Kinder der Moderne: Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden 9783035621686, 9783035621679

What was it like to grow up in a Modernist residence? Did these radical environments shape the way that children looked

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Kinder der Moderne: Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden
 9783035621686, 9783035621679

Table of contents :
Inhalt
Quote
Architektur und die eigene Geschichte
Reihenhaus Weissenhofsiedlung. J. J. P. Oud – Stuttgart, 1927
Villa Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe – Brno (Brünn), 1930
Haus Schminke. Hans Scharoun – Löbau, 1933
Unité d’Habitation. Le Corbusier – Marseille, 1952
Kindheiten in Häusern der Moderne
Danksagung
Die Autoren
Bildnachweis
Index

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Kinder der Moderne

Für Kai

Dieses Buch wurde zum Teil ermöglicht durch den New York State Council on the Arts mit der Unterstützung von Gouverneur Andrew M. Cuomo und der Regierung des Bundesstaates New York.

Elise Jaffe + Jeffrey Brown MIT School of Architecture and Planning

Julia Jamrozik Coryn Kempster

Kinder der Moderne Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden

BIRKHÄUSER BASEL

Layout, Covergestaltung und Satz Miriam Bussmann Übersetzung Uli Minoggio Lektorat und Projektkoordination Ria Stein Herstellung Heike Strempel Papier Amber Graphic 120 g/m² Leinen Printa, Bamberger Kaliko Druck Eberl & Koesel Fine Prints, Altusried

Library of Congress Control Number: 2020946472 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-0356-2167-9 e-ISBN (PDF) 978-3-0356-2168-6 Die englische Originalausgabe ist unter dem Titel Growing up Modern. Childhoods in Iconic Homes erschienen (print-ISBN 978-3-0356-1905-8). © 2021 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston 987654321 www.birkhauser.com

Inhalt

Architektur und die eigene Geschichte

6

Einführung

Reihenhaus Weissenhofsiedlung

18

J. J. P. Oud – Stuttgart, 1927 Gespräch mit Rolf Fassbaender

Villa Tugendhat

82

Ludwig Mies van der Rohe – Brno (Brünn), 1930 Gespräch mit Ernst Tugendhat

Haus Schminke

150

Hans Scharoun – Löbau, 1933 Gespräch mit Helga Zumpfe

Unité d’Habitation

232

Le Corbusier – Marseille, 1952 Gespräch mit Gisèle Moreau

Kindheiten in Häusern der Moderne Fazit Danksagung Die Autoren Bildnachweis Index

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„Die Erinnerungen an die äußere Welt werden niemals die gleiche Tonalität haben wie die Erinnerungen des Hauses. Wenn wir die Erinnerungen des Hauses heraufbeschwören, fügen wir Traumwerte hinzu; wir sind niemals wirkliche Historiker, wir sind immer ein wenig Dichter, und unsere Emotion drückt vielleicht nichts anderes aus als eine verlorene Poesie.“ Gaston Bachelard

Architektur und die eigene Geschichte Einführung

Wie ist es wohl gewesen, in einer Villa oder Wohnsiedlung der frühen Moderne aufzuwachsen? Wie mag sich ein solches Umfeld auf die Einstellung von Kindern ausgewirkt haben? Hat ein derart unkonventionelles Ambiente im weiteren Verlauf des Lebens ihre Vorstellungen von Räumlichkeit geprägt? Waren Kinder in einem Haus der Moderne sich ihrer avantgardistischen Umgebung bewusst – waren sie gar stolz darauf? Um Antworten auf solche Fragen zu finden, befasst sich dieses Buch mit einem ausgewählten Kreis von Personen, die als Kinder in solchen radikal modernen Elternhäusern aufwuchsen. Wir haben nach ihren Erinnerungen gefragt, um zu verstehen, ob diese Bauwerke Auswirkungen auf unsere Gesprächspartner während ihrer Kindheit und in ihrem späteren Leben hatten (oder auch nicht). Verstehen wollten wir aber auch die Gebäude als solche aus eben der Perspektive ihrer Bewohner, und zwar nicht im Sinne eines architektonischen Denkmals, sondern als Orte voller Leben und als Orte des Alltags – damals wie vielfach auch noch heute. Die hier vorgestellten Geschichten bieten eine Zusammenfassung individueller Erinnerungen, die sich in Intensität und Umständen unterscheiden und die alle im Laufe der Zeit unvermeidlich verblasst sind. Dessen ungeachtet zeichnen sie ein einzigartig intimes Porträt der Moderne. Obgleich umfangreiche Recherchen und Veröffentlichungen zu den hier behandelten Gebäuden und ihren Architekten vorliegen, gestattete uns das Annähern durch Oral History, bislang ganz unbekannte Aspekte dieser baulichen Meisterwerke aufzudecken. Für uns war es maßgebend, mit denen zu sprechen, die als Kinder – nicht als Erwachsene – diese Bauwerke erstmalig bewohnt hatten. Von der Unmöglichkeit

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Einführung

einmal abgesehen, mit verstorbenen Bewohnern zu sprechen, war es ja schließlich die bewusste Entscheidung der damals Erwachsenen, also der Elterngeneration, in einer solch avantgardistischen Umgebung zu leben bzw. diese in Auftrag zu geben. Entsprechend wären sie positiv voreingenommen gewesen.2 Stattdessen bemühten wir uns um die Perspektiven ihrer Kinder, die wir uns freimütiger und weniger vorbelastet vorstellten. Wir hatten das Glück, Rolf Fassbaender, Ernst Tugendhat, Helga Zumpfe und Gisèle Moreau befragen zu können – allesamt die jeweils ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohner: eines Reihenhauses in der Weissenhofsiedlung von J. J. P. Oud in Stuttgart (1927), der Villa Tugendhat von Ludwig Mies van der Rohe in Brno in Tschechien (1930), des Haus Schminke von Hans Scharoun in Löbau in Sachsen (1933) und von Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille (1952). Wir besuchten auch eben jene Elternhäuser unserer Gesprächspartner, um sie fotografisch zu dokumentieren und so den persönlichen Erinnerungen nachzuspüren. Besichtigt man Stätten wie die Weissenhofsiedlung, die vor mehr als neunzig Jahren fertiggestellt wurde, ist es schwer vorstellbar, welch radikalen Eindruck Häuser der frühen Moderne wohl damals machten. Eine Vorstellung davon geben Fotografien aus jenen Tagen, die neuesten Automobil- und Modedesigns abbildend, desgleichen die leidenschaftliche Kritik, der sich Architektur der Moderne zu ihrer Zeit ausgesetzt sah. Diese Bauten waren wahrlich revolutionär, nicht nur in ihrem formalen oder ästhetischen Ausdruck, sondern vor allem in der neuen Lebensweise, die sie vertraten und propagierten. Nicht zuletzt deshalb waren Bauten der Moderne auch politisch zu verstehen und förderten die Verbreitung sozialer Visionen sowie die Befreiung aus traditionellen Normen. Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson, die Kuratoren von Modern Archi-

tecture: International Exhibition, der wegweisenden Ausstellung von 1932 im Museum of Modern Art in New York, definierten drei Ästhetikmerkmale der neuen Architektur: „Zuerst einmal haben wir eine neue Auffassung von Architektur als Volumen und nicht als Masse. Zweitens dient eher Ebenmaß denn axiale Symmetrie als bestimmender Faktor einer Entwurfsanordnung … und zum Dritten verbietet sich beliebig eingesetzte Dekoration.“3 Immerhin definierten die fortschrittlichen Bestrebungen der Moderne die Bewegung nicht nur als architektonischen Stil, sondern auch als ein Mittel, in der Welt zu agieren. Es bestand die implizite Pflicht, den Zeitgeist auszudrücken, wie Nikolaus Pevsner schrieb,4 d. h. eine radikale, wenn nicht gar moralische Agenda zur gesellschaftlichen Umgestaltung mittels Architektur voranzubringen.5 Wie Sarah Williams Goldhagen hervorhebt: „Die Moderne in der Architektur war und ist ein fortlaufender Dialog, eine Diskussion darüber, wie die kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen des modernen Zeitalters mit seiner neu geschaffenen Umgebung die

ARCHITEKTUR UND DIE EIGENE GESCHICHTE

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Selbstwahrnehmung stärken, das soziale Leben verbessern und zu einer menschlicheren Gegenwart beitragen aber auch, wie sie den Menschen helfen könnten, sich ihre Zukunft in einer besseren Welt vorzustellen.“6 Le Corbusier und andere Architekten der Moderne glaubten an das transformative Potenzial von Architektur für die Gesellschaft und auch den Einzelnen. So war die Wohnstätte oder die „Wohnmaschine“ ein Studienobjekt für architektonische sowie soziale Einflüsse. „Das Problem des Hauses ist ein Problem unserer Zeit. Das Gleichgewicht der Gesellschaftsordnung hängt heute von seiner Lösung ab.“, schrieb Le Corbusier in seinem Manifest Ausblick auf eine Architektur 1923. Und er fährt fort: „Erste Pflicht der Architektur in einer Zeit der Erneuerung ist die Revision der geltenden Werte, die Revision der wesentlichen Elemente des Hauses.“7 Über die hehren Ziele von Architekten der Moderne, die für sich in Anspruch nahmen, den sozialen Wandel befördert zu haben, wurde viel geschrieben – wie auch Entsprechendes über ihr Scheitern. Unsere Absicht in diesem Zusammenhang ist es, weder das eine nachzuweisen oder das andere zu widerlegen, noch wollen wir eine quantitative Untersuchung zum Einfluss von Architektur auf ihre Bewohner vorlegen8 oder gar eine Bewertung der sozialen Auswirkungen der Moderne vornehmen. Vielmehr möchten wir versuchen, die ganz persönlichen, unverwechselbaren und auch vergänglichen Erinnerungen von Menschen festzuhalten, die ein räumlich unkonventionelles Zuhause hatten. Zwar lässt sich die Tragweite der Architektur nicht so einfach von sozioökonomischen oder kulturellen Hintergründen trennen, dennoch ist es überaus lohnenswert, die entsprechenden Bauwerke aus der Sicht des Nutzers zu untersuchen – in der Architekturgeschichte eine bislang unübliche Herangehensweise.9 Die hier vorgelegten Geschichten sollen es Architekturinteressierten ermöglichen, die Einzigartigkeit dieser Gebäude aus einem ganz anderen Blickwinkel zu würdigen, und sie mögen den Leser anregen, architektonische Gestaltung durch die Augen von Kindern zu erfahren. Hinter der Zielsetzung unserer Recherchen für

Kinder der Moderne steht der Wunsch, sowohl uns als auch unsere Leserschaft zu einem besseren Verständnis von Architektur als einer visionären und politischen Kraft zu führen. Gerade der vielschichtigen, nicht von Architekten festgelegten Geschichte und Realität dieser Räume gilt es gerecht zu werden. Naomi Stead und Janina Gosseye zufolge, „könnten Oral-History-Befragungen durchaus hinter dem professionellen Architektur-Habitus nicht autorisierte, polyfone, menschliche und gesellschaftliche Darstellungen ausfindig machen und zur Geltung bringen“.10 Stead und Gosseye ergreifen Partei für den methodologischen Wert von Oral History für eine umfassendere Architekturgeschichtsschreibung, indem nicht nur Architekten, sondern auch anderen, an Herstellung und praktischer

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Einführung

Nutzung von Architektur Beteiligten, Gehör zu verschaffen sei. Während viele Einrichtungen Befragungen bedeutender Architekten gesammelt haben,11 bleibt der Blickwinkel des Nutzers üblicherweise unberücksichtigt.12 Basierend auf der Oral-History-Methode13 umfasste unsere Forschung eingehende Dialoglektüre wie die Untersuchung materieller Artefakte. Dabei wird die menschliche Dynamik zwischen fragender und befragter Person durchaus berücksichtigt; subjektive Einzel- und Kollektivvorstellungen sind, einem Fotografenblickwinkel ähnlich, mehr oder weniger bewusst in die Erzählungen eingeflochten. Sämtliche Umstände von informellen Gesprächssituationen, Sprachbarrieren oder Übersetzungsfehlern, Mehrdeutigkeiten durch Gesten und Untertöne sind in die Geschichten dieses Bandes eingeflossen. Auch wenn das Material aufgrund dieser Methode Schwächen aufweist, sehen wir gerade darin eine Bereicherung, was einen frischen und intimen Blick auf diese berühmten Bauten ermöglicht. In dem Buch

Speaking of Buildings argumentieren Gosseye, Stead und Deborah van der Plaat: „Durch Dokumentieren der Erfahrungen und Interaktionen mit Gebäuden über die Jahre kann die Oral History einem generell als statisch verstandenen dreidimensionalen Bauwerk eine dynamische vierte Dimension abgewinnen.“14 In ihrem Buch House as a Mirror of Self unterstreicht Clare Cooper Marcus die Bindungen zu den Räumlichkeiten, in denen wir aufgewachsen sind: „Während wir uns im Laufe unseres Lebens entwickeln und verändern, setzen nicht nur prägende emotionale Beziehungen mit Menschen Akzente in unserer psychologischen Entwicklung, sondern auch die seit unserer Kindheit engen affektiven Bindungen zu diversen bedeutsamen physischen Umgebungen.“15 In einer auf den Anschauungen von Carl G. Jung basierenden Analyse geht Marcus auf die komplexen Formen von Bindung und Selbstdarstellung ein, die sich aus den von uns bewohnten häuslichen Räumen, insbesondere den Räumen der Kindheit, entwickeln. In der Tat ist die Kindheit eine „Zeit akuter Verletzlichkeit und Offenheit“16 und gleichsam eine prägende Zeit für die Entwicklung der Beziehung zur Welt und ihren physischen und impliziten Strukturen. Marcus spricht von Erinnerungen und Träumen als einer „persönlichen ‚Bibliothek‘“ und bezeichnet Kindheitserinnerungen „als eine Art psychische Verankerung, die uns auf unsere Anfänge zurückblicken lässt.“17 Der Philosoph Gaston Bachelard geht noch hier weiter: „Doch über die Erinnerungen hinaus ist das Elternhaus physisch in uns eingezeichnet.“18 Seiner Ansicht nach prägen die wesentlichen Faktoren unseres ersten Zuhauses unser unbewusstes und körperliches Gedächtnis und bestimmen gemeinhin unsere ganz persönliche Vorstellung von Architektur.19 Später wird das Elternhaus, in der Begegnung mit der Welt abseits des frühen häuslichen Schutzes, zum prototypischen Raum und grundlegenden Bezugspunkt.

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Mehr noch als physikalische Merkmale wie Dimension, Material oder Textur ist es das komplexe Wesen des frühen Heims, dem Bachelard einen nahezu mythischen Charakter zuordnet: „Alles was ich vom Hause meiner Kindheit sagen kann, ist genau dies, was nötig ist, um mich selbst in die Situation des Träumens zu bringen, um mich an die Schwelle einer Träumerei zu versetzen, wo ich mich in meiner Vergangenheit ausruhe.“20 Tagträume, ausgelöst durch Gedanken an das frühe Zuhause, lassen physische Räume mit Ereignissen aus der Kindheit verschmelzen und überlagern nachfolgende Erfahrungen und Gefühle des Träumenden. So behauptet Bachelard „dass das Haus für die Gedanken, Erinnerungen und Träume des Menschen eine der großen Integrationsmächte ist.“21 „Die Reise in unsere Kindheitsszenarien ist keine Wiederbegegnung mit objektiven Merkmalen, sondern eine Reise des erwachsenen Ich zum Ich des Kindes“, führt Rachel Sebba in ihrer Studie über räumliche Kindheitserinnerungen aus.22 Entsprechend sind die Erinnerungen in Kinder der Moderne zwangsläufig von späteren Erfahrungen im Leben unserer Gesprächspartner geprägt worden. Insbesondere im Zusammenhang mit Familienvertreibungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg mischen sich oft Trauma und Nostalgie in ihre Geschichten, wodurch Erinnerungen an die Wohnsituation ihrer Kindheit belastet oder verklärt werden. Die Soziologin Tonya Davidson verknüpft Bewohnererinnerungen mit der physischen Struktur eines Hauses: „Das Haus, durch sorgfältige Planung und bauliche Konstruktion zum Wohnraum geworden, wird nun gleichermaßen zum Haus mit Gedächtnis.“23 Eine überaus relevante Verknüpfung, denn auf diese Weise werden die aus persönlicher Erfahrung gebündelten Erinnerungen geradewegs in einen Diskurs von Bewahren und Forschen überführt. Mithilfe von Alison Landsbergs Begriff der „prothetischen Erinnerungen“ beschreibt Davidson Erinnerungen anderer Menschen, um Zugang auf eine Zeit außerhalb der eigenen Erfahrung zu erhalten.24 So vermitteln die Geschichten der früheren Bewohner dieser Häuser prothetische Erinnerungen sowohl an persönliche Erlebnisse als auch an den Zeitgeist. Aus einer zeitgenössischen Perspektive in die Vergangenheit blickend, verleihen diese Schilderungen unseren Vorstellungen von kultureller Überlieferung ein tieferes Verständnis. Nicht alle von uns befragten Personen hatten ausgeprägte oder gute Erinnerungen an die elterliche Wohnung. Das Spektrum ihrer Empfindungen reichte von Verlegenheit und Gleichgültigkeit bis hin zu Bewunderung und Nostalgie. Für diejenigen, die auch weiterhin noch im Heim ihrer Kindheit lebten, verschmolzen solche Rückblicke mit ihrem derzeitigen Leben oder waren von der etablierten Architekturkritik geprägt. Dass das Zuhause in persönlichen Unterlagen unserer Gesprächspartner und bei einigen sogar in Träumen weiterhin präsent war, spricht jedoch für die bestehende Verbindung zwischen Wohnung und Bewohner. Und

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Einführung

Davidson zufolge nicht etwa einseitig. Denn der Wert eines Gebäudes als architektonisches Wahrzeichen steigert sich durch die Schilderungen über veränderte Nutzung über die Jahre sowie durch die von seinen Bewohnern damit verbundenen Wahrnehmungen: Zum einen fühlten sich die von uns befragten Menschen durch ihre persönlichen Erfahrungen mit den Häusern verbunden, zum anderen aber waren die Gebäude durchdrungen von einer sich vielfältig und stets neu herausbildenden Bewohnergeschichte. Die subjektiven, mit anekdotischen Details versetzten Erinnerungen früherer Bewohner sagen einiges aus über das diffuse Dasein von Architektur jenseits ihrer Entstehung. Auch wenn diese Erinnerungen durch den Lauf der Zeit eventuell undeutlich scheinen, sollte man nicht vergessen, dass sich gleichermaßen in die Erinnerungen der Architekten, die die Bauwerke entworfen haben, durchaus Irrtümer eingeschlichen haben.25 Aufgrund des fragmentarischen Charakters menschlichen Gedächtnisses treten Teilaspekte und Räumlichkeiten in den von uns gesammelten Schilderungen in den Vordergrund. „Die Erinnerungen sind unbeweglich und umso feststehender, je besser sie verräumlicht sind“, schreibt Bachelard.26 Das Zusammenspiel von Erinnerung mit architektonischem Detail, wie bei Rolf Fassbaenders Schlafzimmerbalkon oder bei den bunten Bullaugen in Helga Zumpfes Türen, ist in hohem Maße bezeichnend für den Wert dieser persönlichen Art architektonischer Schilderung. Und so zeigte in allen Gesprächen das Rückbesinnen auf Alltägliches neue Wege auf, die Räumlichkeiten dieser prägenden Häuser zu entschlüsseln. Indem sich die Erzählenden erneut konkrete räumliche Anordnungen vergegenwärtigten, vermittelten sie sowohl sachliche als auch emotionale Wesenszüge dieser wohlbekannten Räume. Eine derartige Fülle und Komplexität, durch andere historische Herangehensweisen oder durch Ortsbesichtigungen nicht zu erschließen, belegen den Wert von Oral History für das Verständnis von Architektur.

Kinder der Moderne beruht auf einer Reihe von Gesprächen aus dem Jahr 2015. In jenem Sommer begaben wir uns mit unserem neun Monate alten Sohn auf eine Reise, im Verlauf derer wir die entsprechenden Wohnhäuser der Moderne besuchten sowie die derzeitigen Wohnungen unserer Gesprächspartner.27 Während wir unsere Voruntersuchungen in eigener Regie mittels Durchsicht historischer Aufzeichnungen (häufig auch Todesanzeigen) durchführten, wurden viele der Befragungen mit Unterstützung von Museen oder Stiftungen wie etwa dem Weissenhofmuseum, der Fondation Le Corbusier und der Stiftung Haus Schminke arrangiert. Mit Ernst Tugendhat und Helga Zumpfe sprachen wir in ihrem derzeitigen Zuhause. Rolf Fassbaender unterhielt sich mit uns in einer dem Haus seiner Kindheit gleichenden Wohneinheit. Für Gisèle Moreau waren Elternhaus und derzeitiges Heim

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ein und dasselbe geblieben. Während die Villa Tugendhat und das Haus Schminke jeweils in Museen umgewandelt sind, werden die meisten verbleibenden Gebäude der Weissenhofsiedlung und die Wohnungen der Unité d’Habitation weiterhin als Wohnraum genutzt. Uns war das Glück zuteil, im Hotel der Unité d’Habitation übernachten zu können, und wir nächtigten ebenfalls im Haus Schminke, das gemietet werden kann, wenn die Museumsbesucher das Haus verlassen haben. Jedes Kapitel in diesem Buch fasst nicht nur eine jede Begegnung zusammen, sondern enthält auch Eckdaten zum jeweiligen Haus einschließlich der Zeichnungen des Architekten. Ergänzt werden die Erinnerungen durch kommentierte Zeichnungen, in denen die während der Interviews erwähnten Orte und Ereignisse aufgeführt sind, sowie durch Fotodokumentation der Gebäude mit besonderem Augenmerk auf Aspekte, die für die Erinnerungen der Bewohner bedeutsam waren. Die Kapitel sind chronologisch nach dem Jahr der Fertigstellung der Bauten geordnet.

Reihenhaus Weissenhofsiedlung J. J. P. Oud – Stuttgart, 1927 Gespräch mit Rolf Fassbaender Dieses Kapitel lässt Rolf Fassbaender zu Wort kommen, der seit Eröffnung der Weissenhofsiedlung 1927 mit seiner Mutter bis 1939 im Pankokweg 3 lebte. Seine Erinnerungen umfassen sowohl den unmittelbaren Bereich um das Reihenhaus mit dem sonnigen Garten und dem kleinen Vorhof als auch die nähere Umgebung. Einen ebenfalls wichtigen Platz in Herrn Fassbaenders Schilderungen nehmen die Innenräume des Hauses ein, darunter das Wohnzimmer und insbesondere der Balkon vor seinem Kinderzimmer (auf dem er unter freiem Sternenhimmel schlafen konnte).

Villa Tugendhat Ludwig Mies van der Rohe – Brno (Brünn), 1930 Gespräch mit Ernst Tugendhat Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehen die Erinnerungen des emeritierten Philosophieprofessors Ernst Tugendhat. Von den überlebenden Tugendhat-Kindern ist er der einzige, der selbst noch in dem berühmten Haus in Brno gewohnt hatte, das die Familie schließlich gezwungenermaßen verlassen musste, als er acht Jahre alt war. Interessanterweise hinterließen selbst die unkonventionellsten Räume der Villa keinen bleibenden Eindruck auf ihn – seine Erinnerungen drehten sich vielmehr um die Außenräume des Hauses. Allerdings hatte er ein deutliches Gefühl für die extravagante und aufwendig gestaltete Architektur.

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Einführung

Haus Schminke Hans Scharoun – Löbau, 1933 Gespräch mit Helga Zumpfe Helga Zumpfe, das jüngste der Schminke-Kinder, verbrachte ihre gesamte Kindheit in dem Löbauer Haus. Dieses Kapitel enthält ihre Beschreibungen von Räumen und Details des Hauses und berichtet von der Wirkung, die diese auf sie hatten, sowohl seinerzeit als auch später als Erwachsene. Noch immer erschien das Haus in ihren Träumen, und sie verstand die damals in ihm aufgenommenen Eindrücke als in vielerlei Hinsicht prägend für ihr späteres persönliches wie auch berufliches Leben. Darüber hinaus nahm die enge und beständige Freundschaft, die sich zwischen dem Architekten und der Familie entwickelt hatte, in ihren Erinnerungen großen Raum ein.

Unité d’Habitation Le Corbusier – Marseille, 1952 Gespräch mit Gisèle Moreau Diesem Kapitel liegt unser Gespräch mit Gisèle Moreau zugrunde, die bei der Fertigstellung in Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille einzogen war und dort den weitaus größten Teil ihres bisherigen Lebens verbrachte. Sie hatte in verschiedenen Wohnungen des Gebäudes gelebt, ist derzeit aber wieder in der Wohnung ihrer Kindheit zu Hause, die sie von ihren Eltern geerbt hat. Mit Begeisterung ließ sie uns an ihrer Geschichte zu dem für sie und ihre Familie so prägenden Gebäude teilhaben. Bei der Auswahl der in diesem Buch dargestellten Architektur haben wir besonders anschauliche Beispiele der Moderne berücksichtigt, d. h. Wohnhäuser, die den meisten Architekten und Architekturbegeisterten bekannt sein dürften. Wir haben bewusst unterschiedliche Wohnformen – Villa, Reihenhaus, Etagenwohnung – zusammengestellt, um möglichst viele Szenarien, Erfahrungen, Typologien und sozioökonomische Umstände berücksichtigen zu können. Leider sind einige Personen, mit denen wir für die Studie sprechen wollten, nicht mehr am Leben,28 desgleichen gab es Häuser, in denen seinerzeit keine Kinder aufgewachsen waren. Zwangsläufig bedingten derlei Umstände unsere Arbeit und auch die Geschichten, die wir in der Lage waren zu sammeln. Zur Wahrung eines einheitlichen Charakters dieser Untersuchung, aber auch zum Verständnis ihrer Sichtweisen war es ferner unentbehrlich, die Elternhäuser unserer Gesprächspartner zu fotografieren. In diesem Zusammenhang haben wir die folgenden Unterhaltungen nicht berücksichtigt: mit Frau Goron, die in einem von Le Corbusier entworfenen Haus in der Cité Frugès in Pessac aufwuchs, oder mit Hans Reif, der in einem im Zweiten Weltkrieg

ARCHITEKTUR UND DIE EIGENE GESCHICHTE

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zerstörten Walter-Gropius-Haus in der Weißenhofsiedlung groß wurde. Obwohl interessant, waren die beiden Gespräche für den Zweck unserer Untersuchung unzureichend. Indem das Hauptaugenmerk auf gelebte Bewohnererfahrungen gelenkt wird und nicht umgekehrt auf die formalen, tektonischen, theoretischen oder unzähligen anderen typischen Maximen der Architekturgeschichte (der Moderne ebenso wie die anderer Epochen), stellt Kinder der Moderne infrage, welche Formen exemplarischer Baugeschichte eigentlich bewahrt werden. Unsere Untersuchung beansprucht, die sehr persönlichen Erinnerungen derer, die in einem Gebäude im Laufe seines Bestehens zu Hause waren – insbesondere die von Erstbeziehern –, als ebenso wertvoll und bewahrenswert zu erachten wie die Gedanken der Entwerfer dieser Gebäude, die Kritik von Zeitgenossen und Historikern und wie die physischen Bauten als solche. Durch sein stetes Augenmerk auf Kindheitserfahrungen trägt Kinder der Moderne zu einer breiteren Architektur- und Sozialgeschichte bei.

Anmerkungen 1

Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, übersetzt von Kurt Leonhard, München: Carl Hanser

2

Die Perspektiven der Eltern sind häufig bereits erfasst, insbesondere bei Auftragshäusern.

Verlag, 1960, S. 38. (Quelle für Zitat S. 6) Siehe z. B. Grete Tugendhat und Fritz Tugendhat, „Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich“, Die Form, Jg. 6, 1931, Heft 11, S. 437 – 439, Digitalisat der UB Heidelberg. Nachgedruckt in Daniela Hammer-Tugendhat, Ivo Hammer, Wolf Tegethoff, Haus Tugendhat. Ludwig Mies

van der Rohe, Basel: Birkhäuser, 2020, S. 74 – 79. Speziell zur Rolle weiblicher Auftraggeber siehe Alice T. Friedman, Women and the Making of the Modern House: A Social and Architectu-

ral History, New York: Harry N. Abrams, 1998. 3

Henry-Russell Hitchcock Jr. und Philip Johnson, The International Style: Architecture since 1922, New York: W. W. Norton, 1932, S. 20. – Deutsche Übersetzung: Henry-Russell Hitchcock Jr. und Philip Johnson, Der Internationale Stil 1932 (Bauwelt Fundamente 70), Braunschweig: Vieweg, 1985.

4

Nikolaus Pevsner, Europäische Architektur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 8. erweiterte u. neugestaltete Ausgabe, München: Prestel, 1997.

5

Ed Taverne, Cor Wagenaar und Martien de Vletter, J. J. P. Oud: Poetic Functionalist, 1890 – 1963;

6

Sarah Williams Goldhagen, Something to Talk About: Modernism, Discourse, Style, Journal of

7

Le Corbusier, 1922 – Ausblick auf eine Architektur (Bauwelt Fundamente 2), übersetzt von Hans

The Complete Works, Rotterdam: NAi Publishers, 2001, S. 34. the Society of Architectural Historians 64, Nr. 2, Juni 2005, S. 163. Hildebrandt, überarbeitet von Eva Gärtner, Braunschweig: Vieweg, 1982, S. 24.

16

8

Einführung

Sowohl im Sinne von quantitativen Nachbelegungsbewertungen oder eines eher konzeptionellen Ansatzes, dargestellt von AMO und Rem Koolhaas als Gastherausgeber von Domus „Post-Occupancy“, 2006.

9

„Wenn ein Großteil der Bedeutung von Architektur nicht durch das Entwerfen am Zeichenbrett entsteht, sondern dadurch, wie sie in der komplexen Lebenswelt bewohnt, beansprucht, genutzt, gelebt oder vernachlässigt wird, rückt diese Welt gleichzeitig in den Mittelpunkt und ist doch kurioserweise wenig erforscht.“ Kenny Cupers, Use Matters: An Alternative History of

Architecture, London: Routledge, 2013, 1. Siehe auch Stephen Grabow und Kent F. Spreckelmeyer, The Architecture of Use: Aesthetics and Function in Architectural Design, New York: Routledge, 2015. In den letzten Jahren gab es einige bedeutsame Bücher und Ausstellungen mit Schwerpunkt auf dem Entwerfen für Kinder, u. a. Amy F. Ogata, Designing the Creative

Child: Playthings and Places in Midcentury America, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2013; Alexandra Lange, The Design of Childhood: How the Material World Shapes Inde-

pendent Kids, New York: Bloomsbury Press, 2018; auch die Ausstellung Century of the Child: Growing by Design, 1900 – 2000 im Museum of Modern Art, 2012, und im Begleitkatalog, Juliet Kinchin und Aidan O’Connor, Century of the Child: Growing by Design, 1900 – 2000, New York: Museum of Modern Art, 2012. 10

„Oral History, Part I: Methods and Mistakes“, Videoaufnahme eines von Gosseye und Stead geleiteten Seminars im Canadian Centre for Architecture, 4. Juli 2017, 27:57, https://www.cca. qc.ca/en/events/50476/oral-history-part-i-methods-and-mistakes.

11

Dazu gehören die Archives of American Art sowie die Archive der British Library, der UCLA Library und des Art Institute of Chicago. Siehe auch John Peter, The Oral History of Modern Architecture:

Interviews with the Greatest Architects of the Twentieth Century, New York: H. N. Abrams, 1994. 12

Bedeutende Ausnahmen sind Philippe Boudon, Die Siedlung Pessac. Vierzig Jahre Wohnen à Le

Corbusier (Bauwelt Fundamente 28), Basel: Birkhäuser, 2014; Danielle Aubert, Lana Cavar und Natasha Chandani, Hrsg., Thanks for the View, Mr. Mies: Lafayette Park, Detroit, New York: Metropolis Books, 2012, das sich in erster Linie auf zeitgenössische Bewohner von Lafayette Park konzentriert, aber auch historische Informationen liefert, die auf Geschichten von Langzeitbewohnern basieren; Esra Akcan, Open Architecture: Migration, Citizenship and the Urban

Renewal of Berlin-Kreuzberg by IBA 1984/87, Basel: Birkhäuser, 2018; Hilde de Haan und Jolanda Keesom, What Happened to My Buildings: Learning from 30 Years of Architecture with

Marlies Rohmer, Rotterdam: nai010, 2016; sowie Essays in: Janina Gosseye, Naomi Stead und Deborah van der Plaat, Hrsg., Speaking of Buildings: Oral History in Architectural Research, New York: Princeton Architectural Press, 2019. 13

Gleichwohl wir nicht in Oral History ausgebildete Historiker sind, haben wir an der Columbia University Oral-History-Workshops besucht. Wir verweisen auf wichtige Texte zur Oral-HistoryPraxis in unseren Bemühungen, die Geschichten unserer Gesprächspartner im Rahmen dieses Projekts nicht nur aufzuzeichnen, sondern auch zu transkribieren und wiederzugeben. Siehe Donald A. Ritchie, Doing Oral History: A Practical Guide, 2. Auflage, Oxford: Oxford University Press, 2003; Robert Perks und Alistair Thomson, The Oral History Reader, 2. Auflage, London: Routledge, 2006; sowie Gosseye, Stead und van der Plaat, Speaking of Buildings.

