Kartellsanktionsrecht: Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts [1 ed.] 9783428555932, 9783428155934

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Kartellsanktionsrecht: Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts [1 ed.]
 9783428555932, 9783428155934

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Schriften zum Europäischen Recht Band 185

Kartellsanktionsrecht Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts

Von Ahmad Chmeis

Duncker & Humblot · Berlin

AHMAD CHMEIS

Kartellsanktionsrecht

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 185

Kartellsanktionsrecht Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts

Von Ahmad Chmeis

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover hat diese Arbeit im Sommersemester 2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-15593-4 (Print) ISBN 978-3-428-55593-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-85593-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Diese Arbeit entstand in den Jahren 2014 bis 2017 während meiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Assistent meiner beiden verehrten akademischen Lehrer, Professor Dr. Bernd H. Oppermann und Professor Dr. Friedrich-Class Germelmann. Sie wurde im Wintersemester 2017/2018 an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität in Hannover als Promotionsschrift eingereicht. Rechtsprechung und Literatur wurden bis Januar 2018 berücksichtigt. Gutachter im Promotionsverfahren waren Herr Professor Dr. Bernd H. Oppermann (Wirtschaftsrecht) und Frau Professorin Dr. Petra Buck-Heeb (Kapitalmarktrecht), die mich durch konstruktive Anregungen bereits während des Studiums und auch später während der gesamten Promotionsphase stets dazu brachten, meine eigene Position in Frage zu stellen und zu überdenken. Gleiches gilt für den Vorsitzendenden der Prüfungskommission, Herrn Professor Dr. ClassFriedrich Germelmann (Europarecht), der immer Zeit für eine Auseinandersetzung mit meinen Thesen finden konnte. Alle haben durch ihre Unterstützung maßgeblich an der Entstehung dieser Arbeit mitgewirkt. Ihnen gilt daher mein besonderer Dank. Danken möchte ich auch der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Aufnahme in die Graduiertenförderung im Sommersemester 2014, die meine Arbeit bis zum Ende hin finanziell und ideell unterstützt hat. Durch die umfangreiche Förderung der Stiftung in Form von wissenschaftlichen Fachtagungen, Konferenzen und Arbeitskreisen, die meine Leidenschaft für das gemeinsame Projekt Europa entfachten, konnte meine Arbeit wichtige Erkenntnisse aus interdisziplinären Gesprächen mit anderen Wissenschaftlern speisen. Diese Schrift widme ich meinem Vater, Ali Chmeis, und meiner leider zu früh verstorbenen Mutter, Rajaá Hamdar, die Anfang der 1990er Jahre aus dem Libanon nach Europa geflüchtet sind, um uns Kindern Freiheit, Sicherheit und eine bessere Bildung zu ermöglichen. Daher kann diese Arbeit nur im Ansatz jenen Dank ausdrücken, den ich für meine Eltern empfinde. Hannover, August 2018

Ahmad Chmeis

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Einführung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. These und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Ansatz und Eingrenzung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Allgemeiner Teil § 2 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Kartellsanktionen als wichtigstes Instrument der Wettbewerbspolitik . . . . . B. Rechtsquellen und Rechtsregime des Kartellsanktionsrechts . . . . . . . . . . . . I. Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Entwicklung des Kartellsanktionsrechts seit Einführung der VO 1/2003 . . I. Dezentralisierung des kartellrechtlichen Vollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Institutionalisierung der Behördenkooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konvergenztendenzen im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die Diskussion um die künftige Ausrichtung des deutschen Kartellsanktionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Debatte über die Kriminalisierung des Kartellrechts . . . . . . . . . . . . II. Die Debatte über mehr europäische Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3 Relevantes Spannungsfeld: Kartellsanktionen zwischen Prävention und Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Prävention als kartellrechtliches Paradigma? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Prävention als Hauptanliegen der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Praktische Relevanz und Auswirkung des kartellrechtlichen Präventionsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Rechtsstaatliche Schranken des kartellrechtlichen Präventionsgedankens . . I. Die Verhältnismäßigkeit von Kartellsanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Geltung von strafrechtlichen Fundamentalprinzipien im Kartellverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 1. Grundrechtliche Einhegung strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Fundamentalprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das grundrechtliche Mehrebenensystem im ECN . . . . . . . . . . . . . b) Strafrechtliche Grundsätze nach dem GG, der GRC und der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verhältnis von Kartellsanktionsrecht und Strafrecht . . . . . . . . . . a) Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kartellsanktionsverfahren als „strafrechtliche Anklage“? . . . . . . c) Kategoriale oder graduelle Anwendung der strafrechtlichen Grundsätze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die juristische Person als Differenzierungskriterium . . . . . . . . . . e) Neureflexion: Verwaltungssanktionen als Instrument der Wirtschaftsaufsicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung und Schlussfolgerung für den Fortgang der Untersuchung

§ 4 Die Problematik der Behördenkooperation im Europäischen Wettbewerbsnetzwerk (ECN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Unterschiedliche Kartellsanktionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Amtshilfe und Informationsaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Der unterschiedliche Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Der Verteilungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die „gute Eignung“ einer Behörde als entscheidendes Merkmal der Fallverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Justiziabilität der Fallverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtscharakter der Netzwerkbekanntmachung im ECN . . . . . . . . . . 2. Konkretes Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfahrensrechtliche Risiken für Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Die Kronzeugenbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Multi-Stop-Shop innerhalb des ECN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfahrensrechtliche Risiken für Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterschiedliche Voraussetzungen für Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine rechtliche Bindungswirkung einer behördlichen Immunität gegenüber einer anderen Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ne bis in idem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Zusammenfassung und Schlussfolgerung für den Fortgang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des Europäischen Wettbewerbsnetzwerkes (ECN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 A. Konvergenz aufgrund einer Verpflichtung durch den Richtlinien-Vorschlag der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Inhaltsverzeichnis

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I. Hintergrund und öffentliche Konsultation durch die Kommission . . . . II. Die einzelnen Kapitel des Richtlinien-Vorschlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gegenstand, Geltungsbereich und Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . 2. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unabhängigkeit und Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Untersuchungs- und Entscheidungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Geldbußen und Zwangsgelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kronzeugenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Amtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Allgemeine Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beurteilung des RL-Vorschlags im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Befunde aus § 4 dieser Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konvergenz unterschiedlicher Kartellsanktionssysteme innerhalb des ECN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbesserter Rechtsrahmen für die behördliche Amtshilfe . . . . . . . . 3. Keine Vorgaben hinsichtlich des Verteilungsmechanismus . . . . . . . . 4. Kein One-Stop-Shop für Kronzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Vereinbarkeit des Richtlinien-Vorschlags mit dem Primärrecht . . . . . . . 1. Wahl des richtigen Instruments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundrechtskonformität des Richtlinien-Vorschlags . . . . . . . . . . . . . 5. Grundrechtsmaßstab bei einer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten im Falle einer Nichtumsetzung des Richtlinien-Vorschlags durch den EU-Gesetzgeber . . . . . . . I. Faktischer Konvergenzdruck mit dem europäischen Kartellsanktionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorgaben aus dem EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundrechtsmaßstab bei einer autonomen Konvergenz durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das grundrechtliche Mehrebenensystem innerhalb des ECN . . . . . . 2. Grundrechtliche Konvergenztendenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtsstandard in nationalen Kartellsanktionsverfahren bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV . . . . . . c) Das Problem des Verhältnisses zwischen GRC und EMRK im Kartellsanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 3. Der Grundrechtsschutz juristischer Personen im Kartellsanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Unterscheidung zwischen juristischen und natürlichen Personen am Beispiel der Verzinsungspflicht nach § 81 VI GWB . . . b) Justizgrundrechte und derivativer Grundrechtsschutz nach Art. 19 III GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die marginale Bedeutung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie innerhalb des ECN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dogmatische Einordnung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie II. Durchbrechungen der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie bereits durch die VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Eigenarten des ECN durch den direkten und indirekten Vollzug des Kartellrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beweislastregelung nach Art. 2 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV nach Art. 3 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zuständigkeit der nationalen Kartellbehörden nach Art. 5 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zuständigkeit der nationalen Gerichte nach Art. 6 VO 1/2003 . . . . . 6. Evokationsrecht der Kommission gem. Art. 11 VI VO 1/2003 . . . . . 7. Keine entgegenstehenden Entscheidungen gem. Art. 16 VO 1/2003 8. Verfahrensrechtliche Stellung der nationalen Wettbewerbsbehörden gem. Art. 35 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung und Schlussfolgerung für den Fortgang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderer Teil

§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens . . . . . . . . . . A. Überblick und Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtscharakter und Ablauf des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Adressat und Verschuldensmaßstab einer Kartellsanktion . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsfigur der „wirtschaftlichen Einheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Funktionsträgerprinzip im europäischen Kartellrecht . . . . . . b) Die Rechtspersönlichkeit des Kartellbußgeldadressaten . . . . . . . . c) Zurechnung von Handlungen natürlicher Personen . . . . . . . . . . . . d) Rechtsfolgen der wirtschaftlichen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konzernhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nachfolgehaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Das weite Ermessen der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der More Economic Approach und seine Auswirkungen auf das Ermessen der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rahmen und Bemessung von Kartellsanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die einzelnen Bußgeldtatbestände in Art. 23 I, II VO 1/2003 . . b) Bußgeldbemessung durch Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kooperationsmöglichkeiten durch Kronzeugenbehandlung . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkretisierung durch Kronzeugenmitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Kronzeugenregelung im ECN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kooperationsmöglichkeiten durch Vergleichsverfahren (Settlements) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkretisierung durch die Vergleichsmitteilung . . . . . . . . . . . . . . 5. Sanktionsbedingte Zahlungsunfähigkeit („inability to pay“) . . . . . . . 6. Abschließende Anmerkungen aus marktrechtlicher Perspektive . . . IV. Rechtsschutz im Kartellsanktionsverfahren vor dem Gerichtshof . . . . . 1. Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfügungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beschleunigungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfungsdichte des Gerichtshofs im Kartellsanktionsverfahren . . . . a) Rechtmäßigkeitskontrolle gem. Art. 263 AEUV . . . . . . . . . . . . . . b) Unbeschränkte Überprüfung gem. Art. 261 AEUV i.V. m. Art. 31 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Prüfungsdichte des Gerichtshofs in der kartellrechtlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Keine Verletzung rechtsstaatlicher Fundamentalprinzipien . . . . . . . . . . . . . . I. Stand der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die wesentlichen Kritikpunkte im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Recht auf ein faires Verfahren im Hinblick auf die Sanktionspraxis der Unionsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die due process-Debatte im europäischen Kartellsanktionsrecht b) Rechtspolitische Maßnahmen der Kommission zur Verbesserung der Kartellverfahren und Stärkung der Verfahrensrechte . . 2. Die Unschuldsvermutung im Hinblick auf die Heranziehung der wirtschaftlichen Einheit als Sanktionsadressatin . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Schuldgrundsatz im Hinblick auf den Verschuldensmaßstab nach Art. 23 II VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verbotsirrtum im europäischen Kartellrecht? . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Bestimmtheitsgebot im Hinblick auf das weite Kommissionsermessen gem. Art. 23 II VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Selbstbelastungsfreiheit im Hinblick auf das Auskunftsverlangen der Kommission gem. Art. 18 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung und Schlussfolgerung für den Fortgang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens . . . . . . . . . . . . . A. Systematik des deutschen Kartellsanktionsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das deutsche Kartellsanktionsverfahren im Gefüge des Ordnungswidrigkeitenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Zweigleisigkeit des deutschen Kartellverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundzüge des Kartellverwaltungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundzüge des Kartellsanktionsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konvergenzstand mit dem EU-Kartellsanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . 1. Ermittlungsbefugnisse des BKartA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Durchsuchungen von Geschäftsräumen und anderen Räumlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sektorspezifische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen . . . . . . . . . . . . 2. Rahmen und Bemessung einer Kartellsanktion durch Leitlinien . . . 3. Kooperationsmöglichkeiten für Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kronzeugenprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Settlement-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sanktionsbedingte Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Nichterfüllung europäischer Vorgaben bis zur 9. GWB-Novelle 2017 . . . . . I. Im Hinblick auf die Bestimmung des richtigen Adressaten einer Kartellsanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Haftungssystem nach dem OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konzernhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nachfolgehaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Im Hinblick auf Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen . . . . . . . III. Im Hinblick auf die verfahrensrechtliche Stellung des BKartA im gerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017: Ein großer Wurf? . . . . . . I. Die These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Maßgebliche Änderungen durch die 9. GWB-Novelle 2017 . . . . . . . . . . III. Angleichung des deutschen Kartellsanktionsrechts an europäische Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Übernahme der wirtschaftlichen Einheit in das deutsche Kartellsanktionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

214 217 220 221 223 223 223 224 225 225 228 228 229 229 230 230 232 232 233 233 234 235 235 236 238 243 244 246 246 248 249 250

Inhaltsverzeichnis

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a) Einzelheiten zur Neuregelung des § 81 IIIa–e GWB . . . . . . . . . . 250 aa) Unternehmensgerichtete Sanktionen gem. § 81 IIIa GWB . . 250 bb) Gesamtrechtsnachfolge gem. § 81 IIIb GWB . . . . . . . . . . . . . 252 cc) Wirtschaftliche Nachfolge gem. § 81 IIIc GWB . . . . . . . . . . 253 dd) Höchstmaß der Sanktion und Verjährung gem. § 81 IIId GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 ee) Gesamtschuldnerische Haftung gem. § 81 IIIe GWB . . . . . . 254 ff) Ausfallhaftung gem. § 81a GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) Stellungnahme und Bewertung der Neuregelung in § 81 IIIa–e GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 aa) Die Neuregelung im Lichte eines kohärenten Haftungssystems innerhalb des ECN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 bb) Die Neuregelung im Lichte des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 cc) Die Neuregelung im Lichte des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 dd) Die Neuregelung zwischen europäischer Konvergenz und deutschem Systemdenken: Eine Herausforderung für die kartellrechtliche Praxis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 2. Erweiterung von Auskunftspflichten im behördlichen Sanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 a) Die Neufassung des § 81b GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 b) Vereinbarkeit mit dem nemo tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . 267 3. Kooperation zwischen BKartA und Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . 268 a) Die Neufassung des § 82 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 IV. Zwischenergebnis: Nur teilweise Erfüllung europäischer Vorgaben . . . 269 D. Weiterer Umsetzungsbedarf im Hinblick auf den Richtlinien-Vorschlag der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 I. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Die grundsätzliche Problematik des deutschen Kartellsanktionssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Der Zwischenbericht des BKartA zum Expertenkreis Kartellsanktionsrecht: Ein tauglicher Lösungsvorschlag? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 II. Rechtlicher Rahmen denkbarer Verfahrensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. Vorgaben aus dem europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Grundrechtsstandard im Kartellsanktionsverfahren insbesondere im Hinblick auf juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 III. Grundstruktur und Charakter des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 1. Überprüfung behördlicher Entscheidung oder de novo-Entscheidung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

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Inhaltsverzeichnis a) Richtervorbehalt nach Art. 92 GG sowie Anspruch auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 IV GG und Art. 6 EMRK . . . . . b) Eigene gerichtliche Entscheidung über die Bußgeldhöhe nach dem Vorbild des Art. 31 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besonderer Strafprozess oder Einbettung in den Verwaltungsprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung des Zwischenberichts im Lichte des Richtlinien-Vorschlags der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Mögliche Ausgestaltung des Verfahrensrechts im Einzelnen . . . . . . . . . 1. Abkehr vom „Inbegriff der Hauptverhandlung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verwendung der behördlichen Akten und Einführung von Schriftstücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Materielle Unmittelbarkeit und Zeugenbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Richterliche Entscheidungsfreiheit in der Beweiserhebung und Beweisantragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Umfang und Grenzen des Frage- und Konfrontationsrechts . . . . . . . 6. Rügeobliegenheiten, Präklusionsvorschriften, Übergang zu einem adversatorischen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Rollenverteilung bei der Vertretung der Anklage im Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Uneingeschränktes Fragerecht des BKartA im gerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Unterschiedliche Ermittlungsbefugnisse im Verwaltungs- und Sanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Weisungsgebundenheit und politische Unabhängigkeit von Behörden . . 1. Bundeskartellamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Gesetzliche Regelung der Bußgeld-Leitlinien und Bonusregelung des BKartA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Lösungsvorschlag: Einführung eines Kartellverfahrensrechts sui generis für juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Spaltung der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung gegen juristische und natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das niederländische Kartellverfahren als Vorbild für eine mögliche Umgestaltung des deutschen Kartellsanktionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 8 Schlussteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . I. Kartellsanktionen als wirtschaftspolitisches Instrumentarium mit strafrechtlichem Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Keine bedingungslose Anwendung strafrechtlicher und strafprozessualer Garantien im Kartellsanktionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Divergierende Verfahrensstandards als akute Gefährdung der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des ECN . . . . . .

276 278 279 280 282 283 286 288 290 292 293 295 298 300 301 301 303 304 306 306 309 311 311 311 312 313

Inhaltsverzeichnis IV. Mögliche gesetzgeberische Maßnahmen zur Lösung der verfahrensrechtlichen Probleme im ECN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das europäische Kartellsanktionsrecht und sein Einfluss auf die nationalen Verfahrensrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das deutsche Kartellsanktionsrecht im Spannungsfeld zwischen europäischer Konvergenz und nationalem Systemdenken . . . . . . . . . . . . . . . . B. Bewertung der aktuellen Entwicklung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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314 315 316 316

Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

§ 1 Einleitung A. Einführung und Problemstellung Das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen – auch bekannt unter dem Begriff des Kartellrechts – gehört seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft1 zu den tragenden Säulen des europäischen Binnenmarktes. Ihn zu erhalten und zu schützen ist notwendige Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung Europas, basierend auf der Grundlage eines ausgewogenen und innovativen Wirtschaftswachstums sowie einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt. Ein möglichst unverfälschter und fairer Wettbewerb ist somit unerlässlich für die Schaffung von Wohlstand und Arbeitsplätzen zum Wohle der Verbraucher. Diese, in Art. 3 III EUV generalklauselartig formulierten Ziele der heutigen Europäischen Union finden ihre Konkretisierung unter anderem in den Wettbewerbsvorschriften der Art. 101, 102 AEUV, die im Allgemeinwohlinteresse Wettbewerbsbeschränkungen jedweder Art verbieten. Hiernach sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen sowie der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verboten, die zu einer Beschränkung des freien Wettbewerbs führen. Adam Smith, der Urvater der klassischen Volkswirtschaftslehre, erkannte bereits 1776 die Gefahr, die mit Wettbewerbsbeschränkungen einhergeht: Denn Unternehmen aus derselben Branche kämen selten zusammen, „ohne dass ihre Unterhaltung mit einer Verschwörung gegen das Publikum oder einem Plan zur Erhöhung von Preisen endigt“.2 Folge dieser unternehmerischen Verschwörungen gegen das Publikum sind bekanntlich erhebliche volkswirtschaftliche Schäden, die im Jahre 2007 allein in Europa auf 260 Milliarden Euro bemessen wurden. Um diesen Schaden an der Allgemeinheit wiedergutzumachen, sieht die europäische Wettbewerbspolitik heute unterschiedliche wettbewerbsrechtliche Instrumente vor, die egoistisches und ausschließlich auf Gewinnstreben gerichtetes Verhalten von Unternehmen disziplinieren sollen. Neben der privaten Kartellrechtsdurchsetzung, die erst kürzlich durch die Umsetzung der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie erneut an Bedeutung gewonnen hat, ist und bleibt die öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung das Hauptinstrument der europäischen Wettbewerbspolitik, die in den letzten Jah1 Damals geregelt in Art. 85, 86 EWGV, nach dem Übergang zur Europäischen Gemeinschaft in Art. 81, 82 EGV und seit Gründung der heutigen Europäischen Union in Art. 101, 102 AEUV. 2 Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, 1974, S. 171 f.

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§ 1 Einleitung

ren zu immer härteren Kartellsanktionen gegriffen hat: So wurde beispielsweise von der Kommission erst kürzlich gegen das LKW-Kartell ein Rekordbußgeld i. H. v. 2,93 Milliarden Euro verhängt.3 Nach Feststellung der EU-Kommission haben die LKW-Hersteller Volvo/Renault, Daimler, IVECO und DAF jahrzehntelang Verkaufspreise abgesprochen und die mit der Einhaltung der strengeren Emissionsvorschriften verbundenen Kosten in abgestimmter Form an die Kunden weitergegeben. Kurz danach verhängte die Kommission auch gegen den Giganten Google eine Rekordgeldbuße i. H. v. 2,42 Milliarden Euro, da die Suchmaschine laut Kommission ihre marktbeherrschende Stellung missbrauche, indem Konkurrenten bei der Online-Produktsuche benachteiligt würden.4 In beiden Fällen hat sich die Kommission bei ihrer Sanktionsentscheidung von einem präventionsrechtlichen Gesichtspunkt leiten lassen, um Unternehmen künftig vor kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen möglichst abzuschrecken. Kartellsanktionen – um die es in dieser Arbeit vornehmlich gehen wird – müssen Unternehmen hart und spürbar treffen, um ihre präventionsrechtliche Wirkung zu entfalten. Diese, auf General- und Spezialprävention gestützte Sanktionspraxis der Kommission inspiriert mittlerweile auch nationale Wettbewerbsbehörden in Europa, die ihre Sanktionssysteme allmählich europäischen Standards anpassen. Dem Jahresbericht 2014 des Bundeskartellamts (BKartA)5 kann beispielsweise entnommen werden, dass allein in diesem Jahr Kartellsanktionen i. H. v. insgesamt 1,117 Milliarden Euro verhängt wurden – zwar bei weitem nicht so hoch wie die Kartellsanktionen der Kommission, jedoch aus nationaler Perspektive so viel wie niemals zuvor. Diese verschärfte Sanktionspraxis ist ausgehend vom unternehmerischen Gewinnstreben dem Grunde nach auf zwei Phänomene zurückzuführen, die mit der Globalisierung von Wettbewerb und der damit verbundenen Globalisierung von Wettbewerbsbeschränkungen zusammengefasst werden können.6 Wettbewerbswidrige Vereinbarungen sowie der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung sind nämlich inzwischen kein nationales Phänomen mehr, sondern breiten 3 Handelsblatt v. 19.07.2016, „Milliardenstrafe für LKW-Kartell“, abrufbar unter: http://www.handelsblatt.com /unternehmen/industrie/eu-bestraft-daimler-und-co-milliar denstrafe-fuer-lkw-kartell/13896088.html (aufgerufen am 31.10.2017). 4 Handelsblatt v. 27.06.2017, „Google soll 2,42 Milliarden Euro zahlen“, abrufbar unter: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/eu-kommission-verhaengtrekordstrafe-google-soll-2-42-milliarden-euro-zahlen/19984962.html (aufgerufen am 31.10.2017). 5 Abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Jah resbericht/Jahresbericht_2014.pdf?__blob=publicationFile&v=3, S. 36 f. (aufgerufen am 31.10.2017). 6 Das Phänomen der Globalisierung von Wettbewerbsbeschränkungen ist nicht neu, sondern wurde schon in den 1950er Jahren als Folge der Liberalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen intensiv diskutiert, vgl. etwa Wolany, Internationale Kartellpolitik, in: Jahn/Junckerstroff, Internationales Handbuch der Kartellpolitik, 1958, S. 515 ff. m.w. N.

A. Einführung und Problemstellung

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sich in Zeiten von internationaler Marktöffnung, Abbau von Handelshemmnissen und Freihandelsabkommen allmählich wie eine Epidemie aus, die internationale Märkte infizieren und Wettbewerbshüter auf der ganzen Welt vor neuen Herausforderungen stellen.7 Durch die Globalisierung der Märkte steigt der unternehmensbezogene Umsatz, der gemeinhin als Bezugsgröße für Kartellsanktionen herangezogen wird. Kurzum: Je größer und schädlicher eine Wettbewerbsbeschränkung für das Allgemeinwohl ist, desto höher fällt naturgemäß die Kartellsanktion aus. Heute steht die europäische Wettbewerbspolitik vor dem Dilemma, dass die Globalisierung der Wettbewerbspolitik in den letzten Jahren nicht mit der Globalisierung von Wettbewerbsbeschränkungen Schritt halten konnte. Das beruht vordergründig auf dem Grundkonflikt zwischen nationalstaatlicher Souveränität einerseits und einer globalisierten Marktwirtschaft andererseits.8 Spätestens seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft, die im Jahre 1993 aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hervorging, kollidieren marktrechtliche Einheitsvorstellungen mit nationalen Souveränitätsvorbehalten, die freilich die Diskrepanz zwischen der Globalisierung von Wettbewerbsbeschränkung auf der einen Seite und der Globalisierung der Wettbewerbspolitik auf der anderen Seite offenbarten. Auch in der Presse wurde neuerdings im Hinblick auf den Fall Google die Kurzsichtigkeit der europäischen Wettbewerbspolitik betont. Unternehmen werden allmächtig, ohne dass die europäische Wettbewerbspolitik hierauf eine Antwort finden kann; das europäische Kartellrecht wird somit schnell zum zahnlosen Tiger.9 Vor diesem Hintergrund stehen die Wettbewerbshüter in Europa heute umso mehr vor der schwierigen Aufgabe, vor allem geheime Kartelle aufzudecken und zu zerschlagen, da Unternehmen ihr kartellrechtliches Unwesen sinnbildlich gesprochen als „Kinder der Dunkelheit“ hinter verschlossenen Türen treiben.10 Nicht selten erweisen sich deswegen behördliche Ermittlungen gegen kartellrechtliche Zuwiderhandlungen als unbeholfenes Tappen im Dunkeln. Daher sind Wettbewerbsbehörden international umso mehr auf unterschiedliche Kooperationsformen angewiesen, um globale Kartelle aufzudecken. Zwar verfügen einzelstaatliche Wettbewerbsbehörden über umfangreiche Kenntnisse hinsichtlich der Funktionsweise der Märkte auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet. Die Fachexper7

Vgl. etwa Herrmann/Weiß/Oehler, Welthandelsrecht, 2. Aufl., 2007, Rn. 97 ff. Vgl. etwa Mestmäcker, Staatliche Souveränität und offene Märkte, RabelsZ 52 (1988), S. 205–255. 9 Süddeutsche Zeitung v. 15.7.2017, „Google wird allmächtig – die Politik schaut hilflos zu“, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/digital/alphabet-google-wirdallmaechtig-die-politik-schaut-hilflos-zu-1.3579711 (aufgerufen am 31.10.2017). 10 Tagesspiegel v. 19.11.2012, „Wie schädlich sind Kartelle?“, abrufbar unter: http:// www.tagesspiegel.de/politik/wirtschaftskriminalitaet-260-milliarden-euro-schaden-projahr/7404152-2.html (aufgerufen am 31.10.2017). 8

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§ 1 Einleitung

tise und die zur Verfügung stehenden behördlichen Ressourcen finden jedoch schnell bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ihre Grenzen, so dass ohne die Mitwirkung anderer Wettbewerbsbehörden globale Wettbewerbsbeschränkungen nur schwerlich bis gar unmöglich zu bekämpfen sind. Die Kooperation von Wettbewerbsbehörden mit anderen Behörden im Sinne einer institutionellen Zusammenarbeit war bis zur Jahrtausendwende traditionell lange Zeit auf nationaler Ebene angesiedelt. Erst heute finden sich zahlreiche Kooperationsformen, in denen sich unterschiedliche nationale Wettbewerbsbehörden grenzüberschreitend gegenseitig über beweiserhebliche Informationen auszutauschen und gemeinsame Konzepte für eine wirksame Kartellrechtsdurchsetzung entwickeln. In Ermangelung eines einheitlichen Regelungswerkes erschöpft sich die europäische Wettbewerbspolitik heute zwar in einer bloßen Vernetzung der nationalen Regelungswerke der Mitgliedstaaten, die sich teilweise grundlegend unterscheiden. Jedoch scheint sich allmählich ein institutioneller Rahmen bei der Anwendung der europäischen Wettbewerbsvorschriften zu lichten. Die behördliche Kooperation hat sich in den letzten Jahren somit als zentrales Leitmotiv einer gemeinsamen europäischen Wettbewerbspolitik erwiesen, um Hand in Hand den Kampf gegen globale Wettbewerbsbeschränkungen zu führen.11 In diesem Zusammenhang zu nennen sind vor allem das International Competition Network (ICN) sowie das European Competition Network (ECN). Beide Netzwerke bilden neben anderen12 eine Kooperationsplattform der nationalen und internationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte, um die gemeinsame Kooperation in Fragen der Kartellrechtsanwendung und Kartellverfolgung zu intensivieren. Gleichwohl gibt es hinsichtlich des Grades der Institutionalisierung und der damit verbundenen Tätigkeitsschwerpunkte beider Netzwerke erhebliche Unterschiede: Während das ICN namentlich eine Informationsplattform für alle Wettbewerbsbehörden weltweit darstellt,13 um jährliche Konferenzen abzuhalten und im Rahmen von Arbeitsgruppen gemeinsame Standpunkte aus allen Bereichen des Kartellrechts in Diskussionspapieren zu dokumentieren, weist das ECN – das nunmehr in den Fokus dieser Untersuchung rücken wird – einen institutionellen Charakter der kartellrechtlichen Durchsetzung in der Europäischen Union 11 Vgl. dazu etwa Lampert, International Cooperation Among Competition Authorities, ECLR 1999, S. 214; Mozet, Internationale Zusammenarbeit der Kartellbehörden, 1991; Parisi, Enforcement Cooperation Among Antitrust Authorities, ECLR 1993, S. 133; Petersen, Die Internationale Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden, 2005; Zanettin, Cooperation between Antitrust Agencies at the International Level, 2002. 12 Zu nennen sind der Vollständigkeit halber noch die Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD), die European Competition Authorities (ECA) und die United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), die allesamt bedeutende Diskussionsforen für wettbewerbspolitische Fragen bilden. 13 Das ICN wurde im Jahr 2001 unter Beteiligung des Bundeskartellamts (BKartA) von Wettbewerbsbehörden aus 14 Jurisdiktionen gegründet und ist heute auf 130 Mitglieder angewachsen.

A. Einführung und Problemstellung

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auf. Das ECN zeichnet sich im Unterschied zu anderen Politikbereichen der Union durch seine eigenständige institutionalisierte Struktur der behördlichen Kooperation aus, weshalb die Eigenarten des ECN gemeinhin als Schrittmacher eines im Entstehen befindlichen europäischen Kartellverwaltungsrechts angesehen werden.14 Wesentliche Impulse hierfür gibt die Kartellverfahrensverordnung 1/2003 (im Folgenden: VO 1/2003), die die Vorgängerverordnung 16/72 ablöste und seit ihrer Einführung zu einer institutionellen Verdoppelung des kartellrechtlichen Vollzugs in Europa geführt hat. Diese Institutionalisierung der kartellrechtlichen Durchsetzung kommt durch die folgenden maßgeblichen Vorschriften der VO 1/2003 zum Ausdruck: Neben der Kommission werden die nationalen Wettbewerbsbehörden verpflichtet, die Art. 101, 102 AEUV in ihrem nationalen Hoheitsbereich wirksam durchzusetzen. Somit sind erstmals nationale Wettbewerbsbehörden auch europarechtlich zwingend vorgesehen (Art. 35 VO 1/2003). Sie erhalten eine allgemeine Vollzugszuständigkeit (Art. 5 VO 1/2003), um die europäischen Wettbewerbsvorschriften neben ihrem eigenen nationalen Kartellrecht parallel anzuwenden (Art. 3 VO 1/2003). Um eine möglichst kohärente Anwendung der europäischen Wettbewerbsvorschriften innerhalb des ECN zu ermöglichen, dürfen weder die Wettbewerbsbehörden noch die Gerichte der einzelnen Mitgliedstaaten eine einer Kommissionsentscheidung zuwiderlaufende Entscheidung erlassen (Art. 16 VO 1/2003). Dieses System ruft in der Tat das starke Bedürfnis nach Abstimmung und Koordination des kartellrechtlichen Vollzugs hervor, weshalb die Mitglieder des ECN sich stets über relevante Fälle unterrichten (Art. 11 VO 1/2003) und beweiserhebliche Informationen hinsichtlich eines mutmaßlichen Kartells austauschen (Art. 12 VO 1/2003). Oftmals sind auch grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen erforderlich, weshalb die nationalen Wettbewerbsbehörden zur gegenseitigen Amtshilfe verpflichtet sind (Art. 22 VO 1/2003). Je nachdem, welche Behörde im Ergebnis besser geeignet ist, sich des Falles anzunehmen, werden die Fälle zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden dann umverteilt, wobei die Kommission als „Spinne im Netz“ stets das letzte Wort hat (Art. 11 VI VO 1/2003). Diese Institutionalisierung der Behördenkooperation hat in den letzten 15 Jahren dazu geführt, dass die Durchsetzungskraft des europäischen Wettbewerbsrechts durch die tatkräftige Unterstützung der nationalen Wettbewerbsbehörden signifikant angestiegen ist; die VO 1/2003 kann mithin als Antwort auf den oben genannten Grundkonflikt zwischen staatlicher Souveränität und europäischen Einheitsvorstellungen sowie auf die heutigen Herausforderungen der globalisierten Märkte verstanden werden. Es wäre jedoch ein Trugschluss, wenn man in Anbetracht dieser positiven Entwicklung annehmen würde, dass die VO 1/2003 imstande wäre, alle Probleme zu 14 Vgl. dazu Weiß, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der Europäischen Union, § 20, Rn. 1.

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§ 1 Einleitung

lösen, die mit der Globalisierung von Wettbewerbsbeschränkungen verbunden sind. Zwar führte der institutionelle Durchsetzungsrahmen der VO 1/2003 zu einer schleichenden Konvergenz insbesondere in Bereichen des materiellen Kartellrechts, indem die einzelnen Mitgliedstaaten aufgrund des dezentralen Anwendungsregimes (Art. 3 VO 1/2003) ihre materiellrechtlichen Vorschriften – teilweise aber unter Beibehaltung nationaler Besonderheiten15 – an die europäischen Wettbewerbsvorschriften angeglichen haben, um globale Kartelle effektiver zu bekämpfen. Indessen kann die Zusammenarbeit innerhalb des ECN nur bestimmte Bereiche erfassen und stößt jedenfalls dort an ihre Grenzen, wo das Verfahrensrecht der einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet ist. Zwar sind unterschiedliche Verfahrensstandards unter dem Gesichtspunkt der sog. mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie grundsätzlich nicht zu beanstanden.16 Dieser Grundsatz lässt sich jedoch – wie später noch zu zeigen sein wird – nur bedingt auf die o. g. Eigenarten des ECN übertragen, da unterschiedliche Verfahrensrechte mit unterschiedlichen Verfahrensstandards zu einem erheblichen Durchsetzungsdefizit des europäischen Wettbewerbsrechts führen können, wenn trotz der Institutionalisierung der behördlichen Kooperation innerhalb des ECN die Rechtsanwendung intransparent und uneinheitlich ist. Die behördliche Kooperation kann unter diesen Umständen schnell zu einem Fallstrick für Unternehmen werden. Diese Wahrnehmung dürften mittlerweile die meisten Unternehmen haben, die sich aufgrund eines mutmaßlichen Kartelles im Netz der Wettbewerbsbehörden verfangen. So hat beispielsweise der vom EuGH entschiedene Fall in der Sache DHL17 jene Tücken illustriert, die mit divergierenden Verfahrensregeln verbunden sein können: In diesem Fall kamen Unternehmen, die einen Kronzeugenantrag gestellt haben, aufgrund einer wegen unterschiedlicher Verfahrensregeln falschen Selbstanzeige nicht in den Genuss der kartellrechtlichen „Straffreiheit.“ Die Kronzeugenregelung wurde hier aufgrund fehlender Transparenzerfordernisse und Rechtsverbindlichkeit von nationalen Entscheidungen ad absurdum geführt, mit der Folge, dass Unternehmen nicht die erhoffte Immunität genossen haben, sondern im Gegenteil einer hohen Kartellsanktion ausgesetzt waren. Nicht selten ist daher im Zusammenhang des ECN sinnbildlich von einem „Labyrinth“,18 einem „Dschungel“ 19 oder gar von einem 15 Zum Konvergenzstand im deutschen Kartellrecht und zu den verbliebenen Unterschieden im Hinblick auf das europäische Kartellrecht vgl. ausführlich den Länderbericht von Oppermann/Chmeis, in: Almasen/Whelan, The Consistent Application of EU Competition Law. Substantive and Procedural Challenges, Chapter 11, 2017, S. 195 ff. 16 Vgl. hierzu Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 58 ff. 17 EuGH v. 20.1.2016, Rs. C-428/14 – DHL. 18 Soltész, Der Kronzeuge im Labyrinth des ECN – Zur Behandlung von LeniencyAnträgen im Netzwerk der Kartellbehörden, WuW 2005, S. 616 f. 19 Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungsund Kartellrecht, 2011, S. 339.

A. Einführung und Problemstellung

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rechtlichen „Graus“ 20 für Unternehmen die Rede, die langsam, aber sicher den rechtlichen Überblick verlieren. Dass Unternehmen aufgrund dieses rechtlichen Chaos von einer künftigen Beanspruchung der Kronzeugenregelung absehen könnten, verwundert indessen nicht, dürfte aber vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung von Kronzeugenanträgen für die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV bedenklich erscheinen. Es gibt allerdings auch findige Unternehmen, die diesen misslichen Rechtszustand innerhalb des ECN geschickt ausnutzen, etwa um hohen Kartellsanktionen zu entgehen. Medienwirksam wurde beispielsweise der in Deutschland bekannt gewordene Fall Clemens Tönnies, der noch bis 2016 für Furore gesorgt hat. Hier haben Wursthersteller durch eine gesellschaftsrechtliche Umstrukturierung des Unternehmens das BKartA taktisch ausmanövriert, so dass dem Fiskus im Ergebnis Bußgelder i. H. v. 128 Millionen Euro entgingen.21 Die Unternehmen hatten hier eine Rechtslücke im deutschen Recht ausgenutzt (sog. Wurst-Lücke), das im Hinblick auf die Bestimmung des richtigen kartellrechtlichen Sanktionsadressaten nicht die gleiche Reich- und Tragweite hatte wie das europäische Recht. Hätte die Kommission also den Fall an sich gezogen, was prinzipiell möglich gewesen wäre (vgl. Art. 11 VI VO 1/2003), hätte das Unternehmen mit einer hohen Kartellsanktion rechnen müssen. Auch wenn dieser Fall sich aus Sicht der Interessenvertretung anders darstellt als der Fall DHL, so kann nicht in Abrede gestellt werden, dass gegensätzliche Rechtsgrundsätze innerhalb des ECN auch hier dazu führen können, dass die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV in Frage gestellt wird; denn eine wirksame Durchsetzung des Wettbewerbsrechts setzt logischerweise auch eine wirksame Vollstreckung von Kartellsanktionen voraus, die sich im Falle des Wegfallens des kartellrechtlichen Sanktionsadressaten weitgehend erledigt. Die beiden Fälle DHL und Tönnies, die nur wenige von vielen Problemen offenbaren, die mit divergierenden Rechtsordnungen innerhalb des ECN einhergehen können, haben eines gemeinsam: Unterschiedliche Verfahrensstandards haben gemeinhin eine negative Auswirkung auf die wirksame Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts, wodurch das wirksame Funktionieren des Binnenmarktes insgesamt beeinträchtigt wird. Auf diese Missstände hat die Kommission in der Vergangenheit wiederholt hingewiesen, etwa durch zahlreiche Empfehlungen zur Konvergenz der einzelstaatlichen Kartellverfahren. Diese im Ergebnis fruchtlos gebliebenen Maßnahmen haben die Kommission erst kürzlich dazu verleitet, einen Richtlinien-Vorschlag (im Folgenden: RL-Vorschlag) zur Stärkung der nationalen Wettbewerbsbehörden im Hinblick auf die wirksame 20

Harnos, ZWeR 2016, S. 284, 284. Vgl. BKartA, Pressemitteilung v. 19.6.2016, abrufbar unter: https://www.bundes kartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2016/19_10_2016_Clemens T%C3%B6nnies_Gruppe_Wurst.html (aufgerufen am 31.10.2017). 21

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§ 1 Einleitung

Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes zu erlassen. Die umfangreichen Umbaumaßnahmen des Kartellrechtsvollzugs finden jedoch auch auf nationaler Ebene statt. Die deutsche Bundesregierung hat im Jahr 2012 in einer Antwort auf eine kleine Anfrage durch die Abgeordneten der SPDFraktion moniert, dass die Anwendung materiell gleichen Rechts (hier die Art. 101, 102 AEUV) in national unterschiedlichen Verfahrensrechten nicht in jedem Fall gleich effektiv möglich sei.22 Daher enthielt der Koalitionsvertrag vom 16. Dezember 2013 über die Bildung einer neuen Bundesregierung seinerseits den politischen Auftrag, weitere Schritte zur Straffung des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens bei Kartellverstößen zu prüfen.23 In der Tat wurde diesem Auftrag durch die kürzlich in Kraft getretene 9. GWB-Novelle 2017 teilweise Folge geleistet, die vor allem im Hinblick auf die Wurst-Lücke maßgebliche Änderungen im deutschen Kartellsanktionsrecht mit sich brachte. Durch die 9. GWB-Novelle 2017 zeigte der deutsche Gesetzgeber zum wiederholten Male seine Absicht, bei der Ausgestaltung seines Kartellsanktionsrechts den Schulterschluss mit dem europäischen Recht zu suchen. Dieser Annäherungsprozess, der in Deutschland in Folge der VO 1/2003 bereits durch die 7. GWB-Novelle 2005 begonnen hat, ist, wie noch eingehender zu zeigen sein wird, bei weitem nicht abgeschlossen. Dieser Zustand ist mitunter dem hybriden Rechtscharakter des deutschen Kartellsanktionsverfahrensrechts geschuldet, der durch ein Ineinandergreifen unterschiedlicher Rechtsmaterien zum Ausdruck kommt. Durch die generelle Verweisung vom dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB) auf das Ordnungswidrigkeitenrecht (OWiG) und von dort auf die Strafprozessordnung (StPO) ist das deutsche Kartellsanktionsrecht teilweise eine Domäne des Strafrechts, die sich von Verfassung wegen nur schwerlich in das eng geschnürte Korsett des verwaltungsrechtlich ausgerichteten europäischen Kartellsanktionsrechts pressen lässt.24 Gleichwohl versucht der deutsche Gesetzgeber das GWB nach der „Salamitaktik“ punktuell und in engen Abständen der verwaltungsrechtlichen Struktur des europäischen Rechts nachzubilden. Es verwundert daher nicht, dass an dieser Stelle erhebliche Reibungspunkte zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz entstehen.25 Dem deutschen Gesetzge22

BT-Drucks. 17/11285, S. 2. Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode v. 16.12.2013, S. 17, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsver trag.pdf?__blob=publicationFile (aufgerufen am 31.10.2017). 24 Chmeis, Ad Legendum 02/2017, 172, 175 25 Vgl. dazu das Hintergrundpapier des BKartA zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht am 4.10.2012, abrufbar unter: https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/ Publikation/DE/Diskussions_Hintergrundpapier/Bundeskartellamt%20-%20Kartellbu% C3%9Fgeldverfahren%20zwischen%20deutschem%20Systemdenken%20und%20europ %C3%A4ischer%20Konvergenz.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (aufgerufen am 31.10. 2017). 23

B. These und Zielsetzung

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ber ist zwar im Grundsatz zuzustimmen, dass eine kohärente Anwendung der Art. 101, 102 AEUV nur dann gelingen kann, wenn vergleichbare Verfahrensstandards eingeführt werden, doch fehlte ihm bislang der Mut, das seit 1952 tradierte und überkommene Systemdenken des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts zugunsten einer effektiven und effizienten Kartellverfolgung innerhalb der Europäischen Union grundlegend neu zu überdenken.

B. These und Zielsetzung Ausgehend von dieser Problemstellung sind einheitliche Verfahrensregeln innerhalb des ECN notwendig, um die europäischen Wettbewerbsvorschriften nach Art. 101, 102 AEUV wirksam durchzusetzen. Durch eine Konvergenz der einzelstaatlichen Kartellsanktionsverfahren können die gegenwärtigen Herausforderungen innerhalb des ECN überwunden werden, um globale Wettbewerbsbeschränkungen wirksamer zu bekämpfen und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes insgesamt zu gewährleisten. Diese verdichtete Feststellung wird sich als die zentrale These dieser Arbeit erweisen, die im Fortgang der Untersuchung aus unterschiedlichen Implikationen des Kartellsanktionsrechts speisen wird. Das Herausarbeiten dieser verfahrensrechtlichen Implikationen wird sich jedoch insofern als ein schwieriges Unterfangen erweisen, als das Kartellsanktionsrecht als solches kein abgeschlossenes Rechtsgebiet ist, sondern eher ein Hybrid, bestehend aus unterschiedlichen Rechtsregimen und Rechtsquellen, die eng miteinander verflochten sind. So speist sich das Kartellsanktionsrecht auf vertikaler Ebene aus völkerrechtlichen, europarechtlichen sowie nationalrechtlichen Regelungen, die sich auf horizontaler Ebene weiter unterteilen in verwaltungsrechtliche, strafrechtliche und zivilrechtliche Vorschriften. Durch diese Gemengelage an unterschiedlichen Rechtsregimen und Rechtsquellen, vor allem durch die Überlagerung des nationalen Rechts durch das Europa- und Völkerrecht, gewinnen zudem übergeordnete Integrationsziele an Bedeutung, die die Handhabung und Einordnung des Kartellsanktionsrechts als greifbare und in sich abgeschlossene Rechtsmaterie wesentlich erschweren. Gleichzeitig reizt dieser Befund aber gerade zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung „über den Tellerrand hinaus“, indem die Konturen des Kartellsanktionsrechts „nach und nach aus einzelnen Pinselstrichen“ gezeichnet werden, die dann das Endergebnis bilden.26 Diese Pinselstriche, die in dieser Arbeit nachzuzeichnen sind, werden dabei von unterschiedlichen Leitgedanken getragen, die letztlich auch den Untersuchungsgegenstand näher definieren.

26 Diese Formulierung geht zurück auf den vielzitierten Schlussantrag des Generalanwalts (GA) J. Gand in den verb. Rs. 5, 7 und 13 bis 46/66, Slg. 1967, S. 361, 467 – Kampffmeyer.

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§ 1 Einleitung

C. Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes Gegenstand der Untersuchung ist die verfahrensrechtliche Konvergenz der einzelstaatlichen Kartellsanktionssysteme innerhalb des ECN unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Rechts. Hierbei geht es vornehmlich um die wirksame Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln nach Art. 101, 102 AEUV sowohl durch die europäischen Organe als auch durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Da die Mitgliedstaaten zur dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV verpflichtet sind, wenden sie parallel hierzu das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht an. Zusammenfassend lassen sich innerhalb des ECN drei Vollzugsarten des Kartellrechts unterscheiden: Die Unionsorgane wenden die Art. 101, 102 AEUV durch das eigene Kartellverfahrensrecht nach der VO 1/2003 an. Hierbei handelt es sich um die zentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV (1. Fall). Die deutschen Wettbewerbsbehörden und Gerichte wenden die Art. 101, 102 AEUV durch das nationale Kartellverfahrensrecht an. In diesem Fall spricht man von der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV (2. Fall). Daneben wenden die deutschen Wettbewerbsbehörden und Gerichte das einzelstaatliche Kartellrecht nach dem GWB an, das in einigen Teilen überwiegend mit dem europäischen Kartellrecht harmonisiert wurde, obwohl das nationale Verfahrensrecht vom europäischen Verfahren stark abweicht. Hierbei handelt es sich um eine Anwendung des nationalen Kartellrechts im Rahmen des eigenen Verfahrensrechts (3. Fall). Dieses verfahrensrechtliche Mehrebenensystem führt freilich dazu, dass in den ersten beiden Fällen das exakt gleiche materielle Kartellrecht (Art. 101, 102 AEUV) im Rahmen von zwei unterschiedlichen Verfahrensordnungen und durch unterschiedliche Akteure durchgesetzt wird, zum einen im Rahmen des Verfahrensrechts nach der VO 1/2003 und zum anderen des nationalen Verfahrensrechts (in Deutschland durch das Verfahren nach §§ 80 ff. GWB i.V. m. dem OWiG und der StPO). Andererseits zeigen die Fälle 2 und 3, dass nahezu gleiches materielles Kartellrecht durch das gleiche nationale Verfahrensrecht durchgesetzt wird. Dem Grunde nach bestehen drei unterschiedliche Vollzugsarten, die teilweise vollständig (Art. 101 AEUV, § 1 GWB) oder überwiegend (Art. 102 AEUV, §§ 19 ff. GWB) harmonisiertes Kartellrecht innerhalb des ECN durchsetzen. Diese Arbeit wird sich vornehmlich mit der dezentralisierten Anwendung der Art. 101, 102 AEUV durch die einzelnen Mitgliedstaaten (2. Fall) beschäftigen. Die zentralisierte Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV (1. Fall) spielt nur insoweit eine Rolle, als das europäische Kartellsanktionsverfahren im Besonderen Teil als Referenzrechtsgebiet herangezogen wird, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum deutschen Recht herauszuarbeiten. Das nationale Sanktionsverfahren zur Durchsetzung rein nationalen Kartellrechts (3. Fall) soll dabei nicht berücksichtigt werden. Es mag berechtigterweise der Einwand erhoben werden, dass aufgrund der Vergleichbarkeit der Kartellrechtsdurchsetzung in den Fällen 2

D. Ansatz und Eingrenzung der Untersuchung

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und 3 die gleichen Maßstäbe angelegt werden müssten, da in nationalen Fällen häufig nicht trennscharf zwischen einem rein nationalen und einem grenzüberschreitenden Sachverhalt unterschieden werden kann. Folgerichtig müssten sich die hier gemachten Ausführungen auch auf den 3. Fall übertragen lassen, um widersprüchliche Rechtslagen im nationalen Recht möglichst zu vermeiden. Hiervon geht offenbar auch die Kommission in ihrem RL-Vorschlag aus, der sich unweigerlich auch auf Bestimmungen des Verfahrens hinsichtlich der Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts auswirken wird, da für Wettbewerbsbehörden in der Frühphase von Ermittlungen oftmals noch nicht absehbar ist, ob eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels vorliegt, die zur Anwendung der in den Art. 101, 102 AEUV niedergelegten Grundsätze führt. Daher ist es „schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine solche parallele Anwendung des nationalen Rechts und der Art. 101 und 102 AEUV voneinander zu trennen“.27

D. Ansatz und Eingrenzung der Untersuchung Dieser definierte Untersuchungsgegenstand wird freilich von unterschiedlichen Leitgedanken getragen, die mit den Begriffen der verfahrensrechtlichen „Konvergenz“ der behördlichen „Kooperation“ einerseits sowie der „effektiven“ und „effizienten“ Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV andererseits zusammengefasst werden können. Diese Leitgedanken – oder auch Ansätze – nähern sich dem Untersuchungsgegenstand an und grenzen ihn zugleich ein. Der Begriff der „Konvergenz“ leitet sich aus dem spätlateinischen convergere ab und bedeutet im Wesentlichen „sich annähern“. Begreift man also „Konvergenz“ im weitesten Sinne als allmähliche Angleichung der verschiedenen Rechtsordnungen, könnte man schlichtweg die in der Rechtswissenschaft gängigeren Begriffe der „Rechtsharmonisierung“ oder auch der „Rechtsvereinheitlichung“ wählen. Diese Begriffe werden jedoch nicht selten als hierarchisch deklariert, insbesondere von jenen, die europarechtlichen Einheitsvorstellungen nationale Souveränitätsvorbehalte entgegensetzen.28 Zudem beschreiben rechtsharmonisierende und -vereinheitlichende Maßnahmen oftmals einen vorerst abgeschlossenen Prozess, dem die Entwicklung des Kartellsanktionsrechts innerhalb des ECN nur bedingt gerecht wird. Wie noch zu zeigen sein wird, ist das Kartellsanktionsrecht eine recht lebendige Materie und eine der größten Baustellen innerhalb des 27 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts v. 22.3.2017, COM(2017) 142 final, S. 7, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/antitrust/proposed_directive_de.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 28 Vgl. dazu Tritell, International Antitrust Convergence. A Positive View, Antitrust 19 (Summer 2005), S. 25 ff.

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§ 1 Einleitung

Unionsrechts. Dieser Zustand ist mit der Begrifflichkeit der „Konvergenz“ daher zutreffender beschrieben, der auch einen nicht abgeschlossenen Prozess zugleich meint.29 Die verfahrensrechtliche Konvergenz der Kartellsanktionsregime innerhalb des ECN wird somit zu einem Leitgedanken dieser Arbeit erhoben. Freilich bleibt zu klären, was unter dem Begriff des „Verfahrensrechts“ zu verstehen ist. Durch das Verfahrensrecht soll zunächst die materielle Rechtslage nach der jeweils dazugehörigen Rechtsordnung durchgesetzt werden.30 Legt man dabei das deutsche Verständnis des Verfahrensrechts zugrunde, so würde man sofort an die Strafprozess- und die Verwaltungsprozessordnung denken, die der Durchsetzung des materiellen Straf- und Verwaltungsrechts dienen. Im öffentlichen Recht fällt zudem unter den Begriff des Verfahrensrechts auch das „formelle Recht“, das im Gegensatz zum „materiellen Recht“ äußere Formen staatlichen Handelns regelt, wie etwa Zuständigkeits-, Form- und Begründungserfordernisse. Weiterhin ist das behördliche von dem gerichtlichen Verfahren zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund müsste das Kartellverfahrensrecht streng von sämtlichen materiellrechtlichen Bestimmungen des Kartellrechts getrennt werden, was eine Systematisierung der einzelnen Kapitel dieser Arbeit erschweren würde. Indessen werden unionsweit gebrauchte Rechtsbegriffe grundsätzlich autonom und unabhängig vom innerstaatlichen Verfahren und des dazugehörigen materiellen Rechts ausgefüllt, die den Eigenheiten der Unionsrechtsordnung hinreichend Rechnung zu tragen haben.31 Vor diesem Hintergrund ist der vorliegenden Arbeit eine in sich schlüssige Struktur zu geben, die einem logischen Zusammenhang folgt, so dass sämtliche Elemente des Kartellsanktionsverfahrens zusammengefasst werden, nach denen die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV zu „verfahren“ haben. Unter das Verfahrensrecht fallen daher neben behördlichen und gerichtsverfahrensrechtlichen Regelungen insbesondere materiellrechtliche Bestimmungen des Kartellsanktionsrechts, wie etwa die Bestimmung des richtigen Adressaten oder aber auch die Bestimmung des richtigen Verschuldensmaßstabs einer etwaigen Kartellsanktion. Diese Arbeit folgt somit keiner klassischen Unterteilung zwischen dem traditionellen Verfahrensrecht und dem dazugehörigen materiellen Recht, sondern orientiert sich vor allem im Besonderen Teil daran, welche Verfahrensschritte bei der Verhängung einer Kartellsanktion durchlaufen werden, an29 Zum Begriff der Konvergenz vgl. Terhechte, Das internationale Kartellrecht zwischen Konvergenz und Extraterritorialität, in: Bungenberg/Meesen (Hrsg.), Das internationale Wirtschaftsrecht im Schatten des 11. September 2001, 2004, S. 87 ff.; ders., ZaöRV 68 (2008), S. 693 f. 30 Gelegentlich wird davon gesprochen, das Verfahren habe lediglich eine „dienende Funktion“, vgl. dazu: Jolowicz, in: Nafziger/Symeonidis (Hrsg.), Law and Justice in a Multistate World, S. 721, 725; kritisch: Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, 2012, S. 2 f., der im Verfahren eine eigenständige Bedeutung sieht. 31 Vgl. dazu Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 2013, S. 13 m.w. N.

D. Ansatz und Eingrenzung der Untersuchung

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gefangen bei behördlichen Ermittlungs- und Sanktionsentscheidungen bis hin zur gerichtlichen Überprüfung der behördlichen Sanktionsentscheidung. Die problematischen Aspekte des deutschen Kartellsanktionsverfahrens sollen dann herausgearbeitet werden, indem die wesentlichen Strukturelemente des Verfahrensrechts mit europäischen Standards verglichen werden. Damit wird es in dieser Arbeit hauptsächlich um eine rechtsvergleichende Analyse gehen, ohne dabei die Rechtsvergleichung als eigenständige Wissenschaft in Frage zu stellen oder ihr gar die Rechtfertigungsgrundlage als eigenständiges Rechtsgebiet abzuerkennen.32 Denn insbesondere das Wirtschaftsverwaltungsrecht, wozu auch das Kartellsanktionsverfahrensrecht gehört, hat in der Vergangenheit maßgeblich von rechtsvergleichenden Untersuchungen zwischen amerikanischen, europäischen und nationalen Rechtsordnungen profitiert, weshalb hier zu Recht der Anspruch erhoben wird, dass die Rechtsvergleichung in dieser Arbeit über einen bloßen Erkenntnisgewinn hinausgeht und mithin praktische Relevanz für den Rechtsanwender beinhaltet.33 Dies mag auch daran liegen, dass aufgrund der Globalisierung von Wettbewerbsbeschränkungen und der damit korrespondierenden Globalisierung der europäischen Wettbewerbspolitik ein starkes Bedürfnis nach Abstimmung und Konvergenz zwischen den einzelnen Rechtsordnungen entstanden ist. Keineswegs soll dabei der Eindruck erweckt werden, die Arbeit erschöpfe sich in einer Aneinanderreihung von unterschiedlichen Rechtsordnungen, die lediglich auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten hin untersucht werden. Dies wäre aufgrund der Verschiedenheit der einzelnen Rechtsregime und Rechtsordnungen innerhalb des ECN nicht nur ein unmögliches Unterfangen, sondern schlicht und ergreifend auch uninteressant für den Leser. Nicht zu vergessen ist noch der Umstand, dass die herkömmliche Rechtsvergleichung sich in der Regel auf den Vergleich mit unterschiedlichen, fremden Rechtsordnungen bezieht, um Erkenntnisse für die eigene Rechtsordnung zu gewinnen. Darum kann es innerhalb des ECN aufgrund des hohen Grades an behördlicher Institutionalisierung aber nicht ausschließlich gehen. Die rechtsvergleichenden Befunde sollen vielmehr den (faktischen) Konvergenzdruck innerhalb des ECN verdeutlichen. Dabei wird es um jene unterschiedlichen Verfah32 Vgl. dazu ausführlich Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, S. 27 ff. u. 47 ff., der das Rechtfertigungsbedürfnis der Rechtsvergleichung als eigenständige Wissenschaft eher als akademische und weniger als praktische Erscheinung ansieht. 33 Vgl. dazu insb. Coing, NJW 1981, S. 2601; zur allgemeinen Bedeutung der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht: Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates. Methoden und Inhalte, Kleinstaaten und Entwicklungsländer, 1992; Krüger, in: FS für Kriele, S. 1393 ff.; Ruffert, in: Schmidt-Aßmann/HoffmannRiem, Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, S. 165 f., 169; Möllers, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 3, Rn. 40; Sommermann, DöV 1999, S. 1017, 1018; Starck, JZ 1997, S. 1021; Weyand, Verwaltungskontrolle in Spanien, S. 17; Schneider, Verwaltungsrecht in Europa, Bd. 1 und 2; Gamper, ZöR 63 (2008), S. 359 ff.; Tushnet, in: Reimann/Zimmermann, The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 1225 ff.

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§ 1 Einleitung

renselemente gehen, die gegenwärtig die effektive und effiziente Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts nach Art. 101, 102 AEUV wesentlich in Frage stellen, wobei die Merkmale der „Effizienz“ und „Effektivität“ gleichsam als Steuerungsinstrumente für Rechtsordnungen angesehen werden, wie sie oft in der ökonomischen Analyse des Rechts wiederzufinden sind.34 Ohne auf die grundsätzlichen Bedenken einzugehen, die seit jeher gegen ökonomische Analysen des Rechts insbesondere im Rahmen der Rechtsvergleichung erhoben werden,35 lässt sich nicht leugnen, dass unterschiedliche Rechtsordnungen und Verfahrensregeln insbesondere in einem Verwaltungsverbund wie dem ECN die Zusammenarbeit der nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte zunehmend erschweren und aufgrund fehlender Transparenzerfordernisse sowie fehlender Bindungswirkung von Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden Rechtsunsicherheiten für Unternehmen hervorrufen. Zwar können einzelne Verfahrenselemente nationaler Rechtsordnungen für sich genommen durchaus nach der Einschätzung des jeweiligen nationalen Gesetzgebers einer effektiven und effizienten Allokation von verfahrensrechtlichen Ressourcen entsprechen, aber bei einer gesamteuropäischen Betrachtung wird es allerdings bei unterschiedlichen Verfahrensregeln an der Kohärenz fehlen, was wiederum die effektive und effiziente Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV wesentlich erschwert. Bereits an anderer Stelle wurde betont, dass die Überlagerung des nationalen Kartellsanktionsrechts durch das Europa- und Völkerrecht übergeordnete Integrationsziele offenbart, die sich stets im Spannungsfeld zwischen europarechtlicher Einheitsvorstellung und nationalem Souveränitätsdenken bewegen. Dieser Urkonflikt der Europäischen Union soll hier in dogmatischer Hinsicht weder angegangen noch neu aufgearbeitet werden. Gleichwohl sei bereits an dieser Stelle angemerkt, dass die Arbeit einen unionsrechtlich-integrativen Ansatz verfolgt, ohne die grundsätzlichen Bedenken, die aus rechtsstaatlicher Perspektive gegen das europäische Kartellverfahrensrecht erhoben werden, auszublenden.

E. Gang der Untersuchung Von diesen unterschiedlichen Ansätzen der Untersuchung ausgehend, unterteilt sich die Arbeit in zwei Teile, einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil. Im ersten Teil der Arbeit geht es um allgemeine Fragen des Kartellsanktionsverfahrensrechts, die sich bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV 34 Die ökonomische Analyse des Rechts ist eine spezielle Schule innerhalb der Rechtswissenschaften, die Anfang der 1960er Jahre in den USA Furore machte und Anfang der 1980er Jahre zunehmend die rechtwissenschaftliche Diskussion in Deutschland und ganz Europa belebte. Obwohl die ökonomische Analyse des Rechts in Deutschland sich insbesondere im Wirtschaftsrecht als mögliche Sichtweise etablieren konnte, stehen manche deutschen Juristen dieser Rechtsschule noch verhalten gegenüber. 35 Vgl. dazu Kischel, Rechtsvergleichung, 2015, S. 125 ff.

E. Gang der Untersuchung

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durch die Mitgliedstaaten als problematisch erweisen. Hierfür werden zunächst Aspekte des Kartellsanktionsrechts erläutert, die die Grundlage dieser Untersuchung bilden (§ 2). Neben den unterschiedlichen Rechtsquellen, die aufgrund des neu eingeführten dezentralisierten Systems nebeneinander anwendbar sind und sich gegenseitig beeinflussen, wird die Entwicklung des Kartellsanktionsrechts sowohl im europäischen als auch im deutschen Recht seit Einführung der VO 1/2003 erläutert. Von dieser Entwicklung ausgehend werden im deutschen Recht kontroverse Diskussionen über die künftige Entwicklung des deutschen Kartellsanktionsrechts geführt. Neben der Kriminalisierungsdebatte, die in regelmäßigen Abständen erneut angestoßen wird, findet neuerdings eine entgegengesetzte Diskussion statt, die das deutsche Kartellsanktionsrecht im Hinblick auf eine kohärente Anwendung der Art. 101, 102 AEUV effektiver und effizienter ausrichten will. Beide Diskussionen gehen dabei von unterschiedlichen Prämissen aus: Während die Kriminalisierungsverfechter Kartellsanktionen dem Strafrecht im engeren Sinne zuordnen wollen, sehen die Befürworter einer Straffung des deutschen Kartellsanktionsrechts nach europäischem Vorbild in der Kartellsanktion zwar eine strafrechtsähnliche Maßnahme, die jedoch nicht an strengen grundrechtlichen Maßstäben zu messen sei, wie es bei Kriminalstrafen der Fall ist. Soweit es also um die Beurteilung des Rechtscharakters deutscher Kartellsanktionen geht, ist daher das Spannungsfeld herauszuarbeiten, in dem sich Kartellsanktionen gegenwärtig bewegen. Auf der einen Seite will man ein besonders effektives und effizientes, also auf Prävention ausgerichtetes Sanktionssystem vorzusehen, auf der anderen Seite jedoch rechtsstaatliche sowie grundrechtliche Verfahrensgrundsätze beachten (§ 3). Im daran anschließenden Kapitel werden die verfahrensspezifischen Probleme bei der Behördenkooperation innerhalb des ECN erläutert (§ 4). Aufgrund der unterschiedlichen nationalen Kartellsanktionssysteme kommt es bei der behördlichen Zusammenarbeit zu erheblichen Problemen, etwa dann, wenn die Amtshilfe oder der Informationsaustausch wegen unterschiedlicher Verfahrens- oder Grundrechtsstandards innerhalb der nationalen Rechtsordnungen erschwert wird. Hier sind die wichtigsten Problemkreise aus der Sicht der kartellrechtlichen Praxis herauszuarbeiten. Die daran anschließende dogmatische Durchdringung der Möglichkeit einer verfahrensrechtlichen Konvergenz innerhalb des ECN differenziert zwischen Konvergenzmaßnahmen der Union (insbesondere im Hinblick auf den kürzlich erlassenen RL-Vorschlag der Kommission) einerseits und einer freiwilligen Angleichung durch die nationalen Gesetzgeber andererseits. In beiden Fällen können sich konvergenzrechtliche Hindernisse aus der sog. mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie sowie aus den grundrechtlichen Gewährleistungen der einzelnen Mitgliedstaaten ergeben (§ 5). Im Besonderen Teil der Arbeit werden die Befunde aus dem Allgemeinen Teil für eine mögliche Konvergenz des deutschen mit dem europäischen Kartellsanktionsrechts fruchtbar gemacht. Der deutsche Gesetzgeber hat durch zahlreiche Novellierungen des GWB versucht, das Kartellsanktionsrecht an europäische

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§ 1 Einleitung

Vorgaben anzupassen. Gleichwohl bestehen noch weitreichende Unterschiede zwischen beiden Verfahrensrechtsordnungen, die zu erheblichen Divergenzen bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV führen. Um dies zu verdeutlichen, sind zunächst Elemente des europäischen Sanktionsverfahrens herauszuarbeiten. Dabei soll ein kritischer Blick auf die von Seiten der Wissenschaft betonten rechtsstaatlichen Defizite geworfen werden (§ 6). Im Anschluss daran sind Elemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens mit Blick auf die europäische Bußgeldpraxis zu untersuchen, um etwaige Reformen des gegenwärtigen deutschen Bußgeldsystems anzustoßen (§ 7). Die Arbeit schließt mit einer zusammenfassenden Bewertung der aktuellen Entwicklung im Kartellsanktionsrecht und einem Ausblick ab (§ 8).

Allgemeiner Teil

§ 2 Grundlagen A. Kartellsanktionen als wichtigstes Instrument der Wettbewerbspolitik Kartellsanktionen haben sich in den letzten Jahren als wichtigstes Instrument zur Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen erwiesen, weshalb die öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung zum Hauptinstrument der europäischen Wettbewerbspolitik geworden ist. Daran änderte auch nichts, dass die private Kartellrechtsdurchsetzung in Form von Kartellschadensersatzansprüchen seitens der Beschädigten, wie etwa Konkurrenten und Verbrauchern, eine immer größere Bedeutung gewinnen konnte, nicht zuletzt aufgrund der Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU1, die vom deutschen Gesetzgeber erst kürzlich im Rahmen der 9. GWB-Novelle 2017 in nationales Recht umgesetzt wurde. Auch Kartellschadensersatzansprüche können Unternehmen nunmehr empfindlich treffen. Gegen das bereits oben erwähnte LKW-Kartell, das durch die Kommission mit 2,93 Milliarden Euro bebußt wurde, machen beispielsweise auch 3200 mittelständische Spediteure Schadensersatzforderungen i. H. v. 500 Millionen Euro geltend.2 Die künftig größere Bedeutung von Kartellschadensersatzansprüchen zeigt sich auch durch die Umsetzung des Art. 17 II der Richtlinie 2014/ 104/EU in § 33a II GWB, wonach widerleglich vermutet wird, dass ein Kartell einen Schaden verursacht.3 Diese Regelung ersetzt die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, wonach eine kartellrechtliche Zuwiderhandlung i. S. v. § 1 GWB (bzw. Art. 101 AEUV) nach allgemeiner Lebenserfahrung eine preissteigernde Wirkung zukommen soll oder ein erster Anschein für eine solche Wirkung der Zuwiderhandlung bestehe, woraus den Abnehmern ein Schaden entstanden sei.4 Ungeachtet dieser gesteigerten Priorität von kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen hat sich aber bereits frühzeitig die berechtigte Einsicht durchsetzen 1 Abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX: 32014L0104&from=DE (zuletzt aufgerufen am 21.10.2016). 2 Vgl. Handelsblatt v. 27.12.2017, „3200 Firmen fordern Schadensersatz von LKWKartell“, abrufbar unter: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/dienstleister/daimlerman-und-co-3200-firmen-fordern-schadensersatz-von-lkw-kartell/20793670.html (zuletzt aufgerufen am 28.12.2017). 3 Vgl. dazu auch die Gesetzesbegründung zur 9. GWB-Novelle 2017 in BT-Drucks. 18/10207, S. 56 f. 4 Vgl. LG Dortmund, Urteil v. 1.4.2004 – 13 O 55/02 Kart –, Rn. 19; OLG Karlsruhe, Urteil v. 31.7.2013 – 6 U 51/12 (Kart) –, Rn. 53 f.

