es wasserreiche Quellen, Brunnen mit frischem und kristallklarem Wasser, das hellklingend aus dem Berg strömt. Auch haben sie Zisternen, in denen sie das Wasser sammeln und zum Gießen ihrer Gärten verwenden, wo Gemüse, Zwiebeln, Lauch, Kürbisse, Spinat, Petersilie und vieles andere wächst, bis hin zur Minze, die die Dorf bewohner uns jeweils am Montag und Freitag auf den Markt nach Gjirokastra bringen.» «Herr Lehrer», ruft einer von der Mauer hinunter, «Wenn uns die Großmutter368 Jahnia 369 macht, streut sie Minze darüber. Warum wird die dort angebaut?» Ein anderer springt auf und ruft: «Meine Mutter würzt die Jahnia mit wildem Majoran, den wir jeweils auf dem Felsen von Kuculla einsammeln.» «Herr Arshi!», frägt ein Dritter, «Und gibt es auch Bockshornklee in der Lunxhëria?» «Ja, auch das wächst dort.» Und dann weist Herr Arshi mit seinem zierlichen Finger auf einen Gebirgspass oberhalb von Erind. «Seht, dieser Übergang [S. 143] heißt Serpenpass, und hinter ihm findet ihr ein wahres Paradies namens Çajup.370 Etwas Schöneres als den Çajup gibt es auf der ganzen Welt nicht!» «Aber Çajupi heißt doch einer unserer großen Dichter, Herr Lehrer!»371 Herr Arshi ließ sich nicht beirren und fuhr mit seinen Erläuterungen fort. Er nutzte die Gelegenheit dieses Ausflugs, um seinen Schülern, die unter Zypressen auf der Mauer des Dreschplatzes saßen, die Geschichte, Geografie und Literatur ihrer Heimat mit sanfter Stimme und in einfachen Worten zu erklären. Nun brach der Abend an. Wir machten uns auf den Heimweg und kehrten in unsere Häuser zurück, so wie die Ziegen der Tekke in ihren Pferch zurückkehrten, angeführt vom Ziegenbock mit seiner großen Glocke um den Hals. Der Kamerad, mit dem ich zusammen war, freute sich über die Tiere und stimmte gleich ein Lied an: Oh wie schön ist doch die Herde, welche Freude macht das Vieh! Sie kommen wie ein Bienenschwarm, Möge Gott sie segnen! 372

Und darauf wandte er sich an mich: «Enver, was sagt Mullah Hysen, gibt es einen Gott?» 3 68 Im Original: Xhikoja, was irgendeine ältere Frau bedeuten kann. 369 Jahnia: Fleischgericht mit Zwiebeln, in der Art von Gulasch. 370 Çajup: Hochebene zwischen Gjirokastra und dem Landkreis Përmet. 371 Gemeint ist der bedeutende albanische Dichter Andon Zako Çajupi (1866–1930), siehe S. 63, 127. 372 Die Zeilen stammen aus dem Gedicht «Bagëti e bujqësia» (Viehhaltung und Landwirtschaft) von Naim Frashëri, siehe S. 127, 215.

Heitere Schulausflüge167

«Nein», entgegnete ich, «Baba Çen sagt, dass es keinen Gott gibt. Das seien alles Märchengeschichten, die von Dummköpfen erfunden sind.» «Aber mir hat Mahmut 373 gesagt, sein Vater sei überzeugt, dass es einen Gott gibt. Er hat ihn sogar selbst einmal gesehen, in einer finsteren Nacht mit Blitz und Donner.» «Dass er sich nicht schämt! Aber fragen wir doch morgen Herrn Rexho. Jedenfalls vertrauen wir besser ihm oder Baba Çen, das sind zwei gebildete Männer, die auch Bücher lesen», war meine Antwort. So kam ich zu Hause an; glücklich und keineswegs müde. In meinem Kopf hörte ich noch immer die Gewehrsalven von Çerçiz, stellte mir den großen Einsatz von Koto Hoxhi vor, dachte an all die Blumen, Bäume, Tiere, Pinienzapfen, an die Derwische und die Derwischgräber, an die mächtigen Zypressen und die Quellen, die den Versen von Naim Frashëri gleich flossen. Von all dem berichtete ich der Mutter, der Großmutter, den Schwestern. Als der Vater und Baba Çen heimkamen, erfuhren auch sie alles. Erst dann aß ich mein Abendbrot und fiel schließlich in einen so süßen und tiefen Schlaf, dass mich die Mutter am nächsten Tag wecken und auf den Schulweg schicken musste. So sehr erinnere ich mich an diese schöne, ach so ferne Zeit meiner Kindheit, dass mir vorkommt, all dies wäre erst gestern geschehen. [undatiert]

373 Gemeint ist vermutlich Mahmut Karagjozi, siehe S.  144 f.

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[S. 145] Unsere

Teil II:  Kindheitsjahre

Vergnügungen

Wenn meine Kinder lesen, was ich hier für sie aufschreibe, müssen sie sicherlich lachen. Viele Spiele aus meiner Kinderzeit sind heute in Vergessenheit geraten; an ihre Stelle sind andere, ausgeklügeltere und modernere getreten. Und meine Kinder werden sich auch wundern und ausrufen: «Ist das wirklich unser Vater, um den es hier geht?» – denn sie kennen mich ja nur als Mann in etwas reiferem Alter und als jemand eher Ernsthaften. Beim Ballspielen haben sie mich nie gesehen, aber immerhin singe ich manchmal auf labische Weise. Wenn sie das hörten, mussten sie lachen, während Ne­ xhmije 374 mich nicht selten bat, doch einmal eine andere Platte aufzulegen. Aber das ist halt nun einmal die Platte, die ich gelernt habe, und dass ich in der Art der Alten singe und nicht wie der Bruder von Vaçe Zela, 375 versteht sich von selbst. Als ich ein Kind war, waren Spiele mit Bällen aus Stofffetzen sehr beliebt. Die Bälle nähte die Mutter mir, anfangs kleine, später, parallel zu meinem eigenen Wachstum, auch größere. Mutter verstand sich gut darauf und war sehr bemüht, möglichst runde Bälle zu machen; trotzdem glichen sie öfters doch eher einem Ei. Natürlich wussten weder sie noch wir Kinder, dass es sehr wohl eine Art [S. 146] eiförmiger Bälle gab – nämlich jene, mit denen Rugby gespielt wird. Auch dies sind Spielbälle, aber erst viel später erfuhren wir von ihrer Existenz und sahen sie mit eigenen Augen. Manchmal erhielt einer unserer Kameraden von den Verwandten aus Istanbul, Ioannina oder Amerika einen kleinen, farbigen Gummiball. Dies war in jenen Tagen ein Ereignis mit Seltenheitswert, und wenn wir erfuhren, wer der Glückliche war, sah man uns alsbald auf der Gasse oder dem Platz vor seinem Haus versammelt. Freilich dauerte das Glück meist nicht lange, denn die Steine auf den Gassen von Gjirokastra und unsere Schuhe mit ihren genagelten Sohlen zerfetzten den schönen Ball bald, so dass wir wieder zum althergebrachten Modell zurückkehren mussten. Fußball in der heute üblichen Art lernten wir erst später kennen, als wir die Stadtschule besuchten. Richtige Fußbälle waren allerdings sehr teuer und fanden sich nur selten. Ballspiele spielten wir nicht nur mit den Füßen, sondern auch mit den Händen. Beliebt war ein Spiel namens «top-meso» (Mitte-Ball). Gespielt wurde es in Gruppen von drei Kindern, von denen eines in der Mitte stand. Nachdem wir uns auf die Distanzen geeinigt hatten, begannen wir mit dem Ball auf das Kind in der Mitte zu schießen, wobei wir allerlei Finten machten – besonders natürlich das Kind in der Mitte. Wenn dieses nicht getroffen wurde, musste der Spieler, der den Fehlschuss gemacht hatte, in die Mitte wechseln. Unser Ziel war, den Kameraden am Kopf zu treffen, weil dies am schmerzhaftesten war. Was will man, Kinder haben in ihren Spielen halt eine 3 74 Gemeint ist Nexhmije Hoxha, die Gattin Enver Hoxhas. 375 Vaçe Zela, 1939–2014, bekannte und vielfach ausgezeichnete albanische Sängerin von Volksund anderer Musik.

Unsere Vergnügungen169

gewisse Brutalität! Immerhin war dieses Spiel weniger gefährlich und «materialschonender» als unsere Fußballspiele, bei denen wir unsere Opanken und vor allem deren Spitzen ruinierten. So kam es, dass auch die Mütter uns diese Variante empfahlen. Ohnehin spielten wir lieber barfuß, um die Opanken zu schonen. Diese depo­ nierten wir dann jeweils mit der Spitze (der «Nase») voran in einer Mauerritze. Natürlich wurden unsere Füße vom Spielen sehr schmutzig. Wenn wir am Abend nach Hause kamen, mussten wir sie sommers wie winters ohne Widerrede mit eiskaltem Wasser aus dem Wasserfass waschen, andernfalls hätte uns die Mutter ausgescholten, weil wir ihr das Haus, die Treppen und die Zimmer verschmutzten. Ebenso mussten wir natürlich das Blut abwaschen und die Wunden verstecken, die von den spitzen Kieselsteinen herrührten. Ich kann mich erinnern, dass ich einst eine Verletzung nicht verstecken konnte, da ich hinkte. Die Mutter sah mich an und sagte: «Du Lausebengel, hast dir die Haut aufgeschürft, starrst vor Schmutz und wirst bald ein geschwollenes Bein haben!» Nun, mein Bein schwoll nicht an und auch sonst passierte nichts, vielmehr gewann ich sogar noch etwas: Die liebe Mutter [S. 147] strickte mir ein Paar wollene Strümpfe, an deren Sohle sie ein Stück feines Ziegenleder nähte. Dadurch sollte ich künftig sowohl die Füße wie auch die Opanken schonen. Und mein Gewinn: Ich wurde mit diesen Strümpfen im Spiel noch schneller. Ein anderes Spiel unserer Kindheit hieß «kuti dhe pingëli», der Stock und das Stöckchen. 376 Hier ging es darum, wer das Stöckchen mithilfe des Stocks am weitesten schleudern konnte. Nach dem Wurf wurde, ebenfalls mittels des Stocks, die Distanz gemessen. Gewonnen hatte der mit den meisten «Stöcken», d. h. mit der größten Distanz. Hatten zwei Spieler die gleiche Distanz erreicht («Unentschieden»), mussten sie das Stöckchen in die Luft werfen und versuchen, es mit Stockschlägen in der Luft zu halten. Gleichzeitig mussten sie laut zählen, bis das Stöckchen schließlich herunterfiel. Das verlangte viel Geschick. Diese Spiele waren, wenn man es genau bedenkt, kein nutzloser Zeitvertreib, trugen sie doch zu unserer körperlichen Abhärtung bei. «Stock und Stöckchen» zum Beispiel stärkte die Taille, wenn man sich zum Messen der Distanz bücken musste, und gleichermaßen stärkte es die Hände beim Schlagen mit dem Stock. Ganz ungefährlich war freilich auch dieses Spiel nicht: Wenn man nicht achtgab, konnte einen das Stöckchen am Kopf treffen und eine blutende Wunde beibringen. Aber auch für solche Fälle waren wir gerüstet: Wir feuchteten ein Stück gelöschten Kalk, das wir in der Hosentasche hatten, mit Wasser an, legten es auf die Wunde und schon war das Blut gestillt. Wichtig war bloß, beim Heimkommen die Kappe aufzubehalten, weil man sonst bestimmt noch eins auf die Ohren gekriegt hätte. Im Gegensatz zu damals sind die Menschen heute ja sehr empfindlich geworden. Hat einer eine kleine Wunde, die etwas blutet, heißt es gleich: Schnell, Jod!, Schnell, ins Spital!, Schnell, ein Verband und eine Spritze gegen Starrkrampf! 376 Das hier vorgestellte Spiel unterscheidet sich von anderen Varianten des Stöckchenspiels, die in der Literatur zu finden sind.

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Einmal, so erinnere ich mich, spielten wir mit Steinen Krieg. Einer der Steine traf mich voll am Kopf, auf der linken Seite. Es floss Blut, die Freunde brachten mich nach Hause. Meine Mutter empfing mich und meine Freunde mit ein paar Verwünschungen, war aber nicht weiter beunruhigt. Sie griff zu den bewährten Heilmitteln aus der Volksmedizin: weicher Käse und Kalk, drückte sie mir auf die Wunde und band ein Tuch darum. Es brannte und biss so übel, dass mir die Tränen übers Gesicht flossen, aber schließlich konnte ich doch einschlafen. Trotz der Schmerzen soll ich, so erzählte die Mutter, im Schlaf gefragt haben: «Aber morgen kann ich doch ans Bajramfest gehen?» Und tatsächlich stand ich am nächsten Morgen vollends geheilt auf. Zu den Spielen meiner Kindheit zählten natürlich auch Wettrennen. Fast alle Spiele hatten einen Wettcharakter, ganz besonders aber jenes mit dem Namen «merr zjarr», Nimm Feuer. Bei diesem Spiel ging es ganz einfach darum, möglichst schnell vor dem Verfolger davonzurennen. Um zu vermeiden, dass er einen fing, [S. 148] konnte man zum Ausgangspunkt zurückrennen, dort Atem schöpfen und sich erholen (eben: «Feuer nehmen») und dann mit dem Rennen weitermachen, bis der eine oder der andere erschöpft aufgab. Wir kannten gewiss noch viele andere Spiele, aber wer kann sich schon an alle erinnern? Die Spielplätze meiner Kindheit waren die Sträßchen und Gassen voller Steine, der Garten von Çuçe, 377 der «Shesh i Xhepit», 378 der Platz der Moschee und der Mamani-Platz. Und schließlich erinnere ich mich auch an die Kriegsspiele meiner Kindheit, die wir mit Steinen oder – anstelle von Schwertern – mit Stöcken ausfochten, mit Angriffen und Rückziehern, mit Gefangenen und Siegern. Mit diesen Spielen verbindet sich eine andere Erinnerung. In unserem ersten Haus, das dann abbrannte, 379 gab es in der sogenannten neuen Diele einen Winkel, den wir «den Treppenabsatz» nannten, weil er zu den oberen Zimmern führte. Dort befand sich eine große Truhe, die nor­ malerweise geschlossen war. Das konnte der Neugierde der Kinder natürlich nicht entgehen! Eines Abends erhob ich mich von meiner Matratze und wollte eben ins Freie aufs Klo gehen, als ich Baba Çen sah, der die Truhe geöffnet hatte. Die Dinge, die darin gewesen waren, hatte er herausgeräumt und putzte sie nun mit einem Lappen und mit Asche. So wie ich war, im Nachthemd, fragte ich ihn mit Augen, die vor Verwunderung groß waren: «Baba Çen, was sind das für Dinge und warum bewahren wir sie auf?» «Das sind Schwerter und Degen», antwortete Baba Çen und kniff meine Wange. «Und wem gehören die?» «Uns gehören sie; sie stammen noch von den Großeltern.» 377 Gemeint ist vermutlich der S. 289 erwähnte Garten von Çuço, d. h. von jemandem aus der Familie Çuçi, vgl. S. 89. 378 Zum Shesh i Xhepit, dem «Taschenplatz», siehe S. 131, 155, 231. 379 Hausbrand: Siehe S. 111.

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«Aber was wollen wir mit denen anfangen?» «Mit denen bringen wir die Griechen um; die haben im Sinne, Gjirokastra zu erobern.» «Können diese Waffen denn töten, Baba?» «Die stechen dich nieder, Söhnchen!» «Gibst du mir eine zum Spielen? Ich nehme sie sicher nicht aus der Scheide!» «Nein, mein Junge, die sind nicht zum Spielen gemacht. Aber wenn du größer bist und die Sorge ums Volk es erfordert, dann kannst du sie gerne alle haben und so gebrauchen, wie es sich gehört.» Unglücklicherweise fiel auch dieser Schatz meiner Kind­­heit, zusammen mit allem anderen, den Flammen zum Opfer. A propos «Kriegsspiele»: Mit denen fuhren wir auch fort, als wir größer waren und zur Schule gingen. [S. 149] Ich kann mich gut erinnern, wie in der Zeit, als wir im Stadtteil Hazmurat lebten, 380 wir Jungen von Hazmurat mit jenen aus dem Stadtteil Pllaka Schlachten mit Steinen austrugen. Wer Gjirokastra kennt, weiß, dass unterhalb der Fernstraße im Stadtteil Pllaka einst ein Bach war. Heute stehen dort Schulen und Wohnhäuser. Dieser Bach bildete die Grenze. Unsere Grenze begann beim Haus von Xhano vom Bach, 381 führte am Shesh i Bajraktarit, dem Platz des Fahnenträgers, vorbei und reichte bis zum Brunnen von Baba Hasan. Diese Grenze verteidigten wir Jungen von Hazmurat unter dem Kommando unseres «Generals» Abdi Zere, eines ziemlich wilden Draufgängers von stämmigem Wuchs. Sein Gesicht war von der Sonne gegerbt, weil er den ganzen Tag Fässer mit Wasser vom Fluss heraufschleppte und in der Stadt verkaufte. Aus dem Erlös bestritt er sein Leben. Malo Zere, der Bruder meines Freundes Abdi, war «Soldat» wie ich, und gemeinsam hielten wir die Stellung bei den Pflaumenbäumen von Teto Xhano. Wir schlugen uns nach besten Kräften – Steine gab es ja genug –, bis wir schließlich die Trompete hörten, die zum Rückzug blies. Die Truppe von Hazmurat musste sich geschlagen geben. So schnell wir konnten, rannten wir dem Bach entlang in Richtung der Gärten hinauf nach Hazmurat, verfolgt von unseren Gegnern. General Abdi Zere, von einem Steinwurf am Kopf verwundet, rief uns zu, wir sollten auf den Mauern der Gärten Stellung beziehen. Die «Feinde» wurden in ihrem Ansturm durch die Mauersteine behindert, die wir hinabrollen ließen. Klar, dass wir später von den Besitzern etwas zu hören bekommen würden, deren Gartenmauern wir geschändet hatten! Da der Rückzug alle unsere Kräfte erschöpft hatte, verkrochen wir uns verschwitzt und atemlos in den Keller einer Frau namens Bedulla. 3 80 Nach dem Brand des Hauses im Stadtteil Palorto, (siehe S. 111, 297) und einem oder mehreren Zwischenjahren im Stadtteil Cfaka, siehe S.  254 f., 272 ff. Das Haus in Hazmurat wurde der Familie offenbar vom Bruder der Mutter von Enver Hoxha zur Verfügung gestellt, der nach Fier umgezogen war, vgl. S. 274. Eine Fotografie des Hauses findet sich im Fototeil nach S. 208 in der albanischen Ausgabe. 381 Xhano vom Bach (Xhano e përroit): Siehe S.  103 f.

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Teil II:  Kindheitsjahre

«Was wollt denn ihr?», fragte sie. «Mach uns einen Kaffee, Teto Bedulla», bat mein Freund Malo Zere, «wir sind müde und erschöpft und unsere Herzen rasen wie die von Hühnern, wegen des Rennens ebenso wie aus Angst». «Wer zum Teufel hat euch geschickt und woher kommt ihr überhaupt, dass ihr hier nach Kaffee verlangt?», entgegnete Teto Bedulla. «Wir kommen aus dem Krieg», antwortete ich. Teto Bedulla griff zur Feuerzange und stürmte auf uns los. «Verzieht euch schleunigst! Was fällt euch überhaupt ein, hier um Kaffee zu betteln!» Malo Zere ist mittlerweile Bäcker in Gjirokastra. Wenn ich die Stadt besuche und mich mit ihm treffe, lachen wir und ich frage ihn: «Malo, erinnerst du dich an den Kaffee von Bedulla?» Als ich etwas größer war und unser Haus schon abgebrannt war, blieben wir noch eine Zeitlang im Stadtteil Palorto und lebten im Haus von Gjulfidan. 382 [S. 150] Die Orte, an denen wir spielten, änderten sich jetzt. Der Felsen von Kuculla 383 zog uns an; davon werde ich weiter unten berichten. Zuerst aber will ich jetzt von der «Shpella e Zekatëve», der Höhle der Zekos, 384 erzählen. Dorthin ging ich mit meinen Freunden zum «Skifahren». Allerdings war das ein spezielles, ein typisch gjirokastritisches Skifahren! Nicht lautlos, wie das Gleiten auf Schnee und mit aufrechtem Körper, wurde es praktiziert, sondern lärmig und sitzend. Zuerst suchte man sich einen glatten Stein, den man während des Aufstiegs in den Händen trug. Auf diesen setzte man sich dann und rauschte mit ohrenbetäubendem Lärm die gleißende, spiegelglatte Höhle hinunter. Dieses Spiel konnte stundenlang dauern, es war unser großes Vergnügen und gewährte auch einen wunderbaren Ausblick auf Gjirokastra. Bis wir schließlich nach Hause gingen, war das Hinterteil unserer Hosen freilich meist zerrissen und zerfetzt. Wie meine Mutter das sah, rief sie: «Lausebengel, du hast deinen Hosenboden ja völlig ruiniert, als ob dich die Hunde gebissen hätten! Wo bist du bloß gewesen?» Weil sie mir die Hosen sonst nicht geflickt hätte, musste ich mit der Wahrheit herausrücken. «Nicht Hunde, sondern die Höhle der Zekos hat sie mir in Fetzen gerissen!» «Zum Teufel mit der Höhle der Zekos», entgegnete die Mutter. Später begriff ich dann, dass die Mutter nicht nur an meinen Hosenboden dachte, wenn sie die Höhle der Zekos verfluchte, sondern auch an Xhafer Zeko, genannt 3 82 Unklare Stelle; eine Person namens Gjulfidan (oder Gjylfidane) konnte nicht identifiziert werden. 383 Zum Felsen von Kuculla siehe S. 209. 384 Die Familie Zeko, die ‹Zekatë›, zählt zu den alten Familien von Gjirokastra; zu ihrem Haus siehe S.  87 ff. Die «Shpella (Höhle oder Grotte) e Zekatëve» ist offenbar durch einen Erdrutsch oder ein Erdbeben in den 1980-er Jahren zerstört worden.

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«Çali», der Lahme. Xhafer war der Bruder ihrer Mutter, und dessen Mutter – ihre Großmutter – lag mit ihm im Streit. Jegliche Verbindung war abgebrochen, weder sprachen sie noch miteinander, noch besuchten sie sich gegenseitig. Obwohl ich meiner Mutter versprach, nicht mehr in die Höhle der Zekos zu gehen, traf sie als sparsame Hausfrau ihre Maßnahmen. Das Ergebnis war, dass schließlich nicht nur die Unterseite meiner Strümpfe, sondern auch mein Hosenboden mit feinem Leder verstärkt wurde! So war ich recht eigentlich «gepanzert», wie man heute sagen würde. Sehr beliebt war bei uns Kleinen auch das Hasel- und Baumnussspiel, zumal es auch etwas mit dem Magen zu tun hatte und sich von seinem Wesen her in jeder Hinsicht von unseren anderen Spielen unterschied. Dies betrifft nicht nur seine Beziehung zum Magen, sondern auch jene zum «Privateigentum». Heute verstehen wir das, damals natürlich noch nicht. Für dieses Spiel gab es zwei Varianten: Bei der ersten wurde eine Hasel- oder Baumnuss in die Mitte gelegt, auf die man dann (ebenfalls mit einer Nuss) aus Distanz zielen musste. Wer sie traf, bekam alle Nüsse im Spielfeld. Für diese Variante musste man ein guter Schütze sein; ich selbst gewann hier nie. Bei der zweiten Variante ging es darum, Haselnüsse gegen eine Mauer zu schmettern. [S. 151] An der Mauer hatten wir eine Art Zielscheibe angebracht, und wenn die geschmetterte Haselnuss nicht weiter als eine Handbreit entfernt von derselben landete, gewann man alle Nüsse aus den vorangegangenen Fehlwürfen. Bei dieser Variante war ich siegreich, denn ich hatte eine große Hand und die Distanz einer Handbreit bereitete mir keine Schwierigkeit. Das Nüssespiel war allerdings jahreszeitlich bedingt und konnte nicht lange gespielt werden. Erstens, weil wir nur selten an Haselund Baumnüsse gelangten und zweitens, weil wir diese oft schon längst verzehrt hatten, bevor das Spiel überhaupt beginnen konnte! Dieses Spiel war aber auch saisonbedingt, weil es mit den muslimischen Bajramfeiern zusammenhing. Am Bajramstag385 nämlich zog man uns neue Kleider an, sodann bekamen wir ein großes Tuch. Dessen Zipfel banden wir zusammen, so dass es eine Art Tasche bildete. Damit zogen wir bei unserer Verwandtschaft von Tür zu Tür. Das taten wir angeblich, um Glück zu wünschen; vor allem aber ging es uns darum, an die «Bajramsfrüchte» zu kommen, wie wir das nannten. Dazu zählten Haselnüsse, Mandeln, Baumnüsse und Bonbons, manchmal auch ein Groschen oder ein Lek. 386 Man kann also sagen, dass die Kinder sich an diesem Tag mit «Munition» eindeckten, sowohl um den Bauch zu befriedigen als auch für das Nüssespiel. Hatte man zu wenig Haselnüsse, ließen sich diese auch durch gebrauchte oder neue Schreibfedern ersetzen. Die gab es in Weiß, Gelb und als verrostete Exemplare – ein Zeichen, dass die Schulen funktionierten! 3 85 Gemeint ist wohl der erste Tag des Fests des Fastenbrechens. 386 Der albanische Lek wurde allerdings erst 1925 eingeführt (der frang ari, Goldfranken, schon 1920). Bis zu diesem Zeitpunkt waren osmanische Münzen und solche aus verschiedenen anderen Staaten im Umlauf. Der «grosh» entsprach vom Wert her 40 türkischen Para oder 1/100 der türkischen Lira.

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Ich kann mich auch erinnern, wie während einer gewissen Zeit die Haselnüsse und die Schreibfedern durch Patronenhülsen und -spitzen ersetzt wurden. Ärgerlich war bei diesen bloß, dass sie schwer waren und uns Löcher in die Hosentaschen rissen. Aber woher mochten bloß alle diese Patronenhülsen stammen? Ich werde euch das so erklären, wie ich es einmal, wenn ich mich nicht irre, meinem Freund Gogo erklärt habe, als wir zusammen in Gjirokastra waren. Wir saßen auf dem Balkon des Hauses der Partei und betrachteten die Stadt. Ich war in Gedanken versunken und blickte auf den Abhang hinter dem Haus der Kultur, dem Kino und dem ehemaligen Gebäude des Parteikomitees. Gogo sprach zu mir, aber ich nahm ihn nicht wahr, da ich in Gedanken anderswo war. Schließlich fragte er mich: «Sag mal, was zum Teufel hat es eigentlich mit jenem Abhang auf sich? Seit zwanzig Minuten starrst du ihn an und kannst dich nicht von seinem Anblick lösen!» Ich antwortete Gogo: «Du hast recht; für dich gibt es dort nichts Besonderes zu sehen. Aber ich sehe in Gedanken mich und meine Freunde aus Kindheitstagen, wie wir dort [S. 152] ganze Tage lang Patronen und Patronenhülsen sammeln gingen. Nicht dass dort kriegerische Auseinandersetzungen stattgefunden hätten. Zwar hat, wie mir mein Vater erzählt hat, Çerçiz Topulli vom Hügel der Tekke von Baba Mane mit dem Gewehr auf die Fenster des Rathauses geschossen, um den Rückzug seiner Kampfgenossen nach der Ermordung des Bimbashs zu decken.387 Aber die Patronen, die ich meine, stammten nicht von den Gewehren von Çerçiz und seinen Genossen. Sie wurden vielmehr nach dem Brand eines Munitionsdepots der Griechen gefunden, das sich genau dort befand, wo die alte Kirche der Unierten 388 gestanden hatte. Eines Nachts, nachdem die Griechen gegangen waren, ging das Depot aus unerfindlichen Gründen in Flammen auf und während der ganzen Nacht war in der Stadt das Krachen der explodierenden Munition zu hören. Als die Lage sich beruhigt hatte und keine Gefahr mehr bestand, stürzten wir Kleinen uns auf den Hang und sammelten die Patronen und Patronenhülsen ein, fast wie Hühner, die Maiskörner aufpicken.» So viel also zur Geschichte des Patronenspiels! Neben diesen Spielen kannten wir noch eine Menge anderer, von denen ich hier bloß «Arabadaule» und das «Burgenspiel» erwähnen will. Beide mochte ich sehr gerne; es waren Spiele, bei denen es um leichtathletische Fähigkeiten wie Schnelligkeit, Geschicklichkeit und Weitsprung ging. «Arabadaule» wird heute «das dibranische Pferd» oder «das hölzerne Pferd» genannt, 389 aber zu meiner Zeit diente unser Rücken als 3 87 Siehe hierzu S. 160 f. 388 Kirche der Unierten: Mit Rom unierte katholische Ostkirchen, die in ostkirchlicher Tradition stehen, aber den Primat des Papstes anerkennen. Eine der 23 unierten Kirchen ist die albanische griechisch-katholische Kirche. Details über die Kirche der Unierten in Gjirokastra waren nicht in Erfahrung zu bringen. 389 Beim Arabadaule-Spiel, einer Art Bockspringen, stellte sich eine Reihe Kinder mit gebeugtem Rücken hintereinander, diese mussten dann übersprungen werden; vgl. diverse Abbildungen

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Pferd. Schwierig war dieses Spiel, wenn einer der Spieler so groß gewachsen war, dass er von den anderen kaum übersprungen werden konnte. Zu dieser Sorte zählte auch ich: ich übersprang die anderen problemlos, diese aber hatten Mühe, mich zu überspringen. Beim Burgenspiel gab ich ein gutes «Pferd» ab; mein Rücken hielt viel aus und die Spielkameraden waren eins – zwei auf mir. 390 Ein weiteres Spiel, das wir auch später im Lyzeum noch spielten, war «Pëze», wie wir es damals nannten. Hier musste man sich mit der einen Hand die Augen fest zuhalten, um die Spielkameraden nicht zu sehen. Den anderen Arm musste man mit geöffneter und nach oben gewendeter Handfläche hinter sich ausstrecken, auf diese schlug nun einer der Mitspieler mit aller Kraft. Das Ziel war zu erraten, wer geschlagen hatte. Wenn man den Richtigen benannt hatte, wurden die Rollen gewechselt, andernfalls musste man weitere Schläge auf die Handfläche einstecken. Bei diesem Spiel zog ich aus meinen großen Händen gleich zwei Vorteile: Erstens konnte ich kräftig schlagen, zweitens verteilten sich die Schläge der anderen auf der großen Handfläche besser. War das Spiel zu Ende, musste sich niemand um kalte Hände sorgen, auch wenn es draußen Stein und Bein fror! Ähnlicher Natur waren das «Knochenspiel» und das «Schleuderspiel». Die Verlierer wurden hier gemäß den Anordnungen des Spielführers [S. 153]  bestraft. Als Strafe bekam man einen oder mehrere Hiebe auf die geöffnete Handfläche. Diese Schläge wurden mit einem Tuch ausgeführt, in dem es Knoten hatte und das oft mit Wasser getränkt wurde, um es noch schwerer werden zu lassen. Diese Strafe war deutlich schmerzhafter als die Rute, mit der uns Mullah Kaman in der Elementarschule, im Mejtep, traktierte. Lassen wir es damit bewenden, was unsere Spiele als Kinder betrifft! Nun will ich mich anderen Erinnerungen zuwenden. Das Volk von Gjirokastra hat die Bildung, die Kultur und die Kunst geliebt. Aber nicht nur die Leute aus der Stadt selbst: Gebildete Menschen stammten auch aus Libohova, aus dem Dropull und aus der Labëria, die für ihre Helden bekannt war.391 Aus Gjirokastra kamen berühmte Kadis (Richter), Doktoren und Ulemas, 392 wie man damals sagte, aber auch Schriftsteller und Dichter. Die berühmtesten Literaten stammen

zum offenbar identischen Spiel «kala dibrançe» im Internet. In Xhaxhius «Fjalor i të folmes së Gjirokastrës» wird Arabadaule allerdings als ein Spiel in der Art von «Katz und Maus» beschrieben, was aber nicht zur Schilderung von Enver Hoxha passt. 390 Der Verlauf dieses Spiels war nicht zu eruieren. Möglicherweise handelt es sich um eine Art menschliche Pyramide. 391 Libohova: Stadt im Landkreis Gjirokastra. Dropull: Region mit verschiedenen Dörfern (heute: Einheitsgemeinde) an der griechischen Grenze im Landkreis Gjirokastra, starke griechischsprachige Minderheit. Labëria: Für ihre Folklore bekannte Region zwischen Vlora und der griechischen Grenze im Südwesten Albaniens. Auch Gjirokastra ist Teil der Labëria. 392 Ulema: islamische Rechts- und Religionsgelehrte.

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aus der Zagoria und vom Lunxh, bekannte Doktoren aus Selo und dem Dropull 393 – aber damit halte ich mich jetzt nicht auf; hier geht es ja um etwas anderes, nämlich um meine Jugenderinnerungen. In deren Verlauf werde ich auch über Andon Zako Çajupi 394 sprechen, desgleichen über Koto Hoxhi, 395 den greisen Doktor «Selo» (so nannten wir ihn wegen seines Herkunftsdorfs), über Doktor Telemach, 396 Ramiz Harxhi 397 und andere. Vorerst aber geht es mir nur ums Volk, nicht um einzelne Individuen. Das Volk ist alles, und schon in der Welt meiner Kindheit war es alles – auch wenn ich damals natürlich weder über das Verständnis noch über die Einsichten verfügte, die ich heute habe. Das Volk von Gjirokastra – ein heldenhaftes und mutiges Volk – scheint auf den ersten Eindruck etwas verschlossen und nicht besonders spontan, sondern eher bedächtig in Worten und Gesten. Der Grund dafür sind die Leiden, die Mühsale und die Verhängnisse, die ihm zugestoßen sind. Ähnliches hat unser ganzes Land erlebt, in besonderem Maße aber doch der Kreis Gjirokastra, der von den chauvinistischen Griechen bedroht wurde und unter der wirtschaftlichen Unterdrückung durch die Agas litt. Das besitzlose Volk musste darum kämpfen, den Steinen und Felsen ein paar Maiskörner abzuringen, aber nie beugte es sich den Agas, den Bejs 398 oder den Griechen. Die Agas bewahrten ihre wirtschaftliche Macht zwar bis zur Befreiung des Landes, aber man muss sagen (auch wenn es denen, die Volksbewegungen auf Karteikärtchen klassifizieren, etwas unwissenschaftlich erscheinen mag), dass das Volk von Gjirokastra trotz seiner Armut sich nie den Agas unterworfen hat, nie ihrer Gewalt Folge leistete, sondern sie ganz offen verachtete [S. 154] und angriff. Das geschah sogar gegenüber den Bejs, die schon früh aus Gjirokastra beseitigt wurden. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich an einen aufgequollenen Bej, der einem großen Fass glich, derart fett war er. Er trug anachronistische Kleider aus der Zeit der Bimbashs 399 in der Türkei, freilich ohne Degen; nur die gestickten Tressen auf der Brust und an den Ärmeln waren ihm geblieben, und auch die waren ganz verbleicht. Sein Name war Rustem Bej und er war der Vorgesetzte der kommunalen Straßenkehrer. Wir machten uns über ihn lustig und nannten ihn den Faschings-Bej. Die Leute von Gjirokastra stehen im Ruf, sparsam, ja geizig zu sein. «Die Gjirokastriten binden sogar ihre Katze an, wenn sie essen», sagt ein geflügeltes Wort. Aber 393 Zagoria: Gemeinde im Landkreis Gjirokastra, heute Teil der Gemeinde Libohova. Zu den berühmtesten Schriftstellern aus dieser Gemeinde zählt fraglos Andon Zako Çajupi, siehe S. 63. Lunxh: Offenbar ein Berg in der Lunxhëria; gemeint ist aber wohl die gesamte Region Lunxhëria im Landkreis Gjirokastra. Selo: Dorf in der Gemeinde Dropull i sipërm. Dropull: siehe oben. 394 Andon Zako Çajupi: Siehe S. 63. 395 Konstantin (Koto) Hoxhi: Siehe S. 165. 396 Doktor Selo: ein alter, schwerhöriger Arzt, siehe S. 241; Doktor Telemach: Arzt, siehe S. 187. 397 Ramiz Harxhi: Siehe S. 128. 398 Zu den Titeln Aga und Bej siehe Anm. 109. 399 Bimbash: Siehe S. 91.

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so sind sie keineswegs. Natürlich sind sie – vor allem die Frauen – sparsam und haushälterisch, das stimmt, aber geizig im schlechten Sinne des Wortes sind sie keineswegs. Nie zeigen sie ihre Armut vor Freunden, aber das Wort «Sparsamkeit» verwenden sie bei jeder Gelegenheit, und wenig haben sie übrig für Verschwender, für Leute «mit Löchern in den Händen», wie das dort heißt. Wenn ich zum Volk spreche und den Leuten rate, sich ökonomisch zu verhalten, füge ich jeweils an: «Vergesst nicht, dass ich aus Gjirokastra stamme!» und erzähle dann gerne zwei Geschichten. Die erste handelt von meinem Großvater respektive vom Bruder meines Großvaters. Die zweite ist möglicherweise nicht wahr, aber trefflich ausgedacht. Hier sind die beiden Geschichten: 1) Mein Vater hat mir erzählt, dass sein Onkel, Mullah Beqir Hoxha, ein liberaler alter Mann war, dem es weder an Sinn für Gastfreundschaft noch an Humor mangelte. Im Gegensatz zu anderen Männern aus Gjirokastra, die nie jemanden von außerhalb der Stadt zur Frau nahmen, war er mit einem Mädchen von Libohova verheiratet. Sie war die Tochter eines armen Mannes, der jeden Montag nach Gjirokastra kam, um eine Ladung Holz oder im Sommer ein paar Zuckermelonen zu verkaufen. Bevor er wieder heimkehrte, ging er selbstverständlich zum Mittagessen zu seinem Schwiegersohn, Mullah Beqir. Bei einem dieser Mittagessen hatte die Hausherrin «Qofte bobollaqe» zubereitet, kleine Fleischklößchen mit Soße und Essig. (In Klammern erwähne ich, dass diese Speise mir heute noch ausgezeichnet schmeckt und dass unser Koch Niko sie mir gerne macht; so gut wie jene von meiner Mutter sind sie allerdings nicht.) ­Erschöpft vom Weg und von der Arbeit [S. 155] griff der arme Alte am Tisch des Schwiegersohns (der wirtschaftlich viel besser stand als er) herzhaft zu. Wenn er seinen Löffel in die gemeinsame große Schüssel steckte, die in der Mitte des Esstischs stand, fischte er immer nicht nur ein, sondern stets mindestens zwei Klößchen heraus. Der Hausherr, Mullah Beqir, betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Nach dem vierten Löffel sagte er ihm voller Taktgefühl: «Schwiegervater, sag mir doch, wie ihr in Libohova die Treppe emporsteigt: eine Stufe nach der anderen oder immer gleich drei aufs Mal?» Der aufgeweckte Dörfler entgegnete: «Das hängt ganz von den Stufen ab, Mullah Beqir. Wenn die Stufen klein und wir in Eile sind und es kaum erwarten können, dann nehmen wir zwei, manchmal sogar drei aufs Mal.» Worauf Mullah Beqir: «Wohl soll’s dir bekommen; du bist ein gewitzter Kopf!» 2) Einem Gjirokastriten aus der Mittelschicht war die Mutter verstorben. Gemäß der Tradition nahmen ihn seine Vettern für drei Tage in ihr Haus. Dorthin gingen die Leute, um ihm ihr Beileid auszudrücken. Am dritten Tag kehrte er in sein eigenes Haus zurück. Drei, vier Freunde aber, die noch nie von ihm zum Essen eingeladen

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wurden, wollten es ihm heimzahlen und vereinbarten, ihn zu Hause zu besuchen, um ihm zu kondolieren und dann ungeladen zum Mittag- und Abendessen zu bleiben. So geschah es denn auch. Der ahnungslose Hausherr wartete darauf, dass die Besucher sich erheben und gehen würden, aber nichts dergleichen geschah. Schließlich rief er seine Frau und wies sie an, das Mittagessen zuzubereiten. Dies war sehr schmackhaft; sie aßen, tranken und legten sich für ein Schläfchen hin. Am späten Nachmittag standen sie wieder auf und führten ihre Unterhaltung weiter. Dem Hausherrn wurde klar, dass nun auch ein Abendessen fällig war, und so wurde es dann, wie schon am Mittag, auch gemacht. Nach dem Nachtessen sagte einer der Gäste zur Hausherrin: «Zum Mittagessen morgen musst du uns unbedingt ein Byrek mit Käse zubereiten, dafür bist du weitherum bekannt!» «Von Herzen gerne», erwiderte die Frau, «ganz wie unsere Gäste es wünschen!». Und so geschah es denn auch. Der Hausherr blieb ruhig und geriet nicht in Zorn. Die Gäste ließen sich auch dieses Mittagessen schmecken, dann sagten sie zueinander: «Genug damit, wir wollen es nicht übertreiben!». Sie erhoben sich und wollten auf brechen. Der Gastgeber umarmte und begleitete sie zur Tür. Doch kaum hatten sie sich ein paar Schritte entfernt, rief er sie nochmals zurück: «Kommt mal her, ich muss euch noch etwas sagen.» [S. 156] Die Gäste kamen zur Tür zurück, wo der Hausherr ihnen mit einem Lächeln verkündete: «Kniet nieder und küsst diese Schwelle, denn die werdet ihr nie mehr übertreten!» So waren beide Seiten quitt. Was dieser Mann aus Gjirokastra erlebt hatte, erzähle ich den Leuten, damit sie eine Lehre ziehen und die rückständigen Bräuche bei Todesfällen und Hochzeiten aufgeben. Doch unerachtet der Unglücksfälle des sozialen Lebens sind die Männer und Frauen von Gjirokastra sehr liebenswürdig, gastfreundlich und edelmütig. Einen besonderen Respekt hegen sie gegenüber den Fremden. Um diese bemühen sie sich, unterstützen sie und empfangen sie in einer Atmosphäre der Herzlichkeit. Will aber jemand sie über den Tisch ziehen, wissen sie ihm ein Liedchen zu singen! Das Volk von Gjirokastra liebt den Fortschritt, es liebt aber auch seine Folklore, seine Lieder und Tänze. Gesungen und getanzt wurde hier schon immer. Den Charakter der labischen Gesänge aus Gjirokastra machen sowohl inhaltliche als auch musikalische Aspekte aus, das gleiche gilt für die Tänze.400 Die gjirokastritischen Lieder, als Variante der labischen, werden anders als die anderen angestimmt, sie dauern auch länger, der Refrain wird immer wieder aufgegriffen und die Tonlage ist 400 Zu Enver Hoxhas Beziehung zum Volksgesang im Allgemeinen und den labischen isopolyphonen Liedern im Speziellen siehe das Kapitel «Bewunderer der volkstümlichen Traditionen» in: Nexhmije Hoxha, Jeta ime me Enverin, Band 2, S. 79–96.

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tiefer, geht Richtung Bass. Obwohl ich in meiner Jugend viel gesungen habe, bin ich doch nicht imstande, ein Lied korrekt nach gjirokastritischer Art zu beginnen; ich kann einzig den Bordun oder Iso machen und ab und zu die Antwortzeile singen.401 Gut gesungen hat mein Vater, vor allem im Alter. Als ich ihn am Kaminfeuer einst bat, ein Lied in der typisch gemessenen Weise anzustimmen, ließ er sich nur ungern überreden, wollte mir aber die Freude nicht verderben und stimmte labische Gesänge teils in der Art von Gjirokastra, teils in jener der Myzeqe402 an. Ich erinnere mich an eines der labischen Lieder, den Gesang von Balil Nezha:403 Kuç, Kallarat und Bolena,404 Alle erhoben sich mit Balil zum Aufstand Am Fluss und begannen mit den Gewehren zu schießen. Todesnachrichten an jeder Tür. Balil, schöner Balil. Am Pass von Peshkëpia405 Kämpft der Sohn der Mutter Mit den türkischen Horden Für die Freiheit Albaniens. In die Brust hat dich die Kugel getroffen.

[S. 157] Mein Vater liebte auch die Gesänge aus der Myzeqe. Sie gefielen mir ebenfalls, bloß konnte ich sie kaum singen. Ich erinnere mich (und bereue es tief, dass ich damals kein Tonband zur Hand hatte!), dass ihm ein Lied aus der Myzeqe besonders gefiel, dessen Text ungefähr der folgende war: Oh du Schöne vom Berge Mit hochgerollten Ärmeln Mit Wasserkrügen in den Händen, Du gingst zum Fluss, 401 In den isopolyphonen Gesängen, wie sie in Südalbanien und Nordgriechenland gepflegt werden, gibt es zwei Stimmen und den Bordun resp. Iso, der in der Regel vom Chor gesungen wird. Die erste der beiden Stimmen gehört dem «Geber» (marrës), der die erste Zeile singt, die zweite dem «Nehmer» (marrës), der die zweite oder (Antwortzeile) singt. Die restlichen Sänger «füllen» (mbushin) das Lied mit dem Bordun. Die albanische Isopolyphonie ist Teil der UNESCOListe des immateriellen Kulturerbes der Menschheit, vgl. https://ich.unesco.org/en/RL/albanian-folk-iso-polyphony-00155. Siehe auch Reuer (1993), v.a. S. 718–723. 402 Myzeqe: Große Ebene zwischen Vlora, Elbasan und der Mündung des Flusses Shkumbin in Zentralalbanien; siehe auch S.  225 ff. 403 Balil Nezha: Albanischer Held aus Nivica, der in führender Rolle am südalbanischen Aufstand gegen die Osmanen im Jahre 1833 teilgenommen hatte. 404 Kuç, Kallarat, Bolena: Dörfer in der Labëria, Landkreis Vlora. 405 Peshkëpia: Dorf südöstlich von Gjirokastra.

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Teil II:  Kindheitsjahre

Hast dein Kopftuch gelüftet, Oh du heilige Maria von Strum,406 etc.

Die Männer von Gjirokastra pflegten überall zu singen: Auf Hochzeiten, auf der Straße, in ihren Geschäften, beim Heuen, beim Spalten von Steinplatten in den Höhlen von Dunavat und Manalat, hinter dem Ochsenkarren, beim Wasserschleppen, bei der Schuhmacherarbeit, beim Schleppen von zentnerschweren Säcken, beim Weiden der Schafe – kurz: immer. Sie sangen nicht nur, wenn sie fröhlich waren, sondern auch, wenn ihnen das Herz schwer war. Und sie sangen sowohl, wenn sie allein waren, wie auch, wenn sie zu zweit, zu dritt oder zu mehreren waren. Die Frauen von Gjirokastra sangen weniger als die Männer. Sie gingen sparsamer mit Liedern um und sangen nur an bestimmten Anlässen wie Hochzeiten oder anderen Feierlichkeiten. Ihre Lieder waren schön und voller Harmonie. Ganz besonders gefallen mir ihre Tänze, besonders die Eleganz von deren Rhythmen. Zum Liedgut von Gjirokastra zählen Kriegslieder und Heldengesänge  – Lieder, die den Freiheitskämpfern allgemein gewidmet sind, aber auch solche für einzelne Helden, was auch immer deren Taten waren. Doch gibt es nicht nur Heldengesänge in Gjirokastra, sondern auch Lieder zu anderen Aspekten des Lebens: Liebe, Familie, vorbildliche Lehrer, Gerichtsbeschlüsse, Nutztiere, Bauernstand und zahlreiche aktuelle Ereignisse. Vor allem die Lieder der Frauen zeichnen sich durch ein feinsinniges satirisches Element aus. Dieses reiche Liedgut [S. 158] stellt einen großen und unerschöpflichen Schatz unseres Volks dar, der mich in meiner bescheidenen Jugend begleitet und inspiriert hat. Gut Bescheid darüber weiß mein Freund Zihni Sako,407 der ein passionierter Sammler dieser Lieder ist. Mich freut es in der Seele, wenn ich nach Gjirokastra gehe und dort die Gruppe «die Alten von Gjirokastra» unter Xhevat Avdalli408 singen höre. Alle Mitglieder dieser Gruppe waren in meiner Kindheit meine Spielgefährten. Xhevat und seine Freunde singen wunderbar. Vielleicht spricht mich ihr Gesang auch deshalb so stark an, weil beim Anhören ihrer ergreifenden Lieder die Erinnerungen an meine Kindheit und das damalige gemeinsame Singen wachwerden. Ich selbst habe schon Lieder angestimmt, als wir noch im Stadtteil Palorto wohnten. Aber auch später, als ich größer war und wir im Hazmurat-Viertel lebten, habe ich mit Elmaz Konjari, mit Poçol Çabeliu, mit Namik Jaho, Laze Lelo, Sako Lelo, Sami Shupo, Neshet Halimi, Reshat Toto, Malo Kone und vielen anderen gesungen.409 Wenn die Schule zu Ende war und wir unsere 406 Strum: Dorf im Landkreis Fier. Bei der «Heiligen Maria von Strum» handelt es sich um die Statue der «Bukuroshja e Strumit», der «Schönen von Strum», die in diesem Lied mit der Jungfrau Maria gleichgesetzt wird. 407 Zihni Sako (1912–1981): Bekannter Volkskundler und Autor diverser Textsammlungen aus Gjirokastra. 408 Xhevat Avdalli (1910–1992): Siehe S.  61, 266 f. 409 Vgl. zu den Freunden in Hazmurat auch S. 278.

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Hausaufgaben erledigt hatten, setzten wir uns auf dem Vorplatz der Moschee von Hazmurat oder auf dem Brachland von Reshat zusammen. Dort aßen wir Feigen, sangen gemeinsam, spielten und scherzten und foppten einander, ohne es böse zu meinen. In Erinnerung geblieben ist mir, wie wir Malo Kone, der nur unregelmäßig in die Schule kam, mit folgendem Verslein hänselten: [S. 159] Cenko (so hieß sein Vater): Lastträger, Atif (so hieß sein Bruder): Trompeter Malo: Gassenjunge.

Der «Gassenjunge» Malo Kone aber wurde Partisan und ein ausgezeichneter und hel­ denhafter Offizier, Parteimitglied und talentierter Chauffeur. Wenn ich meinen eigenen Chauffeur, Isuf Çoba, foppen will, sage ich ihm: «Es gibt keinen zweiten Fahrer wie Malo Kone.» Solcherart waren die Gefährten meiner Kindheit, mit denen ich zur Schule ging, lernte, spielte und sang. Ab und zu hatten wir auch einen harmlosen Streit, der jeweils schnell beigelegt war, und als wir größer wurden und das Vaterland uns brauchte, griffen wir zu den Gewehren und kämpften gemeinsam. Viele meiner Freunde gingen als Partisanen in die Berge, einige wenige wurden zu Verrätern und schlossen sich dem Balli Kombëtar an,410 aber die schnappten wir uns und verpassten ihnen die verdiente Strafe. Viele andere meiner damaligen Freunde sind heute bekannte Offiziere, Professoren, Arbeiter, Mechaniker, Chauffeure, Finanzfachleute oder verdiente Lehrer wie Sokrat Kutra, Muharrem Gega und andere. Als ich einmal im Parteikomitee von Gjirokastra war, bemerkte ich, dass sich ganz in der Nähe eine Filiale der Bank befand. Ich selbst hatte noch nie eine Bank betreten. «Los», sagte ich zu den Genossen, «in diesen Ort des Geldes will ich auch einmal einen Fuß setzen!» Ich ging zum vergitterten Schalter, reichte dem Angestellten die Hand und sagte mit einem Lächeln: «Ich habe weder je mit Geld zu tun gehabt, noch will ich je damit zu tun haben.» Der Schalterbeamte, der meine Hand fest drückte und sie nicht loslassen wollte, antwortete: «In diesem Fall, Enver, lass uns eines der Lieder von einst anstimmen!» Jetzt schaute ich ihn genauer an und erkannte Poçol, meinen alten Freund, der in den Nächten des Ramadans so schön den Bordun sang, wenn meine Freunde und ich die Straße vom Markt nach Hazmurat hinauf- und hinunterschritten. Auf dem Shesh i Bajraktarit, dem Fahnenträgerplatz, spielten und sangen wir mit Sado, Elmaz, mit den Jungen von Bajo, dem Ägypter, der Schmied war und es noch immer ist. Auch mit Aqif Selfo und Selam Xhaxhiu, von [S. 160] denen ich noch berichten werde, sangen 410 Balli Kombëtar: Die 1942 gegründete albanisch-nationalistische, antikommunistische Nationale Befreiungsfront.

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wir. Zusammen mit Elmaz Konjari und Reshat Toto zählten sie zu meinen liebsten, besten, aufrichtigsten und unkompliziertesten Jugendfreunden. Aber was sangen wir denn? Alle möglichen Lieder, wer könnte sich noch an alle Texte erinnern! Auf jeden Fall waren sie von der Art, die ich oben beschrieben habe. Meine lieben Kinder! Eines Abends hat mir eure Mutter eine Falle gestellt: Sie hatte das Tonband angestellt, während ich halblaut ein paar labische Lieder sang, ohne wahrzunehmen, dass sie mich aufnahm. Als ich es merkte, musste ich lachen. Hört man das Tonband an, hat mein Singen natürlich absolut keinen Wert. Trotzdem gefiel mir der Streich eurer Mutter, denn wenn wir alt sind, werde ich das Tonbandgerät anstellen und eure Mutter dazu bringen, die labischen Gesänge nicht nur ein ums andere Mal anzuhören, sondern sie selbst zu lernen und mich zu begleiten. Leid tut mir hingegen, dass alle meine Bemühungen, auch euch das labische Singen beizubringen, misslangen. Ihr wisst gar nicht, was euch da entgangen ist! Denn wenn man auf labische Weise singt, spürt man die Großartigkeit der Lieder von Mashkullora viel intensiver: Bei der Platane in Mashkullora Sprach Çerçiz 411 höchstpersönlich: Lasst meine Jungen ziehen, Sonst werdet ihr rot von Blut, Çerçiz Topulli ist mein Name!

Oder O Gjirokastra, du arme, Was ist aus dem wunderhübschen Çerçiz geworden? Die arme Haso 412 beweint ihn …

Wenn sich zur Zeit meiner Kindheit ein Todesfall ereignete, wurde der Tote zuerst in der Mitte des Zimmers aufgebahrt. Hierauf stimmten alle Frauen ein schmerzerfülltes und furchterregendes Geheul an, mit dem sie die Nachricht vom Tod verbreiteten. Dieser Brauch ging dann mit der Zeit verloren, aber ich habe ihn selbst noch hautnah erlebt, als mein Bruder an der Tuberkulose verstarb.413 Schauen wir noch ein paar andere Lieder an, die wir in meiner Jugend sangen! Welche damals im Volk besonders populär waren, könnte Zihni Sako als Spezialist natürlich ganz genau sagen. Wir interpretierten die Lieder damals so, wie es zu [S. 161] ihrem Inhalt passte und waren dabei beseelt von der Kühnheit der besungenen Menschen und von ihrer Geringschätzung gegenüber dem Tod, den Feinden und den Bejs. 4 11 Çerçiz Topulli: Siehe S.  63, 161 f. 412 Haso: Die Mutter von Çerçiz Topulli. 413 Gemeint ist Enver Hoxhas älterer Bruder, Beqir Hoxha (1900–1927), siehe S. 58, 109, 153, 213 ff., 288.

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Es weinen die schneebedeckten Berge Über das Räuberpack, das kommt und geht, Kommt und geht nach Mesallonja, Nach dem unglücklichen Mesallonja. Es kämpft Lord Byron höchstpersönlich …414

In der Schule lernten wir, wo Mesallonja lag und wer Lord Byron war, der auch unser Land durchstreift und in seinem Versepos «Childe Harold» so wunderbare Dinge über die Albaner geschrieben hatte. Und wir hatten auch gelernt, welches die sogenannten «Räuber» waren, die den griechischen Freiheitskampf unterstützt hatten. Ein anderes Lied: Oh, hochberühmtes Gjirokastra, Was hast du Shemo 415 zum Räuber gemacht, Gefesselt haben sie ihn nach Ioannina gebracht, 42 Kanonen schossen …

Oder: Dreizehn aus der Freischar Bilbil416 Gingen unerschrocken zum Strick. Steh auf, Bilbil, wirf den Strick weg, Warte, Bej, bis ich meine Zigarette geraucht habe, Denn ich bin nicht irgendwer, Nein, ich bin Bilbil mit dem Schwert.