14

Gosseye, Stead und van der Plaat, Speaking of Buildings, S. 26.

15

Clare Cooper Marcus, House as a Mirror of Self: Exploring the Deeper Meaning of Home, Ber-

16

Marcus, House as a Mirror of Self, S. 34.

17

Marcus, House as a Mirror of Self, S. 41, 20.

keley: Conari, 1995, S. 4.

ARCHITEKTUR UND DIE EIGENE GESCHICHTE

17

18

Bachelard, Poetik des Raumes, S. 47.

19

Unter „erstem Zuhause“ bzw. „Elternhaus“ ist nicht unbedingt das Haus zu verstehen, das von Geburt an bewohnt wurde, sondern das Haus, mit dem man seine nachhaltigsten frühen Eindrücke verbindet.

20

Bachelard, Poetik des Raumes, S. 45.

21

Bachelard, Poetik des Raumes, S. 38.

22

Rachel Sebba, „The Landscapes of Childhood: The Reflection of Childhood’s Environment in Adult

23

Tonya Davidson, „The Role of Domestic Architecture in the Structuring of Memory“, Space and

24

Siehe Alison Landsberg, Prosthetic Memory: The Transformation of American Remembrance in

25

Zur Untersuchung von Fragen im Zusammenhang mit dem Architekteninterview als historische

Memories and in Children’s Attitudes“, Environment and Behavior 23, Nr. 4, Juli 1991, S. 419.

Culture 12, Nr. 3, August 2009, S. 334. the Age of Mass Culture, New York: Columbia University Press, 2004. Methode, siehe Robert Procter „The Architect’s Intention: Interpreting Post-War Modernism through the Architect Interview,“ Journal of Design History 19, Nr. 4, Winter 2006, S. 295 – 307. 26

Bachelard, Poetik des Raumes, S. 41.

27

Wir kommen auf diesen Aspekt unseres Projekts im Schlusswort des Buches zurück. Unsere persönlichen Gedanken zur Reise (und dazu, unser Kind mitzunehmen und in gewisser Weise an der Untersuchung teilzuhaben zu lassen), werden dokumentiert in „Growing up Modern: A Family Story“, MAS Context 32, „Character“, 2019.

28

Ursprünglicher Auslöser für unsere Studie war ein Besuch in Le Corbusiers Villa Savoye am Stadtrand von Paris im Herbst 2005. Die Notizen und Briefe Eugénie Savoyes, die sowohl programmatische Zielsetzungen als auch Baumängel des Hauses äußerst detailliert aufführen hatten, machten einigen Eindruck auf uns. Besonders betroffen waren wir von dem Hinweis auf ihren Sohn Roger, dessen Lungenentzündung, wie sie behauptete, durch die kalten und undichten Bedingungen des Wochenendhauses ausgelöst wurde. Infolgedessen waren wir natürlich interessiert, wie die Erinnerungen des Sohnes daran und auch an die Räumlichkeiten dieser legendären Villa der Moderne ausfallen würden. Allerdings war Roger Savoye schon lange, bevor er hätte für diese Studie befragt werden können, verstorben; die Korrespondenz mit seinem Sohn Jean-Marc ergab jedoch, dass Roger schon 21 Jahre alt war, als Le Corbusier das Haus fertigstellte (E-Mail-Austausch mit den Autoren vom 9. Mai 2015). Zu Jean-Marc Savoyes Perspektive auf das berühmte Haus siehe Jean-Philippe Delhomme und Jean-Marc Savoye, Die

sonnigen Tage der Villa Savoye, Basel: Birkhäuser, 2020.

Reihenhaus Weissenhofsiedlung J. J. P. Oud Stuttgart 1927

Jacobus Johannes Pieter (J. J. P.) Oud war der erste von siebzehn Architekten, die der künstlerische Gesamtleiter Ludwig Mies van der Rohe einlud, an der Planung der Weissenhofsiedlung teilzunehmen. Bei dieser experimentellen Wohnanlage handelte es sich um eine Wohnbauausstellung, die 1927 auf einem mit Blick auf Stuttgart gelegenen Hügel eröffnet wurde (Abb. 1). Vom Deutschen Werkbund organisiert und von der Stadt Stuttgart gefördert, war die Weissenhofsiedlung ein Schauprojekt, das die Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen von Funktionalität, neuen Bautechniken und neuen Wohnformen voranbringen sollte. Die historische Bedeutung dieses Vorhabens kann nicht hoch genug geschätzt werden: Hier wurden nicht nur viele Facetten der Architekturmoderne komprimiert und verankert, auch in gesellschaftlicher Hinsicht erwies sich das Projekt als besonders einflussreich sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands. Diese tonangebenden, in die Ausstellung eingebundenen ästhetischen Wertvorstellungen – alsbald als Internationaler Stil bekannt –, lösten sowohl Lob als auch Kritik aus.1 Oud war zu der Zeit bereits ein angesehener Architekt der Moderne und hatte in seiner Heimat Holland zahlreiche Sozialwohnungen und andere Projekte ausgeführt.2 Sein Beitrag zur Weissenhofsiedlung bestand aus fünf identischen Reihenhäusern mit jeweils einem Vorgarten sowie einem umschlossenen Vorhof zur Straße hin, bestimmt für die „vernünftige, solide Mittelschicht“.3 Der Architekt entwarf das Reihenhaus mit großer Sorgfalt und richtete das Hauptaugenmerk auf Bereiche des täglichen Gebrauchs. Er berücksichtigte dabei die durch die Kuratoren der Ausstellung zur Verfügung gestellten Materialien, darunter von Hausfrauen aus Stuttgart entwickelte funktionale Wohngrundrisse wie auch die Richtlinien für die Küche und deren Ausstattung von Erna Meyer, der Autorin

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J. J. P. Oud

ʤ Eine Luftaufnahme der Weissenhofsiedlung zur Zeit der Bauausstellung, 1927. [1] ʨ Reihenhäuser, fotografiert von der Südseite (Gartenseite). [2]

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des 1925 erschienenen Buches Der neue Haushalt.4 Wie Ed Taverne, Cor Wagenaar und Martien de Vletter erläutern: „Im Gegensatz [zu denen Le Corbusiers] wurden Ouds Pläne von Erna Meyer sehr positiv aufgenommen und bildeten die Grundlage für einen intensiven und sehr professionellen Gedankenaustausch zwischen Architekt und Hauswirtschafterin. Infolgedessen konnte Oud seine Planungen optimieren … bis es zu einem wahren ‚Ford-Haus‘ wurde, ein Modell für häusliche Effizienz.“5 Den von Mies gemachten allgemeinen Gestaltungsvorgaben gerecht werdend, hatte Oud auch das emblematische Flachdach der Moderne und die weiße (bzw. cremefarbene) Fassade für das Reihenhaus vorgesehen (Abb. 2, 3).6 Während Ouds Teilnahme an der Bauausstellung deren Status erhöhte, verhalf sie ihm aber auch umgekehrt zu einer hervorgehobenen Stellung in der Geschichte der Architekturmoderne. Er erhielt einen „Ehrenplatz“7 in der Ausstellung Modern

Architecture: International Exhibition im Museum of Modern Art in New York im Jahr 1932: „Die vier führenden Vertreter der modernen Architektur sind Le Corbusier, Oud, Gropius und Mies van der Rohe“, bekundeten die Kuratoren der Ausstellung, Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson.8

ʨ Reihenhäuser, fotografiert von der Nordseite (Pankokweg). [3]

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J. J. P. Oud

ʤ Axonometrie der Reihenhäuser von J. J. P. Oud. [4]

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ʤ Grundrisse Erd- und Obergeschoss und Schnitt von J. J. P. Oud. [5]

Gespräch mit Rolf Fassbaender

Rolf Fassbaender lebte von 1927 bis 1939 im Pankokweg 3, in einem der von Oud entworfenen Reihenhäuser in der Weissenhofsiedlung. „Ich habe sehr, sehr gute Erinnerungen an meine Kindheit hier“, sagte er über das Haus, das er liebevoll als „Nummer 3“ bezeichnete und als „eine sehr gute, kleine, bestens ausgestattete Wohnung“ beschrieb. Anja Krämer vom Weissenhofmuseum arrangierte ein Gespräch mit Herrn Fassbaender im Pankokweg 7, einem mit seinem Elternhaus identischen Reihenhaus. Die Reihenhäuser sind weiterhin Teil des kommunalen Wohnungsbauprogramms, und in der Wohneinheit, in der wir uns trafen, standen gerade Renovierungsarbeiten zwischen Vermietungen an. Während Herr Fassbaender unsere Fragen beantwortete, unternahm er mit uns auch einen Rundgang durch das Reihenhaus und die Weissenhofsiedlung (Abb. 29, 30) und zeigte uns Familienalben aus seiner Kindheit und von einem kürzlichen Besuch in der Siedlung mit seinen Enkelkindern (Abb. 7, 20).

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Herr Fassbaender war zwei Jahre alt, als seine Familie 1927, dem Jahr der Fertigstellung der Reihenhäuser, einzog. Als sein Vater, von Beruf Sänger, einen Vertrag mit einem Stuttgarter Theater abschloss, siedelten sie aus Aachen, wo der kleine Rolf geboren wurde, über. Eine Partnerschaft zwischen der Stadt und dem Theater ermöglichte es der Familie, sich als erste Bewohner der Ausstellungsreihenhäuser in der Weissenhofsiedlung niederzulassen. Auch nach der Scheidung der Eltern blieben Rolf und seine Mutter noch einige Jahre im Haus. Verschiedentlich gesellten sich zwei Kaninchen und gelegentlich

ʪFotografie von Rolf Fassbaender im Pankokweg 7, einem Reihenhaus, identisch mit seinem Elternhaus, in der Weissenhofsiedlung, 2015. [6]

ʨEine Seite aus Herrn Fassbaenders Familienalbum: Die Bilder zeigen ihn mit seiner Mutter (Mitte), die Südfassade und den Garten der „Nummer 3“, sein Kindheitszuhause (links) und ihn beim Schlittenfahren auf dem kleinen Hügel vor dem Nachbargebäude von Ludwig Mies van der Rohe (rechts). [7]

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Gespräch mit Rolf Fassbaender

ʤKinder aus der Weissenhofsiedlung, darunter Rolf (hintere Reihe, Mitte). [8]

ein Architekturstudent als Untermieter hinzu. Obwohl Rolf ein Einzelkind war, gehörte er in der Nachbarschaft einer großen Kinderschar an, innerhalb derer er viele enge Freundschaftsbeziehungen hatte. „Eine Familie [die in der Nähe lebte] hatte acht Kinder, und ich war das neunte“, sagte er. Fotos aus dieser Zeit zeigen ihn in kleinen und großen Gruppen von Kindern, in seinen Worten „gute Freunde, die besten Freunde“ (Abb. 8 – 10). Der Baubestand der Siedlung reichte von Einfamilienhäusern bis zu bescheideneren Wohneinheiten. Infolgedessen repräsentierten die Einwohner des Viertels eine Mischung aus verschiedenen ökonomischen Verhältnissen, darunter Intellektuelle und Musiker wie Rolfs Vater oder der Cellist Hermann Busch, aber auch ein Polizist, Arbeiter sowie Ärzte und sonstige Besserverdienende.9 „Auch viele jüdische Familien lebten hier“, bemerkte Herr Fassbaender. Obwohl heute von Wohngebieten umgeben, war die Weissenhofsiedlung zu jener Zeit eher im Stuttgarter Umland gelegen. Der Weißenhof selbst, der dem Gelände und der späteren Siedlung den Namen gab, war ein benachbarter Bauernhof, bei dem Rolf Milch holte.10 Die Kinder nutzten die hügeligen Weiden der Umgebung

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ʤVon links: Rolf (rechts) mit einem Freund vor dem Wohnblock von Mies van der Rohe, wo sie in den Treppenhäusern spielten, und mit einer Gruppe von Kindern (Rolf vierter von links) auf dem Bürgersteig Pankokweg beim Mies-Gebäude. [9, 10]

ʨEin Blick in den Pankokweg mit den Reihenhäusern von Oud auf der rechten Seite und dem Mies-van-der-Rohe-Wohnblock auf der linken Seite, 1927. Hans Reif, ein weiterer Gesprächspartner für diese Studie, wohnte von 1928 bis 1932 in dem von Walter Gropius entworfenen Haus 17, zu sehen in der Bildmitte. Das Haus wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. [11]

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Gespräch mit Rolf Fassbaender

ʤ Von links: Rolf mit seinem Luftgewehr, mit dem er das Licht der Straßenlaterne im Pankokweg zerschoss (siehe Abb. 11); beim Klettern im Baum im Garten seines Elternhauses und mit seinen Kaninchen vor der Südfassade des Reihenhauses. [12 – 14]

als Fußballplätze. Ein öffentliches Schwimmbad und andere Sportanlagen waren ebenfalls zu Fuß erreichbar. In Herrn Fassbaenders Erinnerungen sind die Außenbereiche und die unmittelbare Nachbarschaft des Hauses von zentraler Bedeutung, denn dort verbrachte er die meiste Zeit mit Spielen. Vor seinem Elternhaus stehend und auf Straßen und Wege der Siedlung blickend, rief er: „Das war unser Spielplatz!“ Mit damals nur wenigen Autos im Viertel waren die Straßen ein Reich für Kinder (Abb. 9 – 11, 35). Bei einer niedrigen Umfassungsmauer aus Beton am Nordwestende der Reihenhäuser zählten die Kinder vor jeder Versteckspielrunde ab. Zu den bevorzugten Verstecken gehörten die miteinander verbundenen Treppenhäuser des angrenzenden, von Mies van der Rohe entworfenen Wohnblocks. Man konnte hineingehen, durch das Untergeschoss rennen und schließlich durch eine andere Tür das Gebäude wieder verlassen. („Das hat viel Spaß gemacht!“ erinnerte sich Herr Fassbaender.) Er zeigte uns auch Orte groben Kinderunfugs, wie etwa eine Straßenlaterne, deren Glas er nach mehreren Anläufen mit seinem Luftgewehr, dessen ungeahnte Zerstörungskraft er unterschätzt hatte, zerschoss (Abb. 11, 12, 37). Im Übrigen eigneten sich die Treppenhäuser des Mies-Baus mit ihren harten Oberflächen und vertikalen

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Räumen hervorragend, um Feuerwerkskörper zu zünden. Durch die Akustik dieser Bereiche wurde die Lautstärke der Knallerei noch einmal erheblich verstärkt (Abb. 36). In dem nach Süden ausgerichteten Vorgarten von „Nummer 3“ stand der einzige Baum in den Reihenhausgärten – eindeutig von einigem Nutzen, immerhin „wollte man ja hoch“ (Abb. 13). Herr Fassbaender erinnerte sich auch, oft auf der kleinen Betonbank gesessen zu haben, einem an der Südfassade des Hauses integrierten Außenmöbel. „Im Sommer hatten wir einen Tisch und eine Betonbank, und man hat unter freiem Himmel gelebt“, erzählte er, sich einer Begebenheit entsinnend, in der ein Vogel ihm im Sturzflug die Butter vom Brot schnappte (Abb. 21, 24, 47, 48). In den Garten mit seiner niedrigen Begrenzungsmauer brachte er an warmen Tagen die Kaninchen (scherzhaft Hitler und Hindenburg genannt), die normalerweise im hinteren, straßenseitigen Innenhof zu Hause waren (Abb. 14, 41). Die meisten baugeschichtlichen Betrachtungen zu den Reihenhäusern gehen auf Ouds Zusammenarbeit mit der Hauswirtschafterin Erna Meyer in puncto moderner Küchengestaltung ein (Abb. 15 – 17, 42). Oud „machte Erna Meyers Ideen über den

ʨ Blicke in die optimierte Küche des Reihenhauses, mit Rolf (Mitte); auf dem rechten Bild ist die Durchreiche von der Küche zu Ess- und Wohnbereich zu sehen, die Herr Fassbaender als „Nabelschnur“ bezeichnete (ganz rechts). [15 – 17]

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ʤ Von links: Der runde Tisch im Wohnzimmer des Fassbaender’schen Reihenhauses, um den die Nachbarn sich abends versammelten. Daneben das Radio und das Grammofon, die im Wohnzimmer beim Eingang standen, Aufnahme um 1936. Bei der Fotografin handelt es sich vermutlich um Frau Wittig, eine Freundin von Rolfs Mutter, die zu dieser Zeit in einem Fotostudio in Stuttgart tätig war. [18, 19]

Standort und die Gestaltung der Küche und über rationale Haushaltsarbeit zur Grundlage für seine Wohngestaltung“, schreiben Taverne, Wagenaar und de Vletter.11 Für Herrn Fassbaender jedoch war das Wohnzimmer der wichtigste Innenraum: „Das Wohnzimmer war der Lebensmittelpunkt.“ Die mit einem Schiebefenster zu öffnende Durchreiche zwischen Küche und Wohnzimmer beschrieb er als die Räume zusammenbringende „Nabelschnur zur Küche“, die den Durchlass von Dingen ermöglichte und eine zweckmäßige optische Anbindung herstellte (Abb. 17). Im dem zum Garten hin liegenden Wohnzimmer stand ein Grammofon, welches Rolf als Schleuder für Plastilin-Kugeln instrumentalisierte. Die dazu nötige Modelliermasse hatte er den eingemieteten Studenten abgeschwatzt (Abb. 19). Darüber hinaus war das Wohnzimmer geselliger Treffpunkt für Erwachsene und Kinder aus der Nachbarschaft. Herr Fassbaenders Mutter stammte aus einer großen Familie im Rheinland und war, wie er beschrieb, „das Herz des Pankokwegs“. Am runden Wohnzimmertisch

fanden

sich

regelmäßig

Nachbarn

zur

„Tischrunde

Fassbaender“ zusammen, deren Gastgeberin sie war. „Am Abend kamen viele Nach-

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ʨ Eine Seite aus Herrn Fassbaenders Familienalbum: Die Bilder zeigen ihn im Esszimmer des Reihenhauses mit seiner Mutter (oberste Reihe, zweites und drittes Foto von links) und auf der Terrasse mit seinen Eltern (untere Reihe, erstes, zweites und drittes Foto von links). [20]

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Gespräch mit Rolf Fassbaender

barn … einer brachte Käse und ein anderer Fleisch; es war toll!“, erzählte er uns (Abb. 18, 50). Zweifelsohne herrschte in der Siedlung ein nachbarschaftliches Gemeinschaftsgefühl, vor allem aber unter den Reihenhaus-Familien und ihren Kindern. Herr Fassbaender erinnerte sich beispielsweise daran, als Dauergast bei den Nachbarn äußerst gut vertraut mit dem Inhalt ihres jeweiligen Wandschranks gewesen zu sein, einer in jedem Reihenhaus identischen Einbaukomponente. Eine mangelnde akustische Isolierung der Einheiten trug im Übrigen zu einer unvermeidbaren Nähe bei. „Die fünf [Familien] in den Reihenhäusern mussten schon die gleiche Wellenlänge haben. Die Schalldämmung war nicht gerade gut. ‚Oh, das war die Toilette in Nummer 7‘, konnte man in Nummer 3 hören … ‚Oh, jetzt Nummer 9.‘ Alle lauten Geräusche konnte man quer durch die Einheiten hören!“, erinnerte er sich lachend. Bei dem unser Gespräch begleitenden Gang durch das Reihenhaus vergegenwärtigte sich Herr Fassbaender detailliert der vielen Einbauschränke und Stellflächen, einschließlich des von seiner Familie umgestalteten Bücherregals im Wohnzimmer. Den Geräteraum im Eingangsbereich, mit einem Wasserhahn für den Gartenschlauch, rief er sich ebenso ins Gedächtnis wie auch den begehbaren Wäscheschrank mit zugehöriger Schuhablage oben auf der Treppe sowie die Bücherregale

ʨRolf, kniend auf der Betonbank an der Südfassade des Reihenhauses (links) und beim Balancieren auf den Zäunen zum Nachbargrundstück (Mitte und rechts). [21 – 23]

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ʤEingang zum Reihenhaus von der Gartenseite mit eingebauter Betonbank. Das Vordach des Eingangs fungiert gleichzeitig als Balkon vor einem Schlafzimmer im Obergeschoss (Pankokweg 3, Rolfs Zimmer). [24]

zu beiden Seiten des Schminktischs im Schlafzimmer seiner Mutter (Abb. 30, 51). Er konnte sich an im Laufe der Zeit vorgenommene Veränderungen in der Wohnung erinnern, sowie an unverwechselbare Besonderheiten, wie die Stelle in der oberen Etage, an der drei Türen aufeinandertrafen (vom Flur ins Badezimmer, vom Badezimmer ins Schlafzimmer seiner Mutter und vom Schlafzimmer zurück zum Flur). Ebenfalls hatte er vor Augen, wo im Keller die Kohlenrutsche war und wo sich in jedem Raum die Heizschlitze befanden, vor allem diejenigen im Badezimmer, weil er sich dort besonders gerne nach einem Bad anlehnte (Abb. 52).

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Die Reihenhäuser waren auch mit einem speziellen Trockenraum auf halber Ebene zwischen Wohn- und Schlafbereich ausgestattet. Herr Fassbaender mutmaßte, dieses Konzept müsste wohl auf den an viel Regen gewöhnten niederländischen Architekten Oud zurückzuführen sein. Ein in den Wänden durchlaufendes Band von Lichtgaden in diesem Raum sorgte nicht nur für ausreichende Querlüftung, sondern gestattete dem Spitzbuben Rolf auch, seine auf der Straße spielenden Freunde durch Zurufe zu verwirren, bevor er sich wieder aus ihrem Blickfeld wegduckte (Abb. 53, 54). Einmal blieb ein Tennisball auf dem Flachdach des Trockenraums von „Nummer 3“ stecken und blockierte den Abfluss. Herr Fassbaender erinnerte sich an Überschwemmungen nach starkem Regen und wie das Wasser die Treppe hinunterlief und dabei sogar eine Kommode vom Boden anhob. Besonders schwärmte er vom Balkon seines Zimmers, der ihm deutlich mehr Platz verschaffte. Dessen freitragende Betonplatte kragte nicht etwa vom Elternschlafzimmer aus, sondern von dem angrenzenden kleinsten Zimmer des Hauses. Vom Architekten sehr wahrscheinlich von außen her konzipiert, diente sie zum einen als Vordach für die darunterliegende Eingangstür, wie auch zur Veranschaulichung der Möglichkeiten der Stahlbetonkonstruktion, wenn nicht gar schlicht zur Auflockerung der Südfassade (Abb. 24).12 Dem Jungen jedoch eröffnete sich durch das vorspringende Bauelement eine ganz neue Sichtweise auf sein Zimmer: So zog er in warmen Nächten das Kopfende seiner Matratze auf den Balkon, um „unter freiem Himmel, unter den Sternen zu schlafen“. Diese wundervolle, von der Architektur unabsichtlich begünstigte Erinnerung, versinnbildlicht die großzügige Funkti-

ʨ Die nahe gelegene Brenzkirche, entworfen von Alfred Daiber, fertiggestellt 1933 (links) und umgestaltet 1939 (rechts). [25, 26]

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ʤ Rolf (auf beiden Fotos links) mit Freunden auf den Stufen neben einem der Häuser von Le Corbusier. [27, 28]

onalität des Entwurfs. (Abb. 55 – 59). Die scheinbare Überflüssigkeit des Balkons an diesem Reihenhaus korrespondiert mit jenem bleibenden Eindruck durch seine fantasievolle Nutzung. Wenngleich der avantgardistische Charakter des Hauses Rolf Fassbaender als Jungen überhaupt nicht unnormal erschien und er keinerlei Änderungswünsche verspürte, war ihm aber doch bewusst, dass die Architektur der Siedlung nicht alltäglich war. Selbst nach dem Ende der Ausstellung „kamen viele Leute, um mal zu gucken“ und, oft verstohlen, Blicke in die privaten Wohnräume zu werfen. Diese Besuche nahmen derart zu, dass die Stadtverwaltung letztendlich den Zugang zum Fußweg entlang der Reihenhausgärten einschränkte (Abb. 44). Weniger als zehn Jahre nach Fertigstellung wurde die Weissenhofsiedlung aufgrund ihres Mangels an hochgiebeligen „Nazi-Dächern“ – so Herrn Fassbaenders spitze Wortwahl – nationalsozialistischen Vorstellungen vom deutschen Bauwesen nicht gerecht. 1933 wurde unmittelbar westlich der Siedlung eine Art Gegenentwurf mit vorgeblich reinerem „deutschen Charakter“ realisiert: das Viertel Am Kochenhof. Ebenso wurde 1939 die benachbarte modernistische Brenzkirche umgebaut; sie

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erhielt ein Schrägdach und die Fassade wurde so verändert, dass die geschwungene Ecke und die große diagonale Verglasung vor dem Treppenhaus nicht mehr sichtbar waren (Abb. 25, 26). Zum Schicksal der Moderne während dieser Zeit sagte Herr Fassbaender: „Mir war durchaus klar, dass dieser Baustil unerwünscht war.“ Vorgesehen war, die gesamte Weissenhofsiedlung abzureißen und an deren Stelle eine militärische Kommandozentrale einzurichten,13 sodass Familie Fassbaender, wie auch alle anderen Bewohner, ihr Heim 1939 gezwungenermaßen verlassen musste.14 Rolf und seine Mutter zogen nach Sillenbuch, im südöstlichen Stuttgart. Obwohl die Familie ein Grundstück erwarb, verhinderten Krieg und finanzielle Engpässe einen Hausbau. Das von Wald und Wiese umgebene Gelände bot dem Jungen einige Abwechslung. Herrn Fassbaender zufolge haben viele Bindungen aus seiner Zeit in der Weissenhofsiedlung die Trennung überstanden. Auf die Frage, wie sich das Wohnen in einem Reihenhaus der Moderne und einem Viertel mit experimentellen Ansprüchen wohl ausgewirkt habe, antwortete Herr Fassbaender: „Es gibt da eine Seelenverwandtschaft, ein Verbundensein der Architektur mit den darin lebenden Menschen. … [Es gibt einen] Ausdruck, ursprünglich nicht aus der Architektur, aber in die Architektur übertragbar: ‚Das Äußere des Pferdes bestimmt das Innere des Reiters.‘“ Auch wenn das Haus, das Herr Fassbaender später selbst errichtet hatte und das er mit Frau, Sohn, Schwiegertochter und Enkelkindern bewohnte, über ein Flachdach verfügte, so war dies nicht Ergebnis einer Weissenhof-Nostalgie, sondern vielmehr Resultat örtlicher Bauvorschriften, die keine Giebeldächer zuließen. Dieses Haus mochte sich in vielerlei Hinsicht von dem seiner Kindheit unterscheiden, doch traten für ihn gewisse Wesenszüge darin wieder zum Vorschein: „Ich denke, die Erinnerungen an mein Leben hier in dieser Gegend waren prägend für meine Vorstellungen von einem eigenen Zuhause.“ „Ich hatte immer gute Verbindungen zu Architekten bzw. zu Architektur, welche ich immer problemlos nachvollziehen konnte … das heißt, die Idee, ein Haus so oder so zu bauen“, erklärte Herr Fassbaender. „Für mich ist das ganz normal. Aber die Gründe dafür liegen in meiner Kindheit verwurzelt, der Zeit, als ich hier lebte. Das hat mich mein ganzes Leben lang stimuliert.“

ʪRolf Fassbaender im Gespräch mit den Autoren, 2015. [29] ʦʦ Herr Fassbaender beim Besuch eines Reihenhauses mit dem gleichen Grundriss wie sein Elternhaus. [30]

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ʪLageplan mit Lokalisierung der Erinnerungen von Herrn Fassbaender. [31]

Fußpfad zum Weißenhof, wo Rolf Milch holte

Nach dem Ende der Bauausstellung errichtetes Tor, das die Privatsphäre der Bewohner vor Schaulustigen schützte Der Garten, in dem Rolf an sonnigen Tagen mit seinen Freunden und den Kaninchen spielte (Abb. 14, 44 – 46) Baum, auf dem die Kinder nach oben kletterten (Abb. 13)

Nummer 3, Elternhaus von Rolf Fassbaender

Die niedrige Mauer, an der die Kinder beim Versteckspiel abzählten (Abb. 38) Weg zum Schwimmbad Der Pankokweg, auf Ouds Lageplan als „Querweg“ bezeichnet, wurde von den Kindern zum Spielen genutzt (Abb. 35, 39) Straßenlaterne im Pankokweg, deren Licht Rolf mit dem Luftgewehr zerschoss (Abb. 11, 12, 37) Der kleine Hügel zum Schlittenfahren (Abb. 7, 36) Wohnblock von Mies van der Rohe, wo die Kinder im Treppenhaus Verstecken spielten und Feuerwerkskörper zündeten (Abb. 9, 10, 36)

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ʪGrundriss Erdgeschoss mit Lokalisierung der Erinnerungen von Herrn Fassbaender. [32]

Betonbank, wo ein Vogel Rolf die Butter vom Brot schnappte (Abb. 21, 24, 47, 48)

Standort des Grammofons, das Rolf als Schleuder für Plastilin-Kugeln benutzte (Abb. 19, 50) Geräteraum im Eingangsbereich mit einem Wasserhahn für den Gartenschlauch (Abb. 49) Runder Wohnzimmertisch, an dem die Nachbarn an manchen Abenden zur „Tischrunde Fassbaender“ zusammenkamen (Abb. 18, 50)

Eingebauter Wandschrank, identisch in allen Reihenhäusern. Rolf kannte den Inhalt der Schränke auch bei den Nachbarn Durchreiche von der Küche zum Ess- und Wohnbereich, von Rolf als „Nabelschnur“ bezeichnet (Abb. 17)

Küche, die aufgrund der Zusammenarbeit von Oud mit Erna Meyer in der Architekturgeschichte viel beachtet wurde, aber in den Erinnerungen von Herrn Fassbaender keine große Rolle spielt (Abb. 15 – 17, 42)

Straßenseitiger Hof, wo Rolfs Kaninchen (scherzhaft Hitler und Hindenburg genannt), lebten; an sonnigen Tagen wurden sie in den Garten gebracht (Abb. 14, 41 – 43)

Kohlenrutsche zum Keller (Abb. 35)

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ʪGrundriss des Obergeschosses mit Lokalisierung der Erinnerungen von Herrn Fassbaender. [33]

Balkon vor Rolfs Schlafzimmer, auf den er das Kopfende seiner Matratze schob, um im Sommer unter dem Sternenhimmel zu schlafen (Abb. 24, 55 – 59)

Eingebauter Schminktisch im Zimmer von Rolfs Mutter; Herr Fassbaender erinnerte sich an dieses Möbel beim Gang durch das identische Reihenhaus, auch wenn die Möblierung und die Wand im Laufe der Zeit in dieser Wohneinheit entfernt worden waren

Das ungewöhnliche Zusammentreffen dreier Türen, an das sich Herr Fassbaender in ähnlicher Weise erinnerte Eingebauter Wäscheschrank und Schuhablage gehörten zu den von Oud entworfenen Details, die Herrn Fassbaender bei der Begehung von Nummer 7 wieder einfielen (Abb. 51) Der Wärmeabzug, wo sich Herr Fassbaender nach dem Baden aufwärmte (Abb. 52) Die fehlende Schallisolierung bedeutete, dass man die Toilettenspülung in allen Reihenhäusern hören konnte

Zimmer des Untermieters, häufig ein Architekturstudent

Lage des Ablaufrohrs oben im Wäschetrockenraum, vor dem einmal ein Ball stecken blieb und eine Überschwemmung verursachte (Abb. 53, 54)

Fenster in der Wäsche-Trockenkammer, aus dem Rolf auf die Straße schauen konnte und von dort anderen Kindern Streiche spielte (Abb. 53, 54)

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ʪʪDer straßenseitige Hintereingang zur „Nummer 3“, wo Rolf Fassbaender von 1927 bis 1939 lebte, fotografiert im Jahr 2015. [34]