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§ 2 Grundlagen

können, dass Kartellsanktionen vor allem in Form von Geldbußen das wesentliche – wenn nicht das wichtigste5 – Mittel zur Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen für die europäische Wettbewerbspolitik darstellen, vor allem bei der Durchsetzung eines unverfälschten Wettbewerbs im dezentralisierten System nach der VO 1/2003. Hiernach obliegt es neben der Kommission auch den nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichten, das Verhalten der Unternehmen im Sinne einer allgemeinen sowie einheitlichen europäischen Wettbewerbspolitik zu lenken, sie gar zu wettbewerbskonformem Verhalten zu disziplinieren.6 Sowohl die Kommission als auch die nationalen Wettbewerbsbehörden verfolgen dabei spezial- sowie generalpräventive Gesichtspunkte, um Unternehmen möglichst davon abzuschrecken, kartellrechtswidrig zu handeln. Hierfür verfügen fast alle Wettbewerbsbehörden über ein sehr weites Ermessen bei der Festsetzung einer etwaigen Kartellsanktion, das auf Erfahrungswerte der letzten Jahrzehnte in der europäischen sowie der nationalen Wettbewerbspolitik zurückzuführen ist. Obwohl die Zahl der aufgedeckten kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen steigt7, lassen sich Unternehmen oftmals nicht davon abhalten, den Wettbewerb durch egoistisches Verhalten zu beschränken, was zunächst durch die immer größer werdende Anzahl der aufgedeckten Kartelle belegt werden kann.8 Daraus kann geschlussfolgert werden, dass die Kartellsanktionen trotz der mittlerweile exorbitanten Bußgeldhöhe noch nicht dasjenige Niveau erreicht haben, um Unternehmen davon abzuschrecken, sich künftig kartellrechtswidrig zu verhalten. Insbesondere Wiederholungstäter belegen diese Annahme, obwohl die Wiederholungstäterschaft nach der europäischen Wettbewerbspolitik einen Aufschlag auf die Kartellsanktion um bis zu 100 Prozent rechtfertigen kann.9 Gerade deswegen neigen die Wettbewerbshüter in der Europäischen Union vermehrt dazu, ihre Sanktionspolitik durch immer höhere Kartellsanktionen zu verschärfen, um die erhoffte präventive Wirkung entfalten zu können. Diese verschärfte Wettbewerbspolitik kommt vor allem durch die Bußgeld-Leitlinien sowohl der Kommission als auch mittlerweile des BKartA zum Ausdruck, das seine Sanktionspraxis weitgehend an das Vorgehen der Unionsorgane angepasst hat. Bevor auf die Einzelheiten der Bußgeld-Leitlinien eingegangen wird, die mit dem Begriff des soft law umschrieben werden, bedarf es zunächst der Feststellung, woraus sich die unter-

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Sauer, in: Schulte/Just, Art. 23 VO 1/2003, Rn. 1. EuGH v. 7.6.1983, verb. Rs. 100/80 bis 103/80, Slg. 1983, I-1825, Rn. 105 – Musique diffusion. 7 Der Anstieg der aufgedeckten Zuwiderhandlungen hat mehrere Ursachen, vgl. dazu unten, § 3 A. II. 8 Vgl. dazu EuG v. 20.3.2002, T-9/99, Slg. 2002, II-1487, Rn. 461 – HFB. 9 Im Fall KOMP/39.125, Rn. 695 f. – Autoglas betrug die Erhöhung bei zwei Vortaten 60 Prozent, im Fall KOMP/38.589, Rn. 718 – Wärmestabilisatoren bei drei Vortaten 90 Prozent und im Fall KOMP/39.396, Rn. 310 – Arkema bei vier Vortaten 100 Prozent. 6

B. Rechtsquellen und Rechtsregime des Kartellsanktionsrechts

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schiedlichen Rechtsregime und Rechtsquellen des Kartellsanktionsrechts überhaupt ergeben.

B. Rechtsquellen und Rechtsregime des Kartellsanktionsrechts Bereits in der Einleitung wurde auf die Problematik hingewiesen, dass das Kartellsanktionsrecht in sich kein abgeschlossenes, sondern eher ein hybrides Rechtsgebiet ist, bestehend aus unterschiedlichen Rechtsquellen und Rechtsregimen, die sich gegenseitig beeinflussen. Dies ist zunächst auf die Globalisierung von Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkungen zurückzuführen, da bei näherer Betrachtung eines grenzüberschreitenden Sachverhalts in aller Regel eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsregime und Rechtsquellen greifen. Dabei wird das nationale Recht maßgeblich von übergeordneten europarechtlichen sowie völkerrechtlichen Rechtsquellen überlagert, die erst in der Gesamtschau den Rechtsrahmen des Kartellsanktionsrechts innerhalb des ECN bilden können.

I. Völkerrecht Zunächst einmal ist festzustellen, dass auf völkerrechtlicher Ebene keine Bestimmungen existieren, die sich mit dem Kartellsanktionsrecht per se beschäftigen. Gleichwohl bestehen eine Vielzahl von völkerrechtlichen Rechtsvorschriften mit Berührungspunkten zum Kartellsanktionsrecht, die durch bilaterale Freihandelsabkommen, aber auch durch die Digitalisierung der Weltwirtschaft an Relevanz gewinnen. Vor diesem Hintergrund gehen neuerdings Überlegungen dahin, ein sog. Weltkartellrecht als völkerrechtliche Vereinbarung zu etablieren.10 Während einige die Idee einer globalen Wettbewerbsordnung im Geiste nationaler Souveränitätsvorbehalte verächtlich belächeln, romantisieren andere das angestrebte Weltkartellrecht zum „ewigen Frieden“ auf Erden.11 Ohne diese etwas philosophisch anmutende Diskussion vertiefen zu wollen, gibt es in der Tat viele gute Gründe für die Einführung eines völkerrechtlichen Weltkartellrechts, zumal die heutige Kartellrechtsdurchsetzung ohne internationale Kooperation wenig erfolgsversprechend wäre. Dies zeigt sich schon an den zahlreichen internationalen Netzwerken und Foren, in denen sich nationale Wettbewerbsbehörden zwecks Bestimmung gemeinsamer wettbewerbspolitischer Leitlinien organisiert haben, um gemeinsam den Kampf gegen globale Wettbewerbsbeschränkungen anzugehen. Die behördliche Kooperation nimmt somit zweifelsohne völkerrechtliche Züge an. 10 Fox, Toward World Antitrust and Market Access, AJIL 91 (1997); Herrmann, in: Terhechte (Hrsg.), Internationales Kartell- und Fusionskontrollverfahrensrecht, § 75, Rn. 24 f.; Terhechte, ZaöRV 68 (2008), S. 717. 11 Vgl. dazu ausführlich Podszun, ZWeR 2016, 130 ff.

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§ 2 Grundlagen

Für das Kartellsanktionsrecht von großer Bedeutung dürfte dabei der völkerrechtliche Begriff des soft law sein. So umstritten dieser auch sein mag,12 kann man den Einfluss des mit ihm beschriebenen Phänomens auf die behördliche Zusammenarbeit innerhalb des ECN nicht leugnen. Unter dem Begriff des soft law werden gemeinhin nicht verbindliche Übereinkünfte, Absichtserklärungen oder auch Leitlinien verstanden, die eine relativ schwache Selbstbindung darstellen, wobei dies nicht zwangsläufig zur Wirkungslosigkeit führt.13 Kaum zutreffender als mit dieser Beschreibung können die Netzwerkbekanntmachung des ECN sowie die umfangreichen Leitlinien der Kommission hinsichtlich ihrer Kartellsanktionspraxis charakterisiert werden, die mitunter auch das nationale Recht stark zu beeinflussen scheinen.14 Die Kommission versucht seit Jahren durch unterschiedliche Maßnahmen, die verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN voranzutreiben: So wurden im Jahre 2012 das ECN-Kronzeugenmodell15 und das dazugehörige Muster für einen summarischen Kronzeugenantrag16 erlassen, die primär den Zweck verfolgten, die einzelnen Mitgliedstaaten freiwillig dazu zu bewegen, ihre Kronzeugeninstrumente anzugleichen, ohne die Mitgliedstaaten an die Vorgaben des ECN-Modells binden zu wollen. Betreffend des Kartellverfahrensrechts wurden im Jahre 2013 zwei Empfehlungen des ECN veröffentlicht, um die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden und somit die dezentrale Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV effizienter zu gestalten. Neben der Empfehlung zu Ermittlungsbefugnissen, Vollstreckungsmaßnahmen und Sanktionen im Zusammenhang mit Durchsuchungen und Auskunftsersuchen17 wurde die Empfehlung zur Amtshilfe bei Durchsuchungsmaßnahmen gem. Art. 22 VO 1/200318 innerhalb des ECN in der Hoffnung erlassen, die Mitgliedstaaten würden ihre Kartellsanktionsregime freiwillig einander anpassen. Dabei betont die Kommission am Ende der Dokumente durch einen entsprechenden Haftungsausschluss immer den fehlenden Rechtscharakter der Maßnahme. Solche Dokumente stellen keine gesetzlichen Rechte oder Pflichten seitens eines 12 Teilweise wird dem soft law die Rechtsqualität abgesprochen, vgl. dazu auch Vitzthum, Völkerrecht, Rn. 147 m.w. N. 13 Vgl. Döhring, Völkerrecht, Rn. 744. 14 Vgl. dazu sogleich unten, C. III. 15 ECN-Kronzeugenmodell 2012, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/ ecn/mlp_revised_2012_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 19.6.2017). 16 Muster für einen summarischen Kurzantrag für eine Kronzeugenbehandlung, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/ecn/mlp_revised_2012_annex_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 19.6.2017). 17 ECN-Empfehlung hinsichtlich behördlicher Ermittlungs-, Vollstreckungs- und Sanktionsbefugnisse nationaler Wettbewerbsbehörden, abrufbar unter: http://ec.europa. eu/competition /ecn/recommendation_powers_to_investigate_enforcement_measures_ sanctions_09122013_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 19.6.2017). 18 ECN-Empfehlung hinsichtlich der Amtshilfe zwischen nationalen Wettbewerbsbehörden, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/ecn/recommendation_art_22_ 09122013_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 19.6.2017).

B. Rechtsquellen und Rechtsregime des Kartellsanktionsrechts

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Unternehmens dar. Ihr Inhalt ist vielmehr unverbindlich und spiegelt keine verbindliche Auslegung von Verfahrensregeln oder Behördenpraktiken wider. Aus der grundrechtlichen Domäne können darüber hinaus auch die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) Bedeutung für das Kartellsanktionsrecht erlangen. Als völkerrechtlicher Vertrag genießt die EMRK jedoch einen unterschiedlichen Gesetzesrang bei den verschiedenen Konventionsmitgliedern.19 Während die EMRK in Österreich Verfassungsrang hat, kommt ihr in einigen Konventionsstaaten – wie etwa in Frankreich – übergesetzlicher Rang oder – wie beispielsweise in Deutschland – einfacher Gesetzesrang zu. Da die Europäische Union bislang der EMRK nicht beigetreten ist, hat die EMRK im EU-Recht den Status einer einfachen Rechtserkenntnisquelle. Unbeschadet dieser unterschiedlichen Rechtsstellung der EMRK innerhalb der einzelnen Rechtsordnungen sind neben den entsprechenden Grundrechten nach den nationalen Verfassungen sowie der GRC vor allem die Garantien aus Art. 6 EMRK (Anspruch auf ein faires Verfahren), Art. 7 EMRK (Bestimmtheitsgebot) sowie Art. 8 EMRK (Schutz der Wohnung bzw. der Geschäftsräume bei Durchsuchungsmaßnahmen) von besonderer Relevanz für das Kartellsanktionsverfahren. In der Vergangenheit wurde dem europäischen Kartellsanktionsrecht wiederholt die Verletzung von EMRKGarantien vorgeworfen. Aber auch das deutsche Kartellsanktionsrecht bleibt nicht von Kritik verschont, wenn es versucht, den Schulterschluss mit dem europäischen Recht zu erreichen. Auf diese Fragen sollen aber erst im Besonderen Teil dieser Arbeit eingegangen werden.20

II. Europarecht Innerhalb der Europäischen Union hat sich ein weltweit einzigartiges, supranationales Kartellregime entwickelt, das in der Anwendungsrelevanz sowie in der praktischen Wirksamkeit nationalen Regelungen in keiner Weise nachsteht und international seinesgleichen sucht. Allein die vernetzte Zusammenarbeit innerhalb des ECN zeigt den Willen und die Bereitschaft der nationalen Wettbewerbsbehörden, sich den gegenwärtigen Herausforderungen von globalen Wettbewerbsbeschränkungen zu stellen. Das Kartellsanktionsverfahren hat – trotz der scharfen rechtsstaatlichen Kritik, die in der Wissenschaft geäußert wird21 – ironischerweise maßgeblich zur Weiterentwicklung und Verfestigung von grundrechtlichen Gewährleistungen innerhalb der Europäischen Union beigetragen. Es gilt gemeinhin als Impulsgeber für ein im Entstehen befindliches europäisches Verwaltungsrecht, das mit guten Gründen auch als Motor der europäischen Integration bezeichnet wird.22 19 20 21 22

Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2, Rn. 6. Vgl. dazu unten, § 6 und § 7. Ausführlich dazu unten, § 6 B. Dazu Terhechte, Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011, § 20, Rn. 1 f.

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§ 2 Grundlagen

Haupterkenntnisquellen des europäischen Wettbewerbsrechts sind zunächst die materiellrechtlichen Wettbewerbsvorschriften nach Art. 101 und 102 AEUV. Aufgabe dieser Bestimmungen ist es, in erster Linie den Wettbewerb zu erhalten und zu schützen, um das reibungslose Funktionieren des europäischen Binnenmarktes zu gewährleisten. Nach Art. 101 I AEUV sind mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken. Solche Absprachen sind insbesondere die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung von An- oder Verkaufspreisen, Einschränkungen oder Kontrolle der Erzeugung oder die Aufteilung von Märkten (vgl. Art. 101 II AEUV). Diese sog. hardcore-Kartelle sind besonders schädlich für den freien Wettbewerb, weshalb der Gesetzgeber diese Form von Wettbewerbsabsprachen an erster Stelle der nicht abschließend aufgezählten Regelbeispiele für eine mögliche Wettbewerbsbeschränkung geregelt hat. Der Wettbewerb kann aber nicht nur durch Absprachen und Verhaltensweisen nach Art. 101 AEUV eingeschränkt werden. Deshalb ist nach Art. 102 I AEUV auch die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Dieser Missbrauch kann insbesondere in der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen oder aber auch in der Einschränkung von Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher liegen (vgl. Art. 102 II AEUV). Auch diese Regelbeispiele stellen eine besonders schädliche Form des missbräuchlichen Ausnutzens einer beherrschenden Stellung dar und wurden somit an erster Stelle im Art. 102 AEUV geregelt. Die Akteure des freien Wettbewerbs haben sich stets an die Regeln der Art. 101 und 102 AEUV zu halten, da ansonsten bei einer Zuwiderhandlung eine Wettbewerbsverzerrung zu befürchten ist, die zu hohen Schäden bei anderen Wettbewerbern und Verbrauchern führen kann. Wird gegen diese Verbote verstoßen, hat die Rechtsordnung hierauf mit empfindlichen Sanktionen in Form von Kartellgeldbußen zu reagieren. Der AEUV selbst droht bei einer Zuwiderhandlung gegen die o. g. Wettbewerbsregeln nicht mit einer solchen Kartellsanktion. Vielmehr werden gem. Art. 103 I AEUV23 zweckdienliche Verordnungen und Richtlinien zur Verwirklichung der in Art. 101 und 102 AEUV niedergelegten Grundsätze vom Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments erlassen. Die in Art. 103 I AEUV genannten Richtlinien und Verordnungen sollen 23

Früher Art. 87 EWGV, dann Art. 83 EGV.

B. Rechtsquellen und Rechtsregime des Kartellsanktionsrechts

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insbesondere die Einhaltung der in Art. 101 und 102 AEUV genannten Verbote durch die Einführung von Geldbußen und Zwangsgeldern bezwecken (vgl. Art. 103 II lit. a AEUV). Auf Grundlage des Art. 103 AEUV wurde daher die VO 1/2003 erlassen, die mit Wirkung zum 1. Mai 2004 die frühere Kartellverordnung 17/62 ersetzt hat und der Kommission weitgehende Ermittlungs-, Verfahrens-, sowie Entscheidungs- und Sanktionsbefugnisse gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen einräumt. Zentrale Sanktionsnorm ist hierbei Art. 23 VO 1/2003, wonach die Kommission bei einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Art. 101, 102 AEUV eine Geldbuße verhängen kann, die 10 Prozent des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung nicht übersteigen darf. Art. 33 VO 1/2003 regelt die Ermächtigung der Kommission zum Erlass von Verfahrensvorschriften im Wege der förmlichen Verordnung. Hierauf basiert die VO 773/2004, welche ergänzende Verfahrensregeln zu der VO 1/2003 regelt. Zur Konkretisierung der Bußgeldpolitik erlässt die Kommission, wie bereits angedeutet, zahlreiche Leitlinien, Bekanntmachungen und Mitteilungen, die als Verhaltensnormen in Form von soft law nach Art von Verwaltungsvorschriften an sich zwar unverbindlich sind, für die Praxis der Rechtsanwendung jedoch hohe Bedeutung haben.24 Auch nationale Wettbewerbsbehörden orientieren sich zunehmend bei der Formulierung der eigenen Leitlinien und Bekanntmachungen an denen der Kommission. Durch diese Maßnahmen wird die europäische Wettbewerbspolitik weitestgehend dirigiert und die Auslegung und Anwendung der Art. 101, 102 AEUV für die Bußgeldpraxis gesteuert. Die Wettbewerbsbehörden binden sich durch solche Verhaltensnormen selbst, insbesondere hinsichtlich der Ausübung von Beurteilungsspielräumen, und können ohne sachlichen Grund davon nicht abweichen.25 Für die Bußgeldpraxis relevant sind insbesondere die Bußgeld-Leitlinien26 und die Kronzeugenmitteilung27 der Kommission, das ECNKronzeugenmodell28 sowie für das Verfahrensrecht die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden.29 Neben dem Kronzeugenmodell hat die Kommission am 2. Juli 2008

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Vgl. Weiß, in: Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der EU, 2011, § 20, Rn. 9. EuGH v. 28.6.2005, verb. Rs. C-189, 202, 205–208, Slg. 2005, I-5425, Tz. 209 – Dansk Rorindustri. 26 Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gem. Art. 23 II lit. a der VO 1/2003, ABl. C 210 v. 1.9.2006. 27 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. C 298 v. 8.12.2006. 28 Das ECN-Kronzeugenmodell wurde zwar nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht, ist jedoch samt Erläuterung auf der Internetseite der Kommission abrufbar: http://ec.europa.eu/competition/ecn/model_leniency_de.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 29 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit des Netzes der Wettbewerbsbehörden, ABl. C 101, S. 43 ff., Rn. 29, v. 27.4.2004. 25

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§ 2 Grundlagen

mit dem Vergleichsverfahren in Kartellfällen ein weiteres Kooperationsinstrument für die Unternehmen eingeführt.30 Zudem existiert eine Bekanntmachung der Kommission über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 AEUV,31 die in erster Linie praktische Hinweise zur Durchführung von Verfahren im Hinblick auf die Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV geben, die in der VO 1/2003 selbst, der dazugehörigen VO 773/2004 sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geregelt ist. Zweck der Bekanntmachung ist somit ein besseres Verständnis der Untersuchungsverfahren der Kommission, um damit die Effizienz, Transparenz und Berechenbarkeit ihrer Verfahren zu gewährleisten.

III. Deutsches Recht Der Ursprung des Rechts über Kartellsanktionen ist trotz der Überlappung durch supranationale sowie völkerrechtliche Rechtsordnungen innerhalb der EU nach wie vor das nationale Recht, das freilich ebenfalls aus unterschiedlichen Rechtsquellen und Normebenen besteht. Dabei ist das deutsche Kartellsanktionsrecht aufgrund seiner Verzahnung unterschiedlicher Rechtsmaterien und Rechtsebenen wohl am besten mit dem Begriff der „Hybridisierung des Rechts“ umschrieben.32 Die deutschen Wettbewerbsvorschriften sind zunächst im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) geregelt, wonach, wie im Unionsrecht, wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen gem. § 1 GWB sowie die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung von Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen nach §§ 19 ff. GWB verboten sind. Während die Vorschrift des § 1 GWB weitestgehend an Art. 101 AEUV angeglichen wurde, bestehen im Hinblick auf die Missbrauchsvorschriften der §§ 19 ff. GWB noch marginale Unterschiede zu Art. 102 AEUV. Eigenständige materiellrechtliche Regelungen enthält das GWB etwa bei der Missbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen (§§ 18–20 GWB). § 19 GWB wendet sich zunächst gegen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des § 18 GWB. Ergänzt wird § 19 GWB durch entsprechende Verbote für sog. marktstarke Unternehmen nach § 20 GWB. Die geltende Fassung der §§ 18–20 GWB beruht auf der 8. GWB-Novelle 2013, welche die früheren Verbote eines missbräuchlichen 30 Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Art. 7 und 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen, ABl. C 167 v. 2.7.2008. 31 Bekanntmachung der Kommission über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 AEUV, ABl. C 308 v. 20.10.2011. 32 Zum Begriff des „hybriden Rechts“ vgl. etwa Willke, Global Governance, 2006, 56 ff.; Teubner, Hybrid Laws. Constitutionalizing Privat Governance Networks, in: Kagan/Winston (Hrsg.), Legality and Community. On The Intellectual Legacy of Philip Selznick, 2002, S. 311; darauf zurückgreifend Terhechte, ZaöRV 68 (2008), S. 722.

B. Rechtsquellen und Rechtsregime des Kartellsanktionsrechts

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und diskriminierenden Verhaltens marktbeherrschender sowie marktstarker Unternehmen überarbeitet und zusammengefasst hat.33 Zur Rechtfertigung dieser partiellen Angleichung der Missbrauchsvorschriften wird in erster Linie auf Art. 3 II S. 2 VO 1/2003 verwiesen, der den Mitgliedstaaten gestattet, strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen zu erlassen oder anzuwenden.34 Die §§ 18–20 GWB kommen also auch dann zur Anwendung, wenn sie über den Art. 102 AEUV hinausgehen. Ein Vorrang des Unionsrechts, wie er bei Art. 101 AEUV mit Ausschlusswirkung gegenüber dem nationalen Recht vorgesehen ist, existiert insoweit nicht.35 Zur Durchsetzung dieser materiellrechtlichen Vorschriften des GWB sieht das deutsche Recht unterschiedliche Instrumente vor, wozu auch das Recht der Kartellsanktionen gehört. Gerade bei Kartellsanktionen drückt sich der hybride Charakter des deutschen Kartellrechts aus: Anders als das EU-Recht unterscheidet das deutsche Recht nämlich zwischen dem Kartellverwaltungsverfahren nach §§ 54–80 GWB und dem Kartellsanktionsverfahren nach §§ 81–86 GWB. Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens geht es im Wesentlichen um von Amts wegen durchgeführte Missbrauchs- und Abstellungsverfahren und die Behandlung von Anmeldungen, insbesondere auch im Bereich der Fusionskontrolle. Davon streng zu trennen ist das Kartellsanktionsverfahren, das im GWB unmittelbar nach dem Verwaltungsverfahren geregelt ist und außer dem materiellen Bußgeldtatbestand des § 81 GWB und der Auskunftspflicht nach § 81a GWB ausschließlich behördliche und gerichtliche Zuständigkeitsregeln enthält (§§ 82–86 GWB). Im Übrigen gelten die Vorschriften des Ordnungswidrigkeitengesetzes (OWiG) sowie – über § 46 OWiG – der Strafprozessordnung (StPO). Die zentrale Sanktionsnorm ist dabei in § 81 GWB geregelt: Hiernach handelt ordnungswidrig, wer u. a. gegen die Wettbewerbsregeln des AEUV (vgl. § 81 I GWB) oder des GWB (vgl. § 81 II GWB) vorsätzlich oder fahrlässig verstößt. Die Ordnungswidrigkeit wird mit einer Kartellgeldbuße geahndet, die – nach dem Vorbild des Art. 23 II VO 1/2003 – 10 Prozent des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Umsatzes des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung nicht übersteigen darf (vgl. § 81 IV S. 2 GWB). Der Einfluss des Völker- und Europarechts auf das deutsche Kartellsanktionsverfahren lässt sich zudem anhand der unterschiedlichen Leitlinien und Bekanntmachungen erkennen, die das BKartA bei der Ausübung seines Ermessens anwendet. Wie die Kommission hat auch das BKartA Bußgeld-Leitlinien und Kronzeugenregelungen erlassen sowie Settlements zur Verfahrensbeschleunigung vorgesehen, die überwiegend den europäi33

Siehe Bechtold, GWB-Kommentar, Vorb. § 18, Rn. 1. Vgl. dazu Emmerich, Kartellrecht, 13. Aufl., § 27, Rn. 3. 35 Vgl. dazu ausführlich Oppermann/Chmeis, The Uniform Application of Articles 101, 102 TFEU in German Competition Law, in: Almasen/Whelan (Hrsg.), Consistent Application of EU Competition Law, Chapter 11, Nov. 2016, S. 195, 203 f. 34

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§ 2 Grundlagen

schen Standards angepasst wurden.36 Flankiert werden diese Maßnahmen im Kartellsanktionsverfahren aufgrund der hohen Eingriffsintensität von Kartellsanktionen durch grundrechtliche Gewährleistungen nach dem GG, der GRC sowie der EMRK. Diese Hybridisierung des deutschen Rechts führt zu unterschiedlichen Diskussionen im Hinblick auf den Rechtscharakter von Kartellsanktionen. Bevor auf diese Debatte einzugehen ist, soll jedoch kurz die Entwicklung des Kartellsanktionsrechts – vor allem seit der Einführung der VO 1/2003 – skizziert werden, denn hierdurch wurde regelrecht ein Paradigmenwechsel vollzogen, der sich maßgeblich auf die Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des deutschen Rechts ausgewirkt hat.

C. Entwicklung des Kartellsanktionsrechts seit Einführung der VO 1/2003 I. Dezentralisierung des kartellrechtlichen Vollzugs Mit Einführung der VO 1/2003 wurde das frühere Anmelde- und Freistellungssystem abgeschafft und bei der Anwendung der europäischen Wettbewerbsvorschriften ein System der Legalausnahme eingeführt.37 Die VO 1/2003 geht nunmehr von einer unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 101 III AEUV aus, wonach Verhaltensweisen, die unter dem Verbotstatbestand des Art. 101 I AEUV fallen und die Voraussetzungen des Art. 101 III AEUV erfüllen, nicht verboten sind, ohne dass dies einer vorherigen Entscheidung der Kommission bedarf.38 Nach der alten Regelung der VO 17/62 mussten Vereinbarungen, die unter das Verbot wettbewerbswidriger Vereinbarungen und Verhaltensweisen gem. ex. Art. 81 I EGV fielen, bei der Kommission angemeldet werden.39 Somit stand das Verbot des ex. Art. 81 I EGV unter dem Erlaubnisvorbehalt der Kommission. Durch den Art. 101 III AEUV wurde ein Wechsel vom generellen Verbot mit Erlaubnisvorbehalt hin zum Prinzip der Legalausnahme vollzogen. Ziel war es, die Kommission durch die Abschaffung der aufwendigen Bearbeitung von Anträgen auf Freistellung zu entlasten, um sich so auf wichtige Kartellrechtsverstöße kon-

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Vgl. dazu ausführlich unten, § 7 A. III. 1. Die Einführung des Legalausnahmesystems war nicht unumstritten; insbesondere deutsche Juristen stellten den ex Art. 83 III EGV (jetzt Art. 103 III AEUV) als Rechtsgrundlage für einen solchen Paradigmenwechsel in Frage; siehe hierzu Hosenfelder/ Lutz, WuW 2003, S. 118, 119; Koenigs, DB 2003, S. 755; Weitbrecht, EuZW 2003, S. 69, 70. 38 Vgl. dazu Erwägungsgründe 1 bis 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. L 1/1 v. 4.1.2003. 39 Vgl. Art. 4 und 9 Verordnung (EWG) Nr. 17/1962 des Rates zur Durchführung der Artikel 85 und 86 des Vertrages, ABl. EWG 013 v. 21.2.1962, S. 204–211. 37

C. Entwicklung des Kartellsanktionsrechts

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zentrieren zu können. Bereits 1999 hatte die Kommission in ihrem Weißbuch40 auf eine Modernisierung des EU-Kartellrechts hingewiesen und ihren Reformvorschlag mit der Notwendigkeit begründet, durch Arbeitsentlastung im Bereich der Anmeldeverfahren Ressourcen zu sparen, um die Bekämpfung geheimer Kartelle zu verbessern. Heute, fast zwei Jahrzehnte später, ist die kartellrechtliche Durchsetzungskraft aufgrund der tatkräftigen Unterstützung der nationalen Wettbewerbsbehörden signifikant gestiegen, weshalb globale und vor allem geheime Kartelle effektiver bekämpft werden können. Dies ist vor allem Folge der neu eingeführten dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Nunmehr sind sowohl die Kommission als auch die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte gemeinsam bei der Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV zuständig. Angesichts der Globalisierung von Wettbewerb und den damit verbundenen Wettbewerbsbeschränkungen war die Einführung der parallelen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten längst überfällig. Damit sollte die behördliche Kooperation bei der Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen gestärkt werden. Die mit der Dezentralisierung verbundene Verzahnung der verschiedenen Rechtsordnungen hatte jedoch weitreichende Konsequenzen, nicht nur im Hinblick auf das anzuwendende materielle Recht, sondern darüber hinaus auch auf das einschlägige Verfahrensrecht. Zwar führen die Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten die Verfahren nach Art. 101, 102 AEUV aufgrund eigener Verfahrensordnungen durch.41 Die VO 1/2003 greift jedoch bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV auch in nationale Verfahren in nicht unerheblicher Weise ein.42 Die parallele Zuständigkeit der Kartellbehörden führt dazu, dass die Art. 101, 102 AEUV von mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten gleich ihrem eigenen, mitgliedstaatlichen Recht angewandt und somit zum Maßstab des eigenen Rechts gemacht werden.

II. Institutionalisierung der Behördenkooperation Durch das neu eingeführte System, wonach die einzelnen Mitgliedstaaten zur dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV verpflichtet werden, wurde im Zuge der VO 1/2003 ein Behördennetzwerk geschaffen, damit die Kommission Hand in Hand mit den nationalen Wettbewerbsbehörden die europäischen Wettbewerbsregeln in enger Zusammenarbeit wirksam durchsetzen kann.43 Dadurch sollte die europäische Wettbewerbspolitik an die neuen Herausforderungen der 40 Weißbuch der Kommission über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 85 und 86 EG-Vertrag, ABl. EG 1999, C 132, S. 1. 41 Vgl. etwa EuGH v. 10.11.1993, C-60/92, Slg. 1993, I-5683, Rn. 14 – Otto/Postbank. 42 Vgl. dazu unten, § 5 C. II. 43 Vgl. dazu 15. Erwägungsgrund VO 1/2003.

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§ 2 Grundlagen

globalisierten Weltwirtschaft angepasst werden, da Wettbewerbsbeschränkungen sich im Zuge der Globalisierung zunehmend internationalisieren. Ausdruck dieser engen Zusammenarbeit ist das Behördennetzwerk ECN, wodurch insbesondere ein Diskussions- und Kooperationsforum für die unterschiedlichen europäischen Wettbewerbsbehörden geschaffen wurde, um die wirksame Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln sicherzustellen. Das ECN als solches ist in der VO 1/2003 selbst zwar nicht geregelt, ergibt sich jedoch aus unterschiedlichen Bestimmungen, die die enge Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden regeln. Diese Bestimmungen, die durch eine Netzwerkbekanntmachung von 2004 konkretisiert werden,44 haben zu einer zunehmenden Institutionalisierung der behördlichen Kooperation geführt, die materiellrechtliche – sowie in Teilen auch verfahrensrechtliche – Konvergenztendenzen innerhalb des ECN zur Folge hatte. Zu diesen Bestimmungen gehört zunächst Art. 3 VO 1/2003, der das Verhältnis zwischen den europäischen und nationalen Wettbewerbsvorschriften regelt. Nationale Wettbewerbsbehörden haben hiernach, mit Ausnahme der Kontrolle über Unternehmenszusammenschlüsse (Art. 3 III VO 1/2003), neben ihrem eigenen nationalen Wettbewerbsrecht stets die Art. 101, 102 AEUV anzuwenden. Hierdurch sollen gleiche Wettbewerbsbedingungen innerhalb des europäischen Binnenmarkts geschaffen werden. Voraussetzung hierzu ist eine weitgehende parallele Anwendung von nationalem und europäischem Kartellrecht sowie eine Konvergenz der Rechtsfolgen der einschlägigen Normen beider Rechtsordnungen.45 Um eine einheitliche wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sowie das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen, verpflichtet Art. 35 VO 1/2003 die Mitgliedstaaten zudem, Wettbewerbsbehörden zu bestimmen, die durch Art. 5 VO 1/2003 eine allgemeine Vollzugszuständigkeit bekommen, um die Art. 101, 102 AEUV in Einzelfällen anzuwenden. Welche staatlichen Instanzen zuständige Wettbewerbsbehörden i. S. d. Art. 35 VO 1/2003 sind, bestimmen hingegen die Mitgliedstaaten selbst. Daher kann es vorkommen, dass die Organisation der nationalen Wettbewerbsbehörden je nach Mitgliedstaat unterschiedlich geregelt ist. Während in einigen Mitgliedstaaten nach dem europäischen Vorbild46 Ermittlungen von derselben Stelle geführt werden, die auch eine Sanktionsentscheidung erlässt, werden in anderen Mitgliedstaaten diese Aufgaben zwischen zwei verschiedenen Stellen aufgeteilt, von denen eine für Ermittlungen und die andere für die Entscheidung zuständig ist. In manchen Mitgliedstaaten können Sanktionsentscheidungen ausschließlich von einem Gericht getroffen werden, nachdem die Wettbewerbsbehörde in der Funktion eines Staatsanwalts den Fall vor Gericht bringt. In Deutschland beispielsweise wurde durch 44 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden v. 27.4.2004, ABl. C 101/43. 45 de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 3, Rn. 1. 46 Zum Europäischen Kartellsanktionsverfahren vgl. ausführlich unten, § 6.

C. Entwicklung des Kartellsanktionsrechts

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das Modell des Ordnungswidrigkeitenrechts ein System gewählt, das dem BKartA zwar Ermittlungs- und Entscheidungskompetenzen zuspricht. Im Falle eines Einspruchs durch ein Unternehmen wandelt sich der Bußgeldbescheid in eine Klageschrift um und wird vor Gericht neu verhandelt, während das BKartA dann in die Stellung eines einfachen Verfahrensbeteiligten mit beschränkten Rechten gedrängt wird. Inwieweit diese verfahrensrechtliche Stellung des BKartA mit Art. 35 VO 1/2003 sowie mit dem neuen RL-Vorschlag der Kommission vereinbar ist, wird noch an anderer Stelle ausführlicher zu untersuchen sein.47 Festzuhalten ist zunächst, dass Art. 35 VO 1/2003 vor allem durch die Konkretisierung der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Sache VEBIC 48 zu einer zunehmenden Institutionalisierung der behördlichen Kooperation geführt hat, deren Rechtsrahmen sich vollends erst durch weitere Vorschriften aus der VO 1/2003 bildet. Die unterschiedliche Organisation der nationalen Wettbewerbsbehörden und die damit verbundene unterschiedliche Ausgestaltung der einzelstaatlichen Verfahrensrechte rufen das starke Bedürfnis nach behördlicher Abstimmung hervor, um die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sicherzustellen. Diese behördliche Abstimmung im ECN kommt durch Art. 11 VO 1/2003 zum Ausdruck, wonach die nationalen Wettbewerbsbehörden und die Kommission sich gegenseitig über relevante Fälle unterrichten. Dieses Herzstück des ECN – wonach Fälle zwischen den Wettbewerbsbehörden umverteilt werden – wird ergänzt durch Art. 12 VO 1/2003, wonach die einzelnen Wettbewerbsbehörden sich gegenseitig über beweiserhebliche Informationen unterrichten, sowie durch Art. 22 VO 1/2003, der die nationalen Wettbewerbsbehörden zur gegenseitigen Amtshilfe verpflichtet. Der Mechanismus dieser behördlichen Zusammenarbeit ist in der Netzwerkbekanntmachung geregelt. Hier finden sich ausführliche Regelungen hinsichtlich der Grundsätze der Fallverteilung,49 der gegenseitigen Unterrichtung vor Verfahrensbeginn,50 des Austausches von Informationen51 sowie der – noch recht defizitären – Rechtsstellung von Unternehmen innerhalb des ECN.52 Hierdurch hat sich in der Vergangenheit ein institutioneller Rechtsrahmen sui generis herauskristallisiert, der zu komplexen Schieflagen innerhalb des ECN geführt hat, auf die in einem gesonderten Kapitel noch näher einzugehen ist.53 Gleichwohl hat sich eine bewährte verfahrensrechtliche Vorgehensweise zur wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV etabliert, die die Kommission durch eine Bekanntmachung veröffentlicht hat. Hierdurch kommt auch die primärrechtlich 47 48 49 50 51 52 53

Vgl. dazu unten, § 7. EuGH v. 7.12.2010, Rs. C-439/08 – VEBIC, ausführlich dazu unten, § 5 C. II. 8. Netzwerkbekanntmachung, ABl. 2004 C 101/43, Rn. 5 f. Netzwerkbekanntmachung, ABl. 2004 C 101/43, Rn. 16 f. Netzwerkbekanntmachung, ABl. 2004 C 101/43, Rn. 26 f. Netzwerkbekanntmachung, ABl. 2004 C 101/43, Rn. 31 f. Vgl. unten § 4.

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§ 2 Grundlagen

in Art. 17 EUV i.V. m. Art. 101, 102 AEUV verankerte verfahrensrechtliche Sonderstellung der Kommission in Form eines primus inter pares54 zum Ausdruck, die sekundärrechtlich dadurch konkretisiert wird, dass die Kommission als „Spinne im Netz“ jederzeit ein Verfahren an sich ziehen kann (Art. 11 VI VO 1/2003) sowie nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte verpflichtet sind, keine einer Kommissionsentscheidung zuwiderlaufende Entscheidung zu treffen (Art. 16 VO 1/2003). Die Eigenarten des ECN lassen sich daher beschreiben, als ein einheitlicher, wenngleich durch fehlende Transparenzerfordernisse und fehlende Rechtsschutzmöglichkeiten für Unternehmen gekennzeichneter Rechtsrahmen, der sowohl für die nationalen Wettbewerbsbehörden als auch für die Kommission gleiche verfahrensrechtliche Bedingungen schafft, ohne dabei die Sonderstellung der Kommission bei der Wahrung der europäischen Wettbewerbspolitik in Frage zu stellen. Damit wirkt die Institutionalisierung der behördlichen Kooperation innerhalb des ECN maßgeblich auf eine Europäisierung nationaler Verfahrensrechte hin, die aufgrund nationaler Souveränitätsvorbehalte freilich zu Spannungen führt. Neben der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie werden neuerdings grundrechtliche Vorbehalte geäußert, die einer Europäisierung und damit verbundenen Konvergenz der nationalen Verfahrenssysteme angeblich entgegenstehen.

III. Konvergenztendenzen im deutschen Recht Die verfahrensrechtlichen Eigenarten des ECN haben in nahezu allen nationalen Rechtsordnungen mehr oder weniger ausgeprägte Konvergenztendenzen hervorgerufen, die seit der Einführung der VO 1/2003 andauern und bis heute noch nicht abgeschlossen sind.55 Das deutsche Kartellsanktionsrecht beispielsweise wurde zahlreichen Revisionen unterzogen, die schrittweise zu einer europäischen Konvergenz führen sollten. So hat die durch die Einführung der VO 1/2003 erforderlich gewordene 7. GWB-Novelle 2005 das deutsche Kartellsanktionsrecht in erheblichem Maße umgestaltet. Grund dafür war die Verpflichtung der nationalen Wettbewerbsbehörden, nunmehr die Art. 101, 102 AEUV mit der Maßgabe anzuwenden, relevante Zuwiderhandlungen gegen das EU-Kartellrecht mit geeigneten Sanktionen zu ahnden (vgl. Art. 5 VO 1/2003). Dies machte eine grundlegende Neugestaltung des deutschen Bußgeldrahmens in § 81 IV GWB erforderlich. Neben der Anhebung des Regelbußgeldrahmens von 500 000 Euro auf 1 Million Euro für schwerwiegende Kartellverstöße (§ 81 IV S. 1 GWB) wurde nach dem Vorbild des Art. 23 III VO 1/2003 die 10-Prozent-Grenze in das deut-

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Vgl. dazu de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Vorb. zu den Artikeln 11–16, Rn. 8. Zum Konvergenzstand der einzelstaatlichen Rechtsordnungen mit der VO 1/2003 vgl. etwa Chiri, Convergence Within The European Competition Network: Legislative Harmonization and Enforcement Priorities, in: Alma˘s¸an/Whelan (Hrsg.), The Consistent Application of EU Competition Law, 2017, S. 3 ff. 55

D. Die künftige Ausrichtung des deutschen Kartellsanktionsrechts

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sche Recht implementiert. Die festzusetzende Geldbuße darf hiernach 10 Prozent des im der Behördenentscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung nicht übersteigen (§ 81 IV S. 2 GWB). Übernommen wurde auch die ebenfalls aus Art. 23 III VO 1/2003 stammende Bußgeldzumessungsregel, wonach bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße sowohl die Schwere als auch die Dauer der zu ahndenden Zuwiderhandlung zu berücksichtigen ist (§ 81 IV S. 3 GWB). Damit wurde der erste Schritt vollzogen, die von den Unionsorganen entwickelte und seither umstrittene Rechtsfigur der „wirtschaftlichen Einheit“ in das deutsche Kartellsanktionsrecht zu implementieren, wenngleich nur partiell und unvollständig. Diese partielle Anpassung wurde dann durch die 8. GWB-Novelle 2013 fortgesetzt, etwa durch die Einführung des § 81a GWB. Mit dieser Vorschrift wurden nach dem europäischen Pendant Auskunftspflichten für Unternehmen und Unternehmensvereinigungen im Bußgeldverfahren eingeführt. Verstöße hiergegen werden ebenfalls mit Bußgeld geahndet (§ 81 II Nr. 7 GWB). Neben § 81a GWB wurde durch §§ 30 IIa und 6 OWiG auch die seit langem umstrittene Rechtsnachfolge partiell im Kartellsanktionsrecht eingeführt. Die letzte, 9. GWB-Novelle 2017 vollzog dann einen weiteren, aber immer noch unvollständigen Anschluss an das EU-Recht, indem die Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit und die damit verbundene wirtschaftliche sowie rechtliche Nachfolge in das deutsche Recht übernommen wurden. Im Hinblick auf das Kartellsanktionsrecht stellt die 9. GWBNovelle 2017 wohl einen Meilenstein bei der Angleichung des deutschen an das europäische Recht dar, gleichwohl bleiben noch offene Fragen ungeklärt, die zu erheblichen Spannungen mit europäischen Vorgaben führen dürften.56 Dies ist dem Umstand geschuldet, dass durch die Einbettung des deutschen Kartellsanktionsverfahrens in das Recht der Ordnungswidrigkeiten strafrechtliche sowie strafprozessrechtliche Prinzipien dominieren. Neben dem GWB sind nämlich die Verfahrensregeln des OWiG, des GVG und der StPO anzuwenden, die teilweise erheblich von dem verwaltungsrechtlich ausgeprägten europäischen Kartellsanktionsverfahren abweichen. Diese Defizite führten in der Vergangenheit zu unverhältnismäßig aufwendigen und schwerfälligen Prozessen, die aber erst im Besonderen Teil dieser Arbeit ausführlicher zu untersuchen sind.57

D. Die Diskussion um die künftige Ausrichtung des deutschen Kartellsanktionsrechts Ausgehend von dieser Entwicklung findet aktuell im deutschen Recht eine kontrovers geführte Diskussion über die Anpassung des rechtlichen Rahmens an das europäische Kartellsanktionsrecht statt. Dabei befindet sich die Auseinander56 57

Vgl. § 7, B. Vgl. § 7, D.

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§ 2 Grundlagen

setzung um die Einführung eines effektiven Sanktionsverfahrens in einer besonders interessanten Phase, aus der sich im Wesentlichen zwei Strömungen herauskristallisieren, die in unterschiedliche Richtungen gehen. Während die Monopolkommission durch ihr 72. Sondergutachten von 2015 die seit Jahrzehnten geführte Debatte über die Kriminalisierung des Kartellrechts in Deutschland neu entfacht hat,58 wozu insbesondere auch die nordrhein-westfälische Initiative zur Schaffung eines Unternehmensstrafrechts beitrug,59 mehren sich mittlerweile vermehrt Stimmen für eine grundlegende Reform dergestalt, das deutsche Kartellsanktionsrecht aus dem tradierten Gefüge des Ordnungswidrigkeitenrechts herauszulösen und in verwaltungsrechtliche Strukturen nach dem europäischen Vorbild einzubetten. Impulse hierfür geben neben dem BKartA selbst60 einige Stimmen aus der Wissenschaft,61 die die strengen strafprozessualen Grundsätze 58 Monopolkommission, Sondergutachten 72, 2015, S. 33 ff., abrufbar unter: http:// www.monopolkommission.de/images/PDF/SG/s72_volltext.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 59 Gesetzesantrag des Landes Nordrhein-Westfalen, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden, abrufbar unter: https://www.landtag.nrw.de/Dokumentenservice/portal/WWW/ dokumentenarchiv/Dokument/MMI16-127.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017); zur Stellungnahme in der Literatur vgl. Jahn/Pietsch, ZIS 2015, S. 1 f.; Krems, ZIS 2015, S. 5 f.; Schmidt-Leonardy, ZIS 2015, S. 11 f.; Mansdörfer, ZIS 2015, S. 23 f.; Fischer/ Hoven, ZIS 2015, S. 32 f.; Willems, ZIS 2015, S. 40 f.; Pieth, KJ 2014, S. 276 f.; Haubner, DB 2014, S. 1358; Heuking/von Coelln, BB 2014, S. 3016; Dierlamm, CCZ 2014, S. 194; Löffelmann, JR 2014, S. 185; Süße, Newsdienst Compliance 2014, 11003; Süße/Püschel, Newsdienst Compliance 2014, 11002; Kubiciel, ZRP 2014, S. 133 f.; Görtz, WiJ 2014, S. 8; Hein, CCZ 2014, S. 75; Römermann, GmbHR 2014, S. 1; Schünemann, ZIS 2014, S. 1; Hoven, ZIS 2014, S. 19; Pieth, KJ 2014, S. 276; Kindler, wistra 2014, S. 134; Kutschaty, ZRP 2013, S. 74; Leipold, ZRP 2013, S. 34; Palzer, ZRP 2013, S. 122; Kutschaty, DRiZ 2013, S. 16; Willems, DRiZ 2013, S. 354; Reichling, NJW 2013, S. 2233; Schneider, ZIS 2013, S. 488. 60 Vgl. dazu insb. den Zwischenbericht des BKartA zum Expertenkreis Kartellsanktionsrecht, Reformimpulse für das Kartellbußgeldverfahren v. 12.1.2015, abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Berichte/AG_Kartellsank tionenrecht_Zwischenbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 21.10.2016), und das Hintergrundpapier des BKartA zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht v. 4.10.2012, Kartellbußgeldverfahren zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz, abrufbar unter: https://www.bundeskartellamt.de/Shared Docs/Publikation/DE/Diskussions_Hintergrundpapier/Bundeskartellamt%20-%20Kartell bu%C3%9Fgeldverfahren%20zwischen%20deutschem%20Systemdenken%20und%20 europ%C3%A4ischer%20Konvergenz.html (zuletzt aufgerufen am 21.10.2016). 61 Erstmals von K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, Kartellverwaltungsrecht, Bürgerliches Recht, 1977, S. 304 ff.; ders., wistra 1990, S. 131, 133; darauf zurückgreifend Chmeis, NZKart 2017, S. 403 ff.; ders., Ad Legendum 02/2017, S. 192 ff.; ders., NZKart 2016, S. 564 ff.; Oppermann/Chmeis, in: Almasen/Whelan, S. 195 ff.; vgl. ferner Klocker, NZKart 2015, S. 1 f.; G. Dannecker, NZKart 2015, S. 14 f.; ders., NZKart 2015, S. 25 f.; Ackermann, NZKart 2015, S. 17 f.; ders., ZWeR 2012, S. 3; ders., ZWeR 2010, 329; Dannecker, NZKart 2015, S. 30 f.; Ost, NZKart 2013, S. 25 f.; ders., in: Bien (Hrsg.), Das deutsche Kartellrecht nach der 8. GWB-Novelle, 2013, S. 305 f.; Klocker/Ost, in: FS Bechtold (2006), S. 229 f.; hinsichtlich der Übernahme der wirtschaftlichen Einheit in das deutsche Kartellrecht vgl. insb. Kersting, Der Konzern,

D. Die künftige Ausrichtung des deutschen Kartellsanktionsrechts

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im Kartellverfahren lockern und das Kartellsanktionsrecht als wirtschaftsaufsichtsrechtliches Instrument umstrukturieren wollen.

I. Die Debatte über die Kriminalisierung des Kartellrechts Über die Kriminalisierung des Kartellrechts wurde sowohl auf europäischer62 als auch auf deutscher Ebene63 viel geschrieben. An dieser Stelle soll die recht ausführliche Debatte über die Vor- und Nachteile einer Kriminalisierung jedoch nicht erneut aufgegriffen werden.64 Für die Zwecke dieser Untersuchung sind gleichwohl einige Anmerkungen aus verfahrensrechtlicher Perspektive notwendig, die aufzeigen sollen, weshalb eine Kriminalisierung des deutschen Kartellrechts im Hinblick auf die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV wenig zweckdienlich wäre. Auch wenn die VO 1/2003 der Einführung von nationalen Kriminalstrafen gegenüber natürlichen Personen grundsätzlich nicht entgegenstünde,65 würde eine Kriminalisierung neben Gerechtigkeitsproblemen auch auf verfahrensrechtliche Bedenken stoßen, die sich insbesondere aus dem Verteilungsmechanismus innerhalb des ECN ergeben.66 Nach Art. 11 VI VO 1/2003 kann nämlich jedes von einer nationalen Wettbewerbsbehörde geführte Verfahren potentiell in ein Verfahren vor der Kommission münden, wenn eine grenzüberschreitende Zuwiderhandlung gegen Art. 101 oder 102 AEUV vorliegt oder wenn die Kommission der Meinung ist, dass ein von ihr geführtes Verfahren im Interesse der europäischen 2011, S. 445 f.; ders., WuW 2014, S. 1156 f.; vgl. zudem Präsident des BKartA Mundt, WuW 2007, S. 458, 459. 62 Vgl. dazu beispielsweise Azevedo, ECLE 2003, S. 400, 405 ff.; Chu/Jiang, JPE 51 (1993), S. 391 ff.; Harding, Maastricht Journal of European and Comparative Law 9 (2002) 4, S. 393 ff.; Rosochowicz, ECLR 2004, S. 252 ff.; Werden/Simon, Antitrust Bulletin 1987, S. 917 ff.; Wils, World Competition 28 (2005), S. 117 ff.; vgl. auch den OECD-Bericht von 2002, Report on the Nature and Impact of Hard Core Cartels and Sanctions Against Cartels under National Competition Laws. 63 Dannecker, in: FS für Tiedemann. Der strafrechtliche Schutz des Wettbewerbs. Notwendigkeit und Grenzen einer Kriminalisierung von Kartellverstößen, S. 789, 805 ff.; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23 VO 1/2003, Rn. 16; Reher, in: Kölner Kommentar zum Kartellrecht, Bd. 2, Vor § 81, Rn. 7 f.; Raum, in: Langen/Bunte, Deutsches Kartellrecht, § 81, Rn. 5 ff.; Achenbach, in: Frankfurter Kommentar zum GWB, 2005, Vorb. § 81, Rn. 23. 64 Vgl. dazu Wagner-von Papp, WuW 2010, S. 268 ff.; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 2: GWB/Teil 1, Vor § 81, Rn. 37 ff.; Dreher, WuW 2011, 232 ff. 65 Vgl. Art. 5 Spiegelstrich 4 VO 1/2003, wonach nationale Behörden „Sanktionen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen“ verhängen können. Dazu gehören auch Kriminalstrafen gegen natürliche Personen. 66 Vgl. Oppermann/Chmeis, in: Almasen/Whelan (Hrsg.) The Consistent Application of EU Competition Law, Chapter 11, Nov. 2016, S. 195, 202 f.

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§ 2 Grundlagen

Wettbewerbspolitik notwendig ist.67 Während also eine nationale Wettbewerbsbehörde der Annahme ist, sie sei für die Bearbeitung des Falles gut geeignet und gegen natürliche Personen ein kriminalstrafrechtliches Verfahren einleitet, könnte die Kommission im Rahmen einer Fallverteilung den Fall an sich ziehen, wobei die Kriterien der Fallverteilung nicht immer nach objektiven Maßstäben bestimmt werden.68 Somit würde es letztlich von der Größe des Unternehmens und dem damit verbundenen Gesamtumsatz – mindestens aber vom weiten Ermessen der Kommission abhängen, ob das nationale strafrechtliche Verfahren abrupt in ein verwaltungsrechtliches Verfahren vor der Kommission mündet, was erhebliche Rechtsunsicherheiten für die Betroffenen bedeuten würde. Dieser Wertungsunterschied ist vor dem Hintergrund des Verteilungsmechanismus nach Art. 11 VI VO 1/2003 in der Tat nur schwer zu rechtfertigen. Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass bei einer Kriminalisierung der Kartellrechtsdurchsetzung zudem der behördliche Informationsaustausch nach Art. 12 VO 1/2003 nur bedingt möglich ist. Nach Art. 12 III Spiegelstrich 2 VO 1/2003 dürfen ausgetauschte Informationen nämlich nur dann als Beweismittel verwendet werden, um Sanktionen gegen natürliche Personen zu verhängen, wenn das Recht der übermittelnden Behörde „ähnlich geartete Sanktionen“ vorsieht oder, falls dies nicht der Fall ist, wenn die Informationen in einer Weise erhoben werden, die hinsichtlich der Verteidigungsrechte natürlicher Personen das „gleiche Schutzniveau“ gewährleistet wie nach dem innerstaatlichen Recht der empfangenden Behörde. Art. 12 III Spiegelstrich 2 VO 1/2003 enthält somit Sondervorschriften für die Verwertbarkeit von Informationen in Sanktionsverfahren gegen natürliche Personen, die dem Umstand geschuldet sind, dass die nationalen Kartellsanktionsverfahren und die damit verbundenen rechtsstaatlichen sowie strafrechtlichen Grundsätze von Staat zu Staat variieren. Die Weitergabe von Informationen wird hiernach primär von der Homogenität der nationalen Sanktionsmöglichkeiten, sekundär von der Homogenität des Schutzniveaus nationaler Strafverfahren abhängig gemacht.69 Dem Verordnungsgeber war bei der Formulierung des Art. 12 III Spiegelstrich 2 VO 1/2003 somit durchaus bewusst, dass die Strafrechtssysteme innerhalb der EU nicht harmonisiert sind und unterschiedliche Schutzstandards aufweisen. Daher bestand für ihn das Bedürfnis, die verfahrensrechtlichen Garantien natürlicher Personen in einem nationalen Strafverfahren nicht durch den Informationstausch zwischen den Mitgliedern des ECN zu unterlaufen. Er ging insofern davon aus, dass aus einer Homogenität der nationalen Strafrechtssysteme auf eine vergleich67

Netzwerkbekanntmachung, ABl. 2004 C 101/43, Rn. 14 f. Vgl. dazu ausführlich unten, § 4 D. II. 69 Dazu Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kartellrecht, Art. 12, Rn. 8 f.; van der Hout/ Reinalter, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Deutsches und Europäisches Kartellrecht, Art. 12, Rn. 32; de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 12, Rn. 10. 68

D. Die künftige Ausrichtung des deutschen Kartellsanktionsrechts

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bare rechtsstaatliche Sicherung im jeweiligen nationalen Verfahren zu schließen sei. Der Rückschluss von einer sanktionsrechtlichen Homogenität auf homogene Schutzstandards innerhalb eines strafrechtlichen Verfahrens ist auf den ersten Blick zwar naheliegend, vermag aber bei einer näheren Durchdringung der grundrechtlichen Dogmatik innerhalb des ECN nicht zu überzeugen. „Ähnlich geartete Sanktionen“ bedeuten nicht zwangsläufig ähnliche Grundrechtsgarantien. Vielmehr herrscht innerhalb des ECN ein grundrechtliches Mehrebenensystem, das zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich beurteilt wird.70 Sehen nämlich die betroffenen Verfahrensrechte der betroffenen Mitgliedstaaten keine ähnlich gearteten Sanktionsmöglichkeiten vor, kommt eine Verwertung von ausgetauschten Informationen nur dann in Betracht, wenn das Schutzniveau der Verteidigungsrechte auf Ermittlungs- und Verwertungsseite vergleichbar ist. Diese sekundäre Verwertungsmöglichkeit von Informationen scheitert nicht selten an den unterschiedlichen grundrechtlichen Gewährleistungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Man denke hier nur an das Anwaltsprivileg oder an die Selbstbelastungsfreiheit, die in manchen Mitgliedstaaten nicht oder nicht im gleichen Umfang geregelt sind wie in anderen Mitgliedstaaten.71 In solchen Fällen kommt weder eine primäre noch eine sekundäre Verwertungsmöglichkeit von empfangenen Informationen nach Art. 12 III VO 1/2003 in Betracht. Art. 12 III VO 1/2003 kann daher nicht – wie teilweise suggeriert wird72 – als Argumentationsansatz für Kriminalisierungsbestrebungen im Kartellrecht herangezogen werden. Die Akzeptanz des Verordnungsgebers, dass nationale Wettbewerbsbehörden auch strafrechtliche Sanktionen erlassen können, sollte nicht als Freifahrtschein für eine mögliche Kriminalisierung des nationalen Kartellrechts gesehen werden. Art. 12 III Spiegelstrich 2 VO 1/2003 sollte vielmehr als Ausnahmeregelung verstanden und beibehalten werden, die notgedrungen aus den unterschiedlichen Strafrechtssystemen innerhalb der EU resultierte, die bereits lange vor Einführung der VO 1/2003 bestanden haben. Vor diesem Hintergrund kann nicht auf Kartellstrafgesetze anderer EU-Mitgliedstaaten – wie etwa Großbritannien oder Irland – verwiesen werden, um die Notwendigkeit einer Kriminalisierung des deutschen Kartellrechts zu begründen.73

70 Der Grundrechtsschutz innerhalb des ECN ist umstritten. Zu dem grundrechtlichen Schutzniveau innerhalb des ECN vgl. unten, § 4 C., zu den grundrechtlichen Konvergenztendenzen im ECN vgl. zudem § 5 C. 71 Vgl. dazu ausführlich unten, § 4 B. 72 Dazu Wils, World Competition 28 (2005), 117 ff., der in Art. 12 III Spiegelstrich 2 VO 1/2003 gerade die Möglichkeit einer Kriminalisierung des nationalen Kartellrechts sieht. 73 So aber Dannecker, in: FS für Tiedemann. Der strafrechtliche Schutz des Wettbewerbs. Notwendigkeit und Grenzen einer Kriminalisierung von Kartellverstößen, S. 789, 805 f.

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§ 2 Grundlagen

Auch im Hinblick auf den RL-Vorschlag der Kommission zur Stärkung nationaler Wettbewerbsbehörden scheint eine Kriminalisierung des Kartellrechts nicht zweckmäßig zu sein.74 So sollen die Mitgliedstaaten etwa nach Art. 22 RL-Vorschlag sicherstellen, dass natürliche Personen vor „straf- und verwaltungsrechtlichen Sanktionen“ geschützt werden, wenn die natürlichen Personen einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung gestellt haben und aktiv mit den nationalen Wettbewerbsbehörden zusammenarbeiten. Zwar steht der RL-Vorschlag der Kommission grundsätzlich Kriminalisierungstendenzen nicht entgegen, doch dürften kartellrechtliche Straftatbestände vor allem im Hinblick auf die besondere Stellung von Kronzeugen im Kartellverfahren ihre praktische Bedeutung verlieren, da Strafverfahren gegen natürliche Personen nicht dazu führen dürfen, dass potentielle Kronzeugen den Anreiz zur Kooperation mit nationalen Wettbewerbsbehörden verlieren. Der Anwendungsbereich des Art. 12 III VO 1/2003 dürfte bei einer künftigen Umsetzung des RL-Vorschlags daher zu praktischer Irrelevanz schrumpfen.75 Gerade vor diesem Hintergrund sollte über eine Entkriminalisierung des Kartellrechts in Europa nachgedacht werden, zumal nur wenige EU-Mitgliedstaaten ein Kartellstrafrecht kennen. Vielmehr sind Entkriminalisierungstendenzen erkennbar, wie etwa in Österreich. Hier wurden im Jahre 2002 Kriminalstrafen mit Ausnahme des Submissionsbetrugs mit der Begründung mangelnder kartellrechtlicher Fachexpertise der Staatsanwaltschaft abgeschafft.76 Auch in den Niederlanden wurde das Kartellrecht im Jahre 1997 entkriminalisiert.77 Die Entkriminalisierung wurde in den Niederlanden ähnlich wie in Österreich deshalb durchgeführt, weil man der Annahme war, dass wettbewerbsrechtliche Verfahren eine besondere Sachkunde der Wettbewerbsbehörden und Gerichte voraussetzen, die für die Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften zuständig sind, so dass es nicht zweckmäßig erschien, diesen Sachverstand in einem strafrechtlich organisierten Rechtssetzungssystem vorzuhalten. Zudem hat der niederländische Gesetzgeber mit der Entkriminalisierung des Kartellrechts einen möglichst engen Anschluss an das europäische Recht gesucht. Die Europafreundlichkeit ging sogar so weit, dass zugunsten einer Übereinstimmung des niederländischen mit dem europäischen Kartellsanktionsrecht verschiedene Ausnahmen zu den Standardregelungen des allgemeinen Verwaltungsrechts zugelassen wurden. Somit hat der niederländische Gesetzgeber Kartellsanktionen als Verwaltungssanktio-

74

Zu den Einzelheiten des RL-Vorschlags vgl. unten, § 5 A. Dazu ausführlich unten, § 5 A. II. 9. 76 Zur Entkriminalisierung des Kartellrechts in Österreich vgl. etwa Monopolkommission, Hauptgutachten XX, 2012, 2013, Rz. 166. 77 Zur Entkriminalisierung des Kartellrechts in den Niederlanden vgl. nur Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, 2011, S. 165 f., m.w. N. 75

D. Die künftige Ausrichtung des deutschen Kartellsanktionsrechts

57

nen eingestuft, vergleichbar mit Kartellsanktionen nach dem europäischen Vorbild, um länderübergreifende Kartelle effektiver und effizienter zu bekämpfen.

II. Die Debatte über mehr europäische Konvergenz In die gleiche Richtung wie im österreichischen und niederländischen Kartellsanktionsrecht geht die aktuelle Diskussion über die Straffung des deutschen Kartellsanktionsverfahrens nach dem europäischen Vorbild, die im Hinblick auf die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV in den Fokus dieser Untersuchung rückt. Es mehren sich mittlerweile Stimmen, die im deutschen Kartellsanktionsrecht eine Nichterfüllung europäischer Vorgaben sehen. Worin genau diese Nichterfüllung europäischer Vorgaben zu sehen ist, wird im Besonderen Teil dieser Arbeit noch ausführlich zu untersuchen sein.78 Um dem Fortgang dieser Untersuchung jedoch weitere Konturen zu verleihen, seien vorab bereits an dieser Stelle die vertretenen Thesen zusammengefasst: Bereits der Koalitionsvertrag der Bundesregierung vom 16. Dezember 2013 enthält den Auftrag, weitere Schritte zur „Straffung des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens bei Kartellverstößen zu prüfen“ 79, da die Anwendung materiell gleichen Rechts (Art. 101, 102 AEUV) in national unterschiedlichen Verfahrensrechten nicht in jedem Fall gleich effektiv möglich sei,80 was zu erheblichen verfahrensrechtlichen Problemen innerhalb des ECN führe. Hiervon angetrieben haben mittlerweile insbesondere das BKartA und ihm folgend einige Stimmen aus der Literatur eine Vorreiterrolle bei der Modernisierung des deutschen Kartellsanktionsrechts eingenommen, die immer wieder auf die Notwendigkeit zur Einführung von effektiven und effizienten Verfahrensregeln bei der Verhängung von Kartellsanktionen hinweisen. Vor diesem Hintergrund wurde der sog. Expertenkreis Kartellsanktionsrecht vom BKartA ins Leben gerufen, der mit ausgewiesenen Rechtswissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen besetzt ist und mögliche Ausgestaltungen des deutschen Kartellsanktionsrechts offen diskutiert.81 Der Expertenkreis vertritt vor allem eine verfahrensrechtliche Konvergenz 78

Vgl. dazu unten, § 7 B. Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode v. 16.12.2013, S. 17, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsver trag.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 80 Vgl. etwa die Antwort der Bundesregierung v. 2.11.2012 auf eine kleine Anfrage der SPD-Fraktion, BT-Drucks. 17/11285, S. 3. 81 Vgl. den Zwischenbericht des BKartA zum Expertenkreis Kartellsanktionsrecht, Reformimpulse für das Kartellbußgeldverfahren v. 12.1.2015, abrufbar unter: http:// www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Berichte/AG_Kartellsanktionen recht_Zwischenbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 21.10. 2016), und das Hintergrundpapier des BKartA zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht v. 4.10.2012, Kartellbußgeldverfahren zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz, abrufbar unter: https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/ 79

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§ 2 Grundlagen

des deutschen mit dem europäischen Kartellsanktionsrecht und beruft sich dabei auf den im Unionsrecht verankerten und aus Art. 4 III EUV abgeleiteten Effektivitätsgrundsatz (effet utile) sowie die damit verbundene Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in Anlehnung an die VO 1/2003 effektive und effiziente Sanktionssysteme vorzusehen.82 Die Gegenstimmen aus dem Strafrecht hingegen betonen, dass verfassungsrechtliche und strafrechtliche Fundamentalprinzipien nicht durch ungezügelte Rechtsprinzipien des Unionsrechts – wie etwa den effet utile-Grundsatz – unterlaufen werden dürfen.83 Während also teilweise darüber nachgedacht wird, das deutsche Kartellsanktionsrecht aus dem tradierten System des Ordnungswidrigkeitenrechts herauszulösen und in eine verwaltungsrechtlich ausgerichtete Wirtschaftsaufsicht einzubetten,84 fordern andere in Anlehnung an Art. 6 und 7 EMRK sowie in Anbetracht der angeblichen rechtsstaatlichen Defizite des EU-Kartellverfahrens,85 strengere Maßstäbe bei der Verhängung von Kartellsanktionen anzulegen.86 Teilweise ist im Zusammenhang mit der europäischen Kartellrechtspraxis sogar von einer „Lebenslüge des Kartellrechts“ 87 die Rede. Drehund Angelpunkt der Diskussion ist dabei die Gleichsetzung von Kartellsanktionen und Kriminalstrafen.88 Das deutsche Kartellsanktionsrecht ist somit einem

Publikation/DE/Diskussions_Hintergrundpapier/Bundeskartellamt%20-%20Kartellbu% C3%9Fgeldverfahren%20zwischen%20deutschem%20Systemdenken%20und%20europ %C3%A4ischer%20Konvergenz.html (zuletzt aufgerufen am 21.10.2016). 82 Vgl. dazu ausführlich Harnos, ZWeR 2016, S. 284, 288 f. 83 Bechtold, in: Schwarze (Hrsg.), Rechtschutz und Wettbewerb, S. 97, 98; Eisele, JA 2000, S. 896, 897; Emmerich, Kartellrecht, § 13, Rn. 17; Kruck, Der Grundsatz ne bis in idem im EU-Kartellverfahrensrecht, S. 48 f.; Scheuing, in: Schwarze (Hrsg.), Bestand und Perspektiven des EU-Verwaltungsrechts, S. 45, 73; Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Kartellrecht, Bd. 2, Art. 23, Rn. 6; Tiedemann, FS Jescheck, S. 1411, 1416; Dannecker, ZStW 111 (1999), S. 256, 257; ders., in: Schünemann/Suáres Golzáles (Hrsg.), Bausteine eines Wirtschaftsstrafrechts, S. 331, 333; Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008; daran anknüpfend Schwarze, WuW 2009, S. 6 und ders., EuR 2009, S. 171; Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 84; Zuleeg, JZ 1992, S. 761, 763. 84 Anregungen in diese Richtung wurden wiederholt formuliert, erstmals von K. Schmidt, wistra 1990, S. 131, 133, mit Verweis auf seine Habilitationsschrift von 1977 zum Kartellverfahrensrecht, S. 304 f.; darauf zurückgreifend Klocker/Ost, in: FS Bechtold, 2006, S. 229, 242; Mundt, Präsident des Bundeskartellamts, WuW 2007, S. 458, 459; neuerdings auch Ackermann, ZWeR 2010, S. 329, 334; ders., ZWeR 2012, S. 3 f., ausführlicher unten, § 7 D. I. 85 Vgl. dazu ausführlich unten, § 7 B. 86 Vgl. nur Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008; daran anknüpfend Schwarze, WuW 2009, S. 6 und ders., EuR 2009, S. 171; Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160. 87 Möschel, WuW 2010, S. 869, 870; Feld/Möschel/Wieland/Wigger, Der Kronberger Kreis. Reform der Geldbußen im Kartellrecht längst überfällig, 2012, S. 15. 88 Dazu ausführlich Lorenzmeier, ZIS 2008, S. 20 f.