Oder:

Riza Bej, Riza Kolonja Dein Säbel zerschneidet sogar Nägel.417

4 14 Mesallonja bzw. Messolongi war die Stadt in Griechenland, bei der Lord Byron (1788–1824) landete, um den griechischen Freiheitskampf zu unterstützen, und wo er 1824 starb. Siehe auch oben S. 93. 415 Sheme Kaso Brahimi (vermutlich 1822–1875): Legendärer Räuber und antiosmanischer Held zur Zeit der Türkenherrschaft, in Heldengesängen und Balladen besungen. 416 Die Freischar oder Räubergruppe (kaçakë) der Bilbil hatte ihren Namen von den beiden Anführern Bilbil Shako und Bilbil Resuli. Sie stammte aus der Labëria und war in den 1850-er und 1860-er Jahren tätig. 13 ihrer rund 50 Mitglieder wurden aufgrund eines Verrats gefangen und in Ioannina hingerichtet. 417 Ali Riza Kolonja (1880–1930): Albanischer General und Minister.

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Meine Mutter kann dieses Gedicht, das sehr lange ist, auswendig. Sie ist inzwischen alt geworden, hat es aber immer noch präsent. Ich habe sie in den letzten Jahren einmal gebeten, es mir zu rezitieren und habe davon wohl sogar eine Aufnahme gemacht, aber da bin ich mir nicht mehr sicher. [S. 162] An Riza Kolonja und sein Schwert erinnere ich mich sogar persönlich. Wir hatten als Nachbarin eine alte, überaus freundliche, redliche und stets zu Späßen aufgelegte Frau. Man nannte sie die Hava von Toro. Sie hatte einen Sohn namens Mahmut, der ebenfalls sehr rechtschaffen war; sein Junge ist mittlerweile ein ausge­ zeichneter Agronom. Teto Hava mochte uns sehr. Sie verwöhnte uns und schüttelte für uns immer Früchte vom Maulbeerbaum in ihrem Hof, wenn wir zu ihr kamen. Eines sonnigen Tages saß auf dem Steinbänkchen in ihrem Hof ein hochbetagter Alter mit einem weißen Schnurrbart. Ich sammelte ein paar Maulbeeren auf und reichte sie ihm. Er streichelte meinen Kopf und ich fragte ihn: «Wer sind Sie, mein Herr?» «Ich bin Riza Kolonja», entgegnete der Alte. Er war wohl ein Vetter oder Mieter von Teto Hava, das weiß ich nicht mehr genau. Aber ich weiß noch, dass Riza Bej Kolonja jeweils ans Fenster klopfte und uns bat, ihm ein paar Maulbeeren nach oben zu bringen, wenn wir – Tartales Sohn Hiqmet und Mullah Refiks Sohn Rushit – in Teto Havas Hof spielten und vom Maulbeerbaum naschten. Ab und zu füllten wir ihm auch eine Flasche Wasser («Zittergreiswasser» nannte es Teto Hava), und er zeigte uns dafür in seinem Zimmer den berühmten Säbel, während er den Vers rezitierte: Riza Bej, Riza Kolonja Dein Säbel zerschneidet sogar Nägel.

Eines Tages fragte ich ihn: «Xha Riza, ist Ihr Säbel denn nicht zerbrochen, als Sie Nägel damit zerschnitten haben?» Onkel Riza stand auf, zog den funkelnden Säbel aus der Scheide und sagte: «Überzeuge dich selbst, siehst du etwa irgendeine Delle?» Ich staunte und musste zugeben, dass der Säbel gänzlich unbeschädigt war. Xha Riza fuhr mir durch die Haare und sagte: «Wenn du größer bist, wirst du verstehen, wie das gekommen ist». Was ich nun berichten will, hat weder etwas mit Liedern noch mit Tänzen zu tun, sondern mit einem bitteren Ereignis. Ich erwähnte ja oben Rushit, den Jungen von Mullah Refik Mezin, [S. 163] mit dem zusammen ich Maulbeeren im Hof von Teto Hava genascht habe. Er war in der Kindheit einer meiner Spielkameraden. Wir nannten ihn «Zwiebel», weil er stets nach Zwiebeln roch. Er wusch sich kaum je die Hände, zeichnete sich aber im Fluss als hervorragender Schwimmer aus. Immer an den Markttagen, Montag und Freitag, ging er zur Brücke und sprang in den Fluss – nicht nur ein-, sondern viele Male. Dies tat er nicht etwa aus Lust, sondern um ein paar Gro-

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schen zu verdienen, mit denen er sich die Schulbücher und -hefte kaufen konnte. Wenn also die Bauern aus der Lunxhëria auf den Markt von Gjirokastra kamen, erwartete er sie auf der Brücke mit der Frage: «Traut ihr euch, mit allen Kleidern von der Brücke in den Fluss zu springen? Ich mach’s, wenn ihr mir einen Groschen gebt.» Und wenn ihm die Bauern dann etwas gegeben hatten, sprang er wirklich. Das war quasi sein Beruf geworden. Wir bewunderten «Zwiebel» zwar für seinen Mut, rieten ihm aber auch, die Finger von diesem gefährlichen Spiel zu lassen. Tatsächlich kam dann der Tag, an dem der unglückliche «Zwiebel» umkam. Er hatte den Kopf an einem Stein zertrümmert, die Strömung trug seinen Körper fort, so dass er kaum aufzufinden war. Uns tat das sehr leid; wir weinten über ihn und über Mullah Refik, der nur diesen einen Sohn hatte. In Klammern will ich ergänzen, dass Mullah Refik ein hochgewachsener Hodscha mit einer tiefen Stimme und großen Händen und Füßen war. Er war der Imam in einer der Moscheen von Gjirokastra. Charakterlich war er absolut in Ordnung; in religiöser Hinsicht gänzlich unbedarft, weder glaubte noch wusste er etwas. Er hatte ein paar Dinge auswendig gelernt, die er in der Moschee ohne sie zu verstehen vortrug, einfach, um zu einem kleinen Lohn seitens des Vakëfs, der islamischen Stiftung, zu kommen. Im hohen Alter sang er den Gebetsruf nicht mehr in der Moschee, sondern von seinem häuslichen Sofa aus. Als sein Sohn starb, schüttelte es den Mullah vor Gram. Damals erzählte uns «Zwiebels» Schwester einmal, wie sich das Denken ihres Vaters vor allem um Hühner drehte: Wenn er den Gebetsruf sang, war sein Blick zwar meist himmelwärts, «zu Gott hin», gerichtet, doch ließ er seine Augen auch immer wieder über den Garten und den Hof schweifen, um zu sehen, ob nicht etwa ein fremdes Huhn dort eingedrungen war. War dies der Fall, sang er statt des Gebetsrufs: «Bako» – so hieß wohl seine Tochter –, «schließ rasch das Gartentürchen, es sind Hühner hereingekommen!» Mullah Refik war ein Freund meiner Großeltern, hingegen hatte er nicht viel für seine Brüder Asllan und Ramiz übrig. Dies waren reiche Kaufleute, die ihm nicht die geringste Unterstützung gewährten und ihm nicht einmal ein Stück Brot gaben. Wenn er sich zusammen mit den Großeltern [S. 164] auf unserem Vorplatz ein Glas genehmigte, stimmten sie oft auch ein Lied an. Baba Çen sagte ihm dann: «Refik, du machst den ganzen Gesang kaputt, du hast eine Stimme wie eine Keule, eine richtige Xhore-Stimme!» 418 «Wir wollen das Lied ja nicht verkaufen», antwortete Mullah Refik und schob sich ein Stück Käse in den Mund. «Du metzelst uns ja den ganzen Imbiss nieder, du schräger Vogel», sagte der Großvater.

4 18 Zu «xhore» siehe unten.

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«Wozu haben wir den denn, wenn nicht zum Essen! Lasst uns essen, solange wir etwas zu essen haben, später können wir den Gürtel immer noch enger schnallen wie der Zigeuner Shamo!» 419, antwortete Mullah Refik schlagfertig und lachte lauthals. Das Wort «xhore» 420 hatte für uns zwei Bedeutungen, eine übertragene, figürliche und eine konkrete. Eine grobe, ungehobelte Stimme nannte man eine «Xhore-Stimme; von jemandem, der schwer von Begriff war, sagte man, er sei «kokëxhore», er habe einen «xhore-Kopf». Und jenen Kameraden, die in der Schule nichts begriffen, sagten wir schlicht «Du bist xhore». In seiner eigentlichen, konkreten Bedeutung hingegen meint «Xhore» einen Ast von Hartriegel- oder anderem Holz, der am baumseitigen Ende, keulenartig, einen großen Knoten hatte. Solche Äste rissen wir ab und richteten sie mit dem Taschenmesser her. Aber was machten wir wohl mit diesen «Keulen»? Lacht nicht: Wir spielten Golf mit ihnen! – Gab es denn damals in Gjirokastra schon Golf? Was erzählst du uns da! Als ob Gjirokastra London gewesen sei! – Nun, «Golf» hieß unser Spiel nicht, und natürlich war Gjirokastra auch nicht London, aber abgesehen davon war unser Xhore-Spiel wirklich sehr ähnlich wie Golf. Einzige Unterschiede: Als Kopf unseres Golfschlägers diente der Knoten des Asts, anstelle der gepflegten Löcher des Golfplatzes zielten wir auf kleine Pfützen und statt mit Golf bällen betrieben wir unsere Variante mit abgeernteten Maiskolben. Unsere Golfschläger oder Keulen – unsere Xhores eben – fabrizierte ich im Garten des Onkels zusammen mit meinem Vetter Sado Gami, den ich «Sud Gam» nannte. Wir waren fast gleich alt, mochten uns gut, zankten uns auch und ließen uns gemeinsam von den Brombeerranken im Garten des Onkels zerkratzen. «Garten» war der offizielle Name, in Tat und Wahrheit handelte es sich um einen Steilhang, den frühere Generationen mit allen möglichen Bäumen und Sträuchern bepflanzt hatten, um so das Haus vor der Gefahr eines Erdrutsches zu bewahren. Eichen, Judasbäume, den einen oder anderen Feigenbaum, Zürgel- oder Nesselbäume, ein paar Maulbeerbäume, wilde Pflaumenbäume, schwarzen Holunder konnte man hier finden, aber all dies bedeckt und zugewachsen von Brombeerranken und Dornen. Dieser «Garten» war für uns das Paradies, unser Zauber- und Traumwald. Hier bauten wir Vogelfallen, hier sammelten wir Veilchen, die wir dann den Lehrern brachten, hängten die Frühlingsbändchen,421 die uns die Großmutter gemacht hatte, an einen Zweig, aßen Kornelkirschen, schälten Feigen und versuchten, die Kernchen in diesen zu zählen. Eines Tages kaufte die Großmutter eine Ziege, und diese brauchte – leider! – Futter. [S. 165] Großmutter schickte uns, das Dorngestrüpp auszureißen. Jeder von uns bekam eine Hacke und wir arbeiteten den ganzen Morgen. Zur Mittagessenszeit hatte 4 19 Zum Rom Shamo siehe S. 288 ff. 420 Xhore: a) unwissend, ignorant, Dummkopf; b) Knüppel, Keule. In die oben stehende Charakterisierung von Mullah Refiks Stimme fließen beide Facetten ein. 421 Frühlingsbändchen (albanisch: marse): Bändchen aus farbigen Fäden, die den Kindern am Frühlingstag (21. März) ums Handgelenk gebunden werden.

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ich die Hände schon voller Blasen. Mit dem Taschenmesser, das ich, an einer Schnur angebunden, mit mir trug, «operierte» ich mich selbst. Leider nicht sehr erfolgreich: Die Wunde infizierte sich und begann zu eitern, ihr Zustand verschlechterte sich zusehends, so dass nun eine richtige Operation, ausgeführt durch einen richtigen Arzt, unumgänglich wurde. Doktor Telemach, den die Großmutter «Qir Telemach» 422 nannte, führte sie aus. In der Handfläche habe ich davon noch heute eine Narbe. Statt einer hatte es also gleich zwei Operationen gebraucht, und da ich wegen der Verletzung in der Hand auch eine Schwellung unter der Achsel bekam, schnitt mich «Qir Telemach» auch dort auf, wovon mir ebenfalls eine Narbe geblieben ist. Wenn wir als Kinder nackt im Fluss badeten, fragten mich die Freunde: «Was hast du denn da unter der Schulter?» Und ich erwiderte ihnen mit ernster Miene: «Ich bin im Krieg verwundet worden.» Zu jener Zeit konnten wir noch nicht ahnen, dass wir wahrhaftig in den Krieg ziehen würden und dort vielleicht verwundet oder gar getötet werden könnten – und zwar nicht bloß zum Spiel, sondern im erhabenen Dienst für Volk und Heimat. Der erwähnte «Garten» bestand aus einem langgezogenen Grundstück, das außer dem Bruder meiner Mutter noch verschiedenen anderen Personen gehörte: Xha Haxhi Shurdi, Xha Bastri, Xha Mujman, Bozgo und Selfo Qofte. Die Grenzen der einzelnen Anteile wurden durch die Ecken der jeweiligen Häuser markiert, im Garten selbst gab es weder Mauern noch Zäune, die uns behindert hätten. Wir konnten also zwischen den Bäumen herumrennen, wie es uns gefiel. Scherereien hatten wir höchstens mit Xha Mujman Qose, der etwas zänkisch, aber nicht eigentlich böse war. Er belauerte uns, weil wir von seinen Kornelkirschen und Granatäpfeln stibitzten. Seine Maulbeeren rührten wir nicht an, da diese direkt vor seiner Haustür wuchsen. «Oh Gjulo», sagte er zu meiner Mutter, «sprich mit diesem Jungen da, der mir die Kornelkirschen abreißt!» «Aber, aber, was sagst du da, Xha Mujman», entgegnete die Mutter, «so einer ist doch der Enver nicht!» «Aber so hat man’s mir berichtet, Gjulo; auch wenn ich ihn nicht mit eigenen Augen gesehen habe.» Zu Hause zog mir die Mutter dann die Ohren lang. Ich aber bot Xha Mujman an, als ich ihn auf dem Schulweg schwer beladen mit einem Sack Gemüse [S. 166] antraf, das er auf dem Markt verkaufen wollte: «Xha Mujman, wirf diesen Sack doch mir über die Schulter, du bist ja nicht mehr der Jüngste.» So hoffte ich, das «politische Einvernehmen» mit ihm zu verbessern. Xha Mujman lachte auf den Stockzähnen, weil er meine Strategie durchschaut hatte, und lud mir den Sack mit folgenden Worten auf die Schultern: «Für deine Mühe werde ich dich mit Kornelkirschen entlöhnen.» Ich errötete über beide Ohren, denn eigentlich mochte ich Xha Mujman ja. Er war ein redlicher Mensch und hatte keine Kinder, die sich um ihn sorgten. Die zwei Söhne, die er 422 «Qir»: Von griechisch «κύριος» = Herr.

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gehabt hatte, waren schon in ihrer Jugend nach Amerika emigriert, so dass er nun, krumm und lahm, wie er war, mit Teto Nazo, seiner Frau, zurückgeblieben war. Dieser Garten war aber auch unser musikalisches «Atelier». In der damaligen Zeit hatten die Kinder ja noch nicht alle die verschiedenen Instrumente, die ihr heute habt, und zwar aus zwei Gründen: Erstens waren wir arm und hätten gar kein Geld gehabt, Musikinstrumente zu kaufen, und zweitens gab es auch auf dem Markt schlicht nichts dergleichen. Und trotzdem hatten wir das Herz voll Musik, ganz besonders im Frühling, wenn das Laub hervorbrach, wenn die Veilchen unter dem Gestrüpp hervorlugten und die Nachtigall auf den Dornenzweigen im Garten ihr Lied sang. An solchen Tagen priesen wir unsere Taschenmesser und machten uns daran, kleine Flöten und Tröten herzustellen. Hierzu diente uns vor allem die Rinde des Judasbaums, während wir gleichzeitig, nach Art der Ziegen, dessen rote Blüten aßen. Die weiche Rinde schälten wir sorgfältig in Streifen ab, dann zwirbelten wir sie in Form eines Rohrs zusammen und steckten oben das Mundstück darauf.423 Auch dieses stellten wir aus feinen Ästen her, die wir, um nur bloß nichts kaputt zu machen, sorgfältig mit dem Griff des Taschenmessers weichklopften. Dazu sangen wir folgendes Lied: Komm heraus, Nachtigall/Trillerpfeife, Nelke, 424 wenn du nicht herauskommst, wirst/sollst du platzen.425

Manchmal stellten wir auch Hirtenflöten aus Holz her. Dies war die Spezialität meines Altersgenossen aus dem Dorf Kardhiq, den man den «Hirten» nannte. Sein Vater war bei den Onkeln meines Vaters angestellt. Der «Hirte» war ein sehr aufgeweckter Junge, er kletterte wie ein Affe auf Bäume, konnte prächtig das Rad schlagen, hütete die Ziegen und besuchte die Schule nicht. Unterhalb des Ackers meines Großonkels schnitzte mein Freund die Flöten, während ich ihm Märchen aus Büchern vorlas und versuchte, ihm das ABC beizubringen. Später gab es dann in den Läden kleine Trillerpfeifen, die aus Ioannina importiert wurden; mit diesen trieben wir die Bewohner unseres Viertels in den Wahnsinn. [S. 167] Noch später stellten dann die Handwerker in Gjirokastra Trillerpfeifen aus Eisenblech her. Das einzige Instrument der Volksmusik, das auf dem Markt verkauft wurde, waren Flöten426 aus Blech. Solche fand man beim Blechschmied Malo, sie waren bei ihm 423 Vgl. auch die «Bauanleitung» für diese Flöten in Muzafer Xhaxhius «Fjalor i të folmes së Gjirokastrës», Lemma «camunxë», S. 32. 424 «Bilbil» hat die Bedeutungen Nachtigall und Trillerpfeife, aber auch «Person, die schön singt». «Karafil» bedeutet wörtlich Nelke, im übertragenen Sinne auch «schön (wie eine Nelke)». Die erste Zeile heißt sinngemäß also «Komm heraus, du Sänger, schön wie eine Nelke». 425 Im Original klingt der Reim natürlich schöner: Dil bilbil, karafil / Në mos dalç, të pëlcaç. Zu einem weiteren Lied, das beim Herstellen der Camunxë gesungen wurde, siehe Xhaxhiu a. a. O. 426 Albanisch fyell, Pl. fyej.

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neben den blechernen Öllämpchen und den Raffeln aufgehängt. Gekauft wurden sie vor allem von Hirten; im Gegensatz zu den Städtern wussten die Leute aus der Labëria mit diesen Flöten umzugehen und fanden Gefallen an ihnen. In Gjirokastra gab es zwei talentierte und wunderbare Menschen, die die Flöte wie die Hirten spielten. Beide waren blind, man nannte sie Vehip, den Blinden und Selman, den Blinden. Sie stammten aus Dörfern in der Labëria, waren mausarm und abgearbeitet und lebten in zwei elenden Schuppen. Beide zogen als Bettler durch die Straßen, in der einen Hand einen Stock, in der anderen die Flöte, ansonsten hatten sie nichts, absolut nichts. Aber beide waren herzensgute Menschen und überdies großartige Flötenspieler. Trotz ihres Elends, das in jeder Hinsicht unsäglich groß war, waren sie frohgemut und hatten das Herz voller Musik. Ich empfand für sie die größte Zuneigung schon als kleiner, zehnjähriger Junge, und dies dauerte bis zu ihrem Tod an. Selman, der Blinde, starb zur Zeit von Ahmet Zogu, während Vehip die Befreiung des Landes noch erlebte. Er konnte sie und die große Fürsorge seitens der Partei genießen, erhielt er doch einen Platz im Altersheim, wo er bis zu seinem Tod als geachtete Persönlichkeit lebte. Vehip und Selman spielten auf ihren Hirtenflöten einzeln, manchmal aber auch zusammen. Dabei stimmte einer von ihnen die Melodie an und der andere nahm sie auf, je nach Wunsch mit klagenden Tönen oder mit Gesangsstimme. Wie verrückt tanzten dabei ihre geschwollenen, gelben und vom Tabak oft fast schwarzen Finger auf der Flöte. Mich verzauberte der Klang ihrer Flöten, aber viele Leute konnten mit diesem Wunder an Kunst nichts anfangen. Jedenfalls muss ich beim Wort «Flöte» stets sofort an Vehip und Selman denken. Vehip war übrigens auch ein begabter Verseschmied und Stegreifdichter; er sprach nie in Prosa, sondern stets in Versen, in Stegreifgedichten. Als ich zehn Jahre alt war, mochte Vehip etwa dreißig Lenze zählen und Selman noch ein paar mehr. Beide lebten in Palorto, unserem Stadtviertel; Vehip in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Besonders Vehip liebte ich fast wie meinen Vater; mit ihm teilte ich auch die Maisbrotschnitten mit Käse, die meine Mutter mir jeweils in ein Tuch einwickelte und als Proviant mitgab. Er sagte dann immer: «Iss du sie, Junge, du bist ja noch klein und musst wachsen.» Wenn ich am Bajram etwas Geld gesammelt hatte, teilte ich auch dieses mit Vehip, dem Blinden, und davon kauften wir dann Flöten und im Laden von Stath Kuchen. Wenn wir uns trafen und ich ihn an der Hand zu seinem stockfinsteren Schuppen führte, oder wenn uns auf der «Gasse der Verrückten» [S. 168] der Regen überrascht hatte und wir uns unter ein Vordach stellten, um nicht nass zu werden, sagte er immer: «Soll ich eins für dich spielen?» «Spiel, Xha Vehip!» «Welche Art möchtest du?» «Bitte die klagende Art, Xha Vehip.» Und schon erklang voll Trauer die Flöte dieses unbekannten Künstlers. Manchmal sagte ich ihm auch: «Xha Vehip, spiel bitte das Lied von Tana!» Worauf er begann:

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Tana, oh Tana, Steh auf und wecke den Vater, Denn unsere Ziegen sind weg, Den Leithammel braten sie am Spieß.427

Das war das Lied des Schafhirten, in dessen Herde Räuber eingefallen waren und der nun mit der Flöte die Tochter des Besitzers der Schafe benachrichtigt. Wie viele Lieder und Verse hatte ich bei Vehip, dem Blinden, gehört! Solche, die er sich selbst für mich ausgedacht hatte und solche, um die ich ihn gebeten hatte. Es reichte, dass ich ihm ein Thema vorgab, und keine Minute später war der Vers schon geschmiedet. Noch jetzt fühle ich mich schuldig, dass ich diese Reime nicht mitgeschrieben habe, obwohl ich doch damals schon lesen und schreiben konnte! Wie traurig, ja wirklich, wie traurig, dass ich sie nicht festgehalten habe! Doch damals hatte ich noch nicht den Verstand wie heute. Ich kann nur den Jungen dringend raten, sich nichts entgehen zu lassen, was aus der Quelle des Volkes fließt. Haltet alles fest! Einige wenige, leider nur sehr wenige Verse von Vehip habe ich später in meinen Aufzeichnungen notiert, aber, wie gesagt, nur sehr wenige. So kann ich mich aus meiner Grundschulzeit daran erinnern, dass ich damals ein paar kleine, seltene Bücher von Naim Frashëri las, die im Ausland erschienen und noch im Alphabet von Istanbul428 geschrieben waren. Diese Bücher hatte mir Baba Çen gebracht. Xha Vehip fragte mich: «Was für Verse hast du heute gelernt, Söhnchen?» Ich antwortete ihm zum Beispiel: «Die Kerze».429 «Wer hat das geschrieben?», wollte Vehip wissen. «Naim Frashëri», gab ich ihm zur Antwort. «Trag es mir bitte vor», bat er. Und das tat ich denn auch, konnte ich das Gedicht doch auswendig. Dabei betrachtete ich seine weißen Augen, [S. 169] in die kein Licht drang und die doch wirkten, als würde er mich anschauen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Vehip einmal, als ich das Gedicht fertig rezitiert hatte, ausrief: «Ah, könnte ich dich doch auf die Stirn küssen, oh Naim Bej!». Und dann schmiedete er das folgende Gedicht:

427 Der gereimte Originaltext lautet: Tanë, moj Tanë, / Ngreu e zgjo babanë, / Se dhentë na vanë / Dash përçor në hell e kanë. 428 Das Alphabet von Istanbul («alfabeti i Stambollit») wurde 1879 von Sami Frashëri zur Verschriftlichung albanischer Texte erfunden und während rund 30 Jahren für Schul- und andere Bücher verwendet. Es stellte eine wichtige Grundlage für die Schaffung des noch heute verwendeten albanischen Alphabets am Kongress von Manastir 1908 dar. Zu Naim Frashëri und den Büchern aus seiner Feder, die Baba Çen beschafft hatte, siehe S.  127 f. 429 Das Gedicht «Die Worte der Kerze» (Fjalët e qiririt) von Naim Frashëri (1846–1900) erschien 1884 in der Zeitung «Drita» in Istanbul und 1890 in der Sammlung «Luletë e verës» (Frühlingsblumen) in Bukarest.

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In meinem armseligen Schuppen höre ich gerade Enver zu. Naim Bej, mögest du leben, Komm, ich küsse dich auf die Stirn! Du bist Licht, du bist Licht, Bist eine Leuchte in der Dunkelheit, Hast Vehips Augen geöffnet.

Wenn ich mich nicht irre, habe ich in der Kurzfassung meiner Erinnerungen430 dort, wo ich von Xha Vehip berichte, auch ein paar seiner Stegreifverse aufgeschrieben. Diese hatte er sich ausgedacht, als ich ihm von einem Ereignis berichtete. Und zwar habe ich dort ja auch etwas über den großen französischen Revolutionär Robespierre geschrieben. Dieser hatte uns Jungen sehr beeindruckt, als wir in der Schule die Französische Revolution durchnahmen und erfuhren, wie Robespierre die Monarchie gestürzt hatte und Louis XVI enthaupten ließ. Aber ich weiß nicht mehr, ob ich auch den folgenden Vers aufgeschrieben habe, den Xha Vehip im Nu ersann, als ich ihn am Markttag in den Garten der Moschee führte, wo er sich eine Tomate, etwas Lauch oder einen Knoblauch erbetteln wollte: Oh du unglückseliges Frankreich Warum hast du Robespierre getötet? Den, der dir die Freiheit gegeben hat, Den hast du zur Guillotine geführt.

Möglicherweise kann Lefter Dilo 431 das eine oder andere Gedicht von Xha Vehip ausgraben; vielleicht gibt es ja Altersgenossen von mir, die achtsamer als ich waren und Aufzeichnungen gemacht haben. «Geduld bringt Rosen», sagt das Volk.432 Etwas anderes freilich, ein großer Schatz von Vehip, dem Blinden, lässt sich nicht mehr heben. Mit diesem Schatz meine ich die wunderbaren Töne, die er der blechernen Surne433 entlockte, die ihm der Blechschmied Malo geschenkt hatte. Freuden, Kummer, Qualen fanden ihren Ausdruck in diesem Instrument von Vehip, dem Blinden. Diese einzigartigen Melodien [S. 170] blieben uns allen, die wir sie hören durften, im Kopf und im Herzen. Sie sind uns in Fleisch und Blut übergegangen und sind, zusammen mit dem großen Schatz unserer Volkskultur, Teil unserer Gefühle und Traditionen geworden. 430 Kurzfassung meiner Erinnerungen: Wörtlich «kujtimet e mia të shkurtra», meine kurzen Erinnerungen. Dieser Text war nicht zu identifizieren. 431 Lefter Dilo (1914–1990): Historiker aus Gjirokastra und Direktor der dortigen Museen. 432 Wörtlich: «Gurë, gurë, bëhet muri» (Stein um Stein, so gibt es eine Mauer). 433 Der Text («curlja (fyelli)») ist hier nicht ganz klar, denn die Surne (curlja) ist nicht identisch mit der Flöte (fyell). Die Surne ist eine Vorform der Oboe und wird (wie die Flöte allerdings auch) normalerweise aus Holz gefertigt.

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Wenn Vehip und Selman, die beiden Blinden, Flöte spielten, kauerten die älteren Leute sich in der Hocke hin, während wir Jungen den ergreifenden Klagemelodien dieser beiden Volksbarden stehend lauschten, die von allen Leuten von Gjirokastra geliebt wurden. Als dann die Partei das Vaterland befreit hatte, wies sie Vehip, der damals noch lebte, einen Platz im Altersheim von Hazmurat im Haus der Familie Kadare zu.434 Dort pflegte er sein Flötenspiel weiter und verbrachte die Tage, die ihm verblieben waren, entspannt und in Ruhe und Glück. Vehip hatte ein ausgeprägtes akustisches Gedächtnis. Auch nachdem wir uns viele Jahre lang nicht begegnet waren, erkannte er mich sofort an der Stimme wieder. Wenn ich also aus Korça oder Frankreich heimkehrte – und sogar als ich nach vielen Jahren aus dem Krieg nach Gjirokastra zurückkehrte –, war es immer dasselbe: Es genügte, dass ich ihn fragte: «Vehip, wie geht’s dir, bist du wohlauf?» Worauf er kurz erstarrte, mich mit seinen leeren Augen anzublicken schien und voller Freude antwortete: «Ah, du hier, Enver?» Solcherart waren Vehip und Selman, die beiden Blinden: Großartige und bemit­ leidenswerte Söhne eines Volkes, das arm war, sich aber durch keine Heimsuchung in die Knie zwingen ließ. Musikinstrumente wurden zur Zeit meiner Kindheit in Gjirokastra kaum verwendet. Die vorherrschenden Musikformen waren der labische Gesang, der nicht instrumental begleitet wurde, und Tänze für Frauen oder Männer, die einzig durch Gesang begleitet wurden. Die Schellen- oder Handtrommel kam derart selten zum Einsatz, dass ich mich an sie aus jener Zeit gar nicht erinnern kann. Einzig die «Ägypter»,435 die sesshaften Roma, brauchten sie, so wie sie auch die Violine und die dreiseitige Laute verwendeten. Manchmal bildeten sie auch kleine Orchester. Wenn sie labische Lieder sangen, taten sie dies mit instrumentaler Begleitung; der Klang dabei war ein anderer, viel harmonischerer als jener der Lieder, die die «Ägypter» von Vlora sangen. Wie auch immer; solche kleinen Orchester gab es in Gjirokastra nur wenige, und auch diese bestanden nicht aus Berufsmusikern, wie das für die Kapellen der «Ägypter» in anderen Gegenden, z. B. im Përmet oder in Korça, der Fall war. Nur sehr selten traten diese Orchesterchen bei einer Hochzeit auf. [S. 171] Später, als sich die Situation der Stadtschule und dann auch des französischen Lyzeums in Gjirokastra etwas stabilisiert hatte, gab es mehr Musikinstrumente. Von den Lehrern, die das Lehrerseminar in Elbasan436 oder eine ähnliche Institution durchlaufen hatten, lernten wir das Notenlesen. Patriotische Lieder hatten wir freilich 434 Das Haus der Familie Kadare (oder ein Teil davon) hat möglicherweise bereits während der deutschen Besatzung von Gjirokastra als Altersheim fungiert. 435 Ägypter: Siehe S. 66, 287–295. 436 Die 1909 eröffnete «Normalja» (pädagogische Mittelschule) in Elbasan war die erste Lehrerbildungsinstitution in Albanien.

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schon von der ersten Klasse an gelernt. So wie alle Schüler sang auch ich die vaterländischen Lieder jener Zeit mit Begeisterung. Dies waren die ersten Lieder überhaupt, die wir lernten, denn andere gab es kaum. Seltsamerweise sangen wir in der Schule nie auf labische Art, obwohl die meisten von uns das konnten; der Grund war wohl, dass die Lehrpläne aus Tirana kamen. Labisch sangen wir nur außerhalb der Schule, die entsprechenden Lieder brachten wir uns selbst und aus eigenem Antrieb bei, durch bloßes Zuhören und ohne Lehrer. Möglicherweise fanden unsere damaligen Lehrer sie etwas zu archaisch, obwohl auch viele von ihnen gut auf labische Art singen konnten. Als wir ins Lyzeum kamen, motivierten unsere albanischen und französischen Professoren uns, ein Musikinstrument zu lernen und auch kleine Orchester zu bilden. Unser Professor im Fach Musik war Pano Hido, der selber Violine spielte und seine Haare, anders als die anderen, sehr kurz geschnitten trug. Wir organisierten ein eigenes Schulorchester am Lyzeum. Mein Vater kaufte mir hierfür eine Mandoline, was mir eine riesige Freude bereitete. Eine Hülle für das Instrument fertigte die Mutter an. Von meinen Kameraden – Aqif, Elmaz, Hamit, Selahudin, Fejzi, Kiço, Fani, Nuri, Xhemal, Sedat, Kamber und andere – kauften die einen ebenfalls eine Mandoline, andere eine Violine oder eine Gitarre. Blasinstrumente fehlten in unserem Orchester. Ganz besonderes Interesse am Orchester zeigte der französische Direktor des Lyzeums, Herr Coutant, was dazu beitrug, dass wir in kurzer Zeit – mit und ohne Noten – ziemlich viele Stücke spielen lernten. An festlichen Anlässen veranstalteten wir in- und außerhalb des Lyzeums Konzerte, so etwa am Tag der Preisverleihungen an der Schule, anlässlich von Theateraufführungen oder auch für die Bevölkerung, wobei wir auf dem Balkon des Studentenklubs auftraten, der mitten auf den Marktplatz ging. Über diese Klubs und Gesellschaften werde ich später noch sprechen. Jedenfalls trugen wir, die Schuljugend, mit diesem Engagement zu einem neuen Aufleben der Stadt im Bereich der Kunst und Kultur bei. Anfangs wurde das nicht groß gewürdigt, man rief uns sogar geringschätzig nach, wir seien wohl zu Geigenhanseln in der Art der «Ägypter» geworden, [S. 172] aber diese Spöttereien nahmen bald ein Ende. Wir meisterten diese Anfangsschwierigkeiten, und bald schon zeigte das Volk große Freude an unserer Aktivität. Wenn wir vom Balkon aus spielten, füllte sich das Zentrum des Marktplatzes, die Leute hörten auf zu schwatzen, hörten uns zu und applaudierten. Als wir unsere musikalischen Aktivitäten nicht nur in der Schule, sondern auch in Klubs und Vereinen aufnahmen, stießen wir zuerst auf einigen Widerstand, aber auch ihn überwanden wir. Aqif, Selam, Elmaz, Kamber, Samuel und ich setzten uns nach besten Kräften für unsere kleinen Orchester, für die Klubs und für die Bibliothek ein, und dies mit Erfolg. Alle anderen Freunde schlossen sich uns an. Ich darf also sagen, dass wir die Pioniere dieser kulturellen Aktivitäten waren und dass andere uns folgten, wodurch unser Engagement an Breite und Qualität gewann. Später gründeten Jüngere aus unserem Kreis sogar Kapellen mit Blasinstrumenten. Moderne Tänze tanzte niemand in Gjirokastra, auch wir Schüler nicht, und zwar weder in der Schule noch

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außerhalb derselben in den Klubs. Dies galt auch, als Mädchen das Lyzeum zu besuchen begannen. Unser Umgang mit Mädchen kann vorbildlich genannt werden. Nie, soweit ich mich erinnern kann, geschah etwas Unerfreuliches, nie ist ein schlimmes Wort gefallen. Dies trug maßgeblich dazu bei, dass jedes Jahr mehr Mädchen ans Lyzeum kamen. An unseren kulturellen Aktivitäten beteiligten sie sich allerdings nicht, offenbar bestand doch eine gewisse Angst und herrschte noch ein konservativer Geist. Einen starken Aufschwung nahm das kulturelle und künstlerische Leben in Gjirokastra, als wir den Verein «Studenti», «der Student» gegründet hatten.437 Aktiven Anteil am Vereinsleben nahmen auch Kameraden wie Aqif Selo, Selam Xhaxhiu und andere, wenn sie in den Ferien nach Hause kamen. Zur Förderung des kulturellen Lebens trugen die Eröffnung des Lyzeums und die dortigen Professoren, Albaner wie Franzosen, maßgeblich bei. Unsere Aktivitäten entfalteten wir inner- und außerhalb der Schule. Im Lyzeum selbst hatten wir eine Bibliothek mit albanischen und französischen Büchern; aber von unserem Verein her wollten wir eine Bibliothek auch außerhalb der Schule, was wir dann auch realisieren konnten. Indem wir überall – bei den Schülern und im Volk – nach Unterstützung suchten, gelang es uns, mitten auf dem Marktplatz 438 ein Lokal zu mieten. Wir kauften einen Bücherschrank, sammelten Bücher und [S. 173] ernannten einen Kameraden zum Bibliothekar. Dazu schufen wir ein Reglement zum sorgfältigen Umgang mit den Büchern und zur Einhaltung der Rückgabefrist. Damit sollte sichergestellt sein, dass die Ausleihe in geordneten Bahnen verlief, waren Bücher damals doch etwas Teures und Seltenes. Wie schon oben gesagt, versammelten sich nachmittags in unserem Lokal zahlreiche Schüler; wir lasen Bücher, sangen im Chor Lieder und unser kleines Or 437 Gemeint ist der am 7. Juli 1924 gegründete Verein bzw. Klub «Studenti», vgl. hierzu auch Kokalari a. a. O., S.  23. 438 Fußnote im albanischen Original: Als Genosse Enver Hoxha am 23.  Februar  1972 vor dem Zentralkomitee der Partei der Arbeit Albaniens (PPSH) sprach, sagte er unter anderem dies: «Erlaubt mir, euch etwas aus der verflossenen Zeit meiner Jugend – vor rund 50 Jahren – in Gjirokastra zu erzählen. Wir Schüler haben damals selbst mit je einem Lek, den uns unsere armen Eltern unter Opfern gegeben hatten, zwei Klubs in der Stadt gegründet. Mit unseren wenigen Büchern haben wir Bibliotheken eingerichtet und haben ein paar Musikinstrumente – Mandolinen und Gitarren – angeschafft, die wir spielen lernten und mit denen wir auch vors Volk traten. Haltet euch vor Augen, dass wir die Klubs selbst gefegt und geputzt haben. Wenn einer eine Fremdsprache beherrschte, las er Bücher in dieser, dann versammelten wir uns und er fasste das Gelesene zusammen. Auch wenn meine Haare inzwischen ergraut sind, werde ich nie einen Samuel Kofina vergessen, der tagsüber Baumwollballen herumschleppte, um da und dort einen Meter zu verkaufen, am Abend aber, geschafft, wie er war, zu uns kam und uns von altgriechi­ schen Autoren wie Homer oder Aristophanes, manchmal auch von Allan Pinkerton, berichtete. Unvergesslich ist mir auch Kamber Bilal, ein armer Mensch mit zerrissenen Hosen, der tagsüber arbeitete und las und uns am Abend Episoden aus den Romanen von Alexandre Dumas erzählen kam.» (Aus: Enver Hoxha, Berichte und Reden 1972–1973, S. 232–233; Tirana 1974.)

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chester spielte auf dem Balkon, der auf den Marktplatz schaute. All das war wunderbar und ging so lange gut, bis wir unsere Aktivitäten auch in den Bereich von Konferenzen auszudehnen begannen. Dadurch waren wir gezwungen, ein anderes Lokal zu suchen. Wir fanden schließlich etwas weiter weg eines, das größer war; es lag ebenfalls am Marktplatz, und zwar an der Straße, die zur Präfektur führte. Das neue Lokal hatte drei, vier Zimmer und lag im ersten Stock oberhalb der Geschäfte. Man erreichte es über eine lange Treppe. Die Tür unten war aus Eisen und wurde mit einem großen Schlüssel geöffnet. An diesen Schlüssel erinnere ich mich bestens: Als man unseren Klub schließen und den Verein auflösen wollte,439 kämpften wir wie die Löwen darum, ihn nicht aushändigen zu müssen, und tatsächlich konnten wir ihn behalten. Den Klub wollten sie uns schließen, weil wir angeblich zu viel Lärm machten, aber das war nur ein Vorwand. In Tat und Wahrheit ging es darum, dass man in unseren Aktivitäten Widerstand gegen das Regime und Verspottung desselben vermutete. Freilich betonten wir das patriotische Moment sehr stark [S. 174] und sangen aus voller Kehle vaterländische Lieder, in denen es um die Freiheit ging: Genug jetzt mit der Knechtschaft, du armes Albanien Jünglinge, greift zu den Gewehren, entweder Tod oder Freiheit …

Ein wichtiges Thema in unserem Klub waren die revolutionären Momente des französischen Volkes, die wir in der Schule und aus anderen Quellen kennengelernt hatten. Dies machte den Leuten natürlich Eindruck, während es den Vertretern von Zogus Regime überhaupt nicht gefiel, war diesen die Entwicklung der Bildung  – ganz besonders in Gjirokastra – doch ein Gräuel. Im Klub, wo wir uns jeden Nachmittag versammelten, kommentierten wir auch die Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt. In Gjirokastra gab es eine kleine Druckerei, in der auch die Zeitung «Drita» 440 gedruckt wurde. Bevor Zogu auf dem politischen Parkett erschien, zur Zeit von Fan Noli,441 war Veli Hashorva der Redaktor dieser Zeitung, ein Freund von Bahri,442 der nach Zogus Erscheinen443 nach Istanbul floh. Der Besitzer der Druckmaschine war

439 Fußnote im albanischen Original: Der Direktor des Lyzeums versuchte erfolglos «den Schlüssel des Sekretariats von Enver Hoxhas Gesellschaft an sich zu nehmen.» (Zentralarchiv der PPSH, Brief von Kamber Bilal an Samuel Kofina vom 29.6.1925.) 4 40 «Drita» (das Licht) war der Name verschiedener patriotischer Wochenblätter, die oft nur kurze Zeit in Istanbul, Bukarest, Sofia, Manastir erschienen. In Gjirokastra erschien 1920–1924 unter Veli Hashorva eine Wochenzeitung «Drita». 4 41 Gemeint sind die Jahre von 1921–1924. 4 42 Bahri Omari: Schwager Enver Hoxhas, siehe S. 148. 4 43 Ahmet Zogu wurde 1920 Innenminister, 1922 Ministerpräsident, 1925 Präsident und 1928 selbsternannter König von Albanien.

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damals ein gewisser Xhevat Kallajxhiu,444 den wir «Plattnase» nannten, weil er eine große, eingedrückte Nase hatte und näselte. Diesen Typen mochten wir nicht, er war ein Dummkopf und hatte auch die Schule abgebrochen. Xhevat war schwerreich, er besaß Hotels, Läden, Häuser unmittelbar am Çerçiz-Topulli-Platz, und er gab sich uns gegenüber als Schriftsteller, Literat und Journalist aus. Als Zogu an der Macht war, war er Zogist, als uns die italienischen Faschisten besetzten, wurde er zum Faschisten und Partner des Faschisten Vangjel Koça.445 Nach dem Ende der italienischen Okkupation floh er nach Italien und von dort aus in die USA, wo er nun bei «Voice of America» gegen unser Regime hetzt. Einmal druckte Xhevat in seiner Druckerei ein selbstverfasstes Märchen von 10–15 kleinformatigen Seiten, das er in den Verkauf bringen wollte. Wir nahmen ein Exemplar in unseren Klub mit und lasen es. Es war derart trivial, dass wir uns vor Lachen kugelten. Xhevat ahnte, dass wir sein Machwerk zum Gespött machen würden, deshalb kam er eines Tages in den Klub, um zu sehen, was wir davon hielten. Er setzte sich, aber wir würdigten ihn keines Blicks. Er rutschte auf seinem Hocker hin und her, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und uns fragte, [S. 175] ob wir das Märchen gelesen hätten. Da sprang Kamber Bilal auf, der Vorsteher unseres Klubs, ein Kamerad, der sehr belesen war und dessen Manteltaschen stets voller Bücher waren. Er übte vernichtende Kritik an Xhevats Märchen und ließ kein gutes Haar an ihm. «Plattnase» schrie herum und verteidigte sein Märchen. Nun sprang Aqif Selfo auf und sagte: «Willst du deine Druckerei nicht besser uns, den Mitgliedern des Klubs, überlassen? Du verstehst ja nun wirklich nichts von diesem Geschäft, und so lange sie in deinen Händen ist, erscheinen da nur Erzeugnisse, mit denen man sich höchstens den A… wischen mag, mit Verlaub gesagt.» «Plattnase» platzte fast vor Zorn und kochte vor Wut, konnte aber nicht viel machen. «Beruhigen Sie sich», sagte Selam Xhaxhiu, ein guter Kamerad, den wir «Plaka», «die Alte» nannten, «besser, wir unterhalten uns vernünftig. Mir, oh Xhevat, mir hätte es besser gefallen, wenn du den Helden im Fluss ertränkt hättest, denn genau dieses Los verdient er». Nun ergriff auch ich das Wort und präsentierte Xhevat – nebst einigem anderen – meine Schlussfolgerung: «Ich gehe einig mit Selams Meinung, möchte aber noch Folgendes ergänzen: Noch besser wäre es, wenn zusammen mit dem Helden des Märchens du dich auch gleich selbst im Fluss ertränken und aus unserer Mitte verschwinden würdest!»

4 44 Xhevat Kallajxhiu (1904–1989) gab in Gjirokastra von 1925–1939 die Zeitung Demokratia heraus, war Mitglied der Nationalen Front (Balli Kombëtar), floh nach dem Krieg nach Italien und emigrierte von dort in die USA, wo er als Journalist und Autor diverser albanischer Bücher arbeitete. 4 45 Vangjel Koça (1900–1943): Journalist und Übersetzer, ab 1939 Führer der faschistischen Partei in Albanien.

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So endete die Debatte mit «Plattnase», den wir im Klub nie wieder zu sehen bekamen. Im Hintergrund allerdings intrigierte er nach Kräften, damit uns der Klub geschlossen werde. Neben dem Austausch über die albanischen Neuerscheinungen rezitierten wir auch Gedichte, die wir in der Schule oder außerhalb derselben gelernt hatten; so etwa die Gedichte von Naim Frashëri, Andon Zako Çajupi, Vaso Pasha, Ndre Mjeda und anderen.446 Gleichermaßen rezitierten wir auch Lyrik von Victor Hugo, Lamartine, La Fontaine und anderen. Eine weitere literarische Aktivität in unserem Klub war es, den Kollegen von den Romanen zu berichten, die wir lasen, sei es auf Empfehlung der Professoren oder aus eigenem Antrieb. Ich hatte in diesem Sinne den Auftrag bekommen, eine Zusammenfassung einiger französischer Romane vorzutragen, so etwa «Les misérables» und «Notre Dame de Paris» von Victor Hugo, desgleichen aber auch einen Überblick über die Märchen der Gebrüder Grimm und von Charles Perrault zu geben. Von anderen, sehr interessanten Romanen berichtete Kamber Bilal. Allerdings wusste keiner von uns, wo er sie gelesen oder wer sie ihm erzählt hatte, denn seine Kenntnisse [S. 176] in Französisch, Türkisch und Albanisch waren sehr begrenzt. Kamber war der Neffe von Hysni Babameto, dem Vizedirektor des Lyzeums. Samuel Kofina hingegen, ein jüdischer Junge, konnte Griechisch und war Spezialist für Kriminalromane. Er erzählte uns die Abenteuer von Sherlock Holmes, Allan Pinkerton und anderen. Seine Erzählungen fanden großen Anklang und zogen sich über ganze Tage und Nächte hin. Samuel war der Sohn von Haham Kofina, dem ärmsten Juden von Gjirokastra. Dieser wurde von den anderen Juden der Stadt unterstützt, indem sie ihm Stoffe gaben, die er als Hausierer von Tür zu Tür zu verkaufen suchte. Haham trug die Ware auf dem Rücken; Samuel war damals noch klein. Mit der Zeit konnte Haham einen kleinen Laden mieten, in dem dann auch unser Freund Samuel aufwuchs. Wir mochten Haham sehr gut, er war ein herzensguter und ehrenhafter Mann, kein «Jude im schlechten Sinn». Als Haham noch lebte, spazierten wir jeweils an seinem Laden vorbei, bevor wir in den Klub gingen, und gaben Samuel ein Zeichen mit dem Kopf. «Gibt’s etwas Neues heute?», bedeutete dies, worauf Samuel seinerseits mit Nicken oder Kopfschütteln die Antwort gab. Samuel und Kamber rauchten derart unmäßig, dass sie ganz gelbe Finger hatten. Hob Samuel mit einer Erzählung von Allan Pinkerton an, so steckten sich beide als Erstes flugs eine Zigarette in den Mund. Wir anderen, die nicht rauchten, riefen: «Du bringst uns noch um, Samuel!» Worauf er: «Gut, 446 Naim Frashëri (1846–1900, siehe S. 127) und Vaso Pasha (bzw. Pashko Vasa, 1825–1892) zählten zu den bedeutendsten Dichtern der albanischen Rilindja («Wiedergeburt»), die etwas jüngeren Andon Zako Çajupi (1866–1930, siehe S. 63, 127) und Ndre Mjeda (1866–1937) werden in Robert Elsies «Historia e letërsisë shqiptare» (Tirana 1995) der Übergangszeit zwischen der Unabhängigkeitserklärung 1912 und der Machtergreifung Ahmet Zogus zugeordnet, vertreten aber ähnliche patriotische Ideale wie die Dichter der Rilindja.

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dann lassen wir die Erzählung halt fallen.» «Nein, nein, rauche bloß weiter, wenn du nur mit der Geschichte fortfährst!» Samuel Kofina, dieser Freund meiner Knabenzeit, starb letztes Jahr in Gjirokastra. Ich war sehr betroffen. Als ich nach der Befreiung nach Gjirokastra ging, hatte Samuel erfahren, dass ich kommen würde. Er stellte sich am Marktplatz in eine Ecke und wartete, bis ich vorbeigehen würde. Schon beim Aufstieg zum Marktplatz wusste ich, wo Samuel mich erwarten würde. Ich trat zu ihm, gab ihm die Hand, umarmte ihn herzlich und fragte ihn: «Erinnerst du dich noch an unsere Zeit als Jungen?» Samuel flossen die Tränen herab und er sagte: «Bis ins Grab werde ich mich an diese Zeit erinnern!» Dass die anderen Leute sahen, wie vertraut ich mit ihm umging, war für ihn eine besondere Freude. [S. 177] Er arbeitete als Buchhalter in der SMT, der Maschinen- und Traktorenstation in Gjirokastra und blieb bis zu seinem Tod ein redlicher Mann. Wie schon gesagt, gab es immer wieder Intriganten, die unser fortschrittliches außerschulisches Engagement behindern wollten. Vor allem wollten sie unseren Klub schließen, um solcherart unsere Aktivität zu lähmen. «Was braucht ihr Studenten schon einen Klub!», hieß es, «Was braucht ihr eine eigene Bibliothek im Klub; diese Bücher kann man in die Schulbibliothek integrieren», und so weiter. Wir unterzogen uns nicht und leisteten tapfer Widerstand. Eines Tages zitierte mich Hysni Babameto ins Direktionsbüro und sagte: «Junge, jetzt rück den Schlüssel des Klubs heraus, ansonsten gibt es echte Schwierigkeiten!» Ich entgegnete: «Herr Hysni, ich kann den Schlüssel nicht herausgeben», worauf ich ihm die Gründe einen nach dem andern erklärte. Herr Hysni blickte mich an und hörte genau zu. Am Tisch ihm gegenüber saß der französische Direktor des Lyzeums, Victor Coutant. Auch er blickte mich aufmerksam an, allerdings verstand er kein Albanisch. Nachdem ich Herrn Hysni die Angelegenheit auseinandergesetzt und ihm den Beschluss der Kameraden mitgeteilt hatte, hieß er mich kurz draußen warten. Offenbar wollte er die Sache mit Herrn Coutant besprechen. Schließlich rief er mich wieder herein und sagte: «Gut denn, wir akzeptieren euren Beschluss. Öffnet den Klub wie bisher, nur macht dort keinen Lärm. Dadurch könnt ihr den Schandmäulern den Wind aus den Segeln nehmen, die immer mit diesem Vorwurf kommen.» Ich dankte Herrn Hysni und eilte wie im Flug zu den Kollegen, die mich schon angsterfüllt erwarteten. «Gewonnen!», rief ich ihnen zu, «Jetzt können sie uns den Klub nicht mehr schließen.» Unsere Freude war unbeschreiblich. Eine weitere außerschulische Aktivität im kulturellen und künstlerischen Bereich war das Theaterspiel. Wir, die Schüler des Lyzeums von Gjirokastra, zusammen mit den Kollegen, die am Lyzeum von Korça studierten und im Sommer heimkehrten, wir waren die Ersten, die hier als Theatergruppe auftraten. Gjirokastra hatte noch nie ein

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Theaterstück zu sehen bekommen, auch nicht zur Zeit von Xhafo Poshi, Idriz Guri447 und anderen. In der Bevölkerung kannte man zwar verächtliche und abwertende Wendungen wie «der und der macht aber wieder ein Theater!», aber was ein Theater wirklich war, davon hatten die Leute keine Ahnung. Es gab noch einen weiteren geringschätzigen Ausdruck: «Er ist ‹prosopullë› geworden, eine Karnevalsmaske», was heißen sollte: Er hat sich lächerlich gemacht. [S. 178] Dies hing mit dem «Maskentag» zusammen, einem religiösen Fest der Christen,448 bei dem eine Gruppe von Leuten ihre Faschingskleider anzogen und sich Masken vors Gesicht hängten. Dabei wurden sie von einem Orchester von «Ägyptern» 449 begleitet, zogen tanzend über den Markt und machten dazu ihre «Gajtanaq-» oder Bändersprünge. Bei diesem Spiel hielt einer der Tänzer inmitten der Tanzgruppe eine lange Holzstange in die Höhe. An der Spitze der Stange waren viele lange Bänder – gajtanë – in allen möglichen Farben befestigt. Jeder Tänzer griff sich ein Band und tanzte so, dass sich die Bänder im Laufe des Tanzes um den Stock herumwanden  – wodurch auch die Tänzer, die sie hielten, immer näher zusammenrückten. Dann wurde in der umgekehrten Richtung getanzt, wodurch sich alles wieder löste und öffnete. Natürlich trugen die lustigen Masken zur Belustigung und zum Lachen bei. So ging der Gajtanaq- oder Bändertanz, wie wir das in Gjirokastra nennen. Und dies war zugleich die einzige szenische Unterhaltung, die das Volk bis dahin kannte. Ins Theaterspiel, diese neue Aktivität, stürzten wir Studenten uns mit großem Eifer und Ernst; allerdings galt es, viele Schwierigkeiten zu überwinden. Ich will auch nicht verschweigen, dass es die die französische Kultur war, mit der wir am Lyzeum vertraut wurden, die uns antrieb, diese für uns bisher unbekannte Sparte der Kunst kennenzulernen und zu erproben. Am Lyzeum nahmen wir Theaterstücke von Molière, Corneille und Racine durch. Mit unseren französischen Professoren hatten wir lange Passagen aus diesen Tragödien und Komödien analysiert, hatten sie auswendig gelernt und rezitierten sie in der Klasse. Oft ließen die Professoren uns auch im Dialog rezitieren. Das war natürlich noch keine Bühnenaufführung, sondern nur ein Teil des Unterrichts. Es versteht sich, dass unsere Professoren uns bei diesen Analysen auch die Bedeutung des Theaters, der Komödie, der Satire erklärten. Der Wunsch und Gedanke, selber für das Volk Theater zu spielen – selbstverständlich auf Albanisch – entstand dann bei uns Schülern ganz von selbst. Aber wie sollten wir vorgehen? Wir hatten im Lyzeum einen Kameraden namens Naxhi Totozani, der die Schule dann verließ und Kaufmann wurde. Dieser sagte, als wir uns über das Projekt unterhielten: «Ich habe einen Verwandten, einen Vetter, der Dine Qadhimi heißt. Mit dem werde ich mal sprechen, er hat in Shkodra gelebt und dort auch Theater gespielt. Er

4 47 Zum Lehrer Xhafo Poshi siehe S. 118, 130, 160, zu Idriz Guri S. 149 f. 4 48 Gemeint ist offensichtlich der Karneval. Dass dieser ausgiebig gefeiert wurde, beschreibt auch Kokalari a. a. O., S.  22. 4 49 Ägypter: Siehe S. 66, 287–295.