ʪʪDer Pankokweg, eine der Straßen in der Weissenhofsiedlung, die die Kinder als ihren Spielplatz ansahen. [35]

ʤDer Wohnblock von Mies van der Rohe, dessen Treppenhäuser ein guter Ort zum Verstecken oder zum Zünden von Feuerwerkskörpern waren, im Vordergrund der kleine Rodelhang. [36]

ʦDer Standort der Straßenlaterne (nicht mehr existent) im Pankokweg, auf die Rolf mit seinem Luftgewehr schoss. [37]

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ʪʪDie niedrige Mauer westlich der Reihenhäuser von Oud, an der die Kinder beim Versteckspiel abzählten. [38]

ʤDie Nordseite der Reihenhäuser, vom Pankokweg aus. [39] ʦDer nördliche Hintereingang zum Elternhaus von Rolf Fassbaender. [40]

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ʪDer geschützte, straßenseitige Innenhof, in dem Rolfs Kaninchen lebten; sie wurden an sonnigen Tagen in den Vorgarten gebracht. Dieses Foto wurde im Pankokweg 7 aufgenommen, einem Reihenhaus, das mit Rolfs Haus im Pankokweg 3 baugleich ist. [41]

ʤDer Blick aus einer Reihenhausküche. Die Zusammenarbeit zwischen J. J. P. Oud und Erna Meyer im Hinblick auf die Entwicklung der Küche fand viel Beachtung bei Architekturhistorikern, aber dieser Raum spielt nur eine kleine Rolle in Herrn Fassbaenders Erinnerungen an das Haus. [42]

ʦʦFenster vom Hof zur Küche und zum Eingangsbereich. [43]

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Gespräch mit Rolf Fassbaender

ʤDer Weg auf der Südseite (Gartenseite) der Reihenhäuser. Der öffentliche Zugang zum Pfad musste beschränkt werden, um die Privatsphäre der Bewohner vor Schaulustigen zu schützen, die auch nach dem Ende der Bauausstellung weiterhin die Häuser anschauen wollten. [44]

ʦDer Eingang zum Reihenhaus mit dem Balkon vor Rolfs Schlafzimmer. Damals war „Nummer 3“ der einzige Garten mit einem Baum – bedeutsam, denn man „wollte ja hoch“. [45]

ʦʦDie Gärten, in denen Rolf mit seinen Freunden und mit den Kaninchen spielte. [46]

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ʪʪDie eingebaute Betonbank am Pankokweg 7, identisch mit der, auf der Rolf saß, als ein Vogel ihm die Butter vom Brot klaute. [47]

ʪDie Haustür auf der Gartenseite. [48] ʤIm Eingangsbereich befand sich ein eingebauter Geräteschrank, in dem auch der Wasserhahn für den Garten war. Die Innenaufnahmen wurden im Pankokweg 7 gemacht, einem Reihenhaus, das identisch ist mit Pankokweg 3, wo Herr Fassbaender aufgewachsen ist. [49]

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Gespräch mit Rolf Fassbaender

ʪʪDie Fenster zum Garten im Wohnzimmer, wo die „Tischrunde Fassbaender“ stattfand: Die Nachbarn kamen abends am runden Tisch zusammen, um gemeinsam zu essen und sich zu unterhalten. [50]

ʤDer Treppenabsatz im Obergeschoss, wo sich Herr Fassbaender an Einbauschränke für Wäsche und Schuhe erinnert. [51]

ʦDas Badezimmer. Herr Fassbaender erinnert sich an einen Wärmeabzug, an dem er sich nach dem Baden aufwärmte. [52]

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ʪHerr Fassbaender erzählt, wie er vom Trockenboden auf die Straße hinunterblickte. Er spielte seinen Freunden Streiche, indem er nach ihnen rief und sich dann duckte. [53]

ʤHerr Fassbaender erinnert sich, dass ein Tennisball einmal im Regenrohr steckengeblieben ist und eine Überschwemmung auf dem Trockenboden verursacht hat. Das Wasser stieg so hoch, dass es eine Kommode anhob. [54]

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Gespräch mit Rolf Fassbaender

ʤDas kleinste Schlafzimmer im Reihenhaus wurde von Rolf bewohnt. [55] ʦDas Kinderzimmer war das einzige mit einem Balkon. [56]

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ʤ ʦAls Junge zog Rolf das Kopfende seiner Matratze auf den Balkon, um unter freiem Himmel zu schlafen. [57, 58]

ʦʦDie Gärten an der Südseite der Reihenhäuser vom Balkon aus gesehen. [59]

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Anmerkungen 1

Richard Pommer und Christian F. Otto argumentieren, dass sich dieses Ereignis über die Architekturdebatten hinaus direkt auf Gesellschaft und Politik auswirkte: „Die Etablierung des internationalen Stils … aktivierte die Gegner der Moderne, welche sich in der Folge der politischen Rechten annäherten. Sie legimitierten ihre Einstellung in der Doppelbedeutung des Begriffs „international“ im damaligen Deutschland: Zum einen stand er für Verbindungen zwischen Nationen, aber auch für Mangel an Patriotismus – eine Tugend für die Linke, ein Makel für die Rechte“. Weissenhof 1927 and the Modern Movement

in Architecture, Chicago: University of Chicago Press, 1991, S. 164. 2

Ed Taverne, Cor Wagenaar und Martien de Vletter beschreiben die lange andauernde Zusammenarbeit zwischen Oud und den Ausstellungsorganisatoren, einschließlich der Korrespondenz zwischen Oud und Mies bei der Planung der Ausstellung, sowie öffentliche Vorträge und Zeitungsartikel, die Oud in Stuttgart im Vorgriff auf die Bauausstellung verfasst hatte, in J. J. P. Oud: Poetic

Functionalist, 1890 – 1963; The Complete Works, Rotterdam: NAi Publishers, 2001, S. 290 – 303. 3

Pommer und Otto, Weissenhof 1927, S. 121 – 122. Anja Krämer erklärt weiter: „Oud wurde eingeladen, Häuser für Arbeiter und einfache Angestellte zu entwerfen, und seine Häuser wurden damals als Arbeiterhäuser angesehen, besonders im Vergleich zu den anderen Häusern. Sie waren mit nur 70 Quadratmetern die kleinsten Häuser. Die anderen Einfamilienhäuser der Siedlung hatten 110 bis 150 Quadratmeter. Aber Pommer und Otto haben auch recht, sie sind groß für ein Arbeiterhaus und können eher als Mittelschichthäuser angesehen werden.“ E-Mail-Korrespondenz vom 18. August 2020 mit der Autorin.

4

Taverne et al., J. J. P. Oud, S. 294. Siehe auch Nicholas Bullock, „First the Kitchen:

5

Taverne et al., J. J. P. Oud, S. 297.

6

Siehe Richard Pommer, „The Flat Roof: A Modernist Controversy in Germany“,

Then the Façade“, Journal of Design History 1, Nr. 3/4, 1988, S. 177 – 192.

Art Journal 43, Nr. 2, „Revising Modernist History: The Architecture of the 1920s and 1930s“ (Sommer 1983), S. 158 – 169; und William Rollins, „A Nation in White: Germany’s Hygienic Consensus and the Ambiguities of Modernist Architecture“, German Politics & Society 19, Nr. 4 (Winter 2001), S. 1 – 42. 7 8

Taverne et al., J. J. P. Oud, S. 34. Während die Ausstellung den Titel Modern Architecture: International Exhibition trug, wurde der Katalog später als The International Style: Architecture since

1922 publiziert. Henry-Russell Hitchcock Jr. und Philip Johnson, The International Style: Architecture since 1922, New York: W. W. Norton, 1932, S. 33. – Deutsche Übersetzung: Henry-Russell Hitchcock Jr. und Philip Johnson, Der

Internationale Stil 1932 (Bauwelt Fundamente 70), Braunschweig: Vieweg, 1985. 9

James M. Markham, „In Stuttgart, Renovation of a 1927 Bauhaus Project“,

10

Anja Krämer berichtet: „In der Nachbarschaft befand sich ein Bauernhaus aus

New York Times, 17. Mai 1984. dem 18. Jahrhundert, das einer Familie Weiß gehörte. Später, im 19. Jahrhundert, wurde der Hof zu einem beliebten Ausflugsrestaurant am Stuttgarter

REIHENHAUS WEISSENHOFSIEDLUNG

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Stadtrand, benannt nach der Familie „Weißenhof-Bäck“. Gebäude und Restaurant gaben dem Gelände den Namen „Am Weißenhof“. E-Mail-Korrespondenz vom 17. April 2020 mit der Autorin. – Anmerkung des Verlages: Die korrekte Schreibung für das Viertel lautet „Weißenhof“, allerdings hat sich in den 1970er Jahren insbesondere in der Architekturgeschichte die Schreibweise „Weissenhof“ etabliert, in einer Rückbesinnung auf die typografischen Gepflogenheiten der Avantgarde der 1920er Jahre. Wir verwenden daher ebenfalls diese Schreibung. 11

Taverne et al., J. J. P. Oud, S. 294.

12

Hitchcock und Johnson erläutern, dass Balkone „das Design leichter werden und die einheitliche Anordnung interessanter erscheinen lassen“. Internatio-

nal Style, S. 199. 13

Bedingt durch frühe Kriegserfolge wurden diese Pläne revidiert und man baute die entsprechende Einsatzzentrale stattdessen auf besetztem französischen Gebiet in Straßburg. Allierte Bombenabwürfe zerstörten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fast die Hälfte des Baubestands in der Weissenhofsiedlung.

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Einige der Bewohner, wie Herr Busch, der Musiker, gingen in die Schweiz, während der Polizist nach Brasilien auswanderte. Von Hans Reif wissen wir, dass seine Familie in die USA emigriert ist.

Villa Tugendhat Ludwig Mies van der Rohe Brno (Brünn) 1930

Die 1930 fertiggestellte Villa Tugendhat war eines der herausragendsten Gebäude des Internationalen Stils 1 und „in der neuen Architektur eines der kompromisslosesten Manifeste“ des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.2 Den Bauauftrag erhielt Ludwig Mies van der Rohe im Jahr 1928 von Grete Tugendhat, geb. Löw-Beer, und ihrem Ehemann Fritz. Grundstück sowie Finanzierung für den Bau eines neuen ˇ Wohnhauses im Stadtteil Cerná Pole in Brno waren das Hochzeitsgeschenk von Gretes Eltern. Wie Alice Rawsthorn anmerkt: „Die Tugendhats … waren äußerst entgegenkommende Kunden. Sie erklärten Mies genauestens, welches ihre Erwartungen bezüglich des Hauses waren, und gaben ihm dann einen Freibrief und ein offenbar unbegrenztes Budget für die Baukosten.“3 Das Haus ist ein Gesamtkunstwerk, in dem alles bis ins Detail vom Architekten und seinem Team von Designern und Handwerkern geplant wurde. Zu ihnen gehörten auch die Innenausstatterin Lilly Reich sowie die Landschaftsarchitektin Grete Roder-Müller.4 Von dem mit Bedacht gewählten Standort auf dem Hügel mit Blick auf das mittelalterliche Brno, über die räumlichen Innenkonfigurationen (in den Boden versenkbare Wohnzimmerfenster, Anordnung von maßgefertigtem Mobiliar) bis hin zur Farbauswahl bei Stoffen und gar den gestalterischen Details der Türklinken, folgt der Bau einem Gesamtkonzept luxuriösen Lebens der Moderne.5 Im oberen, auf Straßenniveau liegenden Bereich des Hauses sind eine große Eingangsdiele und mehrere kleine Schlafräume untergebracht, während ein eindrucksvoller, offener Wohnbereich die darunter, zum Garten hin gelegene Ebene einnimmt. Außerdem gibt es in der Villa einen größeren Haushalts- und Personalbereich sowie eine Garage und eine Chauffeurwohnung. So, Wolf Tegethoff, „setzen sich durch die generelle Anordnung des Hauses weiterhin gesellschaftliche Oberschichtskonventionen und -vorstellungen des 19. Jahrhunderts fort.“6

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In der Gartenebene des Hauses veranschaulicht sich das von Mies vertretene Prinzip des offenen Entwurfs. Ganz bewusst nicht der Anordnung der Stützpfeiler folgend ist die ineinander übergehende räumliche Abfolge durch extravagante Trennwände aus Onyxmarmor und Zebraholz sowie formale Möbelgruppierungen bestimmt.7 Dieses Konzept betont „räumliche Beziehungen statt gebauter Formen“, schreibt Christian Norberg-Schulz. „Die Landschaft durch die fortlaufende und bewegliche Glaswand überschauen zu können, verleiht dem Wohnzimmer eine in anderen Häusern bislang nicht bekannte Unbegrenztheit.“8 Im Laufe der Jahre ist das Haus unterschiedlich genutzt worden. Nachdem die jüdischen Tugendhats 1938 vor dem Einmarsch der Nazis geflohen waren, diente es

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zunächst den Deutschen und dann der Roten Armee als Kaserne und Pferdestall. Unter dem Kommunismus war es dann ein Kindererholungsheim und eine Tanzschule. 1992 wurde in seinen Räumen die Erklärung zur Auflösung der Tschechoslowakei unterzeichnet. Heute ist es ein Museum. Zur Wiederherstellung des ursprünglichen Mies-Entwurfs wurde die Villa Tugendhat ab 2010 zwei Jahre lang umfassend renoviert. Carsten Krohn stellt fest: „Mit der jüngsten Renovierung 2010 – 12 … wurde der Ursprungszustand rekonstruiert, so dass heute kaum mehr zu unterscheiden ist, was original und was nachgebildet ist.“9 Während einige Experten bestimmte Details infrage stellen, wie zum Beispiel die farbliche Authentizität der Möbel,10 haben andere das Ergebnis von einem konzeptionellen Standpunkt aus kritisiert: „Jede Spur der brutalen und tragischen Geschichte des Tugendhat-Hauses seit 1928 wurde mit einer noch nie da gewesenen manischen Präzision gelöscht“, schreibt Wouter Vanstiphout. „Das Fehlen von Geschichte hat … ein Spukhaus geschaffen, in dem für immer unerreichbar gewordene Erinnerungen lediglich pulsieren und durchschimmern.“11

ʪ Außenansicht vom Garten aus kurz nach der Fertigstellung ca. 1930/31. [1] ˇ ʪ Das Haus von der Cernopolní Straße aus gesehen. [2] ʨ Eine Außenansicht des Hauses im Hang. [3]

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ʤ Grundriss Obergeschoss (Straßenebene) von Ludwig Mies van der Rohe, 1928 – 1930. [4]

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ʤ Grundriss Erdgeschoss von Ludwig Mies van der Rohe, 1928 – 1930. [5]

Gespräch mit Ernst Tugendhat

Ernst Tugendhat, Philosoph und emeritierter Professor für Philosophie, ist der einzig Überlebende aus der Familie Tugendhat, der noch in dem berühmten Haus in Brno gewohnt hat.12 Er wurde im März 1930 geboren, und im Dezember desselben Jahres bezog die Familie das Haus. Als sie es verließ, auf der Flucht vor der bevorstehenden Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis, war Ernst erst acht Jahre alt. Er fühlte sich dem Bauwerk nicht sonderlich verbunden: „Ich bin dem Haus relativ neutral gegenüber eingestellt. Es bedeutet mir nicht so viel.“13 Während der Zeit, in der die Familie das Haus bewohnte, hatten Grete und Fritz Tugendhat bereits drei Kinder: Hanna – Gretes Tochter aus einer früheren Ehe – Ernst und Herbert, der jüngste. Zu dem zahlreichen Personal gehörten ein Kindermädchen, ein Chauffeur (dessen Frau und Hund ebenfalls im Haus lebten) sowie eine Köchin und zwei Dienstmädchen.

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Herrn Tugendhats Kindheitserinnerungen waren eher lückenhaft; lediglich ein paar wenige Eindrücke hatte er noch eindeutig vor Augen. „Ich bin doch recht alt. Immerhin 85! … Ich habe eine ganze Menge aus meinem Leben vergessen“, sagte er, als wir uns begegneten. Zwar ist ihm durchaus bewusst gewesen, dass die zahlreichen von seinem Vater im Haus gemachten Fotos seine Kindheit dort dokumentierten, jedoch lösten sie keine Erinnerungen bei ihm aus (Abb. 7).14 „Genau genommen“, erklärte er, „begann mein bewusstes Leben erst in den drei Jahren in der Schweiz“, der ersten Station der Familie nach ihrer Flucht aus Brno. Während unseres Gesprächs wurde ihm auch deutlich, wie sich seine eigenen Erinnerungen im Laufe der Zeit verändert hatten: „Ich habe das Haus in den letzten Jahren einige Male gesehen“, sagte er. „Meine Erinnerungen an das Haus setzen sich aus dem zusammen, was ich bei späteren Besuchen gesehen habe, aber stammen nicht aus meiner Kindheit.“ Auf die Bitte, die Villa Tugendhat zu beschreiben, antwortete er lächelnd: „Sie war beeindruckend.“ Deutlich im Gedächtnis geblieben waren ihm die Onyxmarmorwand des Wohnzimmers und die versenkbaren Fenster (Abb. 8 – 10, 53), ebenso wie die Aufteilung der „Schlaftrakte“ in der oberen, auf Straßenniveau gelegenen Etage. „Wir hatten voneinander getrennte Zimmer. Die Kinder waren in einem Gebäudeteil und die Eltern in einem anderen“, entsann er sich, obwohl er nicht mehr wusste, wie diese beiden Bereiche miteinander verbunden waren. Das ist deshalb bemerkenswert, weil Ernsts Zimmer durch zusätzliche Türen und eine kleine Zwischendiele über eine direkte Abkürzung zum Schlafzimmer seiner Mutter verfügte: eine Besonderheit, die Grete Tugendhat nach einer ersten Einsicht in die Mies’schen Entwürfe speziell erbeten hatte (Abb. 37, 38).15 Die Jungen teilten sich ein Zimmer (Abb. 34 – 37), während ihre Schwester Hanna ihr eigenes hatte (Abb. 41, 42). In diesen Räumen nahmen die Kinder mit dem Kindermädchen Irene Kalkofen auch das Abendessen ein.16 Ihr Zimmer war in unmittelbarer Nähe zu denen der Kinder.17 Zu Mittag aßen die Kinder im Hauptspeisebereich unten „am runden Tisch“ (Abb. 54, 55). „Bevor Sie eintrafen, hatte ich gerade darüber nachgedacht: Ich weiß eigentlich nicht, wie häufig wir in dem großen Raum unten waren, aber wohl doch ziemlich oft. Abends allerdings waren wir immer oben“, erinnerte er sich. Ob er bestimmte Räume des Hauses mit besonderen Empfindungen wie Wohlgefühl oder Geborgenheit verband, konnte Herr Tugendhat nicht sagen – auch nicht,

ʪ Ernst Tugendhat in seiner Wohnung in Freiburg, 2015 [6]

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Gespräch mit Ernst Tugendhat

ʤ Ernst versucht die Klinke der Tür zum Obergeschoss zu erreichen. [7]

in welchen Räumen er die meiste Zeit verbrachte. „Ich glaube nicht, dass ich irgendeine Lieblingsecke hatte“, sagte er. Andererseits behielt er eine gewisse Bindung an das Mobiliar des Hauses, das ihn noch über Jahre begleiten würde. „Wir hatten wirklich Glück, dass mein Vater einen Großteil unserer Möbel aus dem Haus in Brno nach St. Gallen geschickt hatte, wo wir dann drei Jahre lebten“, erzählte er dann weiter. „Und 1941, unter recht gefährlichen Umständen, zogen wir von St. Gallen nach Venezuela, wo wiederum ein voller Container eintraf – das war schon erstaunlich! Also, ein Großteil des Hausmobiliars ging zuerst nach St. Gallen, dann nach Venezuela und später wieder zurück in die Schweiz. Meine Schwestern haben noch etliche der Möbelstücke.“ (Abb. 11, 49, 50). Die weißen Brno-Stühle aus der Bibliothek und der hellbraune Tugendhat-Ledersessel „haben uns die ganze

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ʤ Die in das Untergeschoss versenkbaren Wohnzimmerfenster, von innen und außen gesehen. [8, 9]

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ʤ Die Onyxmarmorwand trennt das Arbeitszimmer von den Wohnbereichen. [10] ʨ Die Bibliothek mit weißen Brno-Lederstühlen, entworfen von Mies und Lilly Reich. [11]

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Zeit in der Schweiz und in Venezuela begleitet, das heißt, zu diesen Stühlen … habe ich eine engere Beziehung als zum Haus selbst“, sagte er, angeregt durch die Betrachtung eines Fotos (Abb. 12). Am deutlichsten erinnerte sich Herr Tugendhat an die Außenbereiche des Hauses, mit denen starke emotionale Eindrücke verknüpft waren, die jedoch weniger architektonisch, sondern mehr situativ bedingt waren (Abb. 13, 19, 20, 56 – 61). Eine erste Begebenheit war mit dem Garten verbunden: „Der eine Vorfall … war mit der Schildkröte, äußerst unangenehm, aber sehr deutlich in meinem Gedächtnis geblieben. Wir hatten zwei oder drei Schildkröten, und die eine war irgendwie weggelaufen, und ich nahm sie – ich war sechs Jahre alt – und warf sie zurück. Sie fiel ausgerechnet auf einen Stein und ihr Rücken blutete am Panzer, so dass sie getötet werden musste.“ Herr Tugendhat machte bei diesen Worten ein bekümmertes Gesicht. „Ich hatte immer sehr ausgeprägte Gefühle für Tiere“, sagte er. Das zweite Erlebnis ereignete sich auf der Straße und hatte auch mit Tieren zu tun (Abb. 26 – 28). „Bei dem Vorplatz vor dem Haus stand eine Kutsche … und der Mann peitschte auf die Pferde ein, und ich war völlig erschüttert“, berichtete er. „Ich weinte und rannte zurück ins Haus. Ich konnte einfach nicht mehr hingucken.“

ʨ Hanna und Ernst (rechts) lesend auf dem braunen Tugendhat-Ledersessel in der Bibliothek. [12]

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Erfreulicher war es für ihn, sich an den Klang und das Vernehmen der Autohupe zu erinnern – ein ganz unverkennbarer „Da-da-Dada“-Ton – der die Heimkehr seines Vaters ankündigte. Ebenso hatte er die oben gelegene Terrasse vor Augen, die „Plattform“, mit einem Sandkasten, einer Pergola und einer fest verankerten Bank, und wie er dort mit einem Kinderauto gespielt hatte. (Abb. 14 – 16, 29 – 33). Herr Tugendhat konnte sich nicht entsinnen, dass es im Zusammenhang mit dem Haus bestimmte Regeln oder Einschränkungen für die Kinder gegeben hätte. Insbesondere hinsichtlich der Onyxmarmorwand sagte er, dass seine Eltern „sie sicherlich als wertvoll ansahen, aber da [sie] ja unempfindlich war, gab es keinen Grund, die Kinder von ihr fernzuhalten“ (Abb. 17, 53). Dennoch war er nicht der Auffassung, dass Haus hätte in den Kindern Kreativität, Spiel oder Freiheit gefördert. „Ich denke, da war so ein Gefühl, dass [an dem Haus] nicht viel zu ändern war“, sinnierte er. Er gab eine Geschichte über das Klavier im Zimmer des Kindermädchens zum Besten, das im Mies’schen Originalentwurf dort nicht vorgesehen war, und das die Familie anlässlich eines bevorstehenden Architektenbesuchs in den

ʨ Das Haus auf einem von Fritz Tugendhats Fotos, mit dem üppigen Garten und der mittlerweile gediehenen Landschaftsgestaltung. [13]

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ʤ Die Kinder auf ihrer Terrasse, von Herrn Tugendhat als die „Plattform“ bezeichnet, mit der Pergola rechts und dem Sandkasten darunter. [14]

ʨ Von links: der Durchgang zur Kinderterrasse; die halbrunde Bank vor Ernsts Zimmer. [15, 16]

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ʤDer offene Wohnbereich mit der Onyxmarmorwand und Blick zum Wintergarten. [17] ʦDer Wintergarten. [18]

Keller bringen ließ.18 Auch wenn der Besuch nicht zustande kam, zeigt sich, wie die Akribie des Architekten in Bezug auf Ausführung und Bewahrung seiner Entwurfsabsicht von den Bewohnern übernommen worden war. „Nicht, dass diese Geschichte mir sonderlich nahegeht, aber sie verdeutlicht irgendwie die ganze Mentalität dahinter“, erklärte er. Allerdings glaubte er nicht, seine Eltern hätten sich durch Anweisungen oder Vorschriften des Architekten eingeschränkt gefühlt: „Meine Eltern haben auf die Frage zu ihrem Verhältnis zum Haus Briefe an eine Zeitschrift geschrieben. Und in keiner Weise erachteten sie sich als unfrei in ihren Entscheidungen.“19 Herrn Tugendhat zufolge hatte die Zeit in der Villa kaum Einfluss auf seine Persönlichkeitsentwicklung oder auf seine späteren Präferenzen in Bezug auf die Wohnsituation: „Mir ist es im Grunde immer ziemlich egal gewesen, wo ich gelebt habe“, sagte er, und fügte dann hinzu: „Schließlich bin ich ja Philosoph.“ Er hat uns seine

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verschiedenen Wohnverhältnisse über die Jahre hinweg beschrieben: „Als ich nach Stanford ging, habe ich erst mal zwei Jahre in einem Studentenwohnheim gelebt. Ich denke, daran sieht man, wie wenig mir Wohnen bedeutete. Ich hatte mir ein ganz kleines Zimmer genommen und war sehr froh, wieder ein Zimmer ohne Mitbewohner zu haben.“ Seien es Studentenwohnheime gewesen oder eine „normale Wohnung“ in Tübingen oder auch, eher zufallsbedingt, eine „ganz nette Bleibe in Berlin“ – es habe für ihn kaum eine Rolle gespielt, wo er im Laufe seines Lebens zu Hause war. Wir trafen uns in seiner derzeitigen, im zweiten Stock eines Hauses gelegenen Wohnung, die auch durchaus geräumig und geschmackvoll eingerichtet war. Allerdings stellte Herr Tugendhat klar, dass dies gänzlich seiner Vermieterin oblag, der die Möbel gehörten und die das Haus hatte bauen lassen (Abb. 21, 22). Auch wenn Herr Tugendhat nicht abstritt, dass Mies davon ausging, Architektur könne sich positiv auf das Leben von Bewohnern auswirken, war er selbst anderer Ansicht. „Hätte ich in diesem Haus das Erwachsenenalter erreicht, wäre ich wohl kaum geblieben, wegen dem, was ich als … wie soll ich sagen? … Peinlichkeit

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ʪ Ansicht des Hauses vom darunterliegenden Garten. [19] ʤ Die Südwestfassade mit Blick in den Wintergarten zwischen den Bäumen. [20]

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bezeichnen würde“, bekannte er. „Es ist schon eigenartig, dass meine Eltern so ein Haus gebaut haben. Aber als Achtjähriger habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Hätte ich dort länger gewohnt, wäre es mir peinlich gewesen, in einem solchen Prunkbau zu leben.“ Warum seine Eltern in einer „Stadt wie Brno etwas so Großspuriges gebaut haben“, betonte er, sei ihm unverständlich. „Mir ist auch nicht klar, warum sie Mies van der Rohe gebeten haben, ein Haus zu für sie zu bauen. Sie sprachen mit Mies und am Ende schickte er ihnen die Pläne. Sie waren schon etwas verwundert, dass es größer war als gedacht. Aber“, fügte er hinzu, „sie hatten kein Gefühl von Peinlichkeit, wie ich es empfunden hätte.“ Im Verlauf unseres sehr persönlichen Gesprächs entschuldigte sich Herr Tugendhat wiederholt dafür, wie wenig ihm in Erinnerung geblieben sei: „Es tut mir leid, dass ich so wenig zu bieten habe. Mein Leben, soweit ich es zurückverfolgen kann, begann erst später.“ – „Ich verstehe Ihre Fragen sehr gut, doch mit Ihrer Herangehensweise hatte ich überhaupt nicht gerechnet“, sagte er am Ende des Interviews. „Ich hatte nicht erwartet, dass Sie ein so subjektives Interesse an dem Thema haben würden … Ich hatte gedacht, Sie wären mehr daran interessiert, etwas Positives über das Haus zu erfahren.“

ʤAnsichten von Herrn Tugendhats Wohnung, 2015. Die Wohnung wurde von der Vermieterin eingerichtet. [21, 22]

ʦ Ernst Tugendhat im Gespräch mit den Autoren, 2015. [23]

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ʪGrundriss des Obergeschosses mit Lokalisierung der Erinnerungen von Herrn Tugendhat. [24]

Die Kinderterrasse, die Herr Tugendhat als „Plattform“ bezeichnete, auf der er mit seinen Geschwistern im Sandkasten und mit einem Spielzeugauto spielte (Abb. 14 – 16, 29 – 33) Das Schlafzimmer von Ernsts Schwester Hanna: Die Kinder aßen ihr Abendessen mit ihrem Kindermädchen hier oder im Zimmer der Jungen (Abb. 41, 42)

Das Jungenzimmer, das Ernst mit seinem jüngeren Bruder Herbert teilte (Abb. 34 – 37)

Durchgangstüren und kleine Diele zwischen dem Zimmer der Jungen und dem ihrer Mutter, eine Verbindung, um die Grete Tugendhat bat, als sie die Pläne für das Haus zum ersten Mal sah (Abb. 38) Das Schlafzimmer von Grete Tugendhat (Abb. 38)

Auffahrt, wo Herr Tugendhat einmal einen Mann mit einer Pferdekutsche gesehen hat, der seine Pferde peitschte, eine der stärksten Erinnerungen, die er vom Leben in dem Haus hat (Abb. 26 – 28)

Garage; Herr Tugendhat erinnert sich an den unverwechselbaren „Da-Da-Dada“-Klang der Autohupe, der die Ankunft seines Vaters zu Hause signalisierte

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ʪGrundriss des Erdgeschosses mit Lokalisierung der Erinnerungen von Herrn Tugendhat. [25]

Der Wintergarten ist einer der eigenwilligsten Räume des Hauses (Abb. 18, 52). Zwar gibt es Fotos von Ernst als Kind im Wintergarten, er hat aber keine Erinnerungen an den Raum

Die Sitzmöbel, wie die von Mies entworfenen weißen Brno-Stühle in der Bibliothek und der hellbraune Tugendhat-Ledersessel, sind Herrn Tugendhat sehr wichtig, da die Familie sie ins Exil mitnehmen konnte: „Zu diesen Stühlen … habe ich eine engere Beziehung als zum Haus selbst.“ (Abb. 11, 12, 49, 50) Onyxmarmorwand; seine Eltern „sahen sie sicherlich als wertvoll an, aber da [sie] ja unempfindlich war, gab es keinen Grund, die Kinder von ihr fernzuhalten“, so Herr Tugendhat (Abb. 10, 17, 53) Fenster, die sich in den Boden versenken ließen, waren ein charakteristisches Element des Hauses und eines, an das sich Herr Tugendhat erinnert (Abb. 8, 9, 51)

Der runde Tisch, an dem die Kinder zu Mittag aßen (Abb. 54, 55) Die Stufen führen hinunter in den Garten, wo Herr Tugendhat gespielt hat und sich deutlich daran erinnert, dass er einer Schildkröte der Familie versehentlich eine Verletzung beigefügt hat (Abb. 13, 56, 57) Speiseaufzug, mit dem das Abendessen der Kinder nach oben befördert wurde (Abb. 46)

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ʪʪDer Eingang zur Villa Tugendhat an der Cˇernopolní-Straße, Brno im Hintergrund, 2015 aufgenommen. Ernst Tugendhat lebte hier von 1930 bis 1938. [26]

ʤDer Haupteingang wird von einer gerundeten Verglasung abgeschirmt. [27] ʦVon der Auffahrt aus, so entsinnt sich Ernst Tugendhat, beobachtete er auf der Straße einen Mann mit einer Pferdekutsche, der auf seine Pferde einpeitschte. Das ist eine seiner intensivsten Erinnerungen an seine Zeit an diesem Ort. Der Vorfall erschütterte das Kind: „Ich weinte und rannte zurück ins Haus. Ich konnte einfach nicht mehr hingucken.“ [28]

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ʪDer Gang am Schlafzimmer der Eltern vorbei führt zur Kinderterrasse. Die Kinder fuhren hier Fahrrad und mit ihren Spielzeugautos. [29]

ʤDie Kinderterrasse (die „Plattform“) mit halbrunder Bank und Pergola. [30]

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ʪʪDer Sandkasten auf der Terrasse. Ernst Tugendhat entsinnt sich, dort den unverkennbaren „Da-da-Dada“-Ton der Autohupe gehört zu haben, mit dem sich die Heimkehr seines Vaters von der Arbeit ankündigte. [31]