D. Die künftige Ausrichtung des deutschen Kartellsanktionsrechts

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Spannungsfeld ausgesetzt, auf der einen Seite besonders effektive und effiziente Kartellsanktionssysteme vorzusehen, die mit europarechtlichen Vorgaben im Einklang stehen, auf der anderen Seite jedoch rechtsstaatliche sowie grundrechtliche Grundsätze der am Kartellverfahren beteiligten Unternehmen hinreichend zu berücksichtigen. Die Frage, ob ein auf Prävention ausgerichtetes Kartellsanktionssystem mit strengen strafrechtlichen sowie strafprozessrechtlichen Fundamentalprinzipien vereinbar ist oder nicht, wird sich als eine der Zentralfragen dieser Arbeit erweisen, die sich auf den Fortgang der Untersuchung maßgeblich auswirken wird. Handelt es sich bei Kartellsanktionen nämlich um öffentlich-rechtliche Maßnahmen mit strafrechtlichem oder strafrechtsähnlichem Charakter, die aufgrund ihrer präventiven Wirkung nicht mit strafrechtlichen oder strafrechtsähnlichen Garantien vereinbar wären, stünde vor allem die Europäische Union mit ihrer gegenwärtigen Sanktionspolitik vor einem Rechtfertigungsproblem, nicht zuletzt im Hinblick auf ihr vehementes Bemühen um mehr verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN. Damit würde auch dem deutschen Recht die Grundlage für eine verfahrensrechtliche Konvergenz nach europäischen Standards entzogen werden. Diese Grundsatzfrage soll nun im folgenden Kapitel beantwortet werden.

§ 3 Relevantes Spannungsfeld: Kartellsanktionen zwischen Prävention und Rechtsstaatlichkeit Sowohl die Kommission als auch nahezu alle nationalen Wettbewerbsbehörden setzen bei ihrer Sanktionspolitik vermehrt auf Präventionsgesichtspunkte, um Unternehmen möglichst vor kartellwidrigen Zuwiderhandlungen abzuschrecken. In den Bußgeld-Leitlinien der Kommission heißt es hierzu: Die Kartellsanktion „sollte so hoch gesetzt werden, dass nicht nur die an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen sanktioniert werden (Spezialprävention), sondern auch andere Unternehmen von der Aufnahme oder Fortsetzung einer Zuwiderhandlung gegen Art. 81 oder 82 [heute: Art. 101, 102 AEUV] abgehalten werden (Generalprävention)“.1 Auch die Bußgeld-Leitlinien des BKartA führen bei den Grundsätzen aus: „Neben der Berücksichtigung der Ahndungsempfindlichkeit des Unternehmens muss die Sanktion in Bezug zu weiteren tat- und täterbezogenen Umständen angemessen und auch unter spezial- und generalpräventiven Gesichtspunkten zu rechtfertigen sein.“ 2 Vergleicht man die beiden Formulierungen, so fällt schnell auf, dass die Bußgeld-Leitlinien des BKartA anders als die Bußgeld-Leitlinien der Kommission auf die „Angemessenheit“ und somit auf die Verhältnismäßigkeit einer Kartellsanktion hinweisen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kommission bei der Verhängung von Kartellsanktionen nicht an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden wäre. Dieser ergibt sich vielmehr als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts aus Art. 5 V EUV, wonach Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen dürfen. Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert somit, dass öffentlich-rechtliche Maßnahmen wie Kartellsanktionen vor allem den Grundrechten der betroffenen Unternehmen Rechnung tragen. Damit ist auch das Spannungsverhältnis abgesteckt, in dem sich Kartellsanktionen bewegen – auf der einen Seite besonders effektiv und wirksam vor kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen abzuschrecken, auf der anderen Seite aber rechtsstaatlichen sowie grundrechtlichen Interessen der am Kartellsanktionsverfahren beteiligten Unternehmen Rechnung zu tragen.

1 Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. 2006/C210/02, Rn. 4. 2 Bußgeld-Leitlinien, Rn. 4.

A. Prävention als kartellrechtliches Paradigma?

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A. Prävention als kartellrechtliches Paradigma? Der kartellrechtliche Präventionsgedanke ist spätestens seit den von der Kommission erlassenen Bußgeld-Leitlinien 1998, die durch die Bußgeld-Leitlinien 2006 verschärft wurden, lebhaft umstritten. Vor allem im deutschen Schrifttum scheiden sich daran die Geister: Während von den einen der kartellrechtliche Präventionsgedanke als Allheilmittel 3 – unter Berufung auf den europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz sogar als gallischer Zaubertrank4 – angesehen wird, um kartellrechtliche Zuwiderhandlungen durch besonders effektive Kartellsanktionen zu bekämpfen, heiligt dieser Zweck für andere nicht immer die gewählten Mittel, die verfassungsrechtliche sowie grundrechtliche Prinzipien missachten.5 Im Kern der Debatte geht es darum, ob rechtsstaatliche Fundamentalprinzipien einem auf Prävention gestützten Kartellsanktionssystem entgegenstehen oder ob eben diese rechtsstaatlichen Fundamentalprinzipien zugunsten einer einheitlichen und wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV eingeschränkt werden können. Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst herauszuarbeiten, welchen Zweck Kartellsanktionen überhaupt verfolgen, bevor auf die rechtsstaatlichen Grenzen des kartellrechtlichen Präventionsgedankens einzugehen ist.

I. Prävention als Hauptanliegen der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung Im Schrifttum wird der kartellrechtliche Sanktionszweck unterschiedlich beurteilt. Auszugehen ist dabei von der Prämisse, dass, wenn von einer Rechtsordnung ein bestimmtes Verhalten vorgeschrieben oder verboten wird, diese Rechtsordnung bei Zuwiderhandlungen gegen das geltende Recht auch geeignete Sanktionen zu verhängen hat. Dadurch, so erhofft man sich jedenfalls, sollen zum einen Delinquenten abgeschreckt werden, rechtswidriges Verhalten künftig zu wiederholen, zum anderen aber auch potentielle Täter von gleichartigen Zuwiderhandlungen abgehalten werden. Kartellsanktionen sollen somit Unternehmen zu einem wettbewerbskonformen Verhalten disziplinieren und ihnen die Anreize nehmen, sich kartellrechtswidrig zu verhalten, unabhängig davon, welche Vorteile sie sich davon versprechen. Dabei können solche Sanktionen unterschiedlicher Rechtsnatur sein. Aus zivilrechtlicher Sicht können etwa Vertragsstrafen verhängt oder Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden. Andererseits können aber auch strafrechtliche Sanktionen gegenüber natürlichen Personen wie 3

Dazu vor allem Ackermann, ZWeR 2012, S. 3 f.; ders., ZWeR 2010, S. 329 ff. So Harnos, ZWeR 2016, 284 f., der den Umgang mit dem effet utile-Grundsatz im Kartellsanktionsrecht kritisch untersucht. 5 Dazu vor allem Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160 f.; Schwarze, WuW 2009, S. 6 f.; ders., EuR 2009, S. 171 f.; grundlegend dazu auch Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008. 4

62

§ 3 Kartellsanktionen zwischen Prävention und Rechtsstaatlichkeit

in Großbritannien, strafrechtsähnliche Sanktionen gegen juristische Personen in Form von Geldbußen wie in Deutschland oder gar verwaltungsrechtliche Sanktionen wie in den Niederlanden verhängt werden. Diese Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten der jeweiligen Gesetzgeber, in welchem Rechtsrahmen Kartellsanktionen letztendlich verhängt und durchgesetzt werden, spiegelt die kartellrechtliche Landschaft innerhalb des ECN wider und erschwert mithin die Klassifizierung ihrer Rechtsnatur. Unbestritten handelt es sich bei Kartellsanktionen unabhängig von der Wahl des Mittels jedenfalls um eine hoheitliche, von der Exekutive verhängte Sanktion, die an die vorwerfbare Verwirklichung einer Zuwiderhandlung anknüpft und drei sich überschneidende Ziele verfolgt: Prävention, Repression und Gewinnabschöpfung.6 Kartellsanktionen sollen zunächst potentielle Kartellanten möglichst davon abschrecken, kartellrechtliche Zuwiderhandlungen zu begehen, wobei innerhalb dieses Präventionsgedankens zwischen der General- und Spezialprävention unterschieden wird. Diese Abschreckungswirkung soll dem Täter schließlich vor Augen führen, dass er für sein Unrecht einzustehen hat, weshalb dieser Pönalisierungsgedanke zu einer ethischen Missbilligung kartellrechtswidrigen Verhaltens disziplinieren soll. Schließlich soll sich die Tat für den Täter aus ökonomischer Sicht auch nicht lohnen dürfen, weshalb Kartellsanktionen die verbotenen Früchte wieder entziehen sollen. Ihnen ist also auch eine Abschöpfungsfunktion inhärent.7 Während diese drei Funktionen einer Kartellsanktion (Prävention, Repression und Abschöpfung) weitestgehend unbestritten anerkannt werden, besteht vor allem im deutschen Schrifttum Uneinigkeit darüber, in welchem Verhältnis diese unterschiedlichen Zwecke zueinanderstehen. So wird etwa vereinzelt vertreten, dass der Präventionsgedanke zwar eine, aber keine entscheidende Rolle bei der Festsetzung von Kartellsanktionen spielen dürfe. Vielmehr sollten bei der Festsetzung der Kartellsanktion vorrangig die ethische Missbilligung kartellwidrigen Verhaltens sowie die gewonnenen Vorteile berücksichtigt werden. Dieser Ansatz impliziert, dass Kartellsanktionen nicht das Niveau einer strafrechtlichen Sanktion erreichen dürfen, so dass der gegenwärtigen Entwicklung der kartellrechtlichen Sanktionspraxis schwerwiegende rechtsstaatliche sowie grundrechtliche Bedenken entgegenzusetzen wären. Ausgehend von dieser Betrachtungsweise betonen vor allem Straf- und Verfassungsrechtler die rechtsstaatlichen Defizite der gegenwärtigen europäischen Kartellsanktionspolitik.8 Dieser Ansatz sucht seine 6 Ausführlich zur Natur und den Funktionen der Geldbuße Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, GWB, 4. Aufl., 2007, EG/Teil 2, VO 1/2003, Vorb. zu Art. 23 ff., Rn. 22 ff. 7 Vgl. hierzu Stockmann, Zur neueren Bußgeldpraxis bei Kartellverstößen, ZWeR 2012, S. 20, 24. 8 Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008, S. 7.

A. Prävention als kartellrechtliches Paradigma?

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Rechtfertigung in einem oft zitierten Vergleich zwischen der Höhe einer Kartellsanktion und der Höhe einer Geldbuße wie etwa für Falschparken, so dass die Höhe der Kartellsanktion als maßgebliches Abgrenzungskriterium für die Bestimmung ihrer Rechtsnatur genannt wird. Kartellsanktionen in Höhe von weit über einer Milliarde Euro seien nur schwerlich mit der Höhe einer Geldbuße wie für das Falschparken vergleichbar, so dass unterschiedliche Maßstäbe anzulegen seien. Präventionsrechtliche Gesichtspunkte seien zwar grundsätzlich nicht zu leugnen, dürften aber nicht derart in die Bußgeldbemessung einbezogen werden, dass herkömmliche dogmatische Strukturen des Straf- und Strafprozessrechts negiert würden. Diese Sichtweise mag vermutlich der relativen Straftheorie geschuldet sein, die neben der Repression ebenfalls auf general- und spezialpräventionsrechtliche Gesichtspunkte abstellt und leicht zu einer Gleichsetzung von Prävention und Repression verleitet.9 So nachvollziehbar auch manche Bemühungen erscheinen, Kartellsanktionen vordergründig der Repression und somit der strafrechtlichen Domäne zuzuordnen, gelingt es aber auch der Straftheorie nicht vollends, eine trennscharfe Linie zu bestimmen, ab welcher Höhe einer Kartellsanktion noch von einer Geldbuße und ab welcher Höhe schon von einer echten Strafe die Rede ist.10 Dies kann sie nämlich auch nicht, da Kartellsanktionen mehr von komplexen, stets im Wandel befindlichen ökonomischen Faktoren sowie vom Kooperationsverhalten der Unternehmen und weniger von empirischkriminologischen Faktoren abhängig sind, auf die eine Rechtsordnung adäquate Antworten finden muss, die auch in Zeiten der Globalisierung von Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkungen flexibel angepasst werden können, ja sogar angepasst werden müssen. Wie die kartellrechtliche Praxis der letzten Jahre zeigt, nimmt die Zahl von Kartellsanktionen als Folge der Globalisierung und Vernetzung von Wettbewerbsbeschränkungen zu, worauf die europäische Wettbewerbspolitik zu Recht mit geeigneten, insbesondere präventionsrechtlichen Instrumenten zu reagieren hat.11 Der repressive Ansatz ist jedenfalls insofern das weniger geeignete Mittel. Gleichwohl ist ihm in der Rechtsfolge beizupflichten, dass das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht für Kartellsanktionen nicht den optimalen Rechtsrahmen zu schaffen scheint, wenngleich er in der Begründung etwas kurz gegriffen ist, wenn hierfür auf die unterschiedliche Missbilligung und ethische Stigmatisierung von Falschparken und kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen ab-

9 Zum Verhältnis von Prävention und Repression vgl. vor allem Hassemer, ZRP 1992, S. 378, der vor allem die Aufladung des Strafrechts mit Präventionsanliegen kritisiert, vgl. auch grundlegend Wils, Efficiency and Justice in European Antitrust enforcement, 2008, Rn. 187. 10 Diese Schwäche schlägt auch auf die Bestimmung des richtigen grundrechtlichen Schutzniveaus nach Art. 6 EMRK durch, wonach eine graduelle Anwendung der Verfahrensgarantien im Kartellsanktionsverfahren möglich erscheint, vgl. dazu ausführlich sogleich unten, II. C. 11 Siehe etwa Wagner, AcP 206 (2006), S. 352, 360 ff.

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§ 3 Kartellsanktionen zwischen Prävention und Rechtsstaatlichkeit

gestellt wird.12 Letztlich bleibt festzuhalten, dass der bloße Entzug des kartellbedingten Gewinns lediglich den Zustand herstellen würde, wie er sich unter Aufrechterhaltung eines funktionierenden Wettbewerbs ohnehin ergeben hätte. Es ist daher offensichtlich, dass eine auf den Entzug der „verbotenen Früchte“ gerichtete Sanktionierung keine hinreichend abschreckende Wirkung gegenüber Unternehmen entfalten würde. Hiervon ausgehend sollte auch aufgrund des Primats der öffentlichen gegenüber der privaten Kartellrechtsdurchsetzung die Abschöpfungsfunktion nicht im Vordergrund stehen, zumal die private Kartellrechtsdurchsetzung, die durch die Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (in Deutschland im Rahmen der 9. GWB-Novelle 2017) verstärkt in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt ist, die verbotenen Früchte eines Kartells aufgrund hoher Kartellschadensersatzklagen vermehrt abschöpfen wird. Das Primat der öffentlichen gegenüber der privaten Kartellrechtsdurchsetzung wird auch in der Kartellschadensersatzrichtlinie selbst insofern deutlich, als Unternehmen, denen von einer Wettbewerbsbehörde im Rahmen eines Kronzeugenprogramms die Geldbuße erlassen wurde, vor übermäßigen Kartellschadensersatzansprüchen geschützt werden sollen.13 Der Schutz von Kronzeugen ist unerlässlich für eine wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV, wenngleich der Preis der Sanktionslosigkeit mancher Rechtsverletzungen messbar suboptimal erscheint.14 Solche Kollateralschäden sind indessen hinzunehmen, um eine wirksame Durchsetzung der europäischen Wettbewerbspolitik sicherzustellen. Kartellschadensersatzansprüche werden Kartellgewinne daher künftig in ausreichendem Maße abschöpfen können, wie etwa am Beispiel des LKW-Kartells gezeigt werden kann. Auf die beachtliche Kartellsanktion der Kommission i. H. v. 2,93 Milliarden Euro sollen nun private Schadensersatzansprüche von geschädigten Spediteuren i. H. v. mindestens 500 Millionen Euro folgen. Somit müssen Kartellsanktionen in erster Linie präventionsrechtliche Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte verfolgen, also vor künftigen kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen möglichst abschrecken.15 Unternehmen werden in der Regel den zu erwartenden Gewinn mit der wegen der kartellrechtlichen Zuwiderhandlung zu erwartenden Geldbuße saldieren, weshalb die Höhe einer präventiven Kartellsanktion den zu erwartenden Gewinn bei weitem übersteigen muss.16 Ein präven12

Vgl. dazu auch unten, B. II. 2. Vgl. ABl./2014 L 349/7, Rn. 38. 14 Oppermann, Ad Legendum 2015, S. 197, 203 mit Verweis auf Wils, Leniency in Antritrust enforcement: theory and practice, in: The More Economic Approach to European Competition Law. Conferences on New Political Economy 24 (2007), S. 203. 15 In diesem Sinne auch Ackermann, ZWeR 2012, S. 3 f.; ders., ZWeR 2010, S. 329 ff. 16 So auch Wils, Efficiency and Justice in European Antitrust enforcement, 2008, Rn. 187. 13

A. Prävention als kartellrechtliches Paradigma?

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tionsrechtlicher Ansatz bei Kartellsanktionen vermag in der Tat eine zufriedenstellende Antwort insbesondere auf die Herausforderungen einer globalisierten Weltwirtschaft und die damit verbundenen globalen Wettbewerbsbeschränkungen zu finden, weshalb die Wettbewerbsbehörden den Präventionsgedanken in ihren Bußgeld-Leitlinien zu Recht zum Hauptanliegen ihrer Sanktionspraxis proklamiert haben.

II. Praktische Relevanz und Auswirkung des kartellrechtlichen Präventionsgedankens In der Praxis kommt das scharfe Schwert des kartellrechtlichen Präventionsgedankens durch exorbitante Kartellsanktionen der Kommission zum Ausdruck, die in den letzten Jahren zunehmend angestiegen sind.17 Auf europäischer Ebene ist zunächst auffällig, dass bis zur Jahrtausendwende eher moderate Kartellsanktionen verhängt wurden. Insgesamt wurden durch die Kommission von 1990 bis 2000 Kartellsanktionen i. H. v. rund 832 Millionen Euro verhängt. Explosionsartig stiegen die Kartellsanktionen ab dem Jahr 2005 an, also nach Einführung der VO 1/2003, die sich von 2005 bis 2009 insgesamt auf 9,4 Milliarden Euro beziffern lassen. Ab dem Jahre 2006 und damit nach Verschärfung der Bußgeld-Leitlinien durch die Kommission ist ein weiterer Anstieg der Höhe von Kartellsanktionen erkennbar: Während noch im Jahr 2007 gegen das Fahrstuhl-Kartell Geldbußen i. H. v. 992 Millionen Euro verhängt wurden, stiegen die Geldbußen für das Gas-Kartell 2009 auf 1,12 Milliarden Euro an, dicht gefolgt vom Autoglas-Kartell 2008 mit einer Gesamtgeldbuße i. H. v. 1,38 Milliarden Euro. Die Tendenz steigt: 2012 wurden dem Bildschirm-Kartell Geldbußen i. H. v. 1,47 Milliarden Euro auferlegt. Die bisher höchsten Kartellsanktionen in der Geschichte der europäischen Wettbewerbspolitik wurden 2016 gegen das LKW-Kartell wegen Preisabsprachen i. H. v. 2,93 Milliarden Euro und 2017 gegen Google wegen des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung i. H. v. 2,42 Milliarden Euro verhängt. Diese rasante Entwicklung der Höhe von Kartellsanktionen ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen, die sich gegenseitig bedingen. Durch die Einführung der VO 1/2003 stieg die kartellrechtliche Durchsetzungskraft aufgrund der tatkräftigen Unterstützung durch die nationalen Wettbewerbsbehörden an. Dadurch konnte die Kommission effektiver und effizienter schwerwiegendere Kartelle bekämpfen, wodurch auch die Anzahl der aufgedeckten Fälle angestiegen ist. Aber auch Kooperationsformen mit Unternehmen in Kartellverfahren – wie beispielsweise durch Leniency-Programme oder Settlement-Verfahren – haben wesentlich 17 Vgl. dazu die einzelnen Statistiken der Kommission, abrufbar unter: http://ec. europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.10. 2017).

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§ 3 Kartellsanktionen zwischen Prävention und Rechtsstaatlichkeit

dazu beigetragen, dass die Aufdeckungs- und Sanktionsmöglichkeiten insbesondere bei geheimen und globalen Kartellen zugenommen haben. Ohne die Mitwirkung von Unternehmen, die Kartelle freiwillig gegen das Versprechen der „Straffreiheit“ offenlegen, ist die Bekämpfung von globalen Wettbewerbsbeschränkungen nur bedingt möglich. Zudem setzt die Kommission bei ihrer Sanktionspolitik mit den verschärften Bußgeld-Leitlinien 2006 vor allem auf präventionsrechtliche Gesichtspunkte, die beispielsweise durch die neu eingeführte Eintrittsgebühr (entry fee) zum Ausdruck kommen. Hierdurch wird ein neuer Mechanismus eingeführt, der Unternehmen davon abhalten soll, sich an schwerwiegenden wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen zu beteiligen. Die Kommission kann hiernach dem Betrag der Geldbuße eine Summe von 15 bis 25 Prozent des einschlägigen Jahresumsatzes hinzufügen, und zwar unabhängig von der Dauer der Zuwiderhandlung.18 Eine weitere Verschärfung wurde bei den erschwerenden Umständen hinsichtlich der Wiederholungstäterschaft vorgenommen. Bei Wiederholungstätern kann der festgesetzte Betrag somit um bis zu 100 Prozent erhöht werden.19 Spiegelbildlich dazu hat sich auch die Sanktionspraxis des BKartA drastisch verschärft.20 Während im Jahr 2005 noch Gesamtgeldbußen von gerade einmal 169,9 Millionen Euro verhängt wurden,21 betrugen die Gesamtgeldbußen im Jahr 2014 rund 1,12 Milliarden Euro, so viel wie niemals zuvor.22 In diesem Jahr wurden gleich vier langjährige Kartelle aufgedeckt. Das Wurst-Kartell wurde mit 338,5 Millionen Euro sanktioniert. Etwa die gleiche Summe wurde gegen das Bier-Kartell verhängt. Das Zucker-Kartell wurde mit 280 Millionen Euro bebußt. Das in diesem Jahr niedrigste Kartellbußgeld wurde gegen das Bergbau-Kartell mit 17,4 Millionen Euro bemessen. Zwar sind diese Summen im Gegensatz zu den Kartellsanktionen der Kommission eher als geringfügig anzusehen. Jedoch zeigen sie, dass auch auf nationaler Ebene die Bußgeldpraxis des BKartA sich verschärft hat, vor allem seit dem Jahre 2006, was auf die verschärften BußgeldLeitlinien des BKartA zurückzuführen ist, die den Bußgeld-Leitlinien der Kommission weitgehend nachgebildet sind.

18

Bußgeld-Leitlinien, Rn. 25. Bußgeld-Leitlinien, Rn. 28. 20 Vgl. dazu die Statistik des BKartA, abrufbar unter: https://de.statista.com/statis tik/daten/studie/150408/umfrage/entwicklung-der-gesamtsumme-der-vom-bundeskartell amt-vereinnahmten-bussgelder/(zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 21 Tätigkeitsbericht des Bundeskartellamts 2005/2006, BT-Drucks. 16/5710, S. 32. 22 Vgl. BKartA, Pressemitteilung v. 30.05.2015, abrufbar unter: http://www.bundes kartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2015/30_06_2015_T%C3% A4tigkeitsbericht.html (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 19

B. Rechtsstaatliche Schranken

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B. Rechtsstaatliche Schranken des kartellrechtlichen Präventionsgedankens Mittlerweile ist es jedoch insbesondere unter deutschen Straf- und Verfassungsrechtlern üblich, Kartellsanktionen aufgrund dieser exorbitanten Höhe dem strafrechtlichen oder wenigstens dem strafrechtsähnlichen Milieu zuordnen zu wollen. Die gegenwärtigen Kartellsanktionen seien daher nicht mehr als Geldbußen einzustufen, sondern vielmehr als Strafe, weshalb in diesem Falle strafsowie strafprozessuale Fundamentalprinzipien beachtet werden müssten. Diese dürften nicht durch den kartellrechtlichen Präventionsgedanken ausgehebelt werden.

I. Die Verhältnismäßigkeit von Kartellsanktionen Unbestritten handelt es sich bei Kartellsanktionen zunächst um staatliche Maßnahmen mit Eingriffscharakter, die sich an den allgemeinen rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Gewährleistungen messen lassen müssen. Insofern müssen Kartellgeldbußen stets hinreichend bestimmt, verhältnismäßig und nicht willkürlich sein. Das Kartellsanktionsrecht scheint somit einem Spannungsverhältnis ausgesetzt zu sein, auf der einen Seite eine auf Prävention ausgerichtete und besonders effektive und effiziente Kartellsanktion zu verhängen, auf der anderen Seite aber rechtsstaatliche sowie grundrechtliche Standards in ausreichendem Maße einzuhalten. Dieses Spannungsverhältnis wird beispielsweise dann virulent, wenn die Aufdeckungswahrscheinlichkeit eines geheimen Kartells als gering einzustufen ist.23 Ist die Aufdeckung eines Kartelles, insbesondere bei Kartellen, die keine hardcore-Kartelle sind, nicht mit hoher Sicherheit zu erwarten, verlangt der kartellrechtliche Präventionsgedanke die Verhängung einer Geldbuße, die mindestens so hoch ist wie der erwartete Kartellgewinn multipliziert mit dem Kehrwert der Aufdeckungswahrscheinlichkeit des Kartells.24 Um es mit Zahlen auszudrücken: Liegt die Aufdeckungswahrscheinlichkeit eines Kartelles bei gerade einmal 10 Prozent (= 1/10), muss die angedrohte Sanktion mindestens das Zehnfache (= Kehrwert der Aufdeckungswahrscheinlichkeit) des aus dem Kartell zu erwartenden Gewinns betragen, um das kartellwidrige Verhalten der Unternehmen aus ökonomischer Sicht unattraktiv zu machen. Diese ökonomische Formel hat folgenden Umkehrschluss: Je unwahrscheinlicher die Aufdeckung eines Kartells ist, desto höher fällt dann die Kartellgeldbuße aus. Der Abschreckungsund Präventionsgedanke stößt hier indessen an rechtsstaatliche Grenzen, da im Falle einer Aufdeckung die Kartellsanktion willkürlich und unverhältnismäßig erscheint, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Diese Interpretation des kar-

23 24

Ackermann, ZWeR 2010, S. 329, 335. Wils, Efficiency and Justice in European Antitrust enforcement, 2008, Rn. 184.

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tellrechtlichen Präventionsgedankens überschritte in der Tat verfassungsrechtliche Grenzen und wäre somit unverhältnismäßig. Das Problem spitzt sich weiter zu, wenn Kartellgeldbußen unvorhersehbare und atypische Folgen insbesondere im Hinblick auf die Marktstruktur nach sich ziehen würden. Der Abschreckungseffekt kann leicht ad absurdum geführt werden, etwa dann, wenn ein Unternehmen aufgrund einer exorbitant hohen Kartellgeldbuße zahlungsunfähig und somit wettbewerbsunfähig wird. In einem solchen Fall würden wichtige Konkurrenten aus dem Markt ausscheiden, was zur Folge hätte, dass vor allem oligopolistisch strukturierten Märkte monopolisiert würden. Kartellsanktionen können somit nicht beteiligte Personen wie Aktionäre oder Arbeitnehmer25 mittelbar treffen und sich auf den freien Wettbewerb negativ auswirken.26 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Kartellgeldbuße in das Marktgeschehen unbeabsichtigt eingreifen würde, indem ein wichtiger Anbieter aus dem relevanten Markt ausscheidet und dadurch die Preise in die Höhe getrieben werden, gefolgt von Qualitätsverlusten von Produkten und Dienstleistungen. Neben dem betroffenen Unternehmen tragen auch die Verbraucher, die eigentlich geschützt werden sollten, einen Schaden. Hier scheint schon die Geeignetheit der Maßnahme äußerst fraglich. Dieses Worst-Case-Szenario widerspricht ebenfalls dem kartellrechtlichen Präventionsgedanken, der gerade das Marktgeschehen stabilisieren bzw. aufrechterhalten will. Insofern bedarf es einer einzelfallbezogenen und vor allem grundrechtssensiblen Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Hier dürfen rechtsstaatliche und grundrechtliche Grundsätze nicht zugunsten einer ungezügelten ökonomischen Betrachtungsweise zurückgedrängt werden.

II. Geltung von strafrechtlichen Fundamentalprinzipien im Kartellverfahren? Eine andere Frage ist hingegen, ob darüber hinaus die strengen strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Fundamentalprinzipien ausnahmslos im Kartellverfahrensrecht Geltung beanspruchen, wie einige deutsche Wissenschaftler dieses sowohl für das europäische27 als auch für das deutsche28 Kartellsanktionsrecht fordern. Dies wird insbesondere mit dem neuen Sanktionscharakter der Kartellgeldbuße als strafrechtliche bzw. strafrechtsähnliche Sanktion begründet. Fundamentale straf- und strafverfahrensrechtliche Prinzipien sollten daher unab25 Zur Auswirkung von Kartellbußen auf Investitionen und Arbeitsplätze vgl. Oxford Economics, An analysis of the follow-on effects of cartel fines on investment and employment, 2010. 26 Arbault, Competition Policy Newsletter 2003/2, S. 1, 2. 27 Vgl. nur Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008. 28 Dazu Reher, in: Kölner Kommentar zum Kartellrecht, Bd. 2, Vor § 81, Rn. 12, mit Verweis auf Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten, § 5, Rn. 6.

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hängig von der Bezeichnung als „Strafe“, „Geldbuße“ oder „Verwaltungssanktion“ gelten.29 1. Grundrechtliche Einhegung strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Fundamentalprinzipien a) Das grundrechtliche Mehrebenensystem im ECN Um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst der grundrechtliche Rahmen strafrechtlicher sowie strafprozessrechtlicher Fundamentalgarantien (im Folgenden zusammengefasst als strafrechtliche Grundsätze) innerhalb des ECN bestimmt werden. Dies ist insofern schwierig zu beurteilen, als das Kartellsanktionsrecht aus mehreren nationalen sowie europäischen und völkerrechtlichen Rechtsmaterien besteht, die ineinandergreifen, sich gegenseitig beeinflussen oder auch gar ausschließen.30 Diese, in nahezu allen Rechtsordnungen innerhalb des ECN vorzufindende Hybridisierung des Kartellsanktionsrechts wirkt sich maßgeblich auf den richtigen Maßstab des grundrechtlichen Schutzes solcher Sanktionsmaßnahmen aus. Im Rahmen des ECN besteht bei der Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV ein grundrechtliches Mehrebenensystem, bestehend aus nationalen Grundrechten – in Deutschland nach dem GG –, aus den europäischen Grundrechten nach der Grundrechte-Charta (GRC) sowie aus den Grundrechten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Verhältnis dieser Grundrechtsquellen ist nach wie vor umstritten. Daran konnte auch das Gutachten des EuGH zum gescheiterten Beitritt der Europäischen Union zur EMRK nichts ändern. Während die Mitgliedstaaten als Konventionsmitglieder bei der Verhängung von Kartellsanktionen neben den nationalen Grundrechten auch an die Grundrechte der EMRK gebunden sind, ist die Europäische Union bislang kein Mitglied der EMRK; diese hat somit keine direkte Geltung auf Unionsebene. Gleichwohl kommt der EMRK aufgrund Art. 6 III EUV praktische Bedeutung auch für das Kartellsanktionsverfahren zu, wonach die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts anzusehen sind.31 Darüber hinaus findet die EMRK auch durch den Mechanismus des Art. 52 III 1 GRC im Kartellsanktionsverfahren Anwendung, wonach die Grundrechte der GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie in der EMRK verliehen werden.32 Zwar 29

Schwarze, EuZW 2003, S. 261 ff. Dazu bereits oben, § 2 B. 31 Die Bestimmung basiert auf der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die EMRK als Rechtserkenntnisquelle für die Heranziehung und Lückenfüllung von Grundrechtspositionen dient, EuGH v. 17.12.1988, Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 21 – Baustahlgewerbe GmbH/Kommission. 32 Zum Verhältnis zwischen der GRC und der EMRK, vgl. unten § 5 B. II. 2. c). 30

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hat der EuGH betont, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) beachtet werden sollte, er sah sich jedoch keineswegs durchweg an jede Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR gebunden,33 woraus schlussendlich gefolgert wurde, dass der EuGH eine umfassende Bindung an die Rechtsprechung des EGMR nicht anerkannt hat.34 Der EuGH wird in der Regel dort eine Ausnahme machen, wo Vorrang, Einheit und Wirksamkeit des Unionsrechts – insbesondere im Hinblick auf den gemeinsamen Binnenmarkt – gefährdet sind. Dies hat der EuGH nunmehr auch in seinem Gutachten zum Beitritt der Union zur EMRK zum Ausdruck gebracht.35 Mithin lässt der EGMR für das Unionsrecht spätestens seit der Bosphorus-Entscheidung einen nur „vergleichbaren“, jedoch nicht unbedingt identischen Grundrechtsstandard genügen,36 während die einzelnen Mitgliedstaaten bei ihrem nationalen Recht uneingeschränkt der EMRK unterliegen, wobei die EMRK innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten eine unterschiedliche Stellung genießt.37 Für das deutsche Recht hat das BVerfG beispielsweise entschieden, dass bei der Auslegung der deutschen Grundrechte die EMRK als Auslegungshilfe heranzuziehen sei,38 während die EMRK in Österreich verfassungsrechtlichen Rang genießt.39 b) Strafrechtliche Grundsätze nach dem GG, der GRC und der EMRK Aus diesem mehrschichtigen Grundrechtsschutzmechanismus ergeben sich die strafrechtlichen Grundsätze aus dem nationalen Recht zunächst aus der Verfassung selbst, in Deutschland insbesondere aus Art. 103 II GG, der im Hinblick auf die Höhe der verhängten Sanktionen auch im Ordnungswidrigkeitenrecht und somit im deutschen Kartellsanktionsverfahren berücksichtigt werden könnte.40 Auf europäischer Ebene finden die strafrechtlichen Grundsätze insbesondere in Art. 48 GRC ihre normative Konkretisierung. Schließlich findet sich eine dem Art. 48 GRC entsprechende Regelung in Art. 6 EMRK, die umfassende Verfahrensgarantien im Hinblick auf ein Strafverfahren beinhaltet. 33 EuGH v. 15.10.2002, Rs. C-238/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 274 – „Limburgse Vinyl Maatschappij“; EuGH 22.10.2002, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 29 – „Roquette Frères“. 34 Vgl. dazu Weiß, ÖZK 2010, S. 12, 13. 35 Gutachten 2/13 des Gerichtshofs v. 18.12.2014, abrufbar unter: http://curia.euro pa.eu/juris/document/document.jsf?docid=160882&doclang=DE (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 36 EGMR, Urteil v. 30.06.2005, Beschwerde 45036/98, Tz. 150 ff.; dazu Bröhmer, EuZW 2006, S. 71; Heer-Reißmann, NJW 2006, S. 192; Lavranos, EuR 2006, S. 79. 37 Weiß, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, § 20, Rn. 75. 38 BVerfG, Urt. v. 4.5.2011, 2 BvR 2365/09 u. a., BVerfGE 128, 326, LS 2 – Sicherungsverwahrung. 39 Vgl. dazu bereits oben, § 2 B. I. 40 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Vor § 81, Rn. 63.

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Diese Verzahnung von strafrechtlichen Grundsätzen innerhalb des grundrechtlichen Mehrebenensystems im ECN führt vor allem im Kartellsanktionsverfahrensrecht zu einem schwierigen Verhältnis zwischen den unterschiedlichen strafrechtlichen Garantien und der dazugehörigen Rechtsprechung durch die obersten Gerichte BVerfG, EuGH und EGMR. Die Beurteilung dieses Verhältnisses aus dogmatischer Sicht und seine damit zusammenhängende Bedeutung für das Kartellsanktionsverfahren insgesamt werden zwar noch an anderer Stelle ausführlicher zu untersuchen sein.41 Hier soll jedoch vorab betont werden, dass die Geltung bestimmter strafrechtlicher Grundsätze aus den jeweiligen Grundrechtsquellen vom Grad der europarechtlichen Determination eines bestimmten Rechtsgebiets abhängig ist. Im Falle eines europarechtlich determinierten Rechtsgebiets werden nämlich nationale Grundrechte weitgehend durch die GRC verdrängt. Diese Frage kann aufgrund der hochgradigen Hybridisierung des Kartellsanktionsrechts nicht ohne weiteres beantwortet werden. Sie gewinnt vor allem im Hinblick auf den RL-Vorschlag der Kommission besondere Bedeutung, der die nationalen Kartellsanktionsverfahren innerhalb des ECN angleichen will.42 Sollte der RL-Vorschlag somit tatsächlich vom europäischen Gesetzgeber abgesegnet werden, werden nationale Kartellsanktionsverfahren ausschließlich anhand der GRC zu messen sein, jedenfalls insoweit, wie der RL-Vorschlag der Kommission auch Vorgaben hinsichtlich etwaiger Konvergenzbereiche vorschreibt.43 Eine künftige Richtlinie wird jedenfalls das Verhältnisproblem der unterschiedlichen Grundrechtsquellen bei Kartellsanktionsverfahren innerhalb des ECN teilweise entschärfen. Gleichwohl soll an dieser Stelle abstrakt herausgearbeitet werden, ob und vor allem inwieweit strafrechtliche Grundsätze neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den kartellrechtlichen Präventionsgedanken einschränken können, die sich aus allen soeben genannten Grundrechtsquellen gleichermaßen ergeben. Dies hängt maßgeblich davon ab, ob Kartellsanktionen wegen des bereits erreichen Sanktionsniveaus als echte Kriminalstrafen anzusehen sind und daher in den Anwendungsbereich der Art. 103 II GG, Art. 48 GRC und Art. 6 EMRK fallen. 2. Das Verhältnis von Kartellsanktionsrecht und Strafrecht Die umfassende Geltung von strafrechtlichen Grundsätzen im Kartellsanktionsrecht wird neuerdings mit dem strafrechtlichen bzw. strafrechtsähnlichen Charakter der gegenwärtigen Kartellsanktionspraxis begründet. Bei der Höhe der 41 Diese Frage wird vor allem bei der autonomen Konvergenz der Kartellsanktionsregime durch die Mitgliedstaaten relevant, vgl. dazu unten, § 5 B. II. 42 Vgl. dazu ausführlich unten, § 5 A. II. 2. 43 Die Reichweite der Vorgaben durch eine künftige Richtlinie wirkt sich maßgeblich auf jene Elemente des Kartellsanktionsverfahrens aus, die nicht von einer europarechtlichen Konvergenzmaßnahme betroffen sind, dies betrifft beispielsweise das gerichtliche Sanktionsverfahren, vgl. dazu ausführlich unten, § 7 D.

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gegenwärtigen Kartellsanktionen könne es sich nicht mehr um bloße Geldbußen oder gar Verwaltungssanktionen handeln. Vor allem die Sanktionspraxis der Unionsorgane dürfte daher in Ermangelung einer strafrechtlichen Kompetenz nicht dazu führen, dass Kartellsanktionen einen strafenden Charakter hätten. Zu untersuchen ist daher, ob die Sanktionshöhe tatsächlich Rückschlüsse auf den strafrechtlichen Charakter einer Maßnahme ziehen lässt. a) Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers Die Einstufung einer Sanktion als „Strafe“ im herkömmlichen Sinne obliegt grundsätzlich in erster Linie dem Gesetzgeber. Hierbei hat er eine weite Einschätzungsprärogative, ob er eine Sanktionsmaßnahme als Straftat, Geldbuße oder gar als Verwaltungsstrafe einstuft.44 Durch die Einbettung des Kartellverfahrensrechts in das allgemeine System des Ordnungswidrigkeitenrechts hat sich beispielsweise der deutsche Gesetzgeber offensichtlich für die Einstufung der Kartellsanktion als Geldbuße entschieden. Dafür sprachen seinerzeit zwei historisch bedingte Gründe: Neben dem Wunsch nach der Ermöglichung von Verbandssanktionen45 dürfte vor allem auch die Einschätzung der Akzeptanz des Wettbewerbsgedankens durch den Gesetzgeber eine große Rolle gespielt haben. Hiernach sei „weder in der deutschen Öffentlichkeit noch in den beteiligten Wirtschaftskreisen ein lebendiges Gefühl dafür verbreitet, daß wettbewerbsbeschränkende Verträge und Geschäftspraktiken unerlaubt und ethisch verwerflich seien“.46 Diese gesetzgeberische Betrachtungsweise der 1950er Jahre entsprach der damaligen Deutung des Verhältnisses zwischen Kriminalstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht, wobei Letzteres insbesondere für die Wirtschaftsverwaltung typisch war und keineswegs auf Bagatellverstöße zu reduzieren ist.47 Insofern ist die getroffene Entscheidung als Kompromiss zu verstehen, kartellrechtliche Sanktionen zwar nicht als echte Kriminalstraften einzustufen, sie aber gleichzeitig auch nicht vollständig der strafrechtsähnlichen Materie zu entziehen.48 Das deutsche Kartellsanktionsrecht ist daher aufgrund der engen Verzahnung von GWB, OWiG und StPO nur teilweise straf- sowie strafprozessrechtlich determiniert.

44 Zum deutschen Recht vgl. Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, Einleitung, Rn. 82. 45 So etwa R. Schmidt, Strafrechtliche Maßnahmen gegen Verbände, S. 14 u. 124; ähnlich K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, 1977, S. 297 f. und ders., wistra 1990, S. 131 ff. 46 BT-Drucks. 2/1158 Teil B II, S. 28. 47 Vgl. Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Vor § 81, Rn. 3. 48 Vgl. Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Vor § 81, Rn. 3 mit Verweis auf Stockmann, in: FS Bechtold, S. 559 f., Jaath, in: FS Schäfer, S. 104 und Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht BT, 2011, Rn. 19 ff.

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Anders verhält es sich jedoch bei den Kartellsanktionen auf EU-Ebene, die aufgrund fehlender Strafrechtskompetenz keine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Einordnung von Kartellsanktionen als Straftat oder Ordnungswidrigkeit hat. Vielmehr bestimmt Art. 23 V VO 1/2003 plakativ, dass Geldbußen „keinen strafrechtlichen Charakter“ haben. Diese Formulierung, die bereits in der Vorgängervorschrift des ex. Art. 15 IV VO 17/62 enthalten war, beruht zum einen auf der allgemein anerkannten Einschätzung, dass die Mitgliedstaaten keine strafrechtlichen Kompetenzen auf die Union übertragen haben.49 Zum anderen wollte man damit klarstellen, dass Kartellgeldbußen weder entehrender noch stigmatisierender krimineller Natur sind.50 Somit haben Kartellsanktionen auf europäischer Ebene grundsätzlich verwaltungsrechtlichen Charakter. b) Kartellsanktionsverfahren als „strafrechtliche Anklage“? Somit lassen sich weder aus dem deutschen noch aus dem europäischen Kartellsanktionsrecht per se unmittelbar Rückschlüsse auf die Geltung und Tragweite von strafrechtlichen Grundsätzen herleiten. Angesichts des bereits erreichten Bußgeldniveaus der Unionsorgane scheint diese Erkenntnis für zahlreiche Kartellrechtsexperten jedoch unbefriedigend zu sein – in diesem Zusammenhang ist sogar von einer „Lebenslüge des Kartellrechts“ 51 die Rede. In Wirklichkeit handele es sich bei dem Kartellsanktionsverfahren mittlerweile um eine strafrechtliche Anklage i. S. d. Art. 103 II GG, Art. 48 GRC sowie Art. 6 EMRK mit der Folge, dass sämtliche strafrechtliche Grundsätze auch im Kartellverfahrensrecht in voller Stringenz anwendbar seien. Dabei ist der Begründungsansatz recht unterschiedlich: Während einige in der Literatur die Kartellsanktion wegen des exorbitanten Bußgeldniveaus der Kommission dem Kriminalstrafrecht zuordnen wollen,52 handelt es sich für andere bei den gegenwärtigen Kartellsanktionen um Strafrecht im weiten Sinne.53 Teilweise wird auch vertreten, dass Kartellsanktio49 Legros, in: Mélanges offerts à Henri Rolin, S. 195; vgl. auch die Protokollerklärung der deutschen Delegation, Ratsdokument 15435/02 ADD 1 v. 10.12.2002, anlässlich der Annahme der VO 1/2003, wonach ex. Art. 83 keine ausreichende Rechtsgrundlage für die Einführung oder Änderung strafrechtlicher oder strafverfahrensrechtlicher Regelungen sei. 50 Siehe dazu Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts Die Verordnung (EG) Nr. 1/2003, 2004, § 7, Rn. 5 ff. 51 Möschel, WuW 2010, S. 870; Feld/Möschel/Wieland/Wigger, Der Kronberger Kreis. Reform der Geldbußen im Kartellrecht längst überfällig, 2012, S. 15. 52 Schroth, Economic offences in EEC law, S. 159 u. 167; ders., wistra 1984, S. 164, 165, Fn. 9. 53 Bechtold, in: Schwarze (Hrsg.), Rechtschutz und Wettbewerb, S. 97, 98; Eisele, JA 2000, S. 896, 897; Emmerich, Kartellrecht, § 13, Rn. 17; Kruck, Der Grundsatz ne bis in idem im EU-Kartellverfahrensrecht, S. 48 f.; Scheuing, in: Schwarze (Hrsg.), Bestand und Perspektiven des EU-Verwaltungsrechts, S. 45, 73; Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Kartellrecht, Bd. 2, Art. 23, Rn. 6; Tiedemann, in: FS Jescheck. S. 1411, 1416; Dannecker, ZStW 111 (1999), S. 256, 257; ders., in: Schünemann/Suáres Golzáles (Hrsg.),

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nen naturgemäß weder dem Strafrecht noch dem Verwaltungsrecht zugeordnet werden können, weshalb sie als Sanktion sui generis anzusehen seien.54 Anliegen dieser Arbeit ist es jedoch nicht, Kartellsanktionen ein begriffliches Gewand zu verleihen, zumal „Begriffsspielereien“ nicht darüber entscheiden können, ob strafrechtliche Grundsätze gelten oder nicht. Die Arbeit soll vielmehr aufzeigen, dass auch im Falle einer Klassifizierung von Kartellsanktionen als Strafen i. S. v. Art. 103 II GG, Art. 48 GRC und Art. 6 EMRK durchaus auch differenzierte verfahrensrechtliche Maßstäbe angelegt werden können, die es rechtfertigen, strafrechtliche Grundsätze vor allem im Kartellsanktionsverfahren nicht in voller Stringenz anzuwenden. Fraglich ist zunächst, ob das Verfahren zur Verhängung einer Kartellgeldbuße als „strafrechtliche Anklage“ zu sehen ist. Was unter einer „strafrechtlichen Anklage“ zu verstehen ist, ist dem Wortlaut der Art. 103 II GG, Art. 48 GRC und Art.6 EMRK nicht zu entnehmen. Im Hinblick auf Art. 48 GRC ist der Begriff der strafrechtlichen Anklage jedenfalls weit zu verstehen und geht erheblich über echte Kriminalstrafen hinaus. Erfasst werden aber vor allem repressive sowie teilweise auch präventive Sanktionen wegen der Vorwerfbarkeit eines bzw. Verantwortlichkeit für einen Rechtsverstoß, wie bei Kartellsanktionen. Rein präventive Maßnahmen, beispielsweise eine Abschiebung wegen angeblich begangener Straftaten oder das Einfrieren von Geldern, bilden jedenfalls keine Strafe i. S. d. Art. 48 GRC.55 Im Hinblick auf Kartellsanktionen nimmt der EuGH vereinzelt eine Anwendung von Art. 48 GRC an, jedenfalls bei solchen Justizgrundrechten, die auf juristische Personen auch anwendbar sind. Dies gelte nur mit Einschränkung für die Unschuldsvermutung56 und für die Selbstbelastungsfreiheit.57 Es ist also davon auszugehen, dass der EuGH das Kartellsanktionsverfahren grundsätzlich als eine strafrechtliche Anklage i. S. d. Art. 48 GRC ansieht. Ein besseres Verständnis des Art. 48 GRC ergibt sich jedoch erst aus der Heranziehung des Art. 6 EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung durch den EGMR, auf

Bausteine eines Wirtschaftsstrafrechts, S. 331, 333; Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008; daran anknüpfend Schwarze, WuW 2009, S. 6 und ders., in EuR 2009, S. 171; Winkler, Die Rechtnatur der Geldbuße im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 84; Zuleeg, JZ 1992, S. 761, 763. 54 So Bahnmüller, Strafrechtliche Unternehmensverantwortlichkeit im europäischen Gemeinschafts- und Unionsrechts, S. 122 ff.; Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/ Säcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Bd 1, Art. 23, Rn. 15; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen der EG, S. 21; Oehler, Internationales Strafrecht, Rn. 939; Papakiriakou, Das Europäische Unternehmensstrafrecht in Kartellsachen, S. 14 ff.; Prieto, ZStW 120 (2008), S. 403, 414. 55 Ausführlich dazu Jarass, Kommentar zur GRC, Art. 48, Rn. 5 und 6 m.w. N. auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs. 56 EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 108 f. – Schindler. 57 EuGH v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Rn. 31 ff. – Orkem.

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die der EuGH bei der Auslegung der Grundrechte nach der GRC vor allem im Kartellsanktionsverfahren zurückgegriffen hat. Der Begriff der strafrechtlichen Anklage in Art. 6 EMRK wird vom EGMR zunächst autonom konventionsrechtlich ausgelegt.58 Damit soll insbesondere verhindert werden, dass durch eine Entkriminalisierung bestimmter Rechtsgebiete staatliche Maßnahmen nicht mehr dem Anwendungsbereich des Art. 6 I EMRK unterliegen.59 Die in Art. 6 I EMRK verbürgten Garantien dürfen somit nicht zur Disposition des nationalen Gesetzgebers stehen.60 Daher hat sich der EGMR in seiner vielbeachteten Entscheidung Engel ausführlich mit dem Tatbestandsmerkmal der „strafrechtlichen Anklage“ i. S. d. Art. 6 EMRK beschäftigt.61 In der Engel-Entscheidung entwickelte der EGMR erstmals drei Kriterien, anhand derer er die Qualität einer staatlichen Maßnahme i. S. d. Art. 6 I EMRK als „strafrechtliche Anklage“ qualifiziert (sog. Engel-Kriterien). Entscheidend ist hiernach erstens die Zuordnung einer Vorschrift im nationalen Recht, zweitens die Natur und drittens die Art und Schwere des Vergehens. Ausgangspunkt ist somit die Einordnung einer Sanktion im nationalen Recht. Zwar handelt es sich bei der VO 1/2003 um europäisches Sekundärrecht und nicht um nationales Recht. Jedoch ist es den Mitgliedstaaten der Konvention verwehrt, durch die Schaffung einer supranationalen Rechtsordnung die Rechtsverbürgungen der EMRK zu umgehen, so dass die Engel-Kriterien auch auf die VO 1/2003 anwendbar sind.62 Bei der zweiten Voraussetzung, der Natur des Vergehens, kommt es auf die Art der Zuwiderhandlung an, die im Inhalt der heranzuziehenden Norm zum Ausdruck gebracht wird.63 Verfolgt die Sanktion sowohl repressive als auch präventive Zwecke, liegt nach der Rechtsprechung des EGMR in der Sache Öztürk eine „strafrechtliche Anklage“ i. S. d. Art. 6 I EMRK vor.64 Mit dieser Entscheidung hat der EGMR klargestellt, dass auch das deutsche Gesetz über Ordnungswidrigkeiten den Garantien des Art. 6 EMRK unterfällt. Auch wenn Kartellsanktionen hauptsächlich Präventionszwecke verfolgen, ist ihnen eine repressive Funktion inhärent. Das dritte und letzte Kriterium, die Art und Schwere des Vergehens, hängt eng mit dem zweiten Kriterium, der Natur des Vergehens, zusammen, weshalb diese beiden Kriterien durch den EGMR kumulativ zur Bestimmung einer

58 EGMR v. 28.6.1978, König/Deutschland, Nr. 6232/73, Serie A 27, Rn. 88; EGMR v. 26.3.1982, Adolf/Österreich, Nr. 8269/78, Serie A 49, Rn. 30 ff.; EGMR v. 27.2. 1980, Dewer/Belgien, Nr. 6903/75, Serie A 35, Rn. 42. 59 EGMR v. 25.1.1984, Öztürk/Deutschland, Nr. 8544/79, Serie A 73, Rn. 49. 60 Grabenwarter/Pabel, in: Grote, Konkordanzkommentar EMRK/GG, Kapitel 14, Rn. 19; Grabenwarter, EMRK, § 24, Rn. 36. 61 EGMR v. 8.6.1976, Engel/Niederlande, Nr. 5100/71, Serie A 22. 62 EGMR v. 30.6.2005, Bosphorus/Irland, Nr. 45036/98, Rn. 153. 63 Grabenwarter, EMRK, § 24, Rn. 36; Lorenzmeier, ZIS 2008, S. 20, 24. 64 Grundlegend dazu EGMR v. 21.2.1984, Öztürk/Deutschland, Nr. 8544/79, Serie A 73, Rn. 53.

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„strafrechtlichen Anklage“ herangezogen werden.65 Auf diese Rechtsprechung des EGMR hat auch der EuGH in seiner späteren Rechtsprechung bei der Auslegung der europäischen Grundrechte zurückgegriffen. So erkennt der EuGH in seiner grundlegenden Entscheidung Hüls an, dass die Grundsätze der EMRK angesichts der Art des Vergehens sowie der Art und Schwere der ihretwegen verhängten Sanktion auch im Kartellsanktionsverfahren anwendbar sind.66 Bei einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung sind dies bei Verstößen gegen die Art. 101, 102 AEUV bis zu 10 Prozent des weltweit erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens, was gegenwärtig zu enorm hohen Kartellsanktionen führt. Nach diesen Kriterien ist das Kartellsanktionsverfahren mittlerweile unumstritten als „strafrechtliche Anklage“ i. S. d. Art. 6 I EMRK zu werten. c) Kategoriale oder graduelle Anwendung der strafrechtlichen Grundsätze? Aus der Qualifizierung des Kartellsanktionsverfahrens als strafrechtliche Anklage kann jedoch noch keine vollumfängliche Anwendung der strafrechtlichen Grundsätze geschlussfolgert werden. Diese Frage ist jedoch vor allem im deutschen Schrifttum umstritten, aus dem sich im Wesentlichen zwei Meinungen herauskristallisiert haben. Zum einen kann man annehmen, dass aufgrund des bereits erreichen Kartellsanktionsniveaus der europäischen und nationalen Wettbewerbsbehörden eine Sanktion mit strafrechtlichem Charakter vorliegt, die an den strengeren strafrechtlichen Grundsätzen zu messen sei. Demnach unterscheidet man kategorisch zwischen Rechtsgebieten, die entweder strafrechtlichen oder eben keinen strafrechtlichen Charakter haben (kategoriale Anwendung).67 Zum anderen kann man aber trotz des bereits erreichten Kartellsanktionsniveaus und des daraus abgeleiteten strafrechtlichen Charakters einer Sanktion eine abgestufte Anwendung der strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze annehmen, die von Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet durchaus variieren können (graduelle Anwendung).68 Die kategoriale Anwendung der strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze offenbart jedoch dort Schwächen, wo eine klare Zuordnung zum Strafrecht nicht mög65 EGMR (Große Kammer) v. 9.10.2003, Ezeh and Connors/Vereinigtes Königreich, Serie A 177, Rn. 82 ff.; vgl. auch Grabenwarter, EMRK, § 24, Rn. 17; Lorenzmeier, ZIS 2008, S. 20, 23. 66 EuGH v. 8.7.1999, C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn. 150 – Hüls, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR in den Sachen Öztürk und Lutz. 67 So insb. Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008; daran anknüpfend Schwarze, WuW 2009, S. 6 und ders., in EuR 2009, S. 171; Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160. 68 Vgl. nur Ackermann, ZWeR 2010, S. 329; ders., ZWeR 2012, S. 3, der aufgrund des kartellrechtlichen Präventionsgedankens eine abgeschwächte Anwendung strafrechtlicher Verfahrensgrundsätze im Kartellbußgeldverfahren postuliert.

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lich ist.69 Dies ist etwa der Fall, wenn nicht eindeutig ermittelt werden kann, ab welcher exakten Sanktionshöhe von einer strafrechtlichen Qualität der Maßnahme die Rede ist. Dies wäre jedoch allein aufgrund des Bestimmtheitsgebots unabdingbar. Wenn schon eine stringente Anwendung strafrechtlicher Grundsätze gefordert wird, dann muss auch nachvollziehbar und im Einklang mit dem Bestimmtheitsgebot dargelegt werden können, ab welcher Sanktionshöhe die strafrechtliche Qualität einer Maßnahme erreicht ist. Ein bloßer Hinweis auf die exorbitante Höhe einer Sanktion reicht jedenfalls nicht aus, zumal der Anstieg des Sanktionsniveaus maßgeblich von der Globalisierung des Wettbewerbs und den damit verbundenen Wettbewerbsbeschränkungsmöglichkeiten abhängig ist. Soweit ersichtlich, ist es der kategorialen Betrachtungsweise bislang nicht gelungen, eine nachvollziehbare Erklärung dafür zu geben. Überzeugender ist daher eine graduelle Anwendung der strafrechtlichen Verfahrensgarantien, die sich insbesondere aus dem offenen Wortlaut des Art. 48 GRC und Art. 6 I EMRK ergibt. Aus der Offenheit der Tatbestände resultiert nämlich nicht nur das Verbot, sich diesen grundrechtlichen Verpflichtungen durch Entkriminalisierungsmaßnahmen zu entziehen. Darüber hinaus ermöglicht die Offenheit der Tatbestände auch eine differenzierte Anwendung strafrechtlicher Grundsätze in Ansehung unterschiedlicher Sanktionsarten, die der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers vorbehalten sind. Neuerdings tendieren die einzelnen Rechtsprechungen des EuGH sowie des EGMR ebenfalls zu einer solchen graduellen Anwendung strafrechtlicher Grundsätze, abhängig vom jeweils einschlägigen Rechtsgebiet, in dessen Rahmen das fragliche Verhalten sanktioniert wird. Dies gilt namentlich und gerade für das Kartellsanktionsrecht. So hat das EuG in seiner Entscheidung AC-Treuhand AG im Jahr 2008 entschieden, dass es sich bei einem Kartellverfahren um ein reines Verwaltungsverfahren handele, weshalb strafrechtliche Grundsätze wie jene der Gesetzlichkeit der Straftatbestände und Strafen (nullum crimen, nulla poena sine lege) nicht unbedingt dieselbe Tragweite haben müssten wie in Situationen, die dem Kernbereich des Strafrechts unterliegen.70 2011 hat das EuG diese Rechtsprechung im Fall Schindler konkretisiert und nunmehr ausdrücklich klargestellt, dass Kartellsanktionen der Kommission nicht zum harten Kern des Strafrechts gehören, weshalb in solchen Verfahren die strafrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 48 GRC nicht in voller Stringenz angewendet werden dürfen.71 Das EuG bezieht sich bei seiner Ausführung insbesondere auf die grundlegende Entscheidung des EGMR aus dem Jahre 2006 in der Sache Jussila, in der Art. 6 EMRK ausgelegt wird. Im Rahmen des Art. 6 EMRK differenziert der EGMR selbst zwischen dem Kern-

69 Vgl. dazu Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, 2011, S. 295. 70 EuG v. 8.7.2009 – T-99/04, Slg. 2008, II-1501 – AC-Treuhand AG, Rn. 113. 71 EuG v. 13.7.2011 – Rs. T-138/07 – Schindler, Rn. 53.

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§ 3 Kartellsanktionen zwischen Prävention und Rechtsstaatlichkeit

strafrecht und dem Nebenstrafrecht, also Fälle, die nicht zu den Kategorien des herkömmlichen Strafrechts gehören.72 Wörtlich sagt der EGMR in diesem Zusammenhang: „The criminal-head guarantees will not apply with their full stringency.“ 73 Zu dem Nebenstrafrecht zählt nach dem EGMR neben dem Zollrecht vor allem das Wettbewerbsrecht, womit er durch seine Entscheidung eindeutig74 die graduelle Anwendung von strafrechtlichen Verfahrensgarantien im Kartellsanktionsverfahren anerkannt hat. Soweit in der Literatur darauf hingewiesen wird, dass die Rechtsprechung des EGMR in der Sache Jussila „kritikwürdig“ sei, da sie im Ergebnis zu einer in der EMRK nicht angelegten Differenzierung der Geltung der prozessualen Rechte abhängig vom jeweiligen Tatvorwurf führt,75 ist anzumerken, dass eine solche Differenzierung gerade bei solchen Taten notwendig ist, die in der Qualität des Tatvorwurfs keineswegs miteinander vergleichbar sind. Es wäre somit verfehlt und gewiss nicht im Sinne der Rechtsprechung des EGMR in der Sache Öztürk76, wenn bei Mord, Diebstahl, Beleidigung, Falschparken oder Kartellverstößen exakt dieselben Verfahrensgrundsätze im Sinne der Art. 6 EMRK Geltung beanspruchen.77 Auch der gelegentliche Vergleich mit Bagatellverstößen wie etwa Falschparken, womit die Sanktionspraxis der Unionsorgane als Verstoß gegen Art. 6 I EMRK deklariert wird, ist irreführend. Anfangs wurde insbesondere in der deutschen Literatur angenommen, dass Straftaten stets die Verletzung eines Rechtsgutes beinhalten, während die wesensverschiedenen Ordnungswidrigkeiten als Bagatelle galten, die eine bloße Verwaltungsstrafe zur Folge hatten.78 Inzwischen hat sich jedoch die Einsicht durchgesetzt, dass sich Ordnungswidrigkeiten keineswegs auf Bagatellverstöße beschränken müssen, so dass auch die Verletzung des freien Wettbewerbs als Rechtsgut von allgemeinem Interesse in den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts fallen kann.79 Zudem hinkt der Vergleich mit Bagatellverstößen wie etwa dem Falschparken deswegen, weil bei der Bemessung der Kartellgeldbußen komplizierte Faktoren kumulativ eine Rolle spielen, die für hohe Kartellsanktionen

72 Die These vom Kern- und Nebenstrafrecht wird gelegentlich als „irreführend“ bezeichnet, vgl. Soltész, WuW 2012, S. 141, 144; teilweise wird auch nicht nachvollziehbar vertreten, dass der EGMR das Wettbewerbsrecht in der Jussila-Entscheidung gerade dem Kernstrafrecht zuordnen wollte, vgl. Bueren, EWS 2012, S. 363, 365 m.w. N. 73 EGMR v. 23.11.2006, Jussila/Finnland, Nr. 73053/1, Rn. 43. 74 A. A. Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160, 163. 75 So Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160, 163; kritisch zum Fall Menarini auch Brei, ZWeR 2015, S. 34 f., der die Ausführungen des EGMR für nicht überzeugend hält. 76 EGMR, Rs. 8544/79, Rn. 46 ff. Öztürk/Deutschland. 77 Zu diesem Ergebnis gelangt aber die Auffassung von Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160, wenn man deren Ansatz weiterdenken würde. 78 Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1, Rn. 4; Mitsch, Recht der Ordnungswidrigkeiten, § 3, Rn. 8. 79 Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1, Rn. 5.

B. Rechtsstaatliche Schranken

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verantwortlich sind. Solche sind neben dem auf General- und Spezialprävention gerichteten Abschreckungsfaktor insbesondere das wirtschaftliche Verhalten der Unternehmen selbst sowie ihre Kooperationsbereitschaft mit den Wettbewerbsbehörden. Je mehr die Unternehmen erwirtschaften, desto größer ihr Umsatz, und je länger ein Kartell andauert, desto größer ist naturgemäß der kartellbedingte Gewinn. Ursache der hohen Kartellsanktionen sind somit die kartellierten Umsätze eines Unternehmens und nicht etwa – wie gelegentlich suggeriert wird – das ausufernde Ermessen der Kartellbehörden.80 Daher ist das Argument, dass bei der Verhängung von Kartellsanktionen strengere strafrechtliche und strafverfahrensrechtliche Anforderungen als bei Bagatellverstößen wie Falschparken zu stellen sind, nicht überzeugend. Bei der Verhängung einer Kriminalstrafe spielen die o. g. ökonomischen Faktoren sowie die Kooperationsbereitschaft der Unternehmen ebenfalls keine Rolle. Das Kartellsanktionsverfahren ist daher ein elastisches Verwaltungsverfahren, das besonderen ökonomischen sowie wirtschaftspolitischen Prinzipien Rechnung zu tragen hat. Dies gilt erst recht in Anbetracht der fehlenden ökonomischen Fachexpertise der nationalen Strafrechtsorgane. Diese Betrachtungsweise fügt sich auch in den kürzlich vom EGMR entschiedenen Fall Menarini, in dem die Rechtsstaatlichkeit des italienischen Kartellbußgeldverfahrens bestätigt wurde.81 Auch wenn das italienische Verfahren strafrechtlicher Natur i. S. d. Engel-Kriterien sei, so handele es sich hierbei dennoch um jene Kategorie strafrechtlicher Materie, auf die die Verfahrensgarantien der EMRK nicht mit voller Strenge Anwendung finden, so der EGMR.82 Gegenstand des Verfahrens vor dem EGMR waren zwar die italienischen Wettbewerbsvorschriften, jedoch ist das Urteil aufgrund der weitreichenden Übereinstimmung des italienischen mit dem europäischen Kartellsanktionsverfahren auch für die Auslegung der europäischen Sanktionspraxis maßgeblich.83 Die von der Rechtsprechung und Teilen der Literatur vertretene These vom Nebenstrafrecht und die daraus abgeleitete graduelle Anwendung strafrechtlicher Grundsätze ist schlussendlich im Vergleich zu anderen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen, die Kartellbehörden ebenfalls zur Abstellung einer kartellwidrigen Zuwiderhandlung ergreifen können, nur folgerichtig. Man denke etwa nur an Maßnahmen struktureller Art nach Art. 7 I S. 2 Alt. 2 O 1/2003 (das deutsche Pendant in § 32 II GWB), die tiefe Einschnitte in die Unternehmensstruktur zur Folge haben können – etwa durch Veräußerung von Betriebsvermögen bei Markt80 Vgl. dazu auch die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der SPDFraktion, BT-Drucks. 17/11285, S. 3. 81 EGMR, Rs. 43509/08, Menarini/Italien, Rn. 38 ff. 82 EGMR, Rs. 43509/08, Menarini/Italien, Rn. 57 ff. 83 Vgl. dazu van der Hout/Amling, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Recht, Vorb. Art. 23, Rn. 22; Bueren, EWS 2012, S. 363, 366.