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versteht etwas davon und kann [S. 179] das für uns richten.» So packten wir diese Arbeit also mit der Hilfe von Dine Qadhimi an. Dine war ein Mann von ungefähr 40 Jahren, groß, schlank, ernsthaft, wortkarg und kultiviert. Er war Demokrat. Er war früher wohl Lehrer oder Angestellter gewesen, wurde aber von der Regierung Zogu offenbar entlassen. An den Grund kann ich mich nicht mehr erinnern; sicherlich hing es mit seinen Anschauungen zusammen. Dine verkehrte nur mit wenigen Menschen, eigentlich unterhielt er Beziehungen nur zu Lehrern. Wir respektierten Xha Dine und grüßten ihn auf der Straße achtungsvoll. Auch er begrüßte uns höflich und zeigte uns seine Sympathie. Eine Delegation von uns nahm den Kontakt mit ihm auf und bat ihn um Unterstützung: Er möchte uns organisieren und unterweisen, damit wir öffentlich auftreten konnten. Ich erinnere mich, dass unsere Anfrage ihn sehr bewegte, so dass ihm die Tränen herabkullerten und er vor Rührung kaum sprechen konnte. Dine sagte: «Sehr gerne übernehme ich diese Aufgabe, und gemeinsam werden wir etwas Wunderschönes vollbringen.» Und tatsächlich ging Dine Qadhimi, dieser talentierte Pionier des Theaters in Gjirokastra, die Arbeit mit uns, der neuen Generation, mit großem Eifer an. Alle Vorbereitungen und Proben machten wir außerhalb der Schulzeit  – selbstverständlich, ohne deswegen den Unterricht zu vernachläßigen –, anfangs auch ohne irgendwelche Ausgaben und ohne jemanden um Unterstützung zu bitten. Zu vorher vereinbarten Zeiten versammelte Dine uns im Klub oder im Freien, wo er uns zunächst in die Grundlagen einführte. So sprach er über die erzieherische Funktion des Theaters, über seine Bedeutung und über die Schwierigkeiten beim Theaterspielen. Dann kam er auf die Rollen zu sprechen und darauf, wie man den Text lernen soll und was eine gute Aussprache ausmacht. Ebenso äußerte er sich zur Mimik, zur Bedeutung von Dekor und Kulisse und zu Schminken und Maske. Er wirkte wirklich sehr kompetent. Unsere Theatergruppe war stattlich: Aqif Selfo, Selam Xhaxhiu, Naxhi Totozani, Fane Rodi, Nazmi Shehu, Nuri Dërrasa, Masar Kallajxhiu, Elmaz Konjari, Nesip Gjebreja, Stavro Gjollma, Reshat Toto, ich und viele andere, an die ich mich nicht mehr erinnern kann, gehörten dazu. Wir konnten es kaum mehr erwarten und sagten zu Herrn Dine: «Los, fangen wir an!» Jung, wie wir waren, hatten wir keine Geduld. «Nicht so schnell!», erwiderte Dine, «Gerade unser erster [S. 180] Auftritt muss besonders gut gelingen, so dass Gjirokastra wirklich staunt.» Endlich war es dann so weit, dass wir auch das Theaterstück gefunden hatten, das wir lernen und aufführen wollte. Welches war das wohl? Zu jener Zeit gab es ja nur ein einziges albanisches Theaterstück: «Besa», das Ehrenwort, von Sami Frashëri.450 Alle hatten es gelesen und allen gefiel es sehr. 4 50 Das Drama in sechs Akten «Besa ose mbajtja e fjalës» (das Ehrenwort oder das gehaltene Versprechen) von Sami Frashëri (1850–1904) erschien in albanischer Sprache 1901 in Sofia; der ursprüngliche Text war in osmanischer Sprache 1874 in Istanbul erschienen.

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«Bitte, Herr Dine, führen wir ‹Besa› auf!» «Nein», antwortete Herr Dine, «nun mal langsam und eins nach dem anderen! ‹Besa› ist ein schönes Stück, aber sehr anspruchsvoll. Für unseren ersten Auftritt müssen wir etwas Einfacheres finden und das auch perfekt inszenieren; später dann werden wir auch ‹Besa› und weitere Stücke aufführen.» Schließlich brachte er uns das Stück, das wir spielen sollten. Der Text war nicht gedruckt, sondern von Hand geschrieben; vielleicht hatte Dine ihn sogar selbst verfasst. Das Stück enthielt patriotische Verse zur Befreiung Albaniens von fremden Besatzern; wir tauften es «Shqipëria», Albanien. Die Hauptperson, dargestellt durch eine Frau, war Albanien. Weil zu unserer Gruppe keine Frauen oder Mädchen gehörten, wurden auch die weiblichen Rollen von Jungen gespielt. Die Hauptrolle gab Dine Masar Kall­ ajxhiu, da dieser eine mädchenhaft helle Stimme hatte. Masar war ein anmutiger Junge, groß gewachsen und mit schlanker Taille. Wir anderen bekamen die zweiten und dritten Rollen oder jene von Statisten. Ich selbst, daran erinnere ich mich, bekam die Rolle eines labischen Kriegers. Außer «Besa» führten wir auch eine Komödie in einem Akt von Kristo Floqi auf;451 an den Titel erinnere ich mich nicht mehr. Mir fiel dabei die Rolle des Fuhrmanns zu. Kristo Floqi verfasste eine ganze Reihe ähnlicher «Buffo-»Komödien, alle mit derbem Humor und kleinbürgerlichem Inhalt; andere gab es leider nicht. Er war auch der Autor des Versdramas «Religion und Nationalität»,452 das wir später ebenfalls aufführten. Als Kristo Floqi dann seine Hymne auf den König453 verfasste – die wir nie rezitierten! –, nannten wir ihn allerdings nurmehr «Kristo Fëlliqi». [S. 181] Unsere Theateraufführungen fanden meistens in den Sommerferien statt; die Proben dafür erstreckten sich über das ganze Jahr. Vor allem für unseren ersten Auftritt leisteten wir einen großen Einsatz, bereiteten uns gut vor und legten uns nach Ende des Schuljahrs mächtig ins Zeug. Die Direktion des Lyzeums überließ uns die große Eingangshalle und einige Klassenzimmer, dies mit der strikten Auflage, keinerlei Unordnung zu machen. Es war eine anspruchsvolle Zeit für uns; wir machten ja alles selbst. Abgesehen vom Einüben des Stücks mussten wir eine Bühne bauen und die dazu erforderlichen Materialien finden, mussten die Kulissen und Requisiten selber herstellen oder beschaffen, uns um die Kostüme kümmern, den «Theatersaal» – die Eingangshalle – für das Publikum einrichten, Stühle, Lampen und vieles andere zu-

451 Kristo Floqi (1873–1951): Bekannter Autor von Tragödien und Komödien; ab 1945 politischer Häftling. 452 Fußnote im albanischen Original: 1920 geschrieben. [Das Versdrama in vier Akten «Fe e kombësi» erschien lt. Robert Elsies «Historia e letërsisë shqiptare» 1909, andere Quellen geben 1912 oder 1914 an; Anm. d. Ü.] 453 Fußnote im albanischen Original: 1928 geschrieben. [Kristo Fëlliqi: etwa «Kristo der Schmierige». Welcher Text mit der «Hymne auf den König» (Ahmet Zogu) gemeint ist, war nicht zu eruieren; Anm. d. Ü.]

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sammensuchen – bis hin zu den Eintrittskarten, die wir nicht nur selber druckten, sondern auch selbst verkauften. Zum guten Glück kamen während der Ferien auch Kameraden aus Korça. Zusammen stürzten wir uns mit Feuereifer in die Arbeit, indem wir als Erstes die Bühne auf bauten. Das war nicht einfach. Aus unserem eigenen Geld kauften wir die Balken und Bretter, die wir zuschnitten und gemäß den Ratschlägen von Dine im vorderen Teil der Eingangshalle montierten. Sodann kauften wir Stoff, mit dem wir die Bühne auskleideten, Vorhänge nähten und so weiter. Ich erinnere mich, dass uns noch einige Teppiche fehlten – aber woher sollten wir die bekommen? Schließlich gingen wir zu Idriz Konjari, Elmaz’ Vater, der uns tatsächlich welche auslieh, unter der Bedingung, dass «ihr die Verantwortung tragt, wenn die Teppiche Risse oder Brandflecken haben». Wir trugen ihnen allerhöchste Sorge! Die zwei, drei letzten Tage vor der Aufführung schliefen ich, Aqif, Elmaz und Fane auf der Bühne in der Schule, weil wir jeweils bis spät in die Nacht arbeiteten. Nachdem wir die Eintrittskarten gedruckt hatten, konnten wir sie alle erfolgreich verkaufen; Gjirokastra war sehr gespannt auf diese Aufführung. Wir hatten Eintrittskarten erster, zweiter und dritter Klasse gedruckt. Die Besitzer eines Drittklassbillets konnten sich auf die Schülerpulte setzen, die anderen hatten Anrecht auf einen Stuhl oder Hocker. Ganz zuvorderst waren Plätze für die «Autoritäten» reserviert, dort hatten wir auch ein paar Armsessel hingestellt. Die Plätze der ersten paar Reihen zählten zu keiner der drei Kategorien; wer hier sitzen wollte, konnte den Preis selber bestimmen. Natürlich sollte dieser höher – möglichst drei- bis viermal höher! – als der reguläre sein. Endlich kam der Abend der Première. Alles war bereit, die Räumlichkeiten waren gewischt und sauber geputzt. Das Volk kam, [S. 182] der Saal füllte sich bis auf den letzten Platz. Wir auf der Bühne und in der Kulisse waren furchtbar aufgeregt, war es doch unsere erste Aufführung. Alle trugen die Kostüme, die zu ihren Rollen gehörten. Ich und andere mussten uns sogar zweimal umziehen. Die Bärte, daran erinnere ich mich gut, banden wir uns um, schwieriger aber war es mit den Schnurrbärten: Die mussten wir mit Harz und einem Mittel, das uns Sulo Konjari gegeben hatte, befestigen – bloß ließ dieses Mittel die Lippen taub werden und roch zudem übel. Dine Qadhimi sprach uns Mut zu und war überall zugleich. «Habt keine Angst», sagte er, «passt auf dieses auf, gebt auf jenes acht, vergiss du nicht, das so zu machen. Und du, Masar Kallajxhiu, schau, dass dir die Lappen, mit denen du deinen Busen ausgestopft hast, nicht herausfallen, und drück die Füllung deiner Hinterbacken etwas zusammen, die stehen ja heraus wie die Hügel von Doftia.» (Das war ein Hügel in der Nähe von Libohova.) Die Aufführung begann mit dem Stück «Shqipëria». Das Publikum applaudierte, weil das Stück sehr ergreifend und patriotisch war. Am schönsten war der Schluss, wo in allegorischer Weise die Shqipëria als liebreizende, große Frau mit schwarzem Haar auftrat, in die rote Fahne mit dem schwarzen Adler gehüllt und die Hände in Fesseln (aus Karton) gelegt. Masar, der diese Rolle spielte, begann mit einem Monolog ganz im Dunkeln, dann wurde das Licht etwas heller, blieb aber fahl. Als die Shqipëria

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schließlich ihre Fesseln sprengte, zündeten wir in den Ecken der Bühne ein paar geräuschlose Feuerwerkskörper, die wie Fackeln wirkten und ein gleißendes rotes Licht versprühten. Dies war die Apotheose, «Albanien hat seine Ketten gesprengt». Die Zuschauer erhoben sich begeistert von ihren Stühlen und rauschend erklang die Nationalhymne. Für uns war dies ein riesiger und unvergesslicher Erfolg. Im Anschluss an dieses Stück führten wir eine Komödie auf; auch sie fand grossen Anklang. Als wir am Schluss alle auf die Bühne traten, brach ein ohrenbetäubender Lärm aus, das Publikum applaudierte und schrie «Bravo, Jungs! Das wollen wir nochmals sehen, führt das morgen nochmals auf!» Dies war auch unser Wunsch; die Angst war nun verflogen und wir führten die Stücke drei-, viermal nacheinander auf, einmal ausschließlich für ein weibliches Publikum. Jedes Mal war der Saal ausverkauft. Noch Wochen später war unsere Inszenierung das Tagesgespräch in Gjirokastra. Und unser Theaterprojekt sprengte sogar die Grenzen von Gjirokastra! Die Stadtverwaltungen von Delvina und Saranda luden uns ein, unsere Stücke auch dort aufzuführen. Welche Freude für uns! [S. 183] Wir nahmen die Einladungen mit dem größten Vergnügen an, würden wir dadurch doch Delvina, Saranda und das Meer sehen. Wie wunderbar! Wir begannen mit den Vorbereitungen, und bald kamen auch Lastwagen, um uns zu transportieren. Die gesamten Unkosten für Verpflegung, Getränke und die Reise übernahmen die Stadtverwaltungen. Unsere zwei Inszenierungen in Delvina und die zwei in Saranda waren von Erfolg gekrönt, alle beglückwünschten uns. In Saranda verblüffte uns die Schönheit des Meeres, das wir zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Nachdem wir in Saranda gespielt hatten, fuhr ein Teil unserer Gruppe mit einem alten Boot nach Butrint, leider ganz ohne die anderen zu informieren. Genau jetzt änderte das Wetter, es begann zu regnen und die Wellen wurden immer höher. Als es dann auch noch eindunkelte, hatten wir große Angst, dass unsere Kameraden ertrinken könnten. Deshalb gingen [S. 184] wir alle zur kleinen Mole, blickten furchterfüllt aufs Meer und warteten auf die Rückkehr des Bootes. Tatsächlich traf dieses dann schließlich auch ein. Wir waren heilfroh, dass unsere Kameraden in Sicherheit waren, aber wir schalten sie auch aus. Wie sie erzählten, hatten sie sich tatsächlich in echter Gefahr befunden. Sowohl in Delvina wie in Saranda forderten uns die Leute bei der Verabschiedung auf, nächsten Sommer wieder zu kommen. Jedes Jahr übten wir Theaterstücke ein. Von Kristo Floqi spielten wir sämtliche Komödien. Auch Sami Frashëris Drama «Besa» inszenierten wir; wie alle anderen fand es großen Anklang. Unsere Angst und Scham vor den Bühnenauftritten war verflogen und wir wagten uns mutig auch an lange Stücke. Ein solches war das erwähnte «Religion und Nationalität» von Kristo Floqi, das in Versen geschrieben war und viele Akte hatte. Bei der Verteilung der Rollen erhielt ich jene des Zylyftar Poda, mithin die Hauptrolle und die längste. Die Kollegen trauten sie mir zu, weil ich groß gewachsen war, gut rezitieren konnte und den Text auch gut im Gedächtnis behielt. Ich hatte auch keine Prob-

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leme, ihn auswendig zu lernen und er gefiel mir gut. Gekleidet waren wir für dieses Stück alle mit der Fustanella454 und mit bestickten Westen, die mit Metallplättchen besetzt waren; am Gürtel trugen wir silberne Pistolen, dazu hatten wir verzierte Tabakpfeifen. Die Frauenrollen trugen Pluderhosen, Blusen mit Seiden- und Leinenstreifen und bestickte Westen. Das sah wunderschön aus. Die Frauen- und Mädchenrollen wurden von bloß vier Jungen gespielt, Reshat Toto, Naxhi Totozani, Fane Rodi und Stavro Gjollma, sie bewältigten ihre Aufgabe aufs Trefflichste. Das Stück hatte denn auch großen Erfolg. Ich kann mich noch an einige Verse aus meiner Rolle erinnern: Poda, Shalës, Barmash455 Haben kriegerische Männer Geh, Mahmut Pasha, geh, Denn du hast die Bewohner von Kolonja nicht gesehen.

Oder:

Auf dem gipfelreichen Berge Melesin Dröhnen die Kanone und die Granate.

«Religion und Nationalität» führten wir mehrere Male auf. Unsere Aufführungen hatten zu einem deutlichen Stimmungswandel in Gjirokastra [S. 185] geführt: zu Anerkennung und großer Wertschätzung gegenüber dem Lyzeum, gegenüber uns und gegenüber unseren Professoren. Jede Aufführung bot etwas Neues. Vor Spielbeginn und in den Pausen organisierten wir nun auch Darbietungen mit der Mandoline, wodurch wir Theater und Musik kombinierten. Was aus all diesen Aktivitäten später wurde, kann ich nicht sagen, weil ich ja von Gjirokastra wegzog. Aber mit dem, was wir damals auf die Beine stellten, verbinde ich beste Erinnerungen an meine Kindheit und Schulzeit und an den aufrichtigen, von keiner Hinterlist getrübten Umgang, den wir in unserer antizogistischen und fortschrittlichen Gemeinschaft miteinander pflegten. Was den Sport angeht, nahm mit Eintritt ins Lyzeum das Fußballspiel die einzige und zentrale Rolle ein – natürlich abgesehen von dem, was ich oben zu unseren sportlichen Aktivitäten ausgeführt habe. Auch ich spielte Fußball, so wie alle meine Kameraden: Fejzi Dobi, Emin Shtino, Fane Rodi, Xhevat Bej «das Klößchen»,456 Selahudin Koko4 54 Fustanella: Der traditionelle, meist weisse, plissierte Männerrock, wie er vor allem in Südalbanien, aber auch in Griechenland und anderswo auf dem Balkan getragen wurde. 455 Poda, Shalës und Barmash: Dörfer im Landkreis Korça, die heute zur Gemeinde Kolonja gehören. 456 Wörtlich: Karkanaqja; Bezeichnung für ein Süßgebäck in der Art von süßen Klößchen bzw. Nockerln.

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na,457 den wir «Butarafa» nannten, was auf Türkisch bedeutet: «Wirf (ihn) hierher»,458 und andere. Selahudin war eben erst aus der Türkei zurückgekehrt, wo er mit seiner Familie gelebt hatte. Albanisch sprach er nur sehr gebrochen, und weil er «wirf den Ball hierhin» noch nicht in unserer Sprache sagen konnte, rief er jeweils «butarafa». Da ich ein guter Sprinter war, spielte ich als Mittelstürmer, ein Platz, den ich oft mit «Butarafa» tauschte. Das Fußballfeld lag jenseits des Flusses, auf einer Wiese, die dem Staat gehörte. Anfangs markierten wir die Tore mit unseren Mänteln, später mit Pfählen, allerdings ohne Netz. Fußballschuhe haben wir nie gehabt, die hätten zu viel gekostet; stattdessen spielten wir entweder in den Straßenschuhen oder barfuß. Auf dem Heimweg stürzten wir uns in den Fluss; verschwitzt, wie wir waren, legten wir uns bäuchlings hin und tranken Wasser wie die Pferde. Bedenken hatten wir keine, und passiert ist auch nie etwas. «Im Flusswasser gibt es keine Mikroben», sagten wir, «denn es ist über 40 Steine geflossen».459 Einmal brachte uns ein Französischprofessor aus den Pyrenäen namens Garig460 einen eiförmigen Ball, den er «Rugby» nannte. Er brachte uns auch die Regeln dieses Spiels bei und wir versuchten uns daran. Allerdings ließen wir es bald wieder sein: Es war ruinös für unsere Hosen und Hemden, die bald nur noch in Fetzen an uns hingen, weil wir so aneinander zerrten. Rugby war kein Spiel, das zu uns passte. Oberhalb des Lyzeums standen damals einige Kasernen der Italiener. Nach dem Abzug der Besatzer waren sie vom Volk aufs gründlichste geplündert worden, bis hin zu den Dachplatten aus Eternit, den Balken, Brettern und sogar den Backsteinen. Das Einzige, was blieb, war der zementene Fußboden. Wenn es möglich gewesen wäre, hätten die Leute gewiss auch dieses «staatliche» Material abtransportiert. [S. 186] So war damals die Einstellung gegenüber dem Staat und seinem Besitz – aus dem plausiblen Grund, dass der Staat und sein Besitz ja in der Tat nicht dem Volk, sondern den Agas und den Bejs gehörten. Den zementenen Fußboden gestalteten die französischen Professoren zusammen mit uns Schülern zu einem Tennisplatz um, der sämtlichen Regeln genügte. Nach der Schule spielten jeweils die Professoren, während wir auf die Tennisbälle achtgaben: Verschossene Bälle nämlich flogen buchstäblich über die Gärten und bis hinunter zur «Gasse der Verrückten». Flog der Ball, so «flogen» auch wir – nämlich ihm hinterher. Wenn die Professoren ihr Spiel beendet hatten, gaben sie uns die Rackets, damit auch wir spielen konnten. So erlernte ich damals das Tennisspiel mit fremden Rackets; bei uns waren sie sehr teuer und hätten ohnehin aus dem Ausland bestellt werden müssen. 4 57 Selahudin Kokona: Siehe S. 152. 458 Türkisch bu = diese, tarafa ist der richtungsanweisende ‹Dativ› von taraf, Seite; wörtlich also ‹auf diese Seite›. Das «hidhe» (wirf) ist elliptisch mitzudenken. 459 Die Wendung «pse kapërcen 40 gurë» (weil es über 40 Steine geflossen ist) bedeutet, dass das Wasser rein und trinkbar ist. 460 Die Originalschreibweise des Namens (vermutlich Garrigue) war nicht zu eruieren. Rugby hat in den Pyrenäen tatsächlich eine lange Tradition.

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Die französischen Professoren aber, von denen jeder zwei bis drei für das eigene Spiel mitbrachte, schenkten uns auch manchmal eines. Dies also waren unsere sportlichen Aktivitäten zu jener Zeit. Neben den üblichen Turnübungen in der Schule erinnere ich mich besonders gerne an die Ausflüge, die wir in Gruppen nach dem Unterricht, aber auch in den Sommerferien unternahmen. Den Stolz unserer Kinder- und Knabenjahre stellte die Burg von Gjirokastra dar. Sie war der Ort der Geschichte, der heldenhaften Legenden, der Vaterlandsliebe unserer Vorfahren, der Tapferkeit, der Aufopferung, der Kriege gegen die Türken. Sie war der Quell, aus dem sich unsere kindliche Vorstellungskraft speiste. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend fiel, wohin wir auch den Kopf wendeten, unser Blick auf sie: auf die gewaltige, riesige, faszinierende Burg mit ihren Brustwehren, die stark wie Stahl waren, und ihren Mauern, die von Waldreben überwuchert waren und an den Bart eines Greises erinnerten, der trotz seines Alters niemals ergraut war. Die Burg beherrschte Gjirokastra wie ein Fels, der sich mitten in der Stadt erhob. Gut kann ich mich an die Schießscharten in den Burgmauern erinnern, von denen aus der Feind ins Visier genommen wurde. Sie wirkten wie Stickereien oben an den hohen Brustwehren. Ebenfalls in Erinnerung geblieben ist mir, wie sehr sich Baba Çen in seiner Zeit als Bürgermeister entrüstete, als der Kommandant der städtischen Polizei, Major Ismail Haki Kuçi, die Wunderwerke der Brustwehren einebnen ließ, da angeblich den Leuten Steine auf die Köpfe fielen. «Es ist inakzeptabel», schrie Baba Çen, «dass du den Befehl erteilst, die Burg zu zerstören. Wer regiert denn hier, ich oder die Polizei?» Wie auch immer, dieser Dummkopf Kuçi zerstörte die Brustwehren, diese zierlichen «Spitzen» unserer Burg. Für die Zerstörung der großen Brücken des unter Ali Pasha erbauten Aquädukts, welches das Wasser [S. 187] vom Sopot-Berg fasste und zur Burg führte, waren andere Dummköpfe verantwortlich, nämlich solche der Regierung von Ahmet Zogu.461 Diese Ignoranten waren einzig fähig zu zerstören, nicht aber zu bewahren. Mir sind die großen Brücken in Erinnerung, denn zur Zeit meiner Kindheit bestanden von ihnen noch zweieinhalb Pfeiler, wohingegen sie heute nurmehr in unserer Erinnerung und auf Fotografien weiterleben. Sie waren monumental und lagen gegenüber der Spitze der Burg, bei der «Kanone von Dullga»,462 wie wir zu sagen pflegten, denn dort stand eine alte Kanone aus der Türkenzeit, die in Richtung Dunavat blickte. In meiner Kindheit wurde sie, mit etwas Pulver und Lumpen geladen, jeweils abgeschossen, um das Fastenbrechen beim Ramadan anzukündigen. 461 Von 1811–1822 gehörte Gjirokastra zum Herrschaftsgebiet von Ali Pasha Tepelena (siehe S. 88). Dieser ließ um 1820 zur Versorgung der Burg ein rund 12 km langes Aquädukt errichten, welches 1932 definitiv (vorher aber offensichtlich schon teilweise) zerstört wurde. Bruchstücke, so auch die sogenannte Manalat-Brücke, haben sich im Stadtteil Manalat und in den Bergen um Gjirokastra erhalten. Vgl. S.  74 f. und die diesbezügliche Fußnote im albanischen Original. 462 Dullga war der Name eines Tuffsteinhügels im Südwesten der Burg von Gjirokastra, auf ihm stand ein Turm, die «Kulla e Dullgës»; vgl. S. 74.

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Auf der anderen Seite der Burg, beim Haupteingang in Richtung Katavarosh – oder, wie wir sagten, in Richtung Pasha Kauri – erhob sich über den mächtigen Brustwehren des Eingangstors eine weitere hohe Zinne, deren Mauerwerk vom Lauf der Zeiten schwarz gefärbt war. Dies war der Glockenturm der Burg. Wenn die Glocken läuteten, waren sie bis in die Lunxheria, in die Region Dropull und in die Mashkullora zu hören. Den Glockenturm zerstörten dann die Griechen, die Glocke brachten sie nach Athen. So zumindest erzählten es die Alten, ich selbst habe das nicht mehr miterlebt.463 Ich bin kein Dichter, der die Schönheit und den majestätischen Charakter dieser Burg angemessen beschreiben könnte. Ihren einmaligen Anblick hat sie bewahrt, auch wenn das niederträchtige Regime von Ahmet Zogu, welches Schulen schloss und an ihrer Stelle Gefängnisse baute, auch die Burg um ein solches erweiterte. Wie ein scheußliches Geschwür, wie ein giftiger Pilz hat es sich an den legendären Körper der Burg geheftet. Unter dem heutigen Regime ist die Burg zu einem Ort geworden, den die Leute lieben, der das Interesse und Wohlgefallen der Touristen weckt, der gut unterhalten und bis ins Detail sorgfältig restauriert wird. Ich habe selbst Ratschläge gegeben, und seit längerer Zeit schon wird der Bauschutt aus den unteren Kellern der Burg weggeräumt. Selbst habe ich diese Kellerräume nicht gesehen, aber Shefqet Peçi,464 der diese Räumungsarbeiten veranlasst hat, versicherte mir, dass sich dort unten wahre Wunder und viel Erstaunliches fänden: Es gibt Zimmer, Kasernen, steinerne Pfeiler, [S. 188] Küchen, Lagerräume etc. Auch einige Fundstücke aus der Antike465 wurden gefunden; weitere mögen sich in anderen tiefgelegenen Teilen der Burg verstecken. Die Volksmacht des Distrikts Gjirokastra ließ alle Straßen rund um die Burg mit Kopfsteinpflaster belegen, das in seiner Schönheit an einen Teppich erinnert. Als ich ein Kind war, konnten wir die Burg problemlos von beiden Eingangstoren her betreten.466 Dorthin gingen wir mit der Schule, aber auch allein mit Kameraden, 463 Fußnote im albanischen Original: Als Genosse Enver Hoxha zu Besuch in Gjirokastra weilte, schrieb er unter dem Datum des 30.  Novembers 1966 in sein Tagebuch: «Die Gjirokastriten haben den alten Glockenturm der Burg wiederaufgebaut und haben eine neue Uhr installiert. Die Glocke schlägt dieser Tage aber nicht, weil man befürchtet, sie könnte unseren Schlaf stören. Dies berührt mich tief. Es sind die Liebe und das Vertrauen gegenüber der Partei, die sie zu dieser Maßnahme veranlasst haben.» 464 Shefqet Peçi aus Gjirokastra (1906–1995): Politiker und Minister. 465 Die Anfänge der Befestigungsanlagen auf dem Burghügel von Gjirokastra reichen gemäß «Gjirokastra – the essential guide» von Oliver Gilkes et al. bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. zurück, die Besiedelung des Burghügels bis ins 8. oder 7. Jahrhundert. Andere Quellen datieren die Besiedelung erst auf das dritte vorchristliche Jahrhundert. Die heutige Gestalt der Burg bzw. Festung geht auf Um- und Neubauten von Ali Pasha Tepelena im Jahre 1812 zurück. 466 Fußnote im albanischen Original: Am 16. März 1978 besuchte Genosse Enver Hoxha die Burg. Er wollte sie durch das Tor beim alten Markt verlassen, nach welchem er Heimweh hatte. Aber der Direktor des Museums sagte zu ihm: «Genosse Enver, dort kommt man nicht durch; dieses Tor ist geschlossen.» Worauf Genosse Enver erwiderte: «Was denn, schau mir mal in die Augen! Und sag mir so etwas nicht! Ihr habt nicht begriffen, dass ich nicht jedes Jahr kommen und hier

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wenn wir Lust hatten. Wir durchstreiften alle Teile des Burggeländes, einzig weit in die Keller wagten wir uns nicht vor, denn «dort hat es tiefe Löcher», «dort hat es Katzen und wilde Tiere, die dich zerfleischen», wie man uns gewarnt hatte. Wenn wir die Alten fragten, wo die Soldaten während der türkischen Belagerung Trinkwasser gefunden hätten, bevor Ali Pasha das mächtige Aquädukt gebaut hatte, wurde uns geantwortet: «Irgendwo in der Burg gibt es eine geheime Stelle, die niemand mehr kennt. Dort stiegen die Leute auf Treppen bis zum Fluss hinunter und holten Wasser.» Das ließ uns natürlich staunen und ließ die Burg noch geheimnisvoller werden. Unsere Lehrer erzählten uns am Ort des Geschehens die berühmte Legende von Argjiro,467 die sich, um nicht in die Hände der Türken zu fallen, von der Brustwehr stürzte, mitsamt der kleinen Prinzessin an der Brust. «Seht», sagten sie und zeigten es uns mit dem Finger, «seht, dort hat sie sich heruntergestürzt, und dort unten ist sie auf jenem Felsen aufgeprallt. Noch heute, nach so vielen Jahrhunderten, gehen die alten Frauen dorthin und zünden Kerzen an wie an einem heiligen Ort. Wenn ihr dort beim Felsen ein paar Pflanzen abreißt, werdet ihr sehen, dass aus ihnen ‹Milch› quillt: Das ist die Milch aus der Brust der Argjiro.» Uns kleine Kinder beeindruckte dies tief, wir rissen die Augen auf und waren erfüllt vom Stolz auf unsere Vorfahren und auf deren unversöhnlichen Hass gegenüber den Türken. Natürlich versäumten wir es auch nicht, den genannten Felsen zu besuchen, wo jeder von uns eine jener Pflanzen pflückte, die wir «Milchkraut» 468 nannten, und versicherten uns gegenseitig «Schau her, was uns [S. 189] Herr Xhafo erzählt hat, ist die volle Wahrheit.» Später, als ich schon das Lyzeum besuchte, hielt ich diese Legende auf Französisch als Aufsatz fest. Ich weiß noch, dass sie dem Französisch-Professor sehr gefiel und ich die Bestnote dafür erhielt. Aus meiner Zeit am Lyzeum habe ich noch eine andere Erinnerung. Als wir die Frühgeschichte der Völker behandelten, weckte dies natürlich unser Interesse für Altertümer. Wie wir nun eines Tages mit ein paar Kollegen unter einer Zinne der Burg spazierten, sahen wir zufällig, dass über unseren Köpfen ein paar Steine aus der Mauer gefallen waren und den Blick auf ein paar Gebeine freigelegt hatten. Sofort stellten wir eine Verbindung zum Geschichtsunterricht her und ließen unserer Fantasie freien Lauf. Wir redeten uns ein, dass dies gewiss menschliche Knochen sein müssten, und weil wir nicht hinaufklettern konnten, warfen wir mit Steinen nach ihnen. Tatsächlich fielen einige hinunter, die wir dann unserem Geschichtsprofessor am Lyzeum, André Brégeault, brachten, damit er sie identifizierte. Nachdem er sie geprüft hatte, teilte er uns mit: «Das sind Knochen von einem … Schaf bock». Es scheint, dass unsere Vorfahren, wenn sie eine Mauer errichteten, jeweils ein Opfertier schlachteten.

herauf zur Burg steigen kann. Drum lasst mich jetzt dort hindurchgehen, damit ich alle Orte sehen und meine Sehnsucht stillen kann …». 467 Argjiro: Siehe S. 101. 468 Albanisch ‹qumështore›; botanisch ist Wolfsmilch bzw. Milchlattich gemeint.

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Der Burghof diente uns Jungen zugleich als Platz, auf dem wir Fußball spielten und Turnübungen machten. Dorthin gingen wir auch, um den Äquilibristen Arif zu bestaunen, einen Akrobaten, der auf einem gespannten Seil gehen und kopfvoran auf ein Pferd steigen konnte. Ein anderer Lieblingsplatz in meiner Kindheit war die Kuculla.469 Diesen Felsen, der die Stadt und das Umland dominierte, bestiegen wir entweder vom Haus von Hamit Kokalari oder vom Stadtteil Dunavat her. Dorthin ging ich mit Kameraden wie Fejzi Hoxha, Skënder Topulli, Nesip Gjebreja und anderen, und dies vor allem, wenn die Kirschen und die Feigen reif waren. Der Felsen von Kuculla war ein ganz besonderer Aussichtspunkt. Die Stadt, das Umland, die Burg, die Berge: Alles liegt dort wie auf dem Präsentierteller vor einem. Diese Wunder zu betrachten war unser Ziel, wenn wir die Kuculla bestiegen, aber nicht weniger nahmen wir den Aufstieg auf uns, um dort  – selbstverständlich im Versteckten  – von den Kirschen und Feigen zu schmausen, die eigentlich der Familie Zeko gehörten. Wenn wir den Felsen erklommen hatten, waren wir schweißnass. Da es dort oben aber stets windete und wir uns nicht erkälten wollten, verkrochen wir uns als Erstes jeweils in die Höhle unterhalb des Felsens. Diese Höhle war recht geräumig und voll von Kot, weil sich in ihrem Schatten die Ziegen vor der Sommerhitze schützten. Dort verweilten wir an der Wärme, bis unser Schweiß getrocknet war und betrachteten derweil die Stadt. Anschließend stiegen wir nach oben, schlugen uns dort die Bäuche mit Kirschen und Feigen voll, bevor wir [S. 190] wieder herunterkletterten. Manchmal wählten wir den Heimweg über den großen ShamanjaBach, obwohl dieser ziemlich furchteinflössend war. Der Grund, dass wir trotzdem dorthin gingen, war eine Art Gemüse, die wir dort sammelten und von dem wir die Stängel aßen. «Bizhgo» nannten wir es, es war eine Art Wildspargel.470 Ein weiterer Ort, zu dem wir in meiner Grund- und Stadtschulzeit Schulausflüge machten, war die Tekke von Baba Mane.471 Dorthin nahmen wir unseren Mittagsproviant mit, schweiften im Schatten der Zypressen durch die Gärten der Tekke, sammelten im Gestrüpp Pinienzapfen, Veilchen und Butterblumen, trieben uns um die Türben herum und spähten durch deren Fensterchen auf die mit grünem Tuch bedeckten Gräber der Derwische, auf deren Kopfende ein weißer Fes lag. Baba Mane, der ungehobelte und fette Vorsteher der Derwische, trug einen wollenen Hirtenumhang und war befreundet mit dem Präfekten, Javer Bej Hurshiti, vor allem aber mit seiner Frau. Letztere war eine Muhibe,472 zeigte sich auf dem Balkon ihres Hauses, rauchte und schrie uns manchmal an, wir sollten ihre Bäume und Reben in Ruhe lassen.

469 Kuculla: Toponym, Aussichtspunkt in der Nähe der Burg von Gjirokastra. 470 Vgl. S. 99, 159, 242. 471 Für eine ausführlichere Version dieser Beschreibung siehe S.  162 ff. 472 Anhängerin des Bektashi-Ordens, siehe S. 162, Anm. 350.

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Ein anderer Ort, mit dem mich viele schöne Erinnerungen verbinden, ist der Garten von Aqif Selfo.473 Aqifs Großmutter väterlicherseits war eine Tante meiner Mutter, so dass wir – mit oder ohne Mutter – die Familie von Xha Avdul, dem Onkel von Aqif, besuchten, dort aßen und schliefen. Aqifs eigener Vater war verstorben. Ihr Haus war einstöckig, der Boden mit Teppichen belegt. Die Diele war hübsch und geräumig, sie hatte viele Fenster, die auf die Hofmauer und den Garten gingen. Zum Haus gehörte auch ein großes, helles Empfangszimmer, wo wir aßen und schliefen. Vor allem aber lag beim Haus ein großer Baumgarten, in dem Birnen, Wildbirnen, Feigen, Pflaumen und Kornelkirschen wuchsen. Dort ruhten wir im Schatten, lasen Bücher und aßen, was und so viel uns gelüstete; alles stand zu unserer Verfügung. Xha Avdul war ein überaus liebenswürdiger und gutherziger Mensch. Unterhalb des Gartens lag ein steiler Abgrund, in der Art einer tiefen Höhle. Dort bewegten wir uns mit großer Vorsicht. Manchmal gingen wir mit Selam und Selahudin in diesen Garten und kehrten dann am Abend über die Burgstraße zum Markt und von dort über die Landstraße bis unten zum Melonenfeld von Xhemal zurück. Die Landstraße war der Boulevard von Gjirokastra für alle Männer (nicht aber für die Frauen) und insbesondere für uns Studenten. Jeden Abend konnte man uns in Gruppen diesen Boulevard hinauf- und hinunterschreiten sehen, in Gespräche verwickelt, singend oder scherzend. Manchmal machten wir einfach unseren Korso die Straße auf und ab, doch bisweilen gingen wir auch bis zu Xhemal und hatten auf dieser Route [S. 191] dann auch bestimmte Orte, an denen wir verweilten, wenn wir müde waren oder nicht mehr weitergehen mochten. Ein Lieblingsort für solche Pausen war der Hügel von Velo Xheko, oberhalb der gegenwärtigen Garage, die unten an der Metropolitankirche und in der Nähe von Hysen Pumos Haus liegt. Hysen Pumo war ein Irrer, der mit einer Wolldecke auf dem Kopf auf dem Markt herumlief und sagte: «Ich weine, ich lache.» Das war das Einzige, was dieser unglückliche alte Mann äußerte. Ein anderer Lieblingsplatz befand sich weiter unten, am Fuß einer alten Mauer gegenüber dem Haus unseres Kameraden Siri Shapllo, dem Sohn des Telegrafisten Haxhi Shapllo,474 eines verdienten Patrioten. Ein Ort, an den wir ebenfalls oft gingen, war der Hügel, auf dem sich heute die Gräber der Rilindasë475 befinden. Anschließend folgte die letzte Etappe, die uns zum Hügel der «Ägypter» 476 führte. 4 73 Aqif Selfo: Siehe Anm. 270. 474 Fußnote im albanischen Original: In seinem Tagebuch schreibt Genosse Enver Hoxha am 5. Dezember 1977 unter anderem dies: «Alle Kinder von Xha Haxhi Shapllo waren wohlgeraten; in erster Linie Siri, der älter als ich war … Trotzdem unternahmen wir oft etwas zusammen … In den Ferien trafen wir uns mit Ikbal und Zijan, Siris Brüdern …, unternahmen Spaziergänge auf der Landstraße, saßen zusammen und sangen Lieder auf labische Art …». 475 Rilindasë: Repräsentanten der Rilindja (Wiedergeburt), der Bewegung der National- und Unabhängigkeitsbewegung (ca. 1870 bis zur Unabhängigkeitserklärung Albaniens 1912, siehe Einleitung, Kap. 11a und S.  135 f). 476 Ägypter: Siehe S. 66, 287–295.

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Wenn wir diese Spaziergänge unternahmen, konnten alle, die sich unserer Gruppe anschließen wollten, uns auf der Landstraße oder bei einem jener Ruheplätzchen finden. Dort diskutierten wir miteinander, und oft auch stimmten wir Lieder auf labische Art an. Solange wir das Lyzeum in Gjirokastra besuchten, gingen wir niemals in ein Kaffeehaus, weil wir uns geschämt hätten. Als wir dann aber am Lyzeum in Korça waren und in den Sommerferien heimkamen, gingen wir auf dem Rückweg von unseren Spaziergängen manchmal zu Cile Muka einen Kaffee trinken. Dies natürlich nur, wenn wir etwas Geld hatten. Hatten wir keines, sagten wir zum Kellner Ismail, einem kleinen Mann: «Heute möchten wir nichts», und er verstand sogleich, dass wir pleite waren. Mein Vater gab mir, wenn er es vermochte, einen halben oder einen ganzen Lek pro Tag. Dies war mein ganzes Taschengeld als Student. Mit Elmaz gingen wir manchmal zum Hügel der Tekke von Baba Hasan. In der Türbe von Baba Hasan477 befand sich ein langer, «heiliger» Stein, der angeblich jedes Jahr wuchs. Die Münzen, die am Grab abgelegt wurden, sammelte ein Derwisch namens Mehmet ein, der für seine Schmutzigkeit und Vulgarität bekannt war. Dieser saß einmal auf der Mauer und beobachtete uns, wie wir etwas auf den «heiligen Stein» [S. 192] schrieben. «Was tut ihr da, ihr Bastarde», rief er und beschimpfte unsere Mütter. Wir gerieten in Zorn und schrien: «Schweinebart, was zeterst du?», worauf er von der Mauer heruntersprang, um uns zu fassen. Ich aber traf ihn mit einem flachen Stein – peng! – mitten auf seinen Wanst. Der Derwisch stürzte zu Boden, während wir die Beine in die Hand nahmen und so schnell wir konnten davonrannten. Am nächsten Tag hatte er meinen Vater angehalten und ihm unsere Missetat geklagt, aber wir stellten klar, dass der Derwisch zuerst unsere Mütter in den Dreck gezogen hatte. Wenn wir in den Sommerferien von Korça zurückkamen, gingen wir  – Skënder und Masar Topulli, Emin Shtino, Shaban Çuçi, Emins Bruder und andere – auch am Ufer des Flusses spazieren, bei den Ziegenpfaden unter den Platanen. Shaban fing Fische für uns, die wir gleich vor Ort brieten und aßen. Das waren schöne Augenblicke. Wenn ich mich nicht irre, habe ich in meinem Fotoalbum auch noch Bilder von diesen Ausflügen. Eines Tages gingen Reshat Toto, Bedri Spahiu und ich auf ein Stück Brachland, das Reshats Familie gehörte, und aßen dort Feigen. Zu uns gesellte sich ein gewisser Mufit Pirushi, ein Nachbar von Bedri und gleichen Alters wie wir. Offenbar hatte er sich zuvor mit Bedri gestritten und kam nun zu uns, um den Zwist mit ihm weiterzuführen. Wie Bedri, der gerade am Feigenessen war, ihn sah, stieg er vom Baum herab, ging zu Mufit und prügelte sich mit ihm. Bis auch wir vom Baum geklettert waren, um Bedri zur Hilfe zu kommen, hatte Mufit schon ein Messer gezogen und es Bedri in den Nacken gestoßen. Bedri schrie, dass Mufit ihn umbringen wolle. Wir sprangen vom Baum und sahen, dass Bedri das Blut herunterfloss. Ich wies Reshat an, ihn mit 477 Zur Türbe von Baba Hasan vgl. S. 136.

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einem Tuch zu verbinden und ihn zu stützen, während ich mich in vollem Tempo an die Verfolgung des «Grindkopfs» machte. So nannte man Mufit, weil er an der Schorfkrankheit litt. Er rannte so schnell davon, dass ich ihn nicht einholen konnte, hingegen traf ich ihn mit einem Steinwurf am Arm. Nun brachten wir Bedri so schnell als möglich in unser Viertel zu Doktor Kamber, der ihm einen Verband anlegte und uns beruhigte: «Das ist nichts Schlimmes, das Messer hat ihn bloß etwas geritzt». Wir waren natürlich sehr beunruhigt, und auch die Gendarmerie bekam Kenntnis von der Sache und setzte «Grindkopf» in Haft. Auch wir wurden einvernommen und mussten vor Gericht als Zeugen aussagen. Ich erinnere mich noch, dass wir am Tag des Prozesses sehr aufgewühlt waren. Der Gerichtssaal war voll von Kameraden, die zuhören wollten. Reshat und ich wurden namentlich aufgerufen. Nachdem wir einen Eid auf den Koran abgelegt hatten, schilderten wir den Tathergang. Mit wie vielen Wochen Haft «Grindkopf» bestraft wurde, weiß ich nicht. [S. 193] Wie alle Söhne von Gjirokastra will auch ich hier meinen Gefühlen Ausdruck geben und davon berichten, wie sehr ich meine Stadt478 geliebt habe – die Straßen und Sträßchen, die Gassen, die Plätze mit ihrem Kopfsteinpflaster, die alten Häuser mit ihren Bohlen und Hofmauern, die Gärten mit ihren Wildpflaumen, Steinen und Gestrüppen: alles Orte, durch die mich meine Wege führten, wo ich herumgestreift und herumgesprungen bin. Es ist sonderbar, aber wenn ich jetzt, im fortgeschrittenen Alter, dasitze und an Gjirokastra zurückdenke, geht mir all dies durch den Kopf, alles. In Gedanken gehe ich wieder durch die Sträßchen und Gassen der Stadt und spreche zu mir selbst: «Schau, hier wohnte doch der und der; dies Haus hier gehörte doch dem und dem, dort wohnte mein Kamerad Soundso, der Besitzer jenes Hauses war ein Querkopf, dies Haus hier war glücklos, seine Tür blieb immerzu geschlossen, usw.» Schon in meiner Kindheit war ich eng mit der Stadt, mit ihren Menschen, Häusern und Steinen verbunden. Alles dort war mir lieb und teuer, alles lebt auch heute noch weiter, ohne zu verblassen, unauslöschlich. All dies sind Teile der Heimat, und mit all dem verbindet mich jene tief verwurzelte Liebe, die ich für das 478 Fußnote im albanischen Original: Nach der Befreiung [des Landes] besuchte Genosse Enver Hoxha Gjirokastra erstmals im Oktober 1947. Am 3. Oktober dieses Jahres sagte er anläßlich einer Ansprache bei einer großen Volksversammlung unter anderem Folgendes: «Der Krieg hat mich von euch getrennt, aber mein Herz, mein Geist war bei euch. Du, meine liebe Geburtsstadt, ihr Pflastersteine und ihr alten Häuser mit euren Steinplatten, die ihr meine ganze Welt und meine Freude zur Zeit meiner Kindheit wart, ihr, alte Mütter, ihr Brüder und Schwestern von Gjirokastra, die ihr mich aufwachsen ließt, mich beraten, mich getadelt und mir Freude bereitet habt, als ich klein war: Große Sehnsucht nach euch habe ich gehabt und heute bin ich zutiefst ergriffen von der Freude, die ich fühle. Du, meine liebe Stadt, in der ich geboren wurde, wahrhaftig sehe ich dich zum ersten Mal wieder nach so vielen Jahren des Krieges, während derer die Zukunft und das Schicksal unseres Landes auf dem Spiel standen, aber allezeit warst du in meinem Herzen und Sinn. Dein heroischer Befreiungskampf war für mich ein überragendes Vorbild, er war das Modell, dem ich als dein Sohn, der ich bin, bis in den Tod folgen musste.» (Enver Hoxha, Werke, Band 4, S. 227–228.)

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ganze Vaterland, für seinen Boden und alles, was dort wächst, geboren wird und sich erneuert, empfinde. Diese Liebe ist getränkt von Erinnerungen, von Freuden, von Leiden und von bitteren Erfahrungen. Gleicher Art sind auch die Erinnerungen, die sich mit der damals unheilbaren Krankheit meines Bruders verbinden.479 Die Ärzte hatten meinen Eltern geraten, Beqir im Sommer in eine Sommerfrische zu schicken, worauf sie alles in ihrer Macht Stehende unternahmen, [S. 194] sich Geld borgten und auch etwas Hilfe vom Bruder meiner Mutter bekamen. Dreimal schickten sie Beqir zur Klimakur, einmal zum Çajupberg, einmal nach Dhoksat und einmal ins Dorf Stegopul.480 Mit Beqir durfte auch ich gehen. In Zusammenhang mit dem Aufenthalt auf dem Çajup ergaben sich einige Schwie­ rigkeiten: Es gab dort keinen Ort, wo man schlafen konnte, keine einzige Hütte, geschweige denn ein Haus! Der Onkel481 kaufte meiner Mutter ein großes Zelt, und so brachen wir eines Morgens mit den Pferden auf. Alles, was wir brauchten, nahmen wir von zu Hause mit. Unser Weg führte uns am Fuß der Topalltia482 vorbei, von wo wir ins Dorf Erind483 heraufstiegen. Wir484 durften reiten, der Onkel und die Fuhrleute gingen zu Fuß. Für mich war es das erste Mal, dass ich die Ebene von Gjirokastra durchquerte und ich war überglücklich, endlich einmal die schönen Dörfer der Lun­ xhëria von Nahem zu sehen. Von Weitem sahen wir sie ja auch von zu Hause her, und unser Lehrer an der Elementarschule, Arshi Çabeu,485 hatte uns beigebracht, sie fehlerfrei der Reihe nach aufzuzählen. Als Kind und Jugendlicher war die Lunxhëria für mich wie ein schöner Garten mit Bäumen, Schatten, Bächen, Brunnen und frischen Quellen, mit vielfältigen landwirtschaftlichen Erzeugnissen und freundlichen, rechtschaffenen und fleißigen Menschen. War das wohl nur meine kindliche Fantasie, inspiriert durch das, was ich gelesen hatte und was uns die Lehrer beigebracht hatten – oder waren das bloß meine Träumereien, wenn ich aus unseren Fenstern blickte und ständig die waldreiche Lunxhëria mit ihren schneebedeckten Gipfeln oder das Dorf Qesorat486 mit seinen weißen Häusern vor Augen hatte? Ich will nicht bestreiten, dass meine Fantasie lebhaft arbeitete, aber es 479 Gemeint ist Beqir Hoxha, der 1927 im Alter von 27 Jahren an Tuberkulose verstarb; siehe S. 58, 109, 213 ff., 288. 480 Çajup: Berg bzw. Hochplateau in der Lunxhëria, östlich Gjirokastra, auf 1211 m ü.M. Dhoksat: Dorf in der Gemeinde Lunxhër im Kreis Gjirokastra. Stegopul (auch: Stegopull): Dorf in der Lunxhëria im Kreis Gjirokastra. Die Daten der drei Kuraufenthalte ließen sich nicht eruieren. 481 Mit «Onkel» (dajko) ist hier und im Folgenden der Bruder von Enver Hoxhas Mutter gemeint. 482 Topalltia: An sich eine hügelige Gegend im Kreis Vlora. Wie ein Blick auf die Karte zeigt, ist es allerdings ganz unwahrscheinlich, dass der Weg nach Erind und auf den Çajup dort durchgeführt hat. Vermutlich liegt eine Verwechslung vor. 483 Erind: Dorf in der Lunxhëria, zum Kreis Gjirokastra gehörend. 484 Wir: Gemeint sind wohl die Mutter, Beqir und Enver Hoxha. 485 Arshi Çabeu: Siehe S.  130, 165 f. 486 Gemeint ist das Dorf Qes(t)orat im Kreis Gjirokastra, siehe S. 165.

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war nicht nur dies. Mit der Lunxhëria und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern nämlich war das städtische Leben in Gjirokastra eng verbunden, denn die Lunxhëria versorgte die Stadt mit allem möglichen Gemüse und Obst. Jeden Montag und Freitag war in jenen fernen Zeiten Markttag in Gjirokastra. Die Krämer und Gemüsehändler der Stadt machten sich schon während der Nacht auf den Weg zur Drinobrücke, wo sie einen Teil der landwirtschaftlichen Produkte ergatterten, die die Lunxhioten zum Verkauf auf den Markt brachten. Schon als kleinem Jungen gaben mir die Eltern einen Korb oder eine Tasche zu tragen und nahmen mich mit auf den Markt, der damals im Garten der Moschee der Tekke stattfand. Meine Eltern kannten die Lunxhioten und Lunxhiotinnen alle namentlich. Sie feilschten niemals lange mit ihnen herum, sondern kauften, was wir brauchten, luden es mir auf und ich brachte es nach Hause, bevor ich dann zur Schule ging. [S. 195] Dass der Sommer für mich eine wunderbare Jahreszeit war, ist kein Wunder, fiel doch manche Feige, Birne, Wildbirne oder Handvoll Kornelkirschen für mich ab, die ich dann auf dem Heimweg verzehrte. Die Lunxhiotinnen kamen sommers wie winters in die Stadt. Sie trugen ihre schönen Trachten mit Stickereien und Borten; Trachten, die aus grobem Stoff, aber sehr widerstandsfähig waren. Diese Frauen und ihre Erzeugnisse waren eine Zierde des Marktes und der ganzen Stadt, zugleich weckten sie bei uns Kindern und Jugendlichen die Liebe zu diesen Menschen und jener Landschaft, die so wunderbare Dinge hervorbrachte. Im Dorf Erind machten wir bei der Quelle halt, um Wasser zu trinken und uns zu erfrischen, bevor wir in der prallen Hitze den Steilhang von Serpent mit seinen Höhlen und Felsbrocken in Angriff nahmen. Erind ist ein weitläufiges Dorf mit kleinen, ärmlichen Häusern und vielen Ställen. Am Brunnen hatte es Frauen, die Wasser in Fässchen und in jene Art Blechkannen abfüllten, wie sie der Blechschmied Malo in seinem Laden in Gjirokastra hängen hatte. Um die Füße der Frauen sah man Kinder herumwuseln, teils gleich alt wie ich, teils jünger. Wer hätte sich damals vorstellen können, dass aus der Schar dieser barfüßigen Kinder dereinst Helden des Nationalen Befreiungskampfes wie Mihal Duri oder Misto Mame hervorgehen sollten, die meine Kampfgenossen [S. 196] werden sollten, mit denen ich in den Straßen von Tirana und Peza487 gegen die italienischen Besatzer und für den großen Gedanken des Kommunismus und der Befreiung des Vaterlandes kämpfen würde? Als wir den Steilhang von Serpent erklommen hatten und auf der Passhöhe angekommen waren, eröffnete sich uns eine einzigartige Aussicht auf den berühmten und lange ersehnten Berg Çajup. Einer großen Kupferplatte gleich lag vor uns ein wunderbares Hochplateau, umgeben von Bergen, voll saftigem Grün und gelbblühendem Bockshornklee. Auf der anderen Seite des Passes lag ein kleiner Wald. Dort wollten wir uns niederlassen, denn dort gab es einen Quellbrunnen mit kristall 487 Peza: Stadt im Kreis Tirana, eines der Hauptquartiere des Nationalen Befreiungskampfes.

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klarem, eiskaltem Wasser. Von diesem Brunnen hieß es in Gjirokastra: «Entweder heilt dieses Wasser die Tuberkulosekranken oder es bringt sie um». Unsere große Hoffnung war natürlich, dass mein Bruder geheilt würde. Der Onkel und die Fuhrleute richteten das Zelt auf, die Mutter richtete darin die Betten aus Segeltuch her und breitete unsere Deckbetten und die Winterwolldecken darüber, denn so hoch oben waren die Nächte auch im Sommer kühl. In der ersten Nacht schliefen wir nicht schlecht, aber nicht wirklich tief. Am Morgen ging der Onkel mit den Fuhrleuten zum nahen Wald. Dort sägten sie ein paar Äste ab und bauten daraus ein Vordach, unter dem wir uns tagsüber an der Sonne verweilen sollten. Dort sollten wir auch das Mittagessen einnehmen, das uns die Mutter zubereitete. Auf dem Çajup war kein Mensch außer uns und einem Hirten mit seiner Herde. Deren Pferch lag etwas abseits; der Hirt selbst hatte eine Hütte, die so wie unser Vordach mit Ästen gedeckt war. Der Onkel stattete ihm einen Besuch ab, von da an galten sie als Bekannte. Der Hirte stammte aus der Region Kurvelesh; sein Name war Xha Sulo. Der Onkel vereinbarte mit ihm, dass er uns jeden Morgen Milch verkaufte und, wenn er schlachtete, auch Fleisch. Xha Sulo kam, um uns zu treffen; ein kleiner Junge in meinem Alter namens Muharrem begleitete ihn. Ein anderer, größerer Junge weidete derweil die Herde auf dem Hochplateau. Mit diesen Leuten verkehrten wir während unseres ganzen Aufenthalts auf dem Çajup freundschaftlich. Lebensmittel würde uns der Onkel in drei, vier Tagen aus Gjirokastra schicken, bringen würde sie uns entweder ein Fuhrmann oder ein Bauer aus der Zagoria, den sein Weg bei uns vorbeiführte. Der Alltag auf dem Çajup war natürlich monoton, aber das Klima war wunderbar. Mein Bruder blühte von Tag zu Tag mehr auf, hustete weniger, und wir waren sehr glücklich. Das Wasser war weich und derart kalt, dass man kaum die Hand hineinhalten konnte. Unser Appetit wuchs. [S. 197] Wir hatten auch ein paar Bücher mitgenommen, ich die Schulbücher, mein Bruder solche von Fan Noli, «Viehhaltung und Landwirtschaft» von Naim Frashëri,488 «Baba Tomorri» von Andon Zako Çajupi489 und andere. Mit dem Sohn von Xha Sulo tummelte ich mich fröhlich auf den Wiesen des wunderschönen Çajup-Plateaus herum. Xha Sulo schnitzte jedem von uns einen Hirtenstab. Ich freundete mich auch mit den Hütehunden an, und zusammen mit Muharrem hüteten wir die Ziegen und fütterten die Hunde mit Maisbrei. Wenn Xha Sulo sie molk, gab er uns jeweils ein paar Schlucke zu trinken. Er lehrte uns auch, aus dem gelben Bockshornklee kleine Kränze zu winden. Als wir wieder nach Gjirokastra zurückkehrten, nahm ich sie mit und hängte sie an der Wand auf. 488 «Bagëti e bujqësia» (Viehhaltung und Landwirtschaft) von Naim Frashëri (1846–1900, siehe S. 127) ist ein an Vergils Bukolika angelehntes, erstmals 1886 in der Zeitschrift «Drita» in Bukarest publiziertes Langgedicht. Es gilt als Hauptwerk der albanischen Romantik. 489 Zu «Baba Tomorri» (Vater Tomorr) von Andon Zako Çajupi (1866–1930) siehe S. 127.