ʤDie berankte Pergola mit Blick von der Terrasse, Brno im Hintergrund. [32] ʦDie Kinderzimmer hatten Fenster und Türen zur Terrasse hin. [33]

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Gespräch mit Ernst Tugendhat

ʪʪDas Jungenzimmer mit Ernsts Bett an der Wand. Obwohl nicht von Mies van der Rohe und seinem Team entworfen, wurden diese Möbel, wie die meisten anderen im Haus, im Rahmen der umfassenden Restaurierung der Villa im Jahr 2012 reproduziert. [34]

ʤ Aussicht und Zugang vom Kinderzimmer auf die Terrasse. Die Tür links führt ins Zimmer von Ernsts Schwester Hanna. Die Kinder nahmen ihr Abendessen im Zimmer der Jungen oder in Hannas Zimmer ein. [35]

ʦDas Kinderbett von Ernsts jüngerem Bruder Herbert, dahinter der Einbauschrank und der integrierte Waschbereich. [36]

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ʪDie Tür, die das Kinderzimmer über eine kleine Zwischendiele direkt mit dem Schlafzimmer von Ernsts Mutter Grete verbindet. Diese Abkürzung ist Herrn Tugendhat nicht in Erinnerung geblieben, stattdessen entsinnt er sich des Korridors und der Eingangsdiele zwischen den Schlafzimmertüren. [37]

ʤGrete Tugendhats Schlafzimmer. Rechts die kleine Zwischendiele, die ihr Zimmer mit dem der Jungen verbindet. Nach einer ersten Einsicht in die Entwürfe für das Haus, bat Grete um diesen Durchgang. [38]

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ʪDas Kinderbadezimmer. [39] ʤDas Doppelwaschbecken im Kinderbadezimmer. [40]

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ʪDas Zimmer von Ernsts älterer Schwester Hanna. [41] ʤDer Tisch in Hannas Zimmer, an dem das Kindermädchen Irene Kalkofen manchmal das Abendessen der Kinder servierte. [42]

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ʤDie großzügige Eingangsdiele führt direkt zu den Schlafzimmern und den Wohnräumen der unteren Etage. In Abb. 7 sieht man an dieser Stelle Ernst nach der Türklinke greifen. [43]

ʦDie Treppe verbindet die beiden Ebenen des Hauses. [44]

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ʪDer Flur für das Personal, mit Zugang zur Küche und einer Treppe ins Kellergeschoss. [45] ʤDer Speiseaufzug, der auch das Abendessen für die Kinder hinaufbeförderte. [46]

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ʪDer Zugang in den Hauptwohnbereich im unteren Geschoss. „Ich weiß eigentlich nicht, wie häufig wir in dem großen Raum unten waren, aber wohl doch ziemlich oft. Abends allerdings waren wir immer oben“, erinnerte sich Herr Tugendhat. [47]

ʤEin Blick auf den Schreibtisch im Arbeitszimmer mit dem Wintergarten dahinter. [48]

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ʤDer Schreibtisch und dahinter die Bibliothek. [49] ʦDie Familie konnte einen Großteil der Möbel mitnehmen, als sie vor den Nazis floh, zuerst in die Schweiz, dann nach Venezuela und später zurück in die Schweiz. Aus diesem Grund liegen Herrn Tugendhat die weißen Brno-Lederstühle aus der Bibliothek und der von Mies und Lilly Reich entworfene hellbraune Tugendhat-Ledersessel (siehe Abb. 49) sehr am Herzen: „[Zu diesen Stühlen] habe ich eine engere Beziehung als zum Haus selbst.“ [50]

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ʪʪEin Blick in den Hauptsitzbereich mit dem Wintergarten dahinter und dem Garten rechts. Die Fenster konnten vollständig in das Kellergeschoss versenkt werden, um einen fließenden Übergang zwischen innen und außen zu vermitteln. [51]

ʪObwohl Fotos vom ihm als Kind im Wintergarten existieren, hat Herr Tugendhat keine Erinnerungen an den Raum. [52]

ʤAn die Onyxmarmorwand erinnert sich Herr Tugendhat. Auch wenn seine Eltern „sie sicherlich als wertvoll ansahen, war sie ja unempfindlich, und gab es keinen Grund, die Kinder von ihr fernzuhalten.“ [53]

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ʤDie Kinder aßen mit ihren Eltern „am runden Tisch“ zu Mittag, der vor einer halbkreisförmigen Wand stand. [54]

ʦDer runde Tisch ließ sich, wie hier zu sehen, für größere Zusammenkünfte erweitern, für einen engeren Personenkreis konnte man die Außenring-Elemente abnehmen. [55]

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ʤDie Stufen in den Garten. [56] ʦIm Kellergeschoss des Hauses, hinter der mit Weinreben bewachsenen Wand verborgen, befanden sich der Haushalts- und Personaltrakt sowie die Dunkelkammer des passionierten Fotografen Fritz Tugendhat. [57]

ʦʦDas Haus vom Garten aus gesehen. Am deutlichsten erinnert sich Herr Tugendhat an die Außenbereiche. [58]

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ʪDie verschiedenen Ebenen des Hauses: der Garten, die Wohnräume (hier deutlich sichtbar die Onyxmarmorwand) sowie die Kinderterrasse. [59]

ʤEine von Herrn Tugendhats Erinnerungen an das Leben im Haus betrifft den Garten. Er entsinnt sich, wie eine der Schildkröten der Familie weggelaufen war, und er sie in den Garten zurückwarf. Der Panzer des Tieres traf unglücklicherweise auf einen Stein und es musste getötet werden: „äußerst unangenehm, aber sehr deutlich in meinem Gedächtnis geblieben.“ [60]

ʦʦHerr Tugendhat steht dem berühmten Haus seiner Kindheit relativ unbeteiligt gegenüber, auch hat er nur sehr wenige Erinnerungen an die Jahre dort. Tatsächlich setzen die meisten seiner bewussten Eindrücke im Alter von acht Jahren ein, als die Familie nach der Flucht vor den Nazis in St. Gallen in der Schweiz lebte. [61]

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Anmerkungen 1

Fotografien sowie ein Modell des Bauwerks wurden 1932 in der Ausstellung des Museum of Modern Art, New York, gezeigt, Modern Architecture: Interna-

tional Exhibition; siehe S. 116 – 117 des Ausstellungskatalogs, https://www. moma.org/documents/moma_catalogue_2044_300061855.pdf. 2

Arthur Drexler, Ludwig Mies van der Rohe, New York: George Braziller, 1960,

3

Alice Rawsthorn, „Reopening a Mies Modernist Landmark“, New York Times,

S. 21. 24. Februar 2012. 4

Ganz besonders haben Architekturhistoriker auf Reichs Beteiligung hinsichtlich der Textilien und der Einrichtungsgegenstände verwiesen. Siehe Marianne Eggler, „Divide and Conquer: Ludwig Mies van der Rohe and Lilly Reich’s Fabric Partitions at the Tugendhat House“, Studies in the Decorative Arts 16, Nr. 2 (Frühjahr – Sommer 2009): S. 66 – 90; und Robin Schuldenfrei, Luxury and

Modernism: Architecture and the Object in Germany 1900 – 1933 Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 2018). 5

„Der Raum erscheint als ein Gesamtkunstwerk, da Haus und Möblierung als Einheit konzipiert sind. Mies entwarf nicht nur zahlreiche Möbel, wie den BrnoSessel und den Brno-Stuhl, speziell für diesen Bau, sondern legte auch deren Platzierung fest. Sogar der runde Esstisch ist im Boden verankert.“ Carsten Krohn, Mies van der Rohe: Das Gebaute Werk, Basel: Birkhäuser, 2014, S. 82. Zur Diskussion hinsichtlich der luxuriösen Materialität des Hauses, siehe Schuldenfrei, Luxury and Modernism.

6

„Mies wie auch Grete und Fritz Tugendhat gehörten noch einer Generation an, die ihre entscheidende Prägung im Vorkriegseuropa der ausklingenden ‚Belle Époque‘ erfahren hatte und die sich damit zwischen den Zeiten bewegte. Dies mag – vielleicht – das äußerliche Festhalten an überkommenen Wohnkonzepten erklären, die mit der eigenen inneren Einstellung schon längst nicht mehr in Deckung zu bringen waren.“ Wolf Tegethoff, „Ein Wohnhaus der Moderne im Spannungsfeld seiner Zeit“, in Daniela Hammer-Tugendhat, Ivo Hammer und Wolf Tegethoff, Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe, 3., aktualisierte Auflage, Basel: Birkhäuser, 2020, S. 90 – 139, hier S. 130.

7

Zur Verwendung hochwertiger Werkstoffe durch Mies siehe Schuldenfrei, Lu-

xury and Modernism, S. 158: „Anstatt wie viele seiner Kollegen Materialien zu verwenden, um Konzepte von Massenproduktion, Industrie oder Technologie einzubringen, waren Mies’ Materialien ein Manifest für moderne Eleganz und Luxus.“ Über Mies’ Handhabe von Möbeln schrieb Philip Johnson: „Kein anderer wichtiger zeitgenössischer Architekt hat sich so viele Gedanken um die Anordnung von Möbeln gemacht. So wie andere Architekten darüber nachdenken, wie Gebäude um einen Platz herum zu anzuordnen seien, überlegt Mies ebenso, Stühle in einem Raum zu gruppieren.“ Mies van der Rohe, New York: Museum of Modern Art, 1947, S. 60. 8

Christian Norberg-Schulz, Tugendhat House, Brno, Architettura/Documenti, Bd. 5, Rom: Officina, 1984, S. 25, 21.

9

Krohn, Mies van der Rohe, S. 84.

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„Die ästhetisch bedeutsamen Farbtupfer der Inneneinrichtung, das ‚Smaragdgrün‘ der Barcelona-Sessel und das ‚Rubinrot‘ der Chaiselongue sind in den Kopien sicherlich zu grell.“ Ivo Hammer, „Materiality. Geschichte des Hauses Tugendhat 1997 – 2012, Untersuchungen und Restaurierung“, in HammerTugendhat et al., Haus Tugendhat, S. 162 – 223, hier S. 221.

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Wouter Vanstiphout, „The Most Ruthless Restoration in History“, Building De-

sign 2038, 23. November 2012, S. 9. 12

Herr Tugendhat war der am schwierigsten aufzufindende unserer Gesprächspartner. Zu guter Letzt erhielten wir seine Adresse über die Universität Tübingen, nachdem wir verschiedene Mitglieder des dortigen Fachbereichs für Philosophie kontaktiert hatten.

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In einem Interview mit Ulrike Herrmann drückte Ernst Tugendhat diese Empfindung folgendermaßen aus: „Das Haus hat in meinem Leben keine Rolle gespielt, allenfalls eine eher negative. Es ist mir völlig gleichgültig, wo ich wohne. Vielleicht ist das eine Reaktion dagegen, dass man in unserer Familie dieses Haus so gepriesen hat.“ Zitiert aus: „Die Zeit des Philosophierens ist vorbei“, Die Tageszeitung, 28. Juli 2007, https://taz.de/!253784/.

14

Auf die Frage, ob er sich denn zum Beispiel an den Wintergarten im Haus erinnere, zeigte Herr Tugendhat als Antwort auf historische Fotos: „Nein, eigentlich nicht. Nur mit Hilfe dieser Bilder.“ Zu den zahlreichen Familienfotos im Haus von Fritz Tugendhat siehe Hammer-Tugendhat et al., Haus Tugendhat.

15

Grete Tugendhat, „Zum Bau des Hauses Tugendhat“, Vortrag vom 17. Januar 1969 im Brno Do˚ m umeˇní (Haus der Kunst), nachgedruckt in Hammer-Tugendhat et al., Haus Tugendhat, S. 18 – 23, hier S. 20.

16

Zu Irene Kalkofens Erinnerungen an das Haus, siehe den Beitrag „Irene Kalkofen

17

Das Zimmer des Kindermädchens wurde gelegentlich auch als Gästezimmer

erinnert sich“, in Hammer-Tugendhat et al., Haus Tugendhat, S. 84 – 89. genutzt. Irene Kalkofen schlief dann in einem zweiten Bett in Hannas Zimmer. 18

Verschiedene Bewohner des Hauses, darunter Grete Tugendhat und Irene Kalkofen, erzählen diese Begebenheit in Hammer-Tugendhat et al., Haus Tu-

gendhat, S. 52, 87. 19

Grete Tugendhat und Fritz Tugendhat, „Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich“, Brief an den Herausgeber, Die Form 6, Nr. 11, 15. November 1931. Nachgedruckt in Hammer-Tugendhat et al., Haus Tugendhat, S. 74 – 79.

Haus Schminke Hans Scharoun Löbau 1933

Historiker bezeichneten Haus Schminke als „rückhaltlos modernistisch“ und als „Pionierleistung organischer Architektur“.1 Der Bau absorbiert Hans Scharouns Vorstellungen und Gestaltungsmethoden in Bezug auf häusliches Leben und war das letzte Projekt des Architekten, bevor die Nationalsozialisten seine formale Experimentierfreiheit einschränkten.2 Fritz und Charlotte Schminke lernten die Arbeit des Architekten auf der 1929 in Breslau vom Deutschen Werkbund geförderten Ausstellung Wohnung und Werkraum kennen. Dort sahen sie das Ledigenheim für unverheiratete Arbeiter, ein programmatisch und architektonisch innovatives Wohnprojekt, erbaut nach einem Entwurf Scharouns, der zu der Zeit Professor an der Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe war.3 Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, die als Rationalisten eine auf konstruktiver Logik und auf klarer rechtwinkliger Geometrie basierende Gestaltung verfolgten,4 erschließt Scharoun das Haus Schminke als erlebnisorientierte Aneinanderreihung von Räumen, oder, wie J. Christoph Bürkle formuliert hat, es lässt „Raumgefüge durch Funktionsabläufe entstehen“.5 „Trotz der Durchlässigkeit handelt es sich nicht um einen flexiblen Allzweckplan im Mies’schen Sinne, sondern um eine Sequenz fest zugeordneter Zimmer, die visuell und räumlich miteinander verbunden sind“, erklärt Peter Blundell Jones.6 In einer Folge ineinandergreifender Räume (Abb. 4, 5) und auch den Bedürfnissen der Familie angepasst, entwickelte sich das Haus Schminke „von innen nach außen“,7 im Einklang mit dem vorhandenen, leicht abschüssigen Gelände.8 Entsprechend wirkt das Haus, von der Südseite gesehen, fest verankert und bodenständig, von der nach Norden gelegenen Gartenseite eher schwerelos und fast schwebend. (Abb. 1 – 3).9

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Hans Scharoun

Der in Bremerhaven aufgewachsene Scharoun fügte eine Reihe von nautischen Elementen und an die Seefahrt erinnernde konstruktive Komponenten in das Bauvorhaben ein, nicht nur kreisförmige Fenster und Muster, sondern vor allem auch eine Stahlrahmenkonstruktion, die die besondere Durchlässigkeit des Hauses ermöglichte, einschließlich der charakteristischen horizontalen Auskragungen. Scharouns „Beschäftigung mit schiffsähnlichen Merkmalen war keine bloße Effekthascherei: Es war eine radikale Alternative zur vorherrschenden Baukultur, sowohl optisch als auch technologisch“, argumentieren Flora Samuel und Blundell Jones.10 Charakteristisch für die Gestaltung von Haus Schminke ist der 26-Grad-Winkel, festgelegt an der Eingangstreppe und dann fortgesetzt in der Rotation des Baukörpers sowohl des Wintergartenbereichs wie auch des Wirtschaftstrakts, wodurch die entgegengesetzten Außenenden des Hauses betont werden (Abb. 5). Im Inneren ermöglicht diese Drehung des Volumens besondere, sich bis zum Garten hinziehende Übergänge zwischen Räumen. Für Scharoun, so erläutern Samuel und

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ʪ Haus Schminke in einer Fotografie von Alice Kerling, 1933. [1] ʤ Die auskragenden Balkone der Nordostfassade. [2] ʨ Die diagonale Treppe verbindet und vermittelt zwischen den verschiedenen Ebenen von Haus und Garten. [3]

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Hans Scharoun

Blundell Jones, war Haus Schminke „der markante Durchbruch in der Verwendung freier Winkel, die seine bedeutendste Hinterlassenschaft für die Architektur des späten 20. Jahrhunderts war“.11 Trotz der relativ geringen Beachtung, die Scharoun in der zeitgenössischen etablierten Architekturgeschichte zuteilwurde,12 bleibt Haus Schminke eines der herausragendsten und wichtigsten Beispiele modernistischer Wohnbauarchitektur. Mithilfe kräftiger Farbgebung, einem Gespür für den Standort und dem damit verbundenen Erleben von Transparenz und Bewegung leistet das Haus einen einzigartigen und komplexen Beitrag zum Vermächtnis der Moderne. Nachdem die Familie das Haus 1951 verlassen hatte, wurde es in DDR-Zeiten ein Klubhaus für den sozialistischen Jugendverband Freie Deutsche Jugend (FDJ) und schließlich ein „Pionierhaus“. Im Jahr 2000 wurde es renoviert und als Museum neu eröffnet.

ʨ Der offene Wohnbereich mit speziell angefertigten Möbeln und Lampen. [4] ʦ Die doppelstöckige Eingangshalle geht nahtlos in Kinderspielzimmer und Esszimmer über. [5]

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Hans Scharoun

ʤ Grundriss Erdgeschoss Haus Schminke von Hans Scharoun. [6]

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ʤ Grundriss Obergeschoss Haus Schminke von Hans Scharoun. [7]

Gespräch mit Helga Zumpfe

Helga Zumpfe, geb. Schminke, war knapp drei Jahre alt, als ihre sechsköpfige Familie am 31. Mai 1933 ins Haus Schminke einzog. Insgesamt hat sie dort fünfzehn Jahre lang gelebt und blickt gerne auf diese Zeit zurück. Prägend für sie waren die Kindheitserfahrungen im Haus, einschließlich ihrer Erinnerungen an die offenen Räume und weiten Flächen sowie die Freundschaft, die sich zwischen Scharoun und der Familie entwickelt hatte. Obgleich Frau Zumpfe mittlerweile im Ruhrgebiet lebt, fühlt sie sich noch immer eng mit dem Haus verbunden. Der Kontakt zu ihr wurde durch Julia Bojaryn von der Stiftung Haus Schminke,13 der mit Erhaltung und Pflege des heutigen Museums beauftragten Einrichtung, vermittelt. Abgesehen von den regulären Besuchszeiten, Audioguides und Führungen bietet das Museum auch – exklusiv für jeweils eine Personengruppe – das einmalige Erlebnis, im Haus zu übernachten. Dadurch hat-

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ten wir Haus Schminke ganz für uns und konnten es in aller Ruhe genießen, nachdem sich am Abend Mitarbeiter und andere Besucher zurückgezogen hatten. Außerdem waren wir nun in der Lage, die Räume, über die Frau Zumpfe mit uns gesprochen hatte, genauer zu erkunden. Helga wurde 1930 als jüngstes der vier Kinder (Abb. 9) von Charlotte und Fritz Schminke geboren. (Die anderen waren Erika, geb. 1929; Traudel bzw. Gertraude, geb. 1926; Harald, geb. 1924.) In unserem Gespräch nahm Frau Zumpfe etwas scherzhaft für sich in Anspruch, der Grund für die Errichtung des Hauses gewesen zu sein – immerhin sei das vorherige Heim der Schminkes mit ihrer Ankunft zu klein geworden. Zwar bewohnte die Familie das moderne Haus von 1933 bis 1951, allen sechs Schminkes war aber nur ein Jahr zusammen vergönnt: Harald zog 1934 nach Dresden, um sein Abitur zu machen. 1939 wurde er eingezogen und kam 1943 an der russischen Front ums Leben. Helgas Vater war nach 1938 weitgehend abwesend. Aufgrund seiner Rolle in der Sudetenkrise und bedingt durch den Zweiten Weltkrieg, in dem er als Aufklärungspilot im Einsatz war, kam er nur noch gelegentlich nach Hause. Gleich nach dem Krieg war er von 1945 bis 1948 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.14 Nichtsdestoweniger vergrößerte sich die Familie während des Krieges, insbesondere fand Ello Hirschfeld, die Tochter von Freunden Scharouns und Oskar Schlemmers aus Berlin, bei ihnen Aufnahme;15 ein Großelternteil der jungen Ello war jüdisch, und sie lebte sechs Jahre in dem Haus. Darüber hinaus beherbergten die Schminkes für kurze aber auch längere Besuche immer wieder Freunde und Familie, darunter Scharoun und seine Frau Aenne (Abb. 10, 11). Im Laufe der Jahre verbrachte Scharoun immer wieder Zeit in Löbau, nachdem er in der Planungs- und Bauphase des Hauses ein guter Freund der Familie Schminke geworden war. Als kleines Kind konnte Helga nicht „Professor Scharoun“ aussprechen und so nannte sie ihn „Pfeffer Huhuhun“. Der Spitzname blieb ihm erhalten! Immer herrschte Aufregung im Haus, wenn „Pfeffer“ zu Besuch kam, erinnerte sich Frau Zumpfe, aufgrund der – wie sie es nannte – „dicken Freundschaft“, die entstanden war. Auch nachdem die Familie Löbau verlassen hatte, blieb die Verbindung zu Scharoun bestehen. Unter anderem besuchte Frau Zumpfe ihn in der Nachkriegszeit in Berlin und konnte ihn dafür gewinnen, für ihre Gemeinde in Bochum, eine Kirche und eine Begegnungsstätte zu entwerfen.16

ʪ Helga Zumpfe (geb. Schminke) in ihrer Bochumer Wohnung, 2015. [8]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

Haus Schminke steht auf einem Grundstück in der Kirschallee 1B, nördlich der Nudelfabrik „Anker-Teigwaren“, einem von Fritz im Alter von 21 Jahren geerbten Familienbetrieb. In den 1930er Jahren führte die kleine Straße lediglich weiter auf Felder und zu Bauernhöfen, wo die Familie Milch holte. Zu DDR-Zeiten entstanden dort diverse andere Häuser, die nach Frau Zumpfes Ansicht „da nicht hinpassen“. Tatsächlich bilden die landläufig-konventionellen Schrägdächer einen starken Gegensatz zur modernistischen Gestalt von Haus Schminke. Die Außenbereiche eines Hauses bestimmen ganz maßgeblich, wie man es wahrnimmt bzw. erlebt, und für Frau Zumpfe waren das Orte voller Erinnerungsmomente (Abb. 12). Eigentlich, so entsann sie sich, gehörte das Gelände den Kindern: „Wir hatten den ganzen Garten nur für uns zum Spielen“. Mit Ausnahme des Winters, wenn die Eltern die Kinder dazu anhielten, die „Schneelandschaft“ zwischen dem Haus und dem kreisförmigen großen Teich unberührt und frei von Fußspuren zu lassen. Über westlich und südlich verlaufende Umwege gelangten die Kinder dann zu dem großen Teich, der nun zur Eislaufbahn wurde.

ʨCharlotte und Fritz Schminke mit ihren vier Kindern: Harald (geb. 1924), Helga (geb. 1930), Erika (geb. 1929) und Gertraude „Traudel“ (geb. 1926), von links nach rechts. [9]

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ʤ Hans Scharoun am Tisch im Wintergarten mit Helga, auf Besuch bei Familie Schminke. [10]

ʨ Scharoun liest den Kindern auf dem Wohnzimmersofa vor. [11]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤ Die üppige Pflanzenwelt im Garten. [12]

Im Sommer hingegen erfuhr der Teich noch intensivere Nutzung durch Schwimmen, Planschen und „Bootfahren“ in großen Holzzubern und Metallwaschwannen (Abb. 13 – 17, 65 – 68). Frau Zumpfe hielt ein kleines Faltbüchlein in Ehren, das Scharoun für die Kinder gebastelt hatte. Darin enthalten sind ein vom Architekten geschriebenes Reimgedicht und Fotos, auf denen er mit den Kindern im großen Teich planschte (Abb. 19, 20). Oft spielten die Kinder auf einer kleinen Brücke mit einer von Scharoun entworfenen weißen Bank zwischen dem großen Teich und seinem kleineren, überwucherten Gegenstück (Abb. 18). Dort, so erinnerte sich Frau Zumpfe, hatte Aenne Scharoun ihr Geschichten erzählt, insbesondere das Märchen „Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein“ der Gebrüder Grimm. Oberhalb des Teichs befand sich ein dort schon länger existierendes Gartenhäuschen mit Reetdach, das später von Scharoun für die Kinder zum Spielen renoviert wurde. „Und selbstverständlich sind wir auch auf die Bäume geklettert“, ergänzte Frau Zumpfe.

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ʤ Die Kinder spielen mit Scharoun im großen Teich, ihr Vater Fritz und Scharouns Frau Aenne am Teichrand. Scharoun hält Helga an den Händen. [13]

ʨ Scharoun (ganz rechts) wird mit Wasser bespritzt. Helga steht im Teich. [14]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

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Ein weiterer, speziell den Kindern gewidmeter Bereich, lag auf der Südwestseite des Hauses, an dem freitragenden Eingangsdach vorbei, nahe der Fabrikmauer. Dort, unter dem ausladenden Kastanienbaum, gab es einen großen quadratischen Sandkasten, eine Schaukel und Turngeräte (Abb. 22, 45), außerdem eine von Scharoun für die Kinder erfundene und entworfene Vorrichtung: eine kleine gewellte Schiene auf einem braunen Backsteinsockel (Abb. 21, 46). In Wägelchen sitzend, nicht viel größer als ein Schuhkarton, rollten Helga und ihre Geschwister diese MiniaturAchterbahn hinunter. Südlich wie auch nördlich an den verglasten Wintergarten angrenzend, d. h. viel näher am Haus und wie eine Fortführung desselben, boten sich gepflasterte Terrassen als zusätzliche, eher unstrukturierte Spielflächen an (Abb. 23, 47, 48). Auch drinnen konnten sich die Kinder außerhalb von Spiel- und Kinderschlafzimmern völlig frei bewegen. Sie hatten nicht nur teil am gesamten häuslichen Leben – sie prägten es geradezu. Rückblickend sagte Frau Zumpfe: „Das Haus war großzügig angelegt und auch für uns Kinder immer offen und überall zugänglich.“ Sie erin-

ʪ Die Kinder testen verschiedene Wannen auf ihre Bootstauglichkeit im großen Teich. [15 – 17]

ʤ Die Kinder auf der von Scharoun entworfenen weißen Bank zwischen den beiden Gartenteichen. [18]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤ Ein Leporello, das Scharoun für die Kinder gebastelt hat und das Frau Zumpfe als Andenken aufbewahrt. Es enthält ein Reimgedicht des Architekten sowie Fotografien von ihm und den Kindern, alle zusammen im großen Teich spielend. [19]

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ʪʤʨ Aufgeschlagene Seiten des Büchleins, signiert von Hans und Aenne Scharoun sowie Alice Kerling, der Fotografin, die 1933 das Haus dokumentiert hatte. [20]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

nerte sich, vor allem im Erdgeschoss mit seinen außerordentlich weitläufigen Wohnräumen viel Zeit verbracht zu haben. In der Tat waren es die offenen, hellen und geräumigen Dimensionen des Hauses, die unsere Gesprächspartnerin am nachhaltigsten beeindruckt hatten: „In meinen Erinnerungen an das Haus sehe ich Licht – Weite und Freude“, sagte sie lächelnd (Abb. 71, 72). „Alles in allem ist es das Leben in dieser Weiträumigkeit, wie wir es in dem Haus, aber auch im Garten hatten, was sich ganz besonders tief in meinem Gedächtnis festgesetzt hat.“ Vom Haupteingang als Erstes zugänglich, sozusagen Dreh- und Angelpunkt des Hauses, ist die doppelstöckige Halle. Flankiert von Wohn- und Wirtschaftsbereichen im Erdgeschoss schließt sie auch eine schräg gestellte Treppe zu den oben gelegenen Schlafzimmern ein (Abb. 24, 53). Nach Süden zu geht die Treppenhalle in ein Kinderspielzimmer über und nach Norden hin weitet sie sich zu einem Ess-

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ʪ Helga am Tor zwischen der Nudelfabrik und dem Haus, im Hintergrund Mini-Achterbahn und Sandkasten. [21]

ʪ Die Kinder im Sandkasten spielend; im Vordergrund die Backsteinpiste der kleinen Achterbahn. [22]

ʤEin Blick durch eines der großen Bullaugen auf die hintere Terrasse. [23]

bereich auf, wobei diese Räumlichkeiten fließend ineinander übergehen und zur emblematischen Offenheit des Hauses beitragen. Für Helga war die effektvoll diagonal platzierte Treppe weniger ein nützliches Element zur Raumaufteilung, sondern diente sich vielmehr als erstklassiges Geländer zum Herunterrutschen an, das viel Freude bereitete. (Abb. 52). Gleich rechts vom Haupteingang ist das Spielzimmer für die Kinder ein Kernbereich des Hauses und auch einer der ersten Räume, die ein Besucher wahrnimmt (Abb. 5, 25 – 27, 49). Die zentrale Lage des Spielzimmers unterstreicht den hohen Stellenwert, den die Kinder im Hause einnahmen, ihre Bedeutung innerhalb der Familie sowie die Würdigung, die ihnen zuteilwurde.17 „Wir haben dort mit viel Begeisterung gespielt!“ sagte Frau Zumpfe. Ein paar Besonderheiten des Spielzim-

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤ Ein Blick auf die Treppe und die Balustrade der Eingangshalle, rechts das große Bullauge im Spielzimmer und links die Wohnräume. [24]

ʦDas Kinderspielzimmer mit Helga im Vordergrund. [25] ʦDie Tafel und verschiedene Ablagen im Spielzimmer, einschließlich der für jedes Kind farblich gekennzeichneten Fächer an der Westwand. [26]

ʦEin Blick auf die Ostwand des Spielzimmers, darauf eine Fotomontage von Scharoun mit deutschen Schiffen und Flugzeugen, einer Weltkarte, Seefahrtsflaggen sowie einem Hakenkreuz (letzteres von Fritz Schminke hinzugefügt, so der Historiker Klaus Kürvers). Der Tisch war später ins Spielzimmer gestellt worden, damit die Kinder dort ihre Hausaufgaben machen konnten. [27]

mers hatte sie im Gedächtnis behalten, u. a. eine große Tafel an der Westwand zum Zeichnen und später für die Hausaufgaben (Abb. 51).18 Und jedes Kind hatte seine Ablage gleich neben den Einbauregalen und -schränken; die vertikal aufeinandergesetzten würfelförmigen Fächer waren mit Türen in unterschiedlichen Farben ausgestattet. „Meins war gelb“, erinnerte sich Frau Zumpfe, und – dem kleinsten Kind angemessen – „war es das unterste.“

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Gespräch mit Helga Zumpfe

Unterhalb der großen in Quadrate unterteilten Fensterfront verlief im Spielraum eine breite Fensterbank, niedrig genug als Spielfläche für die Kinder. Auf alten Fotos sieht man Helga und Erika auf diesem Sims auf kleinen Thonet-Stühlen sitzen (Abb. 28, 29). Von dieser Bank war es den Kindern auch möglich, durch zwei der quadratischen Fenster, nach draußen zu klettern (Abb. 50). Eine durchaus nicht unbeabsichtigte Fensteranordnung, denn ähnliche Fenster im Wohnzimmer und im Wintergarten waren viel höher angebracht. Vielmehr bot der Architekt den Kindern Möglichkeiten, sich ihre Umgebung aktiv anzueignen und buchstäblich Innen- und Außenwelt miteinander zu vereinen.