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§ 3 Kartellsanktionen zwischen Prävention und Rechtsstaatlichkeit

beherrschung oder durch Entflechtungsmaßnahmen in Form von Aufgabe einer Kapitalbeteiligung.84 Im Vergleich zu Kartellsanktionen kommen Maßnahmen struktureller Art durch die Kartellbehörden zwar seltener vor. Gleichwohl haben solche Maßnahmen aufgrund ihrer Eingriffsintensität ebenfalls rechtsstaatliche Grundsätze zu beachten, wie etwa den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Im Unterschied zu Kartellsanktionen sind bei Maßnahmen struktureller Art jedoch keine strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Grundsätze einzuhalten, obwohl diese Maßnahmen intensiver in die Grundrechte der betroffenen Unternehmen eingreifen können. Auf diesen Wertungsunterschied konnten die Verfechter der bedingungslosen Anwendung von strafrechtlichen Grundsätzen im Kartellsanktionsverfahren jedenfalls noch keine Antwort finden. d) Die juristische Person als Differenzierungskriterium Die soeben skizzierten Rechtsprechungen sowohl des EuGH hinsichtlich Art. 48 GRC als auch des EGMR hinsichtlich Art. 6 EMRK ergeben ein kohärentes Gesamtbild dahingehend, dass eine graduelle Anwendung von strafrechtlichen Fundamentalprinzipien im Kartellsanktionsverfahren zunächst möglich ist.85 Gleichwohl ist noch nichts darüber gesagt, anhand welcher Kriterien eine solche graduelle Anwendung der verfahrensrechtlichen Garantien vorgenommen werden kann. Gelegentlich wird auf die Art und Schwere der verhängten Sanktion sowie die Natur des Vergehens abgestellt.86 Diese lassen jedoch nur bedingt Rückschlüsse auf die graduelle Anwendbarkeit der strafrechtlichen Fundamentalprinzipien zu. Ein im Vergleich dazu wenig erörtertes Unterscheidungskriterium ist hingegen der Adressat einer etwaigen Kartellsanktion. Abgesehen von einigen Mitgliedstaaten, in denen wegen einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung Haftstrafen gegenüber natürlichen Personen drohen, werden demgegenüber in den meisten Rechtsordnungen Kartellsanktionen gegen Unternehmen als juristische Personen verhängt. Es drängt sich daher zu Recht die Frage auf, ob die verfahrensrechtlichen Grundsätze der Art. 48 GRC und Art. 6 EMRK auf natürliche und juristische Personen gleichermaßen anzuwenden sind. Dies ist insofern fraglich, als juristische Personen lediglich Zweckschöpfungen der Rechtsordnungen 84 Vgl. dazu van der Hout/Lux, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Art. 7 VO 1/2003, Rn. 13; Bechtold/Bosch, GWB. Kartellgesetz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Kommentar (fortan: GWB-Kommentar), 8. Aufl., 2015, Art. 32 GWB, Rn. 17. 85 A. A. Brei, ZWeR 2015, S. 34; Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160; Soltész, WuW 2012, S. 141; Bueren, EWS 2012, S. 363; Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008; daran anknüpfend Schwarze, WuW 2009, S. 6 und ders., in EuR 2009, S. 171; Möschel, WuW 2010, S. 870; Feld/Möschel/Wieland/Wigger, Der Kronberger Kreis. Reform der Geldbußen im Kartellrecht längst überfällig, 2012. 86 Vgl. dazu etwa Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, 2011, S. 297 f.

B. Rechtsstaatliche Schranken

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sind, die es den dahinterstehenden natürlichen Personen gestatten, selbst in den Genuss von grundrechtlichen Positionen zu kommen. Daher wird vereinzelt dafür plädiert, bei juristischen Personen einen anderen Maßstab an grundrechtlichen Schutz anzulegen als bei natürlichen Personen.87 Dieser Gedanke ist insofern nachvollziehbar, als juristische Personen von Kartellsanktionen nicht gleichermaßen betroffen sind wie natürliche Personen. Dies ist den Besonderheiten des Kartellrechts geschuldet, das vordergründig an Unternehmen gerichtete Sanktionsmöglichkeiten vorsieht. Normadressaten sind primär die Unternehmen in ihrer Gesamtheit und nicht die dahinterstehenden natürlichen Personen. Bei den Unternehmen ist daher schon fraglich, ob sie sich unmittelbar und im gleichen Umfang auf Verfahrensgarantien berufen können wie natürliche Personen. Dies ist zumindest bei solchen Garantien abzulehnen, die in tragendem Zusammenhang mit der Menschenwürde stehen.88 e) Neureflexion: Verwaltungssanktionen als Instrument der Wirtschaftsaufsicht? Ausgehend von dem Befund, dass die Verhängung einer Kartellsanktion sich graduell an den Verfahrensgarantien der Art. 48 GRC, Art. 6 EMRK messen lassen kann mit der Folge, dass die strengen straf- und strafprozessrechtlichen Fundamentalprinzipien nicht in gleicher Stringenz im Kartellsanktionsverfahren wie in einem Strafverfahren anzuwenden sind, sollte über eine Neureflexion des Charakters einer Kartellsanktion vor allem im deutschen Recht nachgedacht werden, etwa durch eine Loslösung von dem tradierten deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht und eine Einbettung des deutschen Kartellsanktionsrechts in eine verwaltungsrechtlich ausgeformte Wirtschaftsaufsicht.89 Damit wären deutsche Kartellsanktionen nicht nur vom Charakter her mit europäischen Kartellsanktionen vergleichbar; das deutsche Kartellsanktionsverfahren bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV könnte demnach auch an das europäische Vorbild nach der VO 1/2003 angepasst werden. Vergleichbare Tendenzen sind bereits in anderen Mitgliedstaaten – wie beispielsweise in den Niederlanden – erkennbar. Die Mitte der 1990er Jahre vorangetriebene Entkriminalisierung zahlreicher Rechtsgebiete im niederländischen Recht betraf insbesondere auch das niederländische Kartellgesetz, die insbesondere durch die Entscheidung des EGMR in der Sache Öztürk beflügelt wurde. Der Gerichtshof entschied seinerzeit, dass Art. 6 EMRK weder der Auferlegung einer bestrafenden Verwaltungssanktion noch et-

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Dazu Ackermann, NZKart 2015, S. 17, 18. Vgl. dazu ausführlich unten, § 5 B. 3. 89 Anregungen in diese Richtung wurden wiederholt formuliert, erstmals von K. Schmidt, wistra 1990, S. 131, 133; darauf zurückgreifend Klocker/Ost, in: FS Bechtold, 2006, S. 229, 242; Mundt, Präsident des Bundeskartellamts, WuW 2007, S. 458, 459; neuerdings auch Ackermann, ZWeR 2010, S. 329, 334; ders., WuW 2012, S. 3 f. 88

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§ 3 Kartellsanktionen zwischen Prävention und Rechtsstaatlichkeit

waigen Entkriminalisierungstendenzen entgegensteht, solange der Betroffene die Möglichkeit hat, Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte nachzusuchen.90 Die Tatsache, dass nach Ansicht des EGMR Art. 6 EMRK sich nicht generell gegen bestrafende Verwaltungssanktionen verschloss, war einer der wesentlichen Gründe für die Phase rascher Entkriminalisierung und für den Bedeutungsgewinn der Verwaltungsbuße im Kartellverfahren.91 Betrachtet man die Urteile des EGMR in den Sachen Engel, Öztürk und Jussila im Zusammenhang mit den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuG und EuGH) in den Sachen AC-Treuhand AG, Schindler und Hüls, können Kartellsanktionen unabhängig von ihrer gegenwärtigen Bußgeldhöhe als Verwaltungssanktionen charakterisiert werden, auf die abgestufte strafrechtliche Grundsätze der Art. 48 GRC sowie Art. 6 EMRK anwendbar sind, solange ein unabhängiges Gericht über die Rechtmäßigkeit einer solchen Kartellsanktionen befinden kann.

C. Zusammenfassung und Schlussfolgerung für den Fortgang der Untersuchung Bei der Bekämpfung von globalen Wettbewerbsbeschränkungen ist das Hauptanliegen der Kartellbehörden möglichst abschreckende Kartellsanktionen durch ein auf Prävention gerichtetes effektives und effizientes Sanktionssystem zu verhängen. Präventionsrechtliche Gesichtspunkte gelten jedoch nicht grenzenlos, vielmehr werden diese durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie rechtsstaatliche und grundrechtliche Prinzipien gezügelt. Dazu zählen insbesondere die strafrechtlichen Grundsätze nach Art. 48 GRC sowie Art. 6 EMRK, die jedoch keineswegs mit der gleichen Maßgabe anzuwenden sind wie bei einer Rechtsmaterie, die zum Kernstrafrecht gehört. Nach der Rechtsprechung des EuGH sowie des EGMR ist vielmehr eine graduelle Anwendung der strafrechtlichen Fundamentalprinzipien möglich und auch geboten, abhängig vom anzuwendenden Recht. Dies gilt insbesondere bei Rechtsgebieten, die nicht zum Bereich des Kernstrafrechts gehören, wie beispielsweise dem Kartellsanktionsrecht. Im Lichte dieses Befundes ist die gegenwärtige Kritik an der Sanktionspraxis der Unionsorgane neu zu überdenken. Aber auch für die deutsche Sanktionspraxis lassen sich aus dem zuvor Erörterten wichtige Erkenntnisse ziehen, etwa hinsichtlich der Frage, ob und inwieweit eine weiter gehende verfahrensrechtliche Konvergenz mit europäischen Standards möglich ist. Diese Fragen sind der besseren Übersichtlichkeit wegen jedoch im Besonderen Teil dieser Arbeit zu erörtern.92 Bevor die Frage beantwortet wird, wie eine solche verfahrensrechtliche 90

EGMR v. 25.1.1984, Öztürk/Deutschland, Nr. 8544/79, Serie A 73, Rn. 49. Vgl. dazu ausführlich, Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 157 ff. 92 § 6, B und § 7, C. 91

C. Zusammenfassung und Schlussfolgerung

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Konvergenz rechtlich gestaltet werden kann, ist zunächst eine andere, denklogisch vorgeschaltete Frage zu beantworten, nämlich ob überhaupt eine solche verfahrensrechtliche Konvergenz notwendig ist. Die Arbeit hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass inkohärente Verfahrensregeln die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV gefährden. Damit wurde die Frage dem Grunde nach bereits beantwortet, dass kohärente Verfahrensregeln in der Tat notwendig sind. Nur durch einen verfahrensrechtlichen Grundkonsens lassen sich die netzwerkspezifischen Probleme innerhalb des ECN lösen, die zwecks besseren Verständnisses für diese Arbeit nunmehr im folgenden Kapitel näher beleuchtet werden sollen.

§ 4 Die Problematik der Behördenkooperation im Europäischen Wettbewerbsnetzwerk (ECN) Die Untersuchung hat mehrfach darauf hingewiesen, dass unterschiedliche Verfahrensrechtsordnungen die effiziente und effektive Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV erschweren, wodurch das gesamte dezentralisierte Durchsetzungsregime der VO 1/2003 beeinträchtigt wird. Damit ist nicht nur die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV, sondern darüber hinaus das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts gefährdet. Jedoch wurde bis jetzt noch nichts darüber gesagt, worin diese erschwerenden verfahrensrechtlichen Umstände genau zu sehen sind. Anhand ausgewählter Fälle sollen in diesem Abschnitt praxisrelevante verfahrensrechtliche Implikationen innerhalb des ECN angesprochen werden, die nicht nur die Behördenkooperation als solche, sondern darüber hinaus auch die effektive Wahrnehmung grundrechtlicher Interessen von Seiten der Unternehmen gefährden.

A. Unterschiedliche Kartellsanktionssysteme Auszugehen ist zunächst von Art. 35 VO 1/2003, wonach die Mitgliedstaaten jene Wettbewerbsbehörden bestimmen müssen, die Art. 101, 102 AEUV anwenden und mit wirksamen, in Art. 5 VO 1/2003 näher bestimmten Mitteln durchsetzen. Art. 35 und Art. 5 VO 1/2003 überlassen dabei den einzelnen Mitgliedstaaten einen recht weiten Umsetzungsspielraum hinsichtlich dieser Verpflichtungen, weshalb die einzelstaatlichen Kartellsanktionsregime innerhalb des ECN sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Bereits an anderer Stelle wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass die VO 1/2003 aufgrund des neu eingeführten dezentralisierten Durchsetzungssystems (Art. 3 VO 1/2003) zu einer weitgehenden Institutionalisierung des kartellrechtlichen Vollzugs geführt hat.1 Indessen ist diese Institutionalisierung des Kartellrechtsvollzugs innerhalb des ECN nicht vollkommen, sondern kommt in Ermangelung eines kohärenten Vollzugssystems durch unterschiedliche Verfahrenssysteme der einzelnen Mitgliedstaaten zum Ausdruck.2 Die Mitgliedstaaten bestimmen also selbstständig die „Wettbewerbsbehörden“ i. S. d. Art. 35 VO 1/2003, die sowohl in personeller als auch in finanzieller Hinsicht unterschiedlich organisiert sind. Die Ausstattung mit perso-

1 2

Dazu § 2 C. II. Dazu § 2 B. I.

B. Amtshilfe und Informationsaustausch

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nellen und finanziellen Ressourcen weicht dabei so stark voneinander ab, dass teilweise ein erhebliches Missverhältnis zwischen den Ermittlungs- und Sanktionsbefugnissen der nationalen Wettbewerbsbehörden gegeben ist. Diese unterschiedlichen Kartellsanktionssysteme innerhalb des ECN führen freilich zu verfahrensrechtlichen Ineffizienzen bei der behördlichen Kooperation, die durch unterschiedliche Grundrechtsstandards der einzelnen Mitgliedstaaten zusätzlich erschwert wird. Divergierende Rechtsordnungen und Verfahrensstandards haben nicht nur eine geminderte Durchsetzungskraft der europäischen Wettbewerbsvorschriften nach Art. 101, 102 AEUV zur Folge, sondern bergen darüber hinaus erhebliche Rechtsunsicherheiten für die betroffenen Unternehmen, bedingt durch fehlende Rechtsschutzmöglichkeiten und Transparenzerfordernisse, etwa im Hinblick auf die Fallverteilung oder Kronzeugenbehandlung innerhalb des ECN. Im Folgenden soll daher aufgezeigt werden, worin in der Praxis die verfahrensrechtlichen Schieflagen innerhalb des ECN gegenwärtig liegen.

B. Amtshilfe und Informationsaustausch Die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nach Art. 11 VO 1/2003 kann in der Regel nur dann gelingen, wenn die einzelnen Netzmitglieder sich untereinander und gegenüber der Kommission loyal verhalten. Diese, aus Art. 4 III EUV abgeleitete Loyalität verpflichtet unter bestimmten Voraussetzungen zur gegenseitigen Unterstützung bei der Aufdeckung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen die Art. 101, 102 AEUV. Insbesondere die mit der VO 1/2003 eingeführte dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV erfordert eine gegenseitige Unterstützung zwischen den Netzmitgliedern. Daher regelt Art. 22 VO 1/2003 in Abs. 1 die Grundsätze der Amtshilfe zwischen nationalen Wettbewerbsbehörden untereinander (horizontale Amtshilfe) und in Abs. 2 gegenüber der Kommission (vertikale Amtshilfe), da sich Beweismittel insbesondere bei globalen Kartellverstößen mit grenzüberschreitendem Bezug oftmals auf mehrere Mitgliedstaaten verteilen.3 Ohne die Amtshilfe könnten einzelne Wettbewerbsbehörden ansonsten aufgrund des völkerrechtlichen Territorialitätsprinzips lediglich Sachverhalte aufklären, die sich auf das eigene Hoheitsgebiet erstrecken.4 Beweise in anderen Mitgliedstaaten zu sammeln wäre somit nicht mehr möglich. Die einheitliche Anwendung der Art. 101, 102 AEUV erfordert von daher aufgrund der globalisierten Wettbewerbsordnung und der damit verbundenen Globalisierung von Wettbewerbsbeschränkungen eine Koordinierung der Verfahren der einzelnen Wettbewerbsbehörden innerhalb des ECN, um einen effizienten und effektiven Einsatz der euro3 Barthelmeß, in: Löwenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 22 VO 1/2003, Rn. 2. 4 van der Hout/Amling, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Art. 22 VO 1/2003, Rn. 2.

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§ 4 Behördenkooperation im ECN

päischen und nationalen Ressourcen sicherzustellen.5 Die Amtshilfe nach Art. 22 VO 1/2003 gehört somit zu den Kernbestimmungen des ECN, die die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV umsetzen. Gleichwohl ergeben sich im Rahmen der Amtshilfe zahlreiche verfahrensrechtliche Schwierigkeiten, die darin begründet sind, dass bei der Amtshilfe die Wettbewerbsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten nach ihren jeweiligen nationalen Verfahrensvorschriften, die teilweise in hohem Maße divergieren, handeln. Will beispielsweise die ersuchende Behörde in einem anderen Mitgliedstaat Beweise erheben, so macht sie alle nach dem Recht der ersuchten Behörde notwendigen Angaben, damit die ersuchte Behörde nach den für sie geltenden innerstaatlichen Verfahrensregeln für die ersuchende Behörde vorgehen kann.6 Ermittlungshandlungen und Beweiserhebungen folgen somit ausschließlich dem Recht des ersuchten Staates und unterliegen dessen materiellen und prozessualen Anforderungen. Die Beweisverwertung im Verfahren des ersuchenden Staates hängt wiederum von dessen Recht ab.7 Zudem darf die ersuchte Behörde nur diejenigen Befugnisse ausüben, die der ersuchenden Behörde nach ihrem nationalen Recht zukommen. Übt die ersuchte Behörde hingegen Befugnisse aus, die der ersuchenden Behörde nach ihrem nationalen Recht nicht zustehen würden, so unterliegen derart gewonnene Informationen einem Verwertungsverbot. Die Verhängung von Sanktionen richtet sich unterdessen nach dem nationalen Recht der ersuchten Behörde.8 Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV vor allem durch unterschiedliche nationale Regelungen hinsichtlich der Beteiligung von Beamten und anderen Personen im Rahmen der Amtshilfe nach Art. 22 VO 1/2003 erschwert wird. Die Unterstützung der ersuchten Behörde bei Ermittlungen durch Beamte der ersuchenden Behörde kann aber ein wichtiges Instrument sein, um die Amtshilfe wirksamer zu gestalten. Entsprechende Regelungen hierzu fehlen jedoch in Art. 22 VO/2003. Derzeit gibt es hinsichtlich dieser Frage ein hohes Maß an Divergenz zwischen den Mitgliedstaaten. Neben der grundsätzlichen Möglichkeit, Beamte der ersuchenden Behörde bei Ermittlungshandlungen der ersuchten Behörde teilnehmen zu lassen, sind die gesetzlichen Grundlagen und die Reichweite einer etwaigen Teilnahme in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt.9

5

Vgl. dazu de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Vorb. zu den Art. 11 bis 16, Rn. 6 f. Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit des Netzes der Wettbewerbsbehörden, ABl. v. 27.4.2004, C 101, S. 43 ff., Rn. 29. 7 Dazu Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Art. 22 VO 1/2003, Rn. 3; Bischke, in: MüKo-WettR, Art. 22 VO 1/2003, Rn. 2. 8 Dazu van der Hout/Amling, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Art. 22, Rn. 10; Burrichter/ Henning, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 22 VO 1/2003, Rn. 13 und 27. 9 Vgl. dazu die Empfehlung des ECN zur Amtshilfe nach Art. 22 VO 1/2003, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/ecn/recommendation_art_22_09122013_en. pdf. 6

B. Amtshilfe und Informationsaustausch

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Probleme bei der Amtshilfe zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden im ECN können sich zudem im Rahmen des Informationsaustauschs ergeben. Der Austausch und die Verwendung von Informationen erfolgen gem. Art. 22 I S. 2 VO 1/2003 nach Art. 12 VO 1/2003. Die Amtshilfe ist jedoch nicht grenzenlos, sondern ist nur innerhalb der geltenden prozessualen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union möglich. Die Frage nach den Grenzen der Amtshilfe wird dann virulent, wenn im Recht der ersuchenden Behörde etwa das Anwaltsprivileg (legal professional privilege) oder das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung (nemo tenetur-Grundsatz) normiert und weit gefasst ist, im Recht der ersuchten Wettbewerbsbehörde diese Verteidigungsrechte hingegen nicht oder weniger weitgehend geregelt sind. Während beispielsweise in den Niederlanden die Korrespondenz zwischen dem Unternehmensjuristen (Syndikusanwalt) und seinem Arbeitgeber unter das Anwaltsprivileg fällt und geschützt ist, gilt in anderen Mitgliedstaaten und im Recht der Europäischen Union das Anwaltsprivileg nur im Hinblick auf einen unabhängigen Anwalt, der nicht in einem Angestelltenverhältnis zu seinem Mandanten stehen darf.10 Gleichgelagerte Probleme können sich im Hinblick auf andere Verteidigungsrechte ergeben. So enthält etwa das polnische Recht hinsichtlich der Unschuldsvermutung und des nemotenetur-Grundsatzes nur unklare Vorgaben, die bei weitem nicht an die Mindeststandards des Unionsrechts reichen.11 Derweil wird aus der deutschen Wissenschaft bemängelt, dass eben diese Verteidigungsrechte im europäischen Recht nicht genügend berücksichtigt werden, weshalb auf die strengeren deutschen Standards abzustellen sei. Ein weiteres Beispiel, das zu Verwertungsverboten und demzufolge zu Ineffizienzen bei der Behördenkooperation führen könnte, betrifft die Durchsuchung von Geschäftsräumen. Während die Durchsuchung von Geschäftsräumen im Unionsrecht ohne vorherige richterliche Anordnung möglich ist, sehen Verfahrensordnungen einiger Mitgliedstaaten eben eine solche richterliche Anordnung vor.12 Kompliziert wird es dann, wenn einige Mitgliedstaaten – wie etwa Deutschland – zwischen Verwaltungs- und Sanktionsverfahren unterscheiden.13 Während im Verwaltungsverfahren eine richterliche Anordnung nach § 59 IV GWB notwendig ist, bedarf es im Sanktionsverfahren einer richterlichen Anordnung nach den strengeren Voraussetzungen des § 46 OWiG i.V. m. § 105 StPO. Je nachdem, ob das BKartA ersuchte oder ersuchende Behörde ist, kommt es bei der Beweiserhebung oder -verwertung darauf an, ob im Recht des anderen Mit-

10 Dazu van der Hout/Amling, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Vorb. Art. 17 ff. VO 1/2003, Rn. 40 ff. 11 Vgl. dazu ausführlich Bernatt, Convergence of Procedural Standards in the European Competition Proceedings, in: The Competition Law Review 2012, S. 256, 264 f. 12 Dazu Weiß, in: Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der EU, § 20, Rn. 64. 13 Zum Aufbau und Ablauf des deutschen Kartellbußgeldverfahrens vgl. unten § 7 A.

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§ 4 Behördenkooperation im ECN

gliedstaates ähnlich geartete Sanktionen in Bezug auf Art. 101, 102 AEUV vorgesehen sind oder nicht (vgl. § 50a III GWB).

C. Der unterschiedliche Grundrechtsschutz Diese Fälle zeigen, dass auch das grundrechtliche Schutzniveau innerhalb des ECN für betroffene Unternehmen in erheblichen Maße divergiert, je nachdem, von welcher Wettbewerbsbehörde die kartellrechtliche Zuwiderhandlung ermittelt oder sanktioniert wird. Dieser Zustand führt nicht nur zu einer geminderten Durchsetzungskraft der Art. 101, 102 AEUV, bedingt durch behördliche Kooperationserschwernisse, sondern auch zu möglichen Verletzungen der Grundrechte betroffener Unternehmen. Grundsätzlich gelten bei Kartellsanktionsverfahren innerhalb des ECN die nationalen Grundrechte sowie die Grundrechte nach der GRC und der EMRK, wobei die Schutzstandards der nationalen Grundrechte innerhalb der Europäischen Union stark divergieren. Die Grundrechtsquelle, die als Rechtmäßigkeitsmaßstab bei Kartellsanktionen herangezogen wird, hängt maßgeblich davon ab, ob ein nationaler oder grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Jedoch ist, vor allem am Anfang von Ermittlungen durch Wettbewerbsbehörden, eine Trennung zwischen nationalen und internationalen Wettbewerbsbeschränkungen und somit eine Trennung von nationalem und europäischem Kartellrecht teilweise unmöglich, so dass anfangs nicht immer eindeutig der richtige Grundrechtemaßstab festgelegt werden kann. Dies gilt vor allem für die Selbstbelastungsfreiheit, für die Unschuldsvermutung und für das Anwaltsprivileg im Kartellsanktionsverfahren. Dass sich die unterschiedlichen Grundrechtsquellen inhaltlich nicht immer decken und dass die damit verbundenen unterschiedlichen Urteile der betreffenden Gerichte Verwirrungen und Rechtsunsicherheit hervorrufen, verwundert indessen nicht. Diese Tatsache hat auch der EU-Gesetzgeber offensichtlich erkannt, indem er die unterschiedlichen Grundrechtsstandards innerhalb des ECN bei dem Erlass von Art. 12 III VO 1/2003 berücksichtigt hat.14 Sehen nämlich die Verfahrensordnungen einiger Mitgliedstaaten Sanktionsmöglichkeiten gegen natürliche Personen vor, so dürfen die durch die Behördenkooperation erlangten Informationen nur dann gem. Art. 12 III Spiegelstrich 1 VO 1/2003 verwertet werden, wenn das Recht der übermittelnden Behörde ähnlich geartete Sanktionen in Bezug auf Verstöße gegen die Art. 101, 102 AEUV vorsieht oder wenn die Informationen in einer Weise erhoben worden sind, die hinsichtlich der Wahrung der Verteidigungsrechte natürlicher Personen das gleiche Schutzniveau wie nach dem für die empfangende Behörde geltenden innerstaatlichen Recht gewährleistet. Eine weitere Einschränkung der Verwertung von erlangten Informationen sieht dann Art. 12 III Spiegelstrich 2 VO 1/2003 vor, wonach die im Sinne des Satz 1 erlangten Informationen nicht verwendet 14

Dazu bereits oben, § 2 D. I.

C. Der unterschiedliche Grundrechtsschutz

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werden dürfen, um Haftstraften zu erlassen. Im Rahmen des Art. 12 VO 1/2003, wonach Informationen zwischen den Netzmitgliedern ausgetauscht und verwendet werden, stellt sich somit die Frage, ob die das Beweismittel empfangende Behörde das Beweismittel verwenden darf oder ob hinsichtlich des Beweismittels ein Verwertungsverbot besteht, wenn die übermittelnde Behörde einen wesentlich niedrigeren Grundrechtsschutz gewährleistet. Zwar beziehen sich diese Einschränkungen des Informationsaustausches aus Art. 12 III VO 1/2003 lediglich auf Beweise, die gegen natürliche Personen erhoben wurden. Gleichwohl wird in der kartellrechtlichen Praxis bei komplexen Fällen selten eine Trennung zwischen der Beweiserhebung gegen natürliche und juristische Personen möglich sein. Daher kommt es nicht selten im Anfangsstadium der Ermittlungen zu möglichen Rechtsverletzungen der betroffenen Unternehmen oder gar zu einem Verwertungsverbot der erhobenen Beweise. Dies gilt für die praxisrelevanten Fälle, in denen eine empfangende Behörde beispielsweise im Rahmen eines Strafverfahrens gegenüber natürlichen Personen Beweismittel erlangt, die von der übermittelnden Behörde ohne Gewährung eines Aussageverweigerungsrechts erhoben wurden.15 So geht etwa der deutsche Gesetzgeber gem. § 50a III GWB davon aus, dass für Verfahren gegen natürliche Personen ein Verwertungsverbot besteht, wenn die übermittelnde Behörde keine gleichgearteten Sanktionen vorsieht oder wenn die Informationen durch die übermittelnde Behörde in einer Weise erhoben wurden, die hinsichtlich der Wahrung der Verteidigungsrechte natürlicher Personen nicht das gleiche Schutzniveau aufweist wie das Recht der empfangenden Kartellbehörde. Der deutsche Gesetzgeber hat somit versucht, die mit Art. 12 II, III VO 1/2003 verbundenen verfahrensrechtlichen Probleme, die sich aus den unterschiedlichen nationalen Verfahren ergeben, zu lösen. Dies ist jedoch nur teilweise gelungen, da sich im Rahmen des Art. 12 II, III VO 1/2003 weitere Probleme stellen, die in der Regelung selbst nicht gelöst werden. Aus Art. 12 III VO 1/2003 ergeben sich folgende weitere Hindernisse, die die Behördenkooperation innerhalb des ECN erheblich erschweren können: Sieht etwa das Recht eines Mitgliedstaates – wie in Deutschland – ein Bußgeldverfahren vor und hat die übermittelnde Behörde lediglich ein Verwaltungsverfahren betrieben, obgleich sie auch ein Bußgeldverfahren hätte betreiben können, so dass sie geringere grundrechtliche Standards anwandte, würde dies in Konflikt geraten mit dem Vorgehen der empfangenden Behörde, die ein Bußgeld- oder Strafverfahren betreiben und dafür die übermittelten Beweise verwerten möchte. In diesem Fall werden durch die übermittelnde Behörde jene Verfahrensstandards, die höhere Anforderungen an die Verteidigungsrechte stellen, nicht eingehalten, so dass die erlangten Informationen von der empfangenden Behörde in einem Bußgeld- oder Strafverfahren nicht verwertet werden können. 15 Dazu Wils, in: Ehlermann/Atanasiu (Hrsg.), European Competition Law Annual 2002, S. 433, 455.

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An dieser misslichen Situation vermag auch die abstrakte Regelung des § 50a III GWB für das deutsche Kartellsanktionsverfahren nichts zu ändern, die voraussetzt, dass die übermittelnde Behörde eine ähnlich geartete Sanktionsmöglichkeit lediglich vorsieht. Ebenso wenig in Art. 12 VO 1/2003 geregelt ist die Frage, wie die empfangende Behörde mit Informationen und Beweismitteln umgeht, die von der übermittelnden Behörde rechtswidrig gewonnen wurden, indem das eigene Verfahrensrecht und die jeweiligen Grundrechte nicht eingehalten wurden. Dann stellt sich nämlich die Frage nach der Anfechtbarkeit der rechtswidrig erhobenen Beweise, und falls dies möglich ist, bis zu welchem Zeitpunkt. Diese Fragen stellen erhöhte Anforderungen an die Rechtsschutzmöglichkeiten innerhalb der Europäischen Union, die weder in der VO 1/2003 noch in den einzelnen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geregelt sind. Eben aus diesen Gründen wird im Rahmen des Informationsaustausches nach Art. 12 VO 1/2003 in der Regel eine grundrechtliche Doppelkontrolle durchgeführt.16 Zunächst wendet diejenige Behörde, die die Ermittlungen eingeleitet hat, das eigene Verfahrensrecht und die Grundrechte aus der eigenen Rechtsordnung an. Im Falle der Weitergabe von Informationen und Beweismitteln gem. Art. 12 VO 1/2003 an die Behörde eines anderen Mitgliedstaates finden zusätzlich die Verfahrensregeln und Grundrechte der anderen Behörde Anwendung. Da die Behörden in diesem grenzüberschreitenden Falle im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln, finden zusätzlich die EU-Verfahrensregeln Anwendung, aus denen sich eigenständige Verwertungsverbote ergeben können.17 Eine solche doppelte Grundrechtsprüfung findet insbesondere bei der Durchsuchung von Geschäftsräumen statt. Kommt es beispielsweise zu einer Durchsuchung von Geschäftsräumen bei Unternehmen, die mutmaßlich gegen die Art. 101, 102 AEUV verstoßen haben, so muss die Durchsuchung an europäischen Grundrechten gemessen werden, da es sich hierbei um die „Durchführung des Rechts der Union“ i. S. d. Art. 51 GRC handelt. Sehen nationale Rechtsordnungen dann zusätzlich die Voraussetzung einer richterlichen Anordnung vor, ist diese Voraussetzung wiederum an den nationalen Grundrechten zu messen. Zwar ist eine solche grundrechtliche Mehrfachprüfung im Hinblick auf den Wortlaut des Art. 12 III Spiegelstrich 2 VO 1/2003 nicht zu beanstanden, der hinsichtlich der erlangten Informationen und Beweismittel in einigen Fällen Verwertungsverbote vorsieht. Indessen bestehen erhebliche Zweifel, ob die grundrechtliche Mehrfachprüfung im Rahmen des ECN dem oben postulierten Ansatz der effektiven und effizienten Kartellrechtsdurchsetzung in ausreichendem Maße ge-

16 Ausführlich dazu Weiß, in Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der EU, § 20, Rn. 65. 17 Vgl. dazu EuGH v. 10.4.2003, Rs. C-276/01 Slg. 2003, I-3735, Rn. 70 – Steffensen.

C. Der unterschiedliche Grundrechtsschutz

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recht wird.18 Denn die Doppelkontrolle steht zumindest im Widerspruch zu der VO 1/2003 und der Netzwerkbekanntmachung, wonach ein Fall möglichst nur von einer Behörde zu bearbeiten ist.19 Zwar kann eine nationale Behörde eine grundrechtliche Mehrfachprüfung in Bezug auf die eigenen nationalen und die europäischen Grundrechte, jedoch nicht in Bezug auf fremde nationale Grundrechte durchführen. Diese Schwierigkeiten lassen sich nur dann vermeiden, wenn ein im Wesentlichen einheitlicher Grundrechtsstandard innerhalb des ECN dadurch geschaffen wird, dass die Konvergenz des Verfahrensrechts und der Verfahrensstandards in den nationalen Kartellverfahrensordnungen der Mitgliedstaaten gesteigert wird.20 In einem komplexen rechtlichen System wie dem ECN ist es nur förderlich, bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV eine Rechtsordnung mit einheitlichen Verfahrensstandards anzuwenden, die für alle Wettbewerbsbehörden gleichermaßen verbindlich ist. Dabei geht es weniger um ein Höchstmaß an Grundrechtsschutz für Unternehmen, sondern vielmehr um einen angemessenen, ausgeglichenen und für alle Beteiligten gleichermaßen verbindlichen Grundrechtsschutz im europäischen Binnenmarkt.21 Dies würde folgerichtig dazu führen, dass einige nationale Grundrechtsstandards angehoben, andere abgesenkt werden, idealerweise auf das Schutzniveau der GRC.22 Dabei kann es gewiss nicht um eine vollumfängliche Harmonisierung der gesamten Grundrechte aller Mitgliedstaaten gehen. Dazu fehlt der Union offensichtlich die Kompetenz. Jedoch sollte eine Konvergenz der verfahrensrechtlichen Grundrechte von Unternehmen, insbesondere im Hinblick auf die Justizgrundrechte, die dann im Rahmen der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV greifen, von der Kompetenz der Europäischen Union gedeckt sein. Die damit einhergehende Aufhebung der innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Unterschiede hinsichtlich der grundrechtlichen Gewährleistung würde dazu führen, dass die verfahrensrechtlichen Hindernisse innerhalb des ECN schrittweise behoben werden. Damit wäre auch eine mehrfache grundrechtliche Kontrolle innerhalb der ECN-Verfahren nicht mehr notwendig, was eine effektive und effiziente Alloka18 Ausführlich dazu Weiß, in: Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der EU, § 20, Rn. 69 f. 19 Erwägungsgrund 8 der VO 1/2003, vgl. auch ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 7. 20 In diese Richtung geht auch die Analyse von Gauer, Does the Effectivness oft he EU Network of Competition Authorities Require a Certain Degree of Harmonisation of National Procedures and Sanctions?, publiziert in: Ehlermann/Atanasiu (Hrsg.), European Competition Law Annual 2002, S. 187; vgl. auch die Rede des Generaldirektors für Wettbewerb bei der Kommission, Italianer, The ECN, convergence and enforcement of EU competition law: achievements and challenges, 2013, abrufbar unter: http:// ec.europa.eu/competition/speeches/text/sp2013_08_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 21 G. Dannecker, NZKart 2015, S. 24, 27 ff.; ders., NZKart 2015, S. 14. 22 Vgl. dazu ausführlich unten, § 5 C.

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§ 4 Behördenkooperation im ECN

tion verfahrensrechtlicher Ressourcen bedeuten würde.23 Mit der Konvergenz grundrechtlicher Standards innerhalb des ECN wären damit der Vorrang, die Einheit und Wirksamkeit des europäischen Kartellrechts innerhalb der einzelnen Kartellverfahrensordnungen der Mitgliedstaaten gewährleistet.24

D. Der Verteilungsmechanismus Die soeben genannte grundrechtliche Problematik innerhalb des ECN wird im Rahmen des Verteilungsmechanismus innerhalb des ECN dann virulent, wenn die Fälle zwischen Wettbewerbsbehörden nicht nach transparenten Kriterien umverteilt werden (I) und diese Umverteilung gerichtlich nicht oder nicht effektiv überprüfbar ist (II). Daraus ergeben sich unterschiedliche verfahrensrechtliche Risiken für Unternehmen, die innerhalb des ECN zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen (III).

I. Die „gute Eignung“ einer Behörde als entscheidendes Merkmal der Fallverteilung Kernstück des ECN ist die Arbeits- und Fallverteilung zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden, die nach Maßgabe der Art. 11, 12 VO 1/2003 i.V. m. der Netzwerkbekanntmachung stattfindet.25 Um die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sowie das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen, muss gewährleistet werden, dass der konkrete Fall durch jenes Netzmitglied behandelt wird, das am besten dafür geeignet ist. Dadurch soll zum einen eine effiziente Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden, zum anderen aber auch eine wirksame und kohärente Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln sichergestellt werden. Auszugehen ist zunächst von dem Grundsatz, dass eine Behörde, die die Ermittlungen in einem Fall eingeleitet hat, diesen auch bis zum Ende des Verfahrens bearbeiten soll. Dies wird aufgrund der Globalisierung von Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkungen jedoch nicht immer der Fall sein. Kommt die ermittelnde Behörde zu dem Entschluss, dass sie nicht gut geeignet ist, sich des Falles anzunehmen, oder ist eine andere Behörde der Auffassung, dass sie ebenfalls gut geeignet ist, den Fall zu bearbeiten, findet eine Umverteilung zu Beginn des Verfahrens statt.26 Der Fall soll dann möglichst nur einem einzigen Netzmitglied zugeordnet werden, das gut geeignet ist, sich des Falles anzunehmen.27 In jedem Fall soll eine Umverteilung 23 24 25 26 27

Vgl. dazu ausführlich unten, § 7 C. II. Dazu Weiß, in: Terhechte (Hrsg.), Verwaltungsrecht der EU, § 20, Rn. 75. ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43 f. ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 6. ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 7; vgl. auch Erwägungsgrund 8 der VO 1/2003.

D. Der Verteilungsmechanismus

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schnell und vor allem effizient vonstattengehen, um laufende Ermittlungen nicht zu verzögern. Damit parallel geführte Verfahren in derselben Sache schnell festgestellt werden können und sichergestellt ist, dass die jeweiligen Fälle möglichst von einem einzigen Netzmitglied bearbeitet werden, das gut dazu geeignet ist, müssen Netzmitglieder gem. Art. 11 VO 1/2003 frühzeitig von etwaigen Verfahren unterrichtet werden, die bei verschiedenen Netzmitgliedern anhängig sind.28 Kommt ein Netzmitglied schließlich zu dem Ergebnis, dass ein Fall umverteilt werden muss, so hat die Umverteilung rasch, also binnen zwei Monaten, zu erfolgen.29 Das Kriterium der „guten Eignung“ wird somit zum entscheidenden Verteilungskriterium innerhalb des ECN. Die Fallumverteilung kommt etwa dann in Betracht, wenn entweder eine andere nationale Wettbewerbsbehörde30 oder die Kommission31 „besser geeignet“ ist, sich des Falles anzunehmen. Ist etwa die Kommission der Ansicht, dass sie zur Bearbeitung des Falles besser geeignet ist, weil der vorgeworfene Verstoß gegen Art. 101, 102 AEUV Auswirkungen auf mehrere nationale Märkte hat oder weil das Gemeinschaftsinteresse eine Entscheidung der Kommission erfordert, um die gemeinschaftliche Wettbewerbspolitik weiterzuentwickeln, kann sie den Fall nach Art. 11 VI VO 1/2003 an sich ziehen, wodurch die Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörde für die Anwendung der Art. 101, 102 AEUV in dieser Sache entfällt. Gleiches gilt, wenn die Kommission der Ansicht ist, dass ein Netzmitglied den Fall unangemessen in die Länge zieht, oder wenn Netzmitglieder sich widersprechende Entscheidungen beabsichtigen.32 Dass diese generalklauselartig formulierten Verteilungskriterien der „guten Eignung“ immer nach objektiven Maßstäben ermittelt werden, ist in der kartellrechtlichen Praxis häufig zweifelhaft. Der Kommission wird es in der Regel immer gelingen, die Umverteilung des Falles mit der einheitlichen Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln zu rechtfertigen, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Unternehmen können sich also nicht stets sicher sein, ob irgendeine nationale Wettbewerbsbehörde oder die Kommission den Fall behandeln wird. Gerade vor dem Hintergrund, dass Kartellsanktionen zudem jenem Haushalt zufließen, dessen zuständige Wettbewerbsbehörden den Fall abschließen, muss daher verhindert werden, dass eine willkürliche oder objektiv nicht nachvollziehbare Umverteilung von Fällen innerhalb des ECN stattfindet. Dies gilt erst recht dann, wenn eine gerichtliche Überprüfung der Fallverteilung – wenn überhaupt – nur bedingt möglich erscheint.

28 29 30 31 32

ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 37 ff. ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 16 und 18. ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 8 f. ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 14 f. Zu den ganzen Gründen vgl. ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 54.

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§ 4 Behördenkooperation im ECN

II. Die Justiziabilität der Fallverteilung Die Frage nach der Justiziabilität der Fallverteilung innerhalb des ECN ist jedenfalls nicht abschließend geklärt.33 Dies hat zweierlei Gründe: Zum einen wird der Rechtsnormcharakter der Netzwerkbekanntmachung bezweifelt (1). Zum anderen ist nicht eindeutig, in welchem konkreten Verfahren eine Fallverteilung überhaupt angegriffen werden soll (2). 1. Rechtscharakter der Netzwerkbekanntmachung im ECN Für die Bestimmung des Rechtsnormcharakters der Netzwerkbekanntmachung ist im Ausgangspunkt auf das rechtlich geschützte Interesse der Unternehmen an der Überprüfbarkeit der Fallverteilung abzustellen.34 Das rechtliche Interesse der Unternehmen an der Überprüfbarkeit wird gelegentlich mit dem Argument verneint, dass alle Netzmitglieder prinzipiell gleichrangig zuständig und geeignet für die Fallübernahme sind, da es im Rahmen des ECN um die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV geht.35 Aufgrund der dezentralen Anwendungspflicht der europäischen Wettbewerbsvorschriften durch die einzelnen Mitgliedstaaten seien daher alle gleichermaßen zuständig, sich eines Falles anzunehmen. Die Netzwerkbekanntmachung habe vielmehr verwaltungsinterne Bedeutung. Sie erlaube den Netzmitgliedern, Informationen auszutauschen. Es fehle somit an einer Außenwirkung, die gegen Unternehmen gerichtet ist. Hinzu komme die Tatsache, dass dem ECN, trotz der vorangeschrittenen Institutionalisierung der behördlichen Kooperation, verbindlicher Rechtscharakter abgehe. Diese organisatorische Kompetenzzuweisung führt jedoch nicht zwangsläufig zu einem gänzlichen Ausschluss subjektiver Rechtsschutzansprüche von Unternehmen. Denn die behördeninterne Handlungsfreiheit endet dort, wo beispielsweise die Selbstbindung der Verwaltung eine Grenze zieht. Schafft die Verwaltung einheitliche Standards etwa durch eine ständige Verwaltungspraxis oder durch die Normierung interner Verwaltungsrichtlinien, ist sie bei der Beurteilung eines Falles an diese sich selbst auferlegten Kriterien gebunden.36 Daraus ergibt sich, dass die Netzmitglieder sich schon aufgrund der Selbstbindung der Verwal33 Vgl. Schwarze, in: FS für Bechtold, S. 483 ff.; Lampert/Niejhar/Kübler/Weidenbach, EG-KartellVO, 2004, Rn. 204 f.; Dalheimer, in: Grabnitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Stand Juni 2005, nach Art. 83 EGV, Vor Art. 11 VO 1/ 2003, Rn. 21; Fuchs, Kontrollierte Dezentralisierung der europäischen Wettbewerbsaufsicht, EuR 2005, Beiheft 2, S. 77, 99; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, 2005, § 7, Rn. 170, 172. 34 Dazu Schwarze, in: FS für Bechtold, S. 483, 489. 35 Lampert/Niejhar/Kübler/Weidenbach, EG-KartellVO, 2004, Rn. 204 f. 36 Zum Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung im EU-Recht vgl. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. LXX ff.; Crones, Selbstbindung der Verwaltung im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1997.

D. Der Verteilungsmechanismus

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tung nicht von willkürlichen und sachfremden Motiven leiten lassen dürfen, wenn sie Fälle innerhalb des ECN verteilen. Aus der Selbstbindung der Verwaltung kann sich daher durchaus ein berechtigtes Interesse der Unternehmen an der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Fallverteilung ergeben.37 2. Konkretes Gerichtsverfahren Ist ein Interesse der Unternehmen an der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Fallverteilung innerhalb des ECN anzuerkennen, weil etwa die Fallverteilung entgegen der Selbstbindung der Verwaltung willkürlich und nach sachfremden Erwägungen erfolgte, stellt sich die nächste Frage nach dem konkret anzuwendenden gerichtlichen Verfahren bei Klagen gegen die Fallverteilung. Da es sich nach der hier vertretenen Auffassung bei der Fallverteilung um eine grundsätzlich überprüfbare behördliche Zuständigkeitsregelung handelt,38 kommt ausschließlich die Unzuständigkeit der sanktionierenden Kartellbehörde innerhalb des ECN als Klagegrund in Betracht. Unternehmen könnten gegen die Fallverteilung eine Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 IV, II AEUV wegen „Unzuständigkeit“ einlegen, wenn die Handlung der sanktionierenden Kartellbehörde an das Unternehmen selbst gerichtet ist oder es unmittelbar und individuell betrifft. Eine von der konkreten Sanktionsentscheidung der Wettbewerbsbehörde losgelöste Überprüfung der Fallverteilung erscheint jedoch nicht unproblematisch, da die Fallverteilung lediglich ein behördeninterner Vorgang darstellt, der noch zu keiner konkreten Entscheidung der Wettbewerbsbehörde geführt hat und zudem noch keine konkrete Verletzung von subjektiven Rechten begründet, da die Behördenentscheidung noch offensteht. Die bloße Annahme, dass eine Wettbewerbsbehörde zuständig ist, wird in der Regel keine hinreichende Beschwer der Unternehmen i. S. d. Art. 263 IV AEUV begründen. Erst im Rahmen der konkreten Sanktionsentscheidung, die gerichtlich entweder vor dem zuständigen nationalen Gericht oder vor dem EuGH überprüfbar ist, könnte die Fallverteilung im Rahmen der Zuständigkeitsfrage der sanktionierenden Behörde inzident überprüft werden.39 Doch auch in einem solchen Falle, dass die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörde einer inzidenten gerichtlichen Überprüfung unterfallen könnte, dürfte es in der Praxis nur schwer nachweisbar sein, dass die Fallverteilung aufgrund sachfremder oder willkürlicher Erwägungen stattgefunden hat. In der Regel werden die wirksame Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts sowie das rei37

So auch Schwarze, in: FS für Bechtold, S. 483, 491. Anders hingegen Hossenfelder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Vor Art. 11, Rn. 9, der die Grundsätze der Fallverteilung ausdrücklich nicht als Zuständigkeitsregeln, sondern als Kriterien für eine Arbeitsverteilung zwischen gleichermaßen zuständigen Behörden ansieht. 39 Dazu Schwarze, in: FS für Bechtold, S. 483, 496 f. 38

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bungslose Funktionieren des Binnenmarktes Willkür oder gar eine sachfremde Erwägung bei der Bestimmung der „guten Eignung“ ausschließen. Dies würde erst recht gelten, wenn Unternehmen dazu neigen könnten, eine doppelte gerichtliche Prüfung zu veranlassen, einmal hinsichtlich der womöglich willkürlichen oder sachfremden Fallverteilung und einmal hinsichtlich des darauffolgenden endgültigen Bußgeldbescheids der sanktionierenden Kartellbehörde. Dies würde eine Doppelbelastung der behördlichen und gerichtlichen Entscheidungspraxis bedeuten, die unter prozessökonomischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen ist, ohne dass ein Mehrwert hinsichtlich der Rechtsschutzmöglichkeiten der betroffenen Unternehmen erkennbar wäre. Die Unternehmen können vielmehr den Kartellbußgeldbescheid abwarten, den sie sodann vor dem zuständigen Gericht angreifen können, entweder vor dem EuGH, wenn die Kommission den Kartellbußgeldbescheid erlässt, oder vor den nationalen Gerichten, wenn eine nationale Wettbewerbsbehörde die sanktionierende Behörde ist.

III. Verfahrensrechtliche Risiken für Unternehmen Losgelöst von der Frage nach der Justiziabilität der Fallverteilung innerhalb des ECN, birgt eine mögliche Umverteilung von Fällen verfahrensrechtliche Risiken für die Unternehmen, die oftmals nicht vorhersehbar sind. In der Praxis wird es einem Unternehmen oft nicht möglich sein vorherzusehen, ob eine Wettbewerbsbehörde, die Ermittlungen angefangen hat, das Verfahren auch tatsächlich abschließen wird. Da die Sanktionssysteme der einzelnen Wettbewerbsbehörden nicht harmonisiert sind, kann eine überraschende Fallverteilung für Unternehmen eine Erhöhung oder eine Absenkung der verfahrensrechtlichen Standards bedeuten. Zunächst sehen die Wettbewerbsrechtsordnungen der Netzmitglieder unterschiedliche Sanktionsarten vor, wie etwa verwaltungsrechtliche oder bußgeldrechtliche Sanktionen bis hin zur Verhängung von Haftstrafen gegen natürliche Personen. Die unterschiedlichen Sanktionsarten sind wiederum von unterschiedlichen Voraussetzungen, insbesondere im Hinblick auf die Verteidigungsrechte der Unternehmen, abhängig. Zudem bestehen erhebliche Unterschiede bei der Bestimmung des richtigen kartellrechtlichen Bußgeldadressaten. Während in einigen Rechtsordnungen der kartellrechtliche Adressatenkreis sehr weit ausgedehnt wird, beispielsweise auf Muttergesellschaften sowie rechtliche und wirtschaftliche Nachfolger von Unternehmen, sehen andere Rechtsordnungen solche Möglichkeiten nicht vor. Eine Fallverteilung kann somit die ursprüngliche Verantwortlichkeit von Tochtergesellschaften auf Muttergesellschaften ausdehnen, wenn dies nach dem Kartellsanktionsrecht des jeweiligen Netzmitglieds möglich ist. Zudem enthalten die Rechtsordnungen der Netzmitglieder unterschiedliche Bestimmungen hinsichtlich der Bußgeldbemessung. Während etwa Art. 23 II VO 1/2003 von den Unionsorganen als Kappungsgrenze interpretiert wird, hat der BGH jüngst das deutsche Pendant in § 81 IV S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze

E. Die Kronzeugenbehandlung

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ausgelegt. Eine Fallverteilung kann somit auch immense Auswirkungen auf die ursprüngliche Bußgeldhöhe haben. Das Problem verschärft sich dann, wenn die gerichtliche Kontrolle eines Bußgeldbescheids unterschiedlich ausfällt. Hier können untereinander abweichende verfahrensrechtliche Vorschriften oder eine nicht so weitreichende Kontrolldichte durch die Gerichte die Unternehmen im Hinblick auf die Nachweisbarkeit eines rechtmäßigen Verhaltens benachteiligen.40 Dies ist im Lichte eines effektiven Rechtsschutzes kritisch zu sehen. Solchen Risiken sind Unternehmen innerhalb des ECN mangels eines kohärenten Sanktionssystems stets ausgesetzt. Diese bestehen seit Einführung der VO 1/2003 und verschärfen sich zusätzlich, wenn Kronzeugenanträge gestellt werden.

E. Die Kronzeugenbehandlung I. Allgemeines Kronzeugen wirken insbesondere bei geheimen Wettbewerbsbeschränkungen maßgeblich an der Aufdeckung und Zerschlagung von kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen mit. Nahezu alle Rechtsordnungen innerhalb der Europäischen Union kennen daher Kronzeugenregelungen, die beinahe die wichtigste Rolle bei der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV einnehmen. Unternehmen lassen sich „Straffreiheit“ in Form von einem vollständigen Erlass oder auch in Form einer Reduzierung von Kartellsanktionen versprechen, wenn sie freiwillig eine kartellrechtliche Zuwiderhandlung offenlegen und die Ermittlungen der Wettbewerbsbehörden unterstützen. Kronzeugenprogramme sind daher aus der kartellrechtlichen Praxis nicht mehr wegzudenken. Mittlerweile werden in fast 90 Prozent der Fälle vor allem geheime Kartelle mithilfe von Kronzeugen aufgedeckt.41 Dem Grunde nach sind Kronzeugenprogramme – bis auf wenige Kollateraleffekte,42 die jedoch für eine effektive und effiziente Kartellrechtsdurchsetzung hinzunehmen sind – aus wettbewerbstheoretischer Sicht zu begrüßen. Je mehr Unternehmen freiwillig Kartelle aufdecken, die ohne Mitwirkung der Unternehmen durch die Kartellbehörden nur schwerlich zu ermitteln sind, desto weniger Schäden erleidet der gemeinsame Markt. Hierfür wird auch der Preis der Sanktionslosigkeit mancher Rechtsverletzungen hingenommen, wenngleich dies messbar suboptimal erscheint.43 40 Dies gilt vor allem bei der Widerlegung der sog. Akzo-Vermutung des EuGH v. 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Slg. 2009, I-8237, Rn. 57 – Akzo Nobel im Rahmen der Konzernhaftung, vgl. dazu unten, § 6 A. II. 2. 41 Vgl. dazu Soltész, EuGH-Urteil zu kartellrechtlichen Selbstanzeigen. Den Zacken aus der Krone, Legal Tribune Online, 20.1.2016. 42 Vgl. dazu ausführlich Stockmann, ZWeR 2012, S. 20, 29 ff. 43 Oppermann, Ad Legendum 2015, S. 197, 203 mit Verweis auf Wilsin: The More Economic Approach to European Competition Law. Conferences on New Political Economy 24 (2007), S. 203.

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§ 4 Behördenkooperation im ECN

Ungeachtet der Tatsache, dass der Siegeszug solcher kartellrechtlichen Kronzeugenregelungen unaufhaltsam erscheint, gibt es gegenwärtig in Ermangelung vollständig harmonisierter Kronzeugensysteme keinen verbindlichen Rechtsrahmen innerhalb des ECN, der durch einheitliche Standards für Immunität Rechtssicherheit und Transparenz für Kronzeugen garantiert. Unternehmen sehen sich innerhalb der Europäischen Union somit mit einer Vielzahl von Kronzeugenprogrammen konfrontiert. Bis auf Malta hat jeder Mitgliedstaat sein eigenes Kronzeugenprogramm zusätzlich zu dem Kronzeugenprogramm der Kommission. Von daher bestehen derzeit 28 verschiedene Kronzeugenprogramme, auch wenn die einzelnen Regelungen sich in den grundlegenden Prinzipien gleichen und sich an dem allgemeinen Zweck von Kronzeugenregelungen orientieren.44 Die sich aus den nationalen Rechtsordnungen ergebenden Unterschiede behindern jedoch eine aufeinander abgestimmte Koordinierung einzelner Wettbewerbsbehörden. Zudem besteht durch diese Unterschiede eine erhebliche Rechtsunsicherheit für die betroffenen Unternehmen, die einen Kronzeugenantrag in Erwägung ziehen. Daher wurde von der Kommission das ECN-Kronzeugenmodell (ECN-Modell) erlassen, um sicherzustellen, dass potentielle Antragsteller nicht durch die unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten abgeschreckt werden, einen Kronzeugenantrag zu stellen. Das ECN-Modell hat jedoch keinen verbindlichen Charakter für die Mitgliedstaaten, so dass sie sich an dieses Instrument nicht gebunden fühlen müssen.45 Vielmehr setzt das ECN-Modell einen Regelungsrahmen für die Behandlung von Kronzeugenanträgen und dient als Vorlage für eine Angleichung der nationalen Kronzeugenprogramme. Vom ECN-Modell gehen somit lediglich Empfehlungen für Konvergenztendenzen der Kartellsanktionsverfahren innerhalb des ECN aus (soft harmonization). Das ECN-Modell wurde zwar nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht, ist jedoch samt Erläuterung auf der Internetseite der Kommission abrufbar.46 Von dem ECN-Kronzeugenmodell zu unterscheiden ist die Kronzeugenmitteilung der Kommission, wonach Bußgelder erlassen oder ermäßigt werden können.47 Damit der Druck auf Kartellmitglieder erhöht wird, schon frühzeitig einen entsprechenden Kronzeugenantrag zu stellen, sieht das ECN-Modell die Möglichkeit vor, einen Marker zu setzen.48 Ein Marker schützt den Rang eines Antragstellers für einen befristeten Zeitraum, damit dieser ausreichend Zeit hat für die Sammlung von Informationen und Beweismitteln. Dabei steht es im Ermessen der Wettbewerbsbehörde, ob sie einen Marker zugesteht oder nicht.49 In der Praxis gewäh44

Hölzel, Kronzeugenregelungen im Europäischen Wettbewerbsnetz, S. 159. EuGH v. 20.1.2016, Rs. C-428/14 – DHL. 46 http://ec.europa.eu/competition/ecn/model_leniency_de.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 47 Vgl. dazu § 6 A. III. 3. b). 48 ECN-Modell, Rn. 16. 49 ECN-Modell, Rn. 17. 45

E. Die Kronzeugenbehandlung

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ren mittlerweile fast alle Wettbewerbsbehörden innerhalb des ECN einen solchen Marker. Wurde einem Unternehmen im Hinblick auf eine bestimmte Kartellrechtsverletzung ein Marker zugestanden, kann keinem anderen Unternehmen in Bezug auf dieselbe kartellrechtliche Zuwiderhandlung erlaubt werden, den markierten Platz einzunehmen, selbst dann nicht, wenn das andere Unternehmen die Ermittlungen der Wettbewerbsbehörde besser vorantreiben würde.50 Somit kam es in den letzten Jahren zu einem Wettlauf zwischen den potentiellen Whistleblowern um die erste Selbstanzeige, wodurch die Aufdeckungswahrscheinlichkeit von kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen extrem angestiegen ist.

II. Multi-Stop-Shop innerhalb des ECN Wenngleich Kronzeugenprogramme aus wettbewerbstheoretischer Sicht eine Erfolgsgeschichte geschrieben haben und aus den Wettbewerbsordnungen im ECN nicht mehr wegzudenken sind, bergen divergierende Kronzeugensysteme innerhalb des ECN ebenfalls erhebliche Risiken für die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sowie für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Kooperation zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden, indem sich die Kronzeugenregelungen gegenseitig negativ beeinflussen,51 sowie im Hinblick auf das unternehmerische Kalkül, einen etwaigen Kronzeugenantrag zu stellen. Denn in Ermangelung eines gemeinschaftsweiten Systems vollständig harmonisierter Kronzeugenprogramme gilt ein Antrag auf Kronzeugenbehandlung bei einer bestimmten Behörde nicht als Antrag auf Kronzeugenbehandlung bei einer anderen Behörde.52 Erschwerend kommt hinzu, dass eine Kronzeugenbehandlung durch die eine Wettbewerbsbehörde keine Verbindlichkeiten für andere Wettbewerbsbehörden begründet. Die Mitglieder des ECN sind vielmehr unabhängig voneinander bei der Beurteilung, ob ein Kronzeugenantrag nach dem eigenen nationalen Recht auch tatsächlich zur Kronzeugenbehandlung führt oder nicht. Es liegt daher im Interesse der Unternehmen, bei allen Wettbewerbsbehörden des ECN eine Kronzeugenbehandlung zu beantragen, die gut geeignet sein können, gegen die fragliche Zuwiderhandlung vorzugehen.53 Die Unternehmen sollten laut der Netzwerkbekanntmachung auch in Erwägung ziehen, ob nicht eine gleichzeitige Beantragung von Kronzeugenbehandlung bei den in Frage kommenden Wettbewerbsbehörden angebracht wäre. In jedem Fall ist es jedoch Sache des Antragstellers, die jeweili50

Oppermann, Ad Legendum 2015, S. 197, 200. Dazu Billiet, ECLR 2009, S. 14, 19 f.; Bloom, in: Ehlermann/Atanasiu (Hrsg.), ECLA 2006, S. 543, 553 f.; Reynolds/Anderson, ECLR 2006, S. 82, 88; Hetzel, EuR 2005, S. 735, 735; ders., Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 160; Puffer-Mariette, Die Effektivität von Kronzeugenregelungen, S. 138, 151. 52 ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 38. 53 Vgl. dazu ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 8–15. 51

100

§ 4 Behördenkooperation im ECN

gen Maßnahmen zu ergreifen, die er zum Schutz seiner Position in Bezug auf mögliche Sanktionen für angebracht hält.54 Dieses Multi-Stop-Shop-Prinzip führt letztlich zu einer Zuständigkeitsvermehrung innerhalb des ECN.55 Das Stellen mehrerer paralleler Anträge bei verschiedenen Netzmitgliedern ist daher aufgrund der Unterschiede zwischen den verschiedenen Kronzeugenregelungen der einzelnen Netzmitglieder ein aufwendiges und vor allem kostspieliges Verfahren. Die Unternehmen müssen also auf eigenes Risiko antizipieren, welche Wettbewerbsbehörde möglicherweise erfolgreich Immunität gewähren wird. Bei Fällen, die in die Zuständigkeit mehrerer Wettbewerbsbehörden fallen, kann das Stellen vollständiger Anträge bei allen möglicherweise zur Bearbeitung des Falles gut geeigneten Wettbewerbsbehörden eine große verfahrensrechtliche sowie finanzielle Belastung für die Unternehmen darstellen, die Antragsteller von der Beantragung einer entsprechenden Kronzeugenbehandlung abschrecken könnte. Daher sieht das ECN-Modell neben der Möglichkeit, einen Marker zu setzen, auch die Möglichkeit von sog. Kurzanträgen vor.56 Hiernach kann der Antragsteller, der beispielsweise bei der Kommission einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung eingereicht hat, zusätzlich einen Kurzantrag bei der nationalen Wettbewerbsbehörde stellen, die seiner Auffassung nach auf Grundlage der Netzwerkbekanntmachung gut geeignet sein könnte, sich des Falles anzunehmen. Damit soll der Aufwand für die Unternehmen gemindert werden, der dadurch entsteht, dass es Sache der Unternehmen selbst ist, bei allen in Betracht kommenden Wettbewerbsbehörden, die für die Bearbeitung des Falles gut geeignet sind, eine Kronzeugenbehandlung zu beantragen.

III. Verfahrensrechtliche Risiken für Unternehmen Ähnlich wie der Verteilungsmechanismus zwischen den Wettbewerbsbehörden ist eine positive Kronzeugenbehandlung für Unternehmen daher nur schwer kalkulierbar. Die Risiken, die sich dabei für Unternehmen in der Praxis stellen können, ergeben sich zunächst einmal daraus, dass die Kronzeugensysteme der unterschiedlichen Wettbewerbsbehörden keine einheitlichen Voraussetzungen für eine Immunität aufweisen (1). Zudem garantiert die Gewährung einer Immunität durch die eine Wettbewerbsbehörde nicht unbedingt eine gemeinschaftsweite Immunität innerhalb des ECN (2). Daher könnte unter Umständen der Grundsatz ne bis in idem verletzt sein (3).

54 55 56

ABl. 2004 Nr. C 101, S. 43, Rn. 38. Vgl. Soltész, WuW 2005, S. 616, 616. Vgl. ECN-Modell, Rn. 22.

E. Die Kronzeugenbehandlung

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1. Unterschiedliche Voraussetzungen für Immunität Obwohl sich alle Kronzeugenregelungen der Netzmitglieder an grundlegenden Prinzipien und dem allgemeinen Zweck von Kronzeugenprogrammen orientieren (z. B. Erlass oder Reduzierung der Geldbuße bei freiwilliger Kooperation durch die Unternehmen), unterscheiden sich die Kronzeugenregelungen jedoch in den Voraussetzungen, die zu einer positiven Kronzeugenbehandlung führen können. Gerade in den Details der einzelnen Regelungen bestehen erhebliche Diskrepanzen, die den Unternehmen eine sinnvolle Antragstellung erschweren.57 Um nur einige relevante Beispiele zu nennen: So bestehen bereits erste Unterschiede zwischen den Kronzeugenregelungen der Wettbewerbsbehörden, inwieweit vertikale Hardcore-Kartelle vom Anwendungsbereich der Kronzeugenregelungen umfasst sein sollen.58 Während beispielsweise die Kronzeugenmitteilung der Kommission59 und die Bonusregelung des BKartA60 sich auf horizontale Absprachen beschränken, erfassen einige Mitgliedstaaten wie etwa Finnland, Schweden und Großbritannien darüber hinaus auch vertikale Kaufpreisvereinbarungen in ihren Kronzeugenregelungen.61 Abgesehen davon, dass die Abgrenzung zwischen vertikalen und horizontalen Absprachen in marginalen Bereichen selbst für fachkundige Kartellrechtler sich als schwierig erweist, müssen Unternehmen, die einen Kronzeugenantrag stellen möchten, sich in die Rechtsordnung aller Mitgliedstaaten einarbeiten, auf die sich ihr Verhalten potentiell auswirken könnte. Aus präventionsrechtlicher Sicht ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass Unternehmen absehen können, ob ein Kronzeugenantrag Erfolg haben wird, da ansonsten die recht unübersichtlichen Rechtsordnungen innerhalb des ECN die Kronzeugenprogramme ihrer Wirkung berauben. Ein weiteres Dilemma, in dem sich Unternehmen bei der Beantragung einer Kronzeugenbehandlung befinden können, ist die nahezu gleiche Voraussetzung aller Kronzeugenregelungen, dass die Unternehmen ihre Teilnahme an dem Kartell unverzüglich nach dessen Offenlegung beenden müssen. Jedoch weicht die behördliche Handhabung dieser Voraussetzung innerhalb des ECN teilweise voneinander ab. So hat sich in der Praxis einiger Wettbewerbsbehörden die Einsicht durchgesetzt, dass eine sofortige Beendigung des Kartells nach der Offenlegung die Ermittlungen der Wettbewerbsbehörde erschweren könnte, da andere Unter57 Einen aufschlussreichen Überblick zu den unterschiedlichen Regelungen gibt Hölzel, Kronzeugenregelungen im Europäischen Wettbewerbsrecht, S. 158 ff. 58 Dazu Weck, ECLR 2010, S. 394, 398. 59 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. C 298 v. 8.12.2006, Rn. 1. 60 BKartA, Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung, Rn. 1. 61 Dazu Schroeder/Heinz, in: Cseres/Schinkel/Vogelaar (Hrsg.), Criminalization of Competition Law, S. 161, 163.