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Wenn auch mein Bruder zu Xha Sulo mitkam, stimmten wir labische Gesänge an. Mein Bruder begann, Xha Sulo sang die Antwortzeile und Muharrem und ich machten den Bordun. Unter anderem sang Xha Sulo das folgende Lied: Oh Gjolekë Labi von Kuç,490 Du bist nach Shur të Kuçe491 gegangen Das Hemd [hing dir] nach Räuberart über die Knie, Über die Schulter [hast du] den Säbel gehängt, Einen schönen Säbel mit Fransen, Einen blitzend glänzenden Säbel, Der an Gjolekës Hüfte schlägt.

Bisweilen rezitierte ich laut Teile aus Naim Frashëris «Viehhaltung und Landwirtschaft». Xha Sulo hörte den Versen aufmerksam zu und genoss sie sehr. «Wie schön hat er das ersonnen!», sagte er, und manchmal auch: «Fang nochmals von hier an:» … wo der Hirte auf seiner Flöte spielt, Wo das Vieh weidet, Wo sich der Ziegenbock mit seiner Glocke ausruht, Dorthin steht mein Sinn.

«Naim Bej hat das mit Tränen in den Augen gedichtet», sagte Xha Sulo, nahm seine Flöte und spielte auf ihr, die Augen seinerseits tränenfeucht. So vergingen die Tage und Nächte an diesem wundervollen Ort. Er war freilich so abgelegen, dass auf dieser Ebene [S. 198] mit all ihrem saftigen Gras, ihren Blumen, dem kalten und reinen Wasser, den Bergen ringsumher, dem blauen Himmel und der Nacht voller Sterne einzig wir und die Ziegenherde lebten. Ich hatte großes Verlangen, das Dorf zu sehen, wo Andon Zako Çajupi geboren worden war492 und über das wir das Gedicht «Mein Dorf» gelesen hatten, das ihm der Dichter gewidmet hatte. Ich fragte Muharrem, ob er es gesehen habe. Er antwortete: «Ja, wenn du zum Pass gehst, siehst du von dort Nivan, Sheper und andere Dörfer». «Xha Sulo», wendete ich mich an den Hirten, «wann gehen wir zum Pass, um das Dorf zu sehen, von dem ich dir aus dem Buch vorgelesen habe?» «Wir gehen sicher dorthin, aber erst, wenn die Herde ordentlich geweidet hat.»

490 Gemeint ist der Volksheld Zenel Gjoleka aus Kuç (um 1805–1852), der die führende Rolle im antiosmanischen Aufstand der albanischen Bauern im Jahr 1847 spielte. Kuç ist ein Dorf im unteren Kurvelesh in Südalbanien. 491 Shur të Kuçe: Offenbar ein Topnym, das eine Zone mit Sand und Kies in Kuç bezeichnet. 492 Gemeint ist das Bergdorf Sheper im Kreis Gjirokastra, heute Teil der Gemeinde Libohova.

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Und eines Tages gingen wir dann tatsächlich auf den Pass und betrachteten jene Dörfer, die Çajupi mit so viel Sehnsucht besungen hat. [S. 199] Als wir vom Çajup nach Gjirokastra zurückkehrten, schien es meinem Bruder deutlich besser zu gehen. Die Mutter war überglücklich und sagte: «Inshall­ ah,493 dass er geheilt wird.» Aber «Inshallah» sollte ihr den Wunsch nicht erfüllen. Ein anderes Jahr gingen wir in ein kleines Dorf in der Lunxhëria, nach Dhoksat,494 ein hübsches, am Hang gebautes Dorf mit Bäumen, frischem Wasser und viel Schatten. Das Wasser der Bergquellen wurde mitten im Dorf in einer kleinen Zisterne unterhalb des Hauses des Priesters gesammelt. Von dort wurde es mithilfe von Gräben verteilt, so dass die Bauern es der Reihe nach zur Bewässerung ihrer kleinen Gärten nutzen konnten, in denen sie Gemüse für den Verkauf auf dem Markt in Gjirokastra anbauten. Nach Dhoksat gingen wir mit dem Onkel und mit Saliko Reso.495 Die erste Nacht schliefen wir im Freien, auf einem Dreschplatz beim Dorfeingang. Ganz in der Nähe befand sich ein großes Haus  – das größte des ganzen Dorfes  – das man «das Haus des Kokol» nannte. Ich erinnere mich daran nicht nur wegen des sonderbaren Namens, sondern auch aus zwei anderen Gründen: Erstens mieteten wir dort ein kleines, altes Häuschen mit zwei Zimmern, das am Dorfeingang lag und der Familie Kokol gehörte. Zweitens zählte zu dieser Familie ein Junge, der mein Spielkamerad wurde. Von unserem Aufenthalt in Dhoksat sind mir einige Dinge in Erinnerung geblieben:496 die kleinen, gelben Trauben im Garten, die Ziegen, die bei ihrer abendlichen Rückkehr ins Dorf von selbst ihren Stall fanden und dessen Tür mit Kopf und Hörnern aufstießen, der Brunnen am Dorfeingang, zu dem ich durch einen «Tunnel» aus Bäumen gelangte, um Wasser zu holen, Teto Hajdho – eine arme, geistig verwirrte Alte – oder der Becher mit bitterem Wermuth, den Xha Saliko jeden Tag aufkochte und mir auf nüchternen Magen zum Trinken aufzwang, «weil das Kraft gibt». Ein Jahr später gingen wir mit meinem Bruder nach Stegopul, wiederum wegen seiner Tuberkulose. Dies war das letzte Mal, bevor der Arme schließlich starb. [S. 200] Wir mieteten im westlichen Teil des Dorfes zwei kleine Zimmer im Haus der Schwester von Urani Rumbo.497 Um dorthin zu gelangen, musste man zuerst die Straße zum 4 93 Inshallah: Hier sinngemäß = Gebe Gott. 494 Dhoksat (auch: Doksat): Dorf im Kreis Gjirokastra, siehe S. 165. 495 Zu Saliko Reso siehe S. 252; er war der Gatte von Baba Çens Tochter Hasibe. 496 Fußnote im albanischen Original: Am 15.  September  1975 sah Genosse Enver Hoxha in der Fernsehreihe «Lernen wir das sozialistische Albanien kennen!» einen künstlerischen Dokumen­ tarfilm zur Lunxhëria, der seine Erinnerungen an Dhoksat weckte. Hierdurch angeregt, notierte er in seinem Tagebuch unter anderem: «Ich empfand große Freude, eine unbeschreibliche Rührung! Vor meinen Augen zog alles vorbei, woran ich mich erinnerte, und diesmal so wunderschön … Am Fernseher sah ich die steile Straße, die zum Eingang des Dorfes führte. Und genau jene hölzerne Tür, genau jene Steinbank vor dem Haus! Oh, wie hübsch, [alles sauber] weiß gekalkt! Was für ein kunstvolles Volk! Was für ein kulturbewusstes Volk! …» 497 Zu Urani Rumbo, die aus Stegopul gebürtig war, siehe S. 138.

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Dorfladen hinaufgehen, dann ging es weiter hinauf durch eine Waldstraße und von dort hinunter zum Haus des Dorfarztes. Dies war das Viertel, in dem wir wohnten; ein Viertel mit vier, fünf Häusern, von denen das Haus des Arztes das größte war. Wir freundeten uns mit den Leuten an und gingen mit dem Bruder auch zum Arzt. Dort öffnete uns ein Mädchen mit blonden Locken die Haustür, es war etwas älter als ich und hieß Viktoria. Später, als Erwachsene, heiratete Viktoria Pano Hido,498 meinen Geigenlehrer. Was ist mir von Stegopul in der Erinnerung geblieben? Nicht viel. Erinnern kann ich mich an die Gespräche, die meine Mutter jeden Tag mit der Schwester von Urani Rumbo führte, an den Dorfladen bei der großen Platane, an ein kleines Café, wo sich mein Bruder nach dem Spazierengehen hinsetzte und wir zusammen ein trockenes, rotes Stück Lokum aßen. Von dort konnten wir dem Priester zuschauen, der mit einem Dorf bewohner Tricktrack499 mit Würfeln spielte. Das Brett war schwärzlich und voller Schmutz, nicht besser stand es um die Kopf bedeckung, den Bart und die Finger des Priesters mit ihren schwarzen, ungeschnittenen Nägeln. Als ich schon am Lyzeum von Korça war, organisierten wir in den Ferien einmal mit Aqif, Selahudin, Siri, Asllan und anderen Kameraden einen Ausflug ins Dorf Qesorat, aus dem Koto Hoxhi 500 stammte. Diesen Tag verbrachten wir im Schatten bei den Quellen. Ich kann mich auch noch an das Lied erinnern, das wir damals sangen, es hatte mit einem Ereignis aus der Geschichte des Dorfes zu tun: Oh Hamit Guga, tapferer Mann, in Sopot wurde dein Schwung gebremst.»501

Meine lieben Kinder, dies also sind einige Erinnerungen aus meiner Kindheit. Schmunzelt, wenn ihr wollt, aber viel anderes habe ich nicht zu berichten: So verflossen damals halt die Kinder- und Jugendjahre! Die Partei, wie wir sie heute haben und die uns erzogen, unterwiesen und geführt hätte, gab es damals noch nicht. Wir wuchsen sozusagen als Waisen auf, ohne die Partei als mächtige Mutter – aber wir hatten das unbeugsame und unbezwungene Volk im Rücken, das uns aufzog und von der Muttermilch an mit Enthusiasmus erfüllte. 20. Februar 1969

4 98 Pano Hido: Siehe S. 193, 218. 499 Albanisch «tavllë»; eine Variante des Backgammonspiels. 500 Konstadin (Koto) Hoxhi: Siehe S. 165. Zum Dorf Qes(t)orat, das in der Nähe von Stegopul lag, siehe S. 165, 213. 501 Siehe zu diesem Volkslied S. 165.

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[S. 203] Eine

Reise mit dem «Schmetterling»

Einmal – wann genau, habe ich vergessen, aber sicher zur Zeit, als ich noch das Lyzeum in Gjirokastra besuchte – einmal also lud mich der Bruder meiner Mutter ein, die Ferien in Fier zu verbringen, wo er sich mit seinen Kindern niedergelassen hatte. 502 Meine Freude war unbeschreiblich und ich konnte den Tag der Abreise kaum erwarten. Der Onkel hatte meinem Vater Geld gegeben, um den Transport mit dem Automobil zu bezahlen. Das Reisen war zu jener Zeit überaus beschwerlich, schon nach Vlora konnte die Reise zwei Tage dauern. 503 Wenn es hieß, dass das Auto am Morgen abfahren würde, wurde es sicher Mittag, bis es sich wirklich auf den Weg machte, und nach einigen Pannen und Reparaturen unterwegs war es schon viel, wenn man mit Einbruch der Dunkelheit bis Tepelena gekommen war. 504 In Tepelena, so erinnere ich mich, schlief ich im Auto, weil es dort keine Herberge gab und ich ohnehin kein Geld hatte. Mein Budget für die Reise nach Vlora war äußerst spitz kalkuliert. Zu jener Zeit gab es bei uns nur ein einziges Automobil. Sein Besitzer war Namik Alitja, ein Mann in mittleren Jahren mit braungebranntem Gesicht, arbeitsam und nicht besonders wohlhabend. Seine Frau [S. 204] war verstorben; einige Jahre später heiratete er eine Tochter von Baba Çen, Munimena. Namik war der Erste, der ein Auto kaufte, und zwar einen gebrauchten italienischen Lastwagen. Namiks Auto war ein großes Ereignis für Gjirokastra, ähnlich wie es die Mühle von Foto Tola gewesen war. Die Mühle von Foto Tola, eine alte, marode Maschine, stand in einer baufälligen Baracke unterhalb des Çerçiz-Topulli-Platzes, der damals noch nicht so hieß, sondern ein schlimmer Abhang ohne Mauern und Befestigung war. Die Mühle wurde eines schönen Morgens mit einem derart durchdringenden Sirenengeheul eingeweiht, dass die ganze Stadt entsetzt und beunruhigt war, weil die Bewohner noch nie zuvor etwas Derartiges gehört hatten. Ich erinnere mich, dass ich mich an diesem Tag gerade auf den Weg zur Schule machen wollte, als das Geheul losbrach. Meine Mutter schrie, und gemeinsam stürzten wir zu einem Fenster. «Was ist das für ein Unheil», rief die Mutter, «was ist das für ein Geheul? Oh weh, was ist bloß in Gjirokastra geschehen! Geh um Himmels willen nicht ins Freie, bevor man weiß, was da los ist; nicht, dass dir da etwas passiert.» «Doch, ich gehe hinaus», erwiderte ich, «mach dir keine Sorgen um mich. Ich gehe nachsehen, so dass wir verstehen, was los ist.» 502 Ursprünglich hatte dieser Onkel im Stadtteil Hazmurat in Gjirokastra gewohnt; sein dortiges Haus überließ er der Familie Hoxha nach dem Brand von deren Haus; vgl. S. 254, 274, 284. – Fier liegt in der Myzeqe-Ebene in Mittelalbanien und zählt zu den zehn größten Städten des Landes. 503 Je nach Route beträgt die Distanz Gjirokastra – Vlora 80–135 km; von Vlora nach Fier kamen nochmals rund 40 km dazu. 504 Der Weg von Gjirokastra nach Tepelena beträgt ca. 32 km.

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So viel also zur ersten «Fabrik-»Sirene von Gjirokastra. Zurück zum ersten Lastwagen! Namik hatte ihm sogar einen Namen gegeben, er nannte ihn «Fluturidha», den Schmetterling. 505 Den Chauffeur, der ihn fuhr, nannte man «Arap», den Mohren. Er war berühmt für seine Geschicktheit, aber auch für seine Trunksucht und sein übermäßiges Fluchen – Laster, die er mit vielen damaligen Chauffeuren teilte. Wie der Besitzer des Lastwagens, Xha Namik, war auch er von dunkler Gesichtsfarbe. Am besagten Tag also war der Lastwagen mit Ach und Krach abfahrbereit, als die Sonne den Zenith schon überschritten hatte. Wir ließen uns auf Bündeln, Säcken und Kisten nieder, es herrschte ein fürchterliches Durcheinander. Wir waren so zusammengedrängt, dass wir kaum Atem holen konnten, mit dem Kopf stießen wir an der Blache an, die den Wagen bedeckte, so dass wir uns bücken und ducken mussten. «Wir ersticken, Xha Namik, wir kriegen keine Luft mehr», beschwerten wir uns. «Keine Sorge», entgegnete er, «bis wir abfahren, ist es etwas beschwerlich, aber unterwegs wird es bald besser! Die Löcher in der Straße machen, dass die Waren und Säcke zusammengerüttelt werden und bald fühlt ihr euch, als würdet ihr auf Kissen sitzen.» [S. 205] Zu Beginn der Reise fuhr Xha Namik mit uns, er saß neben dem Chauffeur. Während der Fahrt hütete er sich, nach unserem Befinden im Lastraum zu fragen, wo manche Leute sich erbrachen und viele Ältere und Frauen sehr litten. Manchmal ließ er den Wagen unterwegs anhalten, sprach mit einem Mitreisenden, kassierte den Fuhrlohn ein und forderte ihn auf: «Hopp, steig aus, du stiehlst mir meine Zeit». So ging es während der ganzen Fahrt, bis wir in Tepelena ankamen, wo uns die Nacht überraschte. In Tepelena gab es zu jener Zeit einzig einen Gendarmerieposten und einige Schuppen. Es blies ein irrer Wind, der einen vor Kälte sofort erstarren ließ. Wir zitterten und schauderten, aber es war unumgänglich, vom Wagen herunterzusteigen und unsere Beine und Arme etwas zu bewegen, da sie eingeschlafen und wir von der Fahrt schmutzig geworden waren. Trotz allem war meine Freude riesig; ich war ja jung und furchtlos. Die Nacht verbrachten wir im Lastwagen. Am nächsten Morgen dann wieder das alte Lied: «Wir fahren gleich ab; es dauert nicht mehr lange, wir warten noch auf jemanden; Arap muss noch fertig frühstücken; oh, jetzt ist ein Reifen geplatzt», und so weiter. Um die Mittagszeit schließlich ging die Fahrt weiter. Nun begann der Aufstieg nach Salaria, die Bremsen ächzten, der Staub brachte uns fast um und löste Brechreiz aus. Araps Lieder glichen eher einem Gebrüll, dazu kam die Angst vor Straßenräubern. In der Tat schnitten ja Wegelagerer wie Shaqo Llapi, Mero und Hamit 505 Im Gegensatz zum gängigen Wort für Schmetterling, flutur, hat fluturidhë den Beiklang einer Verkleinerung und eines Kosenamens. Die Wortwurzel «flutur-» (vgl. fluturoj, fliegen) soll vielleicht auch auf das Tempo des Fahrzeugs verweisen.

Eine Reise mit dem «Schmetterling»221

Lamçe, Sulo Bega und andere den Automobilen den Weg ab und stahlen den Reisenden Geld und Habe. Anders gesagt: Sie raubten sie aus. Mir selbst machte das keine Angst; ich war ja klein, hatte keinerlei Geld in der Tasche und führte einzig ein Bündelchen mit Wäsche mit mir. Insofern war ich nachgerade gespannt zu sehen, wie einem die Banditen den Weg abschneiden würden. Als einmal die Bremsen kreischten und die «Fluturidha» in einer Kurve anhielt, schrie denn prompt auch eine Frau aus den Tiefen des Laderaums: «Räuber!». «Nicht doch, Schwester», besänftigte sie ein Passagier und bekreuzigte sich, «beruhige dich; was hast du nur, dass du uns die Reise vermiest.» Bei jedem Brunnen und Wassergraben hielt der Chauffeur an und füllte Kühlwasser nach, da der Motor rauchte, als hätte er Feuer gefangen. «Automobile sind wie Menschen», erklärte uns Arap: «Wenn es aufwärts geht, schwitzen sie und wollen trinken, weil sie durstig sind.» Bei der Platane von Sevaster legten wir eine lange Pause ein. Wir Menschen und auch [S. 206] der Lastwagen ruhten uns aus. Die Rast war verdient, vom Straßenstaub waren wir alle ganz weiß. Auch ich sah aus, als ob ich eben aus der Mühle von Çiço in Viroi gekommen wäre, wohin ich einmal mit Xha Faros Sohn Resul, genannt Cule, und seinem Maultier zum Maismahlen gegangen war. Einer nach dem anderen stiegen wir zum Brunnen hinunter, schüttelten den Staub aus den Kleidern, legten unsere Mäntel ab, krempelten die Ärmel hoch, wuschen das Gesicht und tranken von dem reinen, klaren, eiskalten Wasser. Dann holte ich das Brot und den Käse hervor, den mir die Mutter mitgegeben hatte, und aß mit großem Appetit. In Sevaster gab es auch eine baufällige Baracke, in der Bier verkauft wurde. Von den in der Quelle gekühlten Bierflaschen tranken Leute wie Arap gleich zwei bis drei. Ich sagte zu mir: «Was sind diese Chauffeure doch für Vagabunden! Überlegen sich nichts und verjubeln alles, was sie verdienen». Als ein Mitreisender sah, dass Arap unabläßig weitertrank, rief er ihm zu: «Arap, beim Haupt meines Vaters, hör auf zu trinken, sonst stürzt du uns ins Elend und kippst uns in den nächstbesten Abgrund!» «Keine Sorge», erwiderte Arap, «nur wenn ich getrunken habe, zittern meine Hände nicht. Wenn du also heil in Vlora ankommst, kannst du mich gerne zu einem Bier einladen!» Wir mussten lachen und waren der Bewunderung für Arap voll. «Einen zweiten Chauffeur wie Neki Arap gibt es nicht!», sagten wir  – später äußerten wir dasselbe über Arshi Rucaj, Pandeli und Arsen. Dies waren die berühmtesten Chauffeure meiner Jugendzeit. Wir kletterten wieder in den Lastwagen, ließen die Kühle der Platane und des Brunnens von Sevaster, die steilen Straßen und Pässe von Salaria und die Angst vor Wegelagerern hinter uns und gelangten in die legendäre Region unserer Träume: Wir näherten uns dem heldenhaften Vlora. Ich war neugierig und betrachtete vom Innern des Lastwagens her, wie durch einen dunklen Tunnel, wissbegierig die Berge und

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Teil II:  Kindheitsjahre

Hügel. Gespannt wartete ich darauf, die Olivenhaine zu sehen, von denen wir in der Schule gehört hatten. Vor allem suchte ich die Gegend nach jenem Ort mit Olivenbäumen ab, den Justin Godart, ein Franzose, der nach Gjirokastra gekommen war, in seinem Buch beschrieben hatte. 506 Wir Kleinen gingen damals mit der ganzen Schule auf den Platz, wo wir ihn mit Blumen erwarteten. Godart hatte auf Französisch ein Buch über Albanien geschrieben, das wir im Lyzeum lasen. In diesem Buch, wenn ich mich recht erinnere, gab es eine Fotografie mit Olivenbäumen, unter denen Flüchtlinge ruhten, die [S. 207] von den serbischen und griechischen Besatzern aus anderen Teilen der Heimat umgesiedelt und vertrieben worden waren. Während wir auf unsere Ankunft in Vlora warteten, stimmten wir das folgende Lied an: Ich bin ein Vlonjat 507 und bin ein Vlonjat, Der Adler ist mir Mutter und Vater. Der heldenhafte doppelköpfige Adler Hat seinen Platz in Vlora. 508

Durch meinem kindlichen Sinn zog das ganze Epos von Vlora: die Heldentaten von Selam Musai, 509 die Freikorps, Ismail Qemali, 510 der Mord an Avni Rustemi, 511 die Juni-Revolution, 512 Baba Çen, Idriz Guri, 513 Çerçiz Topulli, 514 Marat, Robespierre und der Kopf des auf der Guillotine enthaupteten Königs Louis XVI. Mir schien, dass ich all dies in Vlora finden müsse. Der große Traum meiner Jugend wurde endlich wahr! 506 Justin Godart (1871–1956): Hochdekorierter französischer Staatsmann und Politiker des Parti Radical, nahm nach dem Ersten Weltkrieg an einer archäologischen Exkursion nach Albanien teil. Beim genannten Buch muss es sich um den Titel «L’Albanie en 1921. Rapport présenté aux Directeurs de la Dotation par Justin Godart», Paris: Les presses universitaires de France, 1922, handeln. 507 Vlonjat: Bürger von Vlora. 508 Am 28. November 1912 hisste Ismail Qemali in Vlora die albanische Flagge mit dem Doppeladler und erklärte Albanien zum souveränen und unabhängigen Staat. Bis Anfang 1914 war Vlora die provisorische Hauptstadt Albaniens. – Der gereimte Originaltext des Liedes lautet: Jam vlonjat e jam vlonjat / Zhgabën e kam mëmë e at. / Zhgaba trime dykrenore / Vend’ e saj e ka në Vlorë. 509 Selam Musai (1860–1920): Wichtige Figur des albanischen Unabhängigkeitskampfs; 1920 gefallen im Krieg gegen die italienischen Besatzer von Vlora. 510 Ismail Qemali: Siehe S. 110 f, 271. 511 Avni Rustemi (1895–1924): Pädagoge, Freiheitskämpfer, Volksheld; erschoss 1920 in Paris Esad Pasha, den er als Verräter betrachtete. 1924 wurde er seinerseits Opfer eines Attentats. 512 Juni-Revolution (kryengritja e qershorit): Aufstände anfangs Juni 1924 im Anschluss an die Ermordung von Avni Rustemi, die zur Absetzung der Regierung und zur Bildung einer neuen Regierung unter Fan Noli führten. 513 Idriz Guri: Siehe S.  149 f. 514 Çerçiz Topulli: Siehe S. 63.

Eine Reise mit dem «Schmetterling»223

In Vlora kamen wir natürlich erst spätabends an. Die «Fluturidha» hielt vor dem Hotel Korça, das Hilmi Çipi gehörte, einem Vetter meiner Mutter. Dort war gleichsam die Basis des Lastwagens, die letzte Etappe der Reise von Gjirokastra nach Vlora. Viele Leute waren herbeigekommen, von denen manche einen Verwandten erwarteten, andere eine Warenlieferung oder einen Brief. Auf mich wartete niemand, aber ich traf dort Beti Sharra, «den Lahmen», einen ehemaligen Schulkameraden aus der Stadtschule, der nun als Bediensteter im Hotel seines Onkels arbeitete. Er nahm mich mit und erklärte Hilmi, dass ich der Neffe von Shyqyr, dem Bruder meiner Mutter, sei. Shyqyr hatte den Auftrag gegeben, mir im Hotel ein Bett zur Verfügung zu stellen und für den nächsten Tag einen Autotransport nach Fier zu organisieren. So geschah es dann auch; ich schlief eine Nacht in Vlora. Das Hotel erschien mir wie ein Palast. Ich teilte das Zimmer mit Beti. Die Betten hatten sogar Mückennetze, denn damals herrschte eine große Stechmückenplage in Vlora. Kaum stieg man aus dem Bett, waren Gesicht und Hände vor lauter Stichen geschwollen. Wir behandelten sie umgehend mit Essig, was leider auch nichts nützte. Vor dem Schlafen wollte ich unbedingt etwas ausgehen, um das Vlora meiner Träume zu sehen. Zusammen mit Beti gelangten wir durch eine dunkle Gasse auf einen Platz. «Hier», sagte Beti, «hier wurde die Flagge gehisst». «Wo, wo?», fragte ich. «Hier, in einem alten Haus, das du jetzt wegen der Dunkelheit nicht gut sehen kannst, auf einem hölzernen Balkon.» [S. 208] «Wo, wo?», wiederholte ich. Beti klopfte mit der Krücke, die er als Lahmer brauchte, tack-tack, und statt mir das Haus zu zeigen, wo die Flamme gehisst worden war, belehrte er mich: «Hier siehst du das Hotel Gambino, es gehört einem italienischen Luden. Der macht uns Konkurrenz, weil manche seiner Mädchen schamlose Personen sind, die uns die Kunden abwerben.» Beti war offensichtlich zum Kaufmann geworden. «Zeig mir das Meer, Beti», bat ich. Worauf er: «Hast du sie nicht mehr alle? Bis zum Kai ist es weit, unterwegs hat es Gestrüpp und Dornen! Um dorthin zu gelangen, braucht man einen Wagen; zu Fuß ist das unmöglich.» So konnte ich an diesem Abend weder Vlora noch das Meer anschauen. Früh am nächsten Morgen stand ich auf und ging noch vor dem Frühstück ins Freie. Ich war begierig, Sazan und Karaburun 515 zu sehen, die ich aus Liedern und aus meinen heroischen Träumen so gut kannte. Nachdem ich mich versichert hatte, dass ein baufälliger Ford von Hiqmet (Hilmi) Çipi um die Mittagszeit nach Fier aufbrechen würde, machte ich mich unverzüglich in Richtung des Kais auf. Dort ließ ich 515 Sazan: Kleine, strategisch bedeutsame Insel am Eingang der Bucht von Vlora. Karaburun: Halbinsel vor Vlora.

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Teil II:  Kindheitsjahre

mich am Strand auf einem Stein nieder und erblickte Sazan, das die Italiener besetzt hielten, 516 und Karaburun. Ich konnte mich kaum sattsehen, in meinem Kopf erklangen dazu all die Lieder, die ich gelernt hatte. Die Olivenhaine, die Olivenhaine, die wollte ich noch sehen! Als ich in den Ford kletterte, sagte ich zu Hiqmet: «Ich flehe dich an, zeige mir die Olivenhaine!» «Keine Sorge», erwiderte er, «die liegen sowieso auf unserem Weg». Was für Wunder sah ich auf dieser Fahrt! Ich staunte. Wie war das bloß möglich? Ganze Wälder in sattem Grün, während es in Gjirokastra nicht einmal Wurzeln gab. «Ah», sagte ich mir, «diese Vlonjaten sind wirklich in jeder Hinsicht geschickte Leute!» Als wir auf dem Pass von Koshovica angekommen waren und den Berg hinunterfuhren, beeindruckte mich der Ortseingang von Fier. Felder und die Stadt waren von dorther zu sehen, Friedhöfe auf beiden Seiten der Straße, mächtige Platanen. Zu allem fragte ich Hiqmet aus. «Wieso hat es da zwei Sorten von Gräbern?» «Auf der einen Seite», erklärte er mir, «sind die Gräber der Muslime, auf der anderen jene der Christen. [S. 209] Und diese Platanen sind Hunderte von Jahren alt. Und dort auf dem Hügel oberhalb des Flusses Gjanica steht das Haus des einbeinigen Bejs mit seinem Holzbein, das beim Gehen krack-krack macht. Und dies hier ist der Marktplatz und das Haus des Paschas. Alle diese Läden hier gehören dem Pascha, sozusagen ganz Fier. Er gehört zur Familie der Vrioni.»517 Schließlich kamen wir beim Haus meines Onkels, des Bruders meiner Mutter, an. Es war ein kleines einstöckiges Haus mit drei Zimmerchen und einem Keller, in dem sich keine drei Personen hätten umdrehen können. Ringsumher war das Haus von einem Zaun umgeben. In einer Ecke des Gartens stand ein Ziehbrunnen, aus dem mit einem Flaschenzug das Trinkwasser nach oben befördert wurde. Ganz besonders staunte ich über jenen Teil des Gartens, in dem sie so, wie man sonst Wassermelonen anbaut, eine Sorte Kürbis gepflanzt hatten, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Wie mir die Großmutter 518 erklärte, wurden diese Kürbisse nicht gegessen, vielmehr ließ man sie trocknen, schabte dann ihr Inneres heraus und verwendete sie als Trinkgefäß. Wasser aus einem Kürbis trinken?! Ich wunderte mich. Die Großmutter freute sich, dass ich gekommen war. Der Onkel war offenbar noch abwesend, er kam später und freute sich ebenfalls, als er mich sah. Ich schlief im selben Zimmer wie die Großmutter. Nach dem Nachtessen breiteten wir jeden Abend die Matratzen auf dem Boden aus, in einem Bett schlief nur die Großmutter. 516 Sazan blieb auch nach der Vertreibung der italienischen Besatzer aus Vlora (1920) in italienischen Händen und gelangte erst 1947 zu Albanien. 517 Die Familie Vrioni war seit osmanischen Zeiten Großgrundbesitzer in der Region Fier und ihrem Umfeld. Wie aus dem weiteren Text ersichtlich ist (siehe S.  226 f.), ist mit dem Pascha hier Qemal Bej Vrioni (1885–1946?) gemeint, ein in den 1930-er und 1940-er Jahren bedeutender Politiker, der 1945 als Volksfeind verhaftet wurde und vermutlich 1946 im Gefängnis starb. 518 Hasije Çuçi Açe: Siehe S. 63, 274 f.

Eine Reise mit dem «Schmetterling»225

Am ersten Tag meines Aufenthalts in Fier machte ich eine «Inspektion» des Hofs, streckte den Kopf durch den Zaun auf die Straße und trieb mich überall herum. Zu jener Zeit gab es dort nicht viele eigentliche Häuser, sondern vor allem Lehmhütten. Nahe beim Haus des Onkels stand ein großes, zweistöckiges Anwesen. Sein Besitzer war ein Gurga aus Gjirokastra, dem zwei, drei Güter gehörten. «Die Gurgas sind Tunichtgute», sagte der Onkel, «sie bringen ihr Geld mit Frauen und Glücksspiel durch.» Auf der anderen Seite des Hauses meines Onkels stand jenes von Nazmi Skënduli, der ebenfalls aus Gjirokastra stammte. Auch er hatte die Myzeqe 519 «entdeckt» und nahm nun von den Bejs Güter in Pacht. Sein Haus war neu, groß und zweistöckig wie das von Gurga. Wir gingen dort einige Mal zum Mittag- und Abendessen, weil Nazmi der Geschäftspartner meines Onkels war. Zu den Gurgas gingen wir nie. Nun musste ich nur noch einen Freund finden, mit dem ich ausgehen oder spielen konnte. «Da weiß ich einen», sagte meine Großmutter. So gingen wir denn eines Tages ins nahegelegene Çeligrad 520 [S. 210] und kamen zu einem kleinen, eingeschossigen und sehr reinlichen Lehmhaus mit Blumen vor der Haustür. Zur Familie, die uns dort empfing, gehörte auch ein Junge, mit dem ich mich bekannt machte. Er besuchte die Technische Schule in Tirana und spielte gerne Fußball. So kam es, dass wir oft zusammen in Çeligrad ausgingen und am Nachmittag mit den anderen Jungen aus Fier Fußball spielten. Mein Onkel, der sehr sparsam war, ermahnte mich: «Spiel nicht so viel, sonst gehen deine Schuhe kaputt!» Aber was sollte ich sonst machen? Ich ging auch in den Laden meines Onkels, falls man das überhaupt einen Laden nennen konnte. Es war eines jener kleinen Lokale, die Pasha Vrioni gehörten, mit hölzernen Türflügeln und einem Boden und Wänden aus Lehm. Da der Laden an einer Ecke lag, hatte er zwei Eingänge, die auf verschiedene Straßen gingen. An den Wänden gab es einige Regale und in den Regalen einige Waren. Ich kann mich nur noch an ein paar kleine, runde Taschenspiegel erinnern, die auf der Rückseite ein Frauenportrait zierte. Diese sogenannte «Ware» hatte der Onkel in Wien gekauft, als er seinen Sohn Zihni besuchte, den er dorthin zum Studieren geschickt hatte. Im Laden war stets Sotir Goga anwesend, ich glaube, so hieß er. Dies war ein Dörfler aus der Myzeqe, dünn und groß gewachsen. Sotir war ein liebenswürdiger Mensch; mich mochte er und forderte mich schon am ersten Tag auf: «Such dir einen Taschenspiegel aus und trag ihn bei dir, damit du dich ansehen kannst.» Ich fühlte mich, als hätte ich wer weiß was erhalten. Als eines Abends Onkel Shyqyr und Sotir sich im Laden unterhielten, fragte Sotir: «Shyqyr, soll ich Enver morgen nach Roskovec 521 mitnehmen?» «Nimm ihn ruhig mit», erwiderte der Onkel.

5 19 Myzeqe: Siehe S. 179. Auch Fier liegt in der Myzeqe. 520 Çeligrad: Stadtteil von Fier. 521 Roskovec: Kleinstadt zwischen Fier und Berat.

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Teil II:  Kindheitsjahre

Ich machte vor Freude Luftsprünge: Ich würde nach Roskovec gehen! Ich hatte zwar keine Ahnung, was Roskovec war, aber die Vorfreude ließ mich in dieser Nacht kein Auge schließen. Früh am Morgen kam Sotir mit einem Fuhrwerk, das von zwei Ochsen gezogen wurde, und holte mich ab. Es war das erste Mal, dass ich mit so einem Gefährt unterwegs war. Sotir trieb die Ochsen mit einem Stachel an, die Räder ächzten. In Roskovec sollten wir Einkäufe machen; Sotir sollte dort Trauben kaufen, um daraus Wein für den Laden zu machen, daneben standen allerlei andere Treffen an. Schließlich kamen wir in Roskovec an. Dort gab es zwar nichts als ein paar alte Baracken, aber der Markt war riesig und voller Menschen, die Waren ein- und verkauften. Sotir traf sich mit dem einen und anderen und unterhielt sich mit den Bauern, die ihre Filzkappen trugen. 522 Zu guter Letzt kaufte er drei große Lastkörbe voll roter Trauben, die wir [S. 211] dann auf den Karren luden und uns auf den Heimweg machten. «Tu dir keinen Zwang an, sagte Sotir, «iss Trauben, so viel du magst; es hat mehr als genug». Noch nie in meinem Leben hatte ich eine derartige Menge Trauben gesehen. Ich aß so viel davon, bis ich mich übergeben musste. Dieser Ausflug in die Myzeqe bleibt mir unvergesslich, desgleichen eine Hochzeitsfeier, die ich dort erleben durfte. Sotir nahm mich nämlich noch ein weiteres Mal auf einen Ausflug mit, der uns in ein Dorf, es war wohl Marinëz, 523 führte. Zusammen mit Sado Gami, meinem Vetter und Freund aus Kindertagen, 524 nahmen wir teil an der Hochzeitsfeier von Xha Janis 525 Sohn, dessen Name, glaube ich, Joti war. Wiederum bestiegen wir also das Fuhrwerk. Als wäre es erst gestern gewesen erinnere ich mich an die Erde, die wegen der damaligen Trockenheit tiefe Risse hatte, an die paar Lehmhütten, an Bauern, die auf dem Platz eng zusammengedrängt auf dem Boden saßen, Kaffee tranken, sangen und manchmal tanzten. Sotir und ich saßen an einem runden, niedrigen Tisch; wenn die Hochzeitsgäste sangen, stimmten wir mit «eeeee» ein. Schon damals gefielen mir die Lieder und Tänze der Myzeqe sehr, und ich liebe sie auch heute noch. Die Bauern waren freundlich zu uns, manchmal tätschelten und umarmten sie mich, und ein Alter setzte mir sogar seine spitze Filzkappe auf den Kopf und sagte: «Ich mach dich zum Myzeqaren». Wenn in Fier Markttag war, wollte ich jedes Mal unbedingt hingehen und mir das Treiben ansehen. Ich spazierte hin und her, fragte die Bauern: «Was soll dies hier kosten? Und wie viel willst du für das da?», aber ich hatte natürlich keine Mittel, um wirklich etwas zu kaufen. Manchmal gab mir die Großmutter etwas Geld, damit kaufte ich mir dann Obst. Am Markttag kamen immer viele Leute in die Stadt. Der Markt fand in der Nähe des Hauses von Pasha Vrioni statt, auf einem Platz, wo ein paar hohe 5 22 Gemeint ist die in der Myzeqe gebräuchliche Takije, eine weiße Filzkappe, die im Gegensatz zur runden Qeleshe die Form eines mehr oder weniger spitzen Kegelstumpfs hat. 523 Dorf in der Nähe von Roskovec. 524 Sado Gami: Siehe S. 102, 186. 525 Gemeint ist vermutlich der Bäcker Jani, ein Freund von Baba Çen, siehe S. 267–270.

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Bäume standen und Schatten spendeten. Auf der einen Seite des Marktplatzes erhoben sich hohe Mauern, die den Garten und den Palast der Paschas umgaben. Es waren dunkle und für mich mysteriöse Mauern, die keinen Blick auf das Innere durchließen, einzig ein paar hohe Bäume waren zu sehen. «Hier wohnen die Blutsauger des Volkes», sagte ich zu mir selbst, «wer weiß, was hinter diesen Mauern geschieht». Manchmal sagte Sotir durch das Fenster des Ladens zu mir: «Schau mal, das ist Qemal Bej Vrioni und dieser da ist Kahreman Bej, 526 die ziehen den Leuten das Fell bei lebendigem Leib ab.» Nicht im Traum wäre es dem einfachen Bauern Sotir aus der Myzeqe wohl eingefallen, dass der Junge, dem er da sein Herz öffnete, ihn und alle anderen Bauern der Myzeqe eines Tages rächen würde, [S. 212] dass wir Qemal Bej und allen Vrioni-Bejs das Genick brechen und andere ihresgleichen für immer ausrotten würden. Bis zu dieser Schlacht gegen die Feudalherren sollte es freilich noch eine Zeit dauern. In Fier war es auch, wo ich zum ersten Mal mit meiner Hände Arbeit etwas Geld verdiente, genau gesagt, 25 Lekë. Und dies ging folgendermaßen: In Fier lebte der Advokat Rasim Hoxha, ein entfernter Verwandter von uns. Seine Kinder hießen Shpresa und Muhamet. Muhamet war älter als ich, er studierte in Frankreich. Rasim und Muhamet waren beide dünkelhaft; einzig Shpresa war gänzlich anders. Sie wurde Partisanin und eine gute Kommunistin, und sie kämpfte mutig gegen diejenigen Angehörigen ihrer Familie, die nicht auf unserer Seite standen. Eines Tages also sagte Xha Rasim zu mir: «Komm in mein Büro und schreibe ein paar Urkunden ab.» Ich ging hin, schrieb und schrieb tagelang und bekam, als ich fertig war, 25 Lekë. Er lud mich auch zu sich nach Hause ein, weil sein Sohn Muhamet aus Frankreich heimgekehrt war. «Gib mir das Geld, damit ich es für dich auf bewahre», forderte mich meine Großmutter auf, aber ich gab es ihr nicht, sondern gab es noch während meines Aufenthaltes in Fier aus. Als dann der Beginn des neuen Schuljahrs näher rückte, kehrte ich nach Gjiro­ kastra zurück und war voll guter Erinnerungen an diese Ferien. [undatiert]

5 26 Qemal Bej Vrioni: Siehe S. 224. Mit Kahreman Bej ist wohl Kahreman Pashë Vrioni (?-1955) gemeint; sein Geburtsjahr und seine verwandtschaftliche Beziehung zu Qemal Vrioni waren nicht zu eruieren.



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Teil III:   Einfache Menschen

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[S. 215] Mit

Teil III:  Einfache Menschen

den Augen der Erinnerung527

Im Buch «Das Leben beginnt mit 50 Jahren»528 schreibt der Autor, ein bekannter ausländischer Arzt, dass man im fortgeschrittenen Alter öfters in seine Heimat zurückkehren sollte, da dies der Gesundheit förderlich sei und die Lebensdauer verlängere. Als Grund gibt der Arzt an, dass der Körper, die Knochen, das Hirn, kurz: alle unsere Organe von frühester Kindheit an getränkt, gebildet und imprägniert seien von der Luft, die wir damals atmeten, vom Wasser, das wir damals tranken und von den Nährstoffen des Bodens, auf dem wir aufwuchsen. Bei einem Menschen, der in einem bestimmten Umfeld und im Kontakt mit den Leuten und der Gesellschaft dort – samt all ihren Gefühlen, Sorgen, Freuden und Leiden – aufwuchs, sei mithin jede Zelle seines Körpers durchdrungen von all diesen Dingen, die seinem Organismus Vitalität gespendet haben. Wenn dieser Mensch im fortgeschrittenen Alter zum Ort seiner Herkunft zurückkehrt, so argumentiert der Arzt weiter, [S. 216] werden seine Zellen gleichsam elektrisiert; sie erfahren einen Schock durch die Strahlung des Umfelds der frühen Kindheit und werden dadurch belebt und erneuert. Der Mensch fühlt sich in diesem Kontext lebendiger, glücklicher, fröhlicher und gesundheitlich fitter. Ob diese Theorie stimmt und welchen wissenschaftlichen Wert sie hat, kann ich nicht beurteilen. Aber ich kann etwas bestätigen, was ihrem Autor Recht gibt: Jedes Mal, wenn ich nach Gjirokastra fahre, empfinde ich ein tiefes Glücksgefühl, fühle ich mich wie verändert und kommt es mir vor, als wären mir alle Leute bekannt. Wenn ich jemanden, den ich wegen seiner Jugend nicht kenne, nach seiner Herkunft und Familie gefragt habe, überfluten mich bei seiner Antwort tausend Gedanken und Erinnerungen. Ich verspüre eine ganz eigene Zufriedenheit, denn in meiner Erinnerung werden Menschen und ihr ganzes Leben lebendig, die ich gekannt habe. Auch Details sehe ich wieder vor mir, die für sich genommen unbedeutend sind, in der Erinnerung aber wichtig werden. Meine Sehnsucht wird nicht kleiner, sondern größer. Wie gerne würde ich öfters in meine Heimatstadt reisen! Doch leider lässt meine Arbeit dies nur selten zu. Da ich persönlich nicht häufig hinfahren kann, mache ich diese Reisen nun halt in der Erinnerung. Auf diese Weise lebe ich weiterhin mit Gjiro­ 5 27 Fußnote im albanischen Original: Genosse Enver begann mit der Aufzeichnung dieser Erinne­ rungen am 4. September 1976 und schloss sie am 18. September ab, am Tag, als Gjirokastra den 32. Jahrestag seiner Befreiung feierte. 528 Von den verschiedenen Büchern, die diesen Titel tragen, scheint uns am ehesten das folgende in Frage zu kommen: Robert Tocquet: La vie commence à 50 ans (les secrets du troisième âge), Paris: JC Lattes, 1973; evtl. auch: Georges Barbarin: La vie commence à 50 ans; Avignon: Aubanel, 1953. Beide Bücher erlebten zahlreiche Neuauflagen bis in die 1990er-Jahre; beide stammen nicht von Ärzten, sondern von eher populärwissenschaftlich orientierten Autoren. Kalo (2019, S. 559) erwähnt, dass er Enver Hoxha mit diesem Buch in der Hand anläßlich eines medizinischen Kontrollbesuchs im Sommer 1978 in den Ferien in Durrës angetroffen hatte.

Mit den Augen der Erinnerung231

kastra und mit den Menschen meiner Jugendzeit – und ich versichere euch, dass ich dabei eine geistige und körperliche Erholung verspüre. Abends, nach der Arbeit, sitze ich oft in Gedanken versunken und frage dann Haxho oder Sano: 529 «Wie hieß schon wieder die Mutter von Hasip Kullumbi?», «Wer lebte in dem und dem Haus?», «Und wer wohnte an jener Kurve der Straße?», und so weiter. Nexhmijes Mutter, meine Schwiegermutter, 530 wundert sich: «Was hast du nur mit diesem alten Zeug, das vor 70 und mehr Jahren geschah? Warum mühst du dich damit ab; hast du denn sonst keine Sorgen?» Sorgen habe ich schon – aber die Menschen der damaligen Zeit hatten Berge von Sorgen und trotzten ihnen standhafter als Berge. Ich werde über das Leben der einfachen Leute schreiben, denn sie sind es, die das Volk ausmachen, das sich abrackerte, schwitzte, manchmal zu essen hatte und manchmal hungerte. Gut möglich, dass die Enkelkinder der Menschen, über die ich hier schreiben will, sich gar nicht mehr an sie erinnern. Mein Ziel ist, ihnen ihre Großeltern in Erinnerung zu rufen, mit allem, was mir zu ihnen im Gedächtnis geblieben ist. Und wenn ich mich am Feierabend an sie erinnere, [S. 217] kommt es mir vor, als würde ich selbst jünger, stärker, schärfer in meinen Gedanken und mutiger in meinen Taten. Diese Erinnerungen elektrisieren mich, sie beleben die Zellen meines Körpers und meines Gehirns. Insofern stimme ich dem Arzt, den ich oben erwähnt habe, gerne zu. Der Ort, an dem ich in meiner Kindheit und nach Schulschluss am meisten spielte, war der sogenannte Shesh i Xhepit, der «Taschenplatz». 531 Sicher ist, dass er nicht Xha Kamber 532 gehörte, dessen Haus in einem Sträßchen zur Linken lag, bevor man zum Haus von Xha Vehap Kokalari gelangte. Ging man noch weiter, kam man zum Haus von Xha Nuro Çanole und zu dem von Bejko Gaxhello. Wenn man auf dem Rückweg rechts hinunterging, gelangte man auf einen kleinen Platz mit vier Häusern und vier Toren: Eines gehörte Neim Fino, eines Hasip Kullumbi, eines war verbrannt, von dem standen nurmehr die Mauern und das Tor, das mit seinem runden Torbogen wie ein offenes Maul aussah. Dieses Haus hatte der Familie Ajdin gehört. Zum vierten Haus habe ich keine Erinnerung mehr, wem es gehörte und wie es aussah. Die ungepflasterte Straße, die vom Shesh i Xhepit bis zur Gaxhelloja 533 führte, war gerade und auf ihr lagen nur wenige Steine. Sie war eingefasst von den Haus- und Hofmauern der Hasanis und von den Mauern, hinter denen die Gärten der Kokalaris und von Bejko Gaxhello lagen. Das Sträßchen, das zu Xha Neim Finos Haus führte, 5 29 Zwei Schwestern von Enver Hoxha, die mit ihm und seiner Familie und der Schwiegermutter in Tirana lebten, siehe S. 58. 530 Naxhije Xhuglini, die mit der Familie Hoxha zusammenlebte, siehe S. 61. 531 Zum Shesh i Xhepit siehe u. a. S. 131, 155, 170. 532 Gemeint ist vermutlich Kamber Xhepi, siehe S. 98. 533 Nicht identifizierbares Toponym.

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war voll von Steinbrocken, die aus den Mauern gefallen oder von den Regenfluten angeschwemmt worden waren. Diese Straße war steil. Angenehm hingegen war die Çanole-Straße. Die Mauern, die sie säumten, waren vom Alter schwarz geworden und die Straße lag im Schatten, weil die Äste der Bäume in den Gärten über die Mauer hinauswuchsen und in die Straße hingen. Auf dieser Straße spielte ich oft mit meinen Kameraden und Kameradinnen. Das Haus von Xha Vehap Kokalari war stattlich, es hatte zwei Geschosse und viele Fenster. Unten waren die Pate, 534 die Winterzimmer und der Windfang, der aus schwar­­zen Brettern gebaut war, auf die rote Streifen gemalt waren. Xha Vehap war ein gutherziger Mann, der nie mit uns schimpfte. Er war Angestellter, «Schreiber», vermutlich bei der Verwaltung. Er hielt sich gut und [S. 218] war stets sehr ordentlich gekleidet. Ich erinnere mich, dass er ursprünglich einen roten Fes getragen hatte, den er dann wegwarf und durch eine schwarze Kappe ersetzte. Xha Vehap hatte eine ganze Reihe Töchter. Von den zweien, an die ich mich erinnere, hieß die eine Ruho und die andere Safo. Safo war die jüngere, sie war meine Kameradin und spielte mit uns Jungen mit Hasel- und Baumnüssen. Ruho war älter, sie war die Freundin von Haxho. 535 Später wurden Vehap auch ein oder mehrere Jungen geboren; das weiß ich nicht mehr, weil wir in einen anderen Stadtteil umzogen. Am originellsten war das Haus von Xha Nuro Çanole. Um dorthin zu gelangen, musste man zuerst ein paar Stufen erklimmen und ein großes Tor mit zwei schweren hölzernen Flügeln aufstoßen, die von innen mit Riegeln und Türbalken verschlossen wurden. «Den Räuber, der hier einbricht, möchte ich sehen!», sagte Bedun, der Sohn von Nuro Çanole. Bedun war mein Spiel- und Schulkamerad in der Grundschule. Er war verunstaltet, körperlich aber sehr stark. Bei Ringkämpfen bezwang er uns regelmäßig und warf uns zu Boden. Xha Nuro war ein Mann in fortgeschrittenem Alter, mit grauem Haar, grauem Schnauzbart und einer schwarzen Kappe. Sein Gesicht war dunkel und sonnengegerbt, seine Hände kräftig und voller Schwielen. Offenbar arbeitete er [S. 219] sowohl auf dem Brachland als auch in Levend, 536 er mähte Gras. Er muss auch Hirte gewesen sein, denn in seinem Haus hielt er drei Ziegen und einen Ziegenbock. Den Bock hatte er auf den Namen «Tare Liço Karabin» getauft. Das spielte auf Xha Tare an, einen kriecherischen Hodscha, der ein Bärtchen genau wie der Ziegenbock trug. Mit Bedun trieben wir die Ziegen bisweilen zum Weinberg der Familie Zeko, wo wir sie weiden ließen und selbst Kirschen naschten, wenn wir welche fanden. Das Haus von Xha Nuro Çanole gefiel mir ausnehmend, denn es sah aus wie ein dörfliches Haus. Man betrat es durch das große Tor mit den beiden weißen Türbalken und stieg dann über einen kurzen, gepflasterten Weg hinauf, zwischen dessen Steinen 5 34 Pat (Plural pate): Siehe S. 84–86. 535 Haxho: Enver Hoxhas fünf Jahre ältere Schwester Haxhire. 536 Levend: Offenbar ein Toponym; eine Lokalisierung war nicht möglich.

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Unkraut spross. Beiderseits dieses Weges hatte die Frau von Xha Nuro Çanole, die offenbar ein Faible für Blumen hatte, wilde Rosen gepflanzt, rote, lilafarbene und weiße; vielleicht waren diese aber auch von selbst dort gewachsen. Diese Sorte Wildoder Heiderosen 537 machte nur einen einzigen, langen Trieb; an diesem wuchsen die Blüten, welche den Weg von Xha Nuro so schön zierten. Wenn diese Blüten verdorrten, blieb in der Mitte eine kleine Scheibe stehen, die wir «çirek» (Brötchen) nannten und aßen. Sie hatte zwar keinerlei Geschmack, aber wir aßen sie nun halt einmal. Bei den richtigen Rosen hingegen war der Boden der Frucht anders geformt und voller Härchen. Diese Hagebutten öffneten wir, zupften die Härchen heraus und stopften sie einander durch den Kragen in die Ärmel. Sie zwickten uns wie Läuse, wie Hajro Ga­ xhello, der Nachbar von Xha Nuro, zu sagen pflegte. Nach dieser Neckerei mussten wir jeweils das Hemd ausziehen und ausschütteln, weil die Härchen uns derart an den Armen juckten. Wenn man das gepflasterte Weglein hinter sich hatte, gelangte man in den kleinen Hof, der zum Haus gehörte. Er war mit Steinplatten belegt und das Häuschen selbst wirkte wie eine Schachtel. Hübsch waren die Fenster, deren hölzerne Läden mit reliefartigen Schnitzereien verziert waren. Zwischen die Läden und die Fenster stellte Beduns Mutter kleine Blechgefäße mit Blumen – roten Malven und roten und weißen Nelken – hin. Schön war auch die Haustür, aus starkem Holz und beschlagen mit Nägeln mit großen Köpfen. Außen war ein Türklopfer angebracht, den man betätigen musste, wenn die Tür geschlossen war; das Geräusch dröhnte durch das ganze Haus. Rings um das Haustor waren zur Verschönerung Töpfe mit Majoran, Basilikum und Geranien [S. 220] aufgereiht. Letztere hatten kleine, rote Blüten und dufteten sehr angenehm. Die Bewohner dieses Hauses waren einfache, unauffällige Leute, doch hatten sie feine Empfindungen, liebten die Blumen, die Natur und das Aroma des frischgeschnittenen Heus, das Xha Nuro als Wintervorrat für die Ziegen im Heuschober lagerte. Diese Ziegen waren sein Leben. Ihr Stall, der zugleich als Küche diente, befand sich außerhalb des eigentlichen Hauses. Wenn wir hungrig waren, gingen wir dorthin und baten Beduns Mutter um ein Stücklein Brot. Sie gab uns dann jeweils einen Kanten Maisbrot und halbierte eine kleine Zwiebel, die sie uns anstelle von Käse reichte. So waren die einfachen und arbeitsamen Leute, zu denen auch Xha Bejko Gaxhello zählte. Bejko arbeitete mit Ochsen, er transportierte Wasser, brachte das Heu von den Feldern und den Mais der Leute zum Mahlen in die Mühle von Xha Dino Çiço. Wenn er dorthin kam, wartete er, bis er an die Reihe kam; gegenüber den Besitzern des Maises 537 Im Original «trëndafili i egër», Wildrose. Welche botanische Varietät hiermit und etwas weiter unten mit dem Terminus «trëndafili i butë» (behelfsmäßig übersetzt als «richtige Rose») gemeint ist, ließ sich nicht eruieren. Interessant ist, dass für die Neckerei mit den juckenden Hagebutten bei uns Wild- oder Hundsrosen verwendet werden, im Text von Enver Hoxha aber die Früchte bzw. Hagebutten «richtiger» Rosen.