ʨAuf ihren kleinen Thonet-Stühlen sitzend, spielen Helga (links) und Erika auf dem Fenstersims. [28, 29]

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ʤ Helga neben einer der mit BuntglasBullaugen versehenen Türen. [30]

Scharouns kindgerechte Planung lässt sich überdies an den farbigen Rundfenster-Paaren festmachen, die auf Kinderaugenhöhe in die Metallrahmung der Außentüren eingesetzt waren (Abb. 30, 76 – 80). Frau Zumpfe sagte, diese „bunten Bullaugen“ seien absichtlich so platziert, damit „man als Kind durchgucken und die Welt immer in einer anderen Farbe sehen kann. Und das war ja ganz aufregend! Ich bin ständig von einem Fenster zum anderen gerannt, um die Welt in verschiedenen Farben zu sehen.“ Für die Kinder waren die Türen ein magisches Erlebnis, das alles in Orange, Bernsteinfarben, Rot oder Violett tauchte. Versteckspielen war aufgrund des transparenten und überschaubaren Wohnbereichs mit seinen nahtlosen Übergängen gar nicht so einfach: Verkroch man sich zum Beispiel hinter dem langen Wohnzimmersofa, wurde man recht schnell entdeckt. „Es war wirklich schwierig, ein gutes Versteck zu finden“, sagte Frau Zumpfe. „Probieren Sie das mal!“, fügte sie lachend hinzu. Sie erinnert sich, wie sie sich als die Jüngste bisweilen mehr Schlupfwinkel gewünscht hatte, um den Sticheleien

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤDie Kinder lesen zusammen auf dem Sofa im Wohnzimmer. [31]

und Zänkereien der älteren Geschwister besser entgehen zu können. Sie beschrieb eine Begebenheit, in der sie versuchte, sich während einer Kabbelei mit ihrem Bruder und ihren Schwestern davonzustehlen. Allerdings schaffte sie es zu ihrem Leidwesen (und zur Freude der Geschwister) nur bis zum Wintergarten bzw. zum Teich. Entsprechend lautete ihre scherzhafte Antwort auf die Frage, was sie an dem Haus vermisst oder gerne ergänzt hätte: „Mauselöcher.“ Nur bei Gewitter war sie ganz und gar nicht angetan von der Transparenz des Hauses, die sie in ihrer Angst als bedrohlich empfand. Für mehr Privatsphäre hatte Scharoun Vorhänge entlang der Fenster des Wohnzimmers in seinen Entwürfen vorgesehen, die im Winter für Brettspiel- oder Musikabende geschlossen wurden, so auch wenn die Familie am Kamin sitzend laut vorlas (Abb. 4, 31, 70, 71). Desgleichen ließ sich das Spielzimmer von der übrigen doppelstöckigen Eingangshalle durch einen dicken Innenvorhang abtrennen, was allerdings Frau Zumpfes Erinnerungen zufolge so gut wie nie vorkam, damit die Kinder „überall spielen“ konnten. Die Wirtschaftsräume des Hauses nahmen in Frau Zumpfes Erinnerungen keine herausragende Rolle ein, wenngleich sie erwähnte, dass die Kinder in der Küche, die mit ihren charakteristischen wandmontierten Einbauschränken und den beschrifteten Aluminiumschütten dem Konzept einer „Frankfurter Küche“ nahekam, mithelfen mussten.19 In den Keller des Hauses zu gehen, so entsann sie sich, bereitete ihr Angst, was sicherlich viele Kinder bestätigen würden. Abgesehen von den

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ʤDer Wintergarten vom Wohnzimmer aus gesehen. [32] ʨErika und Helga (links) zwischen den Pflanzen im Wintergarten. [33]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤBlick ins Zimmer der Mädchen mit beiden Betten heruntergeklappt (links) und einem hochgeklappten Bett und ausgeklapptem Schreibtisch (rechts). [34, 35]

üblichen Installationsvorrichtungen befand sich dort unten eine Dunkelkammer, in der Charlotte Schminke die vielen von ihr aufgenommenen Familienfotos entwickelte. „Sie hat viel fotografiert“, sagte Frau Zumpfe, und die Bilder sowie auch einige Filmaufnahmen bieten eine reichhaltige Informationsquelle zur Nutzung des Hauses. Bei ihrem Besuch als Erwachsene würdigte sie ganz besonders den Wintergarten: „Der war wirklich ganz außergewöhnlich!“, betonte sie (Abb. 32, 72 – 75). Hier nahm die Familie häufig ihre Mahlzeiten ein, und zu Ostern frühstückte man an einem festlich gedeckten Tisch. Vor dem Krieg stand dort auch der Weihnachtsbaum, der später aufgrund der Verdunkelungspflicht in die Halle gestellt wurde. Außerdem befand sich im Wintergarten neben dem runden Tisch und den von Mies van der Rohe entworfenen, rot angestrichenen Metallrohrstühlen ein Käfig

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mit vielen kleinen Vögeln.20 Auf Charlottes Fotos sieht man die Mädchen im abgesenkten Bereich des Wintergartens zwischen den Pflanzen spielen (Abb. 33). Besonders an heutigem Maßstab gemessen, sind die Kinderschlafzimmer im oberen Geschoss sehr klein und erinnern im Zuschnitt an Schiffskabinen. Scharoun hatte eine durchgängige Wand von Einbauschränken in den weiträumigen Flur außerhalb der Zimmer integriert, sodass diese in erster Linie zum Schlafen dienten (Abb. 55). Jedes der beiden Kinderzimmer war ursprünglich mit zwei Betten ausgestattet, die wie in einer Schiffskabine an die Wand hochgeklappt werden konnten. (Abb. 34, 35, 58). Eines der Zimmer wurde später in ein Schlafzimmer für Harald, den ältesten und einzigen Jungen, umgewandelt. Dadurch vergrößerte sich das Zimmer der Mädchen um eine zusätzliche Schlafnische, die von Haralds Zimmer abgetrennt wurde (Abb. 59). „Es war winziges Zimmerchen, in dem wir geschlafen

ʨDie Kinder auf dem oberen Balkon. [36]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤDie Familie vor dem Haus im Garten; Helga spielt mit ihrer Mutter Charlotte. [37]

haben“, bestätigte Frau Zumpfe. Tatsächlich schlief sie im elterlichen Schlafzimmer im Bett ihres Vaters, während dessen kriegsbedingter Abwesenheit, „damit die anderen mehr Platz hatten“ (Abb. 60, 61). So fand Helga denn auch im Zimmer ihrer Eltern eine Schere, die ihre Mutter für eine bevorstehende Reise in einen Koffer gepackt hatte. Damit schnitt sich das Mädchen eigenhändig die Haare, sodass sie auf Fotos aus dieser Zeit unschwer zu erkennen ist (Abb. 36). Befreundete Kinder, die zu Besuch kamen, fühlten sich im Haus sehr wohl und waren „immer froh, dort zu sein“. Doch die ungezwungene Haltung von Kindern

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entsprach nicht immer der von Erwachsenen. In der Kleinstadt Löbau war bisweilen die Rede von den „reichen Schminkes“ und ihrem „merkwürdigen Heim“, erinnerte sich Frau Zumpfe. Wenn Leute die Kirschallee entlangspazierten, „warfen sie immer Blicke hinein“, denn die Vorhänge der sehr einsehbaren Innenräume waren nur selten zugezogen. In Anspielung auf die Nudelfabrik und die schiffsähnliche Form mit den nautischen Architekturelementen gaben die Nachbarn dem Haus den Spitznamen „Nudeldampfer“. Damals war es für Frau Zumpfe völlig „normal“, in einem so außergewöhnlichen Haus zu leben, wobei sie später dessen Besonderheiten sowie Dimensionen und Weitläufigkeit viel deutlicher und viel differenzierter gesehen hat. Sie wusste sehr wohl, dass sie das Haus als Erwachsene anders wahrnahm als durch ihre Kinderaugen, und so sagte sie mit Nachdruck: „Als Kind lebt man und erlebt man nicht!“ Diese Unterscheidung ist ausschlaggebend dafür, wie sie die Selbstverständlichkeit beurteilt hat, mit der Kinder Lebenssituationen angehen und sich ihnen dann anpassen. „Ich denke mal, für Kinder ist einfach alles normal“, sagte sie. Zieht man Frau Zumpfes Laufbahn als engagierte Erzieherin im Waldorfkindergarten in Betracht, reflektiert sich in ihren Worten ihr Bildungs- wie auch ihr gesamter Erfahrungshintergrund, und zweifellos spielen auch ihr Wesen und ihr ganz persönliches Weltbild mit hinein. Obgleich ihr und den Geschwistern in vielerlei Hinsicht eine privilegierte Erziehung zuteilgeworden war, schwang in ihrem Rückblick auf alte Zeiten keinerlei Überheblichkeit mit – vielmehr zeigte sich darin eine erstaunlich unprätentiöse Einstellung. Wenn sie das Haus beschrieb, dann immer mit einer gewissen Bescheidenheit. Als Kind war sie sich der architektonischen Bedeutung des Bauwerks oder seiner avantgardistischen Merkmale nicht bewusst – das stellte sich erst viel später ein, nachdem sie ausgezogen war. „Es war halt, wo wir wohnten“, sagte sie. Das Leben im Haus – an sich schon eine stimulierende Erfahrung – und die damit verbundenen Freiheiten beeinflussten Frau Zumpfes späteres Denken wie auch ihre Entscheidungen. Künstlerisch veranlagt, hat sie immer Interesse an kreativer Beschäftigung gezeigt, wie etwa Puppenspiel, Erzählkunst und Schriftstellerei.21 Überzeugt, dass „das Haus und damit Scharoun einen großen Einfluss auf ihre Erziehung und ihre Interessen ausübte“, fügte sie hinzu: „Ich denke, die Umgebung, in der Menschen leben, verändert sie auch.“ 1948 verließ Frau Zumpfe das Haus und zog nach Dresden, wo sie eine Steinmetzlehre absolvierte, innerhalb derer sie am Wiederaufbau des im Krieg zerstörten Zwingers beteiligt war. Sie heiratete und bekam zwei Kinder. Nach häufigen Umzügen und einem Leben in beengten und einfachen Wohnverhältnissen, ließ sie sich schließlich in Bochum nieder. Seit mittlerweile einigen Jahrzehnten lebte sie nun in

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Gespräch mit Helga Zumpfe

derselben Wohnung und weiß deren diverse Vorzüge, darunter die Aussicht, zu schätzen. (Abb. 38, 39). Bei ihrem Einzug hat sie nicht nur die vielen Anstriche und Tapeten entfernt, sondern auch alle Innentüren durch Vorhänge ersetzt, um, wie im Erdgeschoss von Haus Schminke, die Räume miteinander zu verbinden. Ausblick auf Natur, reichlich Tageslicht und ineinander übergehende Räume stellten für Frau Zumpfe Bezüge zu den Besonderheiten ihres Elternhauses her, an das sie sich so gerne erinnerte. Ihre kleinen Veränderungen mögen in nur geringem Ausmaß den Raumprinzipien in Haus Schminke nahekommen, dennoch zeugen sie von dem bleibenden Eindruck, den das häusliche Leben in dieser Variante der Architektur der Moderne auf sie hatte. „Ich träume noch heute von dem Haus in Löbau. In den Träumen laufe ich im Haus herum, und allerlei Dinge ereignen sich dort“, sagte sie und lächelte.

ʤ Frau Zumpfes Bochumer Wohnung, wo sie alle Innentüren durch Vorhänge ersetzte, wie im Wohnzimmer ihres Elternhauses. An den Wänden von Frau Zumpfes Wohnung sind Aufnahmen von Haus Schminke zu sehen. [38, 39]

ʦ Helga Zumpfe im Gespräch mit den Autoren, 2015. [40]

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ʪ Lageplan mit Lokalisierung der Erinnerungen von Frau Zumpfe. [41]

Das reetgedeckte Gartenhaus, das bereits auf dem Grundstück stand, wurde später von Scharoun renoviert und zu einem Ort zum Spielen für die Kinder Weiße Bank zwischen den beiden Teichen, auf der Aenne Scharoun, die Frau von Hans Scharoun, den Kindern Geschichten erzählte (Abb. 18) Großer Teich, in dem die Kinder im Sommer spielten und schwammen und auf dem sie im Winter Schlittschuh liefen (Abb. 12 – 17, 65 – 68)

Bereich zwischen dem Haus und dem großen Teich; eine der wenigen Regeln, die die Kinder beim Spielen im Freien zu befolgen hatten, war es, den Bereich im Winter frei von Schuhabdrücken zu lassen

Die gepflasterte Terrasse, die die Kinder für Spiele nutzten (Abb. 23, 47, 48)

Großer Kastanienbaum, den Frau Zumpfe als Baldachin für den Spielbereich neben dem Tor zur Teigwarenfabrik ihres Vaters in Erinnerung hatte Schaukel, Turngeräte und Sandkasten (Abb. 22, 45) Von Scharoun entworfene, wellenförmige Bahn auf einem Sockel aus hellbraunem Backstein; die Kinder saßen in kleinen Waggons mit Rädern und rollten die MiniaturAchterbahn hinunter (Abb. 21, 46)

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Gespräch mit Helga Zumpfe

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ʪ Grundriss Erdgeschoss mit Lokalisierung von Frau Zumpfes Erinnerungen. [42]

Standort des großen Vogelkäfigs im Wintergarten, in dem viele kleine Vögel gehalten wurden Tür mit bernsteinfarbenen Bullaugen auf Augenhöhe eines Kindes; Frau Zumpfe erinnert sich, dass sie von Tür zu Tür lief, um die Welt in verschiedenen Farben zu sehen (Abb. 75 – 77) Wintergartentisch: ein Platz für Mahlzeiten und für festliche Anlässe (Abb. 10, 72, 73) Tür mit blauen Bullaugen (Abb. 30, 78) Abgesenkter Bereich mit üppiger Bepflanzung (Abb. 32, 33, 74) Die Vorhänge vor der Verglasung wurden an Winterabenden und bei Gewittern meist zugezogen; bei solchen Stürmen fühlte sich das Haus für Helga offen und ungeschützt an (Abb. 71) Der freistehende Kamin wurde entfernt, nachdem die Familie das Haus verlassen hatte (Abb. 4, 71)

Wohnzimmersofa, auf dem Brettspiele oder Musik gespielt wurden und wo die Familie abends laut vorlas (Abb. 11, 31) Tür mit orangefarbenen Bullaugen (Abb. 80) Großes rundes Fenster zur hinteren Terrasse (Abb. 23, 24, 48) Kinderspielzimmer (Abb. 5, 49) Breite Fensterbank und die zwei quadratischen Fenster, durch die die Kinder nach draußen klettern konnten (Abb. 28, 29, 50) Große Kreidetafel, die zum Zeichnen und später für Hausaufgaben genutzt wurde (Abb. 26, 51) Individuelle Ablagefächer für jedes der Kinder mit verschiedenfarbigen Türen. Helgas Fach war gelb und befand sich ganz unten (Abb. 26, 51) Küche, in der die Kinder fleißig mithelfen mussten

Treppe zum Keller. Der unterirdische Raum ängstigte Helga. Neben den Diensträumen enthielt er Charlotte Schminkes Dunkelkammer

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Gespräch mit Helga Zumpfe

HAUS SCHMINKE

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ʪ Grundriss Obergeschoss mit Lokalisierung von Frau Zumpfes Erinnerungen. [43]

Auskragender Balkon mit Blick in den Garten (Abb. 36, 62, 63)

Das Bett von Helgas Mutter (Abb. 60, 61) Das Bett von Helgas Vater. Helga schlief dort, während er im Krieg war (Abb. 60, 61) Tür mit roten Bullaugen (Abb. 79)

Wand mit Einbauschränken im Flur, wo die Kinder ihre Kleidung aufbewahrten, sodass ihre kleinen Zimmer als reine Schlafplätze dienten (Abb. 55) Klappbetten im Mädchenzimmer (Abb. 34, 35, 58) Schlafnische, die von Haralds Zimmer abgetrennt wurde, wodurch das Mädchenzimmer drei Betten erhielt (Abb. 59) Schlafzimmer von Harald, dem ältesten und einzigen Jungen der vier Geschwister

Zweigeschossiger Raum der Eingangshalle; die Großzügigkeit des Hauses ist eine prägende Erinnerung für Frau Zumpfe (Abb. 5, 24, 53)

Treppengeländer, auf dem die Kinder rutschten (Abb. 52)

Gästezimmer, in dem Scharoun wohnte, wenn er die Familie besuchte (Abb. 56, 57)

HAUS SCHMINKE

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ʪʪDer Eingang zu Haus Schminke, in dem Helga Zumpfe von 1933 bis 1948 lebte, in einer Aufnahme von 2015. [44]

ʪBlick vom Eingangsvordach auf den Kinderspielplatz unter dem Kastanienbaum. Ursprünglich gab es hier einen großen Sandkasten, eine Schaukel und Turngeräte. Die Wand links trennte das Haus von der nebenan gelegenen Nudelfabrik der Familie. [45]

ʤDie kleine gewellte Schienenbahn auf braunem Backsteinsockel (im Vordergrund) wurde von Scharoun speziell für die Kinder entworfen. In Wägelchen sitzend, kaum größer als ein Schuhkarton, rollten sie die Miniatur-Achterbahn hinunter. Fotos aus der Zeit zeigen, dass die Schienenführung damals noch deutlich oberhalb des Geländes verlief (Abb. 21, 22). [46]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤDie gepflasterte Terrasse außerhalb des Wintergartens, auf der die Kinder spielten. [47] ʦEin großes Bullaugenfenster im Kinderspielzimmer mit Blick auf die Terrasse. [48] ʦʦJedes Kind hatte ein eigenes Fach im Spielzimmer. Helgas war gelb, und da sie die jüngste war, auch das unterste. [49]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤDie breite Fensterbank im Spielzimmer war niedrig genug als Spielfläche für die Kinder. Im Fenster darüber ließen sich zwei Flügel öffnen, sodass die Kinder nach draußen klettern konnten. Lediglich im Spielzimmer finden sich derartige Fensterflügel in der unteren Reihe. Anderswo im Haus lagen sie höher. [50]

ʦDie Tafel im Spielzimmer, von den Kindern zum Zeichnen und später auch für Hausaufgaben genutzt. [51]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʨDie Kinder rutschten das lange Treppengeländer hinunter. Unter der Treppe befindet sich der Durchgang zu Speisekammer und Küche. [52]

ʦUmsäumt von der nach oben führenden Treppe liegt das Esszimmer diametral gegenüber dem Spielzimmer, jenseits der weitläufigen Eingangshalle. [53]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤDie Fenster am oberen Treppenabsatz öffnen den Blick zum Garten. [54] ʦEine eingebaute Schrankwand im Flur außerhalb der Zimmer, sodass diese in erster Linie zum Schlafen dienten. [55]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

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ʪDas Gästebad mit einer Tür zum Flur wie auch zum Gästezimmer. [56] ʤDas Gästezimmer, in dem Scharoun bei seinen Löbau-Besuchen übernachtete. In der Planungsund Bauphase des Hauses entstanden zwischen Architekt und Familie enge freundschaftliche Beziehungen, die über den Zweiten Weltkrieg hinaus und auch bis in Frau Zumpfes Erwachsenenalter andauerten. [57]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤDas Zimmer der Mädchen, ursprünglich ausgestattet mit Waschbecken, Klappbetten und an die Wand klappbarem Schreibtisch. [58]

ʦSpäter wurde das Zimmer der Mädchen um eine zusätzliche Schlafnische erweitert, die man von Haralds Zimmer abtrennte. [59]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤUrsprünglich befand sich in der Mitte des Elternschlafzimmers eine Wand am Kopfende vom Bett des Vaters. [60]

ʦHelga schlief im elterlichen Schlafzimmer im Bett ihres Vaters während dessen kriegsbedingter Abwesenheit. [61]

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ʪʪDer Balkon neben Helgas Elternschlafzimmer, der in den Garten hineinragt und einen Blick darauf bietet. [62]

ʪʤVom Balkon der Eltern führt eine Treppe direkt auf die darunterliegende Terrasse und in den Garten. [63, 64]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʤEin Blick auf den großen Teich mit Nachbarhäusern im Hintergrund, die nach Frau Zumpfes Ansicht „da nicht hinpassen“. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg entlang der Kirschallee gebaut. [65]

ʦBesonders gerne spielten die Kinder auch auf dem Gelände um den Teich herum. Im Winter jedoch durften sie sich nicht zwischen Haus und Teich bewegen, damit die Eltern den Blick auf den unberührten Schnee genießen konnten. [66]

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ʪDie Löbauer gaben dem Haus den Spitznamen „Nudeldampfer“, in Anspielung auf Fritz Schminkes angrenzende Nudelfabrik und die nautischen Elemente in Scharouns Architektur. [67]

ʤIm Sommer schwammen die Kinder im Teich, im Winter liefen sie auf ihm Schlittschuh. [68]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

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ʪSteinerne Stufen führen vom Garten zum Haus. [69] ʤAn der Stelle des Flügels stand ursprünglich ein freistehender Kamin im Wohnzimmer. [70]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʪʪDie Offenheit des Hauses war Frau Zumpfe mit am stärksten im Gedächtnis verhaftet, sichtbar hier im Übergang vom Wohnzimmer zum Garten und zum Wintergarten. [71]

ʤIm Wintergarten nahm die Familie häufig ihre Mahlzeiten ein und beging hier vor dem Krieg festliche Anlässe. Hier wurde auch der Weihnachtsbaum aufgestellt und das Osterfrühstück serviert. [72]

ʦNeben dem Tisch befand sich eine Voliere mit vielen kleinen Vögeln. [73]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

ʨRückblickend empfindet Frau Zumpfe den Wintergarten als den außergewöhnlichsten Ort im Haus. [74]

ʦKreisförmige Deckenelemente und Bullaugen in den Türen, die zum Garten führen. [75] ʦʦScharoun platzierte diese Bullaugen auf Augenhöhe der Kinder. Frau Zumpfe erinnert sich, wie sie von Tür zu Tür lief, um die Welt durch verschiedenfarbiges Glas zu betrachten. [76]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

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ʪEin Blick durch das bernsteinfarbene Glas in der Osttür des Wintergartens. [77] ʪEin blau gefärbter Blick durch die Westtür des Wintergartens. [78] ʪEin rot gefärbter Blick durch eine Tür im oberen Flur. [79] ʤEin orangefarbener Blick durch die Tür im Esszimmer. [80] ʦʦDas am Abend erleuchtete Haus. [81]

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Gespräch mit Helga Zumpfe

Anmerkungen 1

Peter Blundell Jones, „A Forty Year Encounter with Hans Scharoun: Commentary on the Submission of a PhD by Publication“ (Ergänzung zur Dissertation, University of Sheffield, Juni 2013), S. 43, https://core.ac.uk/download/ pdf/20344024.pdf; eine knappe Darstellung des Hauses und seiner Raumwirkung findet sich in: Carsten Krohn, Hans Scharoun: Bauten und Projekte, Basel: Birkhäuser, 2018, S. 68. Blundell Jones nannte das Haus „uneingeschränkt modern“ und Krohn bezeichnete es als „Schlüsselbau der organischen Architektur“.

2

„Haus Schminke war der letzte offen modernistische Entwurf Scharouns, bevor die Nazis einen ‚völkischen‘ Zwangsstil verordneten. Fortan sah Scharoun sich genötigt, seine Häuser nach außen hin zu tarnen und seine Experimente im Inneren fortzuführen.“ Flora Samuel und Peter Blundell Jones, „The Making of Architectural Promenade: Villa Savoye and Schminke House“, arq: Architectural

Research Quarterly 16, Nr. 2, Juni 2012): S. 108 – 124. 3

Zur Dokumentation des kulturellen Umfelds im damaligen Breslau, einschließlich fortschrittlicher Auffassungen beim Einsatz von Farben (und anderen Aspekten in der Architektur), siehe Deborah Ascher Barnstone, Beyond the

Bauhaus: Cultural Modernity in Breslau, 1918 – 33, Ann Arbor: University of Michigan Press, 2016. 4

Krohn, Hans Scharoun, S. 8.

5

J. Christoph Bürkle, Hans Scharoun, Basel: Birkhäuser, 1993, S. 84.

6

Peter Blundell Jones, Hans Scharoun, London: Phaidon Press, 1995, S. 77.

7

Krohn, Hans Scharoun, S. 11. Der Begriff „von innen nach außen“ wurde von Theodor Fischer und später von Hugo Häring verwendet, laut Peter Blundell Jones in Hugo Häring: The Organic versus the Geometric, Stuttgart: Edition Axel Menges, 1999.

8

Das ursprünglich auf dem stufigen Terrain vorgesehene Heim im englischen Landhausstil konnte Fritz Schminkes Vater trotz Vorbereitungsarbeiten nie verwirklichen.

9

Peter Blundell Jones schreibt die Gartengestaltung Herta Hammerbacher und Hermann Mattern zu in „Architect and Landscape Architect Working Together: Scharoun and Mattern“, in: Relating Architecture to Landscape, (Hrsg.) Jan Birksted, London: E & FN Spon, 1999. Sich zu Teilen auf die Dissertation der Landschaftsarchitektin Claudia Feltrup stützend, stellt Klaus Kürvers allerdings fest, dass keinerlei schriftliche Nachweise oder Skizzen belegten, dass Hammerbacher oder Mattern den Garten entworfen hätten. Kürvers weist aber auf Hammerbachers Einfluss auf die Gartenbepflanzung hin sowie auf eine Aufzeichnung von Hammerbacher und Mattern, die 1933 Haus Schminke besuchten. Für eine eingehende Untersuchung zu Haus Schminke siehe Kürvers, „Entschlüsselung eines Bildes – Das Landhaus Schminke von Hans Scharoun“, Dissertation, Universität der Künste Berlin (UdK), 1996, http://klausk.berlin/ architektur/publikationen/entschluesselung-eines-bildes/.

10

Samuel and Blundell Jones bezeichnen es als „ein quer durch den Garten dampfendes Schiff“, „Architectural Promenade“, S. 122.

11

Samuel und Blundell Jones, „Architectural Promenade“ S. 109.

HAUS SCHMINKE

12

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Lediglich eins von Scharouns Projekten, das Mehrfamilienhaus in der Berliner Siemensstadt, findet Erwähnung in Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson

The International Style: Architecture since 1922, New York: W. W. Norton, 1932 [deutsch: Braunschweig: Vieweg, 1985], wenngleich in nicht gerade schmeichelhafter Weise: „Die Fensteranordnung ist beliebig und kompliziert“, S. 207. Bürkle dagegen drückt es neutraler aus: „Die Definition organischer Architektur als Phänomen der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts und damit auch die Architektur Hans Scharouns läßt sich bis heute nur schwer einordnen. Die Historiographie der modernen Architektur ist bis in die achtziger Jahre selektiv vorgenommen worden.“ Hans Scharoun, S. 9. 13

Stiftung Haus Schminke, Zugriff am 22. Februar 2020, https://www.stiftunghausschminke.eu/de/Stiftung/.

14

Fritz Schminkes Verhältnis zum Dritten Reich wurde kürzlich von seiner Urenkelin Anael Berkovitz untersucht; siehe Frank Seibel, „Ein ehrenwertes Haus“, Sächsische Zeitung, 18. Oktober 2017, https://www.saechsische.de/ plus/ein-ehrenwertes-haus-3797827.html.

15

Ellos Vater hatte einen jüdischen Elternteil und musste vor dem NS-Regime fliehen. Die an multipler Sklerose schwer erkrankte Mutter war nicht in der Lage, sich um das Mädchen zu kümmern.

16

Nach dem Krieg entwarf Scharoun ein Haus für Fritz Schminke in Celle, das allerdings nie gebaut wurde.

17

Klaus Kürvers macht dies deutlich in dem Film Mit Licht gebaut: Ein „Lebens-

schiff“ von Hans Scharoun. Dokumentarfilm, Deutschland, 2012, Buch und Regie: Kerstin Stutterheim und Niels-Christian Bolbrinker. 18

Als die Kinder schließlich älter waren, wurde ein Tisch im Spielzimmer für das Anfertigen ihrer Hausaufgaben aufgestellt.

19

Der Stauraum in Haus Schminke ist perfekt in den Bereich unterhalb der Treppe eingepasst. Zur Geschichte der Frankfurter Küche siehe Juliet Kinchin und Aidan O’Connor, Counter Space: Design and the Modern Kitchen, New York: Museum of Modern Art, 2011. Informationen zur Innenarchitektin Grete Schütte-Lihotzky siehe Carmen Espegel, Architects in the Modern Movement, New York: Routledge, 2018.

20

Die Familie hatte draußen auch Kaninchen in einem Käfig, und Helgas Mutter hielt Hühner in einem Stall auf dem Grundstück. Zudem gehörten auch diverse Nutztiere zur Nudelfabrik, u. a. Hühner, Truthähne und Schweine.

21

Sie verfasste das Buch Aus dem Tagebuch der kleinen Kinder: Ein Blick in die

Kleinkindzeichnungen, Borchen: Ch. Möllmann, 2002.

Unité d’Habitation Le Corbusier Marseille 1952

Die Unité d’Habitation war Le Corbusiers Antwort auf den enormen Wohnraumbedarf in Frankreich nach den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg.1 Le Corbusiers Konzept der hohen Wohndichte wurde zum ersten Mal mit der Unité in Marseille in die Praxis umgesetzt, und die Wohnanlage war ein Versuchsprojekt für neue Bautechniken und Materialanwendungen.2 Noch entscheidender war, dass in der Unité die Studien des Architekten zur Anwendung kamen sowie seine Vorstellungen hinsichtlich individuellen und kollektiven Wohnens realisiert wurden. „Es war mehr als nur Wohnen, mehr als nur Architektur: Es eröffnete einen neuen Lebensstil“, so Robert Furneaux Jordan.3 Und wie Jacques Sbriglio geltend macht, habe Le Corbusier „den Rahmen für eine sich verändernde Gesellschaft geschaffen.“4 Der erste Minister für Wiederaufbau und Stadtentwicklung des Landes, Raoul Dautry, erteilte Le Corbusier 1945 den Auftrag für die Unité. Später schrieb der Architekt, dass er unter der Bedingung, „frei von allen geltenden Bauvorschriften zu sein“,5 zugesagt habe. Im Verlauf des Projekts stellten der Architekt und sein Team Konventionen infrage und definierten Richtlinien und Vorstellungen für zeitgemäßes Wohnen neu, angefangen von Maßstäben im Städtebau (vorzugsweise Verdichtung in parkähnlichem Umfeld) über diejenigen einzelner Räume (Integration von Küchen in Wohnräume) bis hin zu kleinsten Armaturen (z. B. ergonomische Holztürgriffe).6 Auf seiner Modulor-Maßlehre fußend, leiten sich diese Planungen aus Le Corbusiers Konzeption von universeller Ästhetik durch Proportion ab, wobei sie ebenso die Bedürfnisse verschiedener Altersgruppen reflektieren, die in den Wohnungen zu Hause sein würden. (Abb. 4).7 Le Corbusier beschrieb das Verhältnis der einzelnen Unité-Wohnungen zum Gesamtgefüge des Bauwerks mit dem Bild von Flaschen in einem Weinregal. Das Gebäude, das in den ersten drei Jahren nach Eröffnung ein Sozialwohnungsbau

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Le Corbusier

ʤLuftbild der Unité d’Habitation in Marseille. [1]

war,8 beherbergt 337 Familien in 23 unterschiedlichen Wohnungstypen. Die prototypischen Wohneinheiten sind von oben nach unten und von unten nach oben ineinandergreifende Maisonettes. Bedingt durch dieses „Skip-Stop“ oder geschossüberspringende Baukastensystem ergeben sich Korridore – oder Innenstraßen, wie Le Corbusier sie nannte – auf lediglich sieben der achtzehn Stockwerke des Gebäudes. Diese Anordnung erhöht die funktionale Effizienz, gestattet Tageslichteinfall von verschiedenen Seiten und ermöglicht Querlüftung in den meisten Wohnungen. Le Corbusier suchte, sowohl innerhalb der Einheiten einen Bezug zur Natur zu erzeugen als auch auf der gemeinschaftlichen Dachterrasse und an der durchlässigen Gebäudebasis, die auf massiven Stützpfeilern, den sogenannten Pilotis, ruht. Die Architektur reagiert auf das mediterrane Klima mit charakteristischen Sonnenschutzvorrichtungen, rauer Betonstruktur und ausgeprägter Farbgestaltung.