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§ 4 Behördenkooperation im ECN

nehmen Verdacht schöpfen und das Kartell komplett auflösen könnten. Um diese Verdunkelungsgefahr zu vermeiden, praktizieren neben der Kommission insbesondere die Wettbewerbsbehörden in Deutschland, Frankreich und Großbritannien eine recht flexible Handhabung der sofortigen Beendigung der Teilnahme an einem Kartell. Hingegen sehen Kronzeugenregelungen anderer Mitgliedstaaten eine sofortige Beendigung nach Offenlegung des Kartells vor.62 Hier bewegen sich die Unternehmen ebenfalls stets auf dünnem Eis, etwa dann, wenn mehrere Kronzeugenregelungen einschlägig sind, die sich gegenseitig widersprechen. Dann liegt mindestens auf der einen Seite ein Verstoß gegen die uneingeschränkte Kooperationspflicht seitens der Unternehmen vor, wodurch bei mindestens einer Behörde keine Immunität gewährt werden kann. Besteht beispielsweise ein Kartell, das sich sowohl auf den deutschen als auch auf den dänischen Markt auswirkt, und will das Unternehmen in beiden Mitgliedstaaten einen Kronzeugenantrag stellen, dann wird es riskieren müssen, entweder in Deutschland oder in Dänemark die Voraussetzungen für die Kronzeugenbehandlung nicht zu erfüllen.63 Während in Dänemark eine sofortige Beendigung der Beteiligung an dem Kartell mit Antragstellung auf Kronzeugenbehandlung vorgesehen ist, kann die deutsche Wettbewerbsbehörde unter Umständen das Unternehmen verpflichten, das Kartell fortzuführen, bis die Ermittlungen der Wettbewerbsbehörde abgeschlossen sind. Dass hiervon Unternehmen abgeschreckt werden können, ihre Beteiligung an einem Kartell überhaupt offenzulegen, verwundert nicht. Daran mag auch nichts ändern, dass die Mitgliedstaaten sich bemühen sollen, eine Benachteiligung von Unternehmen dadurch zu verhindern, dass sie flexibel ihr Ermessen ausüben und aufeinander abstimmen.64 2. Keine rechtliche Bindungswirkung einer behördlichen Immunität gegenüber einer anderen Behörde Denn die flexible Ausübung des behördlichen Ermessens bei der Gewährung von Kronzeugenimmunität ist spätestens seit dem DHL-Urteil des Gerichtshofs besonders problematisch geworden, indem er klargestellt hat, dass sämtliche Instrumente des ECN, wie beispielsweise das ECN-Modell, für nationale Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich sind.65 Zwischen Kronzeugenanträgen bei den einzelnen Wettbewerbsbehörden besteht kein rechtlicher Zusammenhang, mit der Folge, dass Unternehmen sich nie sicher sein können, ob nicht doch eine Behörde die Kronzeugenbehandlung ablehnt und entsprechende Sanktionen erlässt. Das DHL-Urteil des Gerichtshofs zeigt daher illustrativ, wie schnell ein Kronzeu-

62 63 64 65

Dazu Schroeder, in: FS Bechtold, S. 437, 442 f. Dazu Hölzel, Kronzeugenregelungen im Europäischen Wettbewerbsrecht, S. 163. Bloom, in: Ehlermann/Atanasiu (Hrsg.), ECLA 2006, S. 543, 555. EuGH v. 20.1.2016, Rs. C-428/14 – DHL.

E. Die Kronzeugenbehandlung

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genantrag durch Unternehmen innerhalb des ECN ad absurdum geführt werden kann. In diesem Fall hatte DHL sowohl einen Kronzeugenantrag bei der Kommission als auch einen sog. Kurzantrag bei der italienischen Kartellbehörde wegen wettbewerbswidriger Absprachen im Frachtgeschäft gestellt. Der bei der Kommission am 5. Juni 2007 gestellte Antrag auf Erlass der Geldbußen betraf mehrere Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht der Union auf dem Sektor der internationalen Frachtverkehrsdienste. Die Kommission gewährte in der Folge am 24. September 2007 einen bedingten Erlass der Geldbuße für den gesamten Sektor des internationalen Frachtverkehrs, also für den See-, Luft- und Straßenfrachtverkehr. Am 20. Dezember 2007 unterrichtete DHL die Kommission über bestimmte Punkte, die Verhaltensweisen betrafen, die in Italien auf dem Sektor des internationalen Straßenfrachtverkehrs beobachtet wurden. Im Juni 2008 beschloss die Kommission, nur den Teil des Kartells zu verfolgen, der die Frachtdienste im internationalen Luftverkehr betraf, und gab somit den nationalen Wettbewerbsbehörden die Möglichkeit, die Verstöße betreffend die Frachtdienste im Seeverkehr und auf der Straße zu verfolgen. Parallel dazu reichte DHL am 12. Juni 2007 nach der nationalen Kronzeugenregelung einen sog. Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße bei der italienischen Kartellbehörde ein. In diesem Antrag lieferte DHL Informationen über rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem Markt des internationalen Frachtverkehrs. Nach Ansicht der italienischen Kartellbehörde betraf diese Erklärung aber nur den Sektor des internationalen See- und Luftfrachtverkehrs, nicht aber den Straßenfrachtverkehr – und genau hier liegt die Brisanz des Urteils. DHL vertrat die Auffassung, dass der genannte Kurzantrag rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem gesamten Markt des internationalen Frachtverkehrs betroffen habe. Der Kurzantrag bei der italienischen Kartellbehörde habe nur deshalb keine konkreten und spezifischen Beispiele von Verhaltensweisen im Straßenverkehr enthalten, weil solche Beispiele noch nicht entdeckt gewesen seien. In der Folgezeit stellte DHL am 23. Juni 2008 in Ergänzung ihres ersten Antrags einen zusätzlichen Kurzantrag bei der italienischen Kartellbehörde, um den Antrag auch ausdrücklich auf den Sektor des internationalen Straßenfrachtverkehrs zu beziehen. In der Zwischenzeit hatte jedoch ein anderes Kartellmitglied, Schenker, nach dem ersten Kurzantrag, jedoch vor dem zweiten Ergänzungsantrag von DHL einen Antrag auf Erlass der Geldbuße bei der Kommission gestellt, der sich zunächst auf den Seefrachtverkehr und später dann auf den Straßenfrachtverkehr bezog. Darüber hinaus stellte Schenker bei der italienischen Kartellbehörde einen Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung und lieferte Informationen über den Straßenfrachtverkehr in Italien. Die italienische Kartellbehörde eröffnete am 18. November 2009 ein Verfahren, um eventuelle Verstöße gegen Art. 101 AEUV auf dem Sektor des internationalen Frachtverkehrs festzustellen. Sie stellte am 15. Juni 2011 fest, dass mehrere Unternehmen, darunter auch DHL und Schenker, unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV an einem Kartell auf dem Sektor der internationalen Straßenfrachtverkehrsdienste von und nach

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§ 4 Behördenkooperation im ECN

Italien beteiligt waren. Infolge dieser komplizierten Fallkonstellation ging die italienische Kartellbehörde davon aus, dass Schenker das erste Unternehmen gewesen sei, das in Italien einen Antrag auf Erlass der Geldbuße hinsichtlich des Straßenfrachtverkehrs gestellt habe, weswegen gegen Schenker nach dem italienischen Recht keine Geldbuße verhängt wurde. DHL und andere Unternehmen wurden hingegen zur Zahlung einer Geldbuße verurteilt. Problematisch an diesem Fall war der Umstand, dass die italienische Kartellbehörde den Hauptantrag von DHL bei der Kommission nicht berücksichtigt hat. Bei einer Berücksichtigung des Hauptantrags durch die italienische Kartellbehörde wäre DHL der erste Rang zugeteilt worden, mit der Folge, dass DHL in den Genuss des Erlasses der gesamten Geldbuße gekommen wäre. 3. Ne bis in idem Diese missliche Rechtslage innerhalb des ECN ist im Lichte des ne bis in idem-Grundsatzes, der auch im Kartellverfahrensrecht Anwendung findet,66 kritisch zu sehen, wenn etwa einem Unternehmen durch die eine Wettbewerbsbehörde bußgeldrechtliche Immunität gewährt wird, es von einer anderen Wettbewerbsbehörde jedoch wegen der fehlenden rechtlichen Bindungswirkung des ECN-Modells bebußt wird. Während der Ursprung des Doppelbestrafungsverbots in den nationalen Strafverfahrensvorschriften und dem Recht auf ein faires Verfahren zu sehen ist, gilt dieser Grundsatz nach Art. 50 GRC und Art. 7 EMRK darüber hinaus auch als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts. Mit der Einführung der VO 1/2003 und der damit verbundenen dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV kommt dem ne bis in idem-Grundsatz seitdem größere Bedeutung zu. Wenn schon die rechtliche Bindungswirkung des ECN-Modells verneint wird, sollte zumindest darüber nachgedacht werden, ob im ne bis in idemGrundsatz ein echtes Verfolgungsverbot für nationale Wettbewerbsbehörden und Kommission gesehen werden sollte.67 Stattdessen beharren die Wettbewerbsbehörden weiterhin auf das vom EuGH entwickelte Anrechnungsprinzip, wonach in parallelen Verfahren von Kommission und nationalen Wettbewerbsbehörden aus Gründen der Billigkeit eine Berücksichtigung bereits verhängter Sanktionen erfolgen muss, die sich in der Verringerung der entsprechenden Geldbuße niederschlagen soll.68 Ein solches Verständnis des ne bis in idem-Grundsatzes ist in einem Multi-Stop-Shop in der Tat nur schwerlich vereinbar, wenngleich strafrechtliche Grundsätze eine graduelle Geltung innerhalb des ECN beanspru-

66 Grundlegend dazu EuGH v. 13.2.1969, Rs. 14/68, Slg. 1969 – Walt Wilhelm/Bundeskartellamt. 67 Vgl. dazu Hölzel, Kronzeugenregelungen im Europäischen Wettbewerbsnetz, S. 174 ff. m.w. N. 68 EuGH v. 13.2.1969, Rs. 14/68, Slg. 1969 Rn. 11 – Walt Wilhelm/Bundeskartellamt.

E. Die Kronzeugenbehandlung

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chen.69 Umso mehr ist es notwendig, über eine grundlegende Reform des Kronzeugenprogramms innerhalb des ECN nachzudenken.

IV. Lösungsansätze Im Zusammenhang mit den oben erörterten Risiken für Unternehmen, die erwägen, einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung zu stellen, strahlen enorme Anreizverluste für das Kronzeugenprogramm aus, das gemeinhin als unangefochtener Erfolgsmotor der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung innerhalb der Europäischen Union angesehen wird. Daher ist eine Reform des rechtlichen Systems unabdingbar, die darin bestehen könnte, eine einheitliche Anlaufstelle für Kronzeugenanträge zu gründen (One-Stop-Shop).70 Die Kronzeugenbehandlung bei der gemeinsamen Anlaufstelle müsste zudem infolge der DHL-Rechtsprechung des EuGH eine rechtliche Bindungswirkung gegenüber allen anderen Wettbewerbsbehörden haben, damit den Unternehmen nicht mehr die Last auferlegt wird, sich mit der Frage zu beschäftigen, welche Wettbewerbsbehörde möglicherweise in Betracht kommt, sich des Falles anzunehmen. Damit würden die Anreize, entsprechende Kronzeugenanträge zu stellen, drastisch erhöht, wodurch die Kartellverfolgung insgesamt an Effektivität und Effizient zunähme. Die Regelung des gegenwärtigen ECN-Modells führt zu einem erheblichen Mehraufwand sowohl für die Antragsteller als auch für die Netzmitglieder. Die Antragsteller werden gezwungen, bei allen Netzmitgliedern, die hypothetisch geeignet sein könnten, sich des Falles anzunehmen, eine Kronzeugenbehandlung zu beantragen. Dies führt dazu, dass mehrere Behörden sich gleichzeitig mit dem Fall befassen müssen. Das gegenwärtige System steht daher teilweise im Widerspruch zu dem Erwägungsgrund 18 der VO 1/2003, wonach ein Fall möglichst nur von einer einzigen Behörde behandelt werden sollte. Sinn und Zweck der Netzwerkbekanntmachung und auch des dezentralisierten Durchsetzungsregimes nach der VO 1/2003 ist gerade die Netzmitglieder durch eine Kooperation untereinander zu entlasten, um die Arbeit innerhalb des ECN zu erleichtern. Die gegenwärtige Regelung des ECN-Modells hat also einen doppelten negativen Effekt, der verfahrensökonomisch nicht zu rechtfertigen ist. Zum einen können Unternehmen aufgrund der Ungewissheit, welches Netzmitglied gut geeignet sein könnte, sich des Falles anzunehmen, davon abgehalten werden, einen entsprechenden Kronzeugenantrag zu stellen. Zum anderen werden mehrere Wettbewerbsbehörden durch eine parallele Einschaltung in ein und denselben Fall gleichzeitig belastet, was dem Sinn und Zweck der Netzwerkbekanntmachung zuwiderläuft und alles andere als eine effiziente und effektive Allokation von verfahrensrechtlichen Ressourcen innerhalb des ECN darstellt. 69

Dazu bereits oben, § 3 B. II. 2. c). Vgl. dazu ausführlich Hölzel, Kronzeugenregelung im Europäischen Wettbewerbsrecht/Ermittlungsinstrument unter Reformzwang, 2011, S. 256 ff. 70

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§ 4 Behördenkooperation im ECN

F. Zusammenfassung und Schlussfolgerung für den Fortgang der Untersuchung Der vorliegende Befund legt nahe, dass die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sowie das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes durch erhebliche verfahrensrechtliche Schieflagen innerhalb des ECN gehemmt werden, die darüber hinaus Rechtsunsicherheiten und Risiken für betroffene Unternehmen begründen. Diese Probleme sind dabei keineswegs neuartig, sondern bestehen dem Grunde nach seit der Einführung der VO 1/2003, die den Institutionalisierungsprozess des kartellrechtlichen Vollzugs in Europa, wohlgemerkt im Bewusstsein unterschiedlicher Verfahrenstraditionen der einzelnen Mitgliedstaaten, angestoßen hat. Daher ist die Kommission von Anfang an bemüht, auf die in diesem Kapitel Bezug genommenen verfahrensrechtlichen Probleme innerhalb des ECN durch unterschiedliche Empfehlungen, Bekanntmachungen und Mitteilungen aufmerksam zu machen, ohne dabei übermäßig in die Verfahrenstraditionen der einzelnen Mitgliedstaaten eingreifen zu wollen.71 Das ECN hat somit unter Federführung der Kommission über ein Jahrzehnt lang unterschiedliche Maßnahmen vorgeschlagen, die zu einer Verbesserung und Verrechtlichung des ECN führen sollten, jedoch ohne Erfolg. Heute, 13 Jahre nach Inkrafttreten der VO 1/2003, hat sich an diesem rechtlichen Zustand nichts verbessert, sondern eher verschlechtert, indem eine erhebliche Kluft zwischen jenen Rechtsordnungen entstanden ist, die sich diszipliniert an der europäischen Rechtspraxis orientieren, und jenen Rechtsordnungen, die sich weit davon distanzieren. Die Kommission fühlte sich daher nach einer öffentlichen Konsultation72 im Jahre 2015 in ihrer Annahme bestätigt, dass zur Herstellung eines kohärenten kartellrechtlichen Durchsetzungsregimes eine Maßnahme auf europäischer Ebene notwendig ist. Daher erließ die Kommission am 22. März 2017 einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksame Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes.73 Ob und inwieweit der RL-Vorschlag der Kommission tatsächlich für die aufgeworfenen Probleme innerhalb des ECN Lösungen findet, soll nun unter anderem im folgenden Kapitel näher untersucht werden. 71

Vgl. dazu bereits oben, § 4 A. Öffentliche Konsultation: Stärkung der nationalen Wettbewerbsbehörden zur wirksamen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts, 4.11.2015–12.2.2016, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/consultations/2015_effective_enforcers/index_de.html (zuletzt aufgerufen am 19.6.2017). 73 Kommission, Richtlinien-Vorschlag COM (2017) 142 final v. 22.3.2017, abrufbar unter https://ec.europa.eu/transparency/redoc/rep/1/2016/DE/1-2016-26-DE-F1-1.PDF (zuletzt aufgerufen am 19.6.2017); vgl. dazu auch die unterschiedlichen Stellungnahmen unterschiedlicher europäischen Organe und Institutionen, abrufbar unter: http:// eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/HIS/?uri=CELEX:52017PC0142&qid=1502876795 288 sowie die Stellungnahmen in der deutschen Literatur, z. B. König, NZKart 2017, S. 397 ff. und Chmeis, NZKart 2017, S. 403 ff. 72

§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des Europäischen Wettbewerbsnetzwerkes (ECN) Eine verfahrensrechtliche Konvergenz der nationalen Kartellsanktionsrechtsordnungen käme durch zwei Möglichkeiten in Betracht, zum einen durch eine Maßnahme auf europäischer Ebene, wie etwa durch eine Richtlinie nach Art. 288 III AEUV, oder aber durch eine nationalrechtliche Angleichung aufgrund eines faktischen Konvergenzdruckes durch die Mitgliedstaaten selbst. Von der ersten Möglichkeit hat die Kommission durch ihren RL-Vorschlag bereits Gebrauch gemacht. Da es sich bei diesem RL-Vorschlag bislang nur um einen Vorschlag nach Art. 294 II AEUV handelt, der noch im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet werden muss, begründet der RL-Vorschlag noch keine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten zur Umsetzung in das nationale Recht. Daher muss durchaus in Betracht gezogen werden, dass der RLVorschlag möglicherweise nicht erlassen wird, weshalb für diese Untersuchung die Notwendigkeit besteht, anderweitige Verpflichtungen aus dem europäischen Recht zu suchen und herauszuarbeiten, die zu einem faktischen Konvergenzdruck auf die Mitgliedstaaten führen können. Dieses Vorgehen ist auch hinsichtlich des einschlägigen Grundrechtsmaßstabs von großer Bedeutung, der freilich davon abhängt, ob eine Richtlinie vorliegt oder nicht. Im Falle einer Richtlinie, die zur Umsetzung in nationales Recht verpflichtet, sind die Mitgliedstaaten an die GRC gebunden, während eine anderweitige Verpflichtung, etwa aus dem effet utile-Grundsatz, sich im Spannungsfeld mehrerer Grundrechtsordnungen bewegen kann. Für den Besonderen Teil dieser Arbeit hat diese Differenzierung auch den Vorteil, dass das deutsche Kartellsanktionsrecht sowohl an dem RL-Vorschlag der Kommission als auch an dem effet utileGrundsatz gemessen werden kann, da der RL-Vorschlag, wie noch zu zeigen sein wird, nicht alle Probleme im deutschen Recht lösen kann, die gegenwärtig bestehen. Dass der RL-Vorschlag noch nicht erlassen ist, hat zur Folge, dass sich die folgenden Ausführungen nur hypothetisch auf eine künftige Umsetzung des RL-Vorschlags beziehen können, sollte der Vorschlag tatsächlich vom europäischen Gesetzgeber abgesegnet werden (A). Da ein solcher Vorschlag aber auch im Gesetzgebungsverfahren scheitern oder nicht in der ursprünglichen Fassung verabschiedet werden kann, nimmt diese Untersuchung auch hinsichtlich der Frage Stellung, ob und inwieweit ein faktischer Konvergenzdruck auf die Mitgliedstaaten besteht, ihre Kartellsanktionsregime auch ohne eine Maßnahme auf europäischer Ebene anzugleichen (B).

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

A. Konvergenz aufgrund einer Verpflichtung durch den Richtlinien-Vorschlag der Kommission I. Hintergrund und öffentliche Konsultation durch die Kommission Im Zeitraum 2013/2014 hat die Kommission das Funktionieren des Binnenmarktes unter der VO 1/2003 einer eingehenden Prüfung unterzogen. Die Ergebnisse hat die Kommission in einer Mitteilung über zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der VO 1/2003 veröffentlicht, in der sie zu dem Befund gekommen ist, dass trotz des signifikanten Anstiegs der Durchsetzungskraft der Art. 101, 102 AEUV aufgrund der tatkräftigen Unterstützung durch die nationalen Wettbewerbsbehörden noch erhebliche Defizite bestehen, die in divergierenden Verfahrensrechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten wurzeln.1 Diese Ergebnisse veranlassten die Kommission dazu, zwischen November 2015 und Februar 2016 eine öffentliche Konsultation durchzuführen, um Interessenträger mit und ohne kartellrechtliche Fachexpertise zu dem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes unter der VO 1/2003 zu befragen.2 Die Befragten waren überwiegend übereinstimmend der Meinung, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden im Hinblick auf die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV gestärkt werden müssten, um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten.3 Daher ist die Kommission der Auffassung, dass zur Herstellung eines kohärenten kartellrechtlichen Durchsetzungsregimes eine Maßnahme auf europäischer Ebene notwendig sei.

II. Die einzelnen Kapitel des Richtlinien-Vorschlags Der RL-Vorschlag sieht daher vor, dass nationale Wettbewerbsbehörden mit den notwendigen finanziellen sowie personellen Ressourcen unabhängig entscheiden sowie mit wirksamen Ermittlungs- und Sanktionsbefugnissen ausgestatten werden müssen, um kartellrechtliche Zuwiderhandlungen mit effektiven Sanktionen zu bekämpfen, die die nationalen Wettbewerbsbehörden gegebenenfalls auch selbstständig vor Gericht verteidigen können. Zudem müssen die nationalen Wettbewerbsbehörden die Befugnis haben, im Falle von grenzüberschrei1 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und Rat, Zehn Jahre Kartellrechtsdurchsetzung auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Ergebnisse und Ausblick, COM (2014) 453, 09.7.2014, abrufbar unter: http://eur-lex.euro pa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52014DC0453&from=EN (zuletzt aufgerufen am 19.6.2017). 2 Öffentliche Konsultation, Stärkung der nationalen Wettbewerbsbehörden zur wirksamen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts, 04.11.2015–12.02.2016, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/consultations/2015_effective_enforcers/index_de. html (zuletzt aufgerufen am 19.06.2017). 3 Zur Auswertung der Konsultation vgl. RL-Vorschlag, S. 13 f.

A. Konvergenz aufgrund einer Verpflichtung

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tenden Ermittlungen wirksame Amtshilfe bei anderen Wettbewerbsbehörden zu ersuchen. Das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes kann zudem für die Zukunft nur dann garantiert werden, wenn die Rechtsstellung von Kronzeugen aufgewertet wird. Diese unterschiedlichen Ziele haben ihren Niederschlag in den folgenden 10 Kapiteln des RL-Vorschlags gefunden, die aus insgesamt 34 Bestimmungen bestehen. 1. Gegenstand, Geltungsbereich und Begriffsbestimmungen Kapitel I definiert den Geltungsbereich in Art. 1 RL-Vorschlag sowie die wichtigsten darin verwendeten Begriffe in Art. 2 RL-Vorschlag, die weitestgehend auf der VO 1/2003 sowie der RL 2014/104/EU (Kartellschadensersatzrichtlinie) beruhen. Gegenstand des RL-Vorschlags ist die wirksame Anwendung der Art. 101, 102 AEUV sowie die Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts, da oftmals am Anfang von Ermittlungen nicht trennscharf zwischen beiden Rechtsordnungen unterschieden werden kann. Da die Mitgliedstaaten gem. Art. 3 VO 1/2003 neben dem nationalen Wettbewerbsrecht auch die Art. 101, 102 AEUV anwenden müssen, wird sich der RL-Vorschlag unweigerlich auch auf die angewendeten Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts auswirken. Dies wird im 3. Erwägungsgrund des RL-Vorschlags auch ausdrücklich betont. Durch Art. 1 I i.V. m. Art. 29 II des RL-Vorschlags wird zudem sichergestellt, dass Informationen, die auf der Grundlage der vorgeschlagenen Richtlinie erfasst werden, nur für den Zweck verwendet werden können, für den sie erhoben wurden, und nicht für die Verhängung von Sanktionen gegen natürliche Personen. 2. Grundrechte Kapitel II bestimmt in Art. 3 RL-Vorschlag, dass im Zusammenhang mit der Ausübung der Befugnisse durch die nationalen Wettbewerbsbehörden angemessene Vorkehrungen zu treffen sind, die mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und der GRC im Einklang stehen, insbesondere in Hinblick auf die Wahrung der Verteidigungsrechte der Unternehmen und ihr Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Damit bestimmt der RL-Vorschlag den einschlägigen Grundrechtsmaßstab bei der Umsetzung einer künftigen Richtlinie. Die Mitgliedstaaten haben sich hiernach an die Grundsätze des Unionsrechts und der GRC zu halten.4 Die nationalen Grundrechte werden somit verdrängt, soweit ein materieller Unterschied hinsichtlich der grundrechtlichen Gewährleistungen überhaupt noch vorliegt. Zu beachten ist jedoch, dass sich die Bindung der Mitgliedstaaten an die GRC nur insoweit beziehen kann, wie der RL-Vorschlag auch Vorkehrungen hinsichtlich der Umsetzung vorschreibt. Eine darüberhinausgehende oder von der Richtlinie abweichende Umsetzung durch 4

Chmeis, NZKart 2017, S. 403, 407.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

den nationalen Gesetzgeber bewegt sich hingegen innerhalb des grundrechtlichen Mehrebensystems zwischen nationalen Grundrechten sowie der GRC und EMRK.5 3. Unabhängigkeit und Ressourcen Nach Kapitel III müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden ihre Aufgaben und Befugnisse unparteiisch und im Interesse der wirksamen und einheitlichen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV wahrnehmen (Art. 4 RL-Vorschlag) sowie über die personellen, finanziellen und technischen Ressourcen verfügen, die sie für die Ausübung ihrer Aufgaben und Befugnisse benötigen (Art. 5 RL-Vorschlag). Damit soll unter anderem sichergestellt werden, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden ihre Aufgaben und Befugnisse unabhängig von politischer und anderer externer Einflussnahme erfüllen können, indem Weisungen von Regierungen oder anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen ausdrücklich ausgeschlossen werden. 4. Untersuchungs- und Entscheidungsbefugnisse Wirksame Untersuchungs- und Entscheidungsbefugnisse sind die wichtigsten Instrumente nationaler Wettbewerbsbehörden, um die Art. 101, 102 AEUV durchzusetzen. Jedoch unterscheiden sich die nationalstaatlichen Rechtsordnungen im Hinblick auf die Untersuchungs- und Entscheidungsbefugnisse in hohem Maße, was erhebliche Auswirkungen auf die Wirksamkeit solcher Instrumente haben kann. Daher werden die Mitgliedstaaten in Kapitel IV verpflichtet, unterschiedliche wirksame Befugnisse für die nationalen Wettbewerbsbehörden vorzusehen. Dazu gehören die Nachprüfungen in betrieblichen und anderen Räumlichkeiten (Art. 6 und 7 RL-Vorschlag), das Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen (Art. 8 RL-Vorschlag), der Erlass von Verbotsentscheidungen sowie verhaltensorientierte oder strukturelle Maßnahmen (Art. 9 RL-Vorschlag), der Erlass von einstweiligen Maßnahmen (Art. 10 RL-Vorschlag) und schlussendlich die Verbindlichkeitserklärung von Verpflichtungszusagen von Unternehmen (Art. 11 RL-Vorschlag). Damit diese, in weitestgehender Übereinstimmung an die Ermittlungs- und Entscheidungsbefugnisse der Kommission nach der VO 1/2003 angelehnten Instrumente nicht zum zahnlosen Tiger werden, müssen zudem Sanktionen verhängt werden, falls Unternehmen sich entsprechenden Maßnahmen nicht beugen sollten. 5. Geldbußen und Zwangsgelder Solche Sanktionen sollen künftig nach Maßgabe des Kapitels V des RL-Vorschlags erlassen werden, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass 5

Dazu unten, B. II.

A. Konvergenz aufgrund einer Verpflichtung

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nationale Wettbewerbsbehörden über wirksame Mittel verfügen, um Geldbußen und Zwangsgelder zu verhängen. Da innerhalb des ECN alle Mitgliedstaaten auf unterschiedliche Art und Weise kartellrechtliche Zuwiderhandlungen sanktionieren, etwa durch zivilrechtliche, verwaltungsrechtliche, strafrechtliche oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Maßnahmen, die unterschiedliche Wirksamkeit entfalten, werden gegenüber Unternehmen unterschiedliche Sanktionen mit unterschiedlicher Sanktionsintensität verhängt, je nachdem, welche nationale Wettbewerbsbehörde den betreffenden Fall bearbeitet. Während Unternehmen bei einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung beispielsweise bei einigen nationalen Wettbewerbsbehörden mit geringeren bis gar keinen Sanktionen rechnen können, verhängen andere nationale Wettbewerbsbehörden hingegen hohe Sanktionen oder gar Haftstrafen gegen Manager. Der unterschiedliche Rechtscharakter nationaler Sanktionssysteme führt zu einer inkohärenten Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV, weshalb Art. 12 und 13 RL-Vorschlag hier Mindestanforderungen an die Verhängung einer effektiven und effizienten verwaltungsrechtlichen Kartellsanktion durch nationale Wettbewerbsbehörden stellen. Dabei betont Art. 12 RL-Vorschlag, dass diese Verpflichtung auch unbeschadet der nationalen Rechtsvorschriften besteht, die für die Verhängung von Sanktionen in strafrechtlichen Gerichtsverfahren maßgeblich sind. Diese Verpflichtung wird sich maßgeblich auf das gegenwärtige deutsche Kartellsanktionsrecht im gerichtlichen Verfahren auswirken, das aufgrund des OWiG und der StPO strafrechtlich geprägt ist. Inwieweit das deutsche Recht in diesem Punkt nicht kongruent ist mit Art. 12 RL-Vorschlag, wird noch im Besonderen Teil dieser Arbeit ausführlich untersucht.6 6. Kronzeugenregelung Herzstück des RL-Vorschlags sind die Regelungen hinsichtlich der Kronzeugenbehandlung in Kapitel VI. Hier finden sich umfangreiche Vorgaben, die die einzelnen Mitgliedstaaten umzusetzen haben. Dies ist auch insofern erforderlich, da nur ein einheitliches Kronzeugensystem innerhalb des gesamten ECN eine wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sowie das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes auf der einen Seite und mehr Rechtssicherheit und Transparenz für Unternehmen auf der anderen Seite garantieren kann. In diesem kartellverfahrensrechtlich sensiblen Bereich sollen die Mitgliedstaaten daher möglichst deckungsgleiche Maßstäbe anlegen, damit die Attraktivität potentieller Kronzeugenanträge wieder zunehmen kann. Nur wenn Unternehmen nicht befürchten müssen, dass ihre Kronzeugenanträge durch unterschiedliche Voraussetzungen für Immunität oder durch die fehlende Bindungswirkung nationaler Kronzeugenbehandlungen ad absurdum geführt werden, indem sie durch freiwilliges 6

Dazu unten, § 7 D. III. 3.

112

§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

Offenlegen eines mutmaßlichen Kartells aufgrund einer rechtlich mangelhaften Selbstanzeige plötzlich selbst einer hohen Kartellsanktion entgegensehen, werden künftig vermehrt Kronzeugenanträge gestellt werden. Art. 16–22 RL-Vorschlag machen daher in Bezug auf die Kronzeugenbehandlung innerhalb des ECN detaillierte Vorgaben, die tief in nationale Verfahrensrechte, insbesondere im Hinblick auf die strafrechtliche Verfolgung von natürlichen Personen, eingreifen. Die Mitgliedstaaten müssen nach Art. 16 und 17 RL-Vorschlag dafür sorgen, dass nationale Wettbewerbsbehörden über Kronzeugenprogramme verfügen, auf deren Grundlage sie Unternehmen entweder einen Bußgelderlass oder eine Bußgeldreduktion gewähren können, wenn die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung von Kronzeugenregelungen nach Art. 18 RL-Vorschlag erfüllt sind, die weitgehend an das ECN-Modell angelehnt wurden. Damit sollen möglichst gleiche Voraussetzungen für die kartellrechtliche Immunität geschaffen werden, wonach nationale Wettbewerbsbehörden eine Kartellsanktion erlassen oder reduzieren können. Während Art. 19 RL-Vorschlag die Form umschreibt, die Kronzeugenanträge durch Unternehmen erfüllen müssen, stellen die Mitgliedstaaten nach Art. 20 RL-Vorschlag sicher, dass nationale Wettbewerbsbehörden im Rahmen ihres Ermessens Unternehmen auf Antrag hin einen Marker zugestehen, der den Rang eines Antragstellers in der Eingangsreihenfolge der Anträge schützt. Kern der Kronzeugenregelung innerhalb des ECN würde Art. 21 RL-Vorschlag sein, wonach Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass Unternehmen, die bei der Kommission in Bezug auf ein mutmaßliches geheimes Kartell entweder einen Marker beantragt oder einen vollständigen Antrag auf Kronzeugenbehandlung gestellt haben, hinsichtlich desselben Kartells einen Kurzantrag bei nationalen Wettbewerbsbehörden einreichen können, die ihrer Ansicht nach für die Bearbeitung des jeweiligen Falles geeignet sind (Abs. 1 und 2). Die nationalen Wettbewerbsbehörden müssen davon absehen, vom Antragsteller Informationen im Zusammenhang mit der in Rede stehenden kartellrechtlichen Zuwiderhandlung, die Gegenstand eines Kurzantrags ist, anzufordern, die über die Angaben zur Erfüllung der Voraussetzungen für einen Kurzantrag hinausgehen, bevor die Unternehmen einen vollständigen Antrag einreichen (Abs. 3). Damit sollen Unternehmen die Möglichkeit haben, sich den Antragsrang bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde zu sichern und innerhalb einer gesetzten Frist die notwendigen Beweise und Informationen für einen vollständigen Antrag einzureichen. Zudem müssen die Unternehmen die Möglichkeit haben, innerhalb einer angemessenen Frist bei den jeweiligen nationalen Wettbewerbsbehörden einen vollständigen Antrag auf Kronzeugenbehandlung einzureichen, die die Kurzanträge nach Abs. 1 vervollständigen, sobald die Kommission den jeweiligen Behörden mitgeteilt hat, in Bezug auf das mutmaßliche Kartell nicht mehr tätig zu werden (Abs. 6).

A. Konvergenz aufgrund einer Verpflichtung

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7. Amtshilfe In der Regelungsintensität eher zurückhaltend wurde hingegen bei den Bestimmungen zur Amtshilfe nationaler Wettbewerbsbehörden durch Kapitel VII des RL-Vorschlags darauf geachtet, dass diese Bestimmungen nicht übermäßig in nationale Verfahrenstraditionen eingreifen. Auch wenn zur Herstellung eines kohärenten Durchsetzungssystems innerhalb des ECN europarechtliche Maßnahmen erforderlich erscheinen, so erkennt die Europäische Union nationale Besonderheiten bei der Ausgestaltung nationaler Verfahrensrechte als Ausfluss der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie an und achtet sie. In Fragen der Amtshilfe lässt der RL-Vorschlag den Mitgliedstaaten daher einen großen Umsetzungsspielraum. Lediglich ein Mindestmaß an Effektivität und Effizienz sollte durch die Mitgliedstaaten garantiert werden. So soll die behördliche Kooperation insofern effizienzsteigernd verbessert werden, als Bedienstete und andere Begleitpersonen der ersuchenden Wettbewerbsbehörde Nachprüfungen der ersuchten Behörde beiwohnen können, um ihre Fachexpertise in Ermittlungsverfahren der ersuchten Behörde einbringen zu können (Art. 23 und 24 RL-Vorschlag). Gelegentlich müssen nationale Wettbewerbsbehörden auch in anderen Mitgliedstaaten Entscheidungen zustellen und vollstrecken. Daher finden sich auch Vorschriften hinsichtlich des Ersuchens um Zustellung vorläufiger Beschwerdepunkte und von Entscheidungen sowie des Ersuchens um Vollstreckung von Entscheidungen zur Verhängung von etwaigen Kartellsanktionen (Art. 25 und 26 RL-Vorschlag). Zustellung und Vollstreckung sollen insofern nicht durch unterschiedliche Verfahrensrechtordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten erschwert werden. 8. Verjährung Ferner sollen die Mitgliedstaaten nach Kapitel VIII des RL-Vorschlags sicherstellen, dass Verjährungsfristen für die Verjährung von Kartellvergehen durch ihr nationales Recht für die Dauer von Verfahren vor nationalen Wettbewerbsbehörden anderer Mitgliedstaaten oder vor der Kommission, die sich auf eine Zuwiderhandlung gegen die Art. 101, 102 AEUV beziehen, gehemmt werden (Art. 27 RL-Vorschlag). Hiermit soll gewährleistet werden, dass Verfahrensverzögerungen der ersuchenden Behörde, die die ersuchte Behörde nicht zu verantworten hat, nicht zur Verjährung für die Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgelder führen, wodurch Kartellsanktionen nicht mehr vollstreckt werden können. 9. Allgemeine Bestimmungen Im Hinblick auf die Stärkung nationaler Wettbewerbsbehörden hat der Gerichtshof in der vielbeachteten Entscheidung in der Sache VEBIC entschieden, dass Art. 35 VO 1/2003 dahingehend auszulegen sei, dass er einer nationalen

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

Regelung entgegensteht, die einer nationalen Wettbewerbsbehörde nicht die Befugnis einräumt, sich als Antragsgegnerin an einem gerichtlichen Verfahren zu beteiligen, das sich gegen die von ihr erlassene Entscheidung richtet. In Fortsetzung dieser Rechtsprechung wird daher durch Kapitel IX des RL-Vorschlags bestimmt, dass die für Wettbewerb zuständigen nationalen Verwaltungsbehörden, die ihre eigene Entscheidung mit der notwendigen Fachexpertise selbst am besten darlegen können, befugt sein sollen, ihre eigenen Entscheidungen selbstständig vor Gericht zu verteidigen (Art. 28 RL-Vorschlag). Dadurch soll tunlichst vermieden werden, dass durch die Befassung einer anderen Einrichtung mit der Verteidigung von Entscheidungen das Verfahren unnötig verzögert wird. Gerade in diesem Punkt werden bei einer künftigen Umsetzung des RL-Vorschlags maßgebliche Änderungen im deutschen Recht zu erwarten sein, das gerade im Hinblick auf die Rechte und Stellung des BKartA im gerichtlichen Kartellverfahren noch weit hinter den Anforderungen des Vorschlags zurücksteht.7 Zudem finden sich in diesem Kapitel Regelungen hinsichtlich des Informationsaustausches zwischen den Wettbewerbsbehörden nach Maßgabe des Art. 12 VO 1/2003, soweit es um die Erhebung und Verwendung von Beweismitteln zum Zwecke der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV geht (Art. 29 RLVorschlag). In Ergänzung zu Art. 22 RL-Vorschlag, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass natürliche Personen vor straf- und verwaltungsrechtlichen Sanktionen geschützt werden, falls diese einen Kronzeugenantrag stellen und aktiv mit der nationalen Wettbewerbsbehörde zusammenarbeiten, dürfen logischerweise Beweismittel, die im Rahmen des Art. 12 VO 1/2003 zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden ausgetauscht werden, nach Art. 29 I RL-Vorschlag nicht dazu verwendet werden, um Sanktionen gegen natürliche Personen zu verhängen. Durch Art. 29 IV RL-Vorschlag kommt zudem die besondere Bedeutung von Kronzeugen in Kartellverfahren zum Ausdruck, die möglichst davor geschützt werden sollen, aufgrund des Informationsaustausches zwischen nationalen Wettbewerbsbehörden nicht in den Genuss einer Kronzeugenbehandlung zu kommen. Hier werden detaillierte Vorgaben für die Mitgliedstaaten gemacht, unter welchen Voraussetzungen Kronzeugenerklärungen Gegenstand des Informationsaustausches zwischen nationalen Wettbewerbsbehörden sein können. Dies wird sich sicherlich auf die Sonderregelung des Art. 12 III VO 1/2003 auswirken, wonach unter bestimmten Voraussetzungen Informationen ausgetauscht werden können, um Sanktionen gegen natürliche Personen zu verhängen. Bei einer künftigen Umsetzung des RL-Vorschlags dürfte der Anwendungsbereich dieser Sonderregelung weitestgehend marginalisiert werden.8

7

Dazu unten, § 7 B. III. Dieser Umstand wirkt sich maßgeblich auf die Bestrebungen zur Kriminalisierung des Kartellrechts aus, vgl. dazu ausführlich oben, § 2 D. I. 8

A. Konvergenz aufgrund einer Verpflichtung

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Darüber hinaus sollen künftig Beweismittel unabhängig von dem jeweiligen Speichermedium als Beweismittel zulässig sein, wodurch die einschlägigen nationalen Verfahrensvorschriften dem digitalen Zeitalter angepasst werden sollen (Art. 30 RL-Vorschlag). Kapitel X enthält schlussendlich Bestimmungen hinsichtlich der Umsetzungsfrist, des Inkrafttretens sowie des Adressatenkreises einer künftigen Richtlinie (Art. 31–34 RL-Vorschlag).

III. Beurteilung des RL-Vorschlags im Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Befunde aus § 4 dieser Untersuchung Gegenstand des RL-Vorschlags ist – wie der Titel schon impliziert – die Stärkung der nationalen Wettbewerbsbehörden bei der Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten. Nur durchsetzungsstarke nationale Wettbewerbsbehörden, die allesamt mit vergleichbaren finanziellen und personellen Ressourcen sowie mit wirksamen Ermittlungs- und Sanktionsbefugnissen ausgestattet sind, können eine kohärente Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV gewährleisten. Hierfür greift der RL-Vorschlag – an manchen Stellen mehr, an manchen Stellen weniger – tief in nationales Verfahrensrecht ein. Die Vorgaben des RL-Vorschlags sind zwar aus rechtspolitischer Sicht zu begrüßen, können jedoch nur teilweise die in § 4 dieser Untersuchung festgestellten verfahrensrechtlichen Probleme lösen, die gegenwärtig innerhalb des ECN bestehen. 1. Konvergenz unterschiedlicher Kartellsanktionssysteme innerhalb des ECN Auszugehen ist zunächst von dem Rechtszustand, dass die Kartellsanktionssysteme innerhalb des ECN in hohem Maße divergieren und keine einheitlichen Standards kennen. Dieser Befund wurzelt vor allem in Art. 35 VO 1/2003, wonach es im Ermessen der Mitgliedstaaten liegt, jene Wettbewerbsbehörde zu bestimmen, die für die Anwendung und Durchsetzung von Art. 101, 102 AEUV zuständig ist. Dabei unterscheiden sich die nationalen Wettbewerbsbehörden im Hinblick auf den organisatorischen Aufbau sowie auf die finanziellen und personellen Ressourcen so stark, dass vor allem Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden unterschiedlich geregelt sind.9 Die künftigen Vorgaben des RL-Vorschlags können in diesem Punkt Abhilfe verschaffen, indem die nationalen Kartellsanktionsverfahren weitestgehend angeglichen werden. Die Stärkung der nationalen Wettbewerbsbehörden sowohl im behördlichen als auch im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren wirkt sich dergestalt effi-

9

Ausführlich dazu oben, § 4 A.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

zienzsteigernd auf die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sowie auf das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes insgesamt aus, indem nationale Wettbewerbsbehörden frei von politischen sowie sonstigen Einflüssen und mit den notwendigen finanziellen sowie personellen Ressourcen in die Lage versetzt werden, vor allem globale und geheime Kartelle mit wirksamen Ermittlungs- und Sanktionsbefugnissen zu bekämpfen. 2. Verbesserter Rechtsrahmen für die behördliche Amtshilfe Die finanzielle und personelle Besserstellung sowie die Ausstattung nationaler Wettbewerbsbehörden mit den notwendigen Befugnissen ist allein jedoch nicht ausreichend, um globale Wettbewerbsbeschränkungen wirksam zu bekämpfen. Da globale Kartelle nur aufgrund einer Kooperation unterschiedlicher Wettbewerbsbehörden wirksam bekämpft werden können, sind ersuchende Wettbewerbsbehörden auf die Mithilfe von ersuchten Behörden angewiesen. Dafür müssen beweiserhebliche Informationen zwischen den unterschiedlichen Wettbewerbsbehörden ausgetauscht werden (vgl. Art. 22 i.V. m. 12 VO 1/2003). Sowohl das Amtshilfeersuchen als auch der Informationsaustausch zwischen den Wettbewerbsbehörden scheitert jedoch nicht selten an unterschiedlichen nationalen Verfassungsstandards, die in den unterschiedlichen Grundrechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten wurzeln.10 Daher sieht der RL-Vorschlag auch eine Anpassung des rechtlichen Rahmens hinsichtlich der Amtshilfe und des Informationsaustausches zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden innerhalb des ECN vor, ohne dabei den besonderen Schutz von Kronzeugen außer Acht zu lassen. Vielmehr sind für einen wirksamen Schutz von Kronzeugen Beschränkungen des Informationsaustausches innerhalb des ECN notwendig, die Anreizverluste für etwaige Kronzeugenanträge minimieren sollen. Nicht ausdrücklich geregelt wird weiterhin der maßgebliche Grundrechtsschutz innerhalb des ECN, insbesondere im Hinblick auf den Informationsaustausch nach Art. 12 VO 1/2003, so dass unterschiedliche Standards nicht selten zu Beweisverwertungsverboten im Kartellsanktionsverfahren führen können. Jedoch bestimmt Art. 3 RL-Vorschlag, dass im Zusammenhang mit der Ausübung der in der Richtlinie vorgesehenen Befugnisse die nationalen Wettbewerbsbehörden an die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts sowie der GRC gebunden sind. Dadurch wird gewährleistet, dass die getroffenen Vorkehrungen durch die nationalen Wettbewerbsbehörden mindestens die Vorgaben der GRC erfüllen und im Einklang mit den Grundsätzen des Unionsrechts stehen. Hieran haben sich die Maßnahmen der nationalen Wettbewerbsbehörden, vor allem im Rahmen des Informationsaustausches, zu halten. Höhere oder niedrigere nationale Grundrechtsstandards werden damit auf die Gewährleistungen der GRC sowie auf die Vorga10

Dazu oben, § 4 A. u. B.

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ben aus den Grundsätzen des Unionsrechts reduziert oder angehoben. Dies hat in der kartellrechtlichen Praxis zur Folge, dass eine grundrechtliche Mehrfachprüfung11 innerhalb des ECN wohl nicht mehr notwendig sein wird. Dies erleichtert nicht nur die Kooperation zwischen den unterschiedlichen Wettbewerbsbehörden, sondern führt zwangsläufig zu mehr Rechtssicherheit bei den betroffenen Unternehmen hinsichtlich der Frage, welcher Grundrechtsschutz im Ergebnis maßgeblich ist. 3. Keine Vorgaben hinsichtlich des Verteilungsmechanismus Bedauerlicherweise finden sich im RL-Vorschlag keine Vorgaben, die den intransparenten Verteilungsmechanismus innerhalb des ECN regeln. Die Fallverteilung innerhalb des ECN richtet sich insbesondere nach der Netzwerkbekanntmachung, wonach Fälle möglichst von einer Behörde bearbeitet werden müssen, die gut geeignet ist, sich des Falles anzunehmen.12 Das entscheidende Kriterium der „guten Eignung“ wird dabei weder in der Netzwerkbekanntmachung noch in der VO 1/2003 in ausreichendem Maße klar definiert. In der Netzwerkbekanntmachung werden lediglich einige Voraussetzungen genannt, nach welchen Kriterien nationale Wettbewerbsbehörden oder die Kommission gut geeignet sein könnten, sich eines Falles anzunehmen, wobei diese Kriterien nicht immer transparent und objektiv nachvollziehbar sind. Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass gegen die Fallverteilung nur bedingte Rechtsschutzmöglichkeiten für Unternehmen bestehen. Auch in dem RL-Vorschlag wird hierzu keine Stellung genommen. Im Rahmen des ordentlichen Gesetzgebungsverfahren sollten daher durch den europäischen Gesetzgeber diskutiert werden, nach welchen Kriterien die Mitgliedstaaten und die Kommission eine gute Eignung für nationale Wettbewerbsbehörden annehmen können. 4. Kein One-Stop-Shop für Kronzeugen Ebenso wenig wird durch den RL-Vorschlag ein One-Stop-Shop für Kronzeugen innerhalb des ECN eingeführt, wonach Kronzeugenanträge bei einer Stelle eine netzwerkweite Bindung aller Wettbewerbsbehörden an den Kronzeugenantrag bewirken würde.13 Infolge der Rechtsprechung des EuGH in der Sache DHL, wonach das Unternehmen aufgrund einer auf divergierende Kronzeugensysteme innerhalb des ECN zurückgehende fehlerhaften Selbstanzeige nicht in den Genuss der „Straffreiheit“ gekommen ist, entstand das Bedürfnis nach einer einheitlichen Anlaufstelle für Kronzeugen, die europaweit nach gleichen Voraussetzun-

11

Dazu oben § 3 B. II. 1. Dazu oben § 4 D. I. 13 Zu den mit dem One-Stop-Shop verbundenen Vorteilen für Kronzeugen innerhalb des ECN vgl. oben, § 4 E. IV. 12

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gen Immunität gegen kartellrechtliche Sanktionen genießen könnten, wenn die allgemeinen Voraussetzungen einer Kronzeugenbehandlung vorliegen. Hingegen hat sich der RL-Vorschlag für die Beibehaltung des ECN-Modells entschieden, wonach Kronzeugen auf eigenes Risiko vollständige Anträge sowie Kurzanträge bei Wettbewerbsbehörden einreichen können, die ihrer Meinung nach den Fall möglicherweise bearbeiten könnten. Allerdings wird durch den RL-Vorschlag teilweise eine Bindungswirkung von Kronzeugenanträgen bei der Kommission gegenüber nationalen Wettbewerbsbehörden eingeführt, die zu mehr Rechtssicherheit und Transparenz für betroffene Unternehmen führen würde. Es bleibt somit grundsätzlich weiterhin bei der Eigenständigkeit nationaler Kronzeugensysteme, die jedoch dahingehend innerhalb des ECN institutionalisiert werden, als nationale Wettbewerbsbehörden teilweise an Kronzeugenanträge gebunden sind, die von Unternehmen bei der Kommission eingereicht werden. In Abkehr von der Rechtsprechung des EuGH in der Sache DHL, wonach sämtliche Instrumente des ECN, insbesondere im Hinblick auf das Kronzeugenmodell-Modell, für nationale Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich sind,14 soll mit dem RLVorschlag jedoch eine Bindungswirkung von Kronzeugenanträgen dahingehend begründet werden, dass nationale Wettbewerbsbehörden davon absehen müssen, von Unternehmen Informationen einzufordern, die über die Angaben für einen Kurzantrag hinausgehen, bevor die Kommission entschieden hat, ob sie hinsichtlich eines Falles weiter tätig wird (Art. 21 III und VI RL-Vorschlag). Erst falls die Kommission entschieden hat, hinsichtlich eines Falles nicht weiter tätig zu werden, sollen nationale Wettbewerbsbehörden befugt sein, von den betreffenden Unternehmen innerhalb einer angemessenen Frist Angaben für einen vollständigen Antrag zu verlangen.

IV. Vereinbarkeit des Richtlinien-Vorschlags mit dem Primärrecht Neben dieser rechtspolitischen Beurteilung muss der RL-Vorschlag auch primärrechtlichen Vorgaben entsprechen, was nicht unumstritten sein wird. Aus dem Umstand, dass der RL-Vorschlag in mehrfacher Hinsicht tief in nationales Verfahrensrecht eingreift, dürften sich mehrere Fragestellungen ergeben: Zunächst ist bereits zweifelhaft, ob das richtig gewählte Instrument (1) sich auf eine Rechtsgrundlage stützen kann (2), wobei auch die Wahrung der primärrechtlichen Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bezweifelt werden kann (3). Zudem muss der RL-Vorschlag mit grundrechtlichen Vorgaben vereinbar sein, wie sie sich aus der GRC ergeben (4). Schlussendlich sind noch einige Anmerkungen notwendig zu der Frage, welchen Grundrechtsmaßstab die

14

EuGH v. 20.1.2016, Rs. C-428/14 – DHL.

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Mitgliedstaaten bei der Umsetzung einer künftigen Richtlinie in nationales Recht anlegen müssten (5). 1. Wahl des richtigen Instruments Eine Konvergenz der nationalen Kartellsanktionsregime innerhalb des ECN kann durch den europäischen Gesetzgeber auf unterschiedliche Weise angestoßen werden. Rechtliche Instrumente können zunächst Verordnungen oder Richtlinien nach Art. 288 II, III AEUV sein. Verordnungen sind hinsichtlich ihrer Ziele sowie der vorgesehenen Mittel verbindlich und regeln einen Sachverhalt für alle Mitgliedstaaten einheitlich (Art. 288 II AEUV). Richtlinien hingegen sind nur in ihren Zielen verbindlich und überlassen den innerstaatlichen Stellen, also den einzelnen Mitgliedstaaten, die Wahl der geeigneten Mittel (Art. 288 III AEUV). Ob der europäische Gesetzgeber eine Verordnung oder Richtlinie erlässt, liegt allein in seinem Ermessen. Entscheidend ist, ob sich die verfolgten Ziele unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips am zweckdienlichsten mit einer Verordnung oder einer Richtlinie erreichen lassen.15 Die Kommission hat sich bei ihrem Vorschlag für eine Richtlinie nach Art. 288 III AEUV entschieden, so dass es Sache der Mitgliedstaaten wäre, die Vorgaben in nationales Recht umzusetzen. In der Sache soll der RL-Vorschlag die Wirksamkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden steigern, ohne ihnen eine Universallösung vorzuschreiben, wie es bei einer Verordnung der Fall sein könnte, da ansonsten in diesem besonders sensiblen Bereich übermäßig in Rechtstraditionen und institutionelle Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten eingegriffen werden könnte. Dies ist auch aufgrund der Hybridisierung des Kartellsanktionsrechts nur folgerichtig, da die Kartellsanktionsregime innerhalb des ECN in Teilen maßgeblich voneinander abweichen können und auf unterschiedlichen nationalen Rechtstraditionen beruhen. Auch wenn eine Maßnahme auf europäischer Ebene notwendig erscheint, um die verfahrensrechtlichen Schieflagen bei der Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV durch die Mitgliedstaaten zu beseitigen oder zumindest zu vermindern, müssen die Rechtstraditionen der unterschiedlichen Mitgliedstaaten doch hinreichend berücksichtigt werden, weshalb die Wahl einer Richtlinie wohl am zweckdienlichsten erscheint. Die Mitgliedstaaten können somit die am besten geeigneten Mittel zur Umsetzung der künftigen Vorgaben des RL-Vorschlags selbst wählen, wodurch den Mitgliedstaaten gleichzeitig ein großer Spielraum gelassen wird, diese Vorgaben umzusetzen. 2. Rechtsgrundlage Gleichwohl müsste sich die künftige Richtlinie auf einer Ermächtigungsgrundlage stützen lassen. Diese Frage wird vermutlich zu einer kontroversen Diskus15

Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 103 AEUV, Rn. 10.

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sion insbesondere im Rahmen des Gesetzgebungsverfahren führen, da nicht selten die Unzuständigkeit der Europäischen Union behauptet wird, wenn es um die Regelung nationaler Bereiche geht, die auf langjährigen Rechtstraditionen beruhen. Nach der wohl h. M. enthält die VO 1/2003 selbst keinen Gestaltungsauftrag für die Mitgliedstaaten, das nationale Kartellsanktionsrecht anzugleichen, wenngleich einige Bestimmungen aus der VO 1/2003 eine verfahrensrechtliche Konvergenz der nationalen Kartellverfahrensregime dringend erforderlich machen. Zu untersuchen ist daher, auf welche primärrechtliche Grundlage sich eine solche Richtlinie nach Art. 288 III AEUV stützen könnte. Dies ist insofern nicht ganz einfach, als prozedurale Gestaltungsmöglichkeiten aufgrund der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie grundsätzlich den Mitgliedstaaten vorbehalten sind. Davon darf jedoch dann eine Ausnahme gemacht werden, wenn das Gemeinschaftsinteresse die Herstellung gleichartiger Verhältnisse auf dem Binnenmarkt erforderlich macht. Dieses Spannungsverhältnis erkennt auch der RL-Vorschlag selbst und versucht zunächst, die Gründe und Ziele des Vorschlags darzulegen.16 Zwar sind in der VO 1/2003 unterschiedliche Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden geregelt, doch geht sie nicht auf die Mittel und Instrumente ein, mit deren Hilfe die nationalen Wettbewerbsbehörden die Art. 101, 102 AEUV anwenden, mit dem Ergebnis, dass viele nationale Wettbewerbsbehörden weder über die personellen noch über finanziellen Ressourcen verfügen, um die europäischen Wettbewerbsvorschriften dezentral durchsetzen. Deshalb soll der RL-Vorschlag die VO 1/2003 ergänzen, um die nationalen Wettbewerbsbehörden zu stärken und ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes insgesamt zu gewährleisten. Hierfür sollen die Vorgaben aus Art. 35 VO 1/2003 konkretisiert werden, demzufolge die Mitgliedstaaten jene Wettbewerbsbehörden bestimmen müssen, die die Art. 101, 102 AEUV mit den Befugnissen aus Art. 5 VO 1/2003 wirksam durchsetzen sollen. Grundsätzlich muss sich eine Maßnahme nach Art. 288 III AEUV aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 I S. 1 EUV auf eine klar abgrenzbare Rechtsgrundlage beziehen. Zu einer Maßnahme, die aber gleichzeitig mehrere voneinander untrennbare Zielsetzungen verfolgt, ohne dass die eine Zielsetzung gegenüber der anderen nebensächlich ist, hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass ausnahmsweise die Wahl mehrerer Rechtsgrundlagen nicht zu beanstanden ist, wenn sich die vorgesehenen Verfahren der jeweiligen Rechtsgrundlagen miteinander vereinbaren lassen.17 Die Kommission stützt sich bei ihrem RL-Vorhaben sowohl auf Art. 103 AEUV als 16

Vgl. dazu RL-Vorschlag, S. 2 ff. Zum Problem der doppelten Rechtsgrundlage vgl. EuGH v. 26.3.1987, Rs. 45/86, Slg. 1987, I-1493 – APS; EuGH v. 30.5.1989, Rs. 242/87, Slg. 1989, I-1425 – Erasmus; EuGH v. 11.6.1991, C-300/89, Slg. 1991, I-2867 – Titandioxid; EuGH v. 25.2.1999, C164/97, Slg. 1999, I-1139 – Schutz des Waldes; EuGH v. 29.4.2004, C-338/01, Slg. 17

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auch auf Art. 114 AEUV, da mehrere untrennbar miteinander verbundene Ziele verfolgt werden.18 Zunächst sollen die Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden gestärkt werden, um die Art. 101, 102 AEUV wirksam anzuwenden und durchzusetzen. Nur so lasse sich ein unverfälschter und gesunder Wettbewerb auf dem europäischen Binnenmarkt gewährleisten, um Verbraucher und Unternehmen nicht durch divergierende nationale Gesetze zu benachteiligen. Aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Gewährleistung einheitlicher Wettbewerbsbedingungen müssten zudem bei der Anwendung des nationalen Kartellrechts die gleichen Bedingungen gelten wie bei der Anwendung der Art. 101, 102 AEUV, da eine trennscharfe Unterscheidung zwischen nationalem und europäischem Recht vor allem am Anfang von Ermittlungen teilweise nicht möglich ist. Der RL-Vorschlag wirkt sich daher unweigerlich auch auf die Anwendung und Durchsetzung des rein nationalen Kartellrechts durch die nationalen Wettbewerbsbehörden aus. Schlussendlich müssten wirksame Vorschriften zur Amtshilfe zwischen den Wettbewerbsbehörden innerhalb des ECN geschaffen werden, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten. Maßnahmen, die bewirken, dass nationale Wettbewerbsbehörden über wirksame Mittel und Instrumente verfügen, um die Art. 101, 102 AEUV durchzusetzen, fallen unter Art. 103 AEUV, da sie dazu beitragen, die praktische Wirksamkeit der Durchsetzung der Vertragsartikel sicherzustellen. Dabei können Vorschriften nach Art. 103 II lit. e AEUV erlassen werden, um das Verhältnis zwischen den nationalen Rechtsvorschriften einerseits und den europäischen Wettbewerbsvorschriften andererseits festzulegen, sowie nach Art. 103 II lit. a AEUV, um die in Art. 101, 102 AEUV niedergelegten Grundsätze durch die Einführung von Geldbußen und Zwangsgeldern zu gewährleisten. Soweit es der Kommission um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes geht, das zwar als eigenständiges, aber von den anderen untrennbares Ziel verfolgt wird, reicht Art. 103 AEUV als Rechtsgrundlage nicht aus; insofern stützt sich die Kommission in ihrem RL-Vorschlag auch auf Art. 114 AEUV.19 Das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes soll dadurch sichergestellt werden, dass jene nationalen Rechtsvorschriften angepasst werden, die die nationalen Wettbewerbsbehörden an der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV hindern, wodurch Unternehmen und Verbraucher in ganz Europa beeinträchtigt werden, sowie durch die Gewährung eines Mindestmaßes an Rechtssicherheit, indem in allen Mitgliedstaaten gleiche Garantien und gleiche Instrumente zur Verfügung stehen, wenn das nationale Wettbewerbsrecht parallel zu den Art. 101, 102 AEUV angewandt wird. Zudem kann der gemeinsame Binnen-

2004, I-4829 – Kommission/Rat; EuGH v. 6.11.2008, C. 155/07, Slg. 2008, I-8103 – Parlament/Rat. 18 Vgl. dazu RL-Vorschlag, S. 5 ff. 19 Vgl. dazu RL-Vorschlag, S. 8 ff.

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markt nur dann reibungslos funktionieren, wenn wirksame Vorschriften zur Amtshilfe eingeführt werden, die die behördliche Kooperation innerhalb des ECN sicherstellen können. Dem Grunde nach verfolgt der RL-Vorschlag zwei übergeordnete Ziele: die wirksame Anwendung der europäischen Wettbewerbspolitik sowie das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes. Diese Ziele sind auch nicht voneinander trennbar in dem Sinne, dass sie durch unterschiedliche Instrumente erreicht werden könnten, denn um zu gewährleisten, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden befugt sind, das europäische Wettbewerbsrecht wirksam durchzusetzen, müssen Hindernisse im nationalen Recht beseitigt werden, die zu einer uneinheitlichen Durchsetzung und damit zur Verfälschung des Wettbewerbs im Binnenmarkt führen.20 Daher kann eine künftige Richtlinie zu Recht auf die doppelte Ermächtigungsgrundlage nach Art. 103 AEUV i.V. m. Art. 114 AEUV gestützt werden.21 3. Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Für die Ausübung der Zuständigkeit der Union gelten neben dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 I S. 2 AEUV zudem die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Das Subsidiaritätsprinzip wird in Art. 5 II EUV konkretisiert. Hiernach kann die Union tätig werden, wenn die Ziele der Europäischen Union weder auf nationalstaatlicher noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser erreicht werden können. Der Begriff der Subsidiarität lässt sich dahingehend definieren, dass der kleineren Einheit der Vorrang im Handeln gegenüber der größeren Einheit nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit zukommt.22 In dieser Definition spiegelt sich der Urkonflikt zwischen staatlichem Souveränitätsdenken und europäischen Einheitsvorstellungen wider, wie er seit jeher im Rahmen der europäischen Integration geführt wird. Die Kommission geht jedenfalls davon aus, dass die Vorgaben ihres RL-Vorschlags dem Grundsatz der Subsidiarität entsprechen, und bezieht sich auf unterschiedliche Anliegen, die innerhalb des ECN nur durch eine Maßnahme auf europäischer Ebene geregelt werden können.23 Dem ist aus fol20 Zu den verfahrensrechtlichen Hindernissen aus den nationalen Rechtsvorschriften vgl. umfassend oben, § 4. 21 Insofern besteht auch kein „ausbrechender Rechtsakt“ i. S. d. Mangold-Rechtsprechung, vgl. dazu BVerfG, Beschluss v. 6.7.2010, 2 BvR 2661/06. In dieser mit Spannung erwarteten Entscheidung hat das BVerfG das Urteil des EuGH in der Sache Mangold (EuGH v. 22.11.2005, Rs. C-144/04, Slg. 2005, S. I-9981) nicht als einen solchen ausbrechenden Rechtsakt angesehen, der zur ultra vires-Kontrolle des BVerfG geführt hätte. 22 Einen Überblick über mögliche Definitionsansätze geben Böttcher/Krawczynski, Europas Zukunft: Subsidiarität, 2000, S. 15 ff. 23 RL-Vorschlag, S. 9 f.