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war er verantwortlich, dass die Söhne von Xha Dino ihn korrekt mahlten. Bejko Ga­ xhello hatte mehr als zwei Ochsen und er hielt sie gut, schließlich verdiente er mit ihnen seinen Lebensunterhalt. Wenn er mit seinem Gespann das Kopfsteinpflaster oder ein Sträßchen mit Steinen herunterkam, machten seine Tiere einen derartigen Lärm, dass die Wendung «so laut wie die Tiere von Bejko Gaxhello» sprichwörtlich geworden war. Wenn wir Kinder auf der Straße spielten und einander nachrannten, machten wir ebenfalls so großen Lärm, dass die Erwachsenen uns mahnten: «Was ist nur los, Jungs, ihr seid ja schlimmer als die Tiere von Gaxhello!». Xha Bejko war ein groß gewachsener älterer Mann mit einem weißen Haarschopf. In jungen Jahren muss er sehr stark gewesen sein, denn auch im Alter, als ich ihn kannte, stemmte er noch Säcke und hievte sie auf sein Pferd. Das Haus von Xha Bejko war anders als jenes von Xha Nuro. Es war umgeben von einer großen Mauer aus Lehm. Der Zugang erfolgte durch ein großes Tor ohne Türflügel. Von hier aus sah man zur Linken das Haus, ein langgezogenes Gebäude mit zwei Geschossen; unten befanden sich die Stallungen, oben die Wohnräume. Xha Bejko hatte einen Sohn, Hajro. Er war älter als ich, aber bedauernswert: Nicht nur sah er mit einem Auge nichts, es war auch ganz weiß. Aber auch das andere, das sogenannt bessere, funktionierte nicht richtig. Um jemanden zu sehen und zu erkennen, musste er die Hand vor die Augen halten und mit ihr das obere Augenlid anheben. Seine unteren Augenlider [S. 221] waren gerötet und hingen herab; sein Gesicht war entstellt und sah fürchterlich aus und seine Hüfte war gebrochen. Hajro hinkte und hielt beim Gehen eine Hand über die Augen und die andere ans Kreuz. Ein Bein zog er hinter sich her und seitlich stand ihm auf der einen Seite der Hüftknochen gruselig hervor. Er war ein geplagter Mensch, der mir umso mehr leidtat, als er mausarm war. Er war in Lumpen gekleidet und trug auf dem Kopf einen ursprünglich weißen Fes, der vor Schmutz ganz schwarz geworden war. Manchmal ging er auch auf den Markt. Er verlangte von niemandem etwas, und keiner von uns hätte ihn je verspottet. Im Gegenteil: Alle halfen ihm. Hajro kannte mich und sagte zu mir: «Sohn des Mullahs, geh zur Schule, denn ich, du siehst es ja, bin elend dran und könnte weinen.» «Soll ich dir ein Gedicht vortragen, Hajro?», fragte ich ihn eines Tages, «Es ist ein schönes Gedicht.» «Sehr gerne, Sohn des Mullahs, das wäre eine Wohltat», entgegnete er. So setzten wir uns auf die Bank vor dem abgebrannten Haus der Ajdins und ich rezitierte Hajro «Die Kerze» von Naim Frashëri. 538 Er hörte mir zu, die eine Hand immer vor den Augen, und sagte mir am Schluss: «Könnte doch auch ich wie diese Kerze verbrennen, Sohn des Mullahs! Wie soll ich denn das Leben lieben, Krüppel, der ich bin.» 538 «Die Kerze» von Naim Frashëri: Siehe S.  190 f.

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Genau in diesem Moment, daran erinnere ich mich, als sei es gestern geschehen, genau in diesem Moment trat Xha Neim Fino aus seinem Haus. Er war schlank, ziemlich groß, trug die weiten Kniehosen der Bauern, dazu eine Weste und einen schwarzen Filzumhang über einer Schulter. Ich erhob mich und ging zur Bank, auf die er sich gesetzt hatte, um ihm die Hand zu küssen. «Was erzählst du Hajro?», fragte mich Xha Neim. «Ich sage ihm ein Gedicht auf», antwortete ich, «weil er mir so leidtut». «Vergiss es, Junge», entgegnete er, «Was bringt das Hajro? Woher soll er den Verstand für solche Dinge haben? Hajro versteht nicht mehr als Xhemal, mein eigener Verrückter.» «Nein, Xha Neim», entgegnete ich, «Hajro versteht das sehr wohl und weint, wenn er es hört.» «Er weint», sagte Xha Neim, «weil er fast blind ist. Aber bist du auch fähig Hadër 539 zu helfen, seinem Maultier Heu vorzuwerfen?» Xha Neim war ein kluger Mann, der uns nie anfuhr. Sein jüngerer Sohn, Murat, war mein Freund [S. 222] und Klassenkamerad. Wenn wir vom Spiel auf dem Shesh i Xhepit müde waren, gingen wir zur langen Hofmauer bei der hölzernen Hoftür von Xha Neim. Gegenüber dem großen Tor lag das zweistöckige Steinhaus. Es hatte ziemlich kleine Fenster und «eher mickrige» Türen, wie die Frau von Xha Neim sagte, eine Alte mit schwarzen Pluderhosen und einem schwarzen Kopftuch. Vor die Fenster hatte sie Blechdosen mit den gleichen Blumen gestellt, wie man sie bei fast jedem Haus in Gjirokastra fand: Malven, Nelken, Basilikum. Murats Mutter schenkte uns Äpfel und Mandeln zum Bajramfest. Xha Neim hatte, wenn ich mich nicht irre, zwei weitere Söhne und eine Tochter. Der ältere Sohn, Xhemal, war etwas behindert und hatte so seine Schrullen. Wenn er das Haus betrat, brüllte er: «Ich will zu essen!» und wenn er an Murat und mir vorbeiging, versetzte er uns von hinten je einen Fußtritt. Manchmal realisierte er, wer ich war, dann verkündete er: «Dem Mullah Hysen» – gemeint war Baba Çen – «hab ich’s gezeigt! Ich hab ihn gezwungen zu sagen ‹Möge mir meine Frau sterben›.» Xhemal mochte es nicht, wenn man ihn bemitleidete. Wenn jemand ihn «armer Xhemal» nannte, verfolgte er ihn mit seiner ganzen Tollheit und zwang ihn zu sagen «Möge mir meine Frau sterben; ich sage das nie mehr». Baba Çen foppte ihn manchmal; wir Kinder taten das nie, denn er hätte uns verprügelt. Der andere Sohn von Neim war Hadër. Wir nannten ihn «der Blinde», weil eines seiner Augenlider herabhing und gerötet war, wie diejenigen von Hajro Gaxhello. Hadër konnte sehr schön auf labische Art singen und war ausnehmend stark. Einen Sack oder ein Wasserfass hob er wie eine Feder hoch und warf sie aufs Pferd, denn ein solches hatte Xha Neim. Hadër befasste sich mit der Landwirtschaft. Seine Familie 539 Hadër: Der blinde Sohn von Xha Neim, siehe unten.

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besaß ein paar Dutzend Aren Ackerland, 540 wo Hadër Tabak und Mais anbaute und Gras mähte. Schon vor Tagesanbruch, so erzählte mir sein Bruder Murat, ging er in die Äcker und kehrte erst spätabends zurück. Er war ein wahrer Held; mit ihm konnte es keiner im ganzen Viertel aufnehmen. Mich und Murat nannte er die «Fledermäuse» oder die «Griffel-Herrchen». 541 «Wir werden schon sehen», sagte er, «was die gelehrten Herrschaften leisten werden. Kommt doch mal hierher und haltet mir die Ladung für das Pferd, aber ohne Geschwätz.» Und Murat und ich hielten die Säcke mit unseren Armen, bis Hadër sie zum Aufladen zusammengebunden hatte. Wenn das Pferd etwas fallen ließ – ich meine, hinten –, dann [S. 223] sagte Hadër uns: «Los, sammelt das auf und werft es auf den Haufen beim Vordach; das macht uns guten Mais». Ich war damals noch klein und verstand nichts vom Düngen, deshalb sagte ich zu Murat: «Dieser Hadër scheint mir ebenso zu spinnen wie Xhemal; wie soll denn Pferdemist Mais machen?». Worauf Murat, der sich besser auskannte, mir die Sache erklärte. Xha Neim hatte ein Café beim Zugang zum Marktplatz, gerade bevor man zur Ura e Gegës kam. Das Café bestand aus einem Raum, zu dem man über eine Treppe mit einem hölzernen Geländer gelangte. Dort trafen sich die alten Männer, um zu trinken oder Kolicia 542 zu spielen. Auch mein Vater ging bisweilen in dieses Café, allerdings trank oder spielte er niemals. Er war sparsam und hatte kein Geld für solche Dinge, zugleich konnte er die Trunkenbolde und Spieler nicht ausstehen. Xha Neim erzielte mit diesem Café ein kleines Einkommen, aber in erster Linie lebte er von dem, was Hadër erwirtschaftete. Wie alle Gjirokastriten war er sparsam, aber nicht knausrig. Jedem Gast reichte er seine blecherne Tabaksdose und forderte ihn auf: «Dreh dir eine; das ist guter, starker Tabak!» Diesen Tabak hatte Hadër angebaut und Hasip Kullumbi hatte ihn mit der Schneidemaschine fein geschnitten. Xha Hasip war ein Mann in mittleren Jahren, kräftig, mit gerötetem Gesicht und mächtigen Händen. Seine Handteller waren voller Furchen, die immer schwarz blieben, obwohl er sie wusch. Ihm gehörte ein kleines, steinernes Haus mit hölzernen Fensterstürzen mitten in einem kleinen Baumgarten, in dem ein paar Feigen-, Zürgel-, Judas- und Bergpflaumenbäume standen. Die Hofmauer von Xha Hasip grenzte an die Grundstücke der Familien Hasani, Fino, Çipi und Ajdin. Ich mochte dieses Häuschen sehr gerne. Nachdem man einen kleinen Abhang heruntergegangen war, gelangte man zu einer Treppe, die ins große Gastzimmer, die Oda e madhe, und ins Winterzimmer, das Pat, führte. Unter der Treppe mit ihrem Gewölbebogen und der 540 Im Original: ‹disa stremë ara (Äcker)›. ‹Stremë› ist ein altes Feldmaß, das ca. 10 Aren (1000 m 2) bezeichnet. 541 Fledermaus: ‹lapurakë› kann auch ‹Nacktschnecke› oder ‹mit ungefiedertem Hals› bedeuten. Griffel-Herrchen (Efendilerë të kalemit): kalem kann sowohl (Schreib-)Griffel als auch Lesen und Schreiben bedeuten. 542 Kolicia: Ein vor allem von älteren Männern gespieltes Brettspiel in der Art von Tricktrack oder Backgammon.

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kleinen Terrasse oben, wo die Haustür war, gab es eine kleine Tür, die zur Werkstatt von Xha Hasip führte. Oben bei der Treppe gab es auch einen Zugang zum Garten. Dort hatte Xha Hasips Mutter Dilo, eine sanftmütige und freundliche alte Frau, einen Blechkanister mit einem Wasserhahn an die Mauer gehängt, wo sich Xha Hasip und die anderen Fami­ lienangehörigen jeweils die Hände wuschen, bevor sie ins Haus traten. Das silberklar fließende Wasser holten Teto Dilo und Hasips Frau mit Krügen beim Wasserhahn der Hasanis [S. 224] oder bei Xha Neim. Xha Hasip leitete dieses Wasser dann über eine Rinne zu zwei, drei Gartenbeeten mit Zwiebeln, Gartenmelde und zartem Salat, den er im Garten pflanzte. Den Boden für dieses Gemüse lockerte Teto Dilo mit einer Hacke, weil Xha Hasip mit anderen Arbeiten beschäftigt war. Xha Hasip packte jede Aufgabe an; er war ein wahres Arbeitstier. Zur Zeit der Heuernte mähte er das Gras für die Agas, erntete den Mais, sammelte den Tabak der Hasanis in Pesjak 543 ein und zerkleinerte mit seiner Schneidemaschine Tabak. Nie habe ich ihn betrunken oder am Streiten gesehen; er war ein Mann der Arbeit. Ich mochte ihn sehr, zumal er seine Mutter, Teto Dilo, liebte und respektierte. Seine Tabakschneidemaschine stand in einer Ecke der Scheune, er schützte sie mit einer Wolldecke und schärfte das Schneidemesser oder die Klinge vor jedem Einsatz. Diese funkelte denn auch wie Silber. Ich habe Xha Hasip zugeschaut, wenn er Tabak schnitt. Dazu hob er zuerst das Schneidemesser an und legte dann die getrockneten Tabakblätter lagenweise hin. Sobald eine Lage an der Reihe war, füllte er seine Backen mit Wasser und blies dieses – puuf! – auf die Tabakblätter, um sie wie mit Regentropfen anzufeuchten. Dann legte er etwas auf die Blätter – vielleicht eine Steinplatte, vielleicht ein Stück Eisen, ich weiß es nicht mehr – kniete darauf, um noch mehr Druck zu geben und die Blätter zu brechen, und dann begann – tak – tak – tak – die Arbeit mit dem Schneidemesser. Diese Arbeit erforderte handwerkliche Meisterschaft, und ein Meister war Xha Hasip in der Tat. Haardünn kamen die Tabakblätter aus seiner Schneidemaschine; das fiel mir schon damals auf. Klein, wie ich war, fragte ich ihn: «Xha Hasip, warum schneidest du die Blätter derart fein?» «Alles, was man macht, soll man mit Sorgfalt tun, Junge. Nimm diesen Ratschlag als mein Geschenk, Enver. Wenn du eine saubere und korrekte Arbeit machen willst, musst du sie gut vorbedenken und darfst während der Arbeit nicht nervös werden. Hab Geduld, denn anders verdienst du dein tägliches Brot nicht. Wenn ich den Tabak schlecht schneide, bezahlt mir Vehip Hasani meinen Lohn nicht.» Wenn ich jetzt an dich denke, Xha Hasip, du ehrenhafter Arbeiter, kommt es mir vor, als sei ich erst gestern mit einem 10-Kilo-Sack voll Tabakblätter zu dir gekommen. Die Großmutter hatte mich geschickt, damit du den Tabak schneidest; zu dir sollte ich gehen, weil dein guter Ruf bis nach Hazmurat gelangt war. [S. 225] Nach zwei, drei 543 Pesjak: Flurname im Dorf Asim Zeneli im Kreis Gjirokastra.

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Tagen kam ich, um den Tabak zu holen; du hattest ihn perfekt geschnitten. Ich fragte dich: «Wie findest du diesen Tabak, Xha Hasip?» «Mittelmäßig», sagtest du, und dann noch Folgendes: «Junge, fang nie an zu rauchen, denn Tabak ist Gift.» Und du zeigtest mir deine schwarzen Hände und sagtest: «Schau hier, Junge, wie schwarz meine Hände geworden sind. Genauso schwarz färbt der Tabak auch deine Lungen.» Als ich noch jung war, Xha Hasip, habe ich deinen kostbaren Ratschlag beherzigt; aber später, als die Sorgen zunahmen, vergaß ich ihn. Genau damals hätte ich mir zu Herzen nehmen müssen, was du mir gesagt hattest, stattdessen hörte ich links und rechts Sprüche wie «Wenn Jungen Männer werden, rauchen sie und der Tabak vertreibt ihre Sorgen». All das waren Lügen, Xha Hasip. Du, ein Mann aus dem Volk, du hattest recht; ich aber musste 65 Jahre alt werden, bevor ich davon loskam! Wer weiß, wie viele Jahre inzwischen seit deinem Tod, dem deiner Mutter und deiner Gattin vergangen sind; ich weiß auch nicht, ob du Kinder zurückgelassen hast. Wenn ja, so leben diese heute glücklich im Sozialismus, sind gewiss auch schon alt und tragen sicher Erinnerungen an dich im Herzen. Denn auch ich, wenn ich heute über dich schreibe, erinnere mich intensiv an dich, erinnere mich auch an jenen Tag, als ich dir das Geld aushändigte, das mir die Großmutter als Lohn für deine Arbeit mitgegeben hatte. Mit hochgekrempelten Ärmeln hast du damals den Sack aufgehoben und mir auf die Schultern geladen, gabst mir einen Klaps auf die Schulter, strichst mir übers Haar und sagtest: «Grüße mir die Teto Hasije!». Meine Großmutter war sehr zufrieden mit der Arbeit von Xha Hasip. Sie füllte einen oder zwei Blechkanister mit dem Tabak und wenn Besuch kam, setzte sie diesem eine Tabakdose und Zigarettenpapier vor. Eines Tages wurden wir in aller Eile benachrichtigt, dass jetzt dann gleich die Gendarmen, respektive die für die Registrierung des Tabaks zuständigen Polizeibeamten kommen würden. Meine Großmutter war eine stämmige Person, die sich nicht über den Tisch ziehen und von der Gendarmerie um ihren Tabak bringen ließ. Rasch holte sie die Kanister mit dem Tabak, öffnete ein Fenster, das auf ein dunkles und enges Gässchen zwischen unserem Haus und dem von Bastri Çuçi ging und schickte sich an, den Tabak dorthin zu schütten. Dieses Gässchen war allerdings schmutzig, weil wir Kleinen, wenn wir am Spielen waren, unser Geschäft einfachheitshalber dort statt am passenden Ort im Haus erledigten. Deshalb rief ich: «Nicht, Großmutter, da unten ist es voller Schmutz!» [S. 226] Sie wies mich zurecht: «Geh weg; ich lass mir meinen Tabak nicht nehmen und mag auch keine Buße bezahlen.» So wurde der Inhalt der Kanister auf das Gässchen geleert. Die Gendarmen mussten unverrichteter Dinge abziehen, weder hatten sie etwas gesehen noch gefunden. Als die Kontrolle zu Ende war, gingen wir hinunter und sammelten den Tabak ein – scharf beobachtet von der Großmutter, damit wir ja nicht noch etwas anderes auflasen. Als wir fertig waren und den Tabak hineinbrachten, fasste ich zwei tüchtige Ohrfeigen von

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der Großmutter. Das kam ganz unerwartet, denn so etwas hatte sie noch nie getan. Ich sperrte die Augen auf und die Großmutter schimpfte: «Was schaust du so? Diese Watschen habt ihr, du und dein Cousin Sado, als Pfand dafür, dass ihr mir nie wieder die Gärten und die Gassen schmutzig macht. Ich will, dass ihr saubere Jungen seid!» Auch diesen Ratschlag der Großmutter vergaß ich nie mehr. Sätze wie «Sauberkeit ist Gesundheit, sie bekämpft die Mikroben und Krankheiten» oder «Alte Kleider zu haben, ist keine Schande; aber sauber sollst du sie halten und deinen Körper waschen», prägte mir auch meine Mutter immer wieder ein. «Schau, dass du niemals nach Schweiß riechst.» Das beste Vorbild für Einfachheit, Sparsamkeit und Sauberkeit war bis zu ihrem Tod die Mutter selbst. Und desgleichen mein Vater, vor allem, was die Einfachheit, Redlichkeit und Korrektheit im Umgang mit anderen Leuten anging. Dies sind unschätzbare Schätze, die ich von meinen Eltern und von den arbeitsamen Menschen aus dem Volk, mit denen ich in meiner schönen Kinderzeit zusammen war, mitbekommen habe und hüte. Und ich bin der Meinung, dass diese Schönheit sich auch in dem spiegelt, was ich jetzt über diese Menschen und ihre Tugenden schreibe, die meine Erinnerung buchstäblich überfluten. Ach, da fällt mir noch ein weiterer Freund aus meiner Kindheit ein, Emin Shtino. Er war der Sohn von Alo, meiner Tante mütterlicherseits aus der Familie Nishani, der Schwester meines verehrten Kriegsgenossen Doktor Omer Nishani. Omer Nishani war ein demokratisch gesinnter Patriot, Außenminister der Provisorischen Demokratischen Regierung, die wir nach der Befreiung installierten, und später bis zu seinem Tod Präsident des Präsidiums der Volksversammlung. 544 Teto Alos Mann war gebildet und zeichnete sich durch seine Kenntnisse der arabischen Philosophie aus; er unterrichtete an der [S. 227] Medrese, der islamischen Hochschule von Gjirokastra. 545 Diese befand sich in einem langen einstöckigen Gebäude mit einer Reihe von Säulen und Rundbögen aus roten Ziegeln. Die Medrese hatte ein kühles Vestibül, in dem man im Sommer den Bach riechen konnte, der unterhalb des Hauses der Familie Xheneti durchfloss und Wasser und Steine durch den ganzen Stadtteil Varosh transportierte. Hier unterrichtete Shuaip Shtino Philosophie. Nahe der Medrese lag auch das Grab unseres Vorvaters Beqir Hoxha. 546 Diese Medrese mit ihrer feinen und schönen Architektur war über dem einzigen Brunnen des Marktes von Gjirokastra errichtet, beim kleinen Platz, wo der der Vater meines Schulkameraden, Osman Kuçuku, ein kleines Café führte. Hierhin gingen unsere Alten, 544 Omer Nishani (1887–1954): 1944 Vorsitzender des aus 188 Personen bestehenden Antifaschistischen Rats der nationalen Befreiung, 1944–1946 Außenminister, 1946–1953 Präsidiumsvorsitzender der Volksversammlung und damit Staatsoberhaupt Albaniens. 545 Gemeint ist vermutlich die 1727 erbaute Medrese bei der Basar-Moschee. 546 Vorvater (im Original: plaku, der Alte) Beqir Hoxha: Gemeint ist höchstwahrscheinlich Enver Hoxhas Großonkel, siehe S. 115, 177 f., 272. Siehe zu ihm auch Myftaraj (2008), S. 39 f.

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um einen Kaffee und ein Glas kaltes Wasser von Sopot 547 zu trinken. Die Agas von Gjirokastra und die Beamten von Ahmet Zogu haben diese Medrese abgerissen. Und was haben sie stattdessen an diesem Platz gebaut? Sie rissen die Schule ab und errichteten ein Schlachthaus, gerade unterhalb des Hauses von Adem Bej. Doch zurück zu unserem Thema! Wenn ich so dasitze und die Straßen, Häuser, Winkel und Treffpunkte von Gjirokastra beschreibe, die ich so liebte und die mir unvergesslich sind, laufe ich nämlich immer Gefahr, mich von den Erinnerungen mitreißen zu lassen und mich in ihnen zu verlieren. Zurück also zu den Menschen, zu Teto Alo Shtino. Ihr Sohn, mein Freund Emin Shtino, war einige Jahre älter als ich. Er war einer der besten Lehrer der jungen Generation, 548 gebildet, aufgeweckt und humorvoll wie schon seine Mutter. Er hatte noch einen jüngeren Bruder, Ferik, auch dieser war Lehrer und ist inzwischen pensioniert. Teto Alo war eine beeindruckende Frau, die fraglos schon in ihrer Jugend eine gute Bildung und Erziehung genossen hatte, eine intelligente Frau, die sich nicht übers Ohr hauen ließ, bekannt für ihren Scharfsinn und ihren feinen Humor, der nicht selten recht bissig sein konnte. Eines Tages, als ich von Frankreich zurückgekehrt war, erwähnte ich im Gespräch mit Emin, dass ich seiner Mutter einen Besuch abstatten wolle. Emin fragte mich: «Kennt dich Alo denn?» Worauf ich ihm entgegnete: «Sie hat mich vermutlich gesehen, als ich ein Kind war und zu den Höhlen des Shamanja-Bachs ging, um [S. 228] Teekräuter zu sammeln. Inzwischen bin ich ein Mann und sie hat mich nicht mehr gesehen, deshalb möchte ich sie besuchen.» «Weißt du, weshalb ich dich gefragt habe?», sagte Emin. «Nein», antwortete ich. «Wenn du sie besuchst, stelle ich dich als Doktor vor und dann treiben wir etwas Spaß mit der alten Frau. Sie liebt das und kann kaum genug davon kriegen. «Einverstanden», sagte ich und ging sie dann tatsächlich besuchen. Sie wohnte in einem typisch gjirokastritischen Haus, das am Felshang zu kleben schien. Wenn man das Tor öffnete, dessen Bretter mit Nägeln mit großen Köpfen besetzt waren, gelangte man direkt in den Hof. Der hintere, obere Teil des Hauses war zwei, drei Meter hoch, der vordere oder untere aber, bei der Eingangstür, erhob sich gut zehn Meter über den Boden. Wenn man bei dieser Art Häuser den Pflasterweg mit dem Gras zwischen den Steinen hinunterging, sollte man sich nicht zu früh freuen: So viele Meter, wie man 547 Sopot: Dorf im Kreis Elbasan, wo sich der Wasserfall des Flusses Gostima befindet. Das Wasser gilt als heilkräftiges Thermalwasser. 548 Emin Shtino: Lehrer an der 1913 eröffneten Schule in Lushnja, arbeitete später offenbar (als Inspektor?) im Bildungswesen des Kreises Berat. Im Bildband «Enver Hoxha 1908 – 1985. Jeta dhe Vepra» (Hg. Instituti i Studimeve Marksiste-Leniniste pranë KQ të PPSH, 1986) ist er auf S. 35 auf einer 1936 in Gjirokastra aufgenommenen Fotografie zusammen mit Enver Hoxha abgebildet.

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hinunterging, so viele Stufen würde man hinaufklettern müssen, um ins Gastzimmer zu gelangen! Hier also traf ich die alte Teto Alo. Emin kündigte mich als Arzt aus Vlora an. Sie küsste mich zur Begrüßung. Auch ich küsste ihr die Hand und sagte ihr, ich hätte den Beruf ihres Bruders, Dr. Omer, gewählt. «Nimm den Namen von Omer nicht in den Mund», sagte Alo, «sonst werfen dich die Spione von Ahmet Zogu ins Gefängnis.» Dr. Omer war Antizogist, politischer Flüchtling und gab zusammen mit Halim Xhelo die Zeitung «Liria kombëtare»549 heraus. Nach allerlei Vorgeplänkel über das Wetter und den Wind hatte ich Teto Alo dort, wo ich sie wollte und fragte sie scheinbar beiläufig, wie es ihr gesundheitlich ginge. Sie antwortete: «Ach, ich bin eine alte Frau und habe Schmerzen in den Beinen und manchmal auch Mühe mit dem Atemholen.» «Völlig klar», sagte ich. «Auch ohne dich näher anzusehen, könnte ich mir denken, was du hast, aber schauen wir dich mal an!» Alo fixierte mich mit ihrem Blick und sagte bedächtig zu Emin: «Dieser Doktor ist aber wirklich sehr ungezwungen.» «In der Tat, so ist er», erwiderte Emin sehr ernsthaft. Teto Alo, die beim Kamin auf ihrem Sitzkissen saß, forderte mich auf: «Gut denn, so schau mich mal an.» «Knöpf deine Bluse auf und mach deine Brust frei», sagte ich, «damit ich dich abhören kann». [S. 229] Teto Alo kam der Aufforderung nach, und ich fasste sie um die Mitte und drückte mein Ohr an ihren Brustkasten. Worauf sie sagte: «Was drückst du mich so? Hast du kein hölzernes Hörrohr wie jeder Arzt?» «Was für ein Hörrohr denn!», entgegnete ich, «Das ist etwas für schwerhörige Ärzte wie Doktor Selo; 550 ich habe Ohren wie ein Luchs! Im Übrigen ist alles in Ordnung; löse jetzt den Gürtel der Pluderhosen, damit ich deinen Bauch untersuchen kann.» Teto Alo runzelte die Stirn und warf mir einen misstrauischen Blick zu. Dann sagte sie zu ihrem Sohn: «Was ist denn das für ein Arzt, den du mir da gebracht hast? Was meint der eigentlich, wer ich sei?» Emin konnte sich kaum das Lachen verbeißen und antwortete ihr: 549 Die zweiwöchentlich erscheinende Zeitung «Liria kombëtare» (nationale Freiheit) war das Organ der demokratischen Organisation im Exil (Komiteti i Çlirimit Nacional). Die erste Nummer erschien am 29.7.1925 in Genf; die Zeitung erschien unter der Leitung von Omer Nishani mit Unterbrüchen bis 1935. 550 Dr. Selo: Siehe S. 176.

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«Los, Mutter, zier dich nicht; so ist es halt Brauch bei den Ärzten.» Sehr zögerlich machte Teto Alo ein kleines Stück ihres Bauches frei. Als ich sie dort berührte, fragte sie mich: «Und den Bauch deiner Mutter, hast du den auch gesehen?» «Aber sicher doch», entgegnete ich, «sogar von innen, und das neun Monate lang!» Teto Alo riss die Augen auf und blickte verwundert ihren Sohn an, der sie fragte: «Und du, Alo, wo warst denn du, bevor du auf die Welt kamst? Etwa im Garten der Familie Nishani?» «Nein», sagte sie, «im Bauch meiner Mutter.» «Aber genau das sagt doch der Doktor!» «Ach, wer soll sich da auskennen, wenn ihr sprecht.» Nachdem ich mit meiner «Untersuchung» fertig war, verlangte Teto Alo die Medi­ kamente und das Rezept dafür. «Ich verschreibe keine Medikamente, Teto Alo», sagte ich, «weil ich nicht will, dass sich Aleks Çeçi bereichert. Ich verschreibe nur Heilmittel aus der Volksmedizin. Schicke morgen früh Ferik in die Hügel des Mal i Gjerë, 551 der ja gleich hinter eurem Haus liegt, und sag ihm, er solle Wermuth und Çaj mali 552 bringen. Lass den Wermuth stark in Wasser kochen und trinke von dieser bitteren Flüssigkeit frühmorgens. Anschließend gießt du davon in eine Trahana, 553 die du mit etwas Butter und rotem Paprika siedend heiß gekocht hast. Reibe dann etwas Käse darüber oder nimm, wenn [S. 230] das Käsefass leer ist, Salzlake und trockene Zwiebeln. Wenn du das gegessen hast, wirst du so tief schlafen, dass sich die Leute wundern werden. Am Abend trinkst du dann zwei Tassen Bergtee mit Wildspargel, wie er am Çullo-Bach wächst. Dies habe ich auch meiner eigenen Mutter verschrieben, und sie ist putzmunter.» «Junge, wie heißt denn deine Mutter?», fragte Teto Alo. «Welche Mutter meinst du: Die, die mich geboren hat oder die, welche mir die Brust gereicht hat? Die mich geboren hat, heißt Gjulo, Gjylistan, das bedeutet Rosengarten. Die mir ihre Milch gegeben hat, heißt Rabija, sie ist die Frau von Ramo Jo­ lixhi.»554 «Darum also bist du so», sagte Alo. «Wie bin ich denn?» «Dunkelhäutig.» «So ist es», entgegnete ich. «Das Blut und die Milch haben sich vermischt.» In diese Unterhaltung platzte Ferik herein, der jüngere Sohn von Teto Alo und ebenfalls mein Freund. «Willkommen, Enver», begrüßte er mich. 5 51 Mal i Gjerë: der Breite Berg, an dessen Abhang Gjirokastra gebaut ist, siehe S. 71, 104, 106. 552 Çaj mali: Bergtee. Gemeint ist das Eisenkraut (Sideritis), aus dem der Tee hergestellt wird. 553 Trahana: Siehe S. 116. 554 Rabija: Siehe S. 288 f.

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«Was denn, kennst du diesen Doktor?», fragte ihn Teto Alo. «Aber sicher doch! Wir sind ja Freunde, gehen am Sonntag jeweils zusammen zum Fluss, fangen Fische und braten sie am Ufer im Öl. Das ist doch der Sohn von Xha Halil Hoxha!» Teto Alo wandte sich zu Emin und tadelte ihn: «Oh du Gottloser, hast mich schön hereingelegt! Das bringst aber du wieder in Ordnung.» Und dann nahm die liebe Alte meine Hand, zog mich zu sich hin, küsste mich und sagte: «Und du, du wolltest wirklich, dass ich meine Pluderhosen ausziehe, he? Warte nur, ich werde Gjulo erzählen, was du mir für einen Streich gespielt hast!» Eines Nachts während des Nationalen Befreiungskampfes, als wir in Gurakuq unterwegs waren, erzählte ich meinem unvergessenen Kameraden Dr. Omer Nishani vom Spaß, den wir mit seiner Schwester Alo getrieben hatten. Omer lachte in der für ihn charakteristischen Weise laut heraus, und das Echo seines Lachens hallte vom Muzhaq-Felsen wider, der schneebedeckt im Licht des Mondes glänzte. Diese Erinnerungen gehen mir eine nach der anderen durch den Kopf: Erinnerungen an schlichte, scheinbar bedeutungslose Ereignisse, die für mich aber von großer Bedeutung sind. Es sind Ereignisse aus dem Leben, wie es sich zu jener Zeit abgespielt hatte; [S. 231] Ereignisse, die aber tiefe Eindrücke hinterlassen. Recht zu tun, was man tut, redlich zu handeln, scheint einem ganz natürlich und nichts Besonderes zu sein. Aber ich denke, dass es das Leben, der Existenzkampf ist, die uns gelehrt haben, menschlich zu denken, korrekt zu handeln, in Gemeinschaft mit anderen zu leben, einander zu helfen, die Bedürftigen zu lieben und zu unterstützen. All dies hat mit dem Volk, mit dem Boden, mit dem Vaterland zu tun. Du wirst ein Teil von ihnen, und sie werden ein Teil von dir. Recht hat das Volk, wenn es sagt: «Wir sind verbunden miteinander, so wie es das Fleisch mit den Fingernägeln ist». Warum wohl gehen mir diese Erinnerungen in Zusammenhang mit dem Volk heute so intensiv durch den Kopf? Wieso finde ich gerade jetzt, wo wir mitten in den Vorbereitungen des siebten Parteitags 555 sind und uns die Köpfe rauchen, Zeit, all das aufzuschreiben? Ich schreibe für und über mein Volk, wie auch die Vorbereitungen des Parteitags im Dienst meines Volkes sind. Das Volk ist eins und einig und unvergänglich. Ich schreibe all diese Dinge auf, weil aus diesem Volk, aus diesen Leiden, Opfern 555 Der VII. Parteitag (Kongresi i Partisë) fand vom 1.-11.  November  1976 statt. Enver Hoxha konnte aus gesundheitlichen Gründen nur den Anfang und Schluss seines Rechenschaftsberichts persönlich vortragen, der Rest wurde ab Tonband abgespielt. Inhaltlich ging es am VII. Parteitag u.a. um die weitere Revolutionierung bzw. Ideologisierung der Schule und aller Lebensbereiche; dies als Fortsetzung des Kampfs gegen Liberalismus und fremde Einflüsse, wie sie schon am VI. Parteitag 1971 und am 4. ZK-Plenum zur Kulturpolitik 1973 gefordert worden waren. Vgl. Schmidt-Neke 1993b, S. 76 und Zuzana Finger 1993, S. 536.

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und Heldentaten die Partei hervorgegangen ist und gekämpft hat. Wir sind die Söhne und Töchter dieses Volkes und wir können die Vergangenheit nicht von der Gegenwart trennen, denn aus dieser Einheit wird die leuchtende Zukunft, wird der Kom­ munismus entstehen. Links vom Shesh i Xhepit, dem «Taschenplatz», führt eine gepflegte – ich meine, eine etwas breitere, gepflasterte – Straße vorbei. Sie verengt sich dann und schlängelt sich zwischen den Haus- und Gartenmauern durch, um einen schließlich zum Platz der Moschee des Stadtteils Palorto zu bringen, in die Nähe des Hauses von Hasan Sino, dem Freund und Kollegen von Baba Çen und meinem Vater. Auf der rechten Seite dieser Straße – kurz vor dem Haus von Xha Selim Bakiri, 556 dem Sohn einer Tante väterlicherseits meiner Mutter, zu dem wir oft auf Besuch und zum Nachtessen gingen – steigt eine gepflasterte und mit Steinplatten belegte Straße an. Sie führt zu einer Reihe von Häusern, die ebenfalls der Familie Bakiri gehörten. Die Bakiris waren offenbar eine Familie, die sich im Verlauf einiger Generationen aufgeteilt hatte und deren Angehörige weitere Häuser in dieser Ecke gebaut hatten. Diese Häuser waren kleiner, sehr viel kleiner, als dasjenige von Xha Selim, dem mein Vater den Übernamen «der Swinger»557 verliehen hatte. Xha Selim verfügte nämlich über einen Trick, den mir mein Vater verraten hatte, über den ich hier aber nichts schreiben werde. Die anderen Häuser der Bakiris [S. 232] waren wie gesagt klein, sie hatten einen Sockel aus Stein und waren darüber als Fachwerkhäuser gebaut; die Innenhöfe waren mit Steinplatten ausgelegt und überall mit Blumen geschmückt. Alle diese Familien hatten wohl etwas Grund und Boden und Vieh besessen, dies aber schon früh aufgegeben. Zu einer dieser Familien ging ich bisweilen, denn ihr Oberhaupt, Xha Vehip, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, hatte zwei Söhne, Tahir und Murat, der so alt war wie ich. Beide hatte ihr offensichtlich fortschrittlicher Vater geheißen, das Schusterhandwerk zu erlernen, und beide waren denn auch gute Schuhmacher geworden. Tahir führte das Geschäft, Murat war sein Gehilfe, und daneben hatten sie noch zwei, drei Arbeiter. Tahir erwarb sich den Ruf eines ausgezeichneten Schusters, und als ich größer war, ließ auch ich meine Schuhe bei ihm machen. «Mach mir gute Schuhe», sagte ich zu Murat, «nicht solche, die mich schmerzen». «Was hast du nur; ich mache sie so gut, als wären sie für mich selbst», antwortete er.

5 56 Zur Familie Bakiri siehe S. 89, 290. 557 Albanisch «Zvingo». Der Begriff charakterisierte Jugendliche, die sich von ihrer Kleidung her an den Vertretern des Swing (einer aus den USA stammenden, damals modischen Stilrichtung des Jazz) orientierten, was nicht gerne gesehen war und als schnöselhaft galt.

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Und trotzdem drückten mich die neuen Schuhe jedes Mal. Die beiden Brüder waren hochgewachsen und sympathisch, sie lächelten fortwährend und hatten rote Gesichter, vor allem rote Backen. Etwas weiter lag das Haus von Xha Fiqo, des Vaters unserer Freundin Nebahet Bakiri. Er war ein gutmütiger Mann und ein unzertrennlicher Freund meines Vaters. Xha Fiqo wohnte zusammen mit seinem Bruder Shuqo, dem Mann der heldenhaften Keke 558 und Vater unseres Kameraden Subi. Ihr Haus war neu, langgezogen und zweistöckig; es hatte viele Fenster und eine schöne Aussicht auf den Shesh i Xhepit, den Fluss und die Felder. Unterhalb des Hauses hatte Xha Fiqo einen Garten, den man als «hängenden Garten» bezeichnen könnte, mit einer Terrasse, die unten auf einer Mauer am Anfang des Shesh i Xhepit auflag. Dann kam das Haus von Xha Huzo Bakiri. Ob Xha Huzo Söhne oder Töchter hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls war er ein liebenswürdiger alter Mann, ein Hirte mit weißem Haar, einem wollenen Unterhemd und einem Hemd mit weiten Ärmeln. Seine Frisur war wie die von Xha Faro Hoxha, mit einem langen Haarschopf mitten auf dem Kopf, dazu trug er einen weißen Hängeschnauz. Wenn man zu Xha Huzo wollte, musste man zuerst das große Hoftor aufstoßen. Dieses gab, wenn man es öffnete und schloss, einen langen Klagelaut von sich, der an einen Kranken erinnerte, der seit Jahren auf seinem Siechenbett leidet. Xha Husos Haus war interessant; es bestand aus Steinen und Fachwerk, das nicht mit Farbe gestrichen war. Das Dach war selbstverständlich mit Steinplatten aus Manalat 559 gedeckt, die Vordächer [S. 233] waren breit, sie wurden von Balken mit einer ellbogenförmigen Zusatzstütze, ebenfalls aus Holz, getragen. Die Fenster hatten reliefartig geschnitzte Holzrahmen wie jene von Xha Nuro. Bei Xha Huzo holten wir jeden Tag anderthalb Oka 560 Kuhmilch; sie war für Baba Çens Tochter Bale bestimmt, die schwächlich war. «Los, Junge», pflegte Xha Huzo zu sagen, «gib mir die Kanne; gerade habe ich Kuqo561 gemolken». Kuqo war der Name der Kuh. Jedes Mal, wenn ich Milch holte, machte Xha Huzo eine Kerbe in den «Araush», 562 den er dann in eine Nische bei der Tür verräumte. Zu gegebener Zeit bezahlte ihm Baba Çen das geschuldete Geld. Ging man den Weg von den Hasanis zur Gasse hinunter, die zur Straße von Tile Sherifi führte, wurden die Schuhe vor lauter Steinen ganz schmutzig. Wie viele Steine lagen zu jener Zeit auf den Straßen herum! Nicht umsonst nennt man Gjirokastra auch die Stadt des Steins: Aus Stein bestanden die Hausmauern, die Dächer, die Garten5 58 Keke Bakiri: Angaben zu ihr waren nicht zu eruieren. 559 Steinplatten (dërrasa) aus Manalat: Siehe zu ihrer Herstellung S.  252 f. Manalat war ein Stadtteil im Süden von Gjirokastra, siehe S. 71 f., 90, 106, 180. 560 1,5 Oka = 2,1 Liter. 561 Kuqo: die Rote. 562 Fußnote im albanischen Original: Siehe die Erklärung des Autors auf S. 259 dieses Buchs.

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mauern, die Windfänge, die Hofmauern, die Straßen. Wir lebten in Steinen, auf und unter Steinen, wir fühlten uns sicher mit all den Steinen und hatten keine Probleme mit ihnen – vor allem wir Kinder und Jugendlichen, die wir die Steine mit den Spitzen unserer genagelten Schuhe wegkickten, als wären es Gummibälle … Die Gasse, die sich dahinschlängelte, war gesäumt von einigen Toren mit Steinbänklein davor. Das waren die Häuser der Familie Dobi. Wer waren diese Dobis? Was arbeiteten sie? Wovon lebten sie? Das habe ich nie erfahren, und ich kam auch nie in eines ihrer Häuser, denn mit dieser Familie verband uns nichts. 563 Wenn man unten die alte und schöne Straße überquerte, auf der auch keine Steine herumlagen, kam man zum Haus von Tile Sherifi, einem reichen Viehhalter. Er hatte viele Söhne und Enkel, die später zur Partei stießen und Partisanen wurden. An Xha Tile kann ich mich gut erinnern. Er war ein großer alter Mann, wohlbeleibt und mit gerötetem Gesicht, mit einem weißen Fes, einem Haarschopf und einem langen, weißen Schnurrbart. Dazu trug er die traditionellen weißen Kniehosen und weißen Wollstrümpfe, ein weißes Hemd mit weiten Ärmeln und offener Brust und über den Schultern einen weißen Wollumhang. Alles an diesem Mann war weiß wie der Käse, den er in seinem Stall herstellte und auf Bestellung hin in einem Beuteltuch verkaufte. Baba Çen und Tile waren Freunde. Ich weiß nicht, was für ein Herz Xha Tile hatte, aber ich weiß noch, dass er uns, als unser Haus abbrannte [S. 234] und wir nichts mehr hatten, ein Pferd schickte, an dessen Sattel eine stattliche Anzahl von Beuteln mit Weichkäse hing. Das war ein Geschenk und eine Hilfe, die uns Xha Tile in der Zeit unseres Unglücks zukommen ließ. Ich erinnere mich auch, wie meine Mutter die Beutel aufschnitt, den Käse salzte, ihn in ein Fass legte und einige weiße, große Pflastersteine als Beschwerung darauflegte. Dann schloss sie das Fass mit einem Deckel und tünchte es mit einer Art Brei aus Kalk und Wolle. Geöffnet sollte es erst werden, wenn der Käse gut vom Salz durchdrungen war. Wann das der Fall sein würde, entschied die Mutter; ihr oblag das «Kommando» über das Käsefass. «Öffne das Fass, Schwiegertochter», forderte Baba Çen meine Mutter auf, «die Kinder wollen Käse». «Nein, Mullah», erwiderte die Mutter, «er ist noch nicht genügend salzig. Wenn wir uns jetzt schon dahintermachen, werden wir ihn bald aufgebraucht haben.» So schauten wir das Fass halt eine Zeitlang mit schiefem Blick an und verloren es nicht aus dem Blick. Aus der Ecke, in der es stand, schien es uns spöttisch zuzuzwinkern und uns zu foppen. Wir versetzten ihm dafür den einen und anderen Fußtritt und sagten ärgerlich: «Warte nur, wir kriegen dich und werden alles aufessen, was

563 Das Geschlecht Dobi (die Dobatët) zählt zu den alten und großen Familien von Gjirokastra. Die Mutter des Schriftstellers Ismail Kadare, Hatixhe, war eine geborene Dobi. Heute leben die meisten Angehörigen dieser Familie in Tirana, viele auch in der Migration.

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du im Bauch hast, sogar die Salzlauge, die werden wir über die warme Trahana 564 gießen, wenn uns die Mutter welche zum Frühstück macht!» Wenn man die Straße bei Tile Sherifi überquert hatte, gelangte man zum [S. 235] Zeman-Platz. Meine Schwester Sano, die dieser Tage in Gjirokastra war, sagte mir: «Enver, ich konnte zwar selbst nicht hingehen, aber man sagte mir, dass auf dem Zeman-Platz jetzt eine große Schule gebaut worden ist.» Sogleich überwältigten mich die Erinnerungen an diesen Platz und ich war für eine Minute ganz durcheinander, da ich gleichzeitig Bitterkeit und Freude empfand. «Hast du jemals so einen Widerstreit der Gefühle erlebt?», fragte ich Nexhmije, die meinen Kindheitserinnerungen stets aufmerksam zuhört und sie alle kennen möchte. Nicht nur ein-, nein zwanzigmal habe ich sie ihr schon erzählt, so dass sie mich einmal sogar lachend unterbrach: «Enver, nicht schon wieder! Ich kenne das alles längst auswendig und weiß sogar, dass Xha Huzos Schnurrbart schneeweiß war.» Bei Sanos Bericht vom überbauten Zeman-Platz überkamen mich Bitternis und Heimweh, weil ich an die Mamani-Backstube denken musste, meine geliebte Backstube, von der unser Brot stammte und die vom Bäcker Daut, dem Sohn von Çiçimako, geführt wurde. 565 Ganz gewiss ist sie nun verschwunden und an ihrer Stelle steht die Schule. Gleichzeitig empfand ich Freude, sind doch Schulen und Bildung nicht minder existenziell als Brot. Heutzutage wird das Brot in Gjirokastra in modernen Betrieben gebacken. Die Backstube von Daut ist verschwunden; sie lebt nur noch in der Erinnerung fort und ich habe gewiss wohlgetan daran, über sie zu schreiben. Diese Backstube war eigentlich ein langgezogener Schuppen, ein Gebäude, das gewiss kein «historisches Monument» war und auch selbst keine nennenswerte Geschichte hatte. Aber an diese Backstube (wie an viele andere auch) dachten die Leute, wenn sie sich zu Tisch setzten, ihr Brot brachen und es in den Gemüseeintopf tunkten. Wenn man die Straße weiterging, die bei Fejo Xhaxhi und Halil Kadare, dem Vater von Ismail Kadare, vorbeiführt, gelangte man rechterhand in eine Gasse. An deren Beginn stand auf der gegenüberliegenden Seite das Haus eines Hodschas, der ein paar rothaarige Töchter hatte. Es war ein kleines Haus, seine Tür hatte ein Vordach. Ich war einige Male in diese Gegend gegangen, weil mich meine Mutter dorthin geschickt hatte, um Schirme reparieren zu lassen, die der Sturmwind beschädigt hatte, was jeweils besonders das Drahtgerüst betraf. Der Schirmflicker hieß Shahin Bakiri, ein alter, ausgetrockneter Mann mit Bart. Ohne Zweifel war er sehr arm, denn als ich mit meinem kaputten Schirm ankam, sagte er mir: «Hör zu, Sohn von Halil, die Menschen sind nicht alle gleich. Es gibt welche, die verabscheuen den Regen, den starken Wind und das Gewitter. Und es gibt andere, die lieben das alles. Ich alter Mann liebe das alles, weil es meinen Broterwerb ausmacht. Euch [S. 236] gehen die Schirme ka-

5 64 Trahana: Siehe S. 116. 565 Zum Bäcker Daut und seiner Backstube siehe S. 261 ff.

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putt, ich kann sie euch flicken und verdiene mit dieser Arbeit ein paar Lekë, von denen ich und meine Frau uns zu essen kaufen können.» Xha Shahin hatte ein kleines Kohlebecken, ein Hämmerchen, eine Zange und etwas Eisenzeug. Er setzte seine Brille auf, die mit Bindfaden umwickelt war und begann – klick, klack – seine Arbeit. Nachdem er den Schirm repariert hatte, gab er ihn mir und ich fragte ihn: «Sag mir, was ich dir schulde, damit ich es der Mutter ausrichten kann.» Je nach Schaden sagte er dann ein oder drei Lekë. Die brachte ich ihm, worauf er mir wünschte: «Seist du gesegnet, Junge!» Manchmal sagte er auch: «Hör, Enver, sag dem Mullah Hysen, er solle mich nicht vergessen, wenn die Gemeinde oder die Moschee 566 Mehl zum Verteilen hat». «Gerne, Xha Shahin, ich richte es aus», antwortete ich. Das ganze Viertel 567 besteht aus Gassen, aus Gassen mit kaputten Pflaster- und anderen Steinen. Ich ging diese Gassen hinauf und hinunter und empfand dabei jedes Mal Freude und Behagen. Bei jeder Kurve war es mir, als sähe ich etwas Neues, ein bekanntes oder auch ein unbekanntes Gesicht. Wie sehr liebte und liebe ich diese Gassen, die Welt meiner Kindheit! Eine sonderbare Welt, könnte man heute denken. Und wirklich standen an diesen Gassen, in diesen Höfen, hinter diesen hölzernen Toren kleine, in einem sonderbaren Stil gebaute Häuser – einige mit Mauern und Fenstern, andere mit offenen Dielen mit Balkonen, und in den Höfen oder handtuchkleinen Gärtchen wuselten stets ein paar Hühner oder ein Hahn herum. Aber es waren Häuser, die man mit Respekt und Zuneigung betrat. In einem derselben wohnte der Lehrer Asaf Çipi. Er war ein Patriot und einer der ersten Lehrer bei uns. Er war von schmächtiger Statur (seltsam, fast alle, an die ich mich erinnern kann, waren so!). «Die sind sicher so schmächtig, weil sie arm sind», dachte ich mit kindlichem Sinn, «während die Agas, die sich den Bauch vollschlagen, dick sind». Diese Schlussfolgerung machte mir allerdings Xha Sako Berberi 568 zunichte: der war zwar arm, aber trotzdem dick. Herr Asaf hatte ein kleines Bärtchen, es war dünn und lang. Er trug stets Bücher unter dem Arm, wenn er sein Haus verließ, das an unserer Straße lag, unterhalb des Gartens von Çoktani. «Asaf ist ein guter Mann, ehrenhaft und ein patriotisch gesinnter Lehrer», sagte mir Baba Çen, «ich habe mit ihm zusammen für das albanische Alphabet gekämpft». 569 [S. 237] Sako Berberi wiederum war ein Barbier, dessen Laden nahe der Moschee am Marktplatz lag. Er war ein leidgeprüfter Mann, korpulent und groß gewachsen. Er 5 66 Im Original: der Vakëf, d. h. die Stiftung bzw. der Besitz der islamischen Institutionen. 567 Gemeint ist der Stadtteil Palorto. 568 Eigentlich Sako der Barbier; «Berberi» wurde in diesem Falle aber offenbar auch als Nachname verwendet (siehe unten Fato Berberi). 569 Das albanische Alphabet in der einheitlichen, noch heute verwendeten Form (mit lateinischen Buchstaben und streng phonetischer Ausrichtung) wurde am Kongress von Manastir (14.22. November 1908) von rund 150 Delegierten aus dem gesamten albanischen Sprachgebiet beschlossen.

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schnitt nicht nur Haare und rasierte seine Kunden, nein, er verkaufte auch Gemüse. Ich erinnere mich, dass er einen Sohn hatte, der in dieselbe Schule wie ich ging und von dem ich nicht weiß, was später aus ihm geworden ist. Er hatte auch ein kleines Mädchen, das ich weder kannte noch es je gesehen habe. Vielleicht kam es erst sehr spät zur Welt. Als der Nationale Befreiungskampf begann, engagierte sich dieses Mädchen schon in jungen Jahren. Es kämpfte heroisch, und als die Deutschen es fingen und folterten, sagte es kein Wort außer «Es lebe die kommunistische Partei Albaniens! Tod dem Faschismus, Freiheit dem Volk!», worauf die Deutschen es töteten. Dies war die Heldin des Volkes, Fato Berberi. 570 Xha Sako wohnte sehr einfach und ärmlich. Seine Frau kümmerte sich um den Haushalt und hielt das Haus sauber. Er selbst stand vor allem an den Markttagen – Montag und Freitag – schon vor Tagesanbruch auf, lange bevor er seinen Laden öffnete. Er ging dann zum Brückenpfeiler und kaufte dort von den Bäuerinnen und Bauern aus der Lunxhëria Gemüse oder Früchte. Diese brachte er in seinen Laden, legte sie in Körbe, besprengte sie mit Wasser und hielt sie für den Verkauf bereit. Dadurch konnte er zweierlei Kundschaft bedienen: Solche, denen er die Haare schnitt und solche, die Gemüse kaufen wollten. Wenn Sako in seinem Laden Besuch von einem Freund erhielt, bestellte er ihm einen Kaffee. Dazu öffnete er das Fenster und brüllte, so laut er konnte, «Izmet, einen Mittleren!» Und binnen dreier Minuten brachte Ismet den Kaffee, und zwar auf einem runden Blech mit einem Griff, durch den man den Finger stecken konnte. Wenn er die Tasse wieder holen kam, bekam er einen Knopf. 571 Xha Izmets Café, wenn man das überhaupt Café nennen kann, befand sich im Gewölbe- oder Lagerteil der Moschee. In der Mauer des Gewölbes gab es einige Nischen, welche arme Leute in verschiedene «Läden» umfunktioniert hatten. Im einen [S. 238] flickte jemand Schuhe, im nächsten wurden Oregano und Muskatnuss verkauft, im dritten Tütchen mit Tabak. Und Xha Izmet machte Kaffee. Er war ein armer, schmächtiger Mann mit einem schwarzen Fes auf dem Kopf und einer Schürze, die wohl ehemals weiß gewesen war. Sein «Café» genanntes Loch war so klein, dass er dort kaum selbst Platz fand. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Nagel, an dem er im Sommer seinen Mantel aufhängte, einem halb mit Asche zugedeckten Kohlebecken und ein paar langstieligen Pfännchen für einen, zwei oder drei Kaffees. Jeden Morgen öffnete er die Läden dieses Nischen-Lochs, legte Kohle auf das Kohlebecken, zündete sie an und blies mit einem metallenen Röhrchen

5 70 Fußnote zu Fato Berberi im albanischen Original: 1927–1944. Die deutschen Nazis erhängten sie in Thessaloniki in Griechenland. Sie sagten ihr: «Tritt auf den [roten] Stern und wir lassen dich frei.» Sie aber nahm den Stern und küsste ihn, ohne sich vom Anblick des nahen Galgens abschrecken zu lassen. Die kleine Fato nahm den Tod hin und verriet ihre geliebte Partei nicht. 571 Knopf (pullë): Wohl als «Kauf beleg» und Grundlage für die periodische Abrechnung; siehe weiter unten.

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in die Glut, um das Feuer zu entfachen. Anschließend setzte er die Kaffeepfännchen aufs Feuer und wartete auf Kundschaft. Diese setzte sich aus zwei Gruppen zusammen: Erstens «Stammkunden», zu denen die anderen Ladenbesitzer zählten: Xha Sako, Sefer Koçi, die Brüder Çelo, Çali Galanxhi, Xha Bido Tushi und andere, zweitens Kunden, die zufällig vorbeikamen. Die Letzteren mussten ihren Kaffee auf den Knien hockend oder stehend trinken. Für die Stammkunden hatte Xha Izmet dreierlei Preise: Der «dicke», starke Kaffee mit viel Kaffee und Zucker kostete drei «Knöpfe», der mittlere zwei, der dünne, der fast wie Wasser war, einen Knopf. Drei Knöpfe [S. 239] kosteten einen Groschen. 572 Die Stammkunden riefen von Weitem «einen Mittleren!», «einen Starken!» oder «zwei Dünne!», und schon war alles klar. Den Kaffee, der fein wie Blütenstaub gemahlen war und herrlich duftete, und den Zucker bewahrte Xha Izmet in zwei kleinen, identischen Metallgefäßen auf, die ihm der Blechschmied Malo zusammengelötet hatte. In der Mitte, wo sie aneinander befestigt waren, steckte ein kleiner Kaffeelöffel. Dieser diente als Maß für die verschiedenen Kaffeearten. Ich habe Sefer Koçi erwähnt. An ihn erinnere ich mich als einen Mann in mittleren Jahren, der einen kleinen Laden außerhalb des Gewölbes hatte. Auch er war arm. Er verkaufte Honig- und Wassermelonen, Joghurt, den er von Kapo Bolena bezog, Milch und was ihm sonst noch in die Hände fiel. Er wollte seinen Lebensunterhalt sichern und seine Kinder aufziehen. Wenn ich zu ihm geschickt wurde, um eine Melone zu kaufen, sagte ich ihm: «Xha Sefer, such mir bitte eine süße aus.» «Sei unbesorgt», entgegnete er. Manchmal war die Melone dann wirklich süß, manchmal erinnerte sie eher an einen Kürbis. War Letzteres der Fall, schimpfte die Mutter: «Möge Sefer der Schlag treffen! Ich aber sinnierte: «Was für eine Schuld trägt Xha Sefer daran; er war ja nicht in der Melone drin!» Eines Tages sagte Xha Sefer zu mir: «Hör zu, Sohn von Halil. Richte Baba Çen aus, dass ich in einer sehr bedrängten Lage bin: Schon vier Monate habe ich die Ladenmiete nicht bezahlt, und ich kann sie auch nicht bezahlen. Und komm bitte wieder und berichte mir, was der Mullah gesagt hat.» Der Laden von Xha Sefer gehörte dem Vakëf 573 und Baba Çen war in seiner Funktion als Bürgermeister zugleich der Verwalter des Vakëf. Beim Mittagessen berichtete ich ihm von Xha Sefers Anliegen und erhielt die folgende Antwort, die ich Xha Sefer gleich ausrichten ging: «Baba Çen hat mir gesagt, ich solle dir dies hier ausrichten: ‹Was kümmert mich das? Auch wenn er die Miete kein einziges Mal bezahlt, pfeife ich darauf. Ich bin es, der das Geld aus dem Vakëf an die Armen verteilt, und zu denen zählt auch Sefer. Er soll sich bloß keine Sorgen machen!›» Als ich fertig gesprochen hatte, schenkte mir Xha Sefer zwei Feigen aus Shën Gjin und sagte: «Oh Mullah Hysen, könnte ich dir doch den Bart küssen!». 5 72 Groschen (grosh): Siehe S. 173. 573 Vakëf: Stiftung bzw. Besitz der islamischen Institutionen, siehe S.  115 f.