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ʤ Kinder mit der Erzieherin Lilette Ripert (Madame Ougier) auf dem Dach der Unité. [2] ʨ Schnitt und Grundriss Dach von Le Corbusier. Blanche Lemco van Ginkel war im Büro Le Corbusiers am Entwurf des Dachgeschosses beteiligt. [3]

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Von den anvisierten individuellen Freiräumen bis hin zu ihren Gemeinschaftseinrichtungen (Abb. 2, 3, 5), entwickelte sich die Unité zu einem Modell für den Wohnungsbau, das weithin analysiert, kopiert und vereinnahmt wird.9 In seinem Buch

Modern Housing Prototypes behandelt Roger Sherwood häufig auftretende Kritikpunkte am Gebäude, u. a. die engen Wohnungen, die dunklen Hausflure und die unzweckmäßige Einkaufsstraße. „Nichtsdestoweniger“, schreibt er, „ist der Wohnblock von Marseille das wahrscheinlich meistkopierte Bauwerk des 20. Jahrhunderts. Sein Einfluss auf spätere Wohnbauformen war tiefgreifend, und in fast jedem Land finden sich unter verschiedensten Bedingungen gestaltete Varianten davon wieder. Mag es auch ein als Wohnhaus getarntes Denkmal sein, so sind modernes Wohnen und die Unité d’Habitation jedoch ein und dasselbe.“10

ʪ Eine von Le Corbusier kommentierte Zeichnung einer typischen „Skip-Stop“-Wohneinheit in der Unité, mit Symbolen für Erwachsenen- und Kinderbereiche sowie zur Nutzung der Räume. [4]

ʨ Von Le Corbusier angefertigte Quer- und Längsschnitte mit Angaben aller Gemeinschaftseinrichtungen im Gebäude. [5]

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Le Corbusier

ʤ Von Le Corbusier angefertigte Grundrisse (oben) und Schnitt (unten) von zwei typischen, ineinandergreifenden „Skip-Stop“-Wohneinheiten. [6, 7]

ʦ Gisèle Moreau in ihrer Wohnung in der Unité d’Habitation, 2015. [8]

Gespräch mit Gisèle Moreau

Im Alter von zehn Jahren zog Gisèle Moreau 1953 in die gerade fertiggestellte Unité ein. Seither hat sie den Wohnblock mit den Augen eines Kindes, einer Mutter und Großmutter gesehen. Sie schwärmte für das Bauwerk, dessen Geschichte und der in ihm verkörperten Vision von Le Corbusier: „Ich bin sehr stolz darauf, hier zu leben. Das allein schon reicht, mich glücklich zu machen. Wer kann schon von sich sagen, in einem historisch bedeutsamen Gebäude zu leben? … Ich habe es zu keinem Zeitpunkt bereut, hier zu wohnen, nie.“ Sie hat den weitaus größten Teil ihres Lebens in der Unité verbracht, abgesehen von Studienzeiten in England und den USA und auch einem kurzen Zeitraum in einem kleinen Haus in Marseille, nach der Geburt ihrer Kinder. Sie zog wieder bei „Corbusier“ ein, als auf der Etage direkt gegenüber ihrer Elternwohnung etwas frei wurde und ihre Mutter sie drängte, in das Gebäude zurückzukehren. „Im Jahr 1970

240

Gespräch mit Gisèle Moreau

bin ich mit meinem Mann zurückgekommen, und seither bin ich nicht mehr umgezogen und werde garantiert auch nie mehr umziehen“, sagte sie. Jetzt lebt die pensionierte Englischlehrerin wieder in der Einheit, in der sie aufgewachsen war und die sie von ihren Eltern geerbt hat. Im Wohnzimmer der oberen Etage ihrer Wohnung unterhielten wir uns im Jahr 2015 mit Frau Moreau, nachdem Bénédicte Gandini von der Fondation Le Corbusier uns vorgestellt hatte. Bei seiner Eröffnung war das Gebäude in städtischem Besitz, sodass Beamte und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst Vorrang bei der Vermietung hatten. Frau Moreaus Vater hatte in Französisch-Indochina in der französischen Luftwaffe gedient und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nach Marseille zurückverlegt. „Meine Mutter war ganz in das [Gebäude] hier verliebt und mein Vater war auch sehr interessiert, deshalb sind sie hierhergezogen“, entsann sie sich. Zu jener Zeit waren sie eine vierköpfige Familie: Gisèle; ihr drei Jahre jüngerer Bruder und ihre Eltern. Bald darauf wurden zwei weitere Jungen geboren.11 Wenn die Großmutter der Kinder immer wieder mal einige Monate zu Gast war, beherbergte die 98 Quadratmeter große Wohnung, die Frau Moreau nun alleine bewohnt, zeitweise sieben Personen.12 Das Gebäude erfüllte nicht nur den Zweck des reinen Obdachs: Mit dem Einzug wurde man auch Teil einer neuen Gemeinschaft. „Sofort gehörte ich zu einer

ʨDer im Bau befindliche Unité-Block, 1951. [9] ʦEin Mädchen mit Tretroller neben einem Betonpilotis. [10]

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ʤRennende Kinder auf der Dachterrasse des Gebäudes. [11]

Gruppe von Kindern. Ich hatte viele Freundschaften in dem Gebäude“, erinnerte sich Frau Moreau. „Meine beste Freundin war einen Tag vor mir eingezogen, das war an einem Dienstag, und bei mir war es der Mittwoch, direkt quer über den Flur [waren wir eingezogen], den wir Straße nennen. Wir waren gleich alt, und wir sind noch immer in regelmäßigem Kontakt.“ Derartige Beziehungen bedingten sich im Wesentlichen durch die Gebäudedichte wie auch durch das soziale Umfeld, das das Gebäude erzeugte, in dem die gemeinschaftlich genutzten Einrichtungen nicht nur zweckmäßig waren, sondern auch der zwischenmenschlichen Kommunikation dienten. Laut Frau Moreau war es Le Corbusiers Absicht, „einzelne Wohneinheiten in einem großen Komplex perfekt zu gestalten. Ich denke, da er hat gute Arbeit geleistet.“

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Gespräch mit Gisèle Moreau

ʤMit kleinen Segelbooten spielende Kinder am Planschbecken der Dachterrasse. [12]

Anders als ihr heutzutage städtischer Charakter, war die Umgebung des Wohnblocks 1953 noch eher ländlich (Abb. 9). „Es gab vier Bauernhöfe hier. Jeden Abend bin ich mit meiner kleinen Blechkanne los, um Milch zu holen. Können Sie sich das vorstellen? … Eigentlich kaum zu glauben!“, sagte sie lachend. Die Betonpilotis, die die schiffsgleiche Masse der Unité vom Boden anheben, ermöglichen Bewegungsfreiheit unterhalb des Gebäudes (Abb. 10, 43). Als Teil des öffentlichen Raums liegt am westlichen Fuß des Bauwerks ein Garten mit üppiger Vegetation und einer gängigen Spielplatzausstattung. Wenngleich nicht zum Gebäude gehörend, wird er häufig von den Bewohnern genutzt (Abb. 41). Frau Moreaus Lieblingsort in der Unité war das Dach. „Es ist und bleibt ein Wunder“, erklärte sie: „Noch immer haut es mich um, wenn sich die Fahrstuhltür öffnet und sich Himmel und Meer vor mir ausdehnen, einfach großartig! Ich habe dort

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ʤ Gemeinschaftsveranstaltungen in der Turnhalle auf dem Dach: Mitternachtsmesse (oben), eine Schulvorstellung (Mitte) und Schulkinder, die sich ein Puppenspiel ansehen (unten). [13 – 15]

einen guten Teil meines Lebens damit verbracht, meine Brüder, meine beiden Töchter und meine vier Enkelkinder zu hüten. Abends habe ich dort gepicknickt, meinen Unterricht vorbereitet, und gespielt haben wir auch“ (Abb. 11, 12, 16 – 21, 68 – 72). Auch heute noch geht sie oft zum Dach hinauf: „Besonders an Sommerabenden, wenn es abkühlt und es in der Wohnung noch etwas heiß ist, gehen wir hoch. Man trifft sich zum Aperitif oder zum Picknick. Und wir haben auch Veranstaltungen – zum Beispiel Filme, Tanz oder Musik.“ Im größten geschlossenen Raum auf dem Dach, in der sogenannten Turnhalle (le

gymnase), fanden während der ersten drei Jahre eine Reihe gemeinschaftlicher Aktivitäten statt: Theater, Tanzabende, Gottesdienste, ein Jugendklub, Partys, sowie Kommunions- und Hochzeitsfeiern (Abb. 13 – 15). „Mit dem individuellen Verkauf der Wohneinheiten kam sie ebenfalls auf den Markt, und jemand erwarb sie und machte daraus ein Fitnessstudio. Die Reaktion meines Vaters ist mir noch gut im Gedächtnis. Für ihn war das eine Katastrophe“, erinnerte sich Frau Moreau. Vor einigen Jahren wurde dieser Raum zu einer Galerie für Gegenwartskunst unter Leitung des Designers Ora-ïto umgestaltet, was unter den Bewohnern zu heftigen Kontroversen geführt hatte (Abb. 73). Frau Moreau aber hat das Unterfangen befürwortet: „Ich finde, eine Kunstgalerie trägt positiv zu allem schon Vorhandenen bei, aber einige Leute sind da ganz anderer Ansicht.“ Seit 2013 sind Teile des Daches am späten Nachmittag und Abend nur noch für Anwohner zugänglich, einschließlich des Kinderplanschbeckens und der umge-

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Gespräch mit Gisèle Moreau

ʤ Spielende Kinder im Planschbecken auf dem Dach. [16]

benden Betonsitze. Aufgrund der wachsenden Zahl externer Besucher sollten diese Einschränkungen den Bewohnern des Gebäudes mehr Privatsphäre gestatten. Nach Frau Moreaus Angaben belief sich die Zahl der Touristen im Jahr 2014 auf 80.000: „Eine wahre Invasion!“, rief sie. Nichtsdestotrotz ist sie entgegenkommend, bietet Führungen an und spricht bereitwillig über ihre Erfahrungen. „Das mache ich gerne, natürlich nur, wenn die Leute interessiert sind – ich möchte mich schließlich nicht aufdrängen. Kürzlich ging ich zu einer Ärztin, die auch meine Töchter kennt, die ja genau wie ich sind, denn sie sagte: ‚Immer, wenn Sie [alle] über Le Corbusier sprechen, sind Sie so begeistert!‘ Woraufhin ich dann sagte: ‚Das ist schließlich ein Familienunternehmen!‘“ Dann vertraute sie uns noch eine besondere Erinnerung an, die ganz eng mit dem amorphen „Betonfelsen“ auf dem Dach verbunden war (Abb. 17, 18, 71). „Und zwar war das genau die Stelle, an der ich mit einer Freundin saß – es war im August

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ʤ Kinder beim Sonnenbad auf einer schrägen Betonfläche auf dem Dach. [17] ʨAuf der Dachterrasse: Kletternde Kinder auf dem amorphen Betonfelsen (links), Kinder unter der Betonschräge (rechts). [18, 19]

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Gespräch mit Gisèle Moreau

ʤ Kinder erklimmen die Betonschräge auf dem Dach, eines von Frau Moreaus Lieblingsfotos des Gebäudes. [20]

ʨBalancierende Kinder zwischen den Trennwänden und dem Planschbecken auf der Dachterrasse unterhalb des Kindergartens. [21]

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ʤ Blick auf den Übergang zwischen Balkon und dem zweigeschossigen Wohnzimmer, in einer typischen Wohnung. [22]

1965. Wir sonnten uns, unser kleines Transistorradio spielte Musik, und plötzlich hörte die Musik auf und jemand sagte: ‚Wir bedauern sehr, den Tod des renommierten Architekten Le Corbusier bekannt geben zu müssen.‘“ Ihr Gesichtsausdruck beschrieb den damaligen Schock besser als Worte; es war klar, wie sehr diese Ankündigung sie betroffen gemacht hatte. Ihr ganz persönlicher Bezug zum Architekten aber hat angehalten: „Wenn ich ‚Le Corbusier‘ höre“ – sagte sie, erst links dann rechts und schließlich über die Schulter blickend – „bilde ich mir immer ein, es geht um mich. Wo immer ich bin auf dieser Welt, ‚Le Corbusier‘, ach – das bin ja ich! Für die Menschen, die hier leben, hat er eine enorme Bedeutung.“ Der charakteristische „Skip-Stop“-Zuschnitt der Unité-Wohnungen gestattet den Lichteinfall zu beiden Seiten und entsprechend Querlüftung. „Ich finde es immer noch ungewöhnlich; denn mir gefällt daran das Licht, das von beiden Seiten kommt, von Ost wie auch West“, beschrieb es Frau Moreau. „Die Wohnungen sind schon recht eng – das mögen manche Leute nicht, aber mir macht das nichts aus. Ich mag die doppelte Raumhöhe im unteren Teil, und durch die Treppe fühlt man

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Gespräch mit Gisèle Moreau

ʤ Blick auf die Kinderzimmer zur äußeren Loggia (oben) und das Wohnungsinnere (unten) mit der raumteilenden Schiebetafel. [23, 24]

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sich ein bisschen wie in einem Einfamilienhaus … Es ist so gar nicht luxuriös, wissen Sie, also überhaupt nicht, und man muss auch nicht so tun, als ob es das wäre. Aber so bin ich nun mal selber, also gefällt es mir“, ergänzte sie lachend. Großflächige Fensterfronten gestatten den Zugang zu angrenzenden, die Wohnfläche nach außen erweiternden Balkonen (Abb. 22). Die Wohnung von Frau Moreaus Familie weist einen der typischsten Grundrisse auf – unten das Wohnzimmer, darüber die Schlafzimmer – somit liegt die eine Loggia in doppelter Raumhöhe zur Ostfassade hin und die andere, eingeschossige auf der Westseite (Abb. 44 – 48). „Seinerzeit gab es sehr wenig Verkehr, und so öffnete meine Mutter die vier Fenster im Mai und schloss sie erst wieder im Oktober“, erinnerte sich Frau Moreau. Ganz Le Corbusiers Absicht entsprechend vergrößerten die Loggien den Wohnraum. Wenngleich der Verkehr zugenommen hat, behielt Frau Moreau die Angewohnheit ihrer Mutter zur ausreichenden Querlüftung bei und machte zudem die Loggia optisch zu einem Teil ihres räumlichen Wohnerlebnisses: „Ich praktiziere tatsächlich, was Le Corbusier gesagt hat – nämlich Wohnraumerweiterung. Was nicht heißt, ich würde immer da draußen sitzen, aber ich finde, dass es das Zimmer vergrößert. … Hören Sie die Zikaden?“

ʨ Ein Kind steigt in die Duschkabine. [25] ʦ Eine Frau kleidet im Elternschlafzimmer ein Baby auf dem eingebauten Wickeltisch an. [26]

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Gespräch mit Gisèle Moreau

ʤ Unabhängig von der Wohnungsgröße waren alle Unité-Küchen einheitlich. [27]

In Frau Moreaus Kindertagen befanden sich die Kinderzimmer auf der oberen, nach Westen hin gelegenen Etage.13 Dort, so erinnerte sie sich, hat sie als Kind die meiste Zeit verbracht (Abb. 23, 24, 54 – 56). „Ich glaube schon, dass ich mein Zimmer mochte“, sagte sie. „Vielleicht nicht mehr ganz so, als meine kleinen Brüder auf die Welt kamen, weil, na ja …“ In jedem Fall erinnerte sie sich deutlich an die Schiebetafel, die die beiden schmalen Räume voneinander trennte: „Von der Mittelstufe bis zur Universität habe ich an der Tafel gelernt. Ich habe sie ganz viel benutzt. Wirklich viel!“ Die Kinder teilten sich eine Dusche, zusätzlich verfügte jedes der Kinderzimmer über ein eigenes Waschbecken (Abb. 25, 57). Eine in dieser Zeit wahrlich komfortable Ausstattung für „preiswerten Wohnraum für arme Leute.“ „Ein Badezimmer für die Eltern, dann noch eine Dusche und zwei Waschbecken für die Kinder – das war völlig ungewöhnlich! Und meine Mutter hat gedacht: Genau richtig!“, erklärte Frau Moreau.

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ʤ Eine von innen wie außen zu öffnende boîte à provisions (Lieferklappe) und ein Eiskasten ermöglichten es, Lebensmittel, Zeitungen und Eis direkt vom Hausflur in jede Wohnung zu liefern. [28, 29]

ʨ Le Corbusiers Modell stellt das Verhältnis von Betontragwerk zu den „Schubladen“Einheiten dar. [30]

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Gespräch mit Gisèle Moreau

Das Schlafzimmer der Eltern befand sich, nach Osten liegend, im Zwischengeschoss, mit Blick auf das darunterliegende Wohnzimmer (Abb. 49, 53, 58). Als Teenager war Frau Moreau nicht sonderlich glücklich über dieses offene Raumarrangement. Wenn sie am späten Abend heimkehrte, „war es recht schwierig, nicht gehört zu werden“, erzählte sie lachend. Dies war das einzige an der Wohnung, was sie gerne anders gesehen hätte. Eine konventionellere Raumanordnung „wäre da wohl hilfreicher gewesen.“ Frau Moreau beschrieb eine Reihe kindgerechter Gestaltungsdetails in den Wohnungen: So zum Beispiel ein eingebauter Wickeltisch mit integrierten Schubladen im Elternschlafzimmer, der über die Jahre viel Verwendung fand, sowohl für Frau Moreaus jüngere Brüder als auch für ihre eigenen Kinder (Abb. 26, 58). Eine weitere Spezialanfertigung waren die Holzstufen der von Jean Prouvé entworfenen Treppe zur oberen Wohnungsebene (Abb. 59 – 61). Der einzelne Auftritt bestand aus zwei parallel gesetzten Holzbrettern, zwischen beiden eine schmale Aussparung, gerade breit genug für Finger, um Kleinkindern das Hinaufkrabbeln der Stufen zu erleichtern. Die Treppe selbst war mit zwei unterschiedlichen Geländern ausgestattet: ein höher montiertes entlang der Wand für Erwachsene und ein doppeltes Geländer auf der offenen Seite, an dem sich Kinder jeden Alters gut festhalten konnten. Unabhängig von ihrer jeweiligen Größe war jede Unité-Wohnung ursprünglich mit der gleichen Küche ausgestattet. Nach Frau Moreaus Beschreibung „ziemlich klein, aber für die damalige Zeit sehr modern“ (Abb. 27). „Der Entwurf war von Charlotte Perriand, und meine Mutter sagte: ‚Es leuchtet ein, dass eine Frau das geplant hat, weil alles sofort griffbereit ist.‘“ Als sie einzogen, hatte die Küche besonders auf Frau Moreaus Mutter eine recht futuristische Wirkung. Sie selbst, sagte sie, sei aber „zu jung gewesen, um das zu verstehen“. Die kleine Küche wurde nicht als einengend empfunden: „Meine Mutter hat das nie gestört, auch nicht, als wir so viele waren.“ Nur wenige Jahre war La boîte à provisions (die Lieferklappe) in der Marseiller Unité in Betrieb: Diese den Etagenflur und die Wohneinheit verbindende Lade ermöglichte die Lieferung von Lebensmitteln, auch wenn die Bewohner nicht zu Hause waren (Abb. 28, 29).14 Auf die gleiche Weise wurde man mit Eis versorgt, wie Frau Moreau es beschrieb: „Der Eismann schob jeden Morgen von draußen einen Eisblock direkt in den Eiskasten; das ging so zwei, drei Jahre lang, bis die Leute anfingen, Kühlschränke zu kaufen. Ich erinnere mich daran aber wirklich noch sehr gut.“ Wenngleich auf Dauer nicht gerade zweckmäßig, sind solche Vorrichtungen doch bezeichnend für Le Corbusiers Anliegen, den Bewohnern der Unité einen gewissen Komfort zu bieten. „So eine Art Utopie, sag’ ich immer, eben weil es nicht wirklich funktioniert hat“, war Frau Moreaus Kommentar.

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Als sehr gelungen empfand Frau Moreau die Lärmdämmung zwischen den Wohneinheiten der Unité. So veranschaulicht das berühmte Foto, auf dem eine Hand ein Modul in ein Modell des Gebäudes schiebt (Abb. 30), wie jede Wohnung ein in sich geschlossener Schubkasten in einem soliden Betontragwerk ist.15 Gewohnt, zu Hause Schuhe zu tragen und sich nie Gedanken machen zu müssen, zu laut zu sein, erfuhr Frau Moreau von der Notwendigkeit von Hausschuhen erst, als sie in einem „normalen Haus“ lebte und sich dort die Nachbarn beschwerten. Im Lauf der letzten Jahrzehnte hat sich Lärmbelästigung aber doch zu einem Problem in der Unité entwickelt, da Eltern ihren Kindern zunehmend das Spielen auf den Fluren gestattet haben, was von früheren Bewohnergenerationen nicht geduldet wurde (Abb. 63). „Natürlich, als ich klein war, war es strikt verboten, ‚dans la rue‘ zu spielen – der sogenannten Straße, also im Hausflur“, erzählte Frau Moreau. „Und zwar strikt verboten deshalb, weil Le Corbusier, da habe ich keinen Zweifel …, weil Le Corbusier den Flur absichtlich recht dunkel gestaltete; der sollte ja der Übergang vom grellen Licht hier draußen [in Marseille] zur Entspannung in der Wohnung sein. Hätte er gewollt, dass Leute da verweilen und dass dort Kinder spielen, wären die Korridore heller ausgefallen.“ Sie wusste, dass sie und jüngere

ʨLilette Ripert und ihre Schüler im Kindergartenpavillon auf dem Dach. [31, 32]

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ʤ Schüler in Lilette Riperts Grundschule im siebzehnten Stock der Unité, direkt unterhalb der Dachterrasse. [33]

Eltern, auch ihre eigene Tochter, in dieser Hinsicht nicht derselben Meinung waren: „Also, ich habe nicht im Hausflur gespielt, meine Kinder haben nicht im Hausflur gespielt, aber meine Enkelkinder haben dann doch im Hausflur gespielt!“ Der entsprechende Lärm war in Frau Moreaus Wohnung deutlich vernehmbar, was durch das unlängst erfolgte Entfernen der kleinen Eingangsdiele und damit einer zweiten Tür nicht gerade besser wurde – ein Umbau, den sie gegen den Rat ihres verstorbenen Mannes durchgeführt hatte. Als Frau Moreau klein war, nahmen die von den Hausfluren verbannten Kinder die großzügigen Treppenaufgänge der Unité in Beschlag: „Wir spielten halt in den Treppenhäusern. Da konnten wir tun und lassen, was wir wollten.“ Sie entsann sich der Versteckspiele dort. (Dach und Gebäuderückseite boten allerdings auch gute Gelegenheiten zum Verstecken.) Anders als die dunklen „Innenstraßen“ sind die Trep-

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penhäuser tatsächlich gut beleuchtet wie auch belüftet (Abb. 64, 65). Gleichermaßen ist der Zugang zu vielen der Gemeinschaftsräume, die auf den Etagen zwischen den „Skip-Stop“-Erschließungskorridoren liegen, nur über die Treppen möglich. Dazu gehören ein Filmklub, eine Bücherei und ein Atelier, wo Frau Moreau weiterhin Malunterricht nahm. Eine weitere bedeutsame Gemeinschaftseinrichtung war der von Lilette Ripert (Madame Ougier) geleitete Kindergarten. Sowohl mit Gisèles Mutter als auch mit Le Corbusier befreundet, war sie eine entschiedene Verfechterin des Gebäudes (Abb. 31). In den vom Architekten speziell für diesen Zweck gestalteten Räumlichkeiten machte die Erzieherin die Kinder mit Kunst, Zeichnen und Musik vertraut. Le Corbusier „entwarf die Schule eigentlich ganz für sie“, sagte Frau Moreau,16 die selbst diese Einrichtung nicht besucht hatte, jedoch ihre jüngeren Brüder, ihre beiden Töchter und eines ihrer Enkelkinder (Abb. 32, 33). Als Frau Moreau klein war, genossen die Unité-Kinder weitgehende Freizügigkeit. Verglichen mit Freunden von außerhalb, die, um jemand zu besuchen, immer um Erlaubnis bitten mussten, erinnerte sie sich eines deutlichen Empfindens von Unabhängigkeit und Sicherheit. „Ich fühlte mich hier völlig frei“, entsann sich Frau Moreau. „Und meine ältere Tochter, die fünfundzwanzig Jahre hier gelebt hat, sagt immer wieder: ‚Es ist ein Paradies für Kinder!‘“ Frau Moreau rief sich die viel zitierten Ladenstraßen in der Unité ins Gedächtnis: „Als ich ein Kind war, gab es überall im dritten Stock Geschäfte und auch ein paar im vierten Stock, alle möglichen Läden, wo wir fast jeden Tag einkaufen gingen … Und dann, vielleicht so zehn Jahre später, Anfang der Sechzigerjahre, wurde hier nebenan [in der Umgebung] der erste Supermarkt eröffnet, der immer noch hier ist. Also gingen die Leute dorthin, und nach und nach schlossen die kleinen Läden. Aber zuvor war hier viel los, im dritten Stock herrschte Betriebsamkeit. Daran erinnern sich nur noch wenige Menschen.“ Bei unserem Besuch im Jahr 2015 waren noch einige kleine Läden geöffnet, darunter eine Buchhandlung sowie ein kleines Café und ein Geschenkeladen. Doch schienen diese eher auf architekturbegeisterte Besucher als auf Bewohner des Gebäudes zugeschnitten zu sein, und die Geschäftigkeit in Frau Moreaus Erinnerungen gehörte der Vergangenheit an. „Es gibt da einen Bäcker, aber der wird wahrscheinlich bald schließen … Ach, ich weiß gar nicht mehr, aber da waren wirklich endlos viele Geschäfte im dritten und vierten Stock“, erzählte sie (Abb. 66, 67). Nach Fertigstellung der Unité waren die Bürger Marseilles von dem Bauwerk gar nicht angetan. „Einige Leute fanden es ausgesprochen hässlich, als es gebaut wurde“, berichtete Frau Moreau. „Ich war wohl zu jung, um mir eine Meinung zu bilden, aber hässlich fand ich es nie.“ Man nannte das Gebäude „la maison du fada“–

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das Irrenhaus 17 – ein Spitzname, der sich bis heute gehalten hat. Frau Moreau und andere Bewohner störten sich überhaupt nicht daran, denn im provenzalischen Dialekt bedeutet der Begriff fada so viel wie „von Feen berührt“ zu sein, und tatsächlich hat das Gebäude für manch einen wegen der Architektur als auch als Zuhause etwas Magisches. „Als Kind war mir durchaus klar, dass es anders und origineller war als konventionelle Gebäude. Da bin ich mir ganz sicher“, sagte sie. Die Unité verkörpert eine Idee von Gemeinschaft, „was Le Corbusier in der heutigen Gesellschaft so wertvoll macht“, betonte Frau Moreau. „Will man ganz für sich bleiben und mit niemand was zu tun haben – auch kein Problem. Aber wie gesagt, für Junggesellen, Witwen, Witwer ist das hier optimal … denke ich jedenfalls! Weil es halt so einfach ist, Leute kennenzulernen. Es sind ja so viele Menschen hier. Und es gibt Angebote, sodass man ständig Leuten begegnen kann. Jawohl, das funktioniert noch immer. Nicht mehr ganz so wie früher, aber es gibt genug Leute, wissen Sie, die Le Corbusiers Geist bewahren wollen!” Frau Moreau zufolge wirken sich die Unité und ihre Anordnung von Wohneinheiten und Gemeinschaftsräumen auf das Verhalten der Nachbarn aus. Die Architektur gibt den Menschen „die Möglichkeit, Nachbarn zu helfen, wenn sie krank sind oder gerade aus dem Krankenhaus entlassen wurden … man besucht sie, bringt Essen und kümmert bzw. sorgt sich um sie.“ Und sie fügt hinzu: „So gesehen macht es vielleicht die Menschen besser. Es gibt ihnen die Gelegenheit zur Hilfsbereitschaft.“ In Frau Moreaus Augen war der Bau in Marseille der „schönste“ der von Le Corbusier errichteten Unité-Blöcke: „Es liegt daran, dass sie ein Vermögen dafür ausgegeben haben, und für die anderen gab es nicht so viel Geld.“ Nachdem sie mehrere andere Unité-Bauten besucht hatte und nicht nur mit deren Aussehen sondern auch mit der Nutzung vertraut war, musste sie feststellen, dass sich ihre Unité doch am deutlichsten verändert hatte. „Ich würde meinen, Le Corbusiers Geist ist weniger in Marseille präsent als in Nantes, weil man dort immer noch seinen Vorstellungen entsprechend lebt“, erklärte sie. „Sie haben das kulturelle Zentrum [beibehalten], auch den sozialen Wohnungsbau, außerdem haben sie Atelierräume und Seminare. Und alles ist dort kostenlos.“

ʪ Gisèle Moreau im Gespräch mit den Autoren, 2015. [34]

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Loggia-Türen, die Gisèles Mutter einen Großteil des Jahres offenhielt: „Meine Mutter hat die vier Fenster im Mai geöffnet und erst wieder im Oktober geschlossen.“ (Abb. 22, 44 – 48)

Treppe, die die Wohnung laut Frau Moreau wie ein Haus erscheinen lässt (Abb. 49, 59 – 61)

Die „sehr moderne“ Küche, die von Gisèles Mutter sehr geschätzt wurde (Abb. 27, 50) Eiskasten und die Lieferklappe, die sowohl vom Flur als auch von der Wohnung aus zugänglich war. Es konnten auch während der Abwesenheit der Bewohner Eisblöcke und Lebensmittel geliefert werden (Abb. 28, 29) Hausflur („Innenstraße“): Kinder durften nicht im Flur spielen, als Frau Moreau ein Kind war, stattdessen nahmen sie die Treppenhäuser in Beschlag (Abb. 63)

Wohnung auf der anderen Seite des Flurs – Frau Moreau sagte: „Meine beste Freundin war einen Tag T vor mir eingezogen, das war an einem Dienstag, und bei mir war es der Mittwoch … Wir waren gleich alt, und wir sind noch immer in regelmäßigem Kontakt.“

ʤGrundriss untere Ebene mit Lokalisierung der Erinnerungen von Frau Moreau. [35] ʦGrundriss obere Ebene mit Lokalisierung der Erinnerungen von Frau Moreau. [36]

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Zwischengeschoss, wo sich das Schlafzimmer von Gisèles Eltern befand. Das Schlafzimmer der Eltern war offen zum darunterliegenden Wohnzimmer, was es für Frau Moreau als Teenager schwer machte, am Abend unbemerkt nach Hause zu kommen (Abb. 49, 53) Eingebauter Wickeltisch, auf dem Gisèles Brüder und später auch ihre eigenen Kinder gewickelt wurden (Abb. 26, 58)

Die Kinderdusche war ein Ausstattungsmerkmal, das Gisèles Mutter sehr beeindruckte und sie zum Einzug in das Gebäude bewog (Abb. 25, 57)

Die Schiebetafel, die Gisèle als Kind und während ihres gesamten Studiums benutzte (Abb. 24, 55, 56)

Zugang zur Kinderloggia, die die meiste Zeit des Jahres offenblieb und eine Querlüftung der Wohnung ermöglichte (Abb. 23, 54)

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ʪʪ ʦDie Unité d’Habitation von Osten gesehen, 2015. Gisèle Moreau und ihre Familie gehörten zu den ersten Bewohnern des Gebäudes. [37 – 39]

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ʪʪBlick von unten auf die Ostfassade des Wohnblocks mit bunten Markisen und Balkonwänden sowie den vertikalen, markanten Brisesoleils aus Beton der Einkaufsstraße. [40]

ʤStädtische Grünanlage und Spielplatz, westlich des Gebäudes gelegen. [41] ʦEingangsvordach und Foyer an der Ostseite des Gebäudes. [42]

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ʤDer durchlässige Gebäudesockel mit den Betonpilotis, die den Bau über den Boden heben. [43] ʦBlick von unten auf die Westfassade mit den Balkons der „Skip-Stop“-Wohnungen, mit abwechselnd einfacher und doppelter Geschosshöhe. Frau Moreaus Balkon mit doppelter Deckenhöhe vor ihrem Wohnzimmer ist unter dem Brisesoleil der Einkaufsstraße zu sehen, mit einer Pflanze in der Ecke. [44]

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ʤFrau Moreaus Wohnzimmerbalkon. [45] ʦNachdem Frau Moreau, mit nur kurzer Unterbrechung außerhalb, in verschiedenen Wohneinheiten der Unité gelebt hatte, war sie nun wieder in der Wohnung zu Hause, die ihre Familie 1953 bezogen hatte. [46]

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ʪFrau Moreau erinnerte sich, dass ihre Mutter die Loggia-Türen im Mai öffnete und erst im Oktober wieder schloss; die Loggia vergrößerte den Wohnraum, großen Verkehrslärm gab es in ihrer Kindheit noch nicht. [47]

ʤSie behielt diese Angewohnheit bei, schloss jedoch, wegen des Lärms, gelegentlich die Türen. [48]

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ʤBlick in das Wohnzimmer mit doppelter Deckenhöhe, im Hintergrund Küche und Wohnungstür. Das Schlafzimmer befindet sich im offenen Zwischengeschoss, worüber Frau Moreau als Teenager nicht sehr glücklich war, da sich eine verspätete abendliche Heimkehr nicht verheimlichen ließ. [49]

ʦBei einer unlängst erfolgten Küchenrenovierung hat Frau Moreau Charlotte Perriands Originalkonzept und -anordnung sowie diverse Details beibehalten (wie etwa die Holzgriffe der oberen Einbauschränke), jedoch das ursprüngliche Farbschema und die Materialwahl abgewandelt. [50]

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ʪʪBlick vom Zwischengeschoss hinunter ins Wohnzimmer. [51] ʤDie Diele zwischen Elternschlafzimmer und den Kinderzimmern. [52] ʦDas frühere Elternschlafzimmer im Zwischengeschoss, nunmehr dasjenige von Frau Moreau. [53]