A. Konvergenz aufgrund einer Verpflichtung

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genden Gründen zuzustimmen: Ausgangspunkt sind zunächst Wettbewerbsbeschränkungen mit grenzübergreifenden Dimensionen als Folge des europäischen Binnenmarktes, der nach Art. 3 III EUV zu erhalten und zu schützen ist. Dieses unionsweite Ziel wird konkretisiert durch die Wettbewerbsvorschriften nach Art. 101, 102 AEUV, die die einzelnen Mitgliedstaaten neben der Kommission anwenden und durchsetzen. Als Folge globaler Wettbewerbsbeschränkungen sind heute Kooperationen zwischen unterschiedlichen Wettbewerbsbehörden notwendig, wofür naturgemäß kohärente Verfahrensregeln erforderlich sind, um die europäischen Wettbewerbsvorschriften innerhalb des ECN gemeinsam wirksam durchzusetzen. Zwar können die Mitgliedstaaten selbst kohärente Verfahrensregeln einführen, die die behördliche Zusammenarbeit innerhalb des ECN erleichtern und mithin das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes gewährleisten. Anlass hierfür können unterschiedliche Empfehlungen und Stellungnahmen des ECN geben, gemäß denen die einzelnen Mitgliedstaaten ihre Kartellsanktionssysteme allmählich einander anpassen. Eine solche „weiche Harmonisierung“ (soft harmonization) könnte in der Tat befriedigende Ergebnisse sowohl für die Union als auch für die einzelnen Mitgliedstaaten bieten.24 Weiche Harmonisierungsmaßnahmen, die keine Verpflichtungen wie bei Art. 288 AEUV nach sich ziehen können, finden sich insbesondere dort, wo Rechtsangleichungsmaßnahmen aufgrund fehlender Kompetenz oder fehlender politischer Durchsetzungsmöglichkeiten unwahrscheinlich sind. Zwar begründen diese Empfehlungen des ECN keine gesetzlichen Pflichten gegenüber den Mitgliedstaaten zur verfahrensrechtlichen Konvergenz. Dies stellen die Empfehlungen jeweils durch einen Haftungsausschluss am Ende klar. Die Inhalte der Empfehlungen sind daher unverbindlich und spiegeln keine offizielle Auslegung von Verfahrensregeln oder behördlicher Praxis wider. Dies liegt daran, dass das ECN keine eigene Rechtspersönlichkeit oder gar Entscheidungsbefugnisse hat.25 Die Mitgliedstaaten können solche Impulse für eine verfahrensrechtliche Kohärenz innerhalb des ECN daher lediglich zum Anlass nehmen, ihre eigenen Verfahrensrechte zu justieren und autonom einander anzugleichen. Schrittweise kann hier eine Verfahrensangleichung etwa durch eine behördliche Praxis stattfinden, soweit dies nach dem nationalen Verfassungsrecht möglich ist. Die verfahrensrechtliche Angleichung wird damit zu einem gemeinsamen politischen Ziel, das durch alle nationalen Wettbewerbsbehörden innerhalb des ECN umzusetzen ist. Allerdings scheitert die Umsetzung einer solchen behördlichen Praxis zur verfahrensrechtlichen Konvergenz innerhalb des ECN nicht selten an der Durchsetzungskraft innerhalb des eigenen Verfahrensrechts, das jeweils an den eigenen Vorstellungen von Sanktion, Verfahren und grundrechtlichen Gewährleistungen zu

24 Zur soft harmonization im Kartellverfahrensrecht vgl. etwa de Bronett, NZKart 2017, S. 46, 47; ders., WuW 2016, S. 153. 25 Weiß, in: Terhechte (Hrsg.), § 20, Rn. 84.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

messen ist. Zudem hat die Kommission versucht, seit Einführung der VO 1/2003, also seit 13 Jahren, eine solche weiche Harmonisierung der nationalen Verfahrensrechte voranzutreiben, aber ohne Erfolg. Die Kommission hat den Mitgliedstaaten somit in ausreichendem Maße Gelegenheit dazu gegeben, im Lichte des Subsidiaritätsprinzips ihre Verfahrensrechte nach Maßgabe des eigenen Rechts so umzugestalten, um die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sicherzustellen. Nach der öffentlichen Konsultation vertrat die Kommission zu Recht die Auffassung, dass zur Herstellung eines kohärenten Durchsetzungssystems innerhalb des ECN eine Maßnahme auf europäischer Ebene notwendig sei. Somit wurde dem Subsidiaritätsprinzip insofern Genüge getan, als die Kommission über ein Jahrzehnt lang die Möglichkeit geboten hatte, die verfahrensrechtlichen Probleme innerhalb des ECN auf nationaler Ebene zu klären. Gleiches gilt nach Auffassung der Kommission auch für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da der Vorschlag größtenteils Mindeststandards für die Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden im Hinblick auf die kohärente Anwendung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des ECN vorsieht.26 Durch die Wahl einer Richtlinie als Instrument haben die Mitgliedstaaten nämlich die Möglichkeit, die geeigneten Mittel zur Umsetzung der Vorgaben selbst zu wählen. So werden die Mitgliedstaaten beispielsweise weiterhin die Möglichkeiten haben, höhere Standards zu setzen und ihre Vorschriften an die nationalen Besonderheiten anzupassen. Gleichzeitig ist es den Mitgliedstaaten unbenommen, ihre Kartellsanktionsrechte etwa über die Vorgaben des RL-Vorschlags hinaus weiter an die europäischen Vorgaben anzupassen, wenn sie es für erforderlich halten und gewährleistet ist, dass die Aufgaben aus dem RL-Vorschlag wirksam erfüllt werden können.27 Der RL-Vorschlag greift, wie bereits ausgeführt, an einigen Stellen weniger, an anderen Stellen stärker in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ein. Soweit der RL-Vorschlag weitreichende Vorgaben hinsichtlich der Kohärenz der nationalen Verfahrensrechte macht, wie etwa im Hinblick auf das Kronzeugensystem, kommen diese Vorgaben vor allem Unternehmen zugute, die mehr Rechtssicherheit und Transparenz erwarten können. Zu solchen tiefgreifenden Maßnahmen ist die Union sogar primärrechtlich verpflichtet, zumal Art. 103 AEUV – anders als etwa Art. 109 AEUV für das Beihilfenrecht – einen Rechtsetzungsauftrag statuiert.28 Eine solche Verpflichtung wird anzunehmen sein, wenn Unternehmen innerhalb des ECN eine Gefährdung ihrer grundrechtlich geschützten Positionen befürchten müssen. Der RL-Vorschlag ist somit verhältnismäßig und im Ergebnis als eine Fort- und Weiterentwicklung eines dezentralen

26

RL-Vorschlag, S. 10. Dies ist etwa dann relevant, wenn im deutschen Recht über den RL-Vorschlag hinaus weiter gehende Rechtsangleichungsmaßnahmen vollzogen werden sollen, vgl. dazu ausführlich unten, § 7 D. IV. 28 Christian/Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 103, Rn. 16 m.w. N. 27

A. Konvergenz aufgrund einer Verpflichtung

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wettbewerbsrechtlichen Durchsetzungssystems innerhalb des ECN zu verstehen, die mit der VO 1/2003 einst begonnen hat und noch nicht abgeschlossen ist. 4. Grundrechtskonformität des Richtlinien-Vorschlags Bei dem RL-Vorschlag handelt es sich um eine „Durchführung des Rechts der Union“, so dass die Unionsorgane gem. Art. 51 I 1 GRC an die grundrechtlichen Gewährleistungen aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen sowie aus der GRC gebunden sind. Grundrechtsmaßstab ist somit ausschließlich die GRC selbst. Nach Art. 52 III GRC haben die Bestimmungen der GRC jedoch die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die Bestimmungen der EMRK. Somit haben die Unionsorgane neben der GRC auch die grundrechtlichen Gewährleistungen nach der EMRK zu berücksichtigen. Soweit also auf unterschiedliche Gewährleistungen der GRC verwiesen wird, sind auch die entsprechenden Rechte aus der EMRK gemeint. Durch den RL-Vorschlag wird in erster Linie der Schutz der Grundrechte von Unternehmen sichergestellt, die Gegenstand eines Kartellverfahrens sind. Darunter fallen sämtliche Grundrechte, wie beispielsweise die unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRC), das Recht auf Eigentum (Art. 17 GRC), das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41 GRC), sowie die umfangreichen Verfahrensgarantien aus Art. 47 und 48 GRC. Der RL-Vorschlag sieht an unterschiedlichen Stellen die Stärkung von grundrechtlichen Gewährleistungen vor, die innerhalb des ECN nach der gegenwärtigen Rechtslage unbefriedigend erscheinen.29 Die durch unterschiedliche Rechtsordnungen innerhalb des ECN bedingte grundrechtliche Doppelprüfung insbesondere von Verfahrensgrundrechten, namentlich im Hinblick auf die Selbstbelastungsfreiheit, die Unschuldsvermutung sowie das Anwaltsprivileg, führt nicht selten zu einer Verletzung von Grundrechten der einem Kartellsanktionsverfahren unterzogenen Unternehmen, so dass die Maßnahmen des RL-Vorschlags mindestens in dieser Hinsicht zu einer Aufwertung der grundrechtlichen Positionen von Unternehmen führen würden (vgl. dazu auch Art. 3 RL-Vorschlag, der einen gemeinsamen Grundrechtsmaßstab innerhalb des ECN festlegt). Andererseits sieht der RL-Vorschlag in unterschiedlichen Bestimmungen auch Eingriffe in grundrechtssensible Bereiche vor, wenn es etwa um die Ermittlung und Sanktionierung von kartellwidrigem Verhalten von Unternehmen geht. Hinsichtlich der Ermittlungsbefugnisse nationaler Wettbewerbsbehörden soll vor allem das Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen in paralleler Anwendung zu Art. 18 VO 1/2003 ausgeweitet werden, wodurch unter Umständen das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit der Unternehmen nach Art. 48 II GRC betroffen sein könnte. Soweit der RL-Vorschlag Vorgaben hinsichtlich der umfangreichen Be29

Vgl. dazu ausführlich oben, § 4 C.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

fugnisse nationaler Wettbewerbsbehörden zur Durchsuchung von Betriebsräumen und anderen Räumlichkeiten enthält, könnte zudem das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 7 GRC betroffen sein. Zudem sieht der RL-Vorschlag die Ausweitung von Sanktionsbefugnissen nationaler Wettbewerbsbehörden vor, wie beispielsweise im Hinblick auf die Heranziehung von Muttergesellschaften sowie rechtlichen und wirtschaftlichen Nachfolgern als Sanktionsadressaten bei möglichen Verstößen durch Tochtergesellschaften und Rechtsvorgänger. Diese Bestimmungen könnten gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung nach Art. 48 I GRC verstoßen. Zu beachten ist jedoch, dass es sich bei den Bestimmungen des RL-Vorschlags weitestgehend um einen Transfer der Sanktionspraxis der Unionsorgane in nationales Recht handelt, so dass die grundrechtliche Beurteilung des europäischen Kartellsanktionsrechts auf den RL-Vorschlag übertragen werden kann. Da in dieser Arbeit noch ausführlich zu der grundrechtlichen Beurteilung des europäischen Kartellsanktionsrechts Stellung genommen wird, sollen diese Fragen erst an anderer Stelle erörtert werden. An dieser Stelle sei jedoch schon einmal angemerkt, dass das europäische Kartellsanktionsrecht keine grundrechtlichen Fundamentalprinzipien verletzt, wie teilweise in der Literatur angenommen wird,30 so dass im Ergebnis auch von der Grundrechtskonformität des RL-Vorschlags ausgegangen werden kann. 5. Grundrechtsmaßstab bei einer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten Eine andere Frage ist hingegen, welchen Grundrechtsmaßstab Mitgliedstaaten anlegen müssen, wenn sie die Vorgaben einer künftigen Richtlinie in nationales Recht umsetzen. Auch im Falle einer Richtlinienumsetzung durch die Mitgliedstaaten handelt es sich um eine „Durchführung des Rechts der Union“ i. S. d. Art. 51 I 1 GRC. Die Mitgliedstaaten müssen die künftige Richtlinie in nationales Recht umsetzen, wobei die Vorgaben des RL-Vorschlags den Mitgliedstaaten einen weiten Umsetzungsspielraum lassen. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die GRC bei Ermessensspielräumen, insbesondere in Fällen der Richtlinienumsetzung, ist im Lichte der neueren Rechtsprechung des EuGH sowie im Hinblick auf die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten umstritten. Scheinbar lassen sich derweil in Fortentwicklung der Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich des grundrechtlichen Schutzes innerhalb der Europäischen Union unterschiedliche Kategorien herauskristallisieren, wann Mitgliedstaaten bei der Richtlinienumsetzung an die GRC gebunden sind und wann nicht. Allgemein kann bei einer Richtlinienumsetzung zwischen einer Umsetzung aufgrund einer europarechtlichen Verpflichtung und einer über diese Verpflichtung hinausgehenden Umsetzung durch die Mitgliedstaaten unterschie30

Ausführlich dazu unten, § 6 B.

A. Konvergenz aufgrund einer Verpflichtung

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den werden. Solange es sich bei der Richtlinienumsetzung aufgrund europarechtlicher Verpflichtung um eine „Durchführung des Rechts der Union“ handelt, sind die Mitgliedstaaten stets an die Gewährleistungen der GRC gebunden. Geht die Umsetzung hingegen über das Mindestmaß der Richtlinie hinaus, bewegen sich die Mitgliedstaaten jedenfalls nicht mehr im Bereich der „Durchführung des Unionsrechts“, so dass sie an die grundrechtlichen Gewährleistungen der nationalen Grundrechte gebunden sind.31 Diese Kategorisierung ist für diese Arbeit insofern von großer Bedeutung, als es darum geht, europarechtliche Vorgaben in das deutsche Kartellsanktionsrecht zu implementieren. Die Frage nach dem Grundrechtsmaßstab bei einer verfahrensrechtlichen Konvergenz war schon im Rahmen der 9. GWB-Novelle 2017 von großer Bedeutung und wird für künftige GWB-Novellen als notwendige Folge des RL-Vorschlags von noch größerer Bedeutung sein, da erstens europarechtlich determinierte Vorgaben aus dem RL-Vorschlag umgesetzt werden müssen, andererseits aber auch über den RL-Vorschlag hinausgehende Reformen des deutschen Rechts notwendig sind, um Rechtsklarheit und Rechtssicherheit innerhalb des ECN zu gewährleisten.

V. Zwischenergebnis Der vorliegend in Augenschein genommene RL-Vorschlag ist eine notwendige Folge der unfruchtbaren Bemühungen der Kommission, die Mitgliedstaaten zur freiwilligen verfahrensrechtlichen Konvergenz zu bewegen, um Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sowohl für die nationalen Wettbewerbsbehörden als auch für die Unternehmen zu gewährleisten. Sollte der RL-Vorschlag tatsächlich durch den europäischen Gesetzgeber beschlossen werden, haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um die verfahrensrechtlichen Schieflagen innerhalb des ECN zu beseitigen. Indessen sollte der Tag nicht vor dem Abend gelobt werden, da der RL-Vorschlag umstritten sein wird. Der Streit wird mit Sicherheit in der Frage gipfeln, ob die Union überhaupt die Kompetenz zum Erlass einer solchen Maßnahme zur verfahrensrechtlichen Konvergenz hat, die aufgrund der Hybridisierung des Kartellsanktionsrechts eine besonders nationalrechtlich geprägte Rechtsmaterie betrifft. Mit Sicherheit kann aber auch gesagt werden, dass, falls der RL-Vorschlag durch den europäischen Gesetzgeber abgesegnet werden sollte, eine neue Integrationsstufe innerhalb des europäischen Binnenmarktes erreicht würde. Von diesen rechtspolitischen Unsicherheiten kann sich die vorliegende Untersuchung jedoch nicht leiten lassen. Sollte der RL-Vorschlag also – aus welchen Gründen auch immer – nicht Gesetz werden, ist dennoch zu hinterfragen, ob eine autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten selbst erreicht werden kann. Zwar hat die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt, dass eine freiwillige An31

Vgl. dazu ausführlich Bucher, ZEuS 2016, S. 203 ff.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

gleichung der Kartellsanktionssysteme sehr mühsam war. Gleichwohl soll diese Arbeit der Frage nachgehen, ob anderweitige Verpflichtungen aus dem Unionsrecht zu einem faktischen Konvergenzdruck führen könnten, der das deutsche Recht weiter an europäische Vorgaben rücken würde. Diese Frage soll nun im folgenden Abschnitt beantwortet werden.

B. Autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten im Falle einer Nichtumsetzung des Richtlinien-Vorschlags durch den EU-Gesetzgeber I. Faktischer Konvergenzdruck mit dem europäischen Kartellsanktionsrecht Ausgangspunkt der Überlegung ist zunächst, ob die Rechtsfigur des effet utile aus Art. 4 III EUV einen faktischen Konvergenzdruck32 auf die Mitgliedstaaten ausübt und einen schleichenden Anpassungsprozess bewirken kann, ohne dabei in Art. 4 III EUV eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur verfahrensrechtlichen Konvergenz zu sehen. Dies wäre freilich mit den Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität aus Art. 5 EUV unvereinbar, da Art. 4 III EUV keine Ermächtigungsgrundlage für die Union beinhaltet. Erst recht kann Art. 4 III EUV daher keine direkte Verpflichtung für die Mitgliedstaaten begründen, ihre Kartellsanktionsregime anzugleichen. Vielmehr sollte darüber nachgedacht werden, ob die in Art. 4 III EUV vorgesehene Verpflichtung zur effektiven und effizienten Zusammenarbeit die Mitgliedstaaten dazu bewegen könnte, ihre Verfahrensrechte im Wege einer autonomen und freiwilligen Konvergenz anzugleichen. Betrachtet man derweil die Entwicklung des deutschen Rechts, ist jedenfalls eine Tendenz in Richtung europafreundlicher Angleichung des Kartellsanktionsverfahrens unstreitig erkennbar, wenngleich die Angleichung durch den deutschen Gesetzgeber eher punktuell und teilweise unvollständig erfolgt. Neuerdings beruft sich der deutsche Gesetzgeber im Rahmen der 9. GWB-Novelle 2017 dabei erstmals und explizit auf den in Art. 4 III EUV verankerten Grundsatz des effet utile.33 Diese Entwicklung drängt zu der Überlegung, ob eine freiwillige „Harmonisierung des Kartellbußgeldrechts qua effet utile“ 34 möglich oder sogar geboten ist. Nicht nur die einzelnen Mitgliedstaaten, sondern auch die Unionsorgane stützen sich oftmals auf diesen Grundsatz, um herkömmliche dogmatische Strukturen im nationalen Recht 32

Ausführlich dazu unten, § 7 C. I. Vgl. dazu unten, § 7 C. I. 34 Diese Formulierung wurde in Harnos, ZWeR 2016, S. 284 verwendet, der vom Ansatz her einer so weitreichenden Wirkung des effet utile-Grundsatzes vorsichtig gegenübersteht. 33

B. Autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten

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zu überwinden und eine kohärente Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen.35 Hierbei lassen sich bei der Formulierung dieses Grundsatzes durch Rechtsprechung und Literatur unterschiedliche Begriffe finden, die teilweise effektivitäts-, teilweise gleichheitsorientiert sind.36 Insbesondere der Sprachgebrauch des EuGH ist in diesem Zusammenhang uneinheitlich. So spricht er gelegentlich von dem „praktischen Nutzen“ 37, der „praktischen Wirkung“ 38, der „vollständigen Wirksamkeit“ 39 des Unionsrechts sowie vom Grundsatz der „Effektivität“ 40 oder „Effizienz“.41 Ohne auf die Einzelheiten dieser Begrifflichkeiten einzugehen, hat sich der effet utile-Grundsatz unbestritten von einem bloßen Auslegungsgrundsatz zu einem eigenständigen Rechtsprinzip im europäischen Recht entwickelt,42 das zunehmend nationale Rechtsordnungen zu beeinflussen scheint. Dies zeigt sich vor allem in Bereichen, in denen der effet utile-Grundsatz die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie durchbricht, etwa aufgrund unionsrechtswidriger Beihilfen,43 aufgrund der Verletzung einer Vorlagepflicht gegenüber dem EuGH44 oder auch aufgrund der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.45 Die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie scheint daher in unionsrechtlich determinierten Rechtsbereichen nur noch eine marginale Rolle zu spielen. Inwieweit dies im Kartellsanktionsverfahren der Fall ist, ist noch an anderer Stelle zu untersuchen.46 Vorab sollen jedoch jene Vorgaben aus dem Unionsrecht herausgearbeitet werden, die vermutlich einen faktischen Konvergenzdruck ausüben, bevor auf verfassungsrechtliche Grenzen aus dem nationalen Recht eingegangen wird, wie sie insbesondere im deutschen Recht diskutiert werden. 35 Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Durchbrechung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie bei der Anwendung und Durchführung der Art. 101, 102 AEUV durch die VO 1/2003, vgl. dazu sogleich unten, C. II. 36 Überblick bei Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, 2013, S. 186 f. 37 EuGH v. 12.7.1973, Rs. 70/72, Slg. 1973, I-813, Rn. 13 – Kommission/Deutschland. 38 EuGH v. 10.6.1993, Rs. C-183/91, Slg. 1993, I-3131, Rn. 8 – Kommission/Griechenland. 39 EuGH v. 10.4.1984, Rs. 14/83, Slg. 1984, I-1891, Rn. 15, 23 – Colson und Kamann. 40 EuGH v. 10.7.1997, Rs. C-261/95, Slg. 1997, I-4025, Rn. 27 – Palmisani. 41 EuGH v. 24.3.2009, Rs. C-445/06, Slg. 2009, I-2119, Rn. 30 – Danske Slagterier. 42 Vgl. dazu Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft, 2003, S. 9 ff.; auch Danwitz, JZ 1994, S. 335, 339, und Cornils, Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, 1995, S. 173 ff. 43 Grundlegend dazu EuGH v. 24.2.1987, Rs. 310/85, Slg. 1987, I-901 – Deufil; v. 20.9.1990, Rs. C-5/89, Slg. 1990, I-3457 – BUG-Alutechnik; v. 2.2.1989, Rs. 94/87, Slg. 1989, I-175 – Alcan I; v. 20.3.1997, Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591 – Alcan II. 44 Grundlegend dazu EuGH v. 13.1.2004, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837 – Kühne & Heitz. 45 EuGH v. 3.9.2009, Rs. C-2/08, Slg. 2009, I-7501 – Fallimento Olimpiclub. 46 Vgl. dazu ausführlich unten, C.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

1. Vorgaben aus dem EU-Recht Soweit von einem faktischen Konvergenzdruck auf nationale Gesetzgeber gesprochen wird, sollte das europäische Recht als Referenzrahmen herangezogen werden, um eine möglichst hohe Kohärenz zwischen den Kartellsanktionsregimes aller nationalen Rechtsordnungen zu erreichen. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass der Kommission im Rahmen der Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV eine Sonderstellung als primus inter pares zukommt.47 Betrachtet man rückblickend etwa die GWB-Novellierungen der letzten Jahre, so fällt auf, dass der deutsche Gesetzgeber ständig bemüht war, den Schulterschluss mit dem europäischen Kartellsanktionsrecht aufgrund europarechtlicher Vorgaben zu suchen.48 Dies gilt insbesondere für die 7. GWB-Novelle 2005, die das deutsche Kartellsanktionsrecht im Hinblick auf die damals neu eingeführte VO 1/2003 und die damit verbundene dezentralisierte Anwendung der Art. 101, 102 AEUV durch die Mitgliedstaaten grundlegend umgestaltete. Aber auch die 8. GWB-Novelle 2013 brachte grundlegende Neuerungen im deutschen Kartellsanktionsrecht mit sich, etwa durch die erstmalige Einführung einer Auskunftsverpflichtung gegenüber Unternehmen und die lang ersehnte Regelung der kartellrechtlichen Rechtsnachfolge, wenngleich noch erhebliche Unterschiede zum europäischen Recht verblieben sind. Die kürzlich in Kraft getretene 9. GWB-Novelle 2017 setzte diesen schleichenden Konvergenztrend fort und dehnte erstmals die kartellrechtliche Unternehmensverantwortlichkeit auf Muttergesellschaften im Sinne der Praxis der Unionsorgane aus. Bei näherer Betrachtung der einzelnen Gesetzesbegründungen fällt indessen auf, dass der deutsche Gesetzgeber bei der 9. GWB-Novelle im Gegensatz zu den vorherigen Novellierungen erstmals von einer europarechtlichen Verpflichtung zur Rechtsangleichung des Kartellsanktionssystems ausgeht. So spricht er vor allem im Hinblick auf die neu eingeführte Unternehmensverantwortlichkeit davon, dass die im Regierungsentwurf getroffenen Regelungen „erforderlich [sind], um den europäischen Vorgaben, vor allem dem europarechtlichen Effektivitätsgebot (effet utile, Art. 4 Absatz 3 des Vertrages über die Europäische Union [. . .] Rechnung tragen zu können und den Vollzug des Kartellrechts sicherzustellen“.49 Diese recht vorsichtig gewählte Formulierung („Rechnung tragen“) impliziert zunächst eine Verpflichtung zur Angleichung des Kartellsanktionsrechts, die der deutsche Gesetzgeber aus dem effet utile-Grundsatz und somit aus europarechtlichen Vorgaben herleitet,50 wobei er sicherlich die Judikatur des EuGH 47

Vgl. dazu oben, § 2 C. III. Vgl. dazu oben, § 2 C. IV. 49 RegE, 9. GWB-Novelle, S. 95. 50 In diesem Sinne wohl auch BDI, Stellungnahme zur 9. GWB-Novelle v. 19.1.2017, S. 11, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/489192/30cf175cef8fbc257f99fc cb8524be29/john-data.pdf (zuletzt aufgerufen 31.10.2017). 48

B. Autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten

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hinsichtlich der Durchbrechung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie aufgrund des Art. 4 III EUV vor Augen gehabt haben wird. Ergänzend war dem deutschen Gesetzgeber auch die Erschwernisse der Behördenkooperation innerhalb des ECN bewusst, die einer wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV durch die nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichte im Wege standen.51 Eine solche, auf Art. 4 III EUV gestützte nationale Verpflichtung, wie die Formulierung des deutschen Gesetzgebers mutmaßt, kann jedoch – wie bereits erwähnt – schon deswegen nicht begründet werden, da diese Norm aufgrund ihrer Unbestimmtheit und des Subsidiaritätsgrundsatzes keine Ermächtigungsgrundlage hierzu darstellen kann. Insofern kann sich eine Verpflichtung des nationalen Gesetzgebers nur darin erschöpfen, den beiden Art. 4 III EUV inhärenten Prinzipien der „Effektivität“ und der „Äquivalenz“ genügend Rechnung zu tragen. Dabei kommt diesen beiden Grundsätzen freilich nicht nur als bloße Auslegungsregeln Bedeutung zu, sondern sie beinhalten darüber hinaus eigenständige Rechtsprinzipien, die nationale Gesetzgeber bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht berücksichtigen müssen.52 Es ist also einzelfallabhängig, inwieweit diese Prinzipien eine Beeinflussung des nationalen Rechts begründen. Die verfahrensrechtlichen Eigenarten des ECN werden vermutlich dazu führen, dass eine nationalrechtliche Verpflichtung zur verfahrensrechtlichen Konvergenz in der Tat besteht, da die Tatsache, dass unterschiedliche Verfahrensstandards innerhalb des ECN zu erheblichen Durchsetzungsdefiziten führen und somit die einheitliche Anwendung sowie die praktische Wirksamkeit der Art. 101, 102 AEUV gefährden, mittlerweile schwer bestritten werden kann. Gerade in Deutschland hat die kartellrechtliche Praxis der letzten Jahre gezeigt, dass trotz des hohen Konvergenzgrades im Kartellsanktionsrecht noch erhebliche Unterschiede zum Unionsrecht verblieben sind, die Unternehmen geschickt zulasten der effektiven und effizienten Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV ausnutzen können. Dieser Befund veranlasste den deutschen Gesetzgeber auch zu der Annahme, dass hier weitere gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich sind, um diese Rechtslücken zu schließen.53 Die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz aus Art. 4 III EUV üben somit bei hinreichend nachgewiesener Gefährdung der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts einen faktischen Konvergenzdruck auf das nationale Kartellsanktionsrecht aus, um eine

51 Vgl. dazu die kleine Anfrage der Fraktion der SPD an die Bundesregierung hinsichtlich des Kartellverfahrensrechts innerhalb der Europäischen Union, BT-Drucks. 17/ 11071. Die Antwort der Bundesregierung darauf befürwortet eine materiellrechtliche und prozedurale Konvergenz des GWB mit dem EG-Kartellrecht, BT-Drucks. 17/ 11285. 52 Vgl. dazu etwa Danwitz, JZ 1994, S. 335, 339; Cornils, Der Gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, 1995, S. 173 ff.; Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft, 2003, S. 9 ff. 53 Zu den Einzelheiten der 9. GWB-Novelle vgl. ausführlich unten, § 7 C.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

kohärente Anwendung der Art. 101, 102 AEUV in den Mitgliedstaaten zu ermöglichen.54 2. Grenzen im nationalen Recht Auf der anderen Seite setzen jedoch nationale Standards dem Konvergenzdruck verfassungsrechtliche Grenzen, die in rechtsstaatlichen und gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen sowie in grundrechtlich geschützten Positionen der Unternehmen ihren Ausdruck finden. Die weitgehende Konvergenz des deutschen Kartellsanktionsrechts mit dem europäischen Recht führte etwa während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens zur 9. GWB-Novelle 2017 sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft zu einer kontroversen Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzgebungsvorhabens. So wurde dem deutschen Gesetzgeber vorgeworfen, er verstärke durch die 9. GWB-Novelle 2017 den „institutionellen Missstand“ auf europäischer Ebene durch „vorauseilenden Gehorsam“.55 Mehr noch: Er führe verfassungswidrige Regelungen ein, „versteckt im Rahmen der Umsetzung der europäischen Schadensersatzrichtlinie, die zu nichts Geringerem als einem Paradigmenwechsel im deutschen Konzernhaftungsrecht führen würde und im diametralen Widerspruch zu geltenden gesellschafts- und konzernrechtlichen Strukturprinzipien steht“. Die geplanten Änderungen seien schlicht und ergreifend „verfassungswidrig“, „europarechtlich nicht geboten“, „völlig falsch“ und erfolgten „ohne Not“.56 Zu dem gleichen Ergebnis, wenngleich in einem milderen Ton, kam ein wissenschaftliches Gutachten zu der Frage der Konzernhaftung und der bußgeldmindernden Berücksichtigung von Compliance-Programmen. Brettel/Thomas, die federführend57 die Neuerungen des deutschen Kartellsanktionsrechts kritisiert haben, gelangten zum selbigen Ergebnis, durch das Vorhaben der 9. GWB-Novelle 2017 würden grundrechtliche sowie gesellschaftsrechtliche Prinzipien im deutschen Recht untergraben.58 Die geäußerte Kritik an der 9. GWB-Novelle 2017 mag zwar aus einer rein national54 Das ausgerufene Ziel ist dabei die Konvergenz der einzelnen Kartellsanktionssysteme innerhalb des ECN, vgl. dazu insb. de Bronett, NZKart 2017, S. 46 („überfällige Harmonisierung“); ders., WuW 2016, S. 153 („soft harmonization“); Ost, JECLP 2014, S. 125 („Need for Further Convergence“); Raue, WRP 2012, S. 1478, 1479 („Konvergenzdruck“). 55 Vgl. dazu de Bronett, NZKart 2017, S. 46, wenngleich er selbst einräumt, dass eine Konvergenz der Kartellsanktionssysteme auf EU-Ebene „längst überfällig“ ist. Jedoch sollte gerade wegen der demokratischen Defizite auf europäischer Ebene der EUGesetzgeber mit dieser Aufgabe beauftragt werden. 56 BDI, Stellungnahme zur 9. GWB-Novelle, S. 1 f., abrufbar unter: https://www. bundestag.de/blob/489192/30cf175cef8fbc257f99fccb8524be29/john-data.pdf. 57 Vgl. etwa die Stellungnahme kurz nach Veröffentlichung des Referentenentwurf zur 9. GWB-Novelle: Brettel/Thomas, WuW 2016, S. 336, 338 f. 58 Kurzfassung des Gutachtens v. 8.2.2016 von Brettel/Thomas abrufbar unter: http://bdi.eu/media/presse/presse/downloads/20160414_Kurzfassung_Rechtsgutachten_ Kartellrecht.pdf (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017).

B. Autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten

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rechtlichen Perspektive nachvollziehbar sein, übersieht jedoch weitestgehend die Grundrechtsdogmatik auf europäischer Ebene, die Besonderheiten des deutschen Kartellsanktionsrechts im Gefüge des OWiG als hybrides Rechtsgebiet sowie die Besonderheiten der dezentralisierte Anwendung der Art. 101, 102 AEUV durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Ein nationales Durchsetzungsregime, das aufgrund der VO 1/2003 zur dezentralisierten Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sekundärrechtlich verpflichtet wurde, ausschließlich an nationalen Standards zu messen, entspricht nicht den Anforderungen der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 III EUV und dürfte vor dem Hintergrund der neueren Grundrechtsdogmatik des EuGH, auf die im Folgenden näher einzugehen ist, zu kurz gegriffen sein.

II. Grundrechtsmaßstab bei einer autonomen Konvergenz durch die Mitgliedstaaten 1. Das grundrechtliche Mehrebenensystem innerhalb des ECN Bereits an anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass innerhalb des ECN ein grundrechtliches Mehrebenensystem besteht, das aus den unterschiedlichen Rechtsquellen nationaler, europäischer sowie völkerrechtlicher Rechtsordnungen besteht.59 Diese komplexe Grundrechtsstruktur führt zu einer unterschiedlichen Beurteilung des grundrechtlichen Maßstabs im Falle einer verfahrensrechtlichen Konvergenz durch die Mitgliedstaaten. Während für die Beurteilung, ob Kartellsanktionen an den strafrechtlichen Grundsätzen gemessen werden sollten, das Verhältnis der grundrechtlichen Gewährleistungen innerhalb des Mehrebenensystems noch keine Rolle spielte, da sich diese strafrechtlichen Grundsätze auf einer Abstraktionsebene allgemein aus allen Grundrechtsordnungen ergeben, ist das Verhältnis zwischen den Grundrechtsquellen an dieser Stelle von großer Bedeutung, da hieran gemessen werden kann, inwieweit eine autonome Konvergenz des Kartellsanktionsrechts durch die Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich möglich ist. Aus der Perspektive des deutschen Rechts ist somit eine verfahrensrechtliche Konvergenz des Kartellsanktionsrechts an den Grundrechten nach dem GG sowie nach der GRC zu messen. Relevant ist aber auch die EMRK, die zwar in Deutschland formal im Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht, jedoch eine weiter gehende Bedeutung in Form einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite des GG hat.60 Während auf nationaler Ebene die Rechtswirkungen der EMRK die gesamte europäische und nationale Kartellverfolgung betreffen, ist der Anwendungsbereich der GRC nur dann

59

Vgl. dazu oben, § 3 B. II. a). BVerfG v. 4.5.2011, 2 BvR 2365/09 u. a., BVerfGE 128, 326, LS 2 – Sicherungsverwahrung. 60

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

eröffnet, wenn die nationalen Wettbewerbsbehörden Unionsrecht gem. Art. 51 GRC durchführen, also die Art. 101, 102 AEUV dezentral anwenden.61Auf der Ebene des Unionsrechts findet zwar die EMRK keine unmittelbare Anwendung, da die Union der Konvention noch nicht beigetreten ist. Soweit die GRC jedoch Gewährleistungen enthält, die der EMRK entsprechen, haben diese nach Art. 52 III GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen durch die EMRK verliehen wird. Bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV durch die einzelnen Mitgliedstaaten handelt es sich zweifelsohne um eine Durchführung des Unionsrechts i. S. d. Art. 51 GRC. Somit sind die deutschen Wettbewerbsbehörden und Gerichte beim Vollzug des Unionsrechts sowie der deutsche Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Verfahrensrechts an die europäischen Grundrechte gebunden. Daneben bleiben jedoch auch nationale Grundrechte anwendbar, solange sie den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht gefährden.62 Der EuGH bestätigte in diesem Zusammenhang auch eine unionsgrundrechtliche Kontrolle mitgliedstaatlicher Entscheidungen innerhalb der vom europäischen Recht eingeräumten Handlungsspielräume, wodurch den europäischen Grundrechten nach der GRC innerhalb des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts und somit innerhalb des deutschen Kartellsanktionsrechts ein weiter Anwendungsbereich gebührt.63 Somit kommt es zu einer Doppelung des Grundrechtsschutzes nach der GRC und dem GG. Bei Abweichungen zwischen dem nationalen und dem europäischen Grundrechtsschutz stellt sich daher die Frage, welcher Grundrechtsstandard anzuwenden ist. 2. Grundrechtliche Konvergenztendenzen? a) Vorüberlegungen Da in den Mitgliedstaaten die Grundrechtsgewährleistungen recht unterschiedlich ausgestaltet sind und zudem diese Gewährleistungen in einem grundrechtlichen Mehrebenensystem angewendet werden, könnte eine verfahrensrechtlich autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten aufgrund der grundrechtlichen Unterschiede im nationalen Recht schon faktisch nicht möglich sein. Einheitliche Verfahrensstandards sind infolgedessen nur dann möglich, wenn eine Angleichung der Grundrechtsgewährleistungen, namentlich im Hinblick auf die Justizgrundrechte juristischer Personen, im europäischen und den nationalen Kartellsanktionsverfahren möglich wäre. Ist beispielsweise von der Prämisse auszuge61 Wie weit der Begriff der „Durchführung des Unionsrechts“ reicht, wird gleich zu diskutieren sein, vgl. 2. b). 62 EuGH v. 26.2.2013, Rs. C-617/10 – Åkerberg; v. 18.6.2013, Rs. C-681/11 – Schenker. 63 G. Dannecker, NZKart 2015, S. 25 f.; Risse, HRRS 03/2014, S. 93 f.

B. Autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten

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hen, dass bei der autonomen Konvergenz der Mitgliedstaaten ausschließlich oder überwiegend die nationalen Grundrechte als Rechtmäßigkeitsmaßstab für den nationalen Gesetzgeber anzulegen sind, die wiederum in allen Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt sind und ausgelegt werden, dürfte eine solche autonome Konvergenz der Kartellsanktionsverfahren innerhalb des ECN gegenwärtig nicht zu erreichen sein. Hingegen wäre eine autonome Konvergenz der Kartellsanktionsverfahren möglich, sollte eine Angleichung der Grundrechtsgewährleistungen im kartellrechtlichen Mehrebenensystem erkennbar sein. b) Grundrechtsstandard in nationalen Kartellsanktionsverfahren bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV Eine solche Angleichung der unterschiedlichen Grundrechtsgewährleistungen könnte sich aus der neueren Rechtsprechung des EuGH ergeben, die den Anwendungsbereich der EU-Grundrechte zugunsten einer kohärenten Anwendung des gesamten europäischen Rechts, also auch der Art. 101, 102 AEUV, ausgedehnt hat. Wegweisend hierzu waren insbesondere die Fälle Åkerberg und Melloni aus dem Jahr 2013. Auszugehen ist vom dem Grundsatz, dass die EU-Grundrechte gem. Art. 51 GRC bei der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten anzuwenden sind. Der EuGH hat den Begriff der „Durchführung“ weit ausgelegt und entschieden, dass die Mitgliedstaaten „in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen“ zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte verpflichtet seien.64 Dies dürfte sich auch auf die Bedeutung der Unionsgrundrechte für nationale Verfahren erstrecken, da es sich bei nationalen Verfahren zur Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV um eine unionsrechtlich geregelte Fallgestaltung handelt. Da sich die EU-Grundrechte in aller Regel mit den nationalen Grundrechten decken, ergibt sich hieraus kein wesentlicher materiellrechtlicher Unterschied für die Betroffenen. Bei Abweichungen in Ausnahmefällen, die im Kartellsanktionsrecht zur Regel werden, stellt sich allerdings die Frage, welcher Grundrechtsstandard anzuwenden ist. Insoweit gilt die Meistbegünstigungsklausel des Art. 53 GRC, wonach die Bestimmungen der Charta nicht als Einschränkung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen sind, die durch nationale Verfassungen anerkannt werden. Kurzum: Es gilt in diesem Fall der höhere Standard. Der EuGH hat diese Meistbegünstigungsklausel jedoch dahingehend eingeschränkt und entschieden, dass es den nationalen Behörden und Gerichten zwar freistehe, den höheren Grundrechtsstandard des nationalen Rechts anzuwenden, jedoch nur, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der GRC noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden.65 Diese punktuelle Erweiterung des An-

64 65

EuGH v. 26.2.2013, Rs. C-617/10 Rn. 19 f. – Åkerberg. EuGH v. 26.2.2013, Rs. C-399/11, Rn. 60 – Melloni.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

wendungsbereichs der GRC 66 setzte der EuGH im Jahre 2015 durch sein Urteil Delvigne fort. In diesem Fall entschied der EuGH, dass mit dem automatischen Verlust des nationalen Wahlrechts aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung auch das Wahlrecht zum Europaparlament verloren geht, weshalb hier der Anwendungsbereich des Art. 39 II GRC eröffnet ist.67 Die Urteile Åkerberg, Melloni und Delvigne zeigen, dass Sachverhalte, die auf den ersten Blick rein nationalrechtlich determiniert sind, tatsächlich europarechtliche Bezüge haben können, wodurch der Anwendungsbereich der GRC extensiv ausgeweitet wird. Durch diese Rechtsprechung wirken die EU-Grundrechte weit in nationale Rechtsordnungen hinein, die einen sachlichen Bezug zum europäischen Recht aufweisen. Hieraus sind auch Tendenzen in Richtung der Angleichung der Grundrechtsgewährleistungen innerhalb der Europäischen Union erkennbar, was im Ergebnis zu begrüßen ist. Denn nur durch eine einheitliche Bindung der Mitgliedstaaten an die GRC können die Art. 101, 102 AEUV in nationalen Verfahren effektiv und effizient durchgesetzt werden. Dies gilt auch dann, wenn die nationalen Wettbewerbsbehörden rein nationales Kartellrecht anwenden, da insbesondere am Anfang von Ermittlungen eine Trennung zwischen nationalem und europäischem Kartellrecht aufgrund der weitgehenden materiellrechtlichen Konvergenz sowie aufgrund der dezentralen Anwendungspflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 3 VO 1/2003 teilweise nicht möglich ist. Um Rechtssicherheit zu gewährleisten, muss die einheitliche Bindungswirkung logischerweise auch dann gelten, wenn ausschließlich nationales Kartellrecht durchgeführt wird. c) Das Problem des Verhältnisses zwischen GRC und EMRK im Kartellsanktionsverfahren Da die Europäische Union anders als die EU-Mitgliedstaaten kein Mitglied der EMRK ist, stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen der GRC und der EMRK. Während die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihrer Kartellsanktionsregime weitgehend der EMRK unterliegen, lässt der EGMR im Rahmen des Verhältnisses zu den europäischen Grundrechten seit seiner Bosphorus-Entscheidung einen nur vergleichbaren Grundrechtsstandard genügen, wobei der EGMR betont, dass „vergleichbar“ nicht „identisch“ meint.68 Eine einmal getroffene Feststellung der Vergleichbarkeit des Grundrechtsschutzes sei dabei keineswegs endgültig, sondern unterliege ständiger Überprüfung im Lichte der späteren Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes.69 Dieses Urteil ist rechtsdogmatisch vergleichbar mit Art. 23 I S. 1 GG, der bei der 66

So etwa Germelmann/Gundel, BayVBl. 2016, Heft 21, S. 725, 729. EuGH v. 6.10.2015, Rs. C-650/13 – Delvigne. 68 EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Beschwerde 45036/98, Tz. 150 ff.; dazu Bröhmer, EuZW 2006, S. 71; Heer-Reißmann, NJW 2006, S. 192; Lavranos, EuR 2006, S. 79. 69 EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Beschwerde 45036/98, Tz. 155. 67

B. Autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten

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Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union nicht an das Erfordernis eines identischen Grundrechtsschutzes anknüpft. Vielmehr reicht auch hier aus, wenn die Europäische Union einen dem Grundgesetz im „Wesentlichen vergleichbaren“ Grundrechtsschutz gewährleistet. Dass im Verhältnis zwischen EUund nationalen Grundrechten in Anbetracht der Vielfalt der nationalen Grundrechte ein identischer Grundrechtsschutz innerhalb der Europäischen Union nicht möglich ist, liegt in der Natur der Sache. Gerade deswegen ist der EuGH bestrebt, die Grundrechtsgewährleistungen innerhalb der Europäischen Union anzugleichen. In diesem Sinne ist auch das Verhältnis zwischen der EMRK und GRC zu verstehen. Dies hat der EuGH nunmehr ausdrücklich in seinem Gutachten hinsichtlich des Beitritts der Europäischen Union zur EMRK bestätigt. Da Art. 53 EMRK im Wesentlichen den einzelnen Mitgliedern der Konvention die Befugnis vorbehält, höhere als die durch die EMRK gewährleisteten Grundrechtstandards vorzusehen, muss sichergestellt werden, dass diese Bestimmung mit Art. 53 GRC abgestimmt wird. Hierbei bezieht sich der EuGH insbesondere auf seine Melloni-Entscheidung, wonach höhere nationale Grundrechtsstandards nicht zu beanstanden sind, soweit der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden.70 Wenngleich das Gutachten des EuGH den Beitritt der Union zur EMRK auf absehbare Zeit verhindert hat, dürfte es sich wesentlich auf das Verhältnis zwischen GRC und EMRK ausgewirkt haben. Der EuGH wird künftig von einem vergleichbaren Grundrechtsstandard der beiden Grundrechtsquellen ausgehen, soweit der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet werden. In diesem Zusammenhang ist das Urteil des EuGH in der Sache Deutsche Bahn AG/Kommission aus dem Jahr 2015 zu verstehen, das die Durchsuchung von Geschäftsräumen und den Rechtsschutz in Kartellverfahren zum Gegenstand hatte.71 In der Sache ging es um die Frage, ob Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK bei der Durchsuchung von Geschäftsräumen juristischer Personen und im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie aus Art. 47 GRC einen richterlichen Durchsuchungsbefehl voraussetzen. Der EuGH entschied in diesem Fall, dass beide grundrechtlichen Gewährleistungen eine solche richterliche Anordnung jedenfalls nicht voraussetzten, solange die Möglichkeit zur nachträglichen gerichtlichen Überprüfung bestehe. Die gegenteilige Auffassung der Klägerin, dass die EGMR-Rechtsprechung für einen effektiven Rechtsschutz eine präventive gerichtliche Überprüfung voraussetze, konnte sich nicht durchsetzen.72 Zu einer weiteren Konvergenz zwischen beiden Grundrechtsquellen dürfte auch das im selben Jahr ergangene Urteil des EuGH in der Sache Neptune Distribution führen, das Werbeaussagen als Meinungsäußerung i. S. d. Art. 11 GRC eingestuft und sich dabei u. a. auf Art. 10 EMRK und die dazugehörige umfangreiche Judikatur des EGMR berufen 70 71 72

EuGH v. 18.12.2014, Gutachten 2/13, Rn. 189. EuGH v. 18.6.2015, Rs. C-583/13 P – Deutsche Bahn AG/Kommission. Dazu Germelmann/Gundel, BayVBl. 2016, Heft 21, S. 725, 729.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

hat.73 Der EuGH geht hier offensichtlich bei Art. 11 GRC und bei Art. 10 EMRK von einem gleichen Schutzumfang i. S. d. Art. 52 III GRC aus. 3. Der Grundrechtsschutz juristischer Personen im Kartellsanktionsverfahren Soweit es also um unionsrechtlich determinierte Rechtsbereiche geht, unterliegen die Mitgliedstaaten bei einer verfahrensrechtlichen Konvergenz den Vorgaben der GRC. Sofern aber die verfahrensrechtliche Konvergenz unionsrechtliches Terrain vollständig verlässt, wie beispielsweise bei der Ausgestaltung nationaler Gerichtsverfahren im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht, die keinen europarechtlichen Bezug aufweisen, sind wiederrum nationale Grundrechte Prüfungsmaßstab. Dies gilt im Hinblick auf das deutsche Kartellsanktionsrecht vor allem dann, wenn die verfahrensrechtliche Konvergenz aufgrund der Hybridisierung des Kartellsanktionsrechts notgedrungen auch auf solche rein nationalrechtlich determinierte Rechtsgebiete durchgreift, die streng betrachtet ausschließlich in die nationale Kompetenz fallen. Zu denken ist etwa an die Straffung des gerichtlichen Kartellsanktionsverfahrens, die in Deutschland seit einiger Zeit diskutiert wird. Die kartellrechtliche Praxis hat in Deutschland gezeigt, dass gerichtliche Kartellverfahren teilweise unverhältnismäßig lange dauern im Vergleich zu dem gerichtlichen Verfahren vor dem EuGH. Um auch hier einen Gleichlauf zwischen nationalem und europäischem Recht zu ermöglichen, soll das deutsche Gerichtsverfahren daher gestrafft werden, indem unterschiedliche Verfahrensgrundsätze aus verfahrensökonomischer Sicht modifiziert werden. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Grundsätze der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit sowie auf das Beweisantragsrecht und die damit verbundene Präklusion.74 Eine Lockerung dieser Verfahrensgrundsätze ist daher anhand nationaler Grundrechte zu messen. Aufgrund des Menschenwürdebezugs dieser Justizgrundrechte dürfte eine solche Lockerung zwar nur schwer zu rechtfertigen sein. Fraglich ist jedoch, ob eine Modifikation solcher Verfahrensgrundsätze bei juristischen Personen möglich ist. a) Die Unterscheidung zwischen juristischen und natürlichen Personen am Beispiel der Verzinsungspflicht nach § 81 VI GWB Adressaten einer Kartellsanktion sind in erster Linie Unternehmen, die überwiegend in Form juristischer Personen organisiert sind. In Deutschland besteht zudem die Möglichkeit – anders als im europäischen Recht –, Kartellsanktionen gegen natürliche Personen, insbesondere gegen Manager, zu verhängen. Unabhängig davon, ob die Sanktionierung von natürlichen Personen im deutschen Kar73 74

EuGH v. 17.12.2015, Rs. C-157/14, Rn. 64 f. – Neptune Distribution. Zu den Einzelheiten dazu vgl. unten, § 7 E.

B. Autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten

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tellsanktionsrecht beibehalten oder sogar in Richtung weiterer Straftatbestände verschärft werden soll,75 stellt sich vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Betroffenheit von juristischen und natürlichen Personen die berechtigte Frage, ob in Kartellsanktionsverfahren bei juristischen Personen andere verfahrensrechtliche Maßstäbe zulässig sind. Dieser Gedanke fußt dem Grunde nach auf zwei Überlegungen, die sich gegenseitig bedingen: Zum einen sind neben den materiellrechtlichen Gewährleistungen des Schuldgrundsatzes die Justizgrundrechte im Kartellverfahren, zu denen insbesondere der Anspruch auf ein faires Verfahren sowie die Unschuldsvermutung und unterschiedliche Verteidigungsrechte gehören, überwiegend Ausfluss der Menschenwürde.76 So hat das BVerfG etwa in Bezug auf die aus Art. 2 I i.V. m. Art. 1 GG abgeleitete Selbstbelastungsfreiheit anerkannt, dass diese nicht wesensgleich auf juristische Personen i. S. d. Art. 19 III GG anwendbar ist. Dort, „wo der Grundrechtsschutz an Eigenschaften, Äußerungsformen oder Beziehungen anknüpft, die nur natürlichen Personen wesenseigen sind, kommt eine Erstreckung auf juristische Personen als bloße Zweckgebilde der Rechtsordnung nicht in Betracht“.77 Zum anderen ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR eine graduelle Anwendung der Justizgrundrechte vor allem im Wettbewerbsrecht und somit auch im Kartellsanktionsrecht möglich. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass Adressaten eines Kartellsanktionsverfahrens – anders als beispielsweise im originären Ordnungswidrigkeitenverfahren – überwiegend juristische Personen sind. Ausgehend von dieser grundrechtlichen Prämisse müssten beim Fehlen einer höchstpersönlichen Belastung juristischer Personen und demzufolge einer Gefährdung der Menschenwürde sachliche Gründe vorliegen, die eine abweichende Beurteilung der verfahrensrechtlichen Garantien im Kartellsanktionsverfahren rechtfertigen. Ganz in diesem Sinne äußerte sich auch das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verzinsungspflicht im Jahr 2012, wonach eine unterschiedliche Behandlung zwischen juristischen und natürlichen Personen bei der Verhängung von kartellrechtlichen Verzugszinsen gem. § 81 VI GWB nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 I GG verstößt.78 § 81 VI GWB sei deshalb nicht verfassungswidrig, weil die Norm ausschließlich an juristische Personen und Personenvereinigungen, nicht aber an natürliche Personen mit oder ohne Unternehmenseigenschaft adressiert ist.79 Zudem folgt eine Verletzung des Art. 3 I GG nicht schon daraus, dass das Gesetz eine Verzinsungspflicht nur für Geldbußen aus dem Bereich des Kar-

75 Wenngleich nach der hier vertretenen Auffassung eine weiter gehende Kriminalisierung des deutschen Kartellrechts aus verfahrensrechtlicher Sicht nicht zweckmäßig ist, vgl. dazu oben, § 2 D. I. 76 Vgl. dazu Gaier, wistra 2014, S. 161, 163 ff. m.w. N. aus der Rechtsprechung des BVerfG. 77 BVerfG, Urteil v. 30.6.2009, BVerfGE 95, 220 (241). 78 BVerfG, Beschluss v. 19.12.2012, 1 BvL 18/11, Rn. 41 ff. 79 BVerfG, Beschluss v. 19.12.2012, 1 BvL 18/11, Rn. 43.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

tellrechts, nicht aber für solche aus anderen Regelungsmaterien anordnet.80 Hier sieht das BVerfG offensichtlich einen Unterschied zwischen Kartellgeldbußen und sonstigen Geldbußen, die in anderen Ordnungswidrigkeitenverfahren verhängt werden.81 Dies wird einerseits mit den Besonderheiten des Kartellrechts und andererseits mit der Gefahr der rechtsmissbräuchlichen Einspruchserhebung und damit der Verfahrensverzögerung durch juristische Personen gerechtfertigt, die bei natürlichen Personen aufgrund der persönlichen Betroffenheit gerade nicht vorliegt. Zudem werden statistisch betrachtet Geldbußen gegenüber natürlichen Personen im Gegensatz zu juristischen Personen in nur unerheblicher Zahl verhängt.82 Das BVerfG geht in diesem Fall aufgrund der fehlenden persönlichen Betroffenheit und des fehlenden Menschenwürdebezugs von einer anderen Reichweite der grundrechtlichen Gewährleistungen aus.83 b) Justizgrundrechte und derivativer Grundrechtsschutz nach Art. 19 III GG In einem sich auf den ersten Blick aufdrängenden Kontrast zu dem Fall Verzinsungspflicht steht die frühere Rechtsprechung des BVerfG, wonach die Justizgrundrechte des Rechts auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 I GG und des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 I 2 GG uneingeschränkt auf juristische Personen anwendbar sind, einschließlich ausländischer juristischer Personen sowie juristischer Personen des öffentlichen Rechts.84 Hier lehnt es das BVerfG offensichtlich ab, diese prozessualen Grundrechte anhand des derivativen Grundrechtsschutzes nach Art. 19 III GG auf juristische Personen anzuwenden. Vielmehr müssten solche prozessualen Grundrechte jedem offen stehen, „der nach den Verfahrensnormen parteifähig ist oder von dem Verfahren unmittelbar betroffen ist“.85 Diese Formulierung schließt eine differenzierte Anwendung dieser prozessualen Grundrechte auf juristische und natürliche Personen aus. Bei näherer Betrachtung dieser Rechtsprechung fällt jedoch auf, dass das BVerfG diesen prozessualen Garantien nicht nur einen Menschenwürdegehalt beimisst, sondern sie vordergründig als „eine Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken für das Gebiet des rechtlichen Verfahrens“ versteht.86 Nur so lässt sich entgegen dem Wortlaut des Art. 19 III GG, der ausdrücklich nur von inländischen juristischen Perso-

80

BVerfG, Beschluss v. 19.12.2012, 1 BvL 18/11, Rn. 58. BVerfG, Beschluss v. 19.12.2012, 1 BvL 18/11, Rn. 59. 82 BVerfG, Beschluss v. 19.12.2012, 1 BvL 18/11, Rn. 45. 83 Kritisch hierzu Dannecker, ZSTW 127 (2015) 2, S. 370, 408. 84 Grundlegend hierzu BVerfGE 3, 359, 363; 6, 45, 49 f.; 12, 6, 8; 13, 132, 139 f.; 18, 441, 447; 21, 362, 373; vgl. auch mit kritischen Anmerkungen hierzu Dannecker, ZSTW 127 (2015) 2, S. 370, 408 und Ackermann, NZKart 2015, S. 17, 19 f. 85 BVerfGE 3, 359, 363; 12, 6, 8; 21, 362, 373. 86 BVerfGE 9, 89, 95. 81

B. Autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten

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nen spricht, eine Erstreckung der justiziellen Grundrechtsfähigkeit auf ausländische juristische Personen rechtfertigen.87 Hier tritt die persönliche Betroffenheit zugunsten objektiver Gewährleistungen und prozeduraler Gerechtigkeit zurück. Diese Rechtsprechung führt freilich zu schwierigen Grenzziehungen, die an dieser Stelle nicht vertieft dargestellt werden können. Als Beispiel sei nur angeführt, dass juristische Personen, denen die Grundrechtsberechtigung aufgrund des derivativen Grundrechtsschutzes nach Art. 19 III GG fehlt – etwa weil es sich um ausländische juristische Personen handelt –, sich zwar auf die Justizgrundrechte der Art. 101 I 2, 103 I GG berufen können, aber nicht auf die Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 IV GG.88 Für die Zwecke dieser Untersuchung ist daher die Feststellung ausreichend, dass fernab des Rechts auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 I GG und des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 I 2 GG grundrechtliche Gewährleistungen für juristische Personen im Kartellverfahren nicht notwendigerweise die gleiche Tragweite haben müssen wie für natürliche Personen. Dies gilt insbesondere für solche Justizgrundrechte wie beispielsweise die Unschuldsvermutung, die Selbstbelastungsfreiheit und das Anwaltsprivileg. Inwiefern diese Feststellung für etwaige Modifikationen des deutschen Gerichtsverfahrens in Kartellsachen fruchtbar gemacht werden kann, ist im Besonderen Teil noch ausführlicher zu untersuchen.89

III. Zwischenergebnis Zunächst ist festzuhalten, dass eine autonome Konvergenz der nationalen Kartellsanktionsverfahren durch die Mitgliedstaaten unabhängig von der Umsetzungswahrscheinlichkeit des RL-Vorschlags der Kommission jedenfalls dann möglich ist, wenn eine hinreichende Gefährdung der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV nachgewiesen werden kann. Diese Feststellung ist gegenwärtig aufgrund der verfahrensrechtlichen Divergenzen und der damit verbundenen Probleme innerhalb des ECN unbestritten, so dass Art. 4 III EUV einen faktischen Konvergenzdruck auf die nationalen Verfahrensrechte ausübt. Diesem Konvergenzdruck stehen jedoch grundrechtliche Gewährleistungen der Unternehmen entgegen, wobei hier zwischen einer Konvergenz aufgrund unionsrechtlich determinierter Verpflichtungen und einer Konvergenz ohne unionsrechtlich determinierte Verpflichtungen unterschieden werden muss. Während im ersten Falle die GRC als Rechtmäßigkeitsmaßstab herangezogen werden muss, gelten für den zweiten Fall zusätzlich die nationalen Grundrechte, die jedoch bei 87

Vgl. dazu Dannecker, ZSTW 2015, S. 127, 370, 402. Vgl. Ackermann, NZKart 2015, S. 17, 19, Fn. 18 m.w. N. auf Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 6. Aufl. 2010, Art. 19, Rn. 210; a. A. Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 19 III, Rn. 33 f. 89 Dazu unten, § 7 D. 88

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

juristischen Personen nicht die gleiche Tragweite haben müssen wie bei natürlichen Personen.

C. Die marginale Bedeutung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie innerhalb des ECN Gelegentlich wird eine verfahrensrechtliche Konvergenz der Kartellsanktionssysteme jedoch mit dem Hinweis als anstößig bewertet, eine solche greife unverhältnismäßig in die sog. mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie ein. Im Hinblick auf die Umsetzung einer europäischen Richtlinie durch die Mitgliedstaaten hat die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie vor allem in Bezug auf den Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten eine große Bedeutung. Im Falle einer autonomen Konvergenz durch den nationalen Gesetzgeber hat die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie eine noch größere Bedeutung, da ein faktischer Konvergenzdruck aus dem europäischen Recht stets auf nationale Souveränitätsvorbehalte stoßen wird. Diese Grundsätze der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie lassen sich jedoch nur bedingt auf die Eigenarten und Besonderheiten des ECN übertragen, die die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie bereits jetzt aufgrund zahlreicher Bestimmungen aus der VO 1/2003 durchbrechen und marginalisieren.

I. Dogmatische Einordnung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie Der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie beschreibt zunächst einen normativen Spielraum der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei der Durchführung des Unionsrechts, der mittlerweile zu den meisterörterten Fragen im europäischen Verwaltungsrecht geworden ist.90 Wegweisend für die Begründung und Ausformung dieses Grundsatzes waren die Urteile des EuGH in den Sachen Rewe91 und Comet 92, die zusammenfassend den Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie wie folgt verstehen: Die Durchsetzung materieller Rechtspositionen aus dem Unionsrecht richtet sich grundsätzlich nach dem Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten, solange der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigt ist. Für die Zwecke dieser Untersu-

90 Vgl. dazu Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union, 2009, S. 259 mit weiteren Nachweisen auf Dougan, National Remedies Before the Court of Justice, S. 227 ff.; Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, § 3, Rn. 101 ff.; Schroeder, AöR 129 (2004), S. 3; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 1, 6 ff.; Gärditz, NWVBl. 2006, S. 441. 91 EuGH v. 16.12.1976, Rs. 33/76, Slg. 1976, I-1989 – Rewe. 92 EuGH v. 16.12.1976, Rs. 45/76, Slg. 1976, I-2043 – Comet.

C. Mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie innerhalb des ECN

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chung muss der Grundsatz daher wie folgt umschrieben werden. Die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV richtet sich grundsätzlich nach dem Kartellsanktionsverfahren der einzelnen Mitgliedstaaten, soweit der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nicht beeinträchtigt ist. Diese anfängliche Rechtsprechung des EuGH, die in den letzten Jahren weiterentwickelt und ausgeformt wurde,93 fand ihren primärrechtlichen Niederschlag durch den Vertrag von Lissabon in Art. 291 AEUV. Nach dieser Vorschrift erfolgt die Durchführung der europäischen Vorgaben nach „innerstaatlichem Recht“, woraus sich ableiten lässt, dass die Mitgliedstaaten einen Spielraum bei der Ausgestaltung der Durchführungsregelungen haben.94 Daher wird die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie gelegentlich mit dem Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien gleichgestellt. Haben die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung eines Sekundärrechtsaktes nach Art. 288 AEUV einen Beurteilungsspielraum, so müsse dies für die Durchsetzung des Unionsrechts innerhalb nationaler Verfahrensvorschriften erst recht gelten.95 Dieser – auf den ersten Blick recht nachvollziehbare – Rückschluss lässt jedoch außer Acht, dass selbst bei Richtlinien der Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten auf ein Mindestmaß reduziert werden kann, insbesondere dann, wenn es um die Konvergenz nationaler Rechtsordnungen zwecks effektiver und effizienter Durchsetzung europäischer Vorgaben geht. Dies zeigt sich schon an einigen Bestimmungen des RL-Vorschlags der Kommission, namentlich in Bereichen der Kronzeugenregelung. Hier wird die Verfahrensautonomie faktisch auf null reduziert.

II. Durchbrechungen der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie bereits durch die VO 1/2003 1. Die Eigenarten des ECN durch den direkten und indirekten Vollzug des Kartellrechts Die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie findet daher dort ihre Grenzen, wo die dezentrale Anwendung europäischer Vorgaben eine Kohärenz zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten erfordert. Im Rahmen des Verwaltungsverbundes innerhalb des ECN erfolgt die Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sowohl zentral durch die Unionsorgane als auch dezentral durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Während bei der zentralen Anwendung die Art. 101, 102 AEUV direkt durch die Unionsorgane vollzogen werden, liegt bei der dezentralen

93 94 95

Zur Entwicklung vgl. van Danwitz, DVBl. 1998, S. 421, 429 ff. Vgl. dazu Harnos, ZWeR 2016, S. 286, 291, m.w. N. in der Fn. 45. Harnos, ZWeR 2016, S. 286, 290.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

Anwendung ein indirekter Vollzug der Art. 101, 102 AEUV durch die einzelnen Mitgliedstaaten vor.96 Bei der Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des ECN besteht jedoch ein Kooperationsverhältnis zwischen den einzelnen Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und der Kommission, die Art. 101, 102 AEUV werden somit sowohl direkt durch die Kommission als auch indirekt durch die Mitgliedstaaten vollzogen. Daher liegt hier keine klassische Einteilung in die Kategorien des direkten und indirekten Vollzugs des Unionsrechts vor, sondern vielmehr eine Mischform aus beiden Kategorien des Unionsrechtsvollzugs. Diese Kooperations- und Mischform des Unionsrechtsvollzugs ist den Eigenarten des ECN geschuldet, wonach Entscheidungsbeiträge der verschiedenen Akteure aufgrund komplexer Kooperationsvorgänge und infolgedessen intensiver Verflechtung letztlich kaum mehr eindeutig zuzuordnen sind.97 Während die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie bei einem indirekten Vollzug des Unionsrechts noch ihre Berechtigung finden wird, muss dies im Hinblick auf dessen gemischten Vollzug in Zweifel gezogen werden. Die Realität der Behördenpraxis innerhalb des ECN zeigt nämlich, dass Entscheidungen nicht klar und eindeutig dem direkten oder indirekten Vollzug des Unionsrechts zugeordnet werden können. Dies gilt erst recht dann, wenn ein Sachverhalt nicht eindeutig dem nationalen oder dem europäischen Kartellrecht unterfällt. Die Konturen der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie, die anfänglich in Stein gemeißelt zu sein schienen, verblassen allmählich infolge der Institutionalisierung des kartellrechtlichen Vollzugs innerhalb des ECN. Die Beteiligung mehrerer Behörden innerhalb eines Behördennetzwerkes macht daher eine Neubewertung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie insbesondere im Kartellsanktionsrecht notwendig, die an unterschiedlichen Stellen eine Durchbrechung des Grundsatzes zu ermöglichen scheint. Solche Durchbrechungen der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie ergeben sich bereits unmittelbar aus der VO 1/2003 und künftig wohl auch aus den künftigen Vorgaben des RL-Vorschlags. Zwar überlassen Art. 5 und 6 VO 1/2003, die die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Art. 101, 102 AEUV regeln, den innerstaatlichen Stellen weitgehend die Regelung sowohl des behördlichen als auch des gerichtlichen Verfahrens. Gleichwohl lassen sich an unterschiedlichen Stellen in der VO 1/2003 Hinweise auf eine Durchbrechung dieser mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie finden, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen.

96 Zu den unterschiedlichen Vollzugsarten des Unionsrechts vgl. Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der EU, 2013, S. 28 ff.; Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2003, S. 118 ff. und von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 609 ff. 97 Vgl. dazu oben § 3.

C. Mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie innerhalb des ECN

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2. Beweislastregelung nach Art. 2 VO 1/2003 Zunächst regelt Art. 2 VO 1/2003 die Beweislast hinsichtlich der Voraussetzungen der Art. 101, 102 AEUV sowohl im nationalen als auch im europäischen Gerichts- und Verwaltungsverfahren. Diese Vorschrift normiert die unter der Vorgängervorschrift der VO 17/62 entwickelten Rechtsgrundsätze98 und stellt nunmehr ausdrücklich klar, dass in öffentlich-rechtlichen Verfahren die Behörde die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 101 I und 102 AEUV nachzuweisen hat, während in zivilrechtlichen Verfahren diese Beweispflicht denjenigen trifft, der sich auf sie beruft. Für die Voraussetzungen der Freistellungsnorm des Art. 101 III AEUV ist demgegenüber das betroffene Unternehmen, das sich auf diese beruft, beweispflichtig. Art. 2 VO 1/2003 sieht somit eine getrennte Beweisführung für Verbotsnormen und Rechtfertigungstatbestände vor. Bereits aus dem Wortlaut des Art. 2 VO 1/2003 ergibt sich, dass die Norm einerseits das Verfahren der Gemeinschaftsorgane gestaltet und andererseits das nationale Prozessrecht modifiziert. Wie jedoch bereits herausgearbeitet, obliegt es zunächst den einzelnen Mitgliedstaaten bei dem Vollzug von Gemeinschaftsrechten, ihr Prozessrecht – wozu auch die Beweislastregeln gehören – selbstständig zu gestalten, solange sie die wirksame Durchsetzung des Unionsrechts nicht gefährden. Zwar bezieht sich die Regelung in Art. 2 VO 1/2003 nicht auf die formelle Beweislast, die etwa die Beweisführungs- und Darlegungslast betrifft, sondern lediglich auf die materielle Beweislast, also die Frage, welche Partei das Risiko der Nichterweislichkeit einer zu beweisenden Behauptung trägt (non liquet).99 Gleichwohl werden die Einflüsse des Äquivalenzprinzips und des Effektivitätsgebots auf das nationale Verfahren hinsichtlich der formellen Beweislast einen Gleichlauf mit der formellen Beweislast nach dem Unionsrecht erzwingen müssen, damit die Art. 101, 102 AEUV innerstaatlich volle Wirkung entfalten.100 An dieser Stelle ist bereits eine Durchbrechung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie erkennbar, die wohl mit dem effet utile-Grundsatz zu begründen ist.101 Während die Beweislast hinsichtlich des europäischen Verfahrens in Art. 103 I, II lit. d AEUV ihre Rechts-

98 EuGH v. 10.7.1985, Rs. C-42/84, Slg. 1985, I-2545, Rn. 45 – Remia; EuG v. 9.7.1992, T-66/89, Slg. 1992, II-1995, Rn. 69 – Publisher´s Association; Dahlheimer, in: Dahlheimer/Feddersen/Miersch (Hrsg.), VO 1/2003, Art. 2, Rn. 1; Weber, in: Schulte/ Just (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 2 VO 1/2003, Rn. 1. 99 Vgl. m.w. N. van der Hout/Reinalter, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 2 VO 1/2003, Rn. 3. 100 So bereits EuGH v. 21.9.1983, verb. Rs. 205/82 bis 215/82, Slg. 1993, I-2633, Rn. 19 – Deutsche Milchkontor, der die Rechtslage wiederholt nach dem damals „gegenwärtigen Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts“ beurteilt hat. Inzwischen ist die Integration des Gemeinschaftsrechts, insbesondere durch die Einführung der VO 1/2003, fortgeschrittener als in den 1980er Jahren. 101 Insoweit Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 2 VO 1/2003, Rn. 2.

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grundlage findet, stützt sich die Beweislastregelung in Bezug auf das nationale Verfahrensrecht auf Art. 103 I, II lit. e AEUV. 3. Dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV nach Art. 3 VO 1/2003 Eine weitere Durchbrechung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie ergibt sich aus Art. 3 VO 1/2003, der das Verhältnis zwischen den Art. 101, 102 AEUV und dem einzelstaatlichen Wettbewerbsrecht regelt. Dies erscheint auf den ersten Blick befremdlich, da sich diese Vorschrift lediglich auf das Verhältnis des materiellen nationalen und europäischen Kartellrechts bezieht. Aufgrund des generellen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts102 müssen die Mitgliedstaaten jedoch ohnehin die Art. 101, 102 AEUV beachten und auch anwenden, ohne dass dies einer Klarstellung in der VO 1/2003 bedurft hätte. Die Art. 101, 102 AEUV müssen somit in jedem nationalen Kartellverfahren auch ohne den Art. 3 VO 1/2003 berücksichtigt werden.103 Somit hat diese Norm deklaratorischen Charakter und bestätigt die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Unionsrecht und nationalem Recht.104 Daher stellt sich die berechtigte Frage nach dem übrigen Regelungsgehalt dieser Norm, der im Kartellverfahren der einzelnen Mitgliedstaaten zu suchen ist. Die in Art. 3 VO 1/2003 normierte Anwendungspflicht verlangt schon bei Verfahrenseinleitung zunächst, dass durch die innerstaatlichen Stellen geprüft wird, ob die fragliche Zuwiderhandlung geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen. In einem solchen Fall dürfen die nationalen Behörden nicht ausschließlich nach nationalem Kartellrecht entscheiden, sondern sind darüber hinaus im Verfahren verpflichtet, Art. 101, 102 AEUV anzuwenden. Diese Anwendungspflicht greift somit unmittelbar in die Verfahrenseinleitung und -führung der mitgliedstaatlichen Behörden ein. Liegen also konkrete und deutliche Anhaltspunkte vor, dass eine Zuwiderhandlung den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen vermag, sind die nationalen Behörden im Sinne des Untersuchungsgrundsatzes dazu verpflichtet, die Ermittlungen auf die Untersuchung des Zwischenstaatlichkeitskriteriums auszudehnen und dabei die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bestimmung dieses Kriteriums zu befolgen,105 was letztlich im Tenor der Entscheidung, zumindest aber in der Begründung zum Ausdruck kommen muss.106 Die Einwirkung des Art. 3 VO 1/2003 auf die mit-

102 Grundlegend EuGH v. 15.7.1964, Rs. 6/64, Slg. 1964, I-1251 – Costa/ENEL; v. 17.12.1970, Rs. 11/70, Slg. 1970, I-1125 – Internationale Handelsgesellschaft. 103 de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 3, Rn. 1. 104 Dazu Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 3, Rn. 3, m.w. N. 105 Jäger, in: FK-Kartellrecht, Art. 3 VO 1/2003, Rn. 5. 106 Rehbinder, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 3 VO 1/2003, Rn. 13.