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Heute, in der Epoche der Partei, ist der Sohn von Xha Sefer Vizeminister im Bil­ dungsministerium. Wie sehr hat die Partei doch Albanien verwandelt! Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte sich Xha Sefer seinen Sohn als Vizeminister vorstellen können. Die Partei hat die Armen an die Macht gebracht und sie zu den Herren des Landes gemacht. Wie ich schon oft gesagt habe, gefielen [S. 240] mir die Straßen und Gassen von Gjirokastra über alle Maßen. Ich wusste, wer hinter dem und dem Hoftor in der und der Gasse wohnte, und an vieles erinnere ich mich noch jetzt. Wenn wir in der Backstube der Angoni Brot backen gingen und ich wartete, bis es soweit war, überquerte ich oft auf der kleinen Brücke den Bach und stieg am Fuß der Mauern der hohen Häuser der Xheneti hoch. Von dort gelangte ich zu den Häusern von Scheich Durro und Scheich Hysejn, 574 kam am Hoftor der Shahus vorbei und schließlich zur Straße oberhalb des Bachs. Dort setzte ich mich auf ein Steinbänklein bei einem Tor und träumte oder repetierte im Geist meine Hausaufgaben. Manchmal nahm mich Baba Çen bei der Hand oder ging mir voran und wir statteten Xha Idriz Guri 575 einen Besuch ab. Dessen Haus stand, wenn ich mich nicht täusche, in der Nähe des «Serails» von Nelo Kabili, einem Haus mit hohen, verzierten und bemalten Mauern. Xha Idriz umarmte Baba Çen, mir strich er übers Haar und dann führte er uns entweder ins Pat, das Winterzimmer, oder in die Oda e madhe, das Empfangszimmer. Baba Çen und Idriz Guri waren gute Freunde und Kollegen. Manchmal diskutierten sie ruhig und besonnen, manchmal schrien sie auch herum. Ich saß auf dem Rand der Sitzbank und tat mich gütlich am Lokum mit trockenen Feigen, mit dem man mich verwöhnte. Einmal, so erinnere ich mich, redeten sie sich ins Feuer und begannen, auf Boço Kalo576 und die Familie Karagjozi zu schimpfen. Baba Çen riss sich zornerfüllt den Turban vom Kopf und schleuderte ihn in die hinterste Ecke des Zimmers. Ich sprang verschüchtert auf, nahm den Turban und setzte ihn Baba Çen wieder auf. «Gut so, Enver», sagte er, «geh du jetzt spielen, denn Idriz und ich haben zu tun.» Und so ging ich denn. Oftmals ging ich die Gurati-Straße bis zur Stelle hinauf, wo man zu den großen Brücken kam. Sie hatten zum Aquädukt gehört, das das Wasser zur Burg leitete. 577 Der Häuserkomplex, der sich dort an einen ziemlich hohen Hügel schmiegt, hat mir einen tiefen Eindruck hinterlassen – nicht wegen der Leute, die da wohnten (einige Agas, einige Kadis, einige Leute aus dem Mittelstand wie die Guris (Muharrem Guri, der Schuhmacher), die Lulos oder Sadik Karagjozi (Großgrundbesitzer, Viehzüchter und 574 Scheich (sheh): Titel des Vorstehers eine alevitischen Tekke. Scheich Durro wird S. 255 und 270 erwähnt. 575 Idriz Guri: Siehe S. 149. 576 Boço Kalo (1875–1943), von den Partisanen «aus politischen Gründen» hingerichtet. 577 Zum Aquädukt siehe S. 206.

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berüchtigter Trunkenbold) –, sondern wegen der Lage und Architektur der dortigen Häuser. Diese Häuser sind sehr typisch für Gjirokastra mit ihren steinernen Mauern, den steingedeckten Dächern, den ellbogenförmigen Stützbalken, den großen Fenstern im zweiten Stock und den kleineren im ersten, wo sich meist die Winterzimmer befanden. Die Straße, die einen zu den einzelnen Häusern führte, schlängelte sich [S. 241] zwischen den hohen Häusern und den Hofmauern endlos aufwärts. Auf die Straße gingen die großen Hoftore mit ihren hölzernen Flügeln, mit je einer Steinbank links und rechts, mit dem Türklopfer, den man auf einen breiten Eisenknopf schlug, und mit dem hölzernen Vordach. Wenn das Tor geöffnet wurde, gelangte man in den gepflasterten Hof. Jedes Haus hatte auch ein Stück «hängender Garten» mit ein paar schattenspendenden Bäumen, selten einmal auch mit Obstbäumen. Die Häuser der Lulos und Karagjozis lagen, wenn man heraufstieg, auf der rechten Seite der Straße und blickten über den Bach, der sich unten durchschlängelte und Geröll vom Mal i Gjerë mit sich führte. Zu einem der Häuser aus dieser Gruppe steinerner Riesen stieg ich nach der Befreiung die hohe Treppe hinauf, die zu ihm führte. Ich wurde in das große, luftige Empfangszimmer geführt, um mich dort mit Lutfi Karagjozi und seiner heldenhaften Frau, den Eltern des Partisanen Astrit Karagjozi, 578 zu treffen. Im Gespräch mit Lutfi, der an Asthma litt, sagte ich: «Lutfi, wir müssen dir ein Haus weiter unten, in Palorto, beschaffen, damit du nicht immer diese ganze Steigung bewältigen musst.» Er antwortete: «Es lebe die Partei – aber mein Wunsch ist, hier zu bleiben. Denn von hier aus kann ich in der Abenddämmerung die Lichter auf dem Friedhof der Märtyrer drüben sehen, wo auch die Gebeine unseres geliebten Sohnes Astrit ruhen.» Ein bedeutender Patriot war auch Qemal Halim Karagjozi, der sich von seiner Klasse lossagte und sich dem Kampf anschloss, den die Partei geführt hat. Weiter oben, oberhalb des Bachs, erheben sich die Häuser der Resos. In diese Familie hatte auch jemand aus der unsrigen als Braut eingeheiratet: Hasibe, eine Tochter von Baba Çen, war die Frau von Saliko Reso geworden und wir gingen sie oft besuchen. Wenn wir bei Hasibe zum Nachtessen waren, trafen wir uns dort mit Freunden wie Naxhi Totozani, 579 Nesip Gjebreja, Bahri Alitja und anderen. An einem lauschigen Plätzchen unterhalb des Hauses von Qemal und Hasan Gega, wo eine mächtige, offenbar über hundertjährige Platane stand, wurden dann allerlei Geschichten erzählt. Über die oben gelegene Straße, die zum Mal i Gjerë führte, stiegen ab und zu die Maultiere und Esel der Steinplattenschneider Vaho Lloçko und Ramo Dudumi herab. Schwer beladen mit den Platten, mit denen die Dächer [S. 242] gedeckt wurden, 5 78 Fußnote im albanischen Original: Er fiel als Märtyrer am 6. Dezember 1944 in Monte Negro, wo er in den Reihen der albanischen Partisanen kämpfte, die gekommen waren, um den jugoslawischen Völkern bei deren Befreiungskampf zu helfen. 579 Naxhi Totozani: Siehe S.  199 f., zu Nesip Gjebreja S. 144 f., 200, 209, 273.

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machten sie auf ihrem Marsch bergab ebenso viel Lärm wie das Vieh von Hajro Gaxhello. 580 Die Steinplattenschneider aus dem Viertel Dunavat e Sipërm 581 gehörten zu den ärmsten und körperlich stärksten Arbeitern. Dynamit gab es damals noch nicht; stattdessen hatten sie je ein Brecheisen, eine Hacke, einen Hammer und eine Schaufel. Mit bloßen Händen befreiten sie die Höhlen vom Schmutz, fanden den Verlauf der Lagen des Steins, stießen das Brecheisen zwischen zwei Schichten, legten einen Stein als Hebel darunter und gaben so viel Druck als möglich auf das Eisen. Je breiter die Platte war, desto mehr war sie wert, weil sich dadurch Fugen im Dach vermeiden ließen und der Regen nicht eindringen konnte. Die Hände dieser Arbeiter waren zerfurcht, wie gegerbt vom Steinstaub und so rau wie die Hände des Maurers Leko, des Freundes unserer Familie. [S. 243] Diese Menschen, so arbeitsam und achtbar sie waren, standen für die Agas von Gjirokastra auf der untersten, verachtetsten Stufe der Gesellschaft. Wollten diese jemanden beleidigen, so sagten sie: «Verzieh dich, du Steinplattenschneider!». Dabei sind es genau diese Proletarier aus der Zeit meiner Kindheit und jener unserer Großeltern und Urgroßeltern, die zusammen mit Handwerkern wie Xha Leko und anderen unserem Land eine so schöne und museale Stadt wie Gjirokastra hinterlassen haben, die in alle Ewigkeit leben möge. Der Kampf gegen die Besatzer trennte die Spreu vom Weizen. Dafür, dass die Agas und ihre Sippschaft für immer verschwunden sind, hat die Partei mit ihrem Kampf gesorgt. Das Werk der Steinplattenschneider, Baumeister und Maurer aber glänzt wie ein immerwährendes und schönes Denkmal. Wenn man von der Spitze der Kuculla 582 her das Meer von steinplattengedeckten Dächern betrachtet, werden einem die unermüdliche Arbeit, die Ströme von Schweiß, das Elend und die Armut jener begabten Handwerker bewusst, die dem kalten Stein mit ihren schrundigen und schwieligen Händen die Wärme und Schönheit des Lebens einhauchten. Eine besondere Freude empfand ich, wenn ich mit meiner Mutter oder allein zu meinem lieben Freund Aqif Selfo583 ging. Das Haus von Aqif und seinem Onkel Avdul lag zuoberst auf einem Hügel. Von den Zinnen der Burg her gesehen wirkten die schönen Häuser dort wie ein einziges Schloss mit zahllosen Türen und Fenstern. Drei, vier Häuser waren es, und das liebste von allen war für mich dasjenige von Aqif. Es war ein eher niedriges Haus mit überdachten Vorplätzen und einem Obergeschoss, mit einer langen Diele und großen Fenstern. Einige derselben blickten auf den Garten mit seinen Feigenbäumen, Kornelkirschen, Birnen und einer Pergola, andere auf das Haus 580 Oben (S.  233 f.) wurde allerdings Bejko Gaxhello, Hajros Vater, als Besitzer der lärmigen Ochsen genannt. 581 Dunavat e Sipërm: Oberes Dunavat. 582 Kuculla: Aussichtspunkt, siehe S. 209. 583 Aqif Selfo: Siehe Anm. 270.

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der Husamis. Unmittelbar hinter diesem Haus lag dasjenige von Xha Zenel Selfo, ein Haus voller Männer, Brüder oder Söhne aus der Sippe des alten Xha Zenel. Zenel war ein kleiner Mann mit dichten Haaren und weißem Bart, er stützte sich auf einen Stock, den er selbst mit dem Holz einer Kornelkirsche aus seinem baumreichen Garten unterhalb des Hauses gefertigt hatte. Das ganze Ensemble dieser Häuser lag in prallem Grün. Ob die heutigen jungen Leute das grüne Ambiente der früheren Zeiten bewahren, von denen hier die Rede ist, weiß ich nicht. Über die Menschen, Häuser und Gärten Stadtteil im Cfaka, wo wir gewohnt haben, 584 habe ich irgendwo in meinen Erinnerungen Aufzeichnungen gemacht, das will ich hier aufgreifen. 585 Nach Cfaka führten zwei Straßen. Entweder konnte man diejenige unterhalb der Burg nehmen; [S. 244] sie führte über die Zerzebili-Brücke, die unsere Mütter und Großmütter mit folgenden Versen besungen haben: Mitten auf der Zerzebili-Brücke, Behançe, Tochter von Bakir, hat dich die Kugel des Gottlosen getötet, Weil du den Schleier von den Augen gehoben hast. 586

Von der Zerzebili-Brücke kam man zu den Häusern der Çoçoli, 587 musste dann eine vernachläßigte Straße hinaufsteigen und gelangte so ans obere Ende des Stadtteils Cfaka, wo die Häuser der Familie Zazani standen. Dort war auch das Haus meiner Schwester Fahrije, 588 in dem wir einige Jahre lebten. Seltsamerweise waren die Häuser in diesem Viertel, das man fast gebirgig nennen könnte, getrennt und standen einzeln, obwohl es auch solche gab, die verbunden waren. Jeweils eine Familie bildete eine Gruppe: die Zazanis, die Omaris, die Kuçukus und andere.

584 Wann der Umzug in den Stadtteil Cfaka (unterhalb der Burg von Gjirokastra) stattfand und wie lange die Familie dort lebte, war nicht zu eruieren («einige Jahre» heißt es im nachfolgernden Abschnitt, «nicht länger als ein Jahr, wenn ich mich nicht irre» unten S. 274). In Cfaka lebte die Familie jedenfalls zwischen dem Brand des Hauses in Palorto (1913/14/16?, siehe oben S. 111), an den sich offenbar ein Aufenthalt «im Haus von Gjulfidan» in Palorto anschloss (siehe S. 172) und dem Umzug in das Haus in Hazmurat, das ihnen der Bruder von Enver Hoxhas Mutter zur Verfügung gestellt hatte, siehe ebd. 585 Worauf sich der Autor hier bezieht, ist unklar; in den «Kindheitsjahren» findet sich jedenfalls nichts Einschlägiges. 586 Der gereimte Originaltext lautet: Mu te Ur’e Zerzebilit / Behançe, bil e Bakirit, / të vrau plumbi i qafirit, / pse ngrite perçen e sirit. Varianten zu diesem Text (z. B. Hanushe oder Behane statt Behançe etc.) finden sich im Internet. 587 Im Original: «në Çoçolajt». Vermutlich ist der Ort gemeint, wo sich die Häuser der alteingesessenen Familie Çoçoli befanden. 588 Fahrije Hoxha, verheiratete Omari (1898–1970). Es dürfte sich also um das Haus von Bahri Omari (siehe S. 148) handeln.

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Die andere Straße nach Cfaka war diejenige, die am Pasha Kauri-Eingang der Burg vorbeiführte und dann bei der Höhle der Burg (wo wir uns jeweils versteckten, wenn der Regen uns überrascht hatte) nach unten verlief. Anschließend überquerte man unterhalb einer Straße den Bach, kam dann bei einer alten Brücke vorbei und begann mit dem Aufstieg. Diese steile Straße war gesäumt von kleinen Häusern mit oder ohne Hoftor und mit grasüberwucherten Höfen. In einem dieser Häuser, so erinnere ich mich, wohnte ein gewisser Lato Mezin. Er arbeitete als Telegrafist, war älter als ich und schlank. Auf dem Kopf trug er einen alten Borsalino, war aber sonst ein einfacher Mensch. Bei uns anderen galt er als fähig und geschickt, nicht nur, weil er schreiben konnte wie wir, sondern weil er auch eine kleine Telegrafenmaschine zu bedienen wusste, die pi-pi-pi machte, wenn er etwas morste. Oben an Latos Haus war dasjenige von Malo Kasis Vater. Malo war unser Kamerad, aber er lernte nicht besonders gerne. Statt zur Schule ging er manchmal lieber die Schafe in einem Wäldchen weiden. Sein Vater hatte einen ansehnlichen Laden, in dem er Nägel, Hufeisen und andere Artikel des Tierbedarfs verkaufte. Dieser Laden befand sich damals am Anfang der Straße, die zur Moschee von Scheich Durro führte, wo auch der Markt stattfand. Nahe dem Haus der Kasis war dasjenige von Malo Miko. Mehr als den Namen dieses einfachen Menschen, an den sich kaum jemand erinnert, kenne ich nicht. Noch etwas weiter stand das Haus, wo Isuf Omari wohnte, den wir «Çufe», den kleinen Dicken, [S. 245] nannten. Dieses Haus lag auf der Hangseite, wenn man heraufstieg, und gehörte Sejdo und Hazbi Omari. Der Erstere war ein reicher Aga, der Schafherden besaß; sein Bruder Hazbi, der Vater von Çufe, war weit herum als Trunkenbold bekannt. Ich war schon in diesem Haus gewesen, weil mein Vater noch von der Großmutter her mit der Familie Omari zu tun hatte. Ihr Haus war groß und schön, aber die Menschen, die darin wohnten, waren böse. Sejdo Omari war vom Aussehen wie vom Charakter her grob. Er hatte buschige Wimpern und einen Schnurrbart, der an die Troddeln an den Opanken erinnerte. Dieses Haus wurde zu einem richtigen Hornissennest. Sejdos Söhne wurden als Männer zu vermögenden Kaufleuten, und als Albanien besetzt wurde, verrieten sie das Vaterland, wurden Mitglieder der Nationalen Front, schlossen sich den Italienern und Deutschen an und kollaborierten mit diesen. Sie zählten zu unseren erklärten Gegnern, waren Feinde des Volkes, der Partei, der Nationalen Befreiungsfront. Nach der Befreiung flohen sie zusammen mit den Besatzern, ansonsten hätte sie eine Kugel erwartet. Ausgerechnet in dieses Nest von Kulaken und Verrätern, in diese Dornenhölle hinein wurde eine wahre Rose geboren, Çufe Omari. Er war noch ein kleiner Junge, als ich schon Student war. Er war aufgeweckt und geschickt, hatte leuchtende Augen und ein messerscharfes Profil. Als die Italiener uns besetzten, sagte sich Çufe Omari – damals ein junger Bursche – von seiner Klasse los, verband sich mit den Kommunisten

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und stieg zusammen mit Muzo Asqeriu 589 in den Kampf. Als die Zeit der Attentate und Überraschungsschläge begann, war Çufe überall, furchtlos und heldenhaft. Muzo wurde im Kampf getötet, 590 aber auch Çufe Omari 591 starb, als er heroisch gegen den Präfekten von Gjirokastra, den Verräter Tahir Kolgjini, kämpfte, dem er eine Falle gestellt hatte, um ihn zu ermorden. In der Nähe des Hauses von Sejdo Omari lag dasjenige von Asllan Muhedini, den wir in der Schule «den Tauben» nannten, weil er nichts hörte. Er war mein Klassenkamerad. Ich war auch bei ihm zu Hause gewesen. Eindruck hatte mir gemacht, dass man, um zur eigentlichen Haustür zu gelangen, zwei Hofplätze überqueren musste, die durch eine hohe Mauer getrennt waren. In [S. 246] der Mitte der Mauer war ein Tor, und ein weiteres großes Tor mit zwei großen Säulen ging auf die Straße. Als ich Asllan fragte, warum sie vor ihrem Haus zwei Hofplätze und so hohe Mauern hätten, antwortete er mir: «Um uns vor Feinden und Räubern zu schützen». Wenn ich mit meinen Kameraden aus der Kinderzeit vom Tor der Burg beim Uhrturm 592 hinunterging, nahmen wir besonders gerne die Straße des Alten Bazars. Dies war eine sehr charakteristische Straße, eng, gepflastert, nicht sehr gut unterhalten. Zu beiden Seiten standen Häuser im alten gjirokastritischen Stil, mit Toren mit Steinbögen, Steinbänkchen, und Fenstern mit Eisengittern. Diese waren von Schmieden wie Qato dem Ägypter593 geschmiedet worden und standen manchmal so weit vor, dass sie beinahe mit den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses zusammenstießen. Ganz gewiss waren dort von Fenster zu Fenster angeregte Unterhaltungen zwischen den Frauen und Mädchen hin und hergegangen, während sie sich mit ihren Handarbeiten und den feinen Stickereien beschäftigten, die ihre Kopftücher zierten. Viele der damaligen Fenster hatten auch Holzgitter. In den Häusern mit dieser Art von Fenstern wohnten meist muslimische Familien. Im Stadtteil Cfaka, der an den Stadtteil Pllaka anschloss, wohnten sowohl Muslime als auch Christen. Sie lebten in völliger Harmonie zusammen; die Religion hat die Menschen in Gjirokastra kaum je auseinandergebracht. Die lange und kurvenreiche Straße des Alten Bazars mündete gegenüber einem Brunnen in die Landstraße. Ging man diese weiter hinunter, gelangte man zu einem Hügel, bei dem wir oft spielten. Später wurden dort die Gebeine des bedeutenden Patrioten Bajo Topulli zur letz-

589 Muzafer (Muzo) Asqeriu (1918–1942) aus Gjirokastra: Aktivist im Nationalen Befreiungskampf, Parteifunktionär, Held des Volkes. 590 Fußnote im albanischen Original: Am 19. Juli auf dem Feld von Girrica im Unteren Dropull, Gjirokastra. 591 Fußnote im albanischen Original: Er fiel als Märtyrer in der Nähe des Uji i Ftohtë bei Tepelena, am Fuß des Golikberges, am Ufer des Flusses Drino. 592 Dieses Tor liegt am östlichen Ende der Burg; der Uhrturm wurde nach 1811 von Ali Pasha errichtet. 593 Ägypter: Siehe S.  66, 287 ff. Zum Schmied Qato siehe S. 256, 285, 295.

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ten Ruhe gebettet; mir kam damals die große Ehre zu, die Gedenkansprache zu halten. 594 Auf diesem nun heiligen Hügel liegen die in auserlesener, monumentaler Architektur erstellten Gräber von Bajo, Çerçiz und Çajupi, diesen ruhmvollen Vertretern der Rilindja. 595 Später, [S. 247] zur Zeit der Partei, wurde dort auch eine Schule errichtet. Als ich nach Gjirokastra reiste, ging ich dorthin, 596 verneigte mich zuerst respektvoll vor den Gräbern der Vertreter der Rilindja und besuchte dann die Schule, wo ich mich mit den Schülern unterhielt. Diese Schule hat Symbolcharakter, steht sie doch in unmittelbarer Nähe jener großen Männer, die mit der Feder und dem Gewehr für die Freiheit des Volkes, für die Unabhängigkeit des Vaterlandes, für die albanische Sprache und die albanischen Schulen gekämpft hatten. Gibt es etwas, an das ich mich nicht erinnere? An alles erinnere ich mich – angefangen bei Teto Nasipe und Xha Abdullah, die nicht wussten, wovon sie sich ernähren sollten (und deshalb mit ihren Kindern, meinen Spielkameraden Muzeje, Haki und Besim, nach Izmir auswanderten, wo Onkel Abdullah in fremder Erde starb), bis hin zur alten Frau von Pano Buba, deren Häuschen in Varosh, nahe beim alten Lyzeum stand. Diese Frau sammelte allerlei Kräuter und Blumen in den Hügeln und im Brachland, siedete sie und stellte daraus Salben her, die sie in kleine Dosen aus dünnem, gelblichem Holz füllte. Ich erinnere mich, dass ich mit meiner Mutter zu ihr gegangen bin und wir dort ein Heilmittel für Baba Çens Tochter Nado597 kauften, die an Krebs erkrankt war. Die einen Leute machten alles, um ihre Krankheiten zu heilen, und die anderen alles, um damit ihr tägliches Brot zu verdienen!

594 Fußnote im albanischen Original: In dieser Rede sagte Genosse Enver Hoxha unter anderem Folgendes: «Wir, die wir dieses Albanien frei vorfanden, dieses Albanien, das ihr uns mit eurem Herzblut gestaltet habt, wir dürfen nicht stolz sein, wenn wir der albanischen Gesellschaft nicht jene Verbesserung bringen, die ihr so stark gewünscht habt. Ihr habt getan, was in euren Kräften stand, wir aber haben in den letzten 25 Jahren nicht so viel getan, wie nötig gewesen wäre. Aber die Jugend, die jetzt heranwächst, verpflichtet sich euch auf dieser Grabstätte, die für jeden Albaner ein heiliger Wallfahrtsort ist, dass es ihr weder an Willen noch an Mut fehlen wird, wenn es darum geht, ein glücklicheres, ein reicheres Albanien zu gestalten.» (Aus der Zeitung ‹Demokratia›, 1.  August  1936.)  – Anm. d. Ü.: Derselbe Text findet sich, mit drei unbedeutenden Varianten, in der anonymen «Biografi e shkurtër» von 1947, S. 12 f. 595 Bajo uns Çerçiz Topulli, Andon Zako Çajupi: Siehe S. 63. Zur Rilindja siehe Einleitung, Kap. 11a und S. 135. 596 Fußnote im albanischen Original: Am 26. Oktober 1963. Im Gespräch mit den Schülern sagte Genosse Enver Hoxha unter anderem: «… es gibt keine größere Ehre, als in der Nähe dieser Helden zu sein. Und dass der Schulhof in der unmittelbaren Nachbarschaft von Helden ist, kommt selten vor. Aus diesem Grund muss eure Schule vorbildlich sein  …». (Enver Hoxha, Werke, Band 25, S. 486). 597 Nado: Kurzform für Nadire. Im Originaltext heißt es «për Nadon e babait»; dass es sich um eine der elf Töchter von Baba Çen handelt (siehe S. 288), ist zu vermuten.

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Unvergesslich ist mir auch die Ägypterin Neime, die Meisterin im Tünchen von Häusern. Sie wohnte im Schuppen von Bastri Çuçi. 598 Über sie äußerte sich meine Mutter folgendermaßen: «Eine Zweite wie Neime gibt es nicht, niemand tüncht so gut wie sie. Sie versteht es, den Kalk zu sieden, weiß genau, wie viel Salz sie zufügen muss, vom Indigo wirft sie so viel dazu, als ob sie es in Derhem 599 abgemessen hätte. Und wenn sie dann die Mauern mit ihrer Zauberhand tüncht, schimmern diese wie weiße Seide.» Ich fragte die Mutter: «Und wie tünchte denn Çoros Tochter Katero?» Das interessierte mich, weil ich Katero gesehen hatte, als sie das Haus meines Onkels mütterlicherseits tünchte. «Auch Katero tünchte gut», sagte meine Mutter, [S. 248] «aber nie so wie Neime. Unser eigenes Haus», fuhr sie fort, «haben wir ja selbst getüncht, hier, mit diesen meinen Händen!» Und indem sie mir ihre feinen Hände zeigte, die das Alter mit einem Netz von blauen Adern überzogen hatte, sagte sie: «Mir hat auch Shaqirs Frau Refo geholfen, die für uns wie eine Tochter war. Auch sie war eine große Meisterin beim Tünchen.» Meine liebe Mutter erledigte alle Arbeiten selbst, sie kümmerte sich um alles und alle im Haus. Selten stellte sie jemanden von außerhalb an, und wenn, dann tat sie es nur für einen Tag und stand der Hilfskraft mit hochgekrempelten Ärmeln bei. War die Arbeit getan, so aß die Arbeiterin – stets eine Bekannte unserer Familie – zusammen mit uns am niedrigen, runden Tisch, und am Abend zahlte die Mutter ihr den Lohn aus, dazu bekam sie eine Schüssel mit etwas zu essen und einem großen Stück Fladenbrot darauf. Meine Mutter war eine gute Köchin. Wenn ich sie aber fragte, wer in Gjirokastra am besten kochte, antwortete sie: «Besser als Kobuz’ Tochter Bejeko aus dem Stadtteil Dunavat kocht keine.» Diese Bejeko war eine arme Frau mit zwei Töchtern. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hatte sie so kochen gelernt, dass niemand es ihr gleichtun konnte. «Gut kochte auch Behushis Tochter Hanja», ergänzte die Mutter, «aber im Vergleich zu Bejeko war sie wie die Gemüsehändlerin Rino im Vergleich zu Pino,600 die Brautkleider bestickte.» In solchen Momenten der Erinnerung scheint mir ganz Gjirokastra zu gehören – mit seinen Menschen, Häusern, Straßen, Gässchen, Gärten, Rebbergen und Brachen, mit den Kirchen, Moscheen, Tekken, Zisternen, Zieh- und Hahnen-Brunnen – kurz: mit allem, mit allem. Auch die Verstorbenen und die Dinge, die sich verändert haben, 5 98 Bastri Çuçi: Ein Nachbar der Familie Hoxha, siehe oben S. 238. 599 Derhem (dërhem): Alte türkische Maßeinheit von 1/400 Oka bzw. 2.5 g (gemäß den Wörterbüchern von Dizdari und von Dhrimo) resp. 3.2 g (gemäß dem gjirokastritischen Wörterbuch von Xhaxhiu). Das Gewicht der Oka konnte regional variieren. 600 Pino bzw. Kako Pino: Siehe S. 97.

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leben seit der Zeit meiner Kindheit in meiner Erinnerung und meinem Herzen weiter, sie alle sind der Gegenstand meines Heimwehs. Meine Möglichkeiten, nach Gjirokastra zu reisen, sind beschränkt, aber in meiner Erinnerung habe ich alles vor Augen, und mithilfe meiner Erinnerung steige ich die Gassen hinauf und hinunter, trete in die Häuser ein, lasse mich auf einem Bänklein oder auf dem Sitzpolster in einem Zimmer nieder, diskutiere mit den Onkeln, Tanten, Schwiegermüttern und jungen Ehefrauen, spiele in den Gärten und auf den Plätzen mit den ehemaligen Spielkameraden, von denen einige schon gestorben und einige als Märtyrer gefallen sind, während andere noch leben und Groß- oder Urgroßväter geworden sind. Diese wenigen Erinnerungen, die in meinem Kopf herumgehen, wollte ich [S. 249] unbedingt aufschreiben und festhalten  – für mich, für Nexhmije, für meine Kinder und künftigen Großkinder. Sie alle sollen durch diese Aufzeichnungen – und sei es auch in etwas blasserer Form – die so wunderbare Heimatstadt kennenlernen, in der ich gelebt, gespielt und gelernt habe, und wo auch heute noch wunderbare und heldenhafte Menschen leben und kämpfen. Mit der Niederschrift dieser Erinnerungen begann ich zu einer Zeit, in der mir der Schädel brummt, weil ich intensiv für die Vorbereitung des Parteitags arbeiten muss601 und mit verschiedenen Berichten und anderen Problemen beschäftigt bin. Aber gerade während all dieser Arbeiten, gleichsam zur Erholung, nehme ich gerne dieses Heft zur Hand und schreibe mit großer Freude die schönsten Erinnerungen aus meiner Kindheit auf! Ich fühle mich dabei belebt, kehre in meine Jugendzeit zurück und habe den Eindruck, dass ich dabei an Stärke gewinne. Wenn dann Nexhmije kommt, verstecke ich das Heft schnell, weil sie sonst schimpft: «Was soll das, Enver; warum mühst du dich auch noch damit ab, wo du doch schon mit dem Parteitag voll ausgelastet bist …». «Schon recht», entgegne ich, «aber du selbst hast mich doch dazu angeregt, und jetzt sagst du, ich soll das lassen!». Meine lieben Kinder, eure Mutter hat sicher recht, sie ist ja rührend um meine Gesundheit besorgt. Und dennoch: Kaum ist Nexhmije weg, gehe ich weiter dem «Faden der Ariadne» nach, um in meine Erinnerungen abzutauchen, die kein Ende haben. Und genau so haben auch diese Aufzeichnungen kein Ende. Zu tief ist meine Liebe für die Heimat, für das Volk, für die Partei, für den Ort meiner Geburt, als dass sie ein Ende finden könnte. September 1976

601 Zum VII. Parteitag siehe S. 243.

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[S. 251] Die

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Bäcker der Stadtteile

Manche mögen es sonderbar finden, dass ich mir Gedanken und Aufzeichnungen zu den Bäckern von Gjirokastra mache, die vor 60–70 oder mehr Jahren gelebt und gearbeitet haben. Aber so ist es nun einmal; ich kann nicht anders. Ich empfinde Liebe und Sehnsucht gegenüber diesen einfachen Leuten aus dem Volk. Sie waren die Arbeiter des Feuers, der Flammen, des Rauches, ihre Gesichter und ihre Kleider waren geschwärzt, aber ihre Herzen schlugen für das Ziel, die Leute in ihrem Stadtteil zufriedenzustellen. Keiner sagte dem Bäcker, er sei der Mensch, «der ihm am nächsten stehe»; viele Leute hätten eine solche Äußerung schon gar nicht verstanden, auch wenn sie menschlich und keineswegs realitätsfremd gewesen wäre. Ein Bäcker? «Aber geh, ein mieses Bäckerlein ist das, backt uns das Brot und wir geben ihm Geld dafür!» Der Bäcker wurde kaum je an eine Hochzeit, ein Festmahl oder etwas Ähnliches eingeladen, und wenn, dann vor allem aus Mitleid. Meistens schickte man ihm bei solchen Anlässen eine Schüssel Kabuni,602 dazu ein Stück Fleisch, das er vorher selbst mit Sorgfalt in seinem Ofen gebraten hatte, eine Scheibe Baklava und «damit hat es sich jetzt aber!» Nicht selten bekam er freilich auch gar nichts. [S. 252] Dieser liebenswürdige, einfache und freundliche Mann machte kein Aufheben davon; bei der Tür seines Ofens, aus dem die Gluthitze drang, aß er das, was man ihm geschickt hatte. Vielleicht bewahrte er es auch auf, bis er am Abend seine Backstube603 schloss, müde, rauchgeschwärzt und verschwitzt den Mantel über die Schulter warf und die «Hochzeitsgabe» nach Hause trug, um sie dann mit seiner Frau, Mutter, Schwester und den Kindern zu verspeisen. Begierig warteten ja schon alle darauf! Nachdem er ein Stückchen davon gekostet hatte, überließ er seinen Anteil den Kleinen. Er selbst begnügte sich mit einem Stück harten Maisbrots. Dieses schnitt er in Scheiben, fachte dann im Kamin des kleinen Zimmers, in dem sie saßen, etwas Glut an, legte die Feuerzange darüber und auf diese die Brotschnitten, bewegte sie hin und her und röstete sie (manchmal verbrannte er sie auch), bis sie ihm schmackhaft schienen. Dazu trank der Bäcker, dieser beste Freund der Leute im Viertel, ein Glas Raki, um seinen Kummer zu vertreiben und sich zu erholen, aß Biss um Biss sein Mahl aus geröstetem Maisbrot mit einem Stück Käse und einer trockenen Zwiebel und studierte an seinem Kummer und seinen Sorgen herum, die zugleich die Sorgen des ganzen Volkes waren. Ich bin kein Schriftsteller, der sich Geschichten ausdenkt; ich halte einfach meine Erinnerungen fest, wie es Nexhmije gefordert hat. Ich halte sie für unsere Kinder und 602 Kabuni: Süßspeise aus Reis mit Zucker, Rosinen und Mandeln. 603 Albanisch «furra», mit der Mehrfachbedeutung Ofen, Backstube oder -haus, Bäckerei. In der Furra wurde nicht nur Brot gebacken, vielmehr brachten die Leute hierhin auch verschiedene Gerichte, die im Ofen gegart wurden; vgl. hierzu S.  263–265, 275 f.

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für die Enkelkinder fest, die wir bald haben werden, damit sie meine Grillen, mein Leben und die innersten Empfindungen meines Herzens kennenlernen: Die Empfindungen gegenüber den Menschen aus meiner Umgebung, mit denen ich lebte, die sahen, wie ich aufwuchs, die mich auf ihre Weise gelehrt und ernährt haben, mir Ratschläge gaben, mich manchmal auch an den Ohren gezogen oder mir eine Ohrfeige verpasst haben, weil ich ja trotz meiner zarten Jugend gewiss kein Engel gewesen bin. Alles, was ich von ihnen habe, hat mich im Leben weitergebracht, hat mir gutgetan. Diese Leute aus dem Volk habe ich schon in meiner Kindheit geliebt und auch jetzt, im fortgeschrittenen Alter, sehe ich sie vor meinem inneren Auge so, wie sie waren, als gute Menschen. Gewiss gab es auch bei ihnen Dinge, die man hätte kritisieren müssen, aber, um ehrlich zu sein, davon ist mir nichts in Erinnerung geblieben. Es scheint fast so, als ob die Fehler, die die guten Menschen gehabt haben mochten, mit den Jahren verschwinden und in Vergessenheit geraten. Umgekehrt verstärkt sich [S. 253] das Schlechte bei den Schlechten und ist das Einzige, was in Erinnerung bleibt, weil sie dieses Schlechte dem Volk angetan haben. Wenn ich hier einige Erinnerungen an die Bäcker von Gjirokastra festhalte, denke ich mir weder Erzählungen noch Novellen aus, vielmehr rede ich über einfache Menschen, die niemand mehr kennt und in Erinnerung hat. Diejenigen aber, die sie gekannt haben, ihre Altersgenossen wie mein Vater und Baba Çen, sind schon lange verstorben und hätten sich wohl nie denken lassen, dass ihr Sohn und Neffe sich eines Tages hinsetzen würde, um sich mit den Bäckern unserer Stadtteile zu befassen und über sie zu schreiben. Auch viele meiner gleichaltrigen Freunde haben keine Erinnerung mehr an die Bäcker ihrer Viertel. Wenn ich über die Bäcker schreibe, erinnere ich mich zuerst an ein weit zurückliegendes Erlebnis mit dem Bäcker Daut, der bei seinem Kamin Brotstücke röstete.604 Seinen Nachnamen habe ich vergessen, aber ich weiß, dass wir ihn «Dauti i Çiçimakos», Çiçimakos Daut, nannten. Çiçimako war der Name seiner Mutter. Auch sie selbst nannte ihren Sohn «Dauti i Çiçimakos», und wir Kinder ebenso. Die Männer allerdings gebrauchten diesen Namen nie, sondern nannten ihn nur «Daut», denn zu jener Zeit ging es nicht an, den Namen der Frau, Mutter oder Schwester des Gegenübers in den Mund zu nehmen. Dies wäre als Beleidigung empfunden worden. Die rauen Sitten der Scharia halt! Çiçimakos Daut war der Bäcker in der Mamani-Backstube am Zeman-Platz. In Zusammenhang mit diesem Namen erinnere ich mich an ein Erlebnis mit meiner Schwester Sano aus der Zeit, als diese noch ganz klein war. Meine Mutter hatte uns mit je einem Tragring und einem Backblech auf dem Kopf zur Backstube geschickt, um etwas zum Backen zu bringen. Sano, der das Backblech fortwährend auf den Kopf drückte, hatte sich offenbar der Name der Backstube, «Mamani», ins Gedächtnis eingeprägt. Als sie dann an der Hand ihrer Cousine Bale zum ersten Mal zur Schule ging 604 Siehe die oben (S. 260) beschriebene Episode.

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und die Lehrerin sie nach ihren Namen fragte, um die beiden eintragen zu können, antwortete Bale, die Tochter von Baba Çen: «Ich heiße Bale Hysen Hoxha», wohingegen Sano: «Ich heiße Sano Halil Mamani». Die Lehrerin schaute auf und blickte sie erstaunt an, weil sie beide kannte, und fragte: «Wie kommt es, dass ihr verschiedene Nachnamen habt, wo ihr doch beide Hoxha-Töchter seid?». «Hoxha heiße auch ich, aber ich bringe das Brot zum Backen in die [S. 254] Mamani-Backstube». Die Lehrerin war Urani Rumbo;605 sie musste über die Naivität der kleinen Mädchen lachen. Noch jetzt, nach so vielen Dekaden, sehe ich den Bäcker Çiçimakos Daut vor mir, einen Mann in mittleren Jahren, der an der glühend heißen Tür seines Ofens steht, die Ärmel hochgekrempelt und im bloßen Hemd, da ihn sommers wie winters die gleiche Hitze umgab. In der einen Hand hielt er ein paar Lappen, in der anderen manchmal eine Kohlenzange, manchmal die langstielige Brotschaufel. Ich stelle mir Xha Daut in seinem Häuschen vor, das in einer Gasse oberhalb der Backstube lag. Diese Gasse war von Mauern gesäumt, die teils eingestürzt, teils noch intakt waren, mit weißen und mit altersschwarzen Steinen, mit Ritzen und Löchern, durch die sich die Eidechsen schlängelten. Sie kamen aus ihren Verstecken, um sich an der Sonne zu wärmen oder eine Fliege zu fangen, aber es konnte auch geschehen, dass sie ein Stück ihres Schwanzes verloren, wenn unsere schnellen Kinderfüße es wie eine Zange eingeklemmt hatten. Vor Eidechsen fürchtete ich mich nicht, vor Schlangen allerdings schon. Mein Kamerad Rushit hingegen, der Sohn von Mullah Refik, dem wir den Übernamen «Zwiebel» gegeben hatten606 und der weit herum für seine riesigen Schuhe bekannt war, fürchtete sich auch vor Schlangen nicht. Das Haus von Xha Daut lag an dieser schmalen, von Mauern eingeengten Gasse. Sie schlängelte sich oberhalb des großen Hauses der Familie Kokalari mit seinem Steindach und Fachwerk und des Hauses von Xha Mujtin [Kokalari], dem Apotheker, hin. Xha Mujtin war der Vater von Eqrem, den wir «der Taube» nannten, weil er dem Lehrer in der Schule zu sagen pflegte «ich hab’s nicht gehört», wenn er seine Aufgaben nicht hatte. Eqrem war mein Klassenkamerad in der Grund- und Stadtschule. Später verließ er die Schule, da er tatsächlich sein Gehör verlor, und wurde «Apotheker» ohne Diplom, ausgebildet an der «Universität» seines Vaters, des Apothekers Mujtin, eines liebenswerten, freundlichen und umgänglichen Mannes. Mit den anderen Mitgliedern der Familie Kokalari hatte er nicht viel gemeinsam. Diese Gässchen voller Steine und Geröll verwandelten wir damals in «Fußballplätze», als Ball diente jeweils ein Stein oder eine zerbrochene Blechdose, die uns die Schuhspitzen und -sohlen zerfetzten. Zu jener Zeit waren diese Gässchen für uns absolut nichts Besonderes, wenn ich sie aber heute, [S. 255] «mit den Augen des Alters» sehe, scheinen sie mir die schönsten Straßen zu sein, die ich in meinem Leben je gesehen habe.

605 Urani Rumbo: Siehe S. 138. 606 Rushit «die Zwiebel»: Siehe S. 184 f.

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Das Haus des Bäckers Xha Daut war klein und umfasste nur ein Wohngeschoss, das über dem Stall lag. Im Stall gab es keine Kühe und keine Schafe; einzig ein paar Hühner und der eine oder andere Hahn mit kahlem Hals gingen durch die flügellose Tür, die zur Treppe mit ihren von der Feuchtigkeit und vom Regen verrosteten Eisengeländern führte. Von der Tür oben an der Treppe gelangte man in einen kleinen Winkel, der als Diele diente und vom Alter schwarz gewordene Holzgeländer hatte. Diese Diele war nach außen gänzlich offen und dem Wind ausgesetzt. Vor den Geländern stand ein Steinbänkchen, es verhinderte, dass der Bretterboden nass wurde, wenn es stark regnete oder stürmte. Vorn in der Diele hatte Dauts Mutter Çiçimako eine Matratze hingelegt. Sie bestand aus einem mit Maisblättern gefüllten Sack, der mit runden Stoffflicken zusammengenäht war, «Karfoma», wie wir das in Gjirokastra nannten. Diese Flicken wurden mit dickem Bindfaden und großen Polsternadeln angebracht.607 Von der Diele kam man in das enge und düstere Pat, das Winterzimmer.608 Es hatte eine Dachluke, ein kleines, vergittertes Fenster, ein Geschirrbord mit ein paar Kupfergefässen und eine Nische beim Kamin, wo die kleine Öllampe ihren Platz hatte. Der offene Kamin war vorne im Zimmer, in ihm wurde Feuer gemacht. Hinter dem Kamin gab es eine Nische, in der das Dreibein, eine verrußte Kupferkanne und ein Schürhaken standen; daneben ein kleiner Besen, um die Asche zusammenzuwischen. Bei der Feuerzange handelte es sich um das erwähnte Stück, mit dem Xha Daut sein Brot grillte. Mit demselben Werkzeug schob Çiçimako vor dem Schlafengehen die Glut zusammen und bedeckte sie mit Asche. Rings um den Kamin waren mit Kattun bedeckte Matratzen ausgebreitet, manche nahe dem Kamin, manche in der Mitte des Zimmers, wo auch ein alter Teppich aus Ziegenwolle lag. Zu Xha Dauts Haus war ich mehrfach gegangen – im Sommer zur Diele, im Winter ins Pat – um ihn zu bitten, «dass er uns für morgen das Byrek gut backen solle, weil wir ein paar Freunde zu Besuch haben werden», oder wenn mich die Mutter am Bajramfest vorbeischickte und mir Çiçimako einen Apfel schenkte, wie es der Brauch war. «Gut, gut», antwortete Xha Daut, wenn ich ihn bat, uns das Byrek zu backen, «richte der Mutter aus, dass ich mein Bestes geben werde, bloß soll sie nicht randvoll Butter darübergießen, weil ich sonst Probleme mit dem Feuer im Ofen kriege.» Ich ging nach Hause, um der Mutter zu berichten, was Xha Daut mir aufgetragen hatte, und sie sagte: «Viel Butter ist das erste Gebot beim Byrek, [S. 256] nur so wird es lecker; was wäre denn ein Byrek ohne viel Butter. Schande über Daut!» Die Mutter verfluchte den Bäcker zwar, aber natürlich ohne böse Gedanken, war sie doch eine gute, liebe und einfache Frau im Umgang mit den Leuten. Xha Daut war der König der Backstube, so wie Qato der Ägypter der König der Schmiede war. Daut war der «Gott» des Feuers. Sein vom Feuerschein vergrößerter Schatten fiel auf die langen Gestelle aus rußgeschwärzten Brettern, die randvoll mit 607 Karfoma: Siehe S. 85. 608 Pat: Siehe S.  84 ff.

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allem möglichem Küchengerät vollgestopft waren: Große Tonschüsseln mit aufgegan­ genem, festem Teig für Maisbrot, kleine Backbleche mit Qollopita, Shapkat, Laropita,609 mit Käsebyrek oder mit Fleischpasteten, deren aufgerichtete Teigränder eine Füllung aus Zwiebel- und Fleischstückchen umfassten. Desgleichen waren auf den Abla­gen alle möglichen kleinen und großen Backbleche mit Maisbrot zu sehen, mit dem Messer kunstvoll in Form von Vierecken oder Kreisen eingeteilt, auf denen manchmal mit der Löffelspitze sogar noch eine Verzierung angebracht war. Auf diese Weise pflegte auch meine Mutter das Brot zu schmücken. Weiter sah man hier Kasserollen «mit und ohne Öhrchen», mit verschiedenen Arten Birjan,610 mit Gemüse, mit und ohne Fleisch. Ging es um Birjan mit Reis, so brachten wir diesen Xha Daut separat in einem Glas oder einer Tasse, damit er ihn zum gegebenen Zeitpunkt beifügte. Abends, wenn die Arbeit erledigt und auf den Gestellen der Backstube kein Backblech mehr verblieben war, wurden vor allem im Winter die Bragaçe,611 die Gartöpfe, gebracht, um Pansen und Füße von Tieren zu garen, wie sie in unserem Viertel der Metzger Çoro612 verkaufte, oder auch wassergefüllte Bragaçe, um Maiskolben weichzukochen. Bevor Daut den Ofen schloss, stellte er diese Gartöpfe hinein, und wenn er sie dann am Morgen herausgeholt hatte, kamen wir vorbei und jeder von uns holte den seinen ab. Gekochten, warmen Mais aßen wir zum Frühstück; er ersetzte uns das Obst und war zugleich unser morgendliches Brot. Wenn die Mutter uns gekochte Maiskolben vorsetzte, freuten wir uns immer. Jeden Morgen bekamen wir als Proviant zwei Stück, mit denen wir uns auf den Schulweg machten. Der Mais füllte nicht nur unseren Bauch, er wärmte auch unsere kalten Hände. Beim Schulhof angekommen, blieben von den Maiskoben nurmehr die Strünke übrig, [S. 257] die uns als Wurfgeschosse dienten, wenn wir mit den Kameraden «top – meso» spielten.613 Ärger gab es nur, wenn es darum ging, wer die Backbleche in die Backstube bringen oder von dort holen sollte. Gleich brach der Streit mit Haxho, Bale und Sano614 aus: «Nein, bring du sie!», «Nein, warum soll ich sie bringen?». «He, he», ermahnte mich die Mutter, «hör mit dem Gezänk auf; du gehst hin, du bist schließlich der Junge.» Und damit drückte sie mir, noch bevor ich zur Schule ging, das Blech mit dem aufgegangenen Teig auf den Kopf. Ich hielt es mit beiden Händen 609 Qollopita, Shapkat, Laropita: Pasteten aus Maismehl mit Spinat (oder Kohl oder Kürbis), Öl, Käsestückchen und Gewürzen. 610 Birjan: Synonym zu Tava, in der Tonschüssel zubereitetes Pfannengericht mit Gemüse. 611 Bragaç: Kürbisförmiges Kupfergefäß mit einem Deckel, der mit Teig abgedichtet wurde, damit der Dampf nicht entweicht, lt. Xhaxhiu (2010, S. 29) vergleichbar mit den heutigen Dampfkochtöpfen. 612 Çoro: Siehe S. 159. 613 Top-meso: Siehe S.  168 f. 614 Haxho und Sano: Schwestern von Enver Hoxha, siehe S.  58 ff.; Bale: Cousine, Tochter von Hysen Hoxha (Baba Çen).

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fest, damit ich nicht aus dem Gleichgewicht kam und der Teigballen herunterrutschte oder gar alles zu Boden fiel, und so ging ich die steinige Gasse hinunter, die schmal und beidseitig von hohen Mauern gesäumt war. Auf der einen Seite war das die Mauer des Gartens der Familie Çoktani, wo wir Maulbeeren und Pflaumen naschen durften, da Teto Zurko unsere Nachbarin war und Tür an Tür mit uns wohnte. Auf der anderen Seite waren die Hausmauern von Lame Çali und des alten, patriotischen Lehrers aus der Familie Çipi.615 Es folgte eine Rutschpartie inmitten des Gerölls unterhalb der Scheune von Venetike. Venetike stammte aus der Labëria und war die Mutter von Hasibe, der «Labushka», wie Sano und ich unsere Spielkameradin nannten, die für uns wie eine Schwester war. Weiter ging der Weg unterhalb des Hauses von Iljaz Hoxha,616 einem meiner patriotischen Lehrer und einem der ersten, der in Gjirokastra auf Albanisch unterrichtete, und von dort her kam ich dann bei der Mamani-Backstube an. So schnell als möglich, um nicht zu spät zur Schule zu kommen, stellte ich das Blech auf einem Gestell ab und rief Xha Daut zu: «Ich habe das Brot gebracht!» oder «Ich habe das Fladenbrot gebracht», was gerade passte. Manchmal antwortete er gar nicht, manchmal – wenn er zornig war – schrie er: «Pass mal auf: Das ist mir völlig egal, dass du das Brot gebracht hast!» Wenn wir kamen, um das gebackene Brot abzuholen, stand es manchmal bereit, manchmal war es noch im Ofen. Wenn es schon fertig gebacken war, blickten wir uns um und suchten unser Blech. Zwar irrten wir uns nie, aber manchmal rief Xha Daut: «Pass gefälligst auf und bring mir die Bleche nicht durcheinander; sonst wird es ungemütlich mit den Frauen!» Wenn es im Winter kalt war und eisiger Wind wehte, schlichen wir uns in die Backstube, wo es herrlich warm war, und pirschten uns lautlos wie Katzen langsam zum Ofen vor. Xha Dauti i Çiçimakos tat, als bemerke er uns nicht und fuhr mit seiner Arbeit fort. Wenn er aber sah, dass wir immer mehr wurden und ihn mit unserem Geraschel störten, sagte er lachend und mit seinem von der Gluthitze des Ofens [S. 258] geröteten und verschwitzten Gesicht «Geht jetzt, Jungs, lasst mich in Ruhe!» Wenn wir im Sommer auf das Brot warten mussten, spielten wir auf dem Zeman-Platz das Steinplättchen-Spiel oder Arabadaule,617 wie es gerade kam. Am Freitag schloss Xha Daut seine Backstube jeweils; dass er an diesem Tag nicht buk, wussten alle Bewohner des Viertels. Der Freitag war für ihn der «Erholungstag». An diesem Tag ging Xha Daut auf den Markt, besuchte das Café von Neim Fino, unterhielt sich mit dem Bäcker der Çipis, einem alten Mann mit Haarschopf, oder genehmigte sich ein Glas Raki bei Nexhmo Hoxha.618 Er kleidete sich sehr gepflegt – «resmi», wie wir damals sagten – und ging nie anders als reinlich aus. Auf dem Kopf 6 15 616 617 618

Asaf Çipi: Siehe S. 248. Zu Iljaz Hoxha (1878–1960) siehe S.  116, 130 f. Arabadaule: Siehe S. 164, 174. Zu Nexhmo Hoxha siehe S. 133.

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trug er einen schwarzen Fes aus Plüsch, sommers wie winters zog er schwarze, wollene Kniehosen an, dazu Opanken mit nach oben gebogenen Spitzen, wie es damals «Mode» war, sowie eine Weste, deren Borten schwarze Stickereien auf weißem Untergrund trugen und bei der von der einen Tasche zur anderen eine gelbe Uhrkette hing. Wir waren überzeugt, dass diese Kette aus reinem Gold war. Xha Daut warf sein Jackett über eine Schulter und schlenkerte mit den Armen wie der Alte von Bishtika,619 dennoch fiel ihm das Jackett nie herunter. Er rauchte Zigaretten mit Zigarettenspitzen aus schwarzem Holunderholz, die er sicherlich abends am Kamin selbst geschnitzt hatte. Auch wir Kinder nutzten ja den Holunder, und zwar nicht nur die weißen Blüten, aus denen uns die Mutter einen Tee kochte, den wir bekamen, wenn wir krank waren. Wir verwendeten auch die Zweige des Holunderbusches, aus denen wir unsere «Waffen» oder «Gewehrläufe» herstellten, bliesen durch sie unsere «Gewehrkugeln» – mit Spucke geformte Papierbällchen –, die uns als kleine Geschosse oder Schrot dienten, und ließen sie knallen. Xha Daut i Çiçimakos, der liebenswürdige Bäcker unseres Viertels, hatte einen Schnurrbart, den er zwirbelte und dessen Spitzen er nach oben drehte «genau wie Bismarck», wie mein Vater sagte (wer Bismarck war, wusste ich damals noch nicht, war ich doch noch ganz am Anfang der Grundschule). Dies also war Çiçimakos Daut, einer der liebenswürdigen Bäcker des Viertels Palorto, ein Freund in den Jahren meiner Kindheit. Er buk unser Brot und nährte mich, als ich klein war; dafür bin ich ihm dankbar und werde ihn nie vergessen. [S. 259] Unterhalb des alten Mejteps,620 unterhalb dieses großen städtischen Gebäudes bzw. dieser Schule und am Fuße des Hofs derselben befand und befindet sich noch immer eine nicht sehr große Backstube, die wir damals «die Backstube des Bejs» nannten. Von welchem Bej? Das weiß ich nicht. Nach der Befreiung interessierte ich mich dafür, wer der Bäcker in jener Backstube gewesen war. Ich erfuhr, dass dort Malo Zere621 gearbeitet hatte, ein Freund aus meiner Kinderzeit, wohingegen der gegenwärtige Bäcker Xhevat Avdalli ist, ein bekannter

6 19 Nicht identifizierbar. Bështika oder Bishtika war ein altes Geschlecht in Gjirokastra. 620 Mejtep: Die muslimische Elementarschule, siehe S. 121. 621 Fußnote im albanischen Original: In einem Gespräch mit den wichtigsten Führungskräften des Kreises Gjirokastra sagte Genosse Enver Hoxha am 18.  März  1978 unter anderem dies: «Ich freue mich sehr, dass ich mit dem Volk zusammengekommen bin, und auch wenn der Menschenauflauf verunmöglichte, dass ich mich frei bewegen konnte, fand ich immerhin die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Malo Zere. Malo ist in meinem Alter; als Kinder spielten wir zusammen. In der Nähe hier gab es einen Bach, wo wir Krieg spielten. Die Größeren waren die Kommandanten, wir, die Kleineren, waren die Soldaten … Dies setzten wir fort, bis wir lernten, richtig Krieg zu führen. Was wir damals taten, war von grossem Nutzen für später, weil wir beim Kriegsspiel lernten, uns die Feinde ein für alle Mal vom Leib zu halten.» – Zu Malo Zere und den erwähnten Kriegsspielen siehe S.  171 f.