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ʪʪFrau Moreaus oben gelegenes Wohnzimmer war früher in zwei Kinderzimmer unterteilt. Die „Skip-Stop“-Konfiguration der Wohneinheiten sorgt für großzügige Querlüftung. [54]

ʪDie beiden recht schmalen Kinderzimmer im Originalzustand in einer leerstehenden Unité-Wohnung. [55]

ʤ Frau Moreau erinnerte sich gut an die verschiebbare Schreibtafel zwischen den Kinderzimmern, die sie seit ihrer Kindheit bis in ihre Studententage benutzte. [56]

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ʪDer abgerundete, schiffsartige Einstieg in die Kinderdusche. [57] ʤIm Elternschlafzimmer, bei den vertikalen Lamellen in der Brüstung im Zwischengeschoss (links im Bild), befand sich ein integrierter Babywickeltisch. Sowohl Frau Moreaus Mutter nutzte ihn für die kleinen Brüder, die nach Einzug in die Unité geboren wurden, als auch Frau Moreau selber für ihre eigenen Töchter. [58]

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ʤJean Prouvé entwarf die in den Unité-Wohnungen befindlichen Treppen. Kleinkinder konnten in die in den Holzstufen befindliche Lücke greifen, was ihnen das Treppensteigen erleichterte. [59]

ʦDie Treppe verfügte über zweierlei Geländer: eines zur Wand hin für Erwachsene, und ein Doppelgeländer an der offenen Seite, an dem sich unterschiedlich große Kinder leicht festhalten konnten. [60]

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ʪIm Gegensatz zu Frau Moreaus gedeckterer Farbauswahl nach ihren unlängst erfolgten Renovierungsarbeiten ist in dieser leerstehenden Wohnung das ursprüngliche Farbschema der diversen Innenelemente noch gut sichtbar. [61]

ʤBlick von einem Wohnzimmerbalkon. Im Laufe der Jahre wurden in der Gegend etliche andere Wohnblöcke und -hochhäuser errichtet. Als Kind holte Frau Moreau täglich Milch bei den damals im Umkreis noch existierenden Bauernhöfen. [62]

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ʪʪEin Hausflur im Gebäude. Die Original-Lieferklappen für Lebensmittel ragen neben den einzelnen Wohnungseingängen blau hervor. Die kleinen Türen direkt darunter ermöglichten damals Zugang zum Eiskasten einer Wohnung. In Frau Moreaus Kindertagen war das Spielen auf den Gängen nicht gestattet. [63]

ʪʤIn den „Innenstraßen“ nicht geduldet, nahmen die Kinder der ersten Generationen, darunter Gisèle, die Treppenhäuser als Spielplätze in Beschlag. Von der Fassadenseite gut beleuchtet und von der anderen, zu den Gemeinschafträumen hin gelegenen Seite indirekt mit Tageslicht versorgt, eigneten sich die Treppenhäuser viel eher zum Spielen. [64, 65]

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ʤDie internen Einkaufsstraßen auf der dritten und vierten Etage in der Unité waren in den ersten Jahrzehnten des Gebäudes sehr belebt. [66]

ʦGegenwärtig existieren nur noch eine Handvoll kleinerer Läden, die mehr auf architekturbegeisterte, das Gebäude besichtigende Besucher zugeschnitten sind, als auf die Bewohner selbst. [67]

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ʪʦʦDas Dach ist die größte Gemeinschaftseinrichtung der Unité und Frau Moreaus Lieblingsort im Gebäude. „Es ist und bleibt ein Wunder“, erklärte sie: „Noch immer haut es mich um, wenn sich die Fahrstuhltür öffnet und der Himmel und das Meer sich vor mir ausdehnen, einfach großartig! Ich habe dort einen guten Teil meines Lebens damit verbracht, meine Brüder, meine beiden Töchter und meine vier Enkelkinder zu hüten. Abends habe ich dort gepicknickt, meinen Unterricht vorbereitet, und gespielt haben wir auch.“ [68 – 70]

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ʤBeim Sonnenbad mit einer Freundin auf dem amorphen Betonfelsen hatte Gisèle aus dem Radio vom Tode Le Corbusiers erfahren. Die Nachricht hatte sie erschüttert, denn sie identifizierte sich immer auf sehr persönliche Weise mit dem Architekten und seinem Gebäude. [71]

ʦAngesichts der vielen Besucher, die das Bauwerk anzieht, bieten die niedrigen Trennwände angenehmerweise etwas Privatsphäre. Insbesondere an warmen Sommerabenden picknicken hier weiterhin die Bewohner. [72]

ʦʦDie Turnhalle auf dem Dach wurde vor einiger Zeit zu einer Galerie umgestaltet, wo Ausstellungen zur Gegenwartskunst stattfinden. Obgleich einigen Bewohnern dieses Konzept missfiel, ist Frau Moreau der Ansicht, dass dies die zahlreichen Angebote und Einrichtungen des Gebäudes positiv ergänzt. [73]

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Anmerkungen 1

Dem Architekten zufolge wurden vier Millionen Wohnungen benötigt. Le Corbusier, The Marseilles Block, ins Englische übers. von Geoffrey Sainsbury, London: Harvill, 1953, S. 7, aus dem Französischen Unité d’habitation de Marseille, 1953.

2

In der Folge errichtete Le Corbusier weitere Wohneinheiten in Rezé-lesNantes (1955), Berlin (1957), Briey en Forêt (1963) und Firminy (1967). Zur aktuellen Dokumentation aller fünf Unité-Projekte siehe Peter Ottmann (Hrsg.), Le Corbusier: 5 × Unité: Marseille, Nantes, Berlin, Briey, Firminy, Leipzig: Spector Books, 2019.

3

Robert Furneaux Jordan, Le Corbusier, New York: Lawrence Hill, 1972, S. 79.

4

Jacques Sbriglio, The Unité d’Habitation in Marseilles and the Four Other Unité Blocks in Rezé-les-Nantes, Berlin, Briey en Forêt and Firminy, Paris: Fondation Le Corbusier; Basel: Birkhäuser, 2004, S. 228.

5

Le Corbusier, Marseilles Block, S. 7.

6

Den hohen Ausstattungsstandard des Projekts rechtfertigend, schrieb Le Corbusier: „Auf dem amerikanischen Kontinent wird das Badezimmer täglich benutzt. So verbreitet wie das Auto, ist das Bad auf dem besten Weg, im Haushalt unverzichtbar zu werden. Denjenigen, die meinen, wir planten eine Reise nach Utopia, wollen wir hier ganz klar sagen: Das ist schlicht nicht der Fall. Es geht uns einfach nur um RÄUME.“ Marseilles Block, S. 18.

7

Furneaux Jordan beschreibt sowohl die Entwicklung des Modulor durch Le Corbusier während des Zweiten Weltkriegs als auch seine Anwendung in der Unité in Marseille in Le Corbusier, S. 106 – 127. Um eventuell das Universalisierungsprinzip des Modulors in seinen eigenen Schriften zur Unité zu entschärfen, macht Le Corbusier deutlich, dass er sich durchaus unterschiedlicher Körpergrößen bewusst ist, wenn er die sieben verschiedenen Altersgruppen sowie die sich daraus ergebenden Bedürfnisse der Bewohner seiner Bauten beschreibt. Marseilles Block, S. 25.

8

Im Jahr 1956 wurden die Wohnungen den Bewohnern zum Verkauf angeboten.

9

Zur Diskussion des Zusammenhangs zwischen Le Corbusiers Werk und späteren französischen Wohnprojekten siehe Kenny Cupers, „The Power of Association: Le Corbusier and the banlieues“, in: Terms of Appropriation: Modern Architecture and Global Exchange, Hrsg. Amanda Reeser Lawrence und Ana Miljacˇki, Abingdon: Routledge, 2017.

10

Roger Sherwood, Modern Housing Prototypes, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1978, S. 125. Sherwood spielt mit den Worten des Historikers Lewis Mumford, der die Unité als „genial als Wohnbau getarntes Denkmal“ bezeichnete.

11

Einer ihrer jüngeren Brüder war das zweite Kind überhaupt, das in einer Unité-Familie geboren wurde – ein wenig schade, fand Gisèle, da Le Corbusier ja versprochen hatte, dem ersten hier geborenen Baby Pate zu sein.

12

Als sie klein war, wurde jede Ecke der Wohnung intensiv genutzt, für Haustiere war da kein Platz mehr, erklärte Frau Moreau. Ihre eigenen Töchter wollten aber eine Katze. „Und so hatten wir also siebzehn Jahre lang eine Katze hier.“

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Im Rahmen einer kürzlich erfolgten Renovierung ließ sie die beiden früheren Kinderzimmer zu einem Raum, einem Wohnzimmer, zusammenlegen (Abb. 54).

14

Anders in der Unité in Rezé bei Nantes, da waren die boîtes à provisions fünfzehn Jahre lang in Gebrauch.

15

In „Description of the Marseilles Block“ erklärte André Wogenscky, wie die Wohneinheiten sich in den Betonrahmen einfügen, ohne sich zu berühren. Er erläuterte, dass „zwischen ihren Böden und den Betonbalken, auf denen sie ruhen, Bleilagen eingefügt sind, die Schwingungen absorbieren“. In: Le Corbusier, Marseilles Block, S. 54.

16

Le Corbusiers Gestaltungsvorstellungen zu Lernräumen für Kinder sind ausgeführt in Le Corbusier, The Nursery Schools (übers. aus dem Französischen ins Englische von Eleanor Levieux), New York: Orion Press, 1968.

17

Geoffrey Sainsbury übersetzte den Begriff ins Englische als „Loony Bin“ (Irrenanstalt), Le Corbusier, Marseilles Block, S. 12, während Jacques Sbriglio den Begriff „Mad Hatter’s House“ (Klapsmühle) wählte, Unité d’Habitation in Marseilles, S. 179.

Kindheiten in Häusern der Moderne Fazit

Die triviale Einsicht, dass wir alle einmal Kinder waren, hatte den Anstoß gegeben, uns näher mit den komplexen Zusammenhängen rund um die Kindheit in der Moderne und deren Orte zu befassen. Als Kinder haben wir kaum Einfluss darauf, wo und wie wir leben – letztendlich sind es unsere Eltern, die Zeit und Ort vorgeben. In einem Lebensabschnitt, in dem wir langsam ein eigenes Verständnis von der Welt und unserem Platz darin bilden, haben wir eigentlich so gut wie keine Kontrolle über dessen Umstände. Das Heim, in dem wir wohnen, ist Verkörperung unserer individuellen und kollektiven Erziehung; in dem, was es in unserem Dasein bewirkt und hervorbringt, ist es der Dreh- und Angelpunkt, auf den alle unsere Lebensumstände zurückführen. Ebenso sind Privileg oder Mangel eine zufällige Begleiterscheinung sowie ein Ergebnis sich überlagernder persönlicher und globaler Geschichte. Dies galt auch für die Personen, mit denen wir für Kinder der Moder-

ne sprachen: Aufgrund von Entscheidungen, die ihre Eltern getroffen hatten, gehörten sie zu den ersten, die in bedeutsamen Bauten der Moderne zu Hause waren. Weder liefen unsere Gespräche auf ein einheitliches Fazit hinaus noch auf allgemeingültige Einsichten (und schon gar nicht auf umfassende Hingabe zu weiß verputzten Wänden und Flachdächern). Ein solcher Versuch wäre grob vereinfachend und würde die Bandbreite unserer Begegnungen und die Einzigartigkeit der Umstände, in denen jeder unserer Gesprächspartner aufwuchs, in Abrede stellen. Trotzdem sollten sich aus diesen Gesprächen Erkenntnisse ziehen lassen, die – mehr noch als Historikern – Studenten und Architekten zugutekommen könnten. Rolf Fassbaenders glückliche Kindheit in einem Reihenhaus der Weissenhofsiedlung lässt sich zu großen Teilen auf die Nähe anderer Familien mit Kindern zurückführen wie auch auf räumliche Möglichkeiten für ungebundenes Spielen innerhalb der Siedlung.1 Die von Ludwig Mies van der Rohe für die Siedlung abgestimmte Vielfalt im Wohnungsbau war als Antwort auf unterschiedliche Einkommensver-

hältnisse künftiger Bewohner zu verstehen – was im Ergebnis für die Lebenswelt des kleinen Rolf Ausgewogenheit zwischen bebautem und offenem Raum bedeutete. Wenngleich in sich kompakt, war J. J. P. Ouds Reihenhaus, für das Jahr 1927 gesehen, großzügig ausgestattet mit einer Fülle an Komfort, darunter interne Wasseranschlüsse und Sanitärbereiche, Zentralheizung, eine hochmoderne Küche und reichlich vorhandener Stauraum. Auffällig war das Verschmelzen von Innen- und Außenraum, insbesondere der Bezug zum Garten. Tageslicht strömte durch große Fenster sowie durch einen Lichtgaden aus Milchglas über der Treppe und dem Badezimmer. Sich die Möglichkeiten der Gartenfassade zunutze machend, entwarf Oud das Eingangsvordach als einen Balkon und platzierte eine Betonbank vor die Fenster des Wohnzimmers. Beide Kunstgriffe zeugen von einer durchdachten Planung wie auch einer fürsorglich humanitären Betrachtungsweise des Architekten, von Empathie und dem aufrichtigen Wunsch, den Bewohnern Nutzen zu bringen. Mit acht Jahren war Ernst Tugendhat seinerzeit der jüngste unserer Gesprächspartner gewesen, als er und seine Familie das berühmte Haus der Moderne seiner Kindheit verließen. Von daher ist es wohl kaum verwunderlich, dass er sich am wenigsten an das Interieur bzw. die Charakteristika des Hauses erinnerte. Angesichts des bevorstehenden Einmarschs der Wehrmacht mussten die Umstände des Wegzugs zutiefst emotional und gar traumatisch gewesen sein, wenn nicht für ihn unmittelbar, so doch für die Familie als Ganzes. Zeitgleich oder auch als Folge dessen war der Lebensabschnitt, den er in Brno verbracht hatte, weitgehend aus Herrn Tugendhats Gedächtnis entschwunden. An die Stelle rückte nicht nur eine Abneigung gegen das Haus selbst, sondern auch eine allgemeine Ambivalenz gegenüber Architektur und Design. Die Emotionslosigkeit in Bezug auf sein ehemaliges Heim ging einher mit einem Gefühl von Verlegenheit hinsichtlich der üppigen Ausstattung des Hauses. Während unserer Recherche war dieses frappierende Desinteresse für uns als durch ein Architekturstudium vorbelastete Gestalter, eine der größten Überraschungen: dass jemand in einem der berühmtesten Bauwerke der Moderne hatte aufwachsen können, das von einem weithin anerkannten Architekten entworfen war und sich nicht im Geringsten darum scherte! Wir waren dankbar für Herrn Tugendhats Freimütigkeit und wussten sie durchaus zu schätzen, da sie uns zum Nachdenken anregte und uns hilfreiche Perspektiven eröffnete. Mit diesen Empfindungen hatten wir umso weniger gerechnet, als seine Eltern, die eigentlichen Bauherren, noch lange nach dem Auszug der Familie ihre Zuneigung für das Haus bekundet hatten. Grete Tugendhat schrieb, dass es ihnen ermöglichte, sich „in einem nie zuvor erlebten Ausmaß frei zu fühlen“.2 Während einer Rede in Brno 1969 bekräftigte sie, wie sie und ihr Mann „das Haus vom ersten Moment an geliebt hatten“.3 Sie gingen davon aus, dass ihre in dem Haus empfundene Freiheit

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Fazit

sich auch in ihren Kindern wiederfinden würde. Am 29. Februar 2012, aus Anlass der nach umfassender Renovierung erfolgten Wiedereröffnung des Haus Tugendhat, äußerte sich Daniela Hammer-Tugendhat – jüngstes der Tugendhat-Kinder, Kunsthistorikerin und engagierte Verfechterin des Erhalt des Hauses4 – zu eben diesen Erwartungen: „Mein Vater war zutiefst überzeugt, dass die Schönheit und die klaren Formen der Architektur Einfluss nähmen auf Einstellungen und Denkweise der im Haus lebenden Menschen und der dort aufwachsenden Kinder.“5 Ganz anders als die Erfahrungen von Ernst Tugendhat im elterlichen Haus waren die von Helga Zumpfe im Haus Schminke. Selbst während des Zweiten Weltkriegs konnte sie im von Hans Scharoun für ihre Familie entworfene Haus in relativer Obhut groß werden. Sie lebte nicht nur viel länger in dem Haus – insgesamt fünfzehn Jahre –, auch war sie mit achtzehn Jahren viel älter, als sie es verließ. Dementsprechend waren ihre Erinnerungen eindringlicher und lebendiger. Während spezifische Merkmale und architektonische Details eine entscheidende Rolle in ihren Geschichten über das Haus spielten, hinterließ dessen Offenheit und Weitläufigkeit den nachhaltigsten Eindruck bei ihr – und damit auch bei uns. Bemerkenswert fanden wir, dass sie auch sieben Jahrzehnte später noch von dem Haus träumte. Darüber hinaus versuchte sie, ihren momentanen Wohnverhältnissen – angesichts ihrer beschränkten Mittel wenigstens so weit wie möglich – etwas von der Transparenz des Elternhauses zu geben, sei es durch das Hervorheben der Aussicht wie auch durch den Verzicht auf Türen, die sie durch Vorhänge ersetzte. Schließlich überzeugte sie gar ihre Gemeinde, Scharoun mit dem Entwurf für eine Kirche und einen Gemeinderaum in Bochum zu beauftragen, wodurch sie ihre Beziehung zum Architekten wieder aufleben ließ. Unter den von uns Interviewten war Gisèle Moreau einzigartig, weil sie den größten Teil ihres Lebens in der Unité d’Habitation in Marseille, dem Haus in dem sie aufwuchs, verbrachte. Die Geschichte des Bauwerks war zu einem festen Bestandteil ihrer eigenen Geschichte geworden. Die Identität der Unité und damit auch diejenige des Architekten hatten sich im Laufe der Jahre mit ihrer eigenen verflochten. Sie wurde zur Verfechterin des Gebäudes und glaubte fest an die von Le Corbusier umrissenen Ziele. Mochten sich ursprünglich ihre Eltern entschlossen haben, in das Gebäude einzuziehen, so war es Frau Moreaus eigenständige Entscheidung, dort zu bleiben. In ihren Schilderungen über den Wohnblock und wie er sich im Laufe der Zeit verändert hatte, wurde ihre emotionale Verbundenheit offenkundig. Auch wenn die Unité lediglich in den ersten Jahren im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus gefördert wurde, bot sie ihren Bewohnern auch weiterhin wichtige Gemeinschaftseinrichtungen, die wiederum den sozialen Zusammenhalt begünstigten. Das Kriterium von Gemeinschaft und entsprechender Infrastruktur,

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von Le Corbusier in das Gebäude integriert, standen im Zentrum von Frau Moreaus Kindheitserinnerungen, aber auch ihrer Erfahrung als Erwachsene. Alle im Rahmen unserer Recherche besuchten Bauwerke boten ihren Bewohnern zur Zeit ihrer Errichtung eine nicht alltägliche Ausstattung, die wir heutzutage als selbstverständlich erachten. Dazu zählten WCs und fließend Warmwasser, eigens angefertigte ergonomische Küchen sowie viel Tageslicht und ausreichende Belüftung. Die Vertreter der Moderne kämpften für dergleichen Standard, und insbesondere im Wohnungsbau waren diese Kämpfe nicht unpolitisch. So war es beispielsweise kein Zufall, dass der Wasseranschluss zu Le Corbusiers Projekt Cité Frugès in Pessac von der Stadt nicht unverzüglich hergestellt wurde und die Siedlung deswegen drei Jahre nach Bauabschluss immer noch leer stand. Im Grunde veranschaulicht das, wie Entscheidungsträger in gehobenen Positionen Einfluss auf die Lebensbedingungen der Arbeiterschicht ausübten.6 Das Staunen, das Frau Moreaus Mutter angesichts des Komforts in der Unité zum Ausdruck brachte, ist Indiz dafür, dass solch heutzutage alltäglichen Ausstattungsmerkmale selbst in den 1950er Jahren nicht üblich, sondern Luxus waren. So sollte das Engagement von Architekten für die Erneuerung im Wohnungsbau – ein erster, jedoch bedeutender Durchbruch der Moderne – nicht als selbstverständlich angesehen werden. Vor diesem Hintergrund reflektiert die räumliche Anordnung jedes dieser Heime nicht nur die Wünsche des Bauherrn, sondern gleichsam die Vorstellungen des Architekten und bisweilen sogar einen breiteren gesellschaftlichen Wandel. Während die traditionelle Trennung zwischen Wohn- und Wirtschaftsbereichen sowohl in der Villa Tugendhat als auch in Haus Schminke fortbesteht,7 wird doch in beiden ein deutlicher Unterschied zwischen dem Stellenwert der Kinder in der Familiendynamik deutlich: In der Villa Tugendhat befinden sich die Kinderzimmer und die dazugehörige Terrasse im Obergeschoss. (Das Abendessen der Kinder wurde über einen Speiseaufzug in eines ihrer Zimmer befördert.)8 In Haus Schminke dagegen standen die Kinder in ihrem Heim ausdrücklich im Mittelpunkt. Möglicherweise hat das Verhältnis von Küche zu Wohnraum auch dazu beigetragen, Geschlechterrollen aufzulösen: etwa die Durchreiche im Oud-Reihenhaus, an die sich Herr Fassbaender so gut erinnerte, oder später die offene, in den Wohnbereich integrierte Küche in Le Corbusiers Unité. In den Geschichten unserer Gesprächspartner zu diesen wichtigen Beispielen der Moderne beeindruckte uns am meisten, wie spürbar die sozialen Aspekte der Architektur in den Erinnerungen ihrer Bewohner verhaftet sind. Das Dach der Unité – als Einrichtung an sich schon bemerkenswert –, dient bis heute der Gemeinschaft der Bewohner als Ort der Entspannung und dem Spiel – ganz in der Absicht des Architekten (Abb. 1). In gestalterischer Hinsicht verleiht die Platzie-

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Fazit

rung des Spielzimmers in der Gebäudemitte den Kindern eine zentrale Stellung innerhalb von Haus Schminke. Die gut erreichbaren Fenster über der breiten Fensterbank des Spielzimmers ermöglichten den Kindern unmittelbaren Zugang nach draußen, bevor sie überhaupt groß genug waren, eine Türklinke zu erreichen. Die Durchreiche zwischen Küche und Essbereich im Oud-Reihenhaus prägte das familiäre Zusammenleben. Details, zweckmäßig und doch ästhetisch gestaltet, waren es, die im Gedächtnis der Bewohner fortlebten: wie etwa die bunten Bullaugen in Haus Schminke oder der Balkon und die Bank des Oud-Reihenhauses. Studenten der Architekturgeschichte sollten sich, neben der Affinität der Moderne zur Funktion, auch deren Großzügigkeit bewusst machen, die zumindest einige der frühen Beispiele der Bewegung kennzeichneten. Während in den letzten hundert Jahren die Erkenntnisse aus dem Blickwinkel der Effizienz Eingang in den Wohnungsbau gefunden haben, blieben die sozialen Zielsetzungen der Moderne allzu oft zurück. Zweifellos erfordert eine dezidiert menschenfreundliche Gestaltung einfallsreiche und sorgfältige Arbeit des Architekten. Oft jedoch, aber nicht immer, ist auch eine zusätzliche finanzielle Investition geboten. Aufgrund unserer Gespräche sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass Gebäude genau dann Freude machen, wenn solche Gestaltungsabsichten zum Vorschein kommen.

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Diese relevanten Erkenntnisse vermitteln uns ein tieferes Verständnis vom Wagemut der Architekten der Moderne, mit dem sie Konventionen infrage stellten und Normen trotzten. Zivilcourage und der feste Glaube an Architektur als Mittel zur Schaffung einer modernen Gesellschaft liegt allen in diesem Buch vorgestellten Bauwerken zugrunde. Einerseits könnte man die Frage aufwerfen, ob Architektur heute überhaupt noch so ambitionierte Ziele durchsetzen kann, andererseits ließe sich aber auch argumentieren, dass Architekten in einer Welt mit einer sich zusehends verschärfenden Klimakrise wieder diese Initiative ergreifen und diesen Ehrgeiz walten lassen sollten. Gefragt ist nicht ein bloßer Fokus auf stilistische Merkmale, eher schon eine umfassende Neubesinnung auf Wohnwert in derzeitigen Bauentwürfen – mit einer Architektur, die nicht nur über etabliertes Grundlagenwissen, sondern auch über soziale Kompetenz und ökologischen Einfallsreichtum verfügt. Auch wenn derlei Kämpfe wohl über den Rahmen einzelner Häuser

ʪ Auf dem Dach der Unité d'Habitation in Marseille bot das Planschbecken eine willkommene Abkühlung in der während unseres Aufenthalts herrschenden Hitzewelle. [1]

ʨ Im Gespräch mit Helga Zumpfe über ihre Kindheitserinnerungen an Haus Schminke. Wie viele unserer Gesprächspartner hieß sie uns in ihrem Heim willkommen und begegnete auch unserem Sohn mit Liebenswürdigkeit. [2]

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Fazit

ʤ Wir konnten die Wohnbereiche im Haus Schminke genießen, bevor sich erneut Besucher zu Nachmittagsführungen einstellten. [3]

hinausgehen, sollte dennoch kein Zweifel an der Unabdingbarkeit gesellschaftlichen Wandels bestehen oder darüber, dass Architektur auf einen entsprechend neuen Zeitgeist reagieren muss. Jede historische Untersuchung zur Moderne muss die erheblichen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die Bewegung berücksichtigen und seine Folgen im Auge behalten. Gewalt und Trauma des Krieges hatten unsere Gesprächspartner in sehr persönlicher Weise betroffen und Einfluss auf den Verlauf ihres Lebens genommen. Ohne den Aufstieg der Nationalsozialisten, den Krieg und dessen Folgen wäre Herr Tugendhat wahrscheinlich länger in seinem Elternhaus geblieben, wäh-

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rend Frau Moreau möglicherweise kaum die Chance gehabt hätte, in die Unité einzuziehen.9 Auch wenn der Krieg mit seinen Nachwirkungen das Leben unseres jeweiligen Gegenübers offenkundig geprägt hatte, unterließen wir es in unseren Unterhaltungen, diesbezüglich über Gebühr nachzuhaken. Aus Dankbarkeit für das Entgegenkommen unserer Gesprächspartner scheuten wir uns, allzu direkte Fragen zum Krieg und dessen Auswirkungen auf ihren weiteren Werdegang zu stellen. Mag diese Auslassung auch ein Schwachpunkt in dieser Untersuchung sein, tritt doch gerade hierin eine besondere Herangehensweise bei unseren Unterhaltungen zutage, nämlich diese im privaten Umfeld des eigenen Heims stattfinden zu lassen, frei von akademischer Sachlichkeit und gespeist vom Bestreben, die Gespräche in einer für beide Seiten entspannten Atmosphäre zu führen. Um Naomi Stead zu zitieren: „Alle Wissenschaftler unterstehen dem spezifischen Einfluss ihres Hintergrunds und ihrer Ausbildung, einschließlich den Identitätskategorien Klasse, Rasse und Geschlecht sowie den Irrationalitäten ihrer Gefühlswelt, aber auch ihres eigenen Körpers – wir schreiben und sprechen nicht nur als körperlose, frei schwebende Gehirne, sondern als Körper mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen.“10 In einem Wohnmobil, dem wohl erschwinglichsten Wohnraum überhaupt, reisten wir während einer Hitzewelle durch Europa, um die Befragungen durchzuführen. Mit dabei war unser Kind, das gerade lernte, auf eigenen Beinen zu stehen (Abb. 2 – 6).11 Das Wachstum und die einhergehenden Veränderungen unseres, um sein Gleichgewicht kämpfenden Sohnes forderten unsere Aufmerksamkeit, wobei sein Nahrungs- und Schlafbedürfnis ebenso wie die Gesprächstermine unseren Zeitplan beherrschten. Von jeder der Unterhaltungen haben wir persönlich viel gelernt, auch über den reinen Inhalt der Schilderungen zu den jeweiligen Elternhäusern hinausgehendes. Dazu zählte, unsere Fragen besser zu stellen und mehr Zeit für Antworten zu lassen. Der Umgang mit Sprachbarrieren und Altersunterschieden erforderte das Entschlüsseln von Körpersprache und ein Wissen um landesübliche Gepflogenheiten. Dass unser Kleinkind immer mit von der Partie war, mag dazu beigetragen haben, die Atmosphäre zu entspannen, „familiärer“ zu gestalten und unsere Gesprächspartner für uns einzunehmen. Vielleicht aber empfanden sie es auch störend und ließen das aus Höflichkeit unerwähnt (Abb. 2, 7 – 10). Oftmals mussten wir den Nachweis erbringen, für diese Forschungsarbeit die ausreichende Eignung zu besitzen – und befähigt zu sein, dieses Buch zu schreiben.12 Zwar war es unsere Idee gewesen, sich ernsthaft mit Erinnerungen von Kindern als Bewohner der Moderne zu befassen, doch war das eine Qualifizierung für dieses Unterfangen? Als wir unser Projekt in Angriff nahmen, waren wir weder geschulte Interviewer noch bewährte Fotografen. Wir waren ebenso wenig Experten der Moderne, geschweige denn Historiker, Psychologen oder Oral-History-Fachleute. Wir

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Fazit

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ʪ Zu Besuch in der Villa Tugendhat: mit unserem Sohn an der Terrassentreppe (oben), im Wohnzimmer (Mitte) und im Wintergarten (unten). [4 – 6]

ʤ Ein Interview mit Frau und Herrn Goron, Bewohner der von Le Corbusier entworfenen Cité Frugès in Pessac bei Bordeaux. Einige der für unser Projekt geführten Gespräche sind nicht in diesem Buch enthalten, wenngleich sie alle informativ und aufschlussreich waren. [7]

waren und sind lediglich zwei Menschen mit einem Hintergrund in Architektur und bildender Kunst und einem Interesse an Raumgeschichte und Erzählung. Wir sind Eltern – was wohl eine Bewandtnis hat, immerhin handelt es sich um Kindheitsgeschichten.13 Und wir sind Gestalter und Pädagogen. Ausschlaggebend aber mag gewesen sein, dass wir wissbegierig und beharrlich genug in unserem Bemühen waren, den Kontakt zu jenen Personen aufzubauen, mit deren Hilfe wir unser Wissen zu den baulichen Ikonen der Moderne erweitern konnten. Zu Beginn unserer Recherche hatten wir kaum klar umrissene Vorstellungen. Was wir von unseren Gesprächspartnern zu erwarten hatten, und wie viel oder wie wenig von ihrer Zeit in den Heimen der Moderne im Gedächtnis verblieben war, konnten wir nicht einschätzen. Trotz der Hoffnung, auf lebendige Erinnerungen zu stoßen, war uns bewusst, dass dies nach so viel verflossener Zeit nicht unbedingt so sein würde. Unklar war auch, ob diese Erinnerungen positiver oder negativer Natur

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Fazit

ʤ Rolf Fassbaender beim Versteckspiel mit unserem Sohn, wobei er uns die Gucklöcher zeigte, die in den Innentüren der von J. J. P. Oud entworfenen Reihenhäuser in der Weissenhofsiedlung eingefügt waren. [8 – 10]

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ʤ Unser Spiegelbild im Kinderzimmer der Villa Tugendhat. [11]

sein könnten. Dass diese Menschen mit uns sprechen und ihre Erfahrungen mitteilen wollten, empfanden wir als überaus liebenswürdig. Und so haben uns die Befragungen mit aufrichtiger Dankbarkeit erfüllt – sowohl für den Zeitaufwand und die Aufgeschlossenheit unserer Gesprächspartner, als auch für das Vertrauen und die Bereitschaft, mit uns, völlig fremden Menschen, über sehr persönliche Details aus ihren Kindertagen zu sprechen. Als letztendlich zutreffend erwies sich unsere Auffassung, dass die wiedergegebenen Eindrücke zur Geschichte eines Ortes – vermittelt durch Personen, die an ihm aufgewachsen waren – zum besserem Verständnis der Architektur verhelfen könnten. So einleuchtend dies auch sein mag, hier wäre die Architektur als Fachrichtung gefordert, solche Einsichten einzubeziehen und praktisch umzusetzen.

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Fazit

Anmerkungen 1

Wir möchten uns hüten, das Glück eines Kindes der Wohnung, in der es aufwächst, zuzuschreiben. Ohne jeden Zweifel ist der Kausalzusammenhang weitaus komplizierter. Zwar ist es gerechtfertigt zu sagen, Ouds Gestaltung habe zu Herrn Fassbaenders glücklicher Kindheit beigetragen, dennoch scheint es naheliegend, dass seine Zufriedenheit eher der Hingabe seiner Mutter zu verdanken ist – was die Frage aufwirft, ob er in einer ganz anderen Wohnumgebung das gleiche Maß an Glück erfahren hätte.