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gliedstaatliche Verfahrensautonomie kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass die prozessualen Vorgaben der VO 1/2003 selbst dann zu beachten sind, wenn in materieller Hinsicht ausschließlich nationales Recht anwendbar ist. So kann sich beispielsweise aus der Legalausnahme nach Art. 3 II i.V. m. Art. 1 II VO 1/2003 die Verpflichtung der nationalen Wettbewerbsbehörden ergeben, ein einzelstaatliches Anmeldesystem unangewendet zu lassen.107 Im Allgemeinen lässt sich auch hier die von Art. 3 VO 1/2003 ausgehende Einwirkung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes108 auf das nationale Kartellverfahren feststellen mit der Folge, dass die autonome Verfahrensführung durch innerstaatliche Stellen eingeschränkt ist. Dies war auch der Grund, warum im Rahmen der 7. GWB-Novelle die materiellen Vorschriften im GWB weitestgehend an das Unionsrecht angepasst wurden, um potentielle Konflikte zu vermeiden. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Angleichung des materiellen Kartellrechts als notwendige Folge der Durchbrechung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie zu verstehen ist. 4. Zuständigkeit der nationalen Kartellbehörden nach Art. 5 VO 1/2003 Eine zentrale Norm, die sich unmittelbar auf das Kartellverfahrensrecht der einzelnen Mitgliedstaaten auswirkt, findet sich in Art. 5 der VO 1/2003. Hiernach sind die Wettbewerbsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten für die Anwendung der Art. 101, 102 AEUV in Einzelfällen zuständig, wobei sie von Amts wegen oder auf Grund einer Beschwerde unterschiedliche – in Art. 5 S. 2 VO 1/2003 aufgezählte – Entscheidungen erlassen können. Diese Norm weist nationalen Wettbewerbsbehörden somit parallel zur Kommission die Verbandszuständigkeit zur Anwendung der Art. 101, 102 AEUV zu und ist Ausfluss des Prinzips der parallelen Zuständigkeit und der dezentralen Anwendung des europäischen Kartellrechts.109 Dabei treffen Art. 5 S. 2 und 3 VO 1/2003 unterschiedliche Regelungen für die Anwendung des nationalen Verfahrensrechts, weshalb diese Norm wohl zu den umstrittensten Bestimmungen innerhalb der VO 1/2003 gehört. Hintergrund des Art. 5 VO 1/2003 ist zunächst der Übergang von einem Genehmigungssystem zu einem System der Legalausnahme.110 Indem die in Art. 101, 102 AEUV normierten Wettbewerbsverbote in allen Mitgliedstaaten der EU unmittelbar anwendbar sind, sind die Wettbewerbsbehörden und Gerichte der einzelnen Mitgliedstaaten verpflichtet, diese materiellrechtlichen Bestimmungen auch anzuwenden. Aufgrund des Umstandes, dass die einzelnen Verfahrensrechte 107 Dazu van der Hout/Reinalter, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 2 VO 1/2003, Rn. 12. 108 EuGH v. 21.9.1983, verb. Rs. 205/82 bis 215/82, Slg. 1993, 2633, Rn. 19 – Deutsche Milchkontor. 109 Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Art. 5 VO 1/2003, Rn. 1. 110 Dazu bereits oben, § 2 C. I.

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der Mitgliedstaaten gegenwärtig nicht harmonisiert sind, bestand vor Einführung der VO 1/2003 die Gefahr, dass die europäischen Wettbewerbsvorschriften innerhalb der gesamten Union nicht einheitlich angewendet und durchgesetzt werden.111 Daher schreibt Art. 5 S. 2 VO 1/2003 den nationalen Wettbewerbsbehörden nunmehr unterschiedliche Beschlussarten vor, die auch von der Kommission erlassen werden können. So sind die nationalen Wettbewerbsbehörden u. a. gem. Art. 5 S. 2 Spiegelstrich 4 VO 1/2003 verpflichtet, bei einer Zuwiderhandlung gegen die Art. 101, 102 AEUV „Geldbußen, Zwangsgelder oder sonstige im innerstaatlichen Recht vorgesehene Sanktionen“ zu verhängen. Hierbei ist die in Art. 5 VO 1/2003 enthaltene Liste der Entscheidungsmöglichkeiten abschließend und zwingend.112 Davon ausgehend stellen sich unterschiedliche Fragen hinsichtlich der Einwirkung des Art. 5 VO 1/2003 auf die nationalen Verfahrensrechtsordnungen. Grundsätzlich überlässt Art. 5 VO 1/2003 den nationalen Gesetzgebern weitgehend die Regelung und Ausgestaltung des jeweiligen nationalen Verfahrensrechts.113 Gleichwohl ergeben sich aus diesen Bestimmungen zahlreiche Einschränkungen der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie, die insbesondere mit dem in Art. 4 III EUV verankerten effet utile-Grundsatz zu begründen sind. Begrenzungen der Beschlussbefugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden sind jedenfalls sowohl in Art. 5 S. 1 als auch Art. 5 S. 3 VO 1/2003 zu sehen. Zunächst sind die nationalen Wettbewerbsbehörden gem. Art. 5 S. 1 VO 1/2003 für die Anwendung der Art. 101, 102 AEUV nur in „Einzelfällen“ zuständig. Daraus ergibt sich der Umkehrschluss, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht befugt sind, über den Einzelfall hinausgehende Entscheidungen zu erlassen. Zwar sind die nationalen Wettbewerbsbehörden ebenso wie die Kommission verpflichtet, Art. 101, 102 AEUV anzuwenden. Jedoch dürfen sie keine Empfehlungen oder Mitteilungen zu Art. 101, 102 AEUV machen, Gruppenfreistellungsverordnungen unter Art. 105 III AEUV erlassen oder sektorspezifische Untersuchungen unter Art. 17 VO 1/2003 veranlassen.114 Hierzu ist allein die Kommission befugt, um die einheitliche Auslegung der Art. 101, 102 AEUV im gesamten europäischen Binnenmarkt sicherzustellen. Noch weitreichender ist der Einschnitt in die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie bei Entscheidungen nach Art. 5 S. 3 VO 1/2003. Hiernach können nationale Wettbewerbsbehörden entscheiden, dass für sie „kein Anlass besteht, tätig zu werden“, wenn die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen Art. 101, 111 Diese Gefahr bestand trotz der früheren Rechtsprechung der Unionsorgane, wonach die jetzigen Art. 101, 102 AEUV in allen Mitgliedstaaten bereits vor Einführung der VO 1/2003 unmittelbar anwendbar waren, vgl. dazu grundlegend EuGH v. 28.2. 1991, C-234/89, Rn. 45 – Walt Wilhelm u. a./BKartA. 112 de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 5, Rn. 5. 113 Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 5, Rn. 2; Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Art. 5, Rn. 4; de Bronett, Art. 5, Rn. 3. 114 Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Art. 5, Rn. 15.

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102 AEUV aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Informationen nicht vorliegen. Der Gerichtshof hat in der Sache Tele2Polska entschieden, dass der Art. 5 S. 3 VO 1/2003 für nationale Wettbewerbsbehörden zwar unmittelbar anwendbar ist. Sie dürfen allerdings nicht entscheiden, dass keine Verletzung gegen Art. 101, 102 AEUV vorliegt.115 Art. 5 S. 3 VO 1/2003 steht einer nationalen Verfahrensvorschrift entgegen, die es erlauben würde, ein Verfahren bezüglich der Anwendung von Art. 101, 102 AEUV durch eine Entscheidung zu beenden, mit der ein Verstoß gegen diese Artikel verneint wird.116 Der Freispruch von Unternehmen in Form einer negativen Sachentscheidung ist somit ebenfalls allein der Kommission gem. Art. 10 VO 1/2003 vorbehalten, um die einheitliche Anwendung des EU-Kartellrechts sicherzustellen.117 Aus alldem ergibt sich, dass in Bezug auf die Anwendung der Art. 101, 102 AEUV die nationalen Wettbewerbsbehörden und die Kommission zwar gleichsam verpflichtet, nicht aber mit gleichen Rechten ausgestattet sind, was de facto zu einer Verkürzung der nationalen Verfahrensautonomie führt. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage nicht abschließend geklärt, ob in Art. 5 VO 1/2003 eine unmittelbare Ermächtigungsgrundlage für nationale Wettbewerbsbehörden bei der Verhängung von Kartellsanktionen zu sehen ist, um bei der Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV etwaige Rechtslücken im nationalen Recht zu schließen.118 In diesem Falle könnten die nationalen Wettbewerbsbehörden sich bei der Verhängung von Kartellsanktionen unmittelbar auf Art. 5 VO 1/2003 berufen. Dies wird jedenfalls im Lichte der Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache Tele2Polska insbesondere vom BKartA bei der Schließung von Rechtslücken hinsichtlich der kartellrechtlichen Rechtsnachfolge angenommen.119 Zwar können einzelne Mitgliedstaaten und Gerichte keine Kartellgeldbußen nach Art. 23 VO 1/2003 verhängen, da diese Norm ausschließlich die Kommission ermächtigt und verpflichtet. Neue Ansätze gehen jedoch dahin, in Art. 5 S. 2 Spiegelstrich 4 VO 1/2003 eine unmittelbare Befugnisnorm für nationale Kartellbehörden zu sehen.120 Dies ist jedoch verfassungsrechtlich insofern problematisch, als Art. 5 S. 2 Spiegelstrich 4 VO 1/2003 – anders als Art. 23 VO 1/2003 – keine Regelungen hinsichtlich der Bußgeldbemessung statuiert. Es wäre auch systemwidrig, hinsichtlich der Bußgeldbemessung subsidiär auf Art. 23 VO 1/2003 115

EuGH v. 3.5.2011, C-375/09, Slg. 2011, I-3055, Rn. 23–29 – Tele2Polska. EuGH v. 3.5.2011, C-375/09, Slg. 2011, I-3055, Rn. 34 – Tele2Polska. 117 van der Hout/Reinalter, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Art. 5, Rn. 3. 118 Zum Streitstand vgl. Bauer, in: MüchKomm-EU WettR, Art. 5, Rn. 2. 119 Vgl. Ost, in: Bien (Hrsg.), 8. GWB-Novelle, S. 305, 312 ff.; ders., JECLP 5 (2014), S. 125, 132 f. 120 Vgl. dazu Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 19; Ost, in: Bien (Hrsg.), 8. GWB-Novelle, S. 305, 312 ff.; ders., JECLP 5 (2014), S. 125, 132 f.; Dannecker/Dannecker/Müller, ZWeR 2013, S. 417, 431. 116

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zurückzugreifen, da die Sanktionsbefugnis auch hiernach ausschließlich der Kommission vorbehalten ist. Deswegen gehen die Überlegungen dahin, dass nationale Wettbewerbsbehörden Geldbußen nach Art. 5 S. 2 Spiegelstrich 4 VO 1/2003 festsetzen, die dann im Rechtsfolgenbereich durch das nationale Recht, also nach § 81 IV GWB i.V. m. der StPO und dem GVG, ausgefüllt werden.121 Eine Bußgeldentscheidung des BKartA wäre dann nicht auf § 30 OWiG i.V. m. § 81 GWB zu stützen, sondern unmittelbar auf Art. 5 S. 2 Spiegelstrich 4 VO 1/2003 i.V. m. Art. 101, 102 AEUV. Entsprechend wären dann jene allgemeinen Grundsätze anwendbar, die von den Unionsorganen zum europäischen Kartellsanktionsrecht entwickelt wurden.122 Dies betrifft insbesondere die Haftung von Konzerngesellschaften, von Rechtsnachfolgern und die Bestimmung des richtigen Verschuldensmaßstabs. Damit sollen Rechtslücken geschlossen werden, die dadurch entstehen, dass die Ahndung einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung nach dem nationalen Recht ausgeschlossen ist, obwohl dies nach den Grundsätzen des europäischen Rechts möglich wäre. Dieses Rechtsverständnis würde auf eine Konvergenz des Kartellbußgeldverfahrens innerhalb der EU hinauslaufen, die letztlich unmittelbar auf Art. 5 S. 2 Spiegelstrich 4 VO 1/2003 gestützt wäre. Gegen diese Interpretation hat sich jedoch kürzlich der BGH 123 ausgesprochen und sich somit der h. M. in der Literatur124 angeschlossen. In seinem Beschluss hat der BGH die Rechtsbeschwerde der Generalstaatsanwaltschaft zurückgewiesen, die sich gegen das Urteil des OLG Düsseldorf in der Rechtssache Silostellgebühren II 125 richtete. Nach dem BGH sprechen sowohl der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte als auch die Gesetzessystematik dafür, dass mit Art. 5 S. 2 Spiegelstrich 4 VO 1/2003 lediglich im Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten Entscheidungsbefugnisse und Aufgaben zur Stärkung der dezentralen Anwendung des Unionsrechts auf die Mitgliedstaaten übertragen werden sollten, ohne dabei eine eigenständige Rechtsgrundlage für das Tätigwerden der 121 Mühlhoff, NZWiSt 2013, S. 321, 325; Ost, in: Bien (Hrsg.), 8. GWB-Novelle, S. 305, 315. 122 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/Teil 1, Vor § 81, Rn. 20. 123 BGH Beschl. v. 16.12.2014, Az.: KRB 47/13. 124 Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Kartellrecht, Art. 5, Rn. 9 f.; Ritter, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Art. 5, Rn. 1, 3, 7; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Vor § 81, Rn. 19, 22; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, § 7, Rn. 49; Bechtold/Bosch/Brinker, EUKartellrecht, Art. 5, Rn. 9 f., 12 aE.; Puffer-Mariette, in: Schröter/Jakob/Klotz/Mederer (Hrsg.), Europäisches Wettbewerbsrecht, Art. 5, Rn. 12, 16, 20; Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kartellrecht, Art. 5, Rn. 4 f.; Bürger, WuW 2011, S. 130, 132, 134; de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 5, Rn. 7; Schwarze/Weitbrecht, Grundzüge des europäischen Kartellverfahrensrechts, § 8, Rn. 10, 22 ff.; Dalheimer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EU, Art. 5, Rn. 17; Hossenfelder, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 5, Rn. 3. 125 OLG Düsseldorf Urteil v. 17.12.2012, WuW/E DE-R, S. 3909 ff.

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nationalen Wettbewerbsbehörden zu schaffen, aufgrund derer sie gegen Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen Kartellgeldbußen wegen einer Zuwiderhandlung gegen das europäische Wettbewerbsrecht verhängen könnten. Sowohl der Wortlaut als auch die Systematik der VO 1/2003 legen nahe, dass die im Kapitel II („Zuständigkeit“) enthaltenen Regelungen des Art. 5 VO 1/2003 sich insbesondere auf die parallele Zuständigkeit der Kommission und der Wettbewerbsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten beziehen.126 Indessen darf die Ausgestaltung der Verfahrensmodalität durch die Mitgliedstaaten nicht dem Zweck der VO 1/2003 dergestalt zuwiderlaufen, dass die wirksame Anwendung der Art. 101, 102 AEUV beeinträchtigt wird.127 Art. 5 VO 1/2003 ist zwar keine unmittelbare Ermächtigungsgrundlage für nationale Wettbewerbsbehörden, so dass die Ermittlungsbefugnisse der Art. 17–22 VO 1/2003 den nationalen Behörden nicht direkt zur Verfügung stehen.128 Jedoch haben die Mitgliedstaaten gem. Art. 35 VO 1/2003 ihre nationalen Wettbewerbsbehörden mit jenen Instrumenten auszustatten, mit denen sie die Bestimmungen der VO 1/2003 wirksam anwenden können. Dies hat nunmehr auch der RL-Vorschlag der Kommission hinreichend zum Ausdruck gebracht. Die Mitgliedstaaten werden somit verpflichtet, ein effektives und effizientes Verfahrensrecht einzuführen, mit dem sie ihrer Aufgabe unter dem Regime der VO 1/2003 wirksam nachgehen können.129 Daraus folgt eine weiter gehende Homogenitätspflicht der Mitgliedstaaten insofern, als das nationale Verfahren nicht erheblich von dem europäischen Verfahren abweichen darf.130 Der nationale Gesetzgeber muss somit einen geeigneten gesetzlichen Rahmen schaffen, in dem die Art. 101, 102 AEUV durch ein effektives, angemessenes und abschreckendes Sanktionssystem durchgesetzt werden können. Die aus der EuGH-Rechtsprechung hergeleitete, im Sinne eines Untermaßverbots zu interpretierende mitgliedstaatliche Pflicht, sich mit wirksamen Sanktionen an der kohärenten dezentralen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV zu beteiligen, verlangt jedenfalls eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen dem nationalen und europäischen Verfahren in der Ausrichtung der Sanktionen auf das mit ihnen zu verfolgende Ziel.131 Somit sind unterschiedliche Sanktionssysteme nur dann gerechtfertigt, wenn das zu verfolgende Ziel, nämlich die effektive und effiziente Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV, nicht gefähr126

BGH Beschl. v. 16.12.2014, Az.: KRB 47/13, Rn. 28. EuGH v. 7.12.2010, Rs. C-439/08, Rn. 57 – VEBIC. 128 Einer derartigen Auslegung des Art. 5 VO 1/2003 stehen sowohl grundrechtliche als auch rechtsstaatliche Grundsätze entgegen, vgl. dazu die Grundsatzentscheidung des OLG Düsseldorf, NZKart 2013, S. 166 – Silostellgebühren II; Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht, Art. 5 VO Nr. 1/2003, Rn. 10. 129 Vgl. EuGH C-309/08 – Komm./Polen, ABl. C 247 v. 27.09.2008, S. 7. 130 Vgl. Dalheimer, in: Dalheimer/Feddersen/Miersch (Hrsg.), VO 1/2003, Art. 5, Rn. 14 ff. 131 Ackermann, ZWeR 2012, S. 3, 11. 127

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det wird. Daher begründet Art. 5 VO 1/2003 insofern einen faktischen Konvergenzdruck des europäischen auf das nationale Kartellverfahrensrecht, als gleichgerichtete Entscheidungsarten bei der Anwendung des nationalen und des europäischen Rechts erforderlich sind, wenn die nationalen Wettbewerbsbehörden gem. Art. 3 VO 1/2003 nationales und europäisches Recht parallel anwenden.132 5. Zuständigkeit der nationalen Gerichte nach Art. 6 VO 1/2003 Ebenso wie nationale Wettbewerbsbehörden sind die einzelstaatlichen Gerichte gem. Art. 6 VO 1/2003 für die Anwendung der Art. 101, 102 AEUV zuständig. Aufgrund des generellen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts müssen nationale Gerichte ebenso wie die nationalen Wettbewerbsbehörden die Art. 101, 102 AEUV beachten und anwenden, ohne dass dies einer Klärung in der VO 1/2003 bedurft hätte. Daher hat Art. 6 VO 1/2003 ebenso wie Art. 5 VO 1/2003 deklaratorischen Charakter.133 Bei der Anwendung der Art. 101, 102 AEUV durch die nationalen Gerichte gilt ebenfalls grundsätzlich das nationale Prozessrecht, das vom Verfahren nach der VO 1/2003 dem Grunde nach abweichen darf. So ist es Sache des innerstaatlichen Rechts, die jeweils zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Modalitäten des gerichtlichen Verfahrens für etwaige Klagen gegen Zuwiderhandlungen Art. 101, 102 AEUV zu regeln.134 In diesem Zusammenhang werden etwa Schadensersatzansprüche von Kartellgeschädigten relevant, die vor nationalen Gerichten aufgrund einer Zuwiderhandlung gegen die Art. 101, 102 AEUV geltend gemacht werden. Diese Frage wird dann virulent, wenn die Kartellgeschädigten von der Kartellbehörde Informationen verlangen, die sie aufgrund eines Kronzeugenprogramms von Unternehmen erhalten hat. Mit dieser Frage hat sich der Gerichtshof erstmals in der Sache Pfleiderer befasst und entschieden, dass die kartellrechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere die VO 1/2003, dahingehend auszulegen sind, dass sie es nicht verbieten, dass Kartellgeschädigte Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens erhalten, die den Urheber dieses Verstoßes betreffen.135 Der Gerichtshof stellte in dem Urteil fest, dass in Ermangelung einer verbindlichen unionsrechtlichen Regelung in diesem Bereich aufgrund der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie die nationalen Vorschriften über den Zugang von Kartellgeschädigten zu Dokumenten, die Kronzeugenverfahren betreffen, anzuwenden seien.136 Auf den ersten Blick scheint der Gerichtshof den nationalen Gerichten einen weiten Ermessensspielraum bei der Auslegung der Art. 101, 102 AEUV einzuräumen und den Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie auszuweiten. Bei genauerer Be132 133 134 135 136

So jedenfalls de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 5, Rn. 8. Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Art. 6, Rn. 1. van der Hout/Reinalter, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), VO 1/2003, Art. 6, Rn. 2. EuGH v. 14.6.2011, Rs. C-360/09, Rn. 32 – Pfleiderer. EuGH v. 14.6.2011, Rs. C-360/09, Rn. 23 – Pfleiderer.

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trachtung ist jedoch das Gegenteil der Fall, da der Gerichtshof den nationalen Gerichten eine Verpflichtung zur Abwägung im Einzelfall auferlegt. Bei der Prüfung eines Antrags auf Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenprogramms müssen die nationalen Gerichte darauf achten, dass die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften nicht weniger günstig als die für ähnliche innerstaatliche Sachverhalte gelten und nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Erlangung eines Schadensersatzes praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.137 Die nationalen Gerichte müssen zwischen den Interessen der Kartellgeschädigten und den Interessen von Kronzeugen sorgfältig abwägen, ohne dabei die effektive und effiziente Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV zu gefährden. Die in Pfleiderer angeordnete Abwägung zwischen den Interessen der Kartellgeschädigten und den Interessen der am Kronzeugenprogramm beteiligten Unternehmen hat ihren Niederschlag nunmehr in der Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU gefunden, die vom deutschen Gesetzgeber mit der 9. GWB-Novelle 2017 umgesetzt wurde. Hier wurde die nationale Verfahrensautonomie durch die Judikatur des Gerichtshofs nachhaltig beeinflusst. Auch an anderen Stellen ist ein Eingriff in die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie im Gerichtsverfahren zu beobachten. Zwar verlieren die nationalen Gerichte im Falle der Eröffnung eines Verfahrens durch die Kommission gem. Art. 11 VI VO 1/2003 – anders als die nationalen Wettbewerbsbehörden – nicht ihre Zuständigkeit für die Anwendung von Art. 101, 102 AEUV. Jedoch sind die Gerichte in der Regel verpflichtet, das Verfahren bis zur Entscheidung der Kommission gem. Art. 16 VO 1/2003 auszusetzen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die verfahrensrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten etwa für wettbewerbsrechtliche Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten nicht harmonisiert sind, obwohl derartige Schadensersatzfälle eine Reihe von Besonderheiten aufweisen, denen das nationale Verfahrensrecht nur unzureichend Rechnung trägt.138 6. Evokationsrecht der Kommission gem. Art. 11 VI VO 1/2003 Eine weitere Schmälerung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie ergibt sich aus dem in Art. 11 VI VO 1/2003 verankerten Evokationsrecht der Kommission. Hiernach kann die Kommission ein Verfahren an sich ziehen, um eine Entscheidung nach Kapitel III der VO 1/2003 zu erlassen.139 Dabei hat das Evoka137

EuGH v. 14.6.2011, Rs. C-360/09, Rn. 30 – Pfleiderer. de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 6, Rn. 8. 139 Verfahren zum Erlass von Entscheidungen nach Kapitel IV („Sanktionen“) und Kapitel IX („Freistellungsverordnungen“) sind zwar nicht ausdrücklich erwähnt, nach de Bronett handelt es sich jedoch um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers, so dass richtigerweise anzunehmen ist, dass die Kommission auch das Verfahren formell einleiten muss, wenn sie beabsichtigt, materiellrechtliche Beschlüsse zu erlassen, die in diesen Kapiteln geregelt sind, vgl. dazu de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 11, Rn. 9. 138

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tionsrecht der Kommission eine zuständigkeitsentziehende Wirkung, wodurch bei der Anwendung der Art. 101, 102 AEUV die alleinige Zuständigkeit der Kommission begründet und die Zuständigkeit den nationalen Wettbewerbsbehörden vollständig entzogen wird. Dies rührt aus der Erwägung her, dass gem. Art. 105 AEUV die Kommission auf die Verwirklichung der in den Art. 101, 102 AEUV niedergelegten Grundsätze achtet, wodurch ihr die Festlegung und Umsetzung der unionsweiten Wettbewerbspolitik obliegt.140 Zudem trägt das Evokationsrecht der zentralen Kommissionsaufgabe Rechnung, gem. Art. 17 EUV als „Hüterin der Verträge“ für die kohärente Anwendung der Art. 101, 102 AEUV zu sorgen.141 Art. 11 VI VO 1/2003 begründet somit eine Sonderstellung der Kommission bei der Anwendung und Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsvorschriften, die sich auf die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie einschränkend auswirkt. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Reichweite der zuständigkeitsentziehenden Wirkung des Evokationsrechts der Kommission aus Art. 11 VI VO 1/2003. Zu dieser Frage hat sich der Gerichtshof erstmals in der Sache Toshiba geäußert, wonach bei einer auf Art. 11 VI VO 1/2003 gestützten Verfahrenseinleitung durch die Kommission die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht nur ihre Zuständigkeit hinsichtlich der Anwendung der Art. 101, 102 AEUV, sondern auch hinsichtlich der Anwendung ihres eigenen nationalen Wettbewerbsrechts verlieren. Grund hierfür ist der systematische Zusammenhang zwischen Art. 3 und 11 VI VO 1/2003.142 Art. 3 VO 1/2003 stellt eine enge Verbindung zwischen den Art. 101, 102 AEUV und den entsprechenden Vorschriften des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts her. Wenn die nationale Wettbewerbsbehörde die nationalen Wettbewerbsvorschriften anwendet, ist sie gem. Art. 3 VO 1/2003 auch verpflichtet, Art. 101, 102 AEUV anzuwenden. Da die nationale Wettbewerbsbehörde im Falle einer Verfahrenseinleitung durch die Kommission nach Art. 11 VI VO 1/2003 nicht mehr befugt ist, Art. 101, 102 AEUV anzuwenden, muss dies entsprechend für das nationale Wettbewerbsrecht gelten. Die Teile des nationalen Wettbewerbsrechts, die hingegen anwendbar bleiben, sind in Art. 3 II S. 2 und III VO 1/2003 festgelegt, die in den Erwägungsgründen 8 und 9 der VO 1/2003 näher erläutert werden. Hiernach ist es den nationalen Wettbewerbsbehörden unbenommen, strengere innerstaatliche Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung einseitiger Handlungen von Unternehmen sowie einzelstaatliche Gesetze über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen und Bestimmungen des einzelstaatlichen Rechts, die überwiegend ein von Art. 101, 102 AEUV abweichendes Ziel verfolgen, anzuwenden. Der Gerichtshof stellte jedoch in seiner Entscheidung klar, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden im Falle einer Ver-

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van der Hout/Reinalter, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Art. 11, Rn. 39 m.w. N. Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Kommentar zum EU-Kartellrecht, Bd. 2, Art. 11, Rn. 12. 142 EuGH v. 14.2.2012, C 17/10, Rn. 75–90 – Toshiba. 141

C. Mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie innerhalb des ECN

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fahrenseinleitung durch die Kommission nicht dauerhaft und endgültig ihre Zuständigkeit für das nationale Wettbewerbsrecht verlören. Diese lebt wieder auf, sobald die Kommission ihr Verfahren abgeschlossen hat.143 Gleichwohl kann die nationale Wettbewerbsbehörde ab diesem Zeitpunkt aufgrund von Art. 16 II VO 1/2003 keine einem Kommissionsbeschluss zuwiderlaufende Entscheidung mehr treffen. 7. Keine entgegenstehenden Entscheidungen gem. Art. 16 VO 1/2003 Dieses Verbot, eine dem Kommissionsbeschluss zuwiderlaufende Entscheidung zu treffen, bezieht sich dabei nicht nur auf die nationalen Wettbewerbsbehörden, sondern nach Art. 16 I VO 1/2003 auch auf die nationalen Gerichte. Art. 16 bildet somit einen wesentlichen Baustein im Normengefüge der VO 1/2003144 und folgt dem Kohärenzgebot, das einen hohen Rang im Gemeinschaftsrecht hat.145 Die Norm bezweckt die Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen im ECN, die nur dadurch gewährleistet werden kann, wenn einer der Akteure als primus inter pares die Kompetenz hat, die Entscheidungen anderer Akteure zu überstimmen. Art. 16 ergänzt somit das Evokationsrecht der Kommission gem. Art. 11 VI VO 1/2003, indem weder nationale Wettbewerbsbehörden noch nationale Gerichte eine Entscheidung erlassen dürfen, die mit einem beabsichtigten oder bereits erlassenen Kommissionsbeschluss in Widerspruch steht. Diese Vorschrift kodifiziert die Delimitis-Entscheidung, in der der Gerichtshof ausführt, dass die nationalen Gerichte, wenn sie über einen Sachverhalt zu urteilen haben, der noch Gegenstand einer Kommissionsentscheidung werden kann, eigene Entscheidungen vermeiden müssen, die mit der beabsichtigten Kommissionsentscheidung kollidieren könnten.146 Dies gelte erst recht für Entscheidungen der nationalen Gerichte, die einer Kommissionsentscheidung zuwiderlaufen würden, die denselben Sachverhalt betrifft.147 Dies würde dem Grundsatz der Rechtssicherheit und der kohärenten Anwendung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten widersprechen, weshalb Art. 16 VO 1/2003 auch als Ausfluss des effet utile-Grundsatzes anzusehen ist,148 der die 143

EuGH v. 14.2.2012, C 17/10, Rn. 80 – Toshiba van der Hout/Lux, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Art. 16, Rn. 1. 145 Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Kommentar zum europäischen Kartellrecht, Bd. 2, Art. 16, Rn. 2. 146 EuGH v. 28.2.1991, C-234/89, Slg. 1991, I-935, Rn. 47 – Delimitis. 147 EuGH v. 14.2.2000, C-344/98, Slg. 2000, I-11369, Rn. 52 – Masterfoods. 148 Dazu van der Hout/Lux, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Art. 16, Rn. 32; de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 16, Rn. 6; Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Kommentar zum europäischen Kartellrecht, Bd. 2, Art. 16, Rn. 2; Weber, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 16, Rn. 11. 144

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie im Hinblick auf Entscheidungen der einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden und Gerichte einschränkt. 8. Verfahrensrechtliche Stellung der nationalen Wettbewerbsbehörden gem. Art. 35 VO 1/2003 Damit die einzelstaatlichen Wettbewerbsbehörden ihre Aufgabe zur dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV in Einzelfällen wahrnehmen können, sind die Mitgliedstaaten gem. Art. 35 VO 1/2003 verpflichtet, die erforderlichen rechtlichen und organisatorischen Maßnahmen zu ergreifen. Somit bestimmen die einzelnen Mitgliedstaaten die zuständigen Wettbewerbsbehörden selbst, welche die EU-Wettbewerbsregeln im öffentlichen Interesse anwenden sollen.149 Insofern können entweder Verwaltungsbehörden oder Gerichte mit den in der VO 1/2003 niedergelegten Aufgaben zur dezentralen Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV betraut werden. Deutschland hat etwa das Bundeskartellamt und die obersten Landeskartellbehörden zu Wettbewerbsbehörden i. S. d. Art. 35 VO 1/2003 ernannt. Die VO 1/2003 erkennt die Verschiedenheit der in den Mitgliedstaaten bestehenden Systeme zur Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsregeln an, weshalb Art. 35 VO 1/2003 eigentlich als Paradebeispiel für die Anerkennung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie anzusehen ist. Der Gerichtshof führt in seiner VEBIC-Entscheidung aus: „In Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung bleiben die Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie dafür zuständig, unter Gewährleistung der Grundrechte und der vollen Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts der Union das bzw. die Organe der nationalen Wettbewerbsbehörde zu bestimmen, die befugt sind, sich als Antragsgegner an einem Verfahren vor einem nationalen Gericht zu beteiligen, das sich gegen die von dieser Behörde erlassenen Entscheidung richtet.“ 150 Diese Formulierung des Gerichtshofs zieht jedoch die Grenzen der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie dort, wo die volle Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts der Union gefährdet wird. Der Gerichtshof bemüht also den effet utile-Grundsatz, um die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie hinsichtlich der Stellung der nationalen Wettbewerbsbehörde, die ihre Aufgabe zur Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV wahrnimmt, wieder einzuschränken. Der Gerichtshof führte demzufolge weiter aus, „dass Art. 35 VO 1/2003 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die einer nationalen Wettbewerbsbehörde nicht die Befugnis einräumt, sich als Antragsgegnerin an einem gerichtlichen Verfahren zu beteiligen, das sich gegen die von ihr erlassene Entscheidung richtet“.151 Entgegenstehende Regelungen – wie es derzeit im deutschen Recht der Fall ist152 – 149 150 151 152

Vgl. dazu Erwägungsgrund 15 zur VO 1/2003. EuGH v. 7.12.2010, C-439/08, Rn. 64 – VEBIC. EuGH v. 7.12.2010, C-439/08, Rn. 64 – VEBIC. Dazu Chmeis, NZKart 2016, S. 564, 566.

D. Zusammenfassung und Schlussfolgerung

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beeinträchtigen die praktische Wirksamkeit der Art. 101, 102 AEUV.153 Die VEBIC-Entscheidung des Gerichtshofs zwingt die Mitgliedstaaten somit, ihre Wettbewerbsbehörden mit den notwendigen Instrumenten auszustatten, um ihrer Aufgabe zur Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV so effektiv und effizient wie möglich nachkommen zu können.

III. Zwischenergebnis Der Gerichtshof zieht bei der Auslegung der VO 1/2003 zunehmend den Grundsatz des effet utile heran, um die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie einzuschränken. Dabei hat sich herauskristallisiert, dass der Gerichtshof eine Abwägung zwischen dem Grundsatz des effet utile und der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie im Einzelfall vornimmt. Dabei kann es nicht darum gehen, ob hier dem einen oder dem anderen Grundsatz größere Bedeutung zugemessen werden sollte. Auch geht es nicht darum, die nationalen Kartellbehörden und Gerichte mit exakt den gleichen Befugnissen auszustatten wie die Unionsorgane. Vielmehr sollte der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie dort weichen, wo die effektive und effiziente Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV gefährdet wird. Dies ist zweifelsohne dann der Fall, wenn die Behördenkooperation innerhalb des ECN aufgrund unterschiedlicher Verfahrensstandards erschwert bzw. unmöglich gemacht wird. Im Interesse einer kohärenten Anwendung der europäischen Wettbewerbsvorschiften sollte hier dem effet utile-Grundsatz der Vorzug gegeben werden, um einerseits die bereits erörterten Probleme der Behördenkooperation innerhalb des ECN zu beseitigen und andererseits die effektive und effiziente Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV zu gewährleisten. Nur so lässt sich ein reibungsloses Funktionieren des gesamten Binnenmarktes gewährleisten. Bereits aus unterschiedlichen Bestimmungen der VO 1/2003 ergeben sich starke Anreize für eine verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN.154 Dies gilt insbesondere für verfahrensrechtliche Bestimmungen, die für den Vollzug der VO 1/2003 unabdingbar sind.155

D. Zusammenfassung und Schlussfolgerung für den Fortgang der Untersuchung Der vorliegende Befund zeigt, dass eine verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN sowohl durch den in Rede stehen RL-Vorschlag der Kommis153 Ausführlich zur Stellung des Bundeskartellamts im gerichtlichen Verfahren vgl. unten, § 7 B. III. 154 Vgl. dazu etwa Montag/Rosenfeld, ZWeR 2003, S. 108, 125; Sura, in: Langen/ Bunte (Hrsg.), Kommentar zum EU-Kartellrecht, Bd. 2, Art. 3, Rn. 17 und Art. 11, Rn. 13. 155 Vgl. in diesem Sinne Marauhn, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht. Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, § 7, Rn. 34.

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§ 5 Verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN

sion als auch autonom durch die einzelnen Mitgliedstaaten vollzogen werden kann. Aus rechtspolitischer Sicht ist der RL-Vorschlag in der Tat eine wirksamere Maßnahme, die schneller umzusetzen wäre. Sollte der RL-Vorschlag jedoch nicht umgesetzt werden, lassen sich gleichwohl unterschiedliche Impulse für eine autonome Konvergenz durch die Mitgliedstaaten aufgrund eines Konvergenzdrucks aus der VO 1/2003 selbst herleiten. Eingangs der Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass sich das Gesamtbild nur nach und nach aus einzelnen Pinselstrichen ergeben kann. In diesem Kapitel wurden unterschiedliche Pinselstriche aus der Rechtsprechung des EuGH nachgezeichnet, die den Rahmen einer verfahrensrechtlichen Konvergenz innerhalb des ECN bilden. Diese Konvergenztendenzen haben ihren Ausgangspunkt zunächst in unterschiedlichen Bestimmungen der VO 1/2003, die der EuGH durch seine Rechtsprechung im Lichte des Vorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit des Unionsrechts ausgelegt hat. Dabei betont der EuGH stets die Einflüsse des Äquivalenzprinzips und des Effektivitätsgebots auf das nationale Verfahren. Wegweisend hierfür waren die Urteile des Gerichtshofs in den Sachen Tele2Polska, Pfleiderer, Toshiba und VEBIC, die die nationale Verfahrensautonomie aufgrund des effet utile-Grundsatzes grundlegend einschränkten. Werden diese Urteile ergänzt durch die Rechtsprechung des EuGH in den Sachen Åkerberg, Melloni, Delvigne sowie Deutsche Bahn AG/ Kommission und Neptune Distribution, aus denen sich neuerdings Konvergenztendenzen der einzelnen Grundrechtsgewährleistungen ergeben, entsteht ein starkes Bedürfnis nach verfahrensrechtlicher Konvergenz der nationalen Kartellsanktionssysteme. Ferner wird diese Rechtsprechung des EuGH durch die Urteile des EGMR in den Sachen Bosphorus ergänzt, wonach ebenfalls Konvergenztendenzen der Grundrechtsgewährleistungen in der GRC und der EMRK bestehen, und Jussila, wonach eine graduelle Anwendung der Verfahrensgarantien aus Art. 6 und 7 EMRK im Kartellverfahrensrecht bei juristischen Personen möglich ist. Die einzelnen Mitgliedstaaten sollten daher diese Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe zum Anlass nehmen, ihr nationales Verfahrensrecht dergestalt anzugleichen, dass die bestehenden Probleme innerhalb des ECN weitestgehend gelöst werden.

Besonderer Teil

Die im Allgemeinen Teil gewonnenen Erkenntnisse sollen nun im Besonderen Teil fruchtbar gemacht werden, indem untersucht wird, inwiefern eine verfahrensrechtliche Konvergenz des deutschen mit dem europäischen Recht notwendig und möglich ist. Daher unterteilt sich dieser Besondere Teil in zwei Kapitel. Zunächst wird das europäische Kartellsanktionsrecht als Referenzrechtsgebiet herangezogen (§ 6), bevor das deutsche Recht im Hinblick auf seine Konvergenz hin untersucht wird (§ 7). Andere Rechtsordnungen innerhalb des ECN bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt. Eine Begrenzung der Referenzrechtsgebiete ist schon deshalb zwingend erforderlich, da nicht alle Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten herangezogen werden können, um sämtliche Probleme innerhalb des ECN zu durchleuchten. Naturgemäß können auch nicht alle in Betracht kommenden Aspekte des europäischen und des deutschen Kartellsanktionsrechts in dieser Arbeit komparativ untersucht werden. Dies würde den Rahmen dieser Untersuchung bei Weitem sprengen. Vielmehr sollen jene Strukturelemente der jeweiligen Verfahrensrechtsordnungen untersucht werden, die gegenwärtig rechtspolitisch umstritten sind sowie die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV erschweren. Anhand der ausgewählten Referenzgebiete sollen die Unterschiede zwischen beiden Rechtsordnungen herausgearbeitet werden, anhand derer aufgezeigt werden soll, worin die Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit zwischen den Unionsorganen und den deutschen Wettbewerbsbehörden und Gerichten liegen. Erst kürzlich ist die 9. GWB-Novelle in Kraft getreten, die teilweise versucht, die angesprochenen Probleme zu lösen. Es gilt daher zu klären, inwiefern die 9. GWB-Novelle 2017 zur Befriedung dieser praktischen Probleme beitragen konnte und ob ein über die Novellierung hinausgehender Reformbedarf besteht. Dies gilt sowohl im Hinblick auf den RL-Vorschlag der Kommission als auch losgelöst von diesem. Um diese Fragen beurteilen zu können, sind vorab die Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens zu untersuchen, vor allem im Hinblick auf die gegenwärtige rechtsstaatliche Kritik daran, die mit unverminderter Härte weiterhin geäußert wird.

§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens Mit der Heranziehung des europäischen Kartellsanktionsverfahrens als Referenzgebiet soll nämlich keineswegs der Eindruck erweckt werden, das europäische Recht sei in seiner Sanktionspolitik frei von jeglicher Kritik. Im Gegenteil. Seit jeher wird den Unionsorganen bei ihrer Sanktionspolitik vorgeworfen, sie würden rechtsstaatliche Fundamentalprinzipien verletzten. Dies gilt sowohl für die Kommission, die ihr weites Ermessen durch immer höhere Kartellsanktionen ausübt, als auch für den Gerichtshof, der bei der gerichtlichen Überprüfung der Bußgeldbeschlüsse der Kommission eine bloße Rechtmäßigkeitsüberprüfung vornimmt. Trotz des europafreundlichen Ansatzes darf sich diese Untersuchung dieser Kritik daher nicht verschließen. Vielmehr soll aufgezeigt werden, aus welchen Gründen die gegenwärtige Kritik am europäischen System unbegründet ist.

A. Überblick und Systematik Bevor auf die kritischen Einzelheiten des europäischen Sanktionsrechts eingegangen wird, sollen zunächst die Systematik und der Aufbau des europäischen Kartellsanktionsverfahrens erläutert werden. Vorab wird das behördliche Verfahren der Kommission im Überblick dargestellt (I), bevor die Sanktionspraxis im Hinblick auf die Heranziehung des richtigen Kartellsanktionsadressaten sowie die Bestimmung des Verschuldensmaßstabs untersucht wird (II). Anschließend wird das weite, zunehmend an ökonomischen Prinzipien orientierte Ermessen der Kommission im Umgang mit den unterschiedlichen zur Verfügung stehenden sanktionsrechtlichen Instrumenten erläutert. Dabei solle eine marktrechtliche Beurteilung dieser sanktionsrechtlichen Instrumente nicht unbedacht bleiben (III). Schlussendlich soll die Praxis des Gerichtshofs bei der gerichtlichen Überprüfung der behördlichen Entscheidungen durchleuchtet werden (IV).

I. Rechtscharakter und Ablauf des Verfahrens Anders als im deutschen Recht, wonach streng zwischen einem Verwaltungsverfahren und einem Sanktionsverfahren zu unterscheiden ist, sieht die VO 1/2003 eine solche Differenzierung gerade nicht vor. So ist für jede verfahrensabschließende Entscheidung, gleich welcher Art, das gleiche Verfahren anzuwenden, sei es ein Negativattest, die bloße Feststellung einer Zuwiderhandlung oder die Verhängung einer Kartellsanktion. Das europäische Kartellsanktionsverfahren gegen

A. Überblick und Systematik

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kartellrechtliche Zuwiderhandlungen ist ergänzend dazu in zahlreichen anderen Rechtsvorschriften geregelt, die sich sowohl aus der VO 1/2003 selbst als auch aus der dazugehörigen VO 773/2004 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben. Zudem hat die Kommission eine Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 AEUV erlassen, die praktische Hinweise zur Durchführung von entsprechenden Verfahren für den Rechtsanwender an die Hand gibt. Auszugehen ist zunächst von der bußgeldrechtlichen Zentralnorm des Art. 23 VO 1/2003. Diese Vorschrift verleiht der Kommission die Befugnis, kartellwidriges Verhalten von Unternehmen zu sanktionieren. Die Befugnis zur Verhängung von Geldbußen betrifft sowohl Verfahrensverstöße (Art. 23 I VO 1/2003) als auch Zuwiderhandlungen gegen materiellrechtliche Verfahrenspflichten (Art. 23 II VO 1/2003). In Art. 23 V VO 1/2003 wird dabei ausdrücklich klargestellt, dass Entscheidungen nach Art. 23 I und II VO 1/2003 keinen „strafrechtlichen Charakter“ haben. Anders als in einigen mitgliedstaatliche Rechtsordnungen der Europäischen Union ist das europäische Kartellsanktionsverfahren somit rein verwaltungsrechtlicher Natur.1 Europäisches Kartellrecht ist dem Grunde nach reines Verwaltungsrecht.2 Insbesondere die Kommission versteht sich als reine Verwaltungsbehörde mit einem wirtschaftspolitisch breiten Ermessensspielraum, um auf komplexe wirtschaftsrechtliche Sachverhalte flexibel zu reagieren. Dies ergibt sich zunächst einmal daraus, dass die Kommission ihre Sanktionspraxis durch diverse Leitlinien – wie etwa die Kronzeugenregelung oder die Bußgeld-Leitlinien – konkretisiert und ständig den aktuellen Gegebenheiten anpasst. Zudem werden die Beschlüsse der Kommission von den Unionsgerichten nach verwaltungsrechtlichen Verfahrensvorschriften auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft. Die Unionsorgane betonen dabei immerzu den präventionsrechtlichen Charakter ihrer Sanktionspraxis. Die Systematik des Sanktionsverfahrens auf europäischer Ebene folgt daher einem einfachen verwaltungsrechtlichen Aufbau. Die Kommission als Verwaltungsbehörde ermittelt und sanktioniert eine kartellwidrige Zuwiderhandlung von Unternehmen nach freiem Ermessen. Sind die Ermittlungen der Kommission abgeschlossen, kann sie gegen Unternehmen einen Bußgeldbescheid erlassen. Im Falle einer Sanktionierung können Unternehmen gegen den Bußgeldbescheid der 1 EuGH v. 15.7.1970, Rs. 45/69, Slg. 1970, I-769, Rn. 23 – Boehringer Mannheim; v. 7.1.2004, Rs. C-204/00 P u. a., Slg. 2004, I-123, Rn. 200 – Aalborg Portland; EuG v. 6.10.1994, Rs. T-83/91, Slg. 1994, II-755, Rn. 235 – Tetra Pak; v. 9.7.2003, Rs. T220/00 u. a., Slg. 2003, II-2473, Rn. 44 – Cheil Jedang; v. 1.7.2008, Rs. T-276/04, Slg. 2008, II-1277, Rn. 66 – Compagnie maritime belge; v. 16.6.2011, Rs. T-191/06, Rn. 138 – FMC Foret; anders etwa GA Kokott, Schlussanträge v. 26.10.2010 in Rs. C201/09 P und C-216/09 P, Rn. 41 – ArcelorMittal. 2 Anders hingegen de Bronett, ZWeR 2012, S. 157, 162, der das europäische Kartellrecht wie viele andere insbesondere im Hinblick auf die Sanktionsbefugnis als Domäne des Strafrechts versteht.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

Kommission gerichtlich vorgehen, indem sie gem. Art. 264 IV AEUV beim Gerichtshof eine Nichtigkeitsklage einlegen. Der Gerichtshof überprüft sodann den Bußgeldbescheid der Kommission, wobei sich die gerichtliche Kontrolle häufig auf eine Rechtmäßigkeitsprüfung beschränkt. Die Einzelheiten des behördlichen Verfahrens der Kommission ergeben sich zunächst aus der VO 1/2003 selbst, die in der Bekanntmachung der Kommission über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 AEUV ausführlich dargelegt werden.3 Die Kommission kann entweder aufgrund der ihr zustehenden Ermittlungsbefugnisse von Amts wegen oder aufgrund einer Beschwerde tätig werden. Unabhängig davon, aus welchen Gründen die Kommission Untersuchungen wegen mutmaßlicher Verstöße gegen die Art. 101, 102 AEUV aufgenommen hat, erfolgt in jedem Fall eine sog. Erstprüfung. In dieser Phase überprüft die Kommission, ob es sich überhaupt lohnt, den Fall weiterzuverfolgen. Durch das Prinzip der Erstprüfung führt die Untersuchung in vielen Fällen in der Praxis zu einer Einstellung des Verfahrens, da eine weiter gehende Prüfung nicht als ergiebig eingeschätzt wird. Durch die Erstprüfung werden somit verfahrensrechtliche Ressourcen zur wirksamen Durchsetzung des europäischen Kartellrechts eingespart. Die Kommission setzt ihre Ressourcen schwerpunktmäßig für solche Fälle ein, in denen ein Verstoß, der sich auf den Wettbewerb im Binnenmarkt besonders negativ auswirkt und daher den Verbraucher schädigen könnte, mit hoher Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, sowie für Fälle, die wahrscheinlich zur Konkretisierung der europäischen Wettbewerbspolitik und zur Gewährleistung einer kohärenten Anwendung der Art. 101, 102 AEUV beitragen können. In der Phase der Erstprüfung soll frühzeitig erkannt und festgestellt werden, ob die Kommission für die Bearbeitung des Falles gut geeignet ist. Diese Einschätzung erfolgt bereits im Rahmen der Fallverteilung innerhalb des ECN. Hat die Erstprüfung ergeben, dass es sich lohnt, den Fall weiterzuverfolgen, und die Kommission gut geeignet ist, sich des Falles anzunehmen, leitet sie das Verfahren gem. Art. 11 VI VO 1/2003 ein. Mit der Verfahrenseinleitung wird zugleich die Zuständigkeit der Kommission in dieser Sache begründet, womit auch gleichzeitig die Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden entfällt. Die Kommission signalisiert sodann die Bereitschaft, den Fall zügig zu bearbeiten. Sie erlässt einen Beschluss zur Verfahrenseinleitung, der eine Auflistung der am Verfahren beteiligten Parteien und eine Kurzdarstellung enthält, worin das fragliche mutmaßliche Verhalten besteht, das gegen die Art. 101, 102 AEUV verstößt. Der Beschluss enthält auch den Hinweis, dass die Verfahrenseinleitung nicht bedeutet, dass ein Verstoß bereits festgestellt wurde, sondern nur, dass die Kommission den Fall eingehender prüfen wird. So haben die Unternehmen die Möglichkeit, sich rechtzeitig auf ein Verfahren einzustellen und sich vorzubereiten. 3 Bekanntmachung der Kommission über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101, 102 AEUV, ABl. C 308/10.

A. Überblick und Systematik

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Für Ermittlungen gegen kartellrechtliche Zuwiderhandlungen gibt Kapitel 4 der VO 1/2003 der Kommission diverse Ermittlungsbefugnisse an die Hand. Lassen etwa Umstände wie Preisstarrheit im Binnenmarkt vermuten, dass der Wettbewerb möglicherweise verfälscht oder beeinträchtigt wird, kann die Kommission gem. Art. 17 VO 1/2003 die Untersuchung einzelner Wirtschaftszweige durchführen. Zudem kann die Kommission zur Erfüllung ihrer Aufgaben gem. Art. 18 VO 1/2003 mittels einfachen Auskunftsverlangen oder mittels Entscheidung bei Unternehmen Auskünfte einholen, gem. Art. 19 VO 1/2003 natürliche oder juristische Personen befragen oder gem. Art. 20, 21 VO 1/2003 Nachprüfungen veranlassen. Diese Ermittlungsbefugnisse der Kommission sind besondere Anwendungsfälle der ihr in Art. 337 AEUV gewährten allgemeinen Ermittlungsbefugnisse. Welche der Ermittlungsbefugnisse die Kommission letztlich einsetzt, ist immer eine Frage der Zweckmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit. So ist etwa der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, wenn die Ermittlungen dem betroffenen Unternehmen eine im Verhältnis zum Zweck der Ermittlung unverhältnismäßige Last auferlegen.4 Neben diesen Grundsätzen hat die Kommission stets die Grundrechte der am Kartellsanktionsverfahren beteiligten Unternehmen zu achten.5 Ermittlungen der Kommission dürfen daher das Grundrecht der Unternehmen, sich zu verteidigen, nicht beeinträchtigen. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die Kommission durch ihre Ermittlungen ein Geständnis über die Beteiligung an der kartellrechtlichen Zuwiderhandlung erzwingen könnte, für die sie eigentlich den Beweis zu erbringen hätte.6 Weigert sich der Adressat eines Auskunftsverlangens nach Art. 18 VO 1/2003 unter Berufung auf den Schutz vor Selbstbelastung, eine in dem Auskunftsverlangen gestellte Frage zu beantworten, kann er in solchen und in anderen Fällen, in denen es für die Wahrung der Vereidigungsrechte erforderlich ist, die Angelegenheit an den Anhörungsbeauftragen weiterleiten, nachdem der Sachverhalt durch das Unternehmen der Generaldirektion Wettbewerb vorgetragen wurde.7 Der Anhörungsbeauftragte gibt gegebenenfalls eine begründete Empfehlung hinsichtlich der Anwendung des Grundsatzes des Schutzes vor Selbstbelastung ab und informiert den zuständigen Direktor über seine Schlussfolgerungen, die bei allen Beschlüssen nach Art. 18 III VO 1/2003 zu berücksichtigen sind. Der Adressat eines Auskunftsverlangens ist in dem Beschluss auf sein Recht auf Schutz vor Selbstbelastung hinzuweisen. Ausgenommen von der Auskunftsverpflichtung sind zudem solche Informationen, die dem Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen dem Rechtsanwalt und dem Mandanten unterliegen. Die bloße Behauptung, dass einschlägige Informationen dem Vertraulichkeits4 5 6 7

Vgl. dazu etwa EuG, T-39/90, Slg. 1991, II-1497, Rn. 51 – SEP/Kommission. Dazu Erwägungsgrund 37 der VO 1/2003. Fn. 28 bei de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Vorb. Art. 17–22 VO 1/2003. Zum Mandat des Anhörungsbeauftragen vgl. unten, B. II. 1. b).

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

schutz unterfallen, reicht jedoch nicht aus, um die Kommission daran zu hindern, von Schriftstücken Kenntnis zu nehmen. Ein Unternehmen, das sich auf den Vertraulichkeitsschutz beruft, muss dies vielmehr vor der Kommission rechtfertigen und sachdienliche Aufschlüsse geben, um zu beweisen, dass das Schriftstück tatsächlich dem Vertraulichkeitsschutz unterliegt, ohne allerdings den Inhalt offenbaren zu müssen. So wird etwa eine überarbeitete Fassung des Schriftstücks eingereicht, in der die unter Vertraulichkeit fallenden Passagen gestrichen sind. Hält die Kommission den Nachweis eines Anspruchs auf Vertraulichkeitsschutz für nicht erbracht, so kann sie die Vorlegung des streitigen Schriftstücks anordnen, wenn nötig auch ein Bußgeld androhen, wenn das Unternehmen sich hierzu weigert. In einem solchen Fall kann gegebenenfalls der Anhörungsbeauftrage nochmals angerufen werden. Der Anhörungsbeauftragte sichert somit die wirksame Wahrung der Verfahrensrechte der am Kartellverfahren beteiligten Unternehmen, insbesondere deren Recht auf Anhörung. Das Recht der Parteien des Verfahrens, vor einem abschließenden Beschluss gehört zu werden, ist ein elementarer Grundsatz des europäischen Rechts und somit von der Kommission zu beachten. Die Kommission ist daher verpflichtet sicherzustellen, dass das Recht auf Anhörung in Verfahren vor der Kommission wirksam ausgeübt werden kann. Der Anhörungsbeauftragte ist somit direkt am kartellrechtlichen Verfahren beteiligt und achtet darauf, dass die Verfahrensrechte während des gesamten Verfahrens effektiv gewahrt werden. Vor dem Erlass eines Beschlusses, der dem Adressaten eine Zuwiderhandlung gegen die Art. 101, 102 AEUV vorwirft, gibt die Kommission den Parteien des Verfahrens noch einmal die Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. Dies ist ein wesentlicher Verfahrensschritt, durch den sichergestellt wird, dass das Recht auf Anhörung auch tatsächlich gewahrt wird. Die Unternehmen erhalten sodann alle Informationen, die sie benötigen, um sich rechtzeitig effektiv verteidigen zu können. Hat die Kommission eine kartellrechtliche Zuwiderhandlung ermittelt, kann sie Abhilfemaßnahmen nach Art. 7 VO 1/2003 auferlegen oder Geldbußen nach Art. 23 VO 1/2003 verhängen. In der Mitteilung der Beschwerdepunkte müssen einschlägige Informationen so detailliert sein, dass Unternehmen sich effektiv auf ihre Verteidigung vorbereiten können. Verhängt die Kommission hingegen strukturelle Maßnahmen nach Art. 7 VO 1/2003, muss sie darlegen, warum keine gleichermaßen wirksamen verhaltensorientierten Maßnahmen in Frage kommen. Beabsichtigt die Kommission zudem ein Bußgeld nach Art. 23 II VO 1/2003 zu verhängen, muss das ebenfalls aus der Mitteilung der Beschwerdepunkte hervorgehen und in ihr auf die einschlägigen Grundsätze der Bußgeld-Leitlinien der Kommission verwiesen werden. Die Kommission nennt in der Mitteilung die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die zur Verhängung einer Geldbuße führen können, wie etwa die Dauer und Schwere einer Zuwiderhandlung, ob die Zuwiderhandlung vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde und ob erschwerende oder mildernde Umstände berücksichtigt werden.

A. Überblick und Systematik

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II. Adressat und Verschuldensmaßstab einer Kartellsanktion Kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass ein Kartellverstoß vorliegt, so kann sie nach freiem Ermessen eine Kartellgeldbuße gem. Art. 23 II VO 1/2003 verhängen. Hinsichtlich der Bestimmung des richtigen Sanktionsadressaten und des Verschuldensmaßstabs wendet die Kommission die von ihr entwickelten, teilweise ungeschriebenen Grundsätze an, die auf europäischer Ebene mittlerweile Normcharakter haben,8 da in der VO 1/2003 selbst und den dazugehörigen Rechtsvorschriften lediglich Fragen der Durchführung eines entsprechenden Kartellsanktionsverfahrens geregelt sind. Sowohl für die Bestimmung des richtigen Sanktionsadressaten, als auch des Verschuldensmaßstabs, wendet die Kommission die Grundsätze zu der von ihr entwickelten und vom Gerichtshof bestätigten Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit an, die den Unternehmensbegriff im europäischen Kartellrecht definiert. 1. Die Rechtsfigur der „wirtschaftlichen Einheit“ a) Das Funktionsträgerprinzip im europäischen Kartellrecht Die Bußgeldandrohung gilt nach dem Wortlaut des Art. 23 I VO 1/2003 nur für „Unternehmen und Unternehmensvereinigungen“. Sanktionen gegen die für das Unternehmen handelnden natürlichen Personen sind im Gemeinschaftsrecht somit nicht vorgesehen. Nur wenn eine natürliche Person selbst ein Unternehmen bildet, kommt eine etwaige Adressatenstellung in Betracht.9 Was jedoch genau unter einem „Unternehmen“ bzw. unter einer „Unternehmensvereinigung“ zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Tatbestand des Art. 23 VO 1/2003 selbst nicht. Daher stimmen insoweit die Normadressaten des Art. 23 I VO 1/2003 und der Art. 101, 102 AEUV grundsätzlich überein. Im Ausgangspunkt lässt sich festhalten, dass die Wettbewerbsvorschriften der Art. 101, 102 AEUV sich an Unternehmen richten, die den Wettbewerb zu gefährden drohen.10 Dieser Zweck kann indes nur erreicht werden, wenn die Art. 101, 102 AEUV alle Personen erfassen, die Einfluss auf den Markt haben, die am Wettbewerb teilnehmen und diesen möglicherweise beschränken können. Aufgrund der Globalisierung von Wettbewerb und der damit verbundenen größeren Unternehmensstrukturen muss der Unternehmensbegriff zwingend weit ausgelegt werden.11 Vor diesem Hintergrund legen die Unionsorgane den funktionalen Unternehmensbegriff zugrunde. 8 Dazu Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 38 u. 72. 9 Dazu EuGH v. 14.12.2006, Rs. C-217/05, Slg. 2006, I-11987, Rn. 43 – CEEES. 10 Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU Kartellrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 101 I AEUV, Rn. 3. 11 Kersting, WuW 2014, S. 1156, 1157.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

Insbesondere der Gerichtshof hat immer wieder betont, dass als Unternehmen im Sinne der Art. 101, 102 AEUV „jede wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“ anzusehen ist. Aus der Rechtsformunabhängigkeit des Unternehmensbegriffs folgt schließlich, dass auch eine Mehrheit rechtlich selbstständiger Gesellschaften ein „Unternehmen“ im kartellrechtlichen Sinne bilden kann.12 Wie die wirtschaftliche Einheit strukturiert ist, ob sie in eine rechtliche Einheit zusammengefasst oder in verschiedene rechtlich selbstständige Gesellschaften aufgeteilt ist, spielt bei dieser Betrachtungsweise keine Rolle.13 Kartellrechtlicher Sanktionsadressat ist somit die wirtschaftliche Einheit, die durch die Kartellbeteiligung Gewinne zum Nachteil anderer Marktteilnehmer erzielt. Es gilt somit das Funktionsträgerprinzip14 und nicht – wie im deutschen Recht etwa – das Rechtsträgerprinzip.15 b) Die Rechtspersönlichkeit des Kartellbußgeldadressaten Wenngleich bei der Bestimmung des kartellrechtlichen Sanktionsadressaten nach Art. 23 VO 1/2003 auf wirtschaftliche Einheiten abgestellt wird, setzt der Vollzug der Bußgeldentscheidung voraus, dass der Adressat Rechtspersönlichkeit aufweist.16 Daher haben Kommission und Gerichtshof einzelne Ansätze herausgearbeitet, um die Normadressaten des kartellrechtlichen Bußgeldtatbestandes zu bestimmen.17 Die Unionsorgane unterscheiden also zwischen dem Unternehmen als Normadressat der materiellen Rechtsvorschriften der Art. 101, 102 AEUV einerseits und dem Normadressaten eines etwaigen Bußgeldbescheids nach Art. 23 VO 1/2003 andererseits. So wird zunächst untersucht, welche wirtschaftliche Einheit für die kartellrechtliche Zuwiderhandlung gegen Art. 101, 102 AEUV verantwortlich ist, ohne dass es hierbei auf eine Rechtspersönlichkeit des be-

12 Stänige Rechtsprechung, vgl. EuGH, v. 12.7.1984, Rs. 170/83, Slg. 1984, I-2999 (3016) – Hydrotherm; v. 23.4.1991, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-2010 (2016 f.) Macrotron; v. 11.12.2007, Rs. C-280/06, Slg. 2007, I-10925 – ETI; v. 1.7.2008, Rs. C-49/07, Slg. 2008, I-4892 – MOTOE; v. 12.7.2012, Rs. C-138/11EuGH WUW/E EuR 2472 Tz. 35 ff.– Compass Datenbank; v. 28.2.2013, v. 12.12.2013, Rs. C-327/12; EuG v. 3.3.2011, Rs. T-117/07 u. a., Slg. 2011, II-649 – Areva; v. 3.3.2011, Rs. T-110/07 u. a., Slg. 2011, II-866 – Siemens. 13 Kersting, WuW 2014, S. 1156, 1157. 14 Vgl. Hengst, in: Langen/Bunte (Hrsg.), EU-Kartellrecht, Bd. 2: EU-Kartellrecht, 12. Aufl., Art. 101 AEUV, Rn. 30 ff.; Braun/Kellerbauer, NZKart 2015, S. 175, 175 f.; Kellerbauer, WuW 2014, S. 1173, 1174 f.; Kersting, WuW 2014, S. 1156, 1157; Kokott/ Dittert, WuW 2012, S. 670, 672. 15 Dazu unten, § 7 B. I. 1. 16 Vgl. dazu EuG v. 30.9.2009, Rs. T-161/05, Slg. 2009, II-3555, Rn. 56 – Hoechst. S.a. GA Kokott, Schlussanträge v. 3.7.2007 in Rs. C-280/06, Slg. 2007, I-10893, Rn. 69 mit Fn. 53 – ETI. 17 Vgl. dazu FK-Kindhäuser, Art. 81 EG-Vertrag. Bußgeldrechtliche Folgen, Rn. 98; Thomas, KSzW 2 (2011) 1, S. 10 ff.