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Repräsentant des labischen Gesangs von Gjirokastra.622 Die Lieder von Xhevat, Lavo und Resul besitze ich als Tonbandaufnahmen, ich höre sie manchmal und freue mich daran. Xhevat kenne ich nur als guten Sänger, aber gewiss ist er auch ein guter Bäcker. In dieser Backstube ließen zur Zeit meiner Kindheit auch wir unser Brot backen. Die Bezahlung regelten wir monatlich, als Basis dafür hatten wir zu Hause einen «Araush». Der «Araush» war ein geschnitzter Ast der Kornelkirsche, auf ihm wurden mit dem Messer «Nägel» (Striche) eingeritzt, von denen jeder für ein Backblech oder einen Bragaç623 stand, den wir ins Backhaus gebracht hatten. Die entsprechenden Kerben korrekt zu machen, war eine Sache der Ehre. Mein Onkel und mein Vater waren diesbezüglich sehr rigoros und gingen unsere Rechnung jeweils noch vor Ablauf des Monats bezahlen. Wie alle damaligen Backstuben war auch diese eine Art mehr oder weniger langgezogener Schopf. Die «Backstube des Bejs» war von mittlerer Größe und hatte zwei Türen, die sich gegenüberlagen. Man betrat sie [S. 260] vom Kokona-Platz her, unterhalb des Lyzeums, und verließ sie in Richtung des Hauses der Familie Çipi, wo meine Tante Lule wohnte, eine Cousine der Großmutter mütterlicherseits, zu der manchmal auch wir Kleinen mit der Mutter zum Nachtessen gingen. Lule war eine Labin und stammte aus einem der Dörfer im Kurvelesh; sie war eine großherzige, reinliche Frau und hatte viele Söhne und Enkelkinder. Ihr Haus hielt sie sehr sauber; die hölzernen Böden der Zimmer glänzten vom vielen Putzen, die Leintücher waren schneeweiß. Der Hof war mit gekalkten Steinplatten belegt, darüber spannte sich eine Pergola, unter der Blumenvasen aufgereiht waren: Malven, Nelken, Hahnenkamm und andere. Wenn man die Backstube vom Kokona-Platz her betrat, sah man einen kleinen Korridor mit einem Räumchen auf der rechten Seite. Dort schlief wohl der Bäcker. Dieser war ein Mann von 40, 50 Jahren, wenn ich mich recht erinnere.624 [S. 261] Er stammte aus dem Dropull625 und hieß Jani. Aus welchem Dorf im Dropull er stammte, weiß ich nicht; meine Familie und uns Kinder interessierte weder, woher der Bäcker kam, noch ob er Christ oder Muslim war: Er war unser Bäcker und dass er Jani hieß, war bedeutungslos.626 Unsere ganze Erziehung von Seiten von Baba Çen, von meinem Vater, der Mutter, dem Onkel und der Großmutter war religiös indifferent.

622 Fußnote im albanischen Original: Am 23.  März  1978 machte Genosse Enver Hoxha einen Spaziergang durch die Gassen von Gjirokastra. Über diesen Tag schreibt er in seinem Tagebuch: «Während ich durch die Straßen ging, gelangte ich oben an die Gasse der Verrückten, wo mir der bekannte Sänger der gjirokastritischen Lieder, der Bäcker Xhevat Avdalli, entgegenkam. Wir umarmten uns und … stimmten das Lied an ‹Es hat Gjoleka jemanden geschickt / Der Lumi i Vlorës solle kommen [= die Kämpfer aus der Gegend Lumi i Vlorës sollen kommen; Anm. d. Ü.] / Sie strömen schon nach Radhima ›». – Zu Xhevat Avdalli siehe S. 61, 180. 623 Bragaç: Siehe S. 264. 624 Die Rede ist hier also von einem Vorgänger des oben erwähnten Spielkameraden Malo Zere. 625 Dropull: Siehe S.  175 f. 626 Der Name Jani deutet auf Zugehörigkeit zur griechischen Minderheit und zur orthodoxen Kirche.

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Teil III:  Einfache Menschen

Am Ende des kurzen Korridors mit der Schlafnische lag dann der Backraum mit einem großen Gestell, dessen Regale von den Backblechen schwarz waren, und je einem schmalen Durchgang links und rechts desselben. Vorn, angrenzend an die Hofmauer des Lyzeums, war der Ofen, in dem die Brote gebacken wurden. Der Durchgang auf der einen Seite war für die Kundschaft, dort brachten und holten die Leute ihre Backbleche. In Richtung der Tür, die zum Haus der Familie Çipi führte, hatte die Backstube ein stattliches Fenster, das mit einem Holzgitter verschlossen wurde, was einzig der Bäcker von innen her tun konnte. An diesem Fenster holte er frische Luft, kühlte sich ab oder wechselte ein paar Worte mit den Männern, die zum Bezahlen kamen, ihm Ratschläge gaben oder sich beklagten («du hast es nicht gut gebacken», «du hast es verbrannt» und so). Xha Jani ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, er hatte für alle eine schlagfertige Antwort bereit. Manche beleidigten ihn auch, so dass er rot vor Zorn wurde – nur sah man das gar nicht, da sein Gesicht vom Feuer des Ofens ohnehin immer rot glänzte, so dass die zusätzliche Zornesröte nicht auffiel. Dass er erbost war, sah man höchstens seinen Augen an – oder wenn er schimpfte: «Geh, sto­ dhiavolo».627 Wir Kinder kamen stets gut aus mit Meister Jani – nicht nur, weil er unser Bäcker war und unser Brot und die Qollopita628 buk, die uns warm und mit Käse so herrlich schmeckte, sondern auch, weil diese Backstube nahe bei unserem Haus lag. Hier wurde uns nie langweilig, weil die Furra von Xha Jani nicht so weit entfernt wie die Mamani-Backstube war, sondern sich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft und auch nahe der Schule befand. So war es ein Leichtes für uns, auf dem Schulweg in der «Backstube des Bejs» abzugeben, was wir bringen sollten, und auf dem Heimweg die fertigen Backwaren gleichsam im Fluge abzuholen, um sie mit knurrendem Bauch der Mutter zu bringen. So hungrig waren wir nach der Schule, dass wir manchmal sogar vergaßen, die Tür der Backstube zu schließen. Da es im Winter kalt war und Durchzug entstand, [S. 262] schrie uns der Bäcker Jani dann an: «Pedhimu,629 schließ die Tür, sonst bekomme ich noch die Schwindsucht!» Und wir gingen zurück und schlossen die Tür, denn dass Schwindsucht eine furchtbare Krankheit war, wussten wir. Wir liebten unseren Bäcker und hätten es nie gelitten, dass er krank geworden wäre. Und noch aus einem anderen Grund liebten wir Hoxha-Kinder Xha Jani und liebte er uns: Baba Çen nämlich mochte ihn gut, die beiden waren Freunde. Auch wenn Baba Çen Bürgermeister war, war er ja ein einfacher Mann geblieben; er hasste die Agas und ging mit den «kleinen Leuten» wie mit seinesgleichen um. Wenn er abends vom Rathaus heimkam, brachte er in der Tasche seines Mantels manchmal eine Flasche Raki und ein paar in Packpapier eingewickelte Stückchen dunkle Leber mit. Er ging dann zur Backstube von Xha Jani, setzte sich im Schneidersitz auf das Gestell, zog den Raki 6 27 Stodhiavolo (neugriechisch): Zum Teufel. 628 Qollopita: Siehe S. 264, 276. 629 Pedhimu: παιδί μου (neugriechisch), mein Kind.

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aus der Tasche und gab Xha Jani die Leberhäppchen. Dieser legte sie auf die Glut, worauf sie sich aus derselben Flasche am Raki gütlich taten und die Leber mit einer trockenen Zwiebel als Vorspeise verzehrten. Wenn der Mullah630 ins Feuer geriet, begann er «mit bebendem Schnurrbart» und rauchgeschwärztem Turban auf dem Kopf zu schimpfen und zog über die Agas her: die Karagjozi, die Hasani, die reichen Orthodoxen wie die Papadopoulos, Litos, Lilomanis und andere. War die Flasche schließlich geleert, schwankten die beiden, der Bürgermeister und der Bäcker, die «Gasse der Verrückten» hinunter und kehrten in ihre Häuser zurück. Bei unserem Hoftor versuchte der Bäcker dem Mullah die Hand zu küssen; der aber umarmte ihn, küsste ihn und schrie: «Küsse niemandem die Hand, sonst bist du nicht mehr mein Freund!» Vom Innern des Hauses her hörten wir den Lärm. «Geh, Enver», sagte meine Mutter, «nimm Baba Çen am Arm, sonst bricht er sich auf der Treppe noch den Hals.» Als Baba Çen dann oben auf der Diele angekommen war, deckte er uns mit schmatzenden Küssen zu, bis wir alle ganz nasse Gesichter hatten, und seiner Mutter küsste er die Hand. Sie ermahnte ihn ernsthaft: «Aber Hysen, mein Armer, wem schlägst du denn da nach; du hattest doch einen vorbildlichen Vater, du sollst doch nicht mit diesen Leuten trinken, das ist schlecht, man wird über dich schimpfen.» Worauf Baba Çen zornig wurde, seiner Mutter, die er gut mochte, aber mit dem gebotenen Respekt entgegnete: [S. 263] «Aha! Mit wem soll ich mich dann abgeben? Etwa mit Schurken wie den Hasanis oder mit Sami Karagjozi631 und seiner Kumpanei? Nein, Jeko, lieber bleibe ich in der Gesellschaft von Stromern, Habenichtsen, Zigeunern, Metzgern oder Bäckern, denn das sind ehrliche, einfache Menschen. Ich weiß, wie sie sich mit ihrer Arbeit abrackern und dabei doch kaum das tägliche Brot zusammenbringen, während die andern da in feines Tuch gekleidet sind, hochhackige Schuhe mit Knöpfchen tragen, herumsitzen und Däumchen drehen.» Und nach all diesen Schmähungen stieß Baba Çen den großen Fluch über die Agas von Gjirokastra aus (mit einem Ausdruck, den ich hier besser nicht wiederhole). Seine Mutter senkte den Kopf und murmelte: «Was hat er sich da wieder ausgedacht!» Wir Kinder aber lachten laut, beglückwünschten Baba Çen, kniffen ihn und kraulten seinen Bart. Er fuhr fort uns zu küssen und sagte unter Tränen: «Wenn ihr groß seid, werdet ihr diese Hunde töten!» Die Mutter hielt es nicht mehr aus, sie sprang auf und schrie: «Oh! Bravo, Hysen! Was schwätzt du da für Zeug vor den Kindern? Enver, um Himmels Willen, hör nicht auf ihn, denn er weiß nicht, was er spricht!» Meine Mutter umarmte Baba Çen, trocknete seine Tränen, wusch sein Gesicht mit einem nassen Lappen, zog ihm die Kleider aus und das Nachthemd an. Oft schlief er

6 30 Gemeint ist Baba Çen resp. Hysen Hoxha. Zum Gebrauch des Titels «Mullah» siehe Anm. 198. 631 Zum Großgrundbesitzer Sami Karagjozi siehe S. 133, 293.

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dann so, wie er war, auf dem Sofa ein. Wir deckten ihn mit einer Decke zu, stellten ihm eine Karaffe mit Wasser bereit und ließen ihn ruhen. Soweit also ein paar Erinnerungen an Jani, unseren anderen Bäcker. Ich ergänze sie mit der Folgenden: Eines Abends kam ich von der Kuculla her, wo wir gespielt hatten. Ich stieg den kleinen Abhang vom Haus meines Freundes Kamber Bilal zum Haus von Muharrem Qemo hinunter und kam dann auf die Straße, wo die Backstube stand. Dort sah ich, wie Xha Jani, ans Fenster seiner Backstube gelehnt, eine selbstgedrehte Zigarette rauchte und vor sich hinträumte. Ich sagte ihm «Gute Nacht, Meister Jani», und er entgegnete mir «Orakali, pedhimu»632. Er wusste genau, wann Baba Çen nach Hause kam und sprach ihn jeweils vom Fenster her an: «Gehst du nach Hause, Mullah?» [S. 264] «Ja, ich gehe heim; und dir wünsche ich gute Ruhe, Meister Jani!», antwortete Baba Çen. Noch jetzt, in meinem Alter, empfinde ich als Neffe von Baba Çen Befriedigung, dass auch ich, als Kind des Volkes und Soldat der Partei, etwas für mein gutes und heldenhaftes Volk gemacht habe, für Meister Janis Söhne, Töchter und Enkelkinder aus dem Dropull, für unsere Brüder und Schwestern aus dem Dropull, die gleichwertigen Anteil an den Pflichten und Rechten unserer sozialistischen Heimat haben.633 Wenn aus irgendeinem Grund einmal beide Backstuben, von denen ich erzählt habe, geschlossen waren, ließ unsere Familie die Brote auch weiter weg, in der AngoniBackstube, backen.634 Diese eher kleine Backstube lag in der Nähe des Gevierts der Angoni-Häuser,635 nicht weit vom Ort entfernt, an dem freitags und montags der Markt stattfand, d. h. auf dem Platz der Tekke von Scheich Durro. Die Backstube stand bei den Pfeilern einer kleinen Brücke, die über einen Sturzbach führte. Dieser donnerte hoch vom Berg herunter, nahm seinen Lauf mitten durch den Stadtteil Dunavat e Sipërm636 und floss dann unten an den Mauern des Hauses der Familie Reso vorbei, in dem ich oft meine Cousine Hasibe, eine Tochter von Baba Çen, besuchte.637 Weiter floss der Bach unter der Brücke des Koshalwa-Zuckerbäckers durch,638 bis er sich unten im Stadtteil Varosh im Schotter des Flusses verlor. Dieser Bach führte Steine, Felsbrocken und entwurzelte Bäume mit sich, kurz, alles was sich ihm in den Weg gestellt hatte. Die Brücken riss er manchmal mit, manchmal überflutete er sie; damit musste die Stadtverwaltung zurechtkommen. Einzig der Backstube konnte er nichts anhaben, bloß ließ der ewige Lärm Shaban, den Bäcker, fast taub werden. Sha 632 Fußnote im albanischen Original: Komm gut heim, mein Junge. [Wörtlich: ώρα καλή, παιδί μου, gute Zeit, mein Kind; Anm. d. Ü.]. 633 Die Region Dropull hatte einen hohen Anteil Griechischsprachiger, siehe Anm. 391. 634 Albanisch «furra e Angonatëve». 635 Angoni-Häuser: Siehe S.  92 f, 271. 636 Dunavat e Sipërm: Oberes Dunavat. 637 Hasibe, verheiratete Reso: Siehe S. 252. 638 Siehe S. 158.

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ban stand uns nicht so nahe wie die anderen zwei Bäcker. Das hing wohl auch damit zusammen, dass seine Backstube weit entfernt war und es für uns mehr als mühsam war, die Backbleche so weit hin- und herzuschleppen. Dies färbte auch auf unsere Beziehung zu Shaban selbst ab, der etwas auf brausend war und nie lachte. Ein schlechter Mensch war er gewiss nicht, aber die Beengtheit seiner Backstube hatte vielleicht auch ihn selbst etwas engherzig werden lassen, so etwa, wenn er rief: «Los, hört mit dem Geschwätz auf, nehmt euer Zeug und verzieht euch, ich habe ja kaum Platz genug für alle Backbleche!» oder «Hopp, bleibt draußen!». [S. 265] «Aber es gießt wie aus Kübeln, Xha Shaban», sagten wir, wenn es regnete. «Nicht mein Problem», war seine barsche Antwort. So verzogen wir uns halt und kauerten uns tropfnass unter das Vordach des großen Hoftors der Angonis mit seinen Bänkchen, der eine mit einem Sack anstelle einer Kapuze auf dem Kopf, der andere mit einem Mantelzipfel. Das Geviert der Angoni-Häuser war groß und wunderschön. Besonders aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass sie zu den schönsten Häusern im gjirokastritischen Stil überhaupt zählen. Diese Häuser hatte ich nie betreten; ich war einzig einmal bis zum Hof der Odajashtë639 gekommen, weil ich Mullah Idriz Angoni etwas von Baba Çen bringen musste; die beiden waren befreundet. Zusammen mit Sali Boca und Musa Xhiku zählte Mullah Idriz zu den Empfängern jenes Telegramms, das Baba Çen 1912 aus Vlora geschickt hatte, als er in seiner Funktion als Delegierter von Gjirokastra beim Hissen der Fahne teilnahm.640 In der Nähe dieser Backstube stand auch das Haus von Kasem Xheneti. Xha Kasem hinkte; er war einer der besten und engsten Freunde meines Vaters, die beiden mochten sich sehr. Xha Kasem hatte einen Sohn namens Malo, der jünger war als ich. Ich habe ihn schon früh aus den Augen verloren. Als ich mich nach ihm erkundigte, erfuhr ich, dass es ihm gut geht und dass er Lehrer in Durrës gewesen sei. Ein Stück nach dem Haus von Xha Kasem, wenn man zum Haus von Adem Bej hinunterging, befand sich das Schlachthaus, das mittlerweile offenbar neu gebaut wurde. Dort gab es einen kleinen Platz, um den ringsumher die Läden der Metzger angeordnet waren und wo geschlachtet, gehäutet, verkauft wurde. Wer immer dorthin 639 Odajashtë: Ein kleines, oft einzimmriges Häuschen vor dem eigentlichen Haus; vgl. aber zu einer offenbar größeren Variante S. 282. 640 Gemeint ist die Ausrufung der Unabhängigkeit von Albanien, siehe S. 108. Im albanischen Original findet sich hier die folgende Fußnote: In diesem Telegramm hieß es: «Vlora, 28. November 1912. An die Herren Idriz Angoni, Musa Xhiku …, Gjirokastra. Gut angekommen. Mit Ismail Qemali und anderen Vertretern des Langen und Breiten gesprochen. Für die Anerkennung unserer Unabhängigkeit gibt es starke Sicherheiten. Die Verzögerung der Erklärung unserer Unabhängigkeit in Gjirokastra und den Unterpräfekturen der Region ist sehr unerfreulich. Ich informiere euch mit hoher Priorität, dass ihr so bald als irgend möglich und ohne eine Minute zu verlieren die Unabhängigkeit ausruft gemäß der Proklamation der ehrenhaften Regierung und dass ihr die nationale Fahne hisst. Ist Enver gesund? Hysen».

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Teil III:  Einfache Menschen

kam, um etwas zu kaufen, konnte sich das Fleischstück aussuchen, das ihm zusagte. Manchmal nahm mich mein Vater mit, [S. 266] damit ich ihm den Korb oder Sack tragen helfe. Wir hatten unseren eigenen Metzger, selten nur ging der Vater zu einem anderen. Er sagte: «Schneide mir hier 1–2 Kilo von der Keule ab», was der Metzger dann auch tat. Kuh- und Ziegenfleisch kaufte der Vater nie. Die meisten Leute in Gjirokastra ziehen Lamm- oder Schaffleisch vor. Wenn ich an die Metzger denke, geht mir ein Ereignis durch den Kopf, über das man damals sprach. Es drehte sich um einen reichen und geckenhaften Jüngling namens Çuço, der eine Brille, eine Uhrkette und gewichste, knarrende Schuhe trug und sich zu guter Letzt auch noch einen Spazierstock anschaffte. Niemand achtete auf ihn, aber sein Ziel war aufzufallen. Eines Tages hatte er einen Ring mit einem Edelstein gekauft und ging dann zum Metzger. «Was darf es sein, von welchem Stück soll ich dir abschneiden?» Çuço streckte ostentativ den Finger mit dem Ring aus und sagte: «Von dem da!» Der Schalk von einem Metzger verstand wohl, worauf Çuço hinauswollte, tat aber nicht dergleichen. Als er das Hackbeil nahm, um das gewünschte Stück zu schneiden, hielt ihn Çuço auf und sagte, neuerlich mit ausgestrecktem Ringfinger: «Nicht dies hier, ich will vom anderen Stück.» Dieses Manöver wiederholte er vier-, fünfmal. Schlussendlich sagte der Metzger: «Jetzt nimm dich aber zusammen, sonst hacke ich dir den Finger ab, denn dein Edelstein hat mich ganz geblendet!» Çuço gefiel das sehr und er antwortete: «Was soll’s; schneide mir drei Kilo von irgendeinem Stück ab; Fleisch ist Fleisch.» In der Nähe des Schlachthauses, wenn man linkerhand die Straße hinunterging, war das Grab meines Großvaters641 Mullah Beqir, des Onkels meiner Eltern. Gleich anschließend befanden sich das Stadthaus und der Vakëf,642 wo Baba Çen arbeitete. Ging man die Straße, an der das Schlachthaus lag, weiter hinunter, kam man unterhalb des Gewölbes vorbei, auf dem die alte Xhamia e Pazarit, die Basar-Moschee, stand. Aber das ist eine andere Geschichte. Auch als wir eine Zeitlang in Cfakë wohnten, brauchten wir natürlich eine Backstube. Zum Glück gab es eine, die gar nicht so weit von unserem Haus lag. Den Weg zu ihr hinunterzugehen, war kein Problem. Der Rückweg bergaufwärts aber, wenn man beladen war mit Backblechen, mit dem Gemüsekorb vom [S. 267] Markt und mit der Schultasche, brachte einen wirklich zum Schwitzen. Aber wir waren ja jung und furchtlos. Der Bäcker in Cfaka hieß Xha Bastri, er war ein kleiner Mann mit einem Schnurrbärtchen, das weiß wie seine Haare war, mit Ausnahme der Spitzen: Diese nämlich waren gelb von den Zigaretten, die er mit einer kleinen gelben Zigarettenspitze 6 41 Großvater: Gemeint ist der Großonkel. Zu Mullah Beqir Hoxha siehe S. 115, 239. 642 Vakëf: Siehe S. 115.

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rauchte, von der er sagte, sie sei aus Bernstein. Er war schon in mittleren Jahren, aber immer noch sehr beweglich. Die Backbleche rüttelte er nach Kräften, wenn er sie aus dem Ofen zog und schwang sie rasch aufs Gestell, denn sie waren noch brennend heiß. Xha Bastri war ein ruhiger Mensch. Böse Zungen lästerten manchmal, er schöpfe mit einer Holzkelle Brotmehl von den Backblechen der anderen ab und fülle damit sein eigenes Blech. Nichts davon war bewiesen, aber Getuschel gab es. Die Backstube von Xha Bastri stand an einem guten Ort. Rings um sie herum spielten wir. Hinter der Backstube gab es einen leicht abschüssigen Platz mit ein paar hohen Zürgelbäumen, dem einen und anderen Judasbaum und Mohnblumen. Dort spielten wir Fußball, wenn wir auf das Brot warten mussten. Im Viertel Cfaka gab es mehr Grünflächen als in den anderen Stadtteilen. Cfaka glich eher einem großen Dorf auf einem Hügel, von dem aus man den Shesh i Zinxhirëve, den «Kettenplatz», die Tekke von Baba Ali und das Dorf Kordhoca sehen konnte. Ein Stück entfernt von der Backstube gab es in Cfaka einen Platz, auf dem eine große Steinbank stand, ein Treff- und Ruhepunkt der Alten. Er befand sich in der Nähe des «Lahmen», des Ägypters Shyqri. Er war der Einzige im Viertel, der ein Fahrrad besaß und sogar freihändig damit fuhr, was uns sehr beeindruckte. Ging es aufwärts, so nahm Shyqri sein Fahrrad auf die Schultern. Wenn er sein lahmes Bein auf die Erde stellte, vergaß er nie, das Knie mit der Hand zu umfassen. Auf der erwähnten Steinbank trafen sich die Alten zu angeregtem Gespräch: Mein Vater, Sejdo, Kadri, Eshref und Zeqo Omari, Nesip und Bahri Kore und andere. Wir Jungen trafen uns, wenn wir die Hausaufgaben erledigt hatten, unterhalb dieses Treffpunkts der Alten auf einem Platz, in dessen Mitte ebenfalls eine Bank stand. Auf diese Bank wurde bei Todesfällen die Leiche gelegt und der Hodscha sang dort dem Verstorbenen die Duva;643 hierauf wurde dieser zur Begräbnisstätte gebracht. Die Begräbnisstätten lagen verstreut, je nachdem, wo jeder sein Land hatte: in Korovesh,644 in einem Hain oder sonst wo. Zum Spielen gingen wir auch in ein Wäldchen und kamen dabei durch die Gasse, wo Kadri Omari und die beiden Friseure Nesip und Bahri Kore wohnten, bei denen wir unsere Haare schneiden ließen. Das Sträßchen war voller [S. 268] Kuhfladen und Schaf- und Ziegenkot. Hier roch es wirklich nach Dorf, denn jedermann in diesem Viertel hielt Kühe, Schafe, Ziegen und Geflügel, wodurch vor allem die Versorgung mit Milch, aber auch mit Fleisch und Eiern sichergestellt war. Im Wäldchen mit seinem Hügelchen spielten wir. Es gab dort auch Kornelkirschenbäume. Mit unseren Taschenmessern, die wir stets zur Hand hatten, schnitten wir manchmal Ruten zurecht, um uns gegen die Hunde des Viertels zu wehren, die mir einmal den Hosenboden zerrissen hatten. 6 43 Duva: Vom Hodscha gesungenes Totengebet. 644 Korovesh: Das Toponym konnte für Gjirokastra nicht identifiziert werden; es kommt ebenfalls in Fier und Berat vor.

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Teil III:  Einfache Menschen

In Cfaka wohnten wir nicht länger als ein Jahr, wenn ich mich nicht irre.645 Anschließend nahmen wir unsere Habe auf die Schultern und dislozierten nach Hazmurat, in das Haus des Bruders meiner Mutter oben auf dem Hügel. Dieses Haus stand leer, weil der Onkel seine Familie zu sich nach Fier kommen gelassen hatte.646 Hier begann auch für mich ein neues Leben, wenngleich kein unbekanntes: In das Haus des Onkels war ich ja immer schon gegangen, manchmal ganze Tage und Nächte. Ich fühlte mich dort wie daheim, es war ja schließlich das Haus meiner Mutter und Großmutter. Die Großmutter fehlte uns freilich sehr, als wir dorthin umzogen. In Hazmurat gab es zwei Backstuben, die nicht weit auseinander lagen. Die eine gehörte Xha Abaz Çuçi, die andere Bido Çano. In die erste gingen wir, als ich noch klein war. Die Backstube von Çano, die näher beim Haus des Onkels lag, war damals noch nicht in Betrieb, so dass die Großmutter647 gezwungen gewesen war, ihr Brot bei Abaz backen zu lassen. Damals wohnten wir noch nicht in Hazmurat. Allein oder mit meiner Mutter gingen wir aber oft zum Mittag- oder Abendessen dorthin, blieben manchmal über Nacht, manchmal auch fünf Tage oder sogar eine Woche, wie es gerade kam. Von dorther gingen wir auch zur Schule, auch wenn der Weg sich zog. Zuerst gingen wir über die Sollaku-Straße, kamen zu den Häusern der Galanxhis und Hashorvas im Viertel Gjobek,648 dann zum Haus des Metzgers Çoro in Varosh und trafen endlich noch rechtzeitig in der Schule ein. Dieser Schulweg war zwar lang, aber auch kurzweilig. Bei der Großmutter aßen wir reichhaltiger als zu Hause, weil der Onkel die Mittel dazu hatte. Wenn wir nach dem Frühstück zur Schule gingen, steckte sie uns oft noch zwei, drei getrocknete Feigen oder ein Ei in die Tasche, das sie mit Zwiebelschalen gekocht hatte, um die Schale gelb zu färben. [S. 269] Die Großmutter schickte uns aber auch zur Backstube. Im Haus des Onkels gab es Weizenbrot zu essen und meine Mutter konnte dort ihre Fertigkeit als Köchin unter Beweis stellen. Auch die Frau meines Onkels, Behie, stand ihr hinsichtlich der Kochkunst in nichts nach. Allerdings: Die Butter, das Öl, die verschiedenen Speisen, die Nockerl, die Fleischstücke standen, sowohl was die Menge als auch was die Größe betraf, unter der strengen Aufsicht von Açe (unserer Großmutter Hasije), die haushälterisch, dabei aber erstaunlicherweise keineswegs geizig war. Nichts ließ sie je verderben, von nichts verwendete sie zu viel, von nichts zu wenig. Wenn wir uns zu Tisch setzten, teilte die Großmutter jedem von uns so viel zu, wie ihm zustand, und 6 45 Vgl. zur unsicheren Datierung der Umzüge Anm. 584. Seite 254 wird die Dauer des Aufenthalts in Cfaka mit «einige Jahre» angegeben. 646 Zu Enver Hoxhas Onkel Shyqyr Çuçi und dem Umzug nach Fier siehe S. 171, 219. 647 Hasije Çuçi Açe, siehe S. 63. 648 Der Name dieses auch in Kapitel 2 von Kadares «Chronik in Stein» erwähnten Viertels wurde offenbar geändert; eine Identifikation steht aus.

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das, was in der Pfanne blieb, verteilte sie unter uns Kindern. Bisweilen naschten wir ein Stückchen von dem, was der Mutter oder Großmutter war; diese tat dann so, als ob sie uns nicht sähe, warf uns aber einen ihrer scharfen Seitenblicke zu. Sie hatte nämlich die Gewohnheit, wie ein Adler ein Auge zuzukneifen und das andere offen zu halten, doch auch wenn sie ein Auge geschlossen hatte, schien sie mit beiden zu sehen. Sie war wie ein Mann, sehr lebhaft, rasch, streng, aber auch liebevoll. Ihr Mann war schon früh verstorben und hatte sie mit zwei Mädchen und einem Jungen zurückgelassen. Sie hatte alle drei Kinder selbstständig aufgezogen und war auch deshalb haushälterisch geworden. Den Männern im Viertel stand sie gleichwertig gegenüber, und als sie in die Jahre gekommen war, kamen die alten Männer sogar zu ihr, unterhielten und berieten sich mit ihr und fragten sie um Rat. Der Bäcker in Xha Abaz’ Backstube, Kola, schätzte meine Großmutter. Er hatte Respekt, aber auch Angst vor ihr, denn wenn ihr etwas nicht passte, scheute sie sich nicht, ihr Kopftuch anzuziehen und stracks zu ihm zu kommen. Kola sagte ihr dann: «Ganz ruhig, Teto Hasije; zugegeben, es ist ein bisschen verbrannt, weil ich etwas stark eingefeuert habe» oder «Du hättest es halt etwas früher bringen sollen, nicht im letzten Moment» usw. Auch Xha Kola war nicht aufs Maul gefallen, er zahlte seinen Kritikern mit gleicher Münze zurück. Bei Leuten wie meiner Großmutter Hasije war er allerdings vorsichtig, und wenn wir Kinder zum Abholen der Ware in die Backstube kamen, verkündete er uns: «Mit Açe ist nicht gut Kirschen essen, der entgeht nichts!» Bäcker zu werden, ist kein Ding der Unmöglichkeit, aber mit Leib und Seele Bäcker zu sein, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Der Beruf ist hart und nicht wie irgendein anderer; man muss jahrelang arbeiten, um auf einen grünen Zweig zu kommen. Alle Bäcker, die ich in meiner Jugend gekannt habe, waren Männer in fortgeschrittenem Alter und hatten zweifellos [S. 270] große Erfahrung. Ihr Handwerk war keineswegs leicht, wie ich es mir in meinem kindlichen Sinn vorgestellt hatte, wenn ich, an ein Gestell der Backstube gelehnt, auf unser Brot wartete und dem glühenden Ofen und Kola bei der Arbeit zusah. Der Bäcker musste genau wissen, wann der Ofen eingeheizt werden musste und wie viel Holz es dafür brauchte. Der Platz hierfür im Ofen war genau bestimmt. Thermometer oder Gradmesser, wie wir sie nannten, gab es damals noch nicht; alles musste der Bäcker mittels der Zeit messen, indem er auf seine Taschenuhr blickte, auf seinen «Wecker» wie Xha Kola sie nannte. Die Temperatur des Ofens maß er durch Augenschein, manchmal steckte er auch eine Hand hinein. Dieser erste Schritt war eine Kunst für sich; Xha Kola schloss ihn mit dem Bescheid «furra erdhi», der Ofen ist gekommen, ab. Eine weitere, noch höhere Kunst war es, das Backgut im Ofen zu platzieren. Dieser Schritt stellte den Beginn eines heiklen und komplizierten Prozesses dar. Voraussetzung war, dass der Bäcker seinen Ofen bis ins letzte Detail kannte. Es scheint, dass er ihn mit seinem Sachverstand in verschiedene Sektoren eingeteilt hatte und wusste, auf welcher Seite des Ofens es besonders heiß war, wo etwas weniger, wo die Flammen

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hinreichten und wo es ohne Flammen heiß war, wann das Feuer angefacht werden musste, wann die Glut nach vorne gezogen, wo und wann sie verteilt werden und wo die Asche aufgehäuft werden musste. All dies verlangte umso ausgeklügeltere Kenntnisse, als jede Brotsorte, jedes Backblech, jeder Schmortopf, jedes Byrek und jede Pastete, jede Qollopita oder Laropita, jeder Shapkat oder Bragaç649 seine eigene Temperatur und genaue Backzeit hatte, die weder über- noch unterschritten werden durfte. Wohl konnte man die verschiedenen Dinge jetzt in den Ofen einfüllen, aber nach einer halben oder ganzen Stunde musste man sie wieder bewegen, umstellen, schwenken, sie nach vorne ziehen, um zu entscheiden, ob sie fertig gebacken waren, ob sie nicht angebrannt waren, ob die Gerichte in den Schmortöpfen und Tonschüsseln gar waren oder noch etwas Wasser zugegeben werden musste. Was für ein vollendeter Koch musste so ein Bäcker sein! Für was für eine große Küche hatte man Xha Kola die Verantwortung überlassen! Von seinen Fähigkeiten, von seiner sicheren Hand hing die Zufriedenheit ganzer Familien ab! Es ging um das tägliche Brot! Das Brot! Das Brot! Unser Volk verbindet ja alles mit dem Begriff Brot.650 «Ich will Brot», «Ich habe noch kein Brot gegessen», «Gehen wir Brot essen»! 651 Immer heißt es «Brot»! Wenn wir uns zu Hause am Esstisch versammelten, lernten wir die Wendungen kennen «Macht das Brot nicht zu Krümeln!», «Sammelt [S. 271] die Brotkrümel ein und steckt sie in den Mund!»,652 «Das Brot sollt ihr zuerst küssen und an eure Stirn halten, bevor ihr es esst!» Und dieses Brot buk uns der liebe Bäcker – doch dieser liebe Bäcker, dieser großartige Koch des ganzen Viertels, war der ärmste, der erschöpfteste von allen, der nicht selten auf dem Boden der Backstube schlief und für den nur sehr wenige Leute Wertschätzung empfanden. Ich liebe euch und ich habe große Achtung vor euch, ihr Bäcker, wo immer ihr auch seid, wo immer ihr auch arbeitet. Ich habe euch schon geliebt, als ich noch klein und jung war, aber erst jetzt begreife ich in vollem Maße, welch unschätzbaren Wert ihr darstellt – ihr, die ihr zu den besten Arbeitern des Feuers und der Flamme zählt. Der alte Abaz Çuçi, Besitzer des Backstuben-Schuppens, in dem Xha Kola als Bäcker arbeitete, war ein kurzgewachsener Mann mit weißen Haaren, die ihm vom Kopf standen, mit einem weißen Schnurrbart und einer kleinen, drahtumwickelten Brille. Er hatte ein kleines Gesicht, war taub und Uhrmacher von Beruf. Er war ein guter Mensch. Xha Kola mochte er gut, und er mochte auch uns, weil er ein Cousin meiner Mutter und ihres Bruders – meines Onkels – war. Wenn er von seiner kleinen Werk6 49 Qollopita, Laropita, Shapkat, Bragaç: siehe Anm. 609 und 611. 650 Albanisch «bukë» hat tatsächlich eine über das eigentliche Brot weit hinausgehende Bedeutung und meint Essen, Mahlzeit und Essenszeit in einem weiteren Sinne. In Jani Thomais Fjalor frazeologjik i gjuhës shqipe (Tiranë, 1999) finden sich zum Lemma «bukë» denn auch 53 Einträge. 651 Bedeutung der drei Beispiele: Ich will essen. – Ich habe (noch) nicht gegessen. – Gehen wir essen. 652 Beide Wendungen postulieren einen sorgfältigen und sparsamen Umgang mit Brot bzw. mit dem Essen.

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statt, wo er die Uhren der Leute reparierte, nach Hause ging, führte ihn sein Weg an der Backstube vorbei, dort grüßte er den Bäcker und fragte ihn jedes Mal: «Kola, wie geht es deiner Zwiebel?» (Damit meinte er die Taschenuhr.) «Prächtig, Abaz», antwortete Kola. Wenn es regnete und Xha Abaz von zu Hause her zur Backstube ging, setzte er sich, damit seine Haare nicht nass würden, einen schwarzen Topf653 mit einem breiten Rand auf den Kopf, ähnlich den Helmen der deutschen Soldaten. Den Henkel des Topfs schob er unter sein Kinn, als wäre es der Riemen des Helms. Ich erinnere mich, wie ich einmal auf dem Vorplatz neben ihm auf einem Polster sass und sagte: «Xha Abaz, auch ich mag Xha Kola, so wie du.» «Warum magst du ihn?», fragte er. «Weil er uns das Brot und die Byreks meiner Mutter so gut backt.» «Hör mal gut zu, kleiner Sohn von Gjulo»,654 sagte der alte Xha Abaz, «Auf der Welt gibt es große und kleine Leute. Sie sind wie die Rädchen einer funktionierenden Uhr. Ich kenne diese Rädchen nur zu gut, ich habe mir mit ihnen mein Augenlicht ruiniert. Hast du mich gesehen, [S. 272] als du in meine Werkstatt gekommen bist, wo ich zusammen mit Eqrem arbeite? Ich setzte jeweils eine kleine Augenlupe auf, weil ich die Rädchen nur so groß genug sehe. Diese winzigen Rädchen, und nicht die großen Messingplatten, sind die Seele der Uhr. Ohne die kleinen Rädchen läuft die Uhr nicht; geht hingegen eine der großen Platten zu Bruch, ist das nicht weiter tragisch, die Uhr läuft immer noch. Und Kola ist wie eins dieser Rädchen, fein wie ein Haar.655 Siehst du, deshalb mag ich den Bäcker Kola.» Das war es, was mir der taube, aber scharfsinnige Xha Abaz sagte. Ich riss die Augen auf und staunte in meinem kindlichen Sinn: «Was, Xha Kola ist ein ‹Haar›!» Verwundert schaute ich den alten Mann an. Er verstand meine Verwirrung und strich mir mit seiner kleinen Hand, mit seinen feinen Fingern über den Kopf und sagte: «Kleiner Sohn von Gjulo, behalte diese Worte von Xha Abaz in Erinnerung. Du begreifst sie jetzt wohl noch nicht, aber später, wenn du groß bist, wirst du ihren Sinn verstehen.» Heute, lieber und verehrter Xha Abaz Çuçi, erinnere ich mich mit großer Dankbarkeit an dich, erinnere mich an deine philosophischen Worte und verstehe sie inzwischen auch. Du hast dich in der einfachen Sprache des Volkes über die große und maßgebliche Bedeutung der unteren Schichten, der kleinen Leute, des Volkes für die Entwicklung der Gesellschaft und den gesellschaftlichen Fortschritt ausgedrückt. 6 53 Im Original: Bragaç; siehe Anm. 611. 654 Gjulo: Gjylihane bzw. Gjyle bzw. Gjulo Hoxha, die Mutter von Enver Hoxha. 655 Albanisch «qime», was in erster Linie ein feines Haar oder einen Stoppel bedeutet und vom kleinen Enver auch so verstanden wird. «Spiralfeder» ist eine fachsprachliche Nebenbedeutung.

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Dafür drücke ich dir meine grenzenlose Dankbarkeit aus ­– dir und vielen anderen wie du, die ihr mich schon in jungen Jahren gelehrt habt, das arme Volk zu lieben und ihm treu zu dienen, so lange ich lebe. Die Jahre vergingen und ich wurde größer, ging regelmäßig ins Lyzeum und lernte. Die Welt, das Leben, die Menschen schienen mir anders, ich sah sie mit verändertem Blick und beurteilte alles mit reiferem Verstand. Tag für Tag eröffneten uns die Schule und unsere Lehrer weitere Horizonte. Unser Verstand, unsere Gedanken reichten nun über Gjirokastra hinaus. Wir hatten inzwischen tiefere und bessere Kenntnisse der erhabenen Geschichte unseres Volkes, seiner Heldenhaftigkeit, der Kämpfe, die Skanderbeg, die Vertreter der Rilindja, Bajo und Çerçiz ausgefochten hatten. Wir lernten Lieder, die wir auf labisch und in schulkonformer Art sangen, wir lernten die Geografie unseres Landes und der Welt kennen. Unser Verstand ging auch über das Vaterland hinaus: Wir lernten die französische Sprache und die Geschichte des französischen Volkes, wir lernten Mathematik usw. usf. Als wir vom Stadtteil Cfaka nach [S. 273] Hazmurat umzogen, war ich erwachsener geworden, meine Familie war ärmer geworden, aber das Wissen in meinem Kopf war breiter geworden. In Hazmurat fühlte ich mich zu Hause. Dort hatte ich viele Freunde: Elmaz Konjari, meinen Cousin Sado, Lazo, Sako, Namik Lelo, Sami Shupo, Fahri Qofte, Reshat Toto, Malo Zere, Malo Çenko und andere.656 Freundschaft schloss ich auch mit Hulusi Kavo, der auf den Gütern der Familie Malile wohnte, nahe dem Haus meines Onkels, in dem wir wohnten. Mit meiner Mutter besuchten wir ihn. Aus Armut emigrierte er schon in jungen Jahren in die USA, wo er sein Leben lang hart arbeitete und sich in den Reihen der Albaner in Amerika als Patriot auszeichnete, der sich feurig für die Freiheit Albaniens einsetzte. Zusammen mit meinem Freund Talat Shehu stand er in der ersten Reihe der Kämpfer, die die Rechte und Siege des sozialistischen Albaniens verteidigten. Die Backstube von Çano657 war inzwischen eröffnet. Ihr «Vorsteher» war derselbe alte Xha Kola, der als Bäcker in der Backstube von Xha Abaz gearbeitet hatte. Offenbar war er hierher umgezogen und hatte seinen Arbeitsplatz bei Xha Abaz einem anderen überlassen. Kinder wollen ja alles wissen, und so berichteten mir die Kameraden (was auch mein Freund Muhedin Çano, Bidos Bruder, bestätigte), warum Xha Kola seinen alten Arbeitsplatz verlassen hatte: «Xha Kola hatte einen schweren Streit mit dem mächtigen Aga Mehmet Hadëri», erfuhr ich, «und so sagte er zu Xha Abaz: «‹Es tut mir leid, Abaz, dass ich mich von dir trennen muss, aber den Anblick dieses Schweins mit seinem Wollumhang ertrage ich nicht mehr und backen mag ich für den auch nicht mehr.› Und damit ging er.» 656 Vgl. zu den Freunden in Hazmurat auch S. 180 f. Mit Laze und Sako sind Laze und Sako Lelo gemeint. 657 Backstube von Çano: Siehe S. 274.

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Diese Geschichte steigerte meine Zuneigung zu Xha Kola, denn auch ich mochte Xha Mehmet nicht. Einmal nämlich, als ich von der Schule zum Haus meines Onkels ging und gerade den Sokak i Lulës, die Blumengasse, hinaufstieg, pfiff ich unschuldig ein neues Lied, das wir eben in der Schule gelernt hatten. Da brüllte Xha Mehmet mit seinem riesigen Bauch und der dicken goldenen Uhrkette, mit seinem vom vielen Essen aufgequollenen und roten Gesicht: «He, Satansbraten von Halil,658 was pfeifst du da, als ob du in der kalloçeshme659 wärst?» Ich errötete und senkte den Kopf; ich verstand auch nicht, was das Wort «kalloçeshme» bedeutete. Ich fragte die Großmutter danach. Sie kniff ein Auge zu und blickte mich an: «Wo lernst du solche hässlichen Wörter?» Ich erzählte ihr, was passiert war. Die Großmutter kniff [S. 274] ein Auge zu, wie immer, wenn sie zornig war, und verhieß: «Diesen Ochsen werde ich schon Mores lehren!» Als ich Xha Kola das nächste Mal traf, grüßte er mich, gab mir die Hand und fragte: «Wie geht es dir, Junge, und wie geht es Halil?» Auch ich fragte meinen alten Freund nach seinem Befinden. «Du bist älter und größer geworden, Enver», sagte er. «He! Du könntest auch einmal eine Arbeit annehmen und dem armen Halil helfen; der schuftet tagein, tagaus mit der Laufgewichtswaage am Arm660 und wägt Säcke für 10 Lekë Tagelohn. Die Worte von Xha Kola taten mir gut; sie zeugten von Mitgefühl für meinen Vater und erinnerten mich an meine Verpflichtungen gegenüber den Eltern. Ein Mann der Arbeit riet den anderen nichts anderes, als zu arbeiten. Das Leben in Hazmurat und meine Beziehung zu Xha Kola waren wie eh und je ausgezeichnet. Xha Kola freundete sich mit meinem Vater an. Sie sprachen auch griechisch miteinander, denn mein Vater beherrschte sowohl die griechische wie auch die türkische Sprache (einen Stapel mit seinen türkischen Büchern bewahren wir noch heute als Andenken an ihn auf). Ich erinnere mich, wie ich eines Tages zur Backstube ging. Unsere Backwaren waren noch nicht bereit; Xha Kola hatte gerade Muße und begann, beide Arme auf das Gestell gestützt, mir Fragen zu stellen: «Ist die französische Sprache eigentlich schwer zu lernen, Enver?» «Leicht ist sie nicht, Xha Kola, aber es ist eine schöne Sprache. Wir müssen jedes Wort auswendig lernen, damit wir es im Gedächtnis behalten und anwenden können.»

658 Im Original «djall i Halilit» (Halils Teufel); es handelt sich um ein Wortspiel von «diall» (Teufel) und «djalë» (Sohn, Junge). 659 Kalloçeshme: Für den offenbar anstößigen Begriff (siehe im Folgetext) ließen sich keine Erklärungen und auch keine weiteren Belegstellen finden. 660 Laufgewichts- oder Läuferwaage (albanisch kandar): Tragbare Waage. Enver Hoxhas Vater Halil arbeitete zu dieser Zeit offenbar als Waagemeister auf dem Markt in Gjirokastra; früher soll er auch Kleiderhändler gewesen sein.

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Teil III:  Einfache Menschen

«Jedes Ding verlangt seine besondere Fertigkeit», sagte Kola. «Auch die Arbeit des Bäckers ist kein leichtes Handwerk. Aber sag mal, Junge, wie sagen sie dem Brot auf Französisch?» «Pain». «Und dem Wasser?» «Eau, ausgesprochen "O"». «O! O! Sonderbar!», sagte Kola, «Dieses Wort kann man sich aber gut merken! Wir Arbeiter, denen das Kreuz von der schweren Arbeit schmerzt, sagen ja auch immer Oh! Oh!, Aber auch die Leute von Gjirokastra, denen es an Wasser mangelt, werden sich dieses Wort bestens einprägen können, [S. 275] sie jammern ja ewig und immer über das Wasser. Sie halten es kaum mehr aus und haben die Nase gestrichen voll.» «So weit, so gut, Enver», fuhr Xha Kola mit seinen Fragen fort, «aber wie sagen sie denn dem Birjan661 auf Französisch?» Da hatte er mich nun allerdings auf dem falschen Fuß erwischt! «Ach, das weiß ich nicht, Xha Kola!» «Aber Shapkat oder Laropita, das weißt du?»662 «Nein, auch diese Wörter kenne ich nicht.» Xha Kola blickte mir in die Augen und sagte: «Schau, Junge, dass du im Unterricht gut aufpasst. Lernen musst du, das erwarten deine Eltern von dir!» «Das will ich mir zu Herzen nehmen, Xha Kola», sagte ich, nahm mein Blech und ging gesenkten Hauptes heim. Diese Prüfung hatte ich nicht gut bestanden. An einem anderen Tag gab mir meine Mutter eine Schüssel Birjan mit kleinen Fischchen darauf, die ich in die Backstube zum Garen bringen sollte. Die Fischchen hatte unser Nachbar im Fluss Drino gefangen, Teto Temos Sohn Haxhi Çuçi, der zugleich der Cousin meiner Mutter663 war. Auch Haxhi war schwerhörig, aber er war ein Meister im Fischen mit dem Netz und unterwies hierin auch Shaban, den er jeweils mitnahm. Shaban war eigentlich sein Neffe, aber er hatte ihn zu seinem Sohn gemacht, da er sonst niemanden hatte. Haxhi war «shkularak», ohne Angehörige, wie die Großmutter ihren Altersgenossen und Cousin nannte. Wie ich also an diesem Tag die Backstube betrat, was sah ich? Das ganze Gestell stand voll von Tonschüsseln mit Fischchen, die auf gehackten Zwiebeln im Öl schwammen. «Bringst auch du noch Fisch?», rief Kola. «Heute ist die ganze Welt zum Fisch geworden! Der Boden meines Ofens sieht bald aus wie das Bett des Drinos. Der Schwerhörige hat gestern offensichtlich seinen Glückstag gehabt!» Und Xha Kola lachte herzlich. 6 61 Birjan: In der Tonschüssel zubereitetes Pfannengericht mit Gemüse, siehe Anm. 610. 662 Shapkat, Laropita: Pasteten aus Maismehl mit Spinat (oder Kohl oder Kürbis), Öl, Käsestückchen und Gewürzen, siehe S. 264. 663 Gemeint ist wohl «meiner Großmutter», vgl. die folgenden Zeilen.

Die Bäcker der Stadtteile281

Zu Beginn dieser Aufzeichnungen sagte ich, dass der Bäcker wohl derjenige Mensch ist, der den Familien seines Viertels am nächsten steht. Vielen will so etwas nicht in den Kopf gehen, aber der Bäcker lebt nun einmal mit den Sorgen und Freuden all der Menschen in seinem Viertel. Er freut sich mit ihnen und leidet mit ihnen, und dies nicht nur insofern, als er sie mit leckeren Speisen zufriedenstellen will. Nein: Durch sein Handwerk ist er auch mit den Gefühlen, den Empfindungen, den Freuden und dem Kummer der Leute verbunden. Der Bäcker kennt die Menschen anhand dessen, was sie haben, was sie [S. 276] in die Backstube bringen; er weiß, ob sie zu einer großen oder kleinen Familie gehören, ob sie reich oder arm sind, ob sie freigiebig oder geizig sind, ehrenhaft oder schlitzohrig, vernünftig oder streitsüchtig. Er ist auf dem Laufenden über vieles, was im Viertel geschieht, er erfasst alles, zu jedem Menschen weiß er etwas zu sagen, hat er sich seine Gedanken gemacht. Der Bäcker hat Mitleid mit den Armen und hasst die Reichen. Oftmals schöpfte Xha Kola  – natürlich heimlich und wenn er alleine in der Backstube war – etwas Öl vom Fischgericht der Halimis ab und goss es über das Gericht von Avdi Zere,664 der sich den lieben langen Tag abmühte, indem er Fässer mit Wasser vom Fluss heraufschleppte. Xha Kola, dieser redliche Mann aus dem armen Volk, war selbst auch arm, lebte mit den Armen und hatte ein Herz aus Gold, wie es das Volk hat. Dies ist der Grund, dass ich die Bäcker liebte und liebe, dass ich sie auch in meinem fortgeschrittenen Alter achte und wertschätze. An die Bäcker meiner Kindheit und Jugend denke ich mit großem Respekt. Wenn einer von ihnen noch lebt – er oder seine Söhne und Töchter, die jetzt, im Sozialismus, sicher ein glückliches Leben führen, Kinder, Schul- und Universitätsabschlüsse haben, moderne Backanlagen, das Hüttenkombinat,665 Fabriken und Wasserkraftwerke bauen – dann möge er mir verzeihen, dass ich nicht ausführlicher über diese prächtigen Menschen gesprochen habe; aber das ist alles, woran ich mich erinnere. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, doch die paar Dinge, die ich berichtet habe, kommen aus vollem Herzen und sind die reine Wahrheit. An all dies erinnere ich mich mit Sehnsucht, an alle diese Menschen denke ich mit großer Hochachtung und Dankbarkeit, waren sie doch Arbeiter, Proletarier im besten Sinne des Wortes. Januar 1975

6 64 Avdi Zere: Siehe S. 171, wo der Name allerdings «Abdi» geschrieben wird. 665 Gemeint ist das 1968–1980 gebaute Stahlwerk «Çeliku i Partisë» (Stahl der Partei) in Elbasan.