2

Grete Tugendhat, „Die Bewohner des Hauses Tugendhat äußern sich“, Brief an den Herausgeber, Die Form 6, Nr. 11, 15. November 1931. Nachgedruckt in Hammer-Tugendhat et al., Haus Tugendhat, S. 74 – 79.

3

Grete Tugendhat, „Zum Bau des Hauses Tugendhat“, Vortrag vom 17. Januar 1969 im Brno Do˚m umeˇní (Haus der Kunst), nachgedruckt in: Daniela Hammer-Tugendhat, Ivo Hammer und Wolf Tegethoff, Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe, 3., aktualisierte Auflage, Basel: Birkhäuser, 2020, S. 18 – 23, hier S. 21.

4

Daniela wurde 1946 in Caracas (Venezuela) geboren, nachdem die Familie gezwungenermaßen das Haus in Brno verlassen musste.

5

Daniela Hammer-Tugendhat, „Rede zur Eröffnung des Hauses Tugendhat in Brünn am 29.2.2012”, abgedruckt in Hammer-Tugendhat et al., Tugendhat House, S. 226.

6

Philippe Boudon, Lived-In Architecture: Le Corbusier’s Pessac Revisited, übers. aus dem Französischen von Gerald Onn, Cambridge, MA: MIT Press, 1972.

7

Wenngleich es sich in beiden dieser Häuser de facto um Dienstbotenbereiche handelte, wies Frau Zumpfe darauf hin, dass ihre Mutter an der Zubereitung von Mahlzeiten beteiligt war und auch die Kinder in der Küche geholfen hatten.

8

Die Trennung von Erwachsenen- und Kinderbereichen mag zwar der Wunsch der Tugendhats gewesen sein, dennoch ist es durchaus wahrscheinlich, dass Mies dies infrage gestellt hätte, wenn ihn diese Aspekte der Aufteilung und ihre sozialen Implikationen interessiert hätten.

9

Unbeantwortet bleibt für uns dabei die Frage, in welchem Ausmaß die Moderne ohne die Wiederaufbauanstrengungen der Nachkriegszeit gediehen wäre. Im Fall der Unité ist die Auftragsvergabe durch die Regierung als direkte Reaktion auf die kriegsbedingte Wohnungsnot zu verstehen.

10

Naomi Stead, „Architectural Affections: On Some Modes of Conversation in Architecture, Towards a Disciplinary Theorisation of Oral History“, in: Fabrications: The Journal of the Society

of Architectural Historians, Australia and New Zealand 24, Nr. 2, 2014, S. 156. Zitiert in Janina Gosseye, Naomi Stead und Deborah van der Plaat, Hrsg., Speaking of Buildings: Oral History

in Architectural Research, New York: Princeton Architectural Press, 2019, S. 15. 11

Unser Sohn konnte zum ersten Mal ohne Hilfe stehen in der Woche zwischen unserem Interview mit Frau Zumpfe und unserem Besuch in ihrem Elternhaus. (Monate später, in unserem viktorianischen Haus in Buffalo, im US-Staat New York, konnte er schließlich laufen.)

12

Eine typische Nachfrage bei Zuschuss- und Förderungsanträgen, die wir im Laufe des Projekts ausgefüllt hatten.

13

Zum Zeitpunkt unseres ersten Antrags auf Forschungsbeihilfe beim Lawrence B. Anderson Award war unser Kind noch nicht geboren.

ANHANG

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Danksagung Es gibt viele Personen und Institutionen, denen wir danken möchten und ohne die diese Publikation nicht möglich gewesen wäre. Wir danken in erster Linie den Menschen, die sich bereit erklärt haben, mit uns über ihre Kindheit in der Moderne zu sprechen: Herrn Fassbaender, Herrn Tugendhat, Frau Zumpfe und Frau Moreau. Wir sind dankbar für ihre Geduld, ihre Großzügigkeit und ihr Vertrauen. Wir hoffen, dass wir ihren Geschichten gerecht geworden sind. Unser Dank gilt auch Herrn und Frau Goron, die in der Cité Frugès in Pessac wohnen, und Herrn Reif, der in einem von Walter Gropius entworfenen Haus in der Weissenhofsiedlung aufgewachsen ist. Obwohl ihre Berichte keine eigenen Kapitel bilden, haben uns ihre persönlichen Geschichten über die Häuser und Wohnviertel der Moderne neue Einsichten gebracht; ihre Zeit und ihr Wohlwollen haben wir sehr geschätzt. Wir sind den Institutionen und insbesondere ihren Mitarbeitern dankbar, die das Projekt unterstützten und in vielen Fällen nicht nur die Verbindungen zu unseren Gesprächspartnern herstellten, sondern uns auch später bei der Erarbeitung des Materials halfen und unsere weiterführenden Fragen beantworteten und Wünschen entgegenkamen. Dazu gehörten insbesondere Anja Krämer vom Weissenhofmuseum in Stuttgart und Julia Bojaryn von der Stiftung Haus Schminke in Löbau. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fondation Le Corbusier, insbesondere Bénédicte Gandini, waren uns behilflich bei der Kontaktanbahnung zu einer Reihe von Personen, die in Le Corbusier-Gebäuden leben oder gelebt haben, darunter zu Martine Vittu, die in der Unité in Rezé wohnt, mit der wir aber leider kein Gespräch führen konnten. Ein weiterer Dank geht an Cyril Zozor, Leiter der Cité Frugès für die Stadt Pessac, der uns freundlicherweise ein Gespräch mit den Eheleuten Herrn und Frau Goron vermittelte. Dank gebührt auch Petr Dvo ˇ rák vom Haus Tugendhat dafür, dass wir das Haus uneingeschränkt fotografieren durften. Kollegen an der School of Architecture and Planning der University at Buffalo, insbesondere Beth Tauke, Brian Carter, Joyce Hwang, Despina Stratigakos und Samina Raja, haben das Vorhaben sehr unterstützt. Sie haben uns sowohl bestätigt als auch konstruktive Kritik geäußert. Unsere Dankbarkeit geht auch an die ehemaligen und gegenwärtigen Vorsitzenden der Fakultät für Architektur, Omar Khan und Korydon Smith sowie den Dekan der Fakultät, Robert Shibley, für ihre fortwährende Unterstützung und ihren erweiterten Blick auf die Verflechtung von Forschung und kreativer Tätigkeit auf dem Gebiet der Architektur. Ein Faculty Fellowship durch das Humanities Institute an der University at Buffalo im Jahr 2018 ermöglichte es, sich ein Semester lang nur auf das Schreiben zu konzentrieren, und lieferte wertvolles kollegiales Feedback von anderen Fellows. Vielen Dank an den

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Danksagung

Direktor des Instituts, David Castillo, die Interimsgeschäftsführerin, Kari Winter, und die Programmverwalterin Maki Tanigaki. Teile des hier vorgestellten Materials wurden für eine Mikroerzählung für das Journal of Architectural Education zusammengestellt, erschienen unter dem Titel „Growing up Modern – Oral History as Architectural Preservation“ (Journal of Ar-

chitectural Education 72, Nr. 2, „Preserve“, S. 284 – 289). Das Feedback der Redakteure der Ausgabe, Ted Shelton und Tricia Stuth, der Gutachter und der Mitherausgeberin der JAE, Carolina Dayer, waren wesentlich für die Fokussierung auf den größeren theoretischen Rahmen für die Studie und zwangen uns, tiefer in das Material einzutauchen, das wir im Jahr 2015 gesammelt hatten. Eine persönliche Erzählung, die auf dem Material der „Growing up Modern“-Recherche beruht, erschien in der „Character“-Ausgabe von MAS Context, herausgegeben von Iker Gil mit Stewart Hicks und Allison Newmeyer als Redakteuren für die Ausgabe. Die gedruckte Ausgabe erschien 2020, aber der ursprüngliche Beitrag wurde nach einem offenen Aufruf im Jahr 2016 angenommen, und wir waren begeistert von der frühen Ermutigung durch die Redakteure. Die Forschung wurde auf mehreren akademischen Konferenzen präsentiert, darunter die Association of Collegiate Schools of Architecture (ACSA) Fall Conference, in Milwaukee, Wisconsin, 2018; die College Art Association‘s Annual Conference, in New York City, 2019; die ACSA-Jahrestagung 2020, die virtuell stattfand, und das Symposium „The Practice of Architectural Research“, das gemeinsam von der KU Leuven und der Universität Antwerpen im Jahr 2020 ebenfalls virtuell abgehalten wurde. Das Feedback des Publikums, des Podiums und der Moderatoren, insbesondere von Tamar Zinguer, bei diesen Veranstaltungen war hilfreich bei der kritischen Weiterentwicklung und Vertiefung des Materials. Wir sind außerdem Eve Kahn dankbar, die 2019 einen Artikel in der New York Times über das Forschungsprojekt schrieb (veröffentlicht am 6. Mai 2019), wodurch wir einem breiteren Publikum bekannt wurden und die Bedeutung dieser Geschichten eine Bestätigung erfuhr. Dieses Projekt erhielt den Lawrence B. Anderson Award, ein Stipendium für kreative Dokumentation für einen Alumnus des MIT. Wir sind der Jury dankbar, die an die Ausgangsprämisse geglaubt und den Anstoß und die notwendige Finanzierung gegeben hat, um mit dieser Forschung zu beginnen. Diese Publikation wurde auch gefördert durch das New York State Council on the Arts, Programm Architecture + Design, in der Kategorie Independent Projects. Danke an Kristin Herron für ihre Hilfe bei der Weitergabe des konstruktiven Feedbacks der Jury und der Durchführung des Stipendiums. Ebenso dankbar sind wir Elise Jaffe + Jeffrey Brown für ihre großzügige Unterstützung, die diese Publikation erst möglich gemacht hat.

ANHANG

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Die Architectural League of New York hat beide Zuwendungen durchgeführt und wir schätzen die Hilfe der Organisation, insbesondere die der Geschäftsführerin Rosalie Genevro und Manager Daniel Cioffi, bei der Verwaltung der Mittel sowie bei der Förderung des Projekts. Ein herzliches Dankeschön an die Inhaber der Urheberrechte der historischen Bilder, die in diesem Buch verwendet werden. Viele der Fotografien und Zeichnungen stammen aus Archivsammlungen, aber der Zugang zu den meisten Materialien war geografisch weit entfernt, und es bedurfte des Engagements mehrerer Personen, um das Material ausfindig und es uns zugänglich zu machen, und das alles in der Zeit der Covid-19-Pandemie. In dieser Hinsicht geht ein besonderer Dank an Anja Krämer im Weissenhofmuseum, Julia Bojaryn von der Stiftung Haus Schminke, Isabelle Godineau von der Fondation Le Corbusier, Marie-Noëlle Perrin von den Archives de Marseille, Iris de Jong am Het Nieuwe Instituut, Erika Babatz im Bauhaus-Archiv, Katja Marciniak und Tanja Morgenstern im Baukunstarchiv der Akademie der Künste, Berlin, und Barbora Bencˇíková vom Studien-Dokumentationszentrum in der Villa Tugendhat. Wir danken Daniela Hammer-Tugendhat für die Überlassung einiger Fotos aus ihrem persönlichen Archiv. Dank geht auch an Ria Stein beim Birkhäuser Verlag, dass sie an das Projekt geglaubt und es Wirklichkeit hat werden lassen; dass sie uns als unerfahrenen Autoren vertraut hat und Geduld und Wohlwollen auf dem Weg zum Buch hat walten lassen. Ein aufrichtiger Dank geht an Jayne Kelley für ihr scharfes Auge und ihre Wissbegierde bei der Redaktion des englischen Texts und für die unermüdliche Arbeit mit uns, um einen ausgewogenen Ton zwischen dem akademischem Ansatz und den Dingen des Alltags zu erreichen. Unser Dank geht an Miriam Bussmann für ihre grafische Gestaltung und dafür, dass sie offen für unsere Rückmeldung war und gleichzeitig all ihre Fähigkeiten eingebracht hat, um dieses Buch zu einem schönen haptischen und visuellen Objekt zu machen. Viele Freunde und Bekannte haben uns im Laufe der Jahre zugehört – auch dank ihrer Neugier sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass diese Geschichten nicht nur für uns, sondern auch für andere interessant sind, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Architekturwelt. Wir danken ihnen für diese Gespräche. Darüber hinaus haben wir uns an Freunde für Übersetzungen in letzter Minute gewandt – Zubaida Syed, Christian Zerreis, Hendrik Schikarski, Jordan Geiger und Miriam Paeslack, vielen Dank für eure Hilfe. Und schließlich ein Dankeschön an unsere Eltern, Boz˙ena und Janusz Jamrozik sowie Janet und Geoff Kempster: Ohne sie wären wir nicht die, die wir sind. Wir sind nicht in der Moderne aufgewachsen, aber eure Liebe und Unterstützung hat uns in die Lage versetzt, unsere eigenen – manchmal mäandrierenden – Wege zu gehen.

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Die Autoren

Die Autoren Julia Jamrozik und Coryn Kempster sind Designer, Künstler und Pädagogen. Julia ist Assistant Professor und Coryn ist Adjunct Assistant Professor an der Fakultät für Architektur an der University at Buffalo der State University of New York. Julia hat einen Honours Bachelor of Arts-Abschluss mit den Schwerpunkten Architektur und Kunstgeschichte von der University of Toronto und einen Master of Architecture von der Universität von British Columbia im Jahr 2007. Coryn hat einen Honours Bachelor of Arts von der University of Toronto mit den Hauptfächern Architectural Studies und Visual Studies. Seinen Master of Architecture erwarb er am Massachusetts Institute of Technology mit dem Schwerpunkt Visuelle Arts im Jahr 2008. Zwischen 2008 und 2014 war Coryn als Architekt bei Herzog & de Meuron und als Projektleiter im Harry Gugger Studio in Basel in der Schweiz tätig. Auch Julia arbeitete als Architektin bei Herzog & de Meuron und unterrichtete Entwurf an der ETH Zürich im Rahmen der Gastdozentur von Manuel Herz. Beide arbeiten an Projekten in verschiedenen Medien und in unterschiedlichen Maßstäben, von temporären Installationen bis hin zu permanenten öffentlichen Kunstwerken und Architekturprojekten. Ihre wissenschaftliche Forschung konzentriert sich auf die Rolle des Spiels in der gebauten Umwelt und alternative Methoden der Dokumentation als eine Form der Denkmalpflege. Ihre multidisziplinäre Praxis, Coryn Kempster Julia Jamrozik, wurde 2018 mit dem League Prize von der Architectural League of New York ausgezeichnet.

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Bildnachweis Coverfoto

Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015

Reihenhaus Weissenhofsiedlung, S. 18 – 81 S. 18 Foto Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 1 Strähle Luftbild Schorndorf. Mit freundlicher Genehmigung des Weissenhofmuseums Abb. 2 Foto Evert van Ojen. Slg. Het Nieuwe Instituut/OUDJ, ph406 Abb. 3 Foto Evert van Ojen. Slg. Het Nieuwe Instituut/OUDJ, ph408 Abb. 4 Slg. Het Nieuwe Instituut/OUDJ, st17. © 2021 Artists Rights Society (ARS), New York/c/o Pictoright Amsterdam Abb. 5 Slg. Het Nieuwe Instituut/OUDJ, st40 (Detail). © 2021 Artists Rights Society (ARS), New York/c/o Pictoright Amsterdam Abb. 6, 7 Fotos Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 8 – 10 Foto aus Rolf Fassbaenders Sammlung. Mit freundlicher Genehmigung des Weissenhofmuseums Abb. 11 Foto Dr. Lossen & Co/Lichtbildgesellschaft, 1927. Bauhaus-Archiv Berlin Abb. 12 – 14 Fotos aus Rolf Fassbaenders Sammlung. Mit freundlicher Genehmigung des Weissenhofmuseums Abb. 15 – 19 Foto Frau Wittig, circa 1936. Foto aus Rolf Fassbaenders Sammlung. Mit freundlicher Genehmigung des Weissenhofmuseums Abb. 20 Foto Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 21 – 23 Fotos aus Rolf Fassbaenders Sammlung. Mit freundlicher Genehmigung des Weissenhofmuseums Abb. 24 Foto Evert van Ojen. Slg. Het Nieuwe Instituut/OUDJ, ph414 Abb. 25 Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart Abb. 26 Foto Iris Geiger-Messner, 2017. Landesamt für Denkmalpflege im RP Stuttgart Abb. 27, 28 Fotos aus Rolf Fassbaenders Sammlung. Mit freundlicher Genehmigung des Weissenhofmuseums Abb. 29, 30 Fotos von Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 31 – 33 Diagramme von Julia Jamrozik und Coryn Kempster, überlagert in Detailskizze von J. J. P. Oud, aus Slg. Het Nieuwe Instituut/OUDJ, st40. Zeichnung © 2021 Artists Rights Society (ARS), New York/c/o Pictoright Amsterdam Abb. 34 – 59 Fotos von Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Villa Tugendhat, S. 82 – 149 S. 82 Foto Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 1 Foto Studio Rudolf de Sandalo. Daniela Hammer-Tugendhat Archiv Abb. 2, 3 Fotos Studio Rudolf de Sandalo, 1930. Bauhaus-Archiv Berlin Abb. 4 Haus Tugendhat, Brno, Tschechoslowakei, 1928 – 1930. Grundriss „Obergeschoss“. Tinte auf Transparentpapier, 56,5 × 88 cm. The Mies van der Rohe Archive, The Museum of Modern Art, New York. Geschenk des Architekten. Zeichnung © ARS, NY. Digitalbild © The Museum of Modern Art/Lizenziert von SCALA /Art Resource, NY Abb. 5 Haus Tugendhat, Brno, Tschechoslowakei, 1928 – 1930. Grundriss „Untergeschoss“. Tinte, Bleistift auf Transparentpapier, 62,25 × 98 cm. The Mies van der Rohe Archive, The Museum of Modern Art, New York. Geschenk des Architekten. Zeichnung © ARS, NY. Digitalbild © The Museum of Modern Art/Lizenziert von SCALA/Art Resource, NY Abb. 6 Foto Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 7 Foto Fritz Tugendhat. © Daniela Hammer-Tugendhat Archiv Abb. 8 Foto Studio Rudolf de Sandalo (?), 1930. Bauhaus-Archiv Berlin Abb. 9, 10 Foto Studio Rudolf de Sandalo, 1930. Bauhaus-Archiv Berlin

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Abb. 11 Abb. 12, 13 Abb. 14 – 16 Abb. 17, 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 – 23 Abb. 24

Abb. 25

Abb. 26 – 61

Bildnachweis

Foto Studio Rudolf de Sandalo, 1931. Museum der Stadt Brno (Muzeum meˇsta Brna). © Rudolf Sandalo Jr. Fotos Fritz Tugendhat. © Archiv Daniela Hammer-Tugendhat Fotos Studio Rudolf de Sandalo, 1931. Museum der Stadt Brno (Muzeum meˇsta Brna). © Rudolf Sandalo Jr. Fotos Studio Rudolf de Sandalo, 1930. Bauhaus-Archiv Berlin Foto Studio Rudolf de Sandalo (?), 1930 – 1931. Bauhaus-Archiv Berlin Foto Studio Rudolf de Sandalo, 1931. Museum der Stadt Brno (Muzeum m sta Brna). © Rudolf Sandalo Jr. Fotos Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Diagramm von Julia Jamrozik und Coryn Kempster, überlagert in Zeichnung von Ludwig Mies van der Rohe. Haus Tugendhat, Brno, Tschechoslowakei, 1928 – 1930. Grundriss „Obergeschoss“. Tinte auf Transparentpapier, 56,5 × 88 cm. The Mies van der Rohe Archive, The Museum of Modern Art, New York. Geschenk des Architekten. Zeichnung © ARS, NY. Digitalbild © The Museum of Modern Art/Lizenziert von SCALA/Art Resource, NY Diagramm von Julia Jamrozik und Coryn Kempster, überlagert in Zeichnung von Ludwig Mies van der Rohe. Haus Tugendhat, Brno, Tschechoslowakei, 1928 – 1930. Grundriss „Untergeschoss“. Tinte, Bleistift auf Transparentpapier, 62,25 x 98 cm. The Mies van der Rohe Archive, The Museum of Modern Art, New York. Geschenk des Architekten. Zeichnung © ARS, NY. Digitalbild © The Museum of Modern Art/Lizenziert von SCALA/Art Resource, NY Fotos von Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015

Haus Schminke, S. 150 – 231 S. 150 Foto Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 1 Foto Alice Kerling, 1933. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. F.124/24a Abb. 2 Foto Alice Kerling, 1933. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. F.124/17a Abb. 3 Foto Alice Kerling, 1933. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. F.124/28a Abb. 4 Foto Alice Kerling, 1933. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. F.124/90a Abb. 5 Foto Alice Kerling, 1933. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. F.124/98 Abb. 6 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. 1305 Bl. 124/9 Abb. 7 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. 1305 Bl. 124/3 Abb. 8 Foto Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 9 Stiftung Haus Schminke Abb. 10 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.571 Abb. 11 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.73 Abb. 12 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. 3757 F.124/53 Abb. 13, 14 Fotos von Charlotte Schminke (?), 1934. Stiftung Haus Schminke Abb. 15 – 17 Fotos von Charlotte Schminke (?). Stiftung Haus Schminke Abb. 18 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.171 Abb. 19, 20 Fotos von Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 21 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.79 Abb. 22 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.1435 Abb. 23 1934 (?). Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 39 F.91 Abb. 24 Foto Alice Kerling, 1933. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. F.124/101

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Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb. Abb.

325

25 26 27 28 29 30 31 32

Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.1377 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.808 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.810 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.98 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.97 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.265 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.448 Foto Alice Kerling, 1933. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. 3757 F.124/86 Abb. 33 Foto Charlotte Schminke (?). Stiftung Haus Schminke Abb. 34 Fotos von Alice Kerling, 1933. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. 3757 F.124/112a Abb. 35 Fotos von Alice Kerling, 1933. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. 3757 F.124/111a Abb. 36 Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Sammlung Nr. 79 F.169 Abb. 37 1934 (?). Stiftung Haus Schminke Abb. 38 – 40 Fotos von Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 41 Diagramm von Julia Jamrozik und Coryn Kempster, überlagert in Zeichnung von Laurence Pattacini (basierend auf Zeichnung einer Rekonstruktion des Gartens von Haus Schminke von Claudia Feltrup, 1992) Abb. 42 Diagramm von Julia Jamrozik und Coryn Kempster, überlagert in Zeichnung von Hans Scharoun. Zeichnung von der Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. 1305 Bl. 124/9 Abb. 43 Diagramm von Julia Jamrozik und Coryn Kempster, überlagert in Zeichnung von Hans Scharoun. Zeichnung von der Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv Nr. 1305 Bl. 124/3 Abb. 44 – 81 Fotos von Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Unité d’Habitation, S. 232 – 305 S. 232 Foto Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 1 Foto Ets Jules Richard. Fondation Le Corbusier, L1(13)5. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 2 Foto Louis Sciarli. Fondation Le Corbusier (Archives départementales des Bouches-duRhône), L1(11)1. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 3 Fondation Le Corbusier, Plan FLC 25241A. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 4 Le Corbusier, L’Unité d'habitation de Marseille, Le Point, 1950. Fondation Le Corbusier. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 5 Willy Boesiger, Hrsg., Le Corbusier, Œuvre Complète, Bd. 5, 1946 – 1952, Basel: Birkhäuser, 1995, S. 194. Fondation Le Corbusier. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 6 Fondation Le Corbusier, Plan FLC 29364. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021. Graue Hervorhebung von den Autoren Abb. 7 Fondation Le Corbusier, Plan FLC 26827. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021. Graue Hervorhebung von den Autoren Abb. 8 Foto Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 9 Foto Louis Sciarli, 1951. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 108 Abb. 10 ARC: 19987949, U.S. National Archives Abb. 11 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 534 Abb. 12 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 540 Abb. 13 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 1256 Abb. 14 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 1236

326

Bildnachweis

Abb. 15 Abb. 16

Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 1075 Foto Louis Sciarli. Fondation Le Corbusier (Archives départementales des Bouches-du-Rhône), L1(11)12. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 17 Foto Louis Sciarli. Fondation Le Corbusier (Archives départementales des Bouches-duRhône), L1(11)43. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 18 Foto Louis Sciarli. Fondation Le Corbusier (Archives départementales des Bouches-du-Rhône), L1(11)46. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 19 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 545 Abb. 20 – 22 Fotos René Burri, 1959. © Magnum Photos Abb. 23 Foto Photographie Industrielle du Sud-Ouest, 1949. Fondation Le Corbusier, L1(15)27. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 24 Foto Photographie Industrielle du Sud-Ouest, 1949. Fondation Le Corbusier, L1(15)62. © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 25 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 492 Abb. 26 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 507 Abb. 27 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 511 Abb. 28 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 552 Abb. 29 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 537 Abb. 30 Foto Robert Doisneau. Fondation Le Corbusier, L1(12)54. © F.L.C./ADAGP, Paris/ Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 31 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 488 Abb. 32 Foto Louis Sciarli, 1953. Archives de Marseille/Louis Sciarli 47 Fi 1080 Abb. 33 Foto Louis Sciarli. Fondation Le Corbusier, L1(11)71. © F.L.C./ADAGP, Paris/ Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 34 Foto Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Abb. 35, 36 Diagramme von Julia Jamrozik und Coryn Kempster, überlagert in Detailskizze von Le Corbusier. Fondation Le Corbusier, Plan FLC 29364. Zeichnung © F.L.C./ADAGP, Paris/Artists Rights Society (ARS), New York 2021 Abb. 37 – 73 Fotos von Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015 Fazit, S. 307 – 319 Abb. 1 – 11 Fotos von Coryn Kempster und Julia Jamrozik, 2015

ANHANG

Index

327

Hirschfeld, Ello 159, 231 Hitchcock, Henry-Russell 8, 15, 21, 80, 81, 230

AMO (OMA Thinktank) 15

Johnson, Philip 8, 15, 21, 80, 81, 148, 230

Bachelard, Gaston 6, 10, 12, 15, 16, 17

Jordan, Robert Furneaux 233, 304

Berkovitz, Anael 231

Jung, Carl Gustav 10

Berlin, Deutschland 98, 159, 230, 304

Kalkofen, Irene 89, 125, 149

Blundell Jones, Peter 151, 152, 230

Kerling, Alice 153, 167

Bochum, Deutschland 159, 179, 180, 308

Koolhaas, Rem 15

Bojaryn, Julia 158

Krämer, Anja 24, 80

Bremerhaven, Deutschland 151

Krohn, Carsten 85, 148, 230

Brenzkirche, Stuttgart, Deutschland 34, 35

Kürvers, Klaus 170, 230, 231

Brno, Tschechien (vor 1945 Brünn) 8, 13, 83,

Landsberg, Alison 11, 16

88, 89, 90, 100, 108, 114, 307, 318 Buffalo, New York, USA 318

Le Corbusier 8, 9, 14, 15, 17, 20, 232 – 305, 309, 310, 311

Bürkle, J. Christoph 151, 230

Lemco van Ginkel, Blanche 235

Busch, Hermann 26, 81

Löbau, Deutschland 8, 13, 151, 159, 179,

Caracas, Venezuela 318

180, 203, 215

Celle, Deutschland 231

Marcus, Clare Cooper 10, 16

Cité Frugès, Pessac, Frankreich 14, 310, 315

Marseille, Frankreich 8, 14, 233, 234, 237,

Cupers, Kenny 15, 304

239, 240, 252, 255, 257, 304, 309

Daiber, Alfred 34

Mattern, Hermann 230

Dautry, Raoul 233

Mehrfamilienhaus in Siemensstadt, Berlin

Davidson, Tonya 11, 16

(Scharoun) 230

De Vletter, Martien 21, 29, 80

Meyer, Erna 19, 20, 29, 43, 57

Deutscher Werkbund 19, 151

Mies van der Rohe, Ludwig 8, 13, 19, 20, 25,

Dresden, Deutschland 159, 179 Fassbaender, Rolf 8, 12, 13, 24 – 79, 309, 316, 318 Feltrup, Claudia 230

27, 28, 41, 50, 80, 82 – 149, 151, 308, 318 Modern Architecture: International Exhibition (The International Style: Architecture since 1922; Ausstellung) 8, 21, 80, 231

Fischer, Theodor 230

Modulor-Maßlehre 233, 304

Fondation Le Corbusier 12, 240

Moreau, Gisèle 12, 14, 238 – 305, 309, 313

Frankfurter Küche 174, 231

Mumford, Lewis 304

Gandini, Bénédicte 240

Museum of Modern Art, New York, USA 8,

Gebrüder Grimm 162

20, 148

Goldhagen, Sarah Williams 8, 15

New York, USA 8

Goron, Herr und Frau 14, 315

Norberg-Schulz, Christian 84, 148

Gosseye, Janina 9, 10, 15, 16, 318

OMA 15

Gropius, Walter 14, 20, 27, 151

Ora-ito 243

Hammer, Ivo 148, 318

Otto, Christian F. 80

Hammerbacher, Herta 230

Oud, J. J. P. 8, 13, 18 – 81, 308, 311, 313,

Hammer-Tugendhat, Daniela 148, 149, 308, 318

316, 318 Perriand, Charlotte 252, 274

Häring, Hugo 230

Pessac, Frankreich 14, 310, 315

Haus Schminke, Löbau, Deutschland 8, 12,

Pevsner, Nikolaus 8, 15

13, 150 – 231, 309, 311, 312, 313

Pommer, Richard 80

328

Index

Prouvé, Jean 250, 286

Tugendhat, Herbert 88, 95, 103, 118

Rawsthorn, Alice 83, 148

Unité Berlin, Berlin, Deutschland 304

Reich, Lilly 83, 92, 132, 148

Unité Briey-en-Forêt, Briey, Frankreich 304

Reif, Hans 14, 27, 81

Unité d’Habitation, Marseille, Frankreich 8,

Reihenhaus Weissenhofsiedlung, Stuttgart, Deutschland 8, 12, 13, 18 – 81 Ripert, Lilette 235, 253, 254 Roder-Müller, Grete 83

12, 14, 232 – 305, 309, 311, 318 Unité Firminy, Firminy, Frankreich 304 Unité Rezé-les-Nantes, Nantes, Frankreich 257, 304, 305

Sainsbury, Geoffrey 305

Van der Plaat, Deborah 10, 16, 318

Samuel, Flora 152, 230

Vanstiphout, Wouter 85, 149

Savoye, Eugénie 17

Villa Savoye, Poissy, Frankreich 17

Savoye, Jean-Marc 17

Villa Tugendhat, Brno, Tschechien 8, 12, 13,

Savoye, Roger 17

82 – 149, 311, 315, 317

Sbriglio, Jacques 233, 304, 305

Wagenaar, Cor 21, 29, 80

Scharoun, Aenne 159, 162, 163, 167, 183

Weissenhofmuseum 12, 24

Scharoun, Hans 8, 13, 150 – 231, 309

Weissenhofsiedlung, Stuttgart, Deutsch-

Schlemmer, Oskar 159 Schminke, Charlotte 151, 159, 160, 176, 177, 178, 185

land 14, 18 – 81, 306, 316 Wittig, Frau 30 Wogenscky, André 305

Schminke, Erika 159, 160, 172, 175

Wohnung und Werkraum (Ausstellung) 151

Schminke, Fritz 151, 159, 160, 163, 170,

Wrocław, Polen (vor 1945 Breslau) 151, 230

215, 230, 231 Schminke, Gertraude 159, 160 Schminke, Harald 159, 160, 177, 178, 187 Schuldenfrei, Robin 148 Schütte-Lihotzky, Grete 231 Sebba, Rachel 10, 11, 16 Sherwood, Roger 237, 304 Siedlung Am Kochenhof, Stuttgart, Deutschland 35 St. Gallen, Schweiz 89, 90, 132, 145 Stanford, Kalifornien, USA 96 Stead, Naomi 9, 10, 15, 16, 313, 318 Stiftung Haus Schminke 12, 158, 231 Stuttgart, Deutschland 8, 13, 19, 26, 80 Taverne, Ed 21, 29, 80 Tegethoff, Wolf 83, 148, 319 Tübingen, Deutschland 98, 149 Tugendhat, Ernst 8, 12, 13, 88 – 149, 308, 313 Tugendhat, Fritz 83, 88, 94, 140, 148, 149, 309 Tugendhat, Grete 83, 88, 89, 103, 121, 148, 149, 308, 318 Tugendhat, Hanna 88, 89, 93, 103, 118, 125, 149

Zumpfe, Helga 8, 12, 13, 158 – 229, 309, 311, 318