A. Überblick und Systematik

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stimmten Unternehmens ankommt.18 Damit werden sämtliche rechtlich eigenständige juristische Personen, die als wirtschaftliche Einheit operieren, in ihrer Gesamtheit materieller und personeller Faktoren zusammengefasst.19 Erst in einem zweiten Schritt wird der Adressat des Bußgeldbescheids bestimmt, der schon aus Zustellungs- und Vollstreckungsgründen stets Rechtspersönlichkeit aufweisen muss. Entscheidungen nach Art. 23 VO 1/2003 sind daher an natürliche oder juristische Personen zu richten20 und werden nach Art. 297 II AEUV erst durch ihre Bekanntgabe wirksam.21 c) Zurechnung von Handlungen natürlicher Personen Da jedoch weder wirtschaftliche noch rechtliche Einheiten als solche handeln können, sondern naturgemäß immer nur natürliche Personen, bedarf es zur Begründung der Verantwortlichkeit des Kartellbußgeldadressaten eines wertenden Zurechnungsaktes.22 Nach Ansicht der Kommission kann jede natürliche Person, die für ein Unternehmen befugter Weise tätig wird, die Verhängung einer Kartellsanktion auslösen.23 Der EuGH hat hierzu klargestellt, dass der wirtschaftlichen Einheit die schuldhaften Handlungen eines Unternehmensvertreters oder Handelsvertreters dann zuzurechnen sei, wenn dieser berechtigt ist, für das Unternehmen oder für einen einzelnen Rechtsträger des Unternehmens tätig zu werden, und im Rahmen der ihm übertragenen Aufgaben schuldhaft gehandelt hat.24 Nach den Unionsorganen kommt es also nicht darauf an, dass der Unternehmensinhaber oder Geschäftsinhaber selbst oder ein Mitglied des Organs der juristischen Person gehandelt hat oder Kenntnis von dem Verstoß seines Mitarbeiters oder Beauftragten hatte. Der Personenkreis, dessen Verhalten dem einzelnen Rechtsträger also zugerechnet wird, wird von den Unionsorganen sehr weit gezogen, die es zudem nicht als erforderlich ansehen, in jedem Einzelfall diejenige natürliche Person zu ermitteln, die die kartellrechtliche Zuwiderhandlung auch tatsächlich begangen hat, da wettbewerbswidrige Absprachen häufig im Verbor-

18 Kling, WRP 2010, S. 506 f.; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 78. 19 Vgl. KOMM v. 27.11.2002, ABl. 2004 Nr. L 38/18, Rn. 203 – Methylglukamin; Timmerbeil/Mansdörfer, BB 2011, S. 323. 20 EuGH v. 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Slg. 2009, I-8237, Rn. 57 – Akzo Nobel; EuG v. 3.3.2011, Rs. T-117/07 und T-121/07, Rn. 64 – Areva. 21 Vgl. dazu Sauer, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kartellrecht Kommentar, Art. 23, Rn. 7. 22 Vgl. dazu und folgend Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, Vor Art. 23, Rn. 124 f.; darauf zurückgreifend auch Ost/Kallfaß/ Roesen, NZKart 2016, S. 447, 448; Braun/Kellerbauer, NZKart 2015, S. 211, 212. 23 Hierzu Tiedemann, in: FS für Jescheck, S. 1419 f. 24 Ständige Rechtsprechung seit EuGH v. 7.6.1983, Rs. 100/80 bis 103/80, Rn. 97 – Musique française; vgl. auch zuletzt EuGH v. 7.2.2013, Rs. C-68/12, Rn. 25 – Protimonopolny´ úrad Slovenskej republiky.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

genen stattfinden und schriftlich auch nicht dokumentiert werden.25 Es ist daher selten möglich, wenn nicht unmöglich, eine natürliche Person zu bestimmen, die an einem Kartell auch tatsächlich beteiligt gewesen ist. Erst wenn die natürliche Person den Rahmen des ihr übertragenen Aufgabenkreises offenkundig überschreitet, scheidet eine Zurechnung der Handlungen natürlicher Personen aus. d) Rechtsfolgen der wirtschaftlichen Einheit Die wirtschaftliche Einheit im europäischen Kartellrecht hat unterschiedliche Rechtsfolgen.26 Zunächst gilt zwischen den einzelnen Unternehmen innerhalb der wirtschaftlichen Einheit das sog. Konzernprivileg. So unterfallen wettbewerbswidrige Absprachen oder abgestimmte Verhaltensweisen innerhalb der Zusammenfassung mehrerer rechtlich selbstständiger Unternehmen nicht dem Kartellverbot. Dies ist insoweit nur konsequent, da der Wettbewerb nicht beeinträchtigt werden kann, wenn mehrere selbstständige Unternehmen untereinander Absprachen treffen oder Verhaltensweisen abstimmen, die nach außen als eine Einheit auftreten. Zudem unterfallen Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb der wirtschaftlichen Einheit nicht der Fusionskontrolle nach der VO 139/2004. Auch hier kann schon kein nachteiliger Einfluss auf die Marktstruktur ausgeübt werden, wenn mehrere Unternehmen ohnehin schon als einheitliches Unternehmen am Markt agieren. Die wirtschaftliche Einheit hat aber nicht nur Privilegien für die beteiligten Unternehmen zur Folge, sondern auch verschärfte kartellsanktionsrechtliche Haftungsfolgen. Als Korrelat zu dem Konzernprivileg, wonach sämtliche Rechtsträger der wirtschaftlichen Einheit unterfallen, gilt nämlich das gleiche für die Bestimmung des kartellrechtlichen Haftungsadressaten. Die Unionsorgane ziehen regelmäßig sämtliche Rechtsträger eines einheitlichen Unternehmens heran, die zur wirtschaftlichen Einheit gehören. Dadurch werden beispielsweise Muttergesellschaften für kartellrechtliche Verstöße der Tochtergesellschaften zur Verantwortung gezogen, obwohl der Mutter kein vorwerfbares Verhalten nachgewiesen werden kann. Belegt die Kommission also mehrere juristische Personen für das kartellrechtswidrige Verhalten mit einer Kartellsanktion, so führt dies grundsätzlich zur gesamtschuldnerischen Haftung der bebußten Unternehmen, die zur wirtschaftlichen Einheit gehören.27 Diese Sanktionspraxis ist seit jeher umstritten,28 wird von den Unionsorganen jedoch regelmäßig mit dem kartellrechtlichen Präventionsgedanken gerechtfertigt. Dies gilt sowohl für die Konzernhaftung (2) als 25

EuGH v. 7.2.2013, Rs. C-68/12, Rn. 25 – Protimonopolny´ úrad Slovenskej repu-

bliky. 26

Dazu Kersting, WuW 2014, S. 1156, 1157 f. Vgl. EuGH v. 10.4.2014, Rs. C-231/11 P bis C-233/11 P, WuW/E EU-R 2970, Rn. 48 – Kommission/Siemens. 28 Dazu ausführlich unten, B. II. 2. 27

A. Überblick und Systematik

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auch für die Haftung von rechtlichen sowie wirtschaftlichen Nachfolgern von Unternehmen (3). 2. Konzernhaftung Verstoßen mehrere konzernmäßig verbundene Unternehmen gegen die Art. 101, 102 AEUV, ist neben der oder anstelle der Verantwortung der unmittelbar handelnden Konzerngesellschaft auch die Verantwortung einer anderen, in der Regel übergeordneten Konzerngesellschaft denkbar. Für eine solche kartellbußgeldrechtliche Haftung der Mutter- für die Tochtergesellschaft bieten sich im Wesentlichen zwei rechtsdogmatische Begründungsansätze an.29 Zum einen könnte der Muttergesellschaft das Verhalten der Tochtergesellschaft zugerechnet werden. Dieser Ansatz sieht in der Konzernhaftung also eine reine Zurechnungsfrage zwischen der Mutter- und Tochtergesellschaft. Der andere Ansatz stellt hingegen auf den Konzern als wirtschaftliche Einheit ab, der von beiden Unternehmen getragen wird und deshalb als Adressat der Kartellsanktion herangezogen wird. Die Kommission verfolgte bei der Verhängung von Kartellsanktionen zunächst den wirtschaftlichen Ansatz, der es ihr ermöglichte, eine wirtschaftliche Einheit aus mehreren Konzerngesellschaften als ein Unternehmen und damit als Täter einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung anzusehen.30 Erst später konkretisierte der EuGH diese Praxis durch das Erfordernis der persönlichen Verantwortlichkeit, wonach er in der Konzernverantwortung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft eine Zurechnung des kartellwidrigen Verhaltens gesehen hat.31 Letztlich dürften beide Ansätze nur in sehr seltenen Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, weil die Einzelkriterien zur Bestimmung der wirtschaftlichen Einheit dieselben sein werden, die der Begründung der Verantwortung zugrunde gelegt sind.32 Daher ist eine dritte Betrachtungsweise vorzuziehen, die die beiden ersten Ansätze kombiniert. Abzustellen ist auf den Konzern als wirtschaftliche Einheit,

29 Vgl. dazu Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker, Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 83. 30 KOMM v. 16.7.1969, ABl. 1969 Nr. L 169 L 195/11 ff. – Farbstoffe; v. 23.11. 1984, ABl. 1985 Nr. L 35/1 ff. – Peroxyd-Produkte; v. 14.12.1984, ABl. 1985 Nr. L 35/ 58 ff. – John Degree; v. 14.12.1985, ABl. 1985 Nr. L 374/1 ff. – ECS/AKZO-Chemie; v. 23.4.1986, ABl. 1986 Nr. L 230/1 ff. – Polypropylen; v. 22.12.1987, ABl. 1988 Nr. L 65/19 ff. – Eurofix-bauco/Hitli; v. 21.12.1988, ABl. 1989 Nr. L 74/1 ff. – PVC; vgl. auch KOMM v. 21.12.2005, COMP/F/38.443, Rn. 245 – Kautschukchemikalien; v. 2.7.2007, COMP/38.784, Rn. 699 ff. – Wanadoo Espana/Telefonica; v. 20.11.2007, COMP/38.432, Rn. 154 – Professional Videotape; v. 28.7.2007, COMP/39.165, Rn. 387 – Flatglass. 31 EuGH v. 14.7.1972, Rs. 48/69, Slg. 1972, I-619, Rn. 132 ff. – ICI; v. 25.10.1983, Rs. 107/82, Slg. 1983, I-3151, Rn. 49 ff. – AEG; v. 16.11.2000, Rs. C-294/98 P, Slg. 2000, I-10065, Rn. 28 – Metsä-Serla; v. 2.10.2003, Rs. C 196/99 P, Slg. 2003, I-11005, Rn. 99 – Aristrain; v. 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Slg. 2009, I-8237, Rn. 77 – Akzo Nobel. 32 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 87.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

der aus der Sicht des Marktes nach außen agiert. Im Innenverhältnis kommt es darauf an, wem der vorgeworfene Verstoß einer Tochtergesellschaft zugerechnet wird. Hier haftet die Muttergesellschaft nicht für die Tochter, sondern für die wirtschaftliche Einheit als solche. Soweit der EuGH also von „Zurechnung“ spricht, ist damit gemeint, dass der Verstoß der Tochter nicht der Mutter, sondern dem Konzern als wirtschaftliche Einheit zugerechnet wird.33 Dieser Gedanke begründet dann nicht die persönliche Verantwortlichkeit eines einzelnen Unternehmens innerhalb der wirtschaftlichen Einheit, sondern die persönliche Verantwortlichkeit der wirtschaftlichen Einheit insgesamt. Da jedoch der Adressat eines Bußgeldbescheids anders als der Adressat der europäischen Wettbewerbsvorschriften eine Rechtspersönlichkeit aufweisen muss, ist es erforderlich, auf eine Gesellschaft zuzugreifen, welche die wirtschaftliche Einheit trägt. Das kann sowohl die Mutter- als auch die Tochtergesellschaft sein. Aus diesem Grund haften beide für den Kartellverstoß gesamtschuldnerisch. Entsprechend kann die Bußgeldentscheidung auch an die Muttergesellschaft gerichtet werden, ohne dass ihre unmittelbare persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen wäre. Diese Praxis wurde durch den EuGH in seiner Akzo Nobel-Entscheidung letztlich höchstrichterlich bestätigt.34 In Folge dieser Betrachtungsweise hat der EuGH zudem in der Entscheidung Schindler die rechtsstaatlichen Bedenken wegen eines möglichen Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung weitgehend ausgelotet.35 Es handelt sich somit weder um eine bloße Zurechnung fremden Verschuldens noch um eine bloße Haftung für Organisationsverschulden.36 Beide Unternehmen, sowohl Mutter- als auch Tochtergesellschaft, tragen beide für ihr eigenes Tun die kartellrechtliche Verantwortlichkeit der gesamten wirtschaftlichen Einheit. Bebußt wird also die wirtschaftliche Einheit als solche. Da die Höhe der Kartellsanktion bis zu 10 Prozent der Summe der Gesamtumsätze der wirtschaftlichen Einheit betragen kann, wäre es nicht zweckmäßig, den Bußgeldbescheid der Tochtergesellschaft zuzustellen. In der Praxis wird daher in der Regel die Muttergesellschaft in Anspruch genommen. Die Unionsorgane haben dabei unterschiedliche Kriterien herausgearbeitet, anhand derer die persönliche Verantwortlichkeit der wirtschaftlichen Einheit bestimmt werden kann.37 Neben der kapitalmäßigen Verbundenheit der Unternehmen und der Beteiligung der Mutter an dem Wettbewerbsverstoß kommt insbesondere eine mögliche Einflussnahme der Mutter auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft in Betracht. Dabei wird der Begriff der Geschäftspolitik in

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Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch Kokott/Dittert, WuW 2012, S. 670, 672 f. EuGH v. 10.9.2009, Rs. C-97/08, Slg. 2009, I-8237, Rn. 59 – Akzo Nobel. 35 Dazu ausführlich unten, B. II. 36 EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 98 f. – Schindler. 37 Dazu Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 89 f. 34

A. Überblick und Systematik

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der Praxis der Unionsorgane weit ausgelegt.38 Darunter sind sämtliche im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Verbindungen zwischen den Unternehmensteilen relevanten Gesichtspunkte zu verstehen, die von Fall zu Fall durchaus variieren können,39 wie beispielsweise die Beeinflussung der Preispolitik,40 die Herstellungs- und Vertriebsaktivitäten41 sowie Verkaufsvorgaben und Marketing42 durch die Muttergesellschaft. Bei der Zurechnung von kartellwidrigem Verhalten einer Tochtergesellschaft gegenüber der wirtschaftlichen Einheit kommt es also entscheidend darauf an, dass die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmen kann, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt.43 Mit anderen Worten führt die fehlende Autonomie der Tochtergesellschaft im Falle einer starken Abhängigkeit gegenüber der Muttergesellschaft zur Bejahung einer wirtschaftlichen Einheit und bei einer kartellrechtlich relevanten Zuwiderhandlung mithin zu einer gesamtschuldnerischen Bußgeldhaftung. Selbst wenn die Tochtergesellschaft autonome Entscheidungen treffen kann – was unter Umständen zu einer Entlastung der Muttergesellschaft führen könne –, bejaht die Kommission eine zurechnungsbegründende wirtschaftliche Einheit, sofern der gesamte Konzern unter einer einheitlichen Leitung steht und die Muttergesellschaft die Leitlinien der Geschäftspolitik bestimmt und überwacht.44 Die fehlende Autonomie der Tochtergesellschaft und die Weisungsgebundenheit gegenüber der Muttergesellschaft werden vor allem bei einer zu 100 Prozent im Eigentum der Muttergesellschaft stehenden Tochtergesellschaft angenommen.45 Aufgrund der damit bestehenden Einflussmöglichkeit der Mutter- gegenüber der Tochtergesellschaft besteht nach Auffassung der Unionsorgane die widerlegliche Vermutung, dass eine Tochtergesellschaft tatsächlich aufgrund von Weisungen der Muttergesellschaft gehandelt hat bzw. diese einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik der Tochtergesellschaft ausgeübt hat.46 Zusätzlich zu der 100-prozentigen Kapitalbeteiligung sind keine weiteren Indizien für

38 Dazu Bauer/Anweiler, ÖZK 2011, S. 71, 76; Burnley, World Competition 33 (2010), S. 595, 601 f.; Hofstetter/Ludescher, World Competition 33 (2010), S. 55, 58 ff.; Kling, WRP 2010, S. 506 ff.; Voet van Vormizeele, WuW 2010, S. 1008, 1012. 39 Thomas, KSzW 2 (2011) 1, S. 10, 11. 40 Vgl. EuGH v. 14.7.1972, Rs. 48/69, Slg. 1972, I-619, Rn. 137 – ICI und Rs. 52/ 69, Slg. 1972, I-787, Rn. 45 – Geigy. 41 Vgl. EuGH v. 6.3.1974, Rs. 6/73, Slg. 1974, I-223, Rn. 37 ff. – ICI. 42 Vgl. EuG v. 12.1.1995, Rs. T-102/92, Slg. 1995, II-17, Rn. 48 – Viho. 43 Vgl. nur EuGH v. 10.9.2009, Rs. C-97/08, Slg. 2009, I-8237, Rn. 58 und 72 – Akzo Nobel. 44 Vgl. Bürger, WuW 2011, S. 130, 132. 45 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 96. 46 EuGH 10.9.2009, Rs. C-97/08, Slg. 2009, I-8237, Rn. 60 – Akzo Nobel.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

die tatsächliche Einflussnahme durch die Muttergesellschaft notwendig.47 Diese Vermutung kann jedoch durch die Muttergesellschaft widerlegt werden, was sich aus dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit der wirtschaftlichen Einheit ergibt.48 Es obliegt somit der Muttergesellschaft die autonome Selbstbestimmung der Tochtergesellschaft nachzuweisen, indem sie darlegt, dass die Tochter spezifische Aspekte ihrer Geschäftspolitik selbst in die Hand nimmt, ohne insoweit Weisungen der Muttergesellschaft zu erhalten.49 Gegen diese Praxis werden grundlegende Bedenken im Hinblick auf die Beweislastumkehr unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung erhoben.50 Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob die Akzo-Vermutung auch bei Kapitalbeteiligungen unter 100 Prozent gilt und wie die Muttergesellschaft diese Vermutung in der Praxis auch wirksam wiederlegen kann. Aus der Praxis der Kommission ergeben sich jedenfalls keine einheitlichen Strukturen zu Behandlung dieses Problems. Ausgangspunkt ist zunächst einmal, dass eine 100prozentige Beteiligung der Mutter- an der Tochtergesellschaft nicht erforderlich ist, um eine Unternehmenseinheit zu begründen.51 Im Fall CSC hielt die Kommission beispielsweise einen Kapitalanteil von 51 Prozent bereits für ausreichend, um eine wirtschaftliche Einheit zu begründen. Im Verfahren Flachglas– Benelux wurde hingegen eine wirtschaftliche Einheit verneint, weil an der Tochtergesellschaft Minderheitsgesellschafter beteiligt waren. Im Fall Rohtabak–Spanien konnte die Kommission wiederum trotz Beteiligungsverhältnissen von bis zu 90 Prozent keine ausreichenden Nachweise ermitteln, die auf das Bestehen einer wirtschaftlichen Einheit hindeuten.52 An dieser Stelle wäre es wünschenswert, wenn die Kommission klare Linien zeichnen würde, wie Kapitalbeteiligungen unter 100 Prozent sich auf die wirtschaftliche Einheit und insbesondere auf die Akzo-Vermutung auswirken. Die Entwicklung bleibt daher abzuwarten. 3. Nachfolgehaftung Schwierigkeiten bei der Bestimmung des richtigen Adressaten eines Kartellbußgeldbescheids können sich auch in Fällen der Haftung von kartellrechtlichen Rechts- sowie wirtschaftlichen Nachfolgern ergeben. Die Unionsorgane lösen diese Fragen ebenfalls über das Rechtsinstitut der wirtschaftlichen Einheit.53 47 EuGH 16.11.2000, Rs. C-286/98 P, Slg. 2000, I-9925, Rn. 28 f. – Stora Kopparbergs Bergslags. 48 EuGH 29.9.2011, Rs. C-521/09 P, Rn. 57 – Elf Aquitaine. 49 EuGH 10.9.2009, Rs. C-97/08, Slg. 2009, I-8237, Rn. 63 – Akzo Nobel. 50 Vgl. dazu sogleich unten, § 6 B. II. 2. 51 Thomas, KSzW 2(2011) 1, S. 10, 11. 52 Zu den Fällen vgl. Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 91 m.w. N. 53 Vgl. Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 108.

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Auch hier ist der bußgeldrechtliche Ausgangspunkt, dass Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen für einen Wettbewerbsverstoß nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit einzustehen haben, wobei auch hier auf die persönliche Verantwortlichkeit der wirtschaftlichen Einheit als solche abzustellen ist.54 Hiernach ist die Zuwiderhandlung derjenigen natürlichen oder juristischen Person zuzurechnen, die das beteiligte Unternehmen betreibt. Eine bußgeldrechtliche Haftung kommt also dann in Betracht, wenn die natürliche oder juristische Person entweder direkt tatbeteiligt war oder im Zeitraum der Zuwiderhandlung mit dem direkten Tatbeteiligten ein Unternehmen bildete.55 Haftungsfragen können sich dabei stellen, wenn es noch während der Zuwiderhandlung oder im Anschluss daran zu Veränderungen des Unternehmensträgers kommt.56 Eine Gesellschaft, die erst nachträglich Teil des betroffenen Unternehmens wird, haftet also grundsätzlich nicht für bereits begangene Tathandlungen.57 Gleiches gilt für den Erwerb einer tatbeteiligten Gesellschaft durch Anteilserwerb (share deal), die im neuen Unternehmen als juristische Person weiterbesteht. Für den Fall also, dass die Rechtspersönlichkeit des Veräußerers fortbesteht und nur eine gewerblich tätige Einheit, die ein Teil des ursprünglichen Unternehmens darstellt, veräußert wird, bleibt die bußgeldrechtliche Verantwortung des Veräußerers bestehen.58 In Fällen, in denen eine Muttergesellschaft eine unmittelbar an der Zuwiderhandlung beteiligte Tochtergesellschaft an ein anderes Unternehmen überträgt, geht die Haftung für die Zeit bis zur Übernahme nicht auf die neue Muttergesellschaft über, sondern verbleibt bei der alten Muttergesellschaft, sofern diese selbst für den Wettbewerbsverstoß verantwortlich war.59 Es kommt also darauf an, wer zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung das fragliche Unternehmen geleitet hat, auch wenn die alte Muttergesellschaft zum Zeitpunkt der Bußgeldentscheidung nicht mehr für den Betrieb der Tochtergesellschaft verantwortlich ist.60 Hier kommt es zu einer Haftungsteilung zwischen der alten und neuen Muttergesellschaft, je nachdem, zu welchem Zeitpunkt die kartellwidrige Zuwiderhandlung durch die Tochtergesellschaft begangen wurde, während die Tochtergesellschaft für den gesamten Zeitraum der Zuwiderhandlung zur Verantwortung gezogen wird und mit

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EuGH v. 8.7.1999, Rs. C-42/92 P, Slg. 1999, I-4125, Rn. 145 – Anic Partecipazioni; v. 11.12.2007, Rs. C-280/06, Slg. 2007, I-10893, Rn. 39 – ETI; v. 20.1.2011, Rs. C-90/09 P, Rn. 34–36 – General Química; EuG v. 27.10.2010, Rs. T-24/05, Rn. 124 – Alliance One. 55 EuGH v. 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Slg. 2009, I-8237, Rn. 56, 58, 77 – Akzo Nobel. 56 Vgl. dazu und folgend Sauer, in: Schulte/Just (Hrsg.), Art. 23, Rn. 14–17. 57 EuG v. 20.3.2002, Rs. T-9/99, Slg. 2002, II-1487, Rn. 101–106 – HFB. 58 EuGH v. 16.11.2000, Rs. C-279/98 P, Slg. 2000, I-9693, Rn. 78 f. – Cascades. 59 KOMM v. 24.7.2002, ABl. 2003 Nr. L 84/1, Rn. 404 ff. – Industriegase und medizinische Gase. 60 EuGH v. 16.11.2000, Rs. C-279/98 P, Slg. 2000, I-9693, Rn. 78 – Cascades.

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der jeweiligen Muttergesellschaft gesamtschuldnerisch haftet.61 Ähnliche Regeln gelten bei einer Vermögensübertragung (asset deal). Auch hier haftet der Erwerber grundsätzlich nicht für die Vergangenheit, was bei einem Fortdauern der kartellrechtswidrigen Zuwiderhandlung durch die Tochtergesellschaft zu einer Aufspaltung der Haftung zwischen Veräußerer und Erwerber führt.62 Der Grundsatz der persönlichen Verantwortung führt jedoch aus präventionsrechtlicher Sicht dann zu unbilligen Ergebnissen, wenn ohne Nachfolgehaftung die Ahndung des Wettbewerbsverstoßes vereitelt würde, obwohl der tatbeteiligte Unternehmensbereich weiterhin besteht und dessen neuer Betreiber von etwaigen Gewinnen und Wertsteigerungen des Unternehmens infolge der kartellrechtswidrigen Tatbeteiligung profitiert, ohne für die Zuwiderhandlung haften zu müssen.63 Hiervon ausgehend gehen nach der Rechtsprechung des EuGH im Falle einer Gesamtrechtsnachfolge, bei der ein haftender Rechtsträger des Unternehmens aufhört zu existieren, die Aktiva und Passiva einschließlich der bußgeldrechtlichen Verantwortlichkeit für kartellrechtliche Zuwiderhandlungen auf den Gesamtrechtsnachfolger über.64 Neben dieser rechtlichen Nachfolgehaftung sind auch zwei Fallgruppen der wirtschaftlichen Nachfolgehaftung anerkannt, die der EuGH durch seine Rechtsprechung konkretisiert hat: So kommt bei einer konzernexternen Vermögensverschiebung etwa in Form des asset deals (Einzelübertragung der betriebsbildenden Vermögensgegenstände) eine Haftung des neuen Betreibers in Betracht, wenn der ursprünglich verantwortliche Betreiber rechtlich fortfällt oder wirtschaftlich nicht mehr existiert, also keine nennenswerte wirtschaftliche Tätigkeit mehr ausübt.65 Die kartellrechtliche Bußgeldverantwortung trifft dann den neuen Betreiber, der die Wirtschaftsgüter der an der kartellrechtlichen Zuwiderhandlung beteiligten juristischen Person oder Personenvereinigung vollständig oder in Teilen übernimmt und die Geschäftstätigkeit im Wesentlichen fortsetzt.66 In diesem Fall ist der frühere Betreiber zwar weder formal noch wirtschaftlich existent, aber das an der kartellrechtlichen Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen besteht bei wirtschaftlicher Betrachtung in einer anderen Zusammensetzung weiter (sog. wirtschaftliche Kontinuität). Eine andere Fallkonstella61 Vgl. EuG v. 3.3.2011, Rs. T-122/07 bis T-124/07, Rn. 139, 141–144 – Siemens AG Österreich. 62 EuG v. 16.6.2001, Rs. T-195/06, Rn. 310 – Solvay Solexis. 63 Vgl. etwa Sauer, in: Schulte/Just (Hrsg.), Art. 23, Rn. 15 f. 64 EuG v. 16.6.2011, Rs. T-194/06, Slg. 2011, II-3119, Rn. 62, bestätigt in EuGH v. 5.12.2013, Rs. C-448/11 P, Rn. 28 – SNIA; EuG v. 14.12.2006, verb. Rs. T-259/02 bis T-264/02 u. T-271/02, Slg. 2006, II-5169, Rn. 326 – Raiffeisen Zentralbank Österreich; EuGH v. 24.9.2009, Rs. C-125/07, Slg. 2009, I-8681, Rn. 71, 82 u. 85 – Erste Group Bank u. a.; GA Mischo, Schlussanträge v. 18.5.2000, Rs. C-286/98, Slg. 2000, I-9925, Rn. 75 – Stora Kopparbergs Bergslags. 65 EuGH v. 11.12.2007, Rs. C-280/06, Slg. 2007, I-10893, Rn. 40 – ETI. 66 EuG v. 17.12.1991, Rs. T-6/89, Rn. 237 – Anic; v. 14.12.2006, Rs. T-259/02, Slg. 2006, II-5169, Rn. 325 f. – Raiffeisen Zentralbank Österreich.

A. Überblick und Systematik

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tion bilden konzerninterne Vermögensübertragungen, bei denen der kartellbefangene Geschäftsbereich auf einen anderen Rechtsträger im selben Konzern übertragen wird. Bei solchen Fällen ändert sich das Unternehmen im Sinne der wirtschaftlichen Einheit nicht, so dass der erwerbende Rechtsträger unter Umständen zur Bußgeldzahlung herangezogen werden kann, selbst wenn der tatbeteiligte Rechtsträger rechtlich und wirtschaftlich noch fortbesteht. Andernfalls könnte sich das betroffene Unternehmen seiner kartellrechtlichen Verantwortlichkeit mit Hilfe der ihm offenstehenden gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten – „gleichviel ob absichtlich oder unabsichtlich“ – entziehen.67 In solchen Fällen besteht aus präventionsrechtlicher Sicht das Bedürfnis, vom Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit abzuweichen und eine rechtliche sowie wirtschaftliche Nachfolgehaftung anzunehmen, um eine wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV zu ermöglichen. Hierin spiegelt sich der ökonomische Ansatz des europäischen Kartellbußgeldverfahrens68 und auch der effet utile-Grundsatz nach Art. 4 III EUV wider.69 4. Verschulden Die von der Kommission festgestellte objektive Zuwiderhandlung gegen die Art. 101, 102 AEUV muss auch den Unternehmen subjektiv vorwerfbar sein. Der Tatbestand des Art. 23 II VO 1/2003 verlangt daher vorsätzliches oder zumindest fahrlässiges Verhalten.70 Die Unionsorgane gehen daher von einer eigenen Schuldfähigkeit der Unternehmen aus. Bei der Bestimmung des Verschuldens orientiert sich die Kommission am Beispiel des französischen Verwaltungsrechts. Nach dem Prinzip der Fehlorganisation der Verwaltung (faute de service) muss weder festgestellt werden, welche konkrete Person gehandelt hat, noch dass diese Person ein persönlicher Schuldvorwurf trifft. Es kommt vielmehr auf ein formales organisatorisches Verschulden an.71 Dabei ist es nicht zwingend erforderlich festzustellen, welche konkrete Person die Zuwiderhandlung begangen hat – ob beispielsweise Vorgesetzter oder Angestellter. Vielmehr kommt es darauf an, dass irgendein Unternehmensangehöriger schuldhaft gehandelt hat.72 Der Schuldgrundsatz im europäischen Kartellrecht ist daher unbestritten. Problematisch 67 EuGH v. 7.1.2004, Rs. C-204/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 356–359 – Aalborg Portland; v. 11.12.2007, Rs. C-280/06, Slg. 2007, I-10893, Rn. 48 – ETI; v. 18.12.2014, Rs. C-434/13 P, Rn. 49–53 – Parker Hannifin; ausführlich dazu Schlussanträge GA Wathelet v. 4.9.2014, Rn. 37 ff. – Parker Hannifin. 68 EuG v. 13.12.2001, verb. Rs. T-45/98 u. T-47/98, Slg. 2001, II-3757, Rn. 67 – Krupp Thyssen Stainless. 69 Dazu Kling, WRP 2010, S. 506 ff. 70 KOMM v. 15.7.1982, ABl. 1982 Nr. L 232/1 ff. 71 Vgl. dazu Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor. Art. 23 VO 1/2003, Rn. 184. 72 EuGH v. 18.9.2003, Rs. C-338/00 P, Slg. 2003, I-9189, Rn. 98 – Volkswagen.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

können jedoch Fälle werden, bei denen ein Verbotsirrtum von Seiten des Unternehmens zugrunde liegt. Der EuGH hat jüngst entschieden, dass die Anerkennung eines Irrtums über das kartellrechtswidrige Verhalten die effektive und effiziente Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV gefährden könnte, und lehnt einen solchen Verbotsirrtum im Kartellrecht jedenfalls ab. Da dieses Problem mitunter auch rechtsstaatliche Bedenken hervorgerufen hat, soll diese Thematik erst an anderer Stelle ausführlicher behandelt werden.73

III. Das weite Ermessen der Kommission Bei der Bemessung und Verhängung einer Kartellgeldbuße verfügt die Kommission über einen weiten Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum. Anders als in der deutschen Rechtsdogmatik kennt das europäische Verwaltungsrecht keinen Unterschied zwischen einem Beurteilungsspielraum auf der Tatbestandsseite und einem Ermessensspielraum auf der Rechtsfolgenseite.74 Ist daher gelegentlich entweder vom Ermessens- oder vom Beurteilungsspielraum die Rede, so werden diese beiden Begriffe synonym verwendet.75 Im Rahmen des weiten Ermessensspielraums kann die Kommission die Kartellsanktion in den Grenzen des Art. 23 VO 1/2003 anheben bzw. anpassen, wenn sie dies für erforderlich hält, um die Durchführung der Art. 101, 102 AEUV sicherzustellen.76 Gleichwohl wird der weite Ermessensspielraum der Kommission im Zuge ihrer neuen Kartellbußgeldpraxis zunehmend kritisiert und gehört zu den meistdiskutierten Themen im Rahmen des europäischen Kartellverfahrensrechts.77 Dies hängt damit zusammen, dass nur wenige normative Grundlagen das Ermessen der Kommission bestimmen. Weder im AEUV noch in der VO 1/2003 sind konkrete Vorgaben zu finden, anhand derer sich das Ermessen der Kommission konkretisieren lässt. Die Kommission konkretisiert ihr Ermessen vielmehr durch eigene Instrumente, die an anderer Stelle noch ausführlicher zu beleuchten sind.78 Vorher sind einige Bemerkungen zu einem wesentlichen Ansatz der Kommission notwendig, der nicht nur bei der Bestimmung des materiellen Kartellrechts, sondern mittlerweile auch zunehmend bei der Ausgestaltung des Verfahrensrechts eine große Rolle spielt: 73

Vgl. unten, B. II. 3. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes der EU, § 7, Rn. 103; Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 361; Everling, Zur richterlichen Kontrolle der Tatsachenfeststellungen und der Beweiswürdigung durch die Kommission in Wettbewerbssachen, WuW 1989, S. 877, 881. 75 Im Folgenden wird daher nur von „Ermessensspielraum“ die Rede sein. 76 EuGH v. 7.6.1983, verb. Rs. 100/80 bis 103/80, Slg. 1983, I-1825, Rn. 109 – Musique diffusion française; EuG v. 20.3.2002, Rs. T-23/99, Slg. 2002, II-1705, Rn. 237 – LR AF 1998. 77 Vgl. dazu Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, S. 129, m.w. N. 78 Dazu unten, III. 3. und 4. 74

A. Überblick und Systematik

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Die Rede ist vom sog. More Economic Approach (MEA), der im Kartellsanktionsverfahrensrecht bislang wenig Beachtung gefunden hat. 1. Der More Economic Approach und seine Auswirkungen auf das Ermessen der Kommission Bei der Ausübung des Ermessens lässt sich die Kommission vermehrt durch den ökonomisierten Ansatz MEA leiten, um die europäischen Wettbewerbsregeln im europäischen Binnenmarkt effektiver und effizienter durchzusetzen. Dabei handelt es sich weniger um ein rechtliches und mehr um ein ökonomisches Instrument der Kartellrechtsdurchsetzung, das – inspiriert durch die US-amerikanische Rechtsordnung – zunehmend auch im europäischen Recht Anwendung findet und auf die Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten abfärbt. Die Meinungen zum MEA sind in der rechtswissenschaftlichen Diskussion gespalten. Während einige in ihm ein Allheilmittel sehen, ist er für andere hingegen ein „Teufelswerk“.79 Grund hierfür sind die ambivalenten Wirkungen des MEA. Neben der stärkeren Ausrichtung der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik auf den Schutz der Konsumentenwohlfahrt80 geht es im Kern um die Frage, ob die zunehmende Analyse ökonomischer Effekte von wettbewerbsrelevantem Verhalten zu einer Abkehr von einer regelorientierten Konzeption der Wettbewerbspolitik, also einem formbasierten Regelsystem, das von Wettbewerbsbehörden und Gerichten anzuwenden ist (Per-se-Regeln), und der gleichzeitigen Hinwendung zu einer effektbasierten Wettbewerbspolitik (rule of reason) geführt hat. Zugespitzt kann die Frage formuliert werden, ob sich die Kartellrechtsanwendung von der Rechtswissenschaft abgewandt und zur Ökonomie hingewandt hat. Vor diesen Gefahren hat bereits Hoppmann in den 1970er Jahren gewarnt, der sich ausdrücklich für eine an Regeln orientierte Wettbewerbspolitik ausgesprochen hat.81 In die gleiche Richtung geht auch die „Theorie der Wettbewerbsbeschränkung“ von Möschel, wenngleich er einen etwas differenzierteren Ansatz vorgeschlagen hat.82 Ausgehend von der US-amerikanischen Rechtsordnung hat sich die EUWettbewerbspolitik jedoch in eine andere Richtung entwickelt, und zwar weg von einer formbasierten Rechtsanwendung hin zu einer effektbasierten rechts79 So formuliert es Breidenstein, Zur Methodik der Verfahrensrechtsvergleichung, S. 215. 80 Albers, Generaldirektion Wettbewerb der EU-Kommission, Der „more economic approach“ bei Verdrängungsmissbräuchen. Zum Stand der Überlegungen der EU-Kommission, S. 1; vgl. auch Monti, EU Competition Policy after May 2004. Rede vom 24.10.2003; ders., A Reformed Competition Policy. Achievements and Challenges for the Future, Rede v. 28.10.2003, beide Reden abrufbar unter http://ec.europa.eu/comm/ competition/speeches/. 81 Hoppmann, Fusionskontrolle, 1972; ders., Marktmacht und Wettbewerb, 1977. 82 Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, S. 48–50, vgl. auch Herdzina, Möglichkeiten und Grenzen einer wirtschaftstheoretischen Fundierung der Wettbewerbspolitik, 1988.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

ökonomischen Analyse wettbewerbsrechtlichen Verhaltens. Für diese Untersuchung wäre es jedoch wenig zweckmäßig zu hinterfragen, ob dieser ökonomische Ansatz materiellrechtlich überzeugen kann.83 Es geht vielmehr um die Frage, welche verfahrensrechtlichen Konsequenzen diese Akzentverschiebung bei der Durchsetzung des europäischen Kartellrechts mit sich brachte.84 Daher stellt sich die berechtigte, bislang wenig erörterte Frage, ob sich der MEA auch auf das Kartellsanktionsverfahren auswirkt, insbesondere auf die Ermessensausübung durch die Kommission und die damit verbundene gerichtliche Kontrolle durch den EuGH.85 Auszugehen ist zunächst nämlich von der Logik, dass mit einer stärkeren Ausrichtung der Wettbewerbspolitik an ökonomischen Prinzipien zulasten einer formbedürftigen Subsumtion der gerichtlich nicht überprüfbare Ermessensspielraum der Kommission mit den technischen und wirtschaftlichen Herausforderungen einer globalisierten Wirtschaftsordnung stetig wächst. Diese Kontrollfreiheit könnte, so die Kritiker, zu einer politischen Einflussnahme rechtsmissbräuchlich genutzt werden.86 Gelegentlich wird sogar der Verdacht gehegt, dass es der Kommission bei der Anwendung des MEA darum geht, sich unter Berufung auf beliebige ökonomische Theorien der gerichtlichen Kontrolle weitestgehend zu entziehen.87 Hingegen können mit dem MEA auch verfahrensökonomische Vorteile verbunden sein, etwa durch die Reduzierung der Kontrollaufgabe des ohnehin bereits überlasteten Gerichtshofs bei komplexen wirtschaftlichen Sachverhalten. Die wirksame Aufteilung der Befugnisse zwischen der Kommission und des Gerichtshofs ist sogar primärrechtlich in Art. 103 II lit. d AEUV vorgeschrieben, der den europäischen Gesetzgeber dazu ermächtigt, zweckdienliche Maßnahmen zu ergreifen, die die Aufgaben der Kommission und des Gerichtshofs bei der Anwendung der Art. 101, 102 AEUV gegeneinander abgrenzen. Die Abgrenzung dieser Aufgaben ist jedenfalls dann nötig, wenn dem einen Organ die notwendige Fachexpertise des anderen Organs fehlt. Es ist mittlerweile allgemein bekannt, dass der Gerichtshof jedenfalls im Hinblick auf komplexe, wirtschaftliche Verhältnisse nicht die gleiche Fachexpertise besitzt wie die mit ausgewiesenen Ökonomen besetzte Kommission, die das europäische Wettbewerbsrecht anhand ökonomischer Erkenntnisse anwendet und durchsetzt, obwohl in einigen wenigen Fällen das EuG in der Vergangenheit eine solche ökonomische Analyse vorge83 Kritisch dazu Kerber, Regelorientierte Wettbewerbspolitik aus rechtsökonomischer Sicht, in: FS für Möschel, S. 341. 84 Vgl. dazu insb. Pohlmann, Verfahrensrecht für ein ökonomisiertes Kartellrecht: Der Beurteilungsspielraum der Kommission, in: FS für Möschel, S. 471 ff. 85 Zu der gerichtlichen Kontrolle vgl. IV. 2. 86 Kerber/Christiansen, Competition Policy with Optimally Differentiated Rules instead of „Per Se vs Rule of Reason“, Journal of Competition Law and Economics 2 (2006), S. 215 ff. 87 Schmidt, in: FS für Säcker, 2011, S. 939; de Bronett, EWS 2013, S. 1; vgl. auch Emmerich, § 1, Rn. 36.

A. Überblick und Systematik

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nommen hat.88 Grundlage des europäischen Wettbewerbsrechts ist nämlich die Erkenntnis, dass der Wettbewerb das bestmöglichste Ordnungsprinzip für die Wirtschaft ist. Diese Erkenntnis basiert auf zahlreichen ökonomischen Theorien, die sich nach normativen und deskriptiven unterscheiden. Während die normative Ökonomie danach fragt, welche Ziele man mit dem Wettbewerb verfolgen sollte, also den Zweck des Gesetzes ermittelt, versucht die deskriptive Ökonomie zu klären, was der Wettbewerb überhaupt ist und wie das Wettbewerbsgeschehen überhaupt abläuft.89 Die Ermittlung des Gesetzeszwecks ist indessen Aufgabe der Rechtwissenschaft, die versucht, Interessenkonflikte zu ermitteln und anschließend durch eine Interessenabwägung zu lösen (normativ).90 Die Rechtswissenschaft findet jedoch dort ihre Grenzen, wenn anhand von empirischen Untersuchungen Ablaufprozesse des komplexen wirtschaftlichen Geschehens ermittelt werden sollen (deskriptiv). Hier ist die Rechtswissenschaft unweigerlich auf Erkenntnisse der Ökonomie angewiesen. Dies hat zur Folge, dass die Formulierung einer Verfahrensrechtsordnung durch den Gesetzgeber anhand der normativen Ökonomie bestimmt wird, während die Anwendung des Kartellrechts durch die Wettbewerbsbehörde eher auf deskriptiven ökonomischen Erkenntnissen beruht. Hier werden ökonomische Wirkungen einzelner Verhaltensweisen einzelfallbezogen detailliert untersucht, etwa durch Modellsimulationen und quantitative Studien. Juristische Formen sind hingegen dort einzuhalten, wo das Verfahrensrecht bestimmte Vorgaben macht, wie z. B. die Einhaltung von Verfahrensgarantien und die Wahrung der Verhältnismäßigkeit. Durch den MEA wirkt sich die ökonomische Betrachtungsweise somit sowohl auf ihrer normativen als auch auf ihrer deskriptiven Ebene auf die Wettbewerbspolitik der Kommission aus. Von besonderer Bedeutung ist hier der Einfluss der deskriptiven Ökonomie auf das europäische Kartellsanktionsverfahren, der immer wieder durch besonders grundrechtssensible Juristen kritisiert wird. Denn die stärkere Anwendung der deskriptiven Ökonomie im Kartellverfahrensrecht hat in der Tat zur Folge, dass die Entscheidung der Kommission davon abhängt, auf welche ökonomische Theorie sie sich stützt, um einen Wettbewerbsverstoß nach Art. 101, 102 AEUV festzustellen. In Anbetracht dessen, dass die Kommission ihre Entscheidungen auf die Grundlage von deskriptiv-ökonomischen Theorien stützt, räumen die europäischen Gerichte der Kommission seit jeher einen weiten Ermessensspielraum ein, in dessen Rahmen die Kommission komplexe wirtschaftliche Gegebenheiten würdigen kann. Die gerichtliche Kontrolle sei hier auf die Prüfung beschränkt, ob die Vorschriften über das Verfahren und die Begründung eingehalten wurden, ob 88

Dazu unten, B. II. 1. a). Näher dazu Pohlmann, in: FS für Möschel, S. 471, 472 f. 90 Sandrock, Grundbegriffe des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, 1968, S. 61 ff. 89

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

der Sachverhalt zutreffend festgestellt wurde und ob kein offensichtlicher Beurteilungsfehler oder Ermessensmissbrauch vorliegt.91 In der Folge dieser Rechtsprechung haben sich Fallgruppen herausgebildet, in denen die Kommission eine „Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten“ vornimmt. An dieser Stelle seien aufgrund der Bandbreite ökonomischer Prinzipien nur einige Beispiele genannt, die die Praxis der Kommission illustrieren sollen.92 Neben der regelbildenden Ökonomie, wonach Regeln auf Grundlage von ökonomischen Erkenntnissen geschaffen werden,93 hat die Ökonomie in einer weniger formbasierten und zunehmend auswirkungsbasierten Kartellrechtsanalyse die Wirkungen einzelner Verhaltensweisen in einem konkreten Wettbewerbsumfeld zu untersuchen. Dies kann anhand empirischer Erkenntnisse oder mithilfe von Modellen geleistet werden, etwa dann, wenn bestimmte Daten erhoben werden, mit deren Hilfe Modellrechnungen durchgeführt werden. Exemplarisch ist hier der sog. as efficient competitor-Test zu nennen, den die Kommission zur Ermittlung des Preismissbrauchs nach Art. 102 AEUV anwendet. Die schwierige Analyse hiernach besteht darin zu unterscheiden, ob Geschäftspraktiken von Unternehmen als Teil eines gesunden Wettbewerbs oder einer Wettbewerbsbeschränkung anzusehen sind. Dafür werden Wirtschaftsdaten ausgewertet und untersucht, ob ein bestimmtes Verhalten gegen Art. 102 AEUV verstößt. Die Kommission verweist indes darauf hin, dass der as efficient competitor-Test nur eine von vielen Möglichkeiten ist, etwa wettbewerbswidrige Marktverschließungseffekte von Treuerabatten festzustellen.94 Dies erweist sich in der Regel als eine äußerst komplexe Angelegenheit, weshalb die Methode auch nicht unumstritten ist.95 Ein weiteres Beispiel, mit dem der ökonomisierte Ermessensspielraum der Kommission illustriert werden kann, ist die Abgrenzung des relevanten Marktes als Ausgangspunkt nahezu jeder wettbewerbsrechtlichen Untersuchung. Während früher die Kommission die Marktabgrenzung anhand des klassischen Bedarfsmarktkonzeptes vorgenommen hat, neigt sie heute vermehrt zur Anwendung des SSNIP-Tests, der sowohl Nachfrage- als auch Angebotssubstituierbarkeit und daher alle relevanten Wettbewerbskräfte umfasst.96 Hiernach untersucht die Kommission, ob ein hypothetischer Monopolist seine Preise erfolgreich um 5 bis 10 Prozent erhöhen könnte. Wäre eine solche Erhöhung wegen vorhandener Sub91 Vgl. etwa EuGH v. 6.10.2009, verb. Rs. C-501/06 P, C-515/06 P u. C-519/06 P, WuE/E EU 1961– GlaxoSmithKline. 92 Eine umfangreiche Bestandsaufnahme, in welchen Erscheinungsformen ökonomische Analysen bei der Kartellrechtsanwendung auftreten, gibt Pohlmann, in: FS für Möschel, S. 471, 476 f. 93 So hat beispielsweise das EuG v. 6.6.2002, Rs. T-342/99, Slg. 2002 II-2585, Rn. 62 – Airtours, anhand ökonomischer Kriterien Voraussetzungen aufgestellt, unter denen eine marktbeherrschende Stellung mehrerer Unternehmen besteht. 94 Kommission v. 13.5.2009, COMP/37.990, Rn. 1002, 1055 – Intel. 95 Dazu Dreher, WuW 2008, S. 23, 50. 96 Vgl. dazu Monopolkommission, XVII. Hauptgutachten, 2006/2007, Tz. 552.

A. Überblick und Systematik

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stitute nicht erfolgreich, muss zur Bestimmung des relevanten Marktes dieser so lange um jene Produkte oder Gebiete erweitert werden, bis die Preiserhöhung für den Monopolisten dauerhaft profitabel wäre.97 Bei der Anwendung des SSNIPTests geht die Kommission ebenfalls unterschiedliche Wege. In einem Fall hat die Kommission die Substitutionsbeziehung beispielsweise auf Basis großer Datenmengen mittels ökonometrischer Modelle wie dem AIDS-Modell geschätzt.98 Hingegen hat sie in anderen Fällen Befragungen der Marktgegenseite durchgeführt, um Preiselastizitäten99 oder die Austauschbarkeit einiger Produkteigenschaften100 einzuschätzen. Auch der SSNIP-Test erfordert also eine Entscheidung zwischen den zur Verfügung stehenden ökonomischen Methoden, die auf Grundlage des weiten Ermessensspielraums der Kommission getroffen wird. Diese Beispiele zeigen, welche Folgen die Ökonomisierung des materiellen Kartellrechts für das Ermessen der Kommission und für das Kartellverfahrensrecht insgesamt nach sich zieht. Je komplexer die ökonomische Analyse eines wettbewerbsrelevanten Verhaltens ist, desto größer ist der Ermessensspielraum der Kommission bei der Wahl der für sie richtigen Methode zur Ermittlung einer wettbewerbsbeschränkenden Auswirkung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Ermessen der Kommission auf Grundlage von überwiegend ökonomischen Prinzipien ausgeübt wird. Die Komplexität dieser ökonomischen Analysen darf jedoch in der Tat nicht dazu führen, dass die Kommission ihr Ermessen rechtsmissbräuchlich anwendet. Die Kommission ist daher ständig bemüht, ihr Vorgehen bei ihren ökonomischen Analysen durch Bekanntmachungen und Mitteilungen öffentlich und transparent zu machen. 2. Rahmen und Bemessung von Kartellsanktionen a) Die einzelnen Bußgeldtatbestände in Art. 23 I, II VO 1/2003 Von diesem ökonomisierten Ermessen ausgehend verhängt die Kommission Kartellsanktionen nach Art. 23 VO 1/2003, der hinsichtlich des Sanktionsrahmens zunächst zwischen leichten und schweren Zuwiderhandlungen unterscheidet: Während Art. 23 I VO 1/2003 für bestimmte Verstöße gegen Verfahrensvorschriften eine Grenze der Bußgeldbemessung von 1 Prozent des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes vorsieht, darf die Kommission nach Art. 23 II lit. a VO 1/2003 gegen Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen Geldbußen im Höhe von 10 Prozent des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes verhängen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen die Wettbewerbsvorschriften der Art. 101, 102 AEUV verstoßen haben. 97

Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, 2005, S. 53 f. Kommission v. 17.12.2008, COMP/M.5046, Anhang 1 – Friesland/Campina. 99 Kommission v. 17.12.2008, COMP/M.5141, Rn. 130 f. – KLM/Martinair. 100 Kommission v. 26.10.2004, COMP/M.3216, Rn. 86 ff. – Oracle/Peoplesoft. 98

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

Dabei hat sie nach Art. 23 III VO 1/2003 sowohl die Schwere als auch die Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.101 Eine gesetzliche Limitierung findet sich hingegen in Art. 23 II VO 1/2003, wonach eine Kartellsanktion 10 Prozent des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen darf. Diese Höchstgrenze stellt dabei keine Bußgeldobergrenze dar, wie sie neuerdings im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht durch den BGH zu verstehen ist,102 sondern ist vielmehr als sog. Kappungsgrenze auszulegen,103 so dass der Bußgeldrahmen nach oben unbegrenzt ist. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll durch diese Kappungsgrenze verhindert werden, dass die Geldbußen in keinem Verhältnis zur Größe des Unternehmens stehen.104 Die Bußgeldzumessung kann somit weit über die 10-Prozent-Kappungsgrenze hinausgehen; der Endbetrag muss dann jedoch auf die zulässige gesetzliche Höchstgrenze „gekappt“ werden.105 Der Unterschied zur Bußgeldobergrenze besteht darin, dass kein Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen der Betrag der Kartellsanktion je nach der Schwere des Verstoßes variieren kann, wodurch eine besonders flexible und vor allem effektive sowie effiziente Sanktionierung von Kartellverstößen ermöglicht wird. Auch hierin spiegelt sich der kartellrechtliche Präventionsgedanke wider, der durch die Unionsorgane in ständigen Entscheidungen bestätigt wird. b) Bußgeldbemessung durch Leitlinien Bis auf Art. 23 II und III enthält die VO 1/2003 jedoch keine weiteren normativen Vorgaben hinsichtlich der Ausübung des Ermessens durch die Kommission. Daher verleiht die VO 1/2003 der Kommission einen erheblichen Ermessensspielraum, mit der Folge, dass der gerichtlich nicht überprüfbare Ermessensspielraum ständig wächst. So wird immer wieder auf die fehlende Transparenz und die damit verbundene Rechtsunsicherheit hingewiesen, da an ökonomischen Prinzipien orientierte Entscheidungen von Wettbewerbsbehörden und Gerichten schwer vorhersehbar sind.106 Die Bußgeldpraxis der Kommission gerät in den letzten Jahren daher zunehmend in das Fadenkreuz der Kritiker, die ihr rechtsstaatliche Defizite vorwerfen.107 Um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu 101 Im Rahmen der 7. GWB-Novelle 2005 hat der deutsche Gesetzgeber die Regelung des Art. 23 III VO 1/2003 wörtlich in § 81 IV S. 6 GWB übernommen. 102 BGH, Besch. v. 26.2013, KRB 20/12, Rz. 55 – „Grauzementurteil“. 103 Engelsing/Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker (Hrsg.), MünchKomm, Art. 23 VO 1/2003, Rn. 71. 104 Vgl. dazu grundlegend EuGH v. 7.6.1983, Rs. 100/80, Slg. 1983, 1825, Rn. 119 – Musique diffusion française; v. 28.6.2005, verb. Rs. C-189/02 P u. a., Rn. 230 – Dansk Rørindustri. 105 Vgl. EuG v. 20.3.2002, Rs. T-23/99,) Slg. 2000, II-07653, Rn. 287 f. – LR AF 1988; v. 20.3.2002, Rs. T-9/99, Slg. 2000, II-08207, Rn. 451 f. – HFB; Engelsing/ Schneider, in: Hirsch/Montag/Säcker (Hrsg.), MünchKomm, Art. 23 VO 1/2003, Rn. 71. 106 Kerber, in: FS für Möschel, S. 341, 345 f. 107 Vgl. dazu ausführlich unten, B.

A. Überblick und Systematik

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nehmen, war die Kommission ständig bemüht, Transparenz und Objektivität in ihren Kartellverfahren zu garantieren. Zur Erhöhung der Rechtssicherheit für die betroffenen Unternehmen hat die Kommission deswegen ihr Ermessen durch unterschiedliche Bekanntmachungen und Leitlinien konkretisiert. Ende der 1990er Jahre hat sie etwa die Bußgeld-Leitlinien erlassen, in denen sie ihre Berechnungsmethode zur Festsetzung von Geldbußen gem. Art. 23 II VO 1/2003 darlegt. Mit diesen Bußgeld-Leitlinien beabsichtigte die Kommission zum einen ihren weiten Ermessensspielraum zu bekräftigen, der gerade vom europäischen Gesetzgeber bei der Festsetzung der Geldbußen bis zu 10 Prozent des Gesamtumsatzes der Unternehmen eingeräumt wurde,108 und zum anderen die Sicherstellung der notwendigen Abschreckungswirkung ihrer Maßnahmen. Da die Bußgeld-Leitlinien von der Kommission erlassen werden, handelt es sich bei ihnen nicht um gemeinschaftliches Sekundärrecht wie bei der VO 1/2003; sie sind vielmehr als administratives soft law zu qualifizieren,109 das Verhaltensnormen mit Hinweischarakter auf das Handeln der Kommission enthält.110 Die Kommission ist an diese selbst auferlegten Schranken ihres Ermessens gebunden und kann ohne sachlichen Grund nicht davon abweichen,111 es sei denn, solche Abweichungen sind zur Berücksichtigung besonderer Umstände erforderlich,112 die wiederum besonders begründet werden und mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar sein müssen.113 Die Bußgeld-Leitlinien konkretisierten somit den jetzigen Art. 23 II VO 1/2003, führten jedoch auch zu einer erheblichen Verschärfung der Bußgeldpraxis der Kommission, die in acht Jahren Anwendungspraxis genügend Erfahrung sammeln konnte, um ihre Bußgeldpolitik weiterzuentwickeln und zu verfeinern. Dies führte dazu, dass die Bußgeld-Leitlinien 1998 durch die Bußgeld-Leitlinien 2006114 novelliert wurden, die eine weitere Verschärfung der Bußgeldpraxis zur Folge hatten. Damit sollte der Abschreckungseffekt der Geldbußen weiter erhöht werden.115 Die Kommission berechnet nach den gegenwärtigen Bußgeld-Leitlinien von 2006 die Geldbuße gegen Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen in zwei Stufen: Im ersten Schritt wird für jedes einzelne Unternehmen und jede einzelne Unternehmensvereinigung ein Grundbetrag unter Berücksichtigung der Schwere und Dauer des Verstoßes ermittelt.116 108

Einleitender Satz der Bußgeld-Leitlinien 1998, ABl. 1998 Nr. C 9, 3. Vgl. dazu Schwarze, EuR 2011, S. 3, 10 f. 110 EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 66–69 – Schindler; vgl. auch die Schlussanträge der GA Kokott in dieser Sache, Rn. 162–164. 111 EuG v. 25.10.2005, Rs. T-38/02, Slg. 2005, II-4407, Rn. 138 – Groupe Danone. 112 EuG v. 12.12.2012, Rs. T-400/09, Rn. 42–46 – Ecka Granulate. 113 EuGH v. 28.6.2005, Rs. C-189/02 P u. a., Slg. 2005, I-5425, Rn. 209–211 – Dansk Rørindustri. 114 Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gem. Art. 23 II Buchstabe a der VO Nr. 1/2003, ABl. 2006 Nr. C 210/02. 115 Vgl. dazu Engelsing, WuW 2007, S. 470, 471. 116 Vgl. dazu Abschnitt 1 der Bußgeld-Leitlinien 2006, ABl. 2006 Nr. C 210/02. 109

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

Der so ermittelte Grundbetrag wird sodann im zweiten Schritt unter Berücksichtigung von mildernden oder erschwerenden Umständen sowie eines Aufschlags zur Gewährleistung einer abschreckenden Wirkung unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit der Unternehmen nach unten oder oben angepasst (sog. Anpassungsfaktoren).117 3. Kooperationsmöglichkeiten durch Kronzeugenbehandlung a) Allgemeines Das weite Ermessen der Kommission zeichnet sich jedoch nicht nur durch eine verschärfte Sanktionspraxis aus, sondern vor allem durch unterschiedliche Instrumente, mit denen sie Unternehmen zur Kooperation bei der Aufdeckung und Ermittlung von kartellrechtlichen Zuwiderhandlungen motivieren kann. Die kartellrechtliche Praxis der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass vor allem geheime Kartelle ohne die Mitwirkung von Unternehmen faktisch kaum aufzudecken sind. Das Auto-Kartell zwischen VW, Daimler und BMW beispielsweise bestand über 17 Jahre lang, ohne dass die Wettbewerbsbehörden nur ansatzweise davon Kenntnis erlangen konnten.118 Erst als Unternehmen freiwillig das Kartell offenbarten, ermittelten die Kartellbehörden auf Hochtouren. Dieser Fall zeigt die besondere Relevanz von Kronzeugen im Kartellrecht, die wesentlich dazu beitragen, die Art. 101, 102 AEUV wirksam durchzusetzen. Daher wendet die Kommission nach Art. 34 der Bußgeld-Leitlinien 2006 die jeweils geltende Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (Kronzeugenprogramm 2006)119 an. Diese setzt den Regelungsrahmen für die Bußgeldreduzierung fest, die Kartellteilnehmern für ihre Zusammenarbeit bei der Untersuchung der Kommission gewährt werden kann. Dabei handelt es sich gem. Ziff. 4 der Kronzeugenmitteilung 2006 um ein rein an Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten, nämlich der wirksamen Aufdeckung und Verfolgung von Kartellen, orientiertes Anreizsystem.120 Das Kronzeugenprogramm ist für die Kommission somit zum Erfolgsgarant kartellrechtlicher Sanktionspolitik geworden, die insbesondere auf General- sowie Spezialprävention ausgerichtet ist. Naturgemäß bereitet es große Schwierigkeiten, geheime Kartelle ohne jedwede Mitwirkung von Unter117

Vgl. dazu Abschnitt 2 der Bußgeld-Leitlinien 2006, ABl. 2006 Nr. C 210/02. Handelsblatt v. 24.7.2017, „Was VW, Daimler und BMW drohen könnte“, abrufbar unter: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/moegliches-kartell-wasvw-daimler-und-bmw-drohen-koennte/20100176.html (zuletzt abgerufen am 01.10. 2017). 119 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen v. 8.12.2006, ABl. C. 298/17 ff. 120 Vgl. zudem GA Mazák, Schlussanträge v. 16.12.2010 in Rs. C-360/09, Rn. 58 – Pfleiderer; Sauer, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 23 VO 1/2003, Rn. 183 ff. 118

A. Überblick und Systematik

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nehmen oder anderen Beteiligten aufzudecken und zu untersuchen. Daher liegt es im Interesse der Europäischen Union und im Interesse der europäischen Wettbewerbspolitik, Unternehmen zu belohnen, die zwar an einer rechtswidrigen Zuwiderhandlung beteiligt sind, ihre Beteiligung jedoch eingestehen und an der Untersuchung der Kommission mitwirken. Die Gewährung einer solchen Belohnung dürfte in Anbetracht der Tatsache, dass betreffende Unternehmen schwerwiegende kartellrechtliche Verstöße begangen haben, in der Öffentlichkeit wenig nachvollziehbar sein, da Kartelle gewiss keine Kavaliersdelikte sind. Jedoch ist der Preis der Sanktionslosigkeit mancher Unternehmen in Kauf zu nehmen, um insgesamt eine wirksame Durchsetzung der europäischen Wettbewerbspolitik sicherzustellen.121 Dahinter steht die Erwägung, dass das Interesse der Verbraucher an der Aufdeckung und Ahndung geheimer Kartelle schwerer wiegt als das Interesse daran, gegen mitwirkungsbereite Unternehmen Kartellsanktionen zu verhängen. Diese sanktionspolitische Erwägung hat ihren Niederschlag in dem Kronzeugenprogramm der Kommission gefunden. So plausibel diese Erwägung auch erscheinen mag, blieb das Kronzeugensystem der Kommission dennoch nicht von Kritik verschont. So soll angeblich das Kronzeugenprogramm gegen fundamentale Rechtsgrundsätze verstoßen, wie etwa gegen das Bestimmtheitsgebot sowie gegen den nemo tenetur- und den in dubio pro reo-Grundsatz.122 Ungeachtet dieser Kritik hat die Kommission im Zuge der neuen Richtlinie über den Kartellschadensersatz weitere Änderungen des Kronzeugenprogramms vorgenommen, die die Rechtsstellung von Kronzeugen verbessern sollen.123 Schwerpunkt dieser Änderungen ist der Schutz bestimmter Dokumente des Kronzeugen vor einer Offenlegung innerhalb des ECN. Die Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie durch die Mitgliedstaaten124 hat diese Änderungen erforderlich gemacht. Jedoch geht die Änderung über eine Anpassung an die Kartellschadensersatzrichtlinie hinaus. Erstmals wurde durch Art. 4a VO 773/2004 eine Rechtsgrundlage für das Kronzeugenprogramm geschaffen, die allgemein formulierte Vorgaben enthält, wann ein Bußgelderlass oder eine Bußgeldreduzierung durch die Kommission gewährt werden kann. Die Stärkung von Kronzeugen wird auch durch den RL-Vorschlag der Kommission betont, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass die behördliche Zusammenarbeit nicht die Wirksamkeit von Kronzeugenprogrammen beeinträchtigt.125 121

Dazu bereits oben, § 3 A. I. Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Union, 2008, S. 52 f. 123 Vgl. dazu die Verordnung zur Änderung der VO (EG) Nr. 773/2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Art. 81 und 82 EGV durch die Kommission. 124 In Deutschland durch die 9. GWB-Novelle 2017. 125 Dazu bereits oben, § 5 II. 6. 122

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

b) Konkretisierung durch Kronzeugenmitteilung Bei der Berücksichtigung von Kronzeugenanträgen von Unternehmen kommen grundsätzlich zwei Arten der Kronzeugenbehandlung durch die Kommission in Betracht. Neben der Bußgeldreduzierung ist in manchen Fällen ein vollständiger Bußgelderlass möglich.126 In verfahrensrechtlicher Sicht handelt es sich dabei um zwei unterschiedliche Festsetzungsarten der Geldbuße, deren Anwendung sich danach richtet, zu welchem Zeitpunkt der Kronzeugenantrag gestellt wird.127 Dies soll sicherstellen, dass die Beweismittel zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in den Besitz der Kommission gelangen, was zur Beschleunigung und zur Effizienzsteigerung des Verfahrens insgesamt beiträgt.128 Räumt ein Unternehmen bereits zu einem frühen Zeitpunkt, also bevor die Kommission Ermittlungen eingeleitet hat, seine Tatbeteiligung ein und liefert es einen entscheidenden Beitrag zum Nachweis eines Kartells, kann von der Kommission ein vollständiger Bußgelderlass (Immunität) eingeräumt werden.129 Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, weil etwa die Kommission dem Kartell bereits anderweitig auf die Schliche gekommen ist, begründen die von dem Unternehmen vorgelegten Beweismittel aber einen erheblichen Mehrwert gegenüber den der Kommission bereits vorliegenden Beweismitteln, so kann die Kommission eine Ermäßigung der Geldbuße gewähren.130 Sind mehrere Unternehmen bereit, mit der Kommission bei der Aufdeckung des Kartells zu kooperieren, haben die Beiträge der Unternehmen jedoch einen unterschiedlichen Mehrwert für die Aufdeckung des Kartells geleistet, so kommt eine unterschiedliche Behandlung bei dem Erlass oder bei der Reduzierung des Bußgeldes in Betracht, jeweils nach Reihenfolge der Gewichtung von Kooperationsbeiträgen.131 Dabei kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs132 darauf an, dass die Unternehmen im „Geist echter Zusammenarbeit“ kooperieren. Diese Rechtsprechung ist inzwischen in der Kronzeugenmitteilung explizit geregelt.133 c) Die Kronzeugenregelung im ECN Die soeben erläuterten Vorteile der Kronzeugenbehandlung gelten ausschließlich in einem Kartellsanktionsverfahren vor der Kommission selbst. Ergibt die 126 Dies geht bereits aus dem Titel der Kronzeugenmitteilung hervor („Erlass und Ermäßigung von Geldbußen“), ABl. C 298 v. 8.12.2006. 127 de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 23, Rn. 109. 128 EuG v. 16.9.2013, Rs. T-375/10, Rn. 127–129 – Hansa Metallwerke. 129 Ziff. 8 ff. der Kronzeugenmitteilung, ABl. C 298 v. 8.12.2006. 130 Ziff. 23 ff. der Kronzeugenmitteilung, ABl. C 298 v. 8.12.2006. 131 Dazu Sauer, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 23, Rn. 200 mit Verweis auf einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs. 132 EuGH v. 28.6.2005, C-189/02 P u. a., Slg. 2005, I-5425, Rn. 359 f. – Dansk Rørindustri. 133 Ziff. 29 i.V. m. 12 der Kronzeugenmitteilung, ABl. C 298 v. 8.12.2006.

A. Überblick und Systematik

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Arbeitsteilung innerhalb des ECN jedoch, dass eine andere Wettbewerbsbehörde als die Kommission für den Fall zuständig ist, ist der Kronzeuge der Kommission ohne Schutz. Daher müssen Unternehmen stets bestrebt sein, bei jeder Wettbewerbsbehörde innerhalb des ECN einen entsprechenden Kronzeugenantrag zu stellen, um vollständigen Schutz zu genießen. Dass dies nicht immer erfolgreich gelingt, wurde bereits an anderer Stelle erläutert.134 4. Kooperationsmöglichkeiten durch Vergleichsverfahren (Settlements) a) Allgemeines Neben dem Kronzeugenmodell hat die Kommission am 30. Juni 2008 mit dem Vergleichsverfahren in Kartellfällen ein weiteres Kooperationsinstrument für die Unternehmen eingeführt.135 Hiernach steht es den Unternehmen frei, nach einer summarischen Prüfung und Erläuterung der Bedenken durch die Kommission ihre Beteiligung an einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung einzugestehen und hierfür die Verantwortung zu übernehmen. Auch in solchen Fällen reduziert die Kommission als Belohnung die ansonsten verhängte Geldbuße um 10 Prozent. Ungeachtet jener Bedenken, die gegen das Vergleichsverfahren aus rechtsstaatlicher Sicht geäußert werden,136 haben sich Vergleichsverfahren in der Praxis als besonders verfahrenseffizient erwiesen. Im Unterschied zur Kronzeugenmitteilung, die auf eine Aufdeckung von Kartellen durch freiwillige Informationsübermittlung abzielt, geht es beim Vergleichsverfahren in erster Linie darum, zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens beizutragen, das ohne Eingeständnisse der Unternehmen aufgrund aufwendiger Ermittlungen durch die Kommission sich in die Länge zieht. Die hierdurch freiwerdenden verfahrensrechtlichen Ressourcen sollen dann anderweitig verwendet werden, um andere und wichtigere Kartellfälle bearbeiten zu können. Dies entspricht dem Allgemeininteresse an einer wirksamen und rechtzeitigen Ahndung von Zuwiderhandlungen, wodurch die Abschreckungswirkung insgesamt verbessert wird.137 Zugleich verringern Vergleichsverfahren das Aufkommen von Rechtsstreitigkeiten vor dem Gerichtshof.138 Zwar bleibt es den Unternehmen unbenommen, gegen ein Vergleichsverfahren vor dem Gerichtshof Nichtigkeitsklage einzule134

§ 4 E. III. 2. Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Art. 7 und 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen, ABl. 2008 Nr. C 167, S. 1. 136 Vgl. etwa de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 23, Rn. 134 f. und Sauer, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 23, Rn. 246. 137 Ziff. 1 der Vergleichsmitteilung. 138 Vgl. dazu insb. de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 23, Rn. 128; Sauer, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 23, Rn. 225. 135

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

gen.139 Jedoch sind die Aussichten solcher Klagen eher gering einzuschätzen, da die Unternehmen die Tatsachen und das Vorliegen einer Zuwiderhandlung ausdrücklich einräumen müssen. Insgesamt verspricht das Vergleichsverfahren Effizienzgewinne bei der Durchführung von Kartellbußgeldverfahren, um die Art. 101, 102 AEUV effektiver und effizienter durchzusetzen. b) Konkretisierung durch die Vergleichsmitteilung Der Ablauf des Vergleichsverfahrens richtet sich neben der VO 773/2004 nach der von der Kommission veröffentlichten Vergleichsmitteilung140, die detaillierte Vorgaben für das Verfahrens enthält.141 Anders als beim herkömmlichen Verwaltungsverfahren steht es den Unternehmen frei, sich für oder gegen die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens zu entscheiden.142 Dabei berücksichtigt die Kommission eine Reihe von Umständen, zu denen insbesondere die Beweislage und die Zahl der betroffenen Unternehmen gehören.143 Verspricht sich die Kommission anhand der Beurteilung der Beweislage Effizienzgewinne