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[S. 277] Meister

Teil III:  Einfache Menschen

des Steins und des Eisens

Im Hof des Hauses meines Onkels väterlicherseits gab es eine Scheune und eine Odajashtë.666 Letztere bestand aus zwei großen Räumen, deren Fenster auf den Garten blickten, aus einem Winterzimmer oder Pat im Untergeschoss und einem kleinen Stall. Schon zur Zeit meiner Kindheit, während meiner Jugendjahre und bis zur Zeit der Okkupation, als alles in Flammen aufging,667 wohnten im Haus des Onkels und in den Räumlichkeiten um dieses herum stets Maurer oder «Meister», wie wir sie nannten. Sie waren mit ihren Familien aus den Dörfern des Opar668 bei Korça zugezogen und hatten sich in Gjirokastra niedergelassen. Sie waren wahrhaftige Proletarier, und sie alle – Männer, Frauen, Kinder – gehörten zu den liebenswürdigsten und redlichsten Menschen, die ich in meinem ganzen Leben, seit meinen Kinder- und Jugendjahren, kennengelernt habe. Die Männer oder Meister und die «mickët», ihre Kinder, denen sie meist ebenfalls das Maurerhandwerk beibrachten, hatten buchstäblich goldene Hände. Sie waren berühmt in Gjirokastra, sie bauten die Steinhäuser, reparierten undichte Dächer, stellten [S. 278] Hofmauern instand, die am Einstürzen waren, rackerten sich tagaus, tagein ab, standen schon vor Tagesanbruch auf und kehrten erst spät nachts zu ihrer Familie heim. Sie zählten zu den besten, ehrenhaftesten und unentbehrlichsten Menschen von Gjirokastra – in ökonomischer Hinsicht aber gehörten sie zu den erbarmungswürdigsten, schufteten sie doch ausschließlich für das tägliche Brot und konnten selbst dieses oft nicht sicherstellen. Seitens der Agas von Gjirokastra wurden sie als Menschen der untersten Stufe der Gesellschaft betrachtet. Mit diesen Maurern, wie auch mit den «Ägyptern»669 haben meine Familie und ich zusammengelebt, haben gemeinsam die Freuden und Leiden des Lebens durchgemacht und waren mit ihnen wie eine große Familie. Mit unendlicher Dankbarkeit erinnere ich mich an diese Proletarier: an den alten Meister670 Leko und seine Gattin Teto Maro, an Teto Nine und ihre zwei Söhne, an Meister Xhoxh, Meister Tas und ihre Frauen, an Meister Xhel, Meister Vasil und seine Frau, unsere liebe Kate, an deren zwei Söhne und zwei Töchter, die jünger waren als ich, und schließlich an den, der mir am nächsten stand, Meister Mihal,671 den Sohn 666 Odajashtë: Siehe S. 271. 667 Welche der Besatzungen (siehe Einleitung, Kap. 11a) gemeint ist, ist nicht ganz klar. Hoxha situiert den Brand in die Zeit der ersten griechischen Besatzung, siehe S. 297. 668 Opar: Dorf und Gegend im Landkreis Korça in Südalbanien. 669 Zu den Ägyptern siehe S.  66, 287 ff. 670 Albanisch «usta», wird hier als Anrede in der Art von Xha und Teto (siehe Anm. 113) verwendet. 671 Fußnote im albanischen Original: Mihal Dima, mit dem Genosse Enver Hoxha in fortwährendem kameradschaftlichem Kontakt stand. In einem der Briefe, die er ihm schickte, schrieb er am 1. September 1973 unter anderem: «[Meine Schwester] Haxho sagte mir, dass du zu ihr gegangen seist, aber offenbar zu jener Zeit, als ich in Durrës war. Ich bedauerte, dass wir

Meister des Steins und des Eisens283

von Meister Leko und Teto Maro, meinen Freund aus Kindertagen (auch wenn er etwas älter war als ich) und meinen Gefährten in der Partei. Als Kommunist, der er ist, kämpft und arbeitet Mihal auch jetzt, im fortgeschrittenen Alter und als Rentner, noch. Manchmal kommt er mich zu Hause besuchen, und wenn ich nach Korça fahre, besuche ich ihn meinerseits. Dann sitzen wir zusammen und erinnern uns an Altes, das zur Stärkung des Neuen beiträgt. Mihal ist ein schweres Leid widerfahren; vor zwei Jahren ist sein Sohn Dhimo Dhima gestorben, ein ausgezeichneter Jurist unserer Epoche. Ich besuchte ihn zu Hause, um ihm mein Beileid auszusprechen. Doch diesen stählernen Proletarier vermochte der Schmerz nicht zu bezwingen. Dieser Tage schickte ich ihm ein gewidmetes Exemplar des Buchs «Geschichte der Partei der Arbeit Albaniens» 672 und zwei andere meiner Bücher. Mein lieber Mihal wird sich sehr gefreut haben. [S. 279] Diese proletarischen Maurer haben unauslöschliche Spuren in meinem Bewusstsein hinterlassen und zur Bildung meines Charakters beigetragen. Zwischen ihren Familien und der unsrigen gab es keine Unterschiede, keine trennenden Mauern, keine verschlossenen Türen, keine gesellschaftlichen Barrieren. Ob jemand Muslim oder Christ war, spielte keine Rolle und es gab nicht diesen Fanatismus, der dazu geführt hätte, dass sich die Frauen der einen Familie vor den Männern der anderen versteckt hätten. Mihal war für uns wie ein Bruder, desgleichen Xhoxh und Tas, und meine Schwestern waren für sie wie ihre eigenen Schwestern. Maro, Nine, Kate waren für mich wie meine Mutter, Meister Leko und die anderen Männer wie mein Vater. Als ich klein war, trug mich Meister Mihal auf den Schultern ins Gestrüpp im Garten oder führte mich an der Hand dorthin und schnitzte mir kleine Flöten aus Judasbaumholz. Teto Maro liebte mich gleich wie ihren Sohn Mihal; sie schenkte mir, wenn immer sie es konnte, eine Handvoll Nüsse. Die Frauen der Maurer trugen wollene Westen und ihre Aussprache unterschied sich von der bei uns in Gjirokastra üblichen. Ich erinnere mich an den alten Meister Leko, einen schlanken Mann von durchschnittlicher Größe. Er trug einen schwarzen Männerrock,673 der ihm bis über die Knie reichte und hatte stets einen Lederschurz umgeschnallt, dessen Träger ihm um den Hals lief. Diese Schürze hatte eine große Tasche, in der er die Maurerkelle und den Hammer versorgte, mit dem er die Mauersteine zurechtklopfte. Später legten sowohl die Männer als auch ihre Frauen und Töchter die Wollwesten ab und zogen Kleider wie wir an. Ihre Kleidung änderte sich uns nicht getroffen haben, denn auch ich habe Sehnsucht nach dir. Wenn du also nächstes Mal nach Tirana kommst, erwarte ich dich bei mir zu Hause nicht nur zur Überbringung von Glückwünschen, sondern auch zum Mittagessen.» 672 Gemeint ist wohl der Band «Historia e Partisë së Punës të Shqipërisë», herausgegeben vom Institut für marxistisch-leninistische Studien; Tirana 1968 (2. Auflage 1981). 673 Im albanischen Original: Fustan, was sowohl Schürze wie auch Kleid (hier unpassend) oder (Männer-)Rock (eigentlich Fustanella, in Kurzform auch fustan) bedeuten kann. Da die Schürze im nächsten Satz gesondert erwähnt wird, scheint Männerrock die naheliegendste Variante.

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Teil III:  Einfache Menschen

zwar, aber ihr Charakter blieb unverändert rein, und leider änderte sich zu jener Zeit auch an ihrer Armut nichts. Als wir in das Haus des Onkels [nach Hazmurat] umzogen, war ich schon etwas größer und besuchte die Stadtschule und später das Lyzeum. Meister Leko und Teto Maro starben, Mihal aber wurde ein ausgezeichneter Maurer, heiratete und gründete eine Familie. Ich ging zu Nine, Xhoxh und den jungen Ehefrauen, saß mit ihnen zusammen am Kaminfeuer und las ihnen aus dem albanischen Lesebuch vor. Die Frau von Xhoxh hatte eben ein Mädchen geboren, dem sie den Namen Irini gab. Sie sagte mir: «Wenn du einmal Lehrer bist, Enver, dann lehre auch Irini lesen und schreiben.» Irini wurde Partisanin und ist inzwischen mit einem Offizier des Staatssicherheitsdiensts verheiratet. Als ich sie traf, erzählte ich ihr von ihrer Mutter, die leider früh verstarb, so dass Irini bei Nine aufwuchs. Kice, die Tochter [S. 280] von Kate, ist eine gute Lehrerin geworden und ist Mitglied der Partei. Die andere Tochter, Thuka, und die beiden Söhne sind Fabrikarbeiter oder Chauffeure. Kate, mit der ich ein Stück meines Lebenswegs verbrachte, kommt mich immer wieder besuchen. Zusammen mit meiner Familie lebten auf dem Grundstück des Onkels auch Meister Vasil, Meister Josif, Meister Rako, und Paro, die in die Familie Koçolli geheiratet hatte und deren Sohn als Märtyrer für das Vaterland fiel.674 Alle diese Meister des Steins stürzten sich gemeinsam mit ihren Kindern, mit Töchtern und Söhnen, in den Nationalen Befreiungskampf. Die Söhne von Kate, der tüchtigen Frau von Meister Jani, zogen als Partisanen ins Feld. Einer von ihnen, Rrap, war der Trompeter seiner Einheit, so wie mein Verwandter Fejzo, der Sohn von Xha Faro Hoxha, ein herausragender und mit Kriegsmedaillen geschmückter Offizier des Nationalen Befreiungskampfes. Als ich die Stadtschule abgeschlossen hatte und im Herbst ins Lyzeum übertrat,675 erkrankte ich. Ich weiß nicht mehr, woran, aber es ging mir sehr schlecht, laut meiner Mutter befand ich mich in Todesgefahr. Nur mit Mühe konnte ich gerettet werden. Meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, Nine und Kate kamen vor Sorgen fast um. Doktor Harxhi, der in unserer Nachbarschaft wohnte, kam zweimal täglich zur Visite. «Dieser Doktor ruiniert uns noch mit all den Goldnapoleons,676 die wie ihm zahlen müssen», sagte mir die Mutter, «aber er hat dich gerettet, er ist ein guter Arzt.» Ich erinnere mich, dass mein Krankenlager im Erdgeschoss im Pat i madh, dem Winterzimmer,677 war, während mein Bruder krank in einem Zimmer weiter oben lag. Viele Nächte, so erfuhr ich später, war ich wirr im Kopf und besinnungslos, gleichzeitig hus 674 Fußnote im albanischen Original: Koço Koçollari fiel als Märtyrer im Krieg, der in Dukaj/Tepelena am 28. Juli 1944 ausbrach. [Gemeint ist der Widerstandskampf der VI. Partisanenbrigade gegen die deutschen Besatzer; Anm. d. Ü.]. 675 Übertritt ins Lyzeum: Ende November 1923; siehe S.  137 f. 676 Napoleon (Napoleontaler, Napolon flori, Napoleondor): Siehe Anm. 269. 677 Pat i madh: Siehe S.  84 f.

Meister des Steins und des Eisens285

tete und keuchte mein Bruder oben pausenlos. Unsere arme Mutter verausgabte sich bis zum Letzten, aber tags und nachts standen ihr Kate und Nine bei. Ich erinnere mich noch, wie die alte Nine – ein kleines Weiblein, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, mit verweinten Augen und geröteten Lidern, diese Tochter, Frau und Mutter der proletarischen Meister – in der Zeit meiner Krankheit Nacht für Nacht am Kopfende meines Bettes über mich wachte. Zur Mutter sagte sie: «Geh du jetzt schlafen, zu Enver schaue die Nacht über ich.» Und so wachte sie die ganze Nacht bei mir, legte mir [S. 281] feuchte Tücher auf die Stirn, wenn meine Fieber anstiegen, wischte mir den Schweiß ab, hielt meinen Kopf, wenn ich Schmerzen hatte. Manchmal fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu und es tat mir leid, wenn ich sie wecken musste: «Nine, ich ersticke, gib mir bitte etwas Wasser». «Aber sicher doch», antwortete sie, «Nine bringt dir gleich welches.» Nie werden diese Erinnerungen aus meinen Gedanken und meinem Herzen gelöscht werden; sie zählen zu den Dingen, die tiefe Eindrücke hinterlassen und in den Charakter eines Menschen gleichsam eingeknetet werden. Wenn ich an die einfachen Leute zurückdenke, darf ich die Schmiede nicht unerwähnt lassen. Diese Meister des Eisens leisteten eine schwere Arbeit, die für die Dorf- und Stadtbewohner unentbehrlich war. Mit dem Schmiedehammer in den Händen schlugen sie mit aller Kraft auf das Eisen ein, das auf dem Amboss liegt, drehten und wendeten es, um es so herzurichten, wie sie es haben wollten, tauchten es ins Wasser, härteten es und härteten sich selbst dabei ab. Ich sehe die einstige Schmiede von Gjirokastra vor mir, als wäre bloß ein Tag vergangen. Irgendwo habe ich einmal über Qato und seine Schmiede gesprochen678 und auch über sein Haus, das gleich hinter dem Laden von Shaban Gega lag. Jetzt aber möchte ich ein paar Dinge zum Schmied Aziz Buduku sagen, der ein Freund unserer Familie war. Wir Kinder nannten ihn Xha Aziz, die Mutter Çelo Aziz.679 Unsere beiden Familien besuchten sich gegenseitig. Die Frau von Xha Aziz war Teto Feko. Das Paar hatte zwei Söhne und eine Tochter; ein Sohn hieß Shaban, einer Muharrem; an den Namen des Mädchens kann ich mich nicht erinnern. Xha Aziz und Teto Feko waren sehr liebenswürdige Menschen; sie lebten in großer Armut, waren aber äußerst ehrenhaft. Xha Aziz war Hammer- und Waffenschmied. Seine Werkstatt lag zwischen den Treppen bei der Präfektur in einem feuchten Kellerlokal. Er hatte dort eine alte Esse, einen Schraubstock, einen alten Bohrer, einige Hämmer, einen großen Schmiedehammer, ein paar Zangen und Feilen und sonst nichts. Mit diesen Werkzeugen erledigte er jede Art von Eisenarbeiten und reparierte auch alte Gewehre. Xha Aziz war ein kleiner Mann mit dichten Augenbrauen und derben Händen. Wenn man ihn zum 678 Zum Schmied Qato siehe S. 256, 295. 679 «Çelo» ist gemäß Muzafer Xhaxhius Wörterbuch des Dialekts von Gjirokastra die Anrede, welche die jungen Frauen dem Namen eines jeden Mannes im Haus des Gatten voranstellen.

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Teil III:  Einfache Menschen

ersten Mal sah, konnte man Angst bekommen, aber schon beim zweiten Anblick begriff man, was für ein gutherziger [S. 282] Mensch er war, wie liebenswert und aufrichtig. Xha Aziz war jemand, den man nicht vergessen konnte. Meine Mutter pflegte zu sagen: «Einen besseren Mann als Çelo Aziz gibt es nicht! Er ist ein meisterhafter Doktor und hat meine Tochter gerettet». Meine Schwester Haxho hatte nämlich ein Bein gebrochen, worauf Xha Aziz ihr einen Schuh mit Stützschienen aus Eisen angefertigt hatte. Ich besuchte Xha Aziz oft in seiner Werkstatt, wo ich meist direkt zur Esse ging. Dort nahm ich die Kette und drückte den Blasebalg, der die Glut in der Kohle anfachte. «Gib ihm, das Eisen beginnt zu glühen!», sagte Xha Aziz. Wenn das Eisen rot glühte, fasste er es mit der Zange. Dann hielt er es mit der einen Hand, während er es zusammen mit seinem Sohn Shaban mit der anderen Hand im Takt mit dem Hammer bearbeitete. Wenn sie fertig waren, griff ich mir einen kleinen Hammer, mit dem ich auf den Schraubstock einschlug, nutzlos, aber laut! Manchmal drehte ich auch am Griff des Bohrers; auch dies ließ Xha Aziz zu und störte mich nicht bei meiner «Arbeit». Das Haus von Xha Aziz lag unterhalb der Landstraße, auf einem abschüssigen Landstück bei den Quellbrunnen des Stadtteils Meçite, nahe bei den Häusern der Harxhis und unterhalb desjenigen von Sabri Kallajxhiu. Dorthin nahm mich manchmal meine Mutter mit, wenn sie Teto Feko besuchte. Teto Feko war eine Stotterin und hatte große Mühe, sich zu artikulieren. Wenn sie sprach, schloss sie die Augen vor Anstrengung, öffnete den Mund und reckte den Kopf in die Höhe wie ein Huhn, das Wasser trinkt. Vor ihrem Haus hatte sie einen kleinen Garten, in dem zwei Reihen wilde Pflaumen wuchsen. Während sich meine Mutter und Teto Feko unterhielten, betrachtete ich durchs Fenster die Dächer der Häuser und die Spitze der Moschee von Meçite, wo Herr Arshi Unterricht erteilte. War das Gespräch zu Ende, zog meine Mutter ihre roten Stiefel an, band sich das weiße Kopftuch und den weißen Schleier um, und so verabschiedeten wir uns von Teto Feko. Meist gingen wir von dort dann zum Onkel nach Hazmurat. Zuerst stiegen wir in den Stadtteil Meçite hinab, kamen bei Xhano vom Bach 680 heraus, stiegen zum Haus von Tante Sheko, der Schwester meiner Mutter, empor, dann die Shahin-Karagjoziund die Idriz-Konjari-Gasse hinauf und gelangten so auf die große Straße. Dort oben, auf der Spitze des Hügels, lag das Haus meiner Großmutter Hasije. März 1974

680 Xhano vom Bach (Xhano e Përroit): Siehe S.  103 f., 171.

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[S. 283] Die

Verachteten sind glücklich geworden681

Zur Zeit meiner Kindheit lebten die «Ägypter»682 nicht nur als Gruppe am Ortseingang zusammen,683 wie es in anderen Städten üblich war, sondern auch verstreut in allen Stadtteilen. Auch in unserem Viertel, in Palorto, gab es welche. Ihre ökonomische Lage war kritisch. Dennoch waren sowohl die Männer wie auch die Frauen sehr arbeitsam und in jeder Hinsicht ehrenhaft. Sie waren arm, aber recht reinlich, sie stahlen nicht und weder die Männer noch die Frauen waren moralisch verdorben. Sie zogen nicht herum und waren sesshaft. Ihre Frauen gingen ohne Schleier aus dem Haus, wohingegen sich die Musliminnen verschleierten. Meistens lebten die Ägypter sehr armselig in Schuppen. Wegen der Armut und der zahlreichen Kinder waren diese Verschläge nicht immer sauber; auch waren sie dunkel. Manche hatten ein kleines Fenster, vor das sie eine Blechbüchse [S. 284] stellten, in der ein Majoranzweig oder eine Geranie blühte. Dies war ihr einziger Luxus. Ihr Kontakt mit der Welt der Blumen entsprach dem ungebundenen Geist dieser Menschen. Sie verdienten sehr wenig und wurden als Tagelöhner sehr schlecht bezahlt. Ihr Lohn beschränkte sich darauf, dass sie am Arbeitsort verpflegt wurden und am Abend, wenn sie in ihre Verschläge zurückkehrten, vom Arbeitgeber ein paar Nahrungsmittel und etwas Brot (meist mehr Brot als anderes!) mitbekamen, um ihre zahlreichen Kinder zu speisen. Die kleinen Kinder der Ägypter trugen Kleider, die ihnen die «Damen» gaben, und wenn die Mädchen größer wurden, bekamen sie wiederum von den «Damen» die eine oder andere alte Weste und Pluderhose. Die Frauen der Ägypter arbeiteten meist in den Häusern der Städter. Sie wuschen, putzten, kochten, schaukelten die Wiege und gaben manchmal jenen Kindern die Brust, deren Mütter selbst keine Milch mehr hatten. Die Männer arbeiteten in der Regel als Lastträger oder fegten die Straßen und die Läden auf dem Markt, manche gingen Holz spalten, arbeiteten als Schornsteinkehrer, stellten grobe und feine Siebe her oder sammelten den ganzen Tag lang Reisig. Am Abend konnte man sie dann sehen, Frauen und Männer, wie sie schwer beladen damit in ihre kalten, lichtlosen Verschläge mit den schlammigen Böden zurückkehrten. Viele Ägypter – vor allem jene, die am Ortseingang lebten – arbeiteten als Tagelöhner in der Landwirtschaft, pflügten, hackten und mähten. Sie waren arbeitsam und ehrlich, und die meisten Leute von Gjirokastra mochten sie, verachteten sie nicht und 6 81 Die Seiten 283–286 finden sich in deutscher Übersetzung und in gekürzter Form in Nr. 4/2017 der Albanischen Hefte, S. 51; dieses Heft ist dem Themenschwerpunkt Gjirokastra gewidmet. 682 Ägypter: Alban. evgjitë. Gemeint ist die Gruppe sesshafter Roma, die der Legende nach aus Ägypten stammen soll, sich selbst aber ausdrücklich nicht als Roma versteht; siehe Anm. 97 und Schmidt-Neke 2009. 683 Fußnote im albanischen Original: Im ehemaligen Viertel «Dervish Bej», das auf Anregung seiner Bewohner nach der Befreiung zu «Punëtore» [die Arbeiterin/Werkstätte] umbenannt wurde.

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Teil III:  Einfache Menschen

vertrauten ihnen im Großen und Ganzen, unabhängig von einem gewissen Gefühl der «Minderwertigkeit ihrer Rasse», das durchaus existierte. Ich selbst bin mit den Ägyptern aufgewachsen, da in der Gegend unseres Hauses in Palorto viele von ihnen lebten. In unserem Haus und unserer Familie fühlten sie sich wie zu Hause, dies galt besonders für die Familien der Ägypter Shamo und Xhelal. Beide gehören, wie ich es weiter unten ausführen werde, zu sehr ehrenhaften Familien, zu Familien von Lastträgern, die auf dem Markt und wo man sie sonst brauchte, arbeiteten. Alle Mitglieder dieser Familien – Frauen, Männer, ganz zu schweigen von den Kindern – gingen bei uns in selbstverständlicher Weise ein und aus. In der damaligen Zeit herrschte der religiöse Fanatismus. Unverschleiert verließen die Frauen [S. 285] nicht nur ihr Haus nicht, viele trugen den Schleier sogar zu Hause. Auch wenn Besuch kam, zeigten sie sich nicht allen. Vor Shamo und Xhelal und deren Kinder Ramo, Mehmet, Ymer, Fejo und weiteren aber versteckten sich die Frauen unserer Familie nicht. In unserer Familie gab es viele Mädchen, mehr als Jungen. [Mein Onkel] Baba Çen hatte elf Töchter, von denen sieben am Leben blieben, aber keinen einzigen Sohn, wohingegen mein Vater drei Söhne und fünf Töchter hatte.684 Wir alle – meine Großmutter, meine Tante (die Frau von Baba Çen), meine Mutter, meine Cousinen, meine Schwestern und wir Jungen – betrachteten die Töchter, Ehefrauen und Söhne von Shamo und Xhelal als unsere Brüder und Schwestern. Sie aßen oft mit uns zusammen und gingen in unseren Räumen ein und aus wie bei sich zu Hause. Wenn die Frauen aus unserem Haus irgendwo auf Besuch gingen, pflegten Shamos Söhne sie zu begleiten. Vor allem Baba Çen war keineswegs fanatisch; er war ein gebildeter, einfacher und volksnaher Mensch. Er war das Oberhaupt unserer großen patriarchalischen Familie. Wir sahen ihn manchmal mit Shamo und Xhelal zusammensitzen und Raki trinken; nie kam ein schlechtes Wort über ihre Lippen. Über ihre Frauen und Schwiegertöchter  – Rabija, Hanko, Refo, Luke, Shajbina und die anderen – spreche ich hier nicht, auch nicht über die Schwiegertöchter von Ramo, Mehmet und den anderen. Für mich gab es keinen Unterschied zwischen ihnen und den Frauen unserer Familie. Meine Mutter erzählte mir, dass mir Rabija die Brust gereicht hatte, als ich ein Säugling war, weil sie selbst keine Milch hatte. Als ich dann größer wurde, sagte man mir: «Enver, du hast so einen braunen Teint, weil du von der Brust der Zigeunerin Rabija getrunken hast.» Niemals wäre es mir eingefallen, mich hierüber zu ärgern oder ein Aufheben davon zu machen. Ich habe Rabija als Frau von durchschnittlicher Größe, mit einem hübschen Körper und Gesicht und mit weichen, strahlenden Augen

684 Neben dem Bruder Beqir und den Schwestern Fahrije, Sanije und Haxhire (siehe S. 109) werden in den «Kindheitsjahren» keine weiteren Kinder namentlich erwähnt; denkbar ist, dass zwei Mädchen und ein Junge früh verstorben sind, vgl. die Bemerkung zu den diesbezüglichen Leidfällen S. 58.

Die Verachteten sind glücklich geworden289

in Erinnerung, ich höre noch ihre freundliche Stimme, als ich etwas größer war und in Çuços Garten mit ihrem Sohn und meinem Altersgenossen Fejo spielte. Die Wechselfälle des Lebens bewirkten, dass ich Rabija aus den Augen verloren habe, nicht aber aus dem Gedächtnis. Jahr um Jahr verging, ich wurde größer, ging zur Schule, kämpfte als Partisan in den Bergen und kehrte, als der Krieg zu Ende war, nach Gjirokastra zurück. Ich fragte nach Rabija [S. 286] und sie kam zu mir, einfach und sauber wie immer, gealtert durch die Sorgen und mit Falten im Gesicht, mit leuchtenden, tränennassen Augen. Sie umarmte und küsste mich und sagte, indem sie meinen Kopf an ihre vom Alter vertrocknete Brust drückte: «Die Milch, die du aus meiner Brust getrunken hast, war nicht umsonst, du hast sie verdient, denn du hast für uns, für die Armen, gekämpft.» Dies war eine große Anerkennung für mich und die Partei, die mich so formte, dass ich für die kleinen Leute kämpfe und mich vehement gegen den Rassismus stelle. Der alte Shamo mit seinem dunkelbraunen Gesicht und einer riesigen Geschwulst hinter dem Ohr, mit seinem mächtigen Bauch und seinem untersetzten Körper, war der Trommler unseres Stadtteils, der «König» des Ramadanfestes, die «Uhr» 685 des Viertels. Wir mochten ihn sehr – nicht nur, weil er fast zu unserer Familie gehörte, sondern auch weil er die Trommel zu schlagen wusste, das einzige Instrument, das es in unserem Viertel gab. Und was für ein Instrument! Eine mächtige Trommel war es, geschwärzt vom Alter und vom Rauch im Schuppen, in dem die Familie hauste. Ihre zwei Schlägel erinnerten an Keulen mit dicken Köpfen aus Kornelkirschenholz. Diese Trommel hing an der Wand von Shamos Schuppen in Karanxha.686 Wenn ich dorthin ging, konnte ich den Blick nicht von ihr lassen, und schon trommelte ich, bamberbum, auf ihr herum. Xha Shamo lachte, seine Frau Qamo aber verdross der Lärm, so dass sie mich schließlich ermahnte: «Lass die Trommel, Junge, sonst drehe ich noch durch; es reicht mir schon mit dem Alten, jetzt kommst auch du noch!» «Lass ihn doch trommeln, so kann ich aus Halils Sohn eines Tages noch einen guten Trommler machen», sagte Xha Shamo, dem wir überallhin folgten, wenn er mit Beginn des Ramadans herumging und die Trommel schlug. Klein, wie ich war, fragte ich Xha Shamo ohne Argwohn: «Xha Shamo, wieso hast du diese große Beule hinter dem Ohr und einen so mächtigen Bauch?» Er antwortete mir: «Das ist, um die Agas zu ärgern: Ich zeige ihnen damit, dass ich das, was ich esse, im Schweiße meines Angesichts verdient habe, dass es mir rechtmäßig zusteht und ich es ruhig auch sehen lassen kann.»

685 Angesprochen ist wohl die Funktion des traditionellen Ramadan- oder Wecktrommlers, der die Menschen während des Fastenmonats weckt, damit diese ihr Mahl vorschriftgemäß vor Sonnenaufgang einnehmen. 686 Karanxha: Toponym im Stadtteil Palorto, siehe S. 156.

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Teil III:  Einfache Menschen

Ich erinnere mich, dass ich eines Tages eine kräftige Ohrfeige von Baba Çen kassierte, als ich ihn mit folgender Mitteilung überraschte: «Du isst dein Brot nicht wie Xha Shamo im Schweiße deines Angesichts und weil es dir rechtmäßig zusteht, du hast ja keine Beule hinter dem Ohr und auch keinen dicken Bauch!» [S. 287] Auch wenn meine Wange brannte, sagte ich Baba Çen nicht, wer mir diese Weisheit beigebracht hatte. Aber ich ging zu Xha Shamo und beklagte mich bitterlich über die Ohrfeige. «Beuge dich nicht vor Ungerechtigkeiten.», riet er mir, «Wenn er dich nochmals schlägt, dann komm und sag’s mir, und ich werde Mullah Hysen den Bart mitten auf dem Marktplatz ausreißen!» Dies war die Welt der kleinen Leute rings um unser Haus, mit ihren einfachen Menschen, die uns liebten und die wir liebten, die mich bei den Händen nahmen und huckepack trugen, wie Mehmet und Ramo, die unerschrockenen, fleißigen und ehrenhaften Söhne von Shamo. Auch Refo zählte zu ihnen, die Mutter von Kade, eine reinliche, aufgeweckte Frau, die heute nur noch Haut und Knochen ist. Sie besucht uns manchmal zum Essen und spricht meine fast 90-jährige Mutter immer noch mit «Nuse», junge Braut, an, wie man sie vor 70 Jahren genannt hatte. Refo hat ihren Mann Shaqir verloren, einen dunkelhäutigen Alten mit schlohweißem Schnurrbart und Haaren; er starb vergangenes Jahr. Alle aus unserer Familie, Sano, Nexhmije und die anderen, gingen ihr Beileid wünschen. Die Leute kannten unsere alten familiären Beziehungen nicht und sagten: «Sie kommen zu Refo nur um ihrer Tochter Kade willen, weil die Parteimitglied ist und in Envers Haus arbeitet.» «Nein», sagte Refo, «die sind alle wegen mir hier, denn ich habe sie aufgezogen; es ist, als ob wir zur selben Familie gehören würden.» Als Refo zu mir kam und ich ihr mein Beileid aussprach, bat ich sie um Entschuldigung, dass ich sie nicht zu Hause hatte besuchen können. Sie meinte: «Aber nicht doch, deiner Frau und dir verzeihe ich gerne; ich weiß doch, dass ihr an mich und an den armen Verstorbenen gedacht habt!» Als Kinder, die wir damals waren, stritten und rauften wir oft auch miteinander und spielten uns allerlei zweifelhafte Streiche. Aber unsere Streitigkeiten hinterließen nie Spuren und führten nie zu Hass und Rachsucht. An einen dieser Streiche erinnere ich mich noch gut. Ich ging oft zu Selim Bakiri687 oder, wie wir sagten, zu Selims Tante, denn Selims Mutter war die Tante meiner Mutter. Sie war eine vortreffliche Frau, hochgewachsen, schön anzusehen und mit einer kräftigen Brust, die ihre gestreifte Bluse und die mit Borten bestickte Weste fast sprengte. Xha Selim hatte einen Sohn in meinem Alter, Muhedin, [S. 288] der als Partisan ins Feld zog, tapfer kämpfte, später Offizier wurde und inzwischen pensioniert ist. Dieser Muhedin hatte eine laute und tiefe Stimme, die klang, als käme sie aus einer Höhle. Sein Gesicht war flächig, sein Haar schnitt er so, wie es die Hirten früher ge 687 Selim Bakiri: Siehe S. 89, 244.

Die Verachteten sind glücklich geworden291

tan hatten: In der ganzen Breite der Stirne rasierte er seinen Kopf mit der Maschine kahl, nur auf den beiden Seiten ließ er Haarbüschel stehen. Er war ein Unikum mit dieser Frisur, und genau deswegen hatten wir ihm einmal einen Streich gespielt. Diesen Streich hatte Muho (Muharem) nicht vergessen. So kam er eines Tages an und forderte mich auf, denselben Streich einem Ägypter-Jungen zu spielen, der in einem Schuppen von Xha Selim wohnte. Es ging um den «Eier-Streich». Muho nahm zu Hause ein ungekochtes Ei, worauf wir zu dritt auf den Platz der Moschee gingen, um dort das Stöckchenspiel zu spielen. Muho wollte das Ei beiseitelegen, damit es nicht kaputtginge. Ich sagte ihm: «Bring das Ei hierher und geh dann weg, so dass du uns nicht sehen kannst. Ich verstecke das Ei am Körper von Ramiz (ich glaube, dies war der Name unseres Kameraden, eines Sohns von Nazo). Dann rufe ich dich, und wenn du das Ei nicht gefunden hast, bis ich auf zehn gezählt habe, soll es Ramiz gehören.» Ramiz ließ sich freudig auf das Spiel ein, weil der Arme ja nie ein Ei zu essen bekam. Muho entfernte sich und ich versteckte das Ei unter der zerschlissenen Kappe von Ramiz. Dann begann ich zu zählen: eins, zwei …, fünf …, neun … Muho suchte in den Jackentaschen und Hosenbeinen von Ramiz nach dem Ei, während dieser ungeduldig auf die Zehn wartete. Und die Zehn kam auch  – aber gleichzeitig mit ihr patschte wie ein Blitz Muhos Hand auf den Kopf von Ramiz. Eigelb und Eiweiß liefen ihm über das Gesicht und vermischten sich mit den Tränen, die er dem Ei nachweinte, während wir nur lachten. Alles nahm aber ein gutes Ende; wir gingen zum Brunnen, wuschen Ramiz’ Kopf und Teto Reho, die Mutter von Muho, gab jedem von uns ein Stück Maisbrot mit Käse. Zu dritt zogen wir als gute Freunde ab, um nun wirklich das Stöckchenspiel zu spielen. Als ich größer war und die Grundschule besuchte, bemerkte ich verwundert, dass meine Ägypter-Kameraden nicht ebenfalls zur Schule kamen. Das verstand ich nicht. Eines Tages fragte ich einen von ihnen: «Wieso gehst du nicht auch zur Schule?» «Mein Vater lässt mich nicht gehen.» «Warum lässt dich dein Vater nicht gehen?» [S. 289] «Ich muss arbeiten und Geld verdienen; wir sind nicht für die Schule geschaffen.» Später, als unsere vaterländischen Lehrer uns die Augen öffneten, verstand ich die großen diesbezüglichen gesellschaftlichen Probleme. Mich selbst hat die Schule mit vielen Freunden in Kontakt gebracht, von denen ich noch berichten werde,688 von meinen Ägypter-Freunden aber habe ich mich nie getrennt. Die einfache Erziehung, die ich in meiner Familie erfuhr, hat meinen Charakter geprägt.

688 Dies geschah in den vorangegangenen Kapiteln; das vorliegende Kapitel wurde bereits 1968 geschrieben.

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Teil III:  Einfache Menschen

Xhelals Sohn Ymer, der sein ganzes Leben als Lastträger gearbeitet hatte, war etwas älter als ich. Er zählt zu den ehrenhaftesten und arbeitsamsten Menschen, die ich in meinem ganzen Leben kennen und schätzen lernte. Tagaus, tagein lud er die Hundertkilosäcke der Selfos und von Vasil Shahini auf und ab. Letztes Jahr ist Ymer als ausgezeichneter Veteran689 der Arbeiterschaft gestorben; die Nachricht von seinem Tod hat mich geschmerzt. Jedes Mal, wenn ich nach Gjirokastra gefahren war, hatte ich ihn getroffen, ihn umarmt und mich mit ihm unterhalten. Ich erinnere mich an Ramo Jolixhi, einen Liebhaber des gefüllten Glases und der Violine. Ich sehe ihn noch, wie er, die Geige unter der Achsel, auf seinem abendlichen Heimweg unter den Fenstern unseres Hauses vorbeikam und rief: «Mullah Hysen, wie war dein Tag? Soll ich noch eins auf meiner Fiedel spielen?» «Spiel!» antwortete Baba Çen. Und alle stürmten wir an die Fenster, um zu hören, wie Xha Ramo Geige spielte und das Lied «Bei der Platane in Mashkullora»690 sang, das Lieblingslied von Baba Çen, der zusammen mit Çerçiz in den Kampf gezogen war. Wenn er fertig gesungen hatte, rief Baba Çen: «Warte mal, Ramo!» und drückte mir ein randvolles Glas Raki und ein Häppchen zu essen in die Hand, damit ich es Xha Ramo bringe. Ich erinnere mich an den Ägypter Baço, an Baço, den Lumpensammler, den Sohn von Çoban. Er war mein Freund, wir spielten zusammen, machten Ringkämpfe, gingen in die Brachen und manchmal kassierte ich auch eine Ohrfeige von ihm, denn er war größer und stärker als ich. Auch Baço verlor ich in den Wechselfällen des Lebens aus den Augen. Als ich nach der Befreiung nach Gjirokastra kam, ging ich zu Fuß durch einige Gassen des Viertels, um mein Heimweh zu stillen. In Gedanken war ich ganz bei meinen Jugenderinnerungen; ich grüßte die Leute auf der Straße zwar, ohne sie aber genauer anzublicken. Plötzlich hörte ich ganz in der Nähe jemanden rufen: [S. 290] «Halt, Mann, wohin des Wegs, ohne dass wir uns richtig begrüßt haben?» Ich hielt inne und sah einen gebeugten Alten mit einem Stock. «Oh Çoban, gibt’s dich noch?», rief ich und umarmte ihn. Der Alte brach in Tränen aus. Ich fragte ihn, wo Baço sei. «Er arbeitet», sagte er. Der arme Baço hatte seinen Sohn im Krieg verloren, er war als Partisan gefallen. Der Sohn meines Freundes aus Kindheitstagen war einer meiner Kampfgefährten in den Bergen gewesen und starb als Märtyrer für die Freiheit des Volkes. Am nächsten Tag ging ich zu Baço nach Hause. Er sagte: «Ich freue mich und bin stolz auf unsere Partei und auf die Gemeinschaft, die wir gepflegt haben. Du bist der Mann der einfachen Leute; das Blut meines Sohnes floss für eine gerechte Sache.» Und dann sagte er mir unter anderem auch noch dies: 689 Albanisch «Veteran i dalluar», d. h. ein für seine Verdienste mit einer Medaille ausgezeichneter Veteran. 690 Mashkullora: Siehe S.  161 f., 182.

Die Verachteten sind glücklich geworden293

«Hör zu, Enver. Als mein Sohn als Partisan in die Berge ging, traf ich eines Morgens auf meinem Arbeitsweg Sami Karagjozi,691 dieses Mäusegesicht mit seiner Goldbrille auf der Nase. Da rief mir der miese Ballist692 zu: ‹Schau an, Zigeuner, ist auch dein Junge so weit, dass er zusammen mit jenem Lümmel von Halil Hoxha in die Berge zieht!› Ich blickte ihm in die Augen, gab aber keine Antwort, da ich Angst hatte. Worauf Sami: ‹Was schaust du so, neige deinen Kopf!› Ich entgegnete ihm: ‹Ich habe keinen Grund, den Kopf zu neigen, ich habe nichts Schändliches getan und lebe von meiner Hände Arbeit.› Worauf er: ‹Ja, ja, du wirst schon sehen, wie wir alle die Strolche ausrotten, die in die Berge gezogen sind.› Ich hielt es nicht mehr aus, Enver, und sagte bloß: ‹Wir werden sehen, Sami Efendi›, worauf ich wegging. Als die Partei den Sieg davongetragen hatte, nach der Befreiung, sah ich Sami Efendi von Neuem. Er rutschte wie eine Kröte am Fuß der Mauer herum. Ich fragte ihn: ‹Na, Sami Karagjozi, habt ihr sie ausgerottet? Wer hat denn nun gewonnen?› Er entgegnete mir furchtsam: ‹Was hast denn du gewonnen? Du hast deinen Sohn verloren.› Ich schnitt dem Hund das Wort ab: ‹Ich habe die ganze Welt gewonnen, ich habe gewonnen, dass mein Sohn in den Gräbern der Märtyrer ruhen darf und dass die Fahne des Vaterlands sich vor ihm neigt, ich habe gewonnen, dass Baço, der Ägypter, an den Feiertagen auf die Tribüne geladen wird, während für dich guter Rat sehr teuer geworden ist.›» Von solcher Art waren diese leidgeprüften, einfachen und arbeitsamen Menschen, die von den Agas und Bejs verachtet und ausgenutzt wurden. Doch die Partei trat ihnen zur Seite, behandelte sie gleich [S. 291] wie alle anderen Menschen, gab und gibt ihnen die Würde freier Menschen, gab und gibt ihnen Arbeit, Wissen und Glück. Ich habe viele Bücher über die Ägypter gelesen.693 Ihren Ursprung haben sie nicht in Ägypten, sondern in Indien. In großen Gruppen sind sie zur Zeit von Dschingis Khan, aber auch schon früher, nach Westen emigriert. Der große persische Dichter Firdusi694 sagte in längst vergangenen Jahrhunderten seinem Schah: «Wir müssen von Indien her Musiker holen.» Damals war Persien von großem Unglück heimgesucht. Die Cholera raffte die Bevölkerung dahin und Firdusi wollte, dass in dem ganzen Elend, das über sein Volk ausgebrochen war, jemand es erheitern möge. Auch Dschingis Khan griff auf die Ägypter zurück, eine zivilisierte indische Volksgruppe, die er in Horasan, Belutschistan und Afghanistan fand, wo sie als Hufschmiede und Pferdepfleger tätig waren. Dschingis Khans Pferde, seine mächtigste Streitwaffe, waren bei ihnen in den allerbesten Händen. Die Schwerter von Dschingis Khan, von Kublai 6 91 Zum Großgrundbesitzer Sami Karagjozi siehe S. 133, 162, 269. 692 Ballist: Siehe S. 145. 693 Die folgenden Ausführungen von Enver Hoxha beziehen sich allerdings nicht spezifisch auf die Gruppe der «Ägypter», sondern auf die Geschichte der Roma in einem allgemeinen Sinne. 694 Firdusi, Firdausi oder Ferdosi (Abū I-Qāsem-e Ferdousī, 940–1020): Persischer Dichter und Epiker.

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Teil III:  Einfache Menschen

Khan und den anderen Rittern wurden von den Ägyptern geschmiedet. Zugleich waren sie die Geigenspieler des Firdusi und der Mongolen. Als das große mongolische Reich untergegangen war, blieben die Sippschaften und großen Stämme der Ägypter auf der Strecke und verteilten sich über alle Länder in Europa. Ihre traurige Geschichte zeigt, wie sie während Jahrhunderten gejagt und bedrängt wurden. In Spanien, Frankreich, Russland, Deutschland und wo sie auch sonst hinkamen, wurden sie verfolgt. Verschiedene Autoren, namhafte Historiker, sagen, dass demgegenüber das albanische und das griechische Volk die Ägypter weder verfolgt noch vertrieben haben. Einem französischen Historiker zufolge leitet sich das Wort «Ägypter» nicht von «Ägypten» her, sondern vom griechischen «Iphtos», was offenbar mit einer Lokalität auf dem Peloponnes zusammenhängt.695 Dort hatte es vielleicht eine große Gruppe Ägypter gegeben, die dann zu uns kam. In Gjirokastra nennen wir sie auch «Qifto». Unsere Ägypter haben ihre schöne Tradition nicht verloren, sie haben Musik im Herzen und spielen verschiedene Instrumente: die dreisaitige Laute, die Violine, die Trommel, die Klarinette, die Lahuta696 und andere. Ihre Lieder sind sehr melodiös und mittlerweile haben sie ihre besondere Art der Musik auch auf unsere eigenen Lieder abgestimmt. Das, was als «ägyptische» Melodie wirkt, hat stets einen melancholischen Klang. Die Ägypter spielen mit der [S. 292] Klarinette schöne, schwermütige KabaMusik.697 Als viel später einmal ein Film in unser Land kam, in dem Raj Kapoor698 indische Lieder sang, sogen unsere «ägyptischen» Geigenspieler sie förmlich auf; es war, als ob der Instinkt ihrer Rasse sie gerufen hätte. Die ägyptischen Geigenspieler haben in unserer Volksmusik eine nicht geringe Rolle gespielt. Überall hörte man sie auf ihren Fiedeln und Lahuten spielen, in den Dörfern und Städten, auf Hochzeiten und an Festen. Und auch die Agas, selbst wenn sie sie verachteten, hörten ihre Lieder. Nach der Befreiung trugen sie zur Entwicklung der Musik in unserem Land bei. Ich kann mich noch an ein Konzert erinnern, das einmal im Haus der Kultur in Korça gegeben wurde. Beeindruckend war, dass das ganze, beinahe 20-köpfige Orchester

695 Iphtos: Der Begriff war weder als Toponym noch sonst zu verifizieren. Mit dem legendären König Iphitos von Elis auf dem nordwestlichen Peloponnes dürfte er kaum etwas zu tun haben. Auf eine angeblich ägyptische Herkunft gehen u.a. auch das englische «gipsy», das griechische «γύφτος »und das spanische «gitano» zurück. 696 Lahuta: Einsaitiges Streichinstrument. 697 Kaba-Musik: Melancholische Volksmelodien mit Klarinette, Geige, Laute oder Akkordeon, verbreitet vor allem in Südalbanien. 698 Raj Kapoor (1924–1988; albanisch: Raxh Kapur): Bollywood-Filmstar. Die beiden in Albanien gezeigten Filme «Awara ­– der Vagabund von Bombay» (Originaltitel «Avara»; 1951) und «Der Prinz von Piplinagar» (Originaltitel «Shree 420»; 1955) waren offenbar Kassenschlager.

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ausschließlich aus Ägyptern bestand – worunter auch der berühmte Çile (der Blinde) –, die alle weiße Fustanellen699 trugen. Unsere Ägypter haben auch die alten Leidenschaften ihres Volksstammes bewahrt, nämlich die Liebe zu den Pferden und die Hingabe an die Eisenbearbeitung. Sie stellten Hufeisen und Türscharniere her, schmiedeten in ihren Essen verzierte Eisentüren, kunstvolle Fenstergitter und vieles mehr. Sie waren die wahren Meister des Eisens. In Gjirokastra gehörten zu ihnen der Ägypter Bajo mit seinen Söhnen, der Ägypter Qato, ein vollendeter und ehrenhafter Handwerker, sowie viele andere. Die Erinnerung und den Respekt gegenüber diesen einfachen Menschen aus dem Volk bewahre ich, so lange ich lebe. Und ich kämpfe dafür, dass auch das kleinste Unkraut, das aus vergangenen Jahrhunderten übriggeblieben sein mag und uns noch heute schadet, mit den Wurzeln ausgerissen wird, wenn nämlich jemand gegen die Ägypter spricht und sie verachtet. Heute, im Sozialismus, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen ihnen und den anderen. Es gibt bei uns keine Segregation, keinen Rassismus und keine Apartheid gegenüber den Ägyptern. Sie alle haben Wurzeln geschlagen, haben gelernt, gekämpft und tragen Auszeichnungen an der Brust; manche sind sogar Helden der sozialistischen Arbeit, Parteisekretäre, Offiziere, Ärzte usw. Dies ist das große Werk, das die Partei für sie vollbracht hat; sie hat die Armen aufgerichtet, hat ihnen Würde und Kraft gegeben. 1968

699 Fustanella: Der traditionelle, meist weiße, plissierte Männerrock.

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[S. 293] Schlag

Teil III:  Einfache Menschen

fröhlich die Stunden, alte Uhr 700, 701

Lieber Xha Thoma Papapano,702 liebe Schüler und Lehrer des Gymnasiums «Asim ­Z eneli»,703 Ich danke euch von Herzen, dass ihr an mich denkt. Auch ich werde euch nie vergessen. Ich versichere euch, dass ich die Bitte nicht vergessen habe, die ihr an mich gerichtet und nun wiederholt habt. Mein Herz ist voll von Erinnerungen an meine erste Schule, an meine lieben Lehrer. Der Grund, dass ich euren Wunsch nicht schon früher erfüllt habe, ist nicht etwa, dass ich zu faul war zu schreiben: Die Schule, an der ich das ABC lernte, hat keine Faulpelze hervorgebracht!704 Ich wollte meinen Brief aber durch etwas begleiten lassen, worum ihr mich gebeten habt – wie soll ich sagen: durch etwas, das [S. 294] eurem und meinem Wunsch entsprach, durch etwas, das mich an meine Kinderjahre erinnern würde. Sie wissen es, Xha Thoma: 47 Jahre sind seit dem Tag vergangen, als ich das erste Mal in der Schulbank vor Ihnen erschien.705 Ein ganzes Leben ist inzwischen vergangen, aber den ersten Schultag vergisst man nicht. Im Herzen empfand ich eine Mischung von Freude und anfänglicher Angst, aber die gütigen Worte meines Lehrers (wie auch das Stück Maisbrot mit etwas Käse und einer Zwiebel, das mir die Mutter in den Schulranzen gesteckt hatte, als sie mich zur Schule begleitet hatte!) taten das ihre, um mein Herz zu erwärmen und meine Beklemmung zu lösen. Gewitter sind über unser Vaterland gezogen seit der Zeit, als Sie, Basho706 Thoma, die erste albanische Schule in Gjirokastra eröffnet hatten, zur Zeit, als ich das Licht 700 Der Titel (Këndo tani o sahat) lautet in wörtlicher Übersetzung «Singe/klinge/schlage die Stunden jetzt, oh Uhr». 701 Fußnote im albanischen Original: Dieser Brief wurde den Schülern und Lehrern der allgemeinen Mittelschule «Asim Zeneli» geschickt. 702 Zu Enver Hoxhas ehemaligem Albanisch-Lehrer Thoma Papapano (1884–1970) siehe S. 100, 117, 130, 135. 703 Das Gymnasium bzw. die allgemeine Mittelschule «Asim Zeneli» ist eine Nachfolgeinstitution des am 23. November 1923 eröffneten (und 1928 geschlossenen) französischen Lyzeums in Gjirokastra. Zu seinen berühmtesten Schülern zählen neben Enver Hoxha die Schriftsteller Ismail Kadare und Dritëro Agolli und der Albanologe Eqrem Çabej. 704 Der Mejtep, an dem Enver Hoxha seine ersten ABC-Schritte machte (siehe S. 121), wird hier nicht erwähnt. 705 47 Jahre: Als Jahr des ersten Schulbesuchs beim Lehrer Thoma Papapano würde mithin 1915 resultieren; welche Schule gemeint ist, wird aus dem Text nicht klar (die 1908 von Thoma Papapano mitbegründete Schule «Liria» wurde schon 1913 geschlossen, siehe S. 119; vgl. Myftaraj (2008, S.  70 f.). 706 Basho: entspricht lt. Muzafer Xhaxhiu, Fjalor i të folmes së Gjirokastrës, der respektvollen Anrede «Xha» im Umgang mit christlichen Männern. Thoma Papapano gehörte der orthodoxen Glaubensrichtung an.

Schlag fröhlich die Stunden, alte Uhr 297

der Welt erblickte.707 Das Leben meiner Familie und mein eigenes, wie auch dasjenige aller meiner Mitbürger, verlief teils mit Leiden, teils mit Freuden, aber immer mit der Hoffnung auf die Zukunft. Sie können sich noch erinnern, Xha Thoma, wie unser Haus zur Zeit der ersten griechischen Besatzung abbrannte.708 Ich war damals noch klein, weiß aber noch, wie mich meine zu Tode erschreckte Mutter aus dem Schlaf riss und mich mitten durch Flammen und Rauch vorwärts stieß, um mich zu retten. Niemals werde ich vergessen, wie ich auf der Treppe, die in hellen Flammen stand, den Kopf wandte und inmitten des Rauches meine Mutter sah, die auf der einen Schulter mein Schwesterchen, einen Säugling, hielt und auf der anderen eine alte Uhr. Diese Uhr hatte an der Wand in ihrem Schlafzimmer gehangen und hatte sie in jener fürchterlichen Nacht aus dem Schlaf geweckt. Alles wurde ein Raub der Flammen, meine kleinste Schwester starb, aber ich und die Wanduhr überlebten. Diese Uhr  – das einzige und mir teure Andenken an meine Familie – schicke ich nun meiner lieben Schule, meinem lieben alten Lehrer und den jungen Schülern und Lehrern. Liebe junge Genossinnen und Genossen, ich bin weder Dichter noch Schriftsteller, aber als ich jung war, wie ihr es seid, träumte ich von Dichtung und von Liebe. Das sage ich euch, weil ich den [S. 295] Dichtern glaube, wenn sie behaupten, dass auch die Dinge ihr Leben haben und ihre Geschichte erzählen. Die Uhr, die ich euch schicke,709 ist nicht bloß ein simpler, alter Apparat, der mit etwas Farbe übertüncht ist, um das Alter zu kaschieren – so wie früher unsere Mütter ihre Haare mit Henna färbten, um die grauen Strähnen zu verbergen. Laut meiner Mutter dient diese Uhr unserer Familie seit ungefähr hundert Jahren. Hundert Jahre, das ist nicht wenig, aber hört einmal genau hin: Sie klingt noch immer wie eine Nachtigall! Nichts für ungut, verehrter Xha Thoma, auch Sie sind nicht mehr jung, aber auch Ihre Stimme bringt seit mehr als 50 Jahren, von Klasse zu Klasse, von Jahr zu Jahr, die schönen Verse und Lieder zum Klingen, die Naim710 für Albanien und seine Zukunft sang, wie auch die kraftvollen Lieder der jungen Werktätigen, die mit jugendlicher Energie den Sozialismus aufbauen. Die Uhr, die ich euch als Geschenk schicke, ist schlicht, aber für mich mit innigen Gefühlen verbunden. Als ich meine Mutter fragte, ob ich sie euch schicken dürfe, sagte sie mir: «Schick sie; deine Schule hat sie verdient! Die Glocke dieser Uhr hat dich jeden Morgen geweckt, bevor ich dich in die Schule schickte, und die Schule, in der du gelernt hast, hat dir die Augen geöffnet. Wir besitzen ja nichts anderes aus 707 Gemeint ist die Eröffnung der Schule «Liria», die von September 1908 bis März 1913 bestand, siehe S. 119. 708 Brand des Hauses in Palorto: Vermutlich zwischen 1913 und 1916; siehe S. 111. 709 Eine Fotografie der Uhr findet sich in der albanischen Ausgabe, im Bildteil vor S. 289. Der etwas unscharfen Aufnahme nach handelt es sich um eine der im 19. Jahrhundert weitverbreiteten kastenförmigen Pendelwanduhren bzw. Wiener oder Biedermeier Regulatoren. Die Uhr verfügte über ein Stunden-Schlagwerk, kaum aber über einen Kuckucksmechanismus. 710 Naim Frashëri: Siehe S. 127.

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Teil III:  Einfache Menschen

unserer Vergangenheit, was wir den jungen Männern und Frauen schicken könnten, Sohn!» Meine Mutter bat mich euch zu sagen, dass sie euch grüßt und euch die Augen küsst. Sie legt euch ans Herzen, das Vaterland, das Volk und die Partei wie eure Seele zu lieben und gut und fleißig zu lernen. Zugleich bat sie mich, euch das «Leben», die Geschichte unserer Uhr zu erzählen. «Sag den Jungen und Mädchen von Gjirokastra, dass diese arme Uhr alle Freuden und Leiden, die mein Herz durchlitten hat, gesehen, gehört und mitbekommen hat. Diese Uhr hat gesehen, wie sich der Mullah (Baba Çen) im Verborgenen mit Çerçiz,711 mit Duro Gurra und Idriz Gurra712 unterhalten hat. Das Ticktack der Uhr glich unserem Herzschlag und dem aller Bürger von Gjirokastra, als der Mullah auf das Ultimatum des griechischen Generals reagierte, der ganz Gjirokastra in Flammen legen wollte. Wir alle warteten von Stunde zu Stunde auf den Tod, warteten, dass unsere Häuser abgefackelt würden und wir in ihnen, aber niemals hätten wir uns dem Venizelos und Zographos713 ergeben. Angesichts der Heldenhaftigkeit des Volkes zog sich der griechische General dann zurück. Die Stadt entging [S. 296] der Feuersbrunst. Später suchte uns die Armut heim – diese Uhr kennt unsere Sorgen – aber nie gaben wir uns der Schande preis. Einen Teil meiner Kinder musste ich zum Grab begleiten; diese Uhr weiß, was ich durchgemacht habe. Sie kennt mein Entsetzen, als uns die Italiener und die Deutschen besetzten. Und diese Uhr weiß, welche Angst und welchen Schmerz ich im Herzen empfand, als du, mein Sohn, mein lieber Sohn, und die Söhne der anderen albanischen Mütter als Illegale mit der Partei auf brachen, an Demonstrationen kämpften, in den Krieg zogen und ich euch nicht mehr sah, bis Albanien endlich befreit war. Die Stunden schienen mir wie Tage und die Tage wie Jahre. Jede Nacht krachten die Gewehre und Bomben in Tirana; es war mir, als ob sie mich ins Herz träfen. Und immer erklang der Stundenschlag dieser armen Uhr. Ich dachte an meinen Jungen, ich dachte an die Söhne und Töchter der Mütter, die als Partisanen in die Berge gezogen waren und mit der Flagge in der Hand für das Volk kämpften … Und endlich kehrten sie siegreich aus den Bergen zurück, es lachte vor Freude ganz Tirana, ganz Albanien. Nun schien mir der Stundenschlag der Uhr wie ein wunderbares Lied. Als ich sie eines Tages anblickte, sprach ich zu ihr: «Du arme Uhr, was haben wir zusammen gelitten, du und ich, aber was macht der Mensch nicht alles durch? Der Mensch ist stärker als du, ist stärker als Eisen. Und dann sagte ich zur Uhr: Schlage du fröhlich die Stunden, denn es wird keine schwarzen Tage mehr geben, weder für das Volk, noch für uns, noch für dich.» Diese Uhr also schicke ich meiner ersten und lieben Schule als schlichtes Geschenk. Sie hing in meinem Arbeitszimmer, aber ich denke, dass sie bei euch besser 7 11 Çerçiz Topulli: Siehe S. 63. 712 Duro und Idriz Gurra: Nicht identifizierbar; evtl. ist Idriz Gurra eine alternative oder fälschliche Schreibweise für «Guri»; vgl. in diesem Falle S.  149 f, 251 zu Idriz Guri. 713 Venizelos und Zographos: Griechische Politiker, siehe S. 125.

Schlag fröhlich die Stunden, alte Uhr 299

aufgehoben ist, denn die Alten freuen sich, wenn sie mit Jungen zusammen sind. Sie brauchen das, weil es ihnen ihre eigene Jugend in Erinnerung ruft, weil sie immer jung sein, sich freuen und arbeiten möchten wie die Jungen. Wenn sie mit den Jungen zusammen sind, gibt das den Alten neue Kraft, um der Jugend, dem sozialistischen Vaterland und unserer ruhmreichen Partei bis in den Abend ihres Lebens zu dienen. Und auch ich versichere euch, liebe Genossen, Genossinnen und Freunde des Gymnasiums «Asim Zeneli» in Gjirokastra, dass ich mit all meinen Kräften und so lange ich es kann, bis zu meinem Ende als Soldat der Partei und des Volkes für das Glück der Menschen in Albanien, für das Glück der jungen Generation arbeiten und kämpfen werde. [S. 297] Mögen unser wunderbares Volk, unsere ruhmreiche Partei und unsere heroische Jugend noch Hunderte von Jahren in Ruhm und Glück leben! Ich umarme euch und sage euch auf Wiedersehen, meine alten und jungen Genossen und Freunde! Euer ENVER HOXHA Tirana, 17. September 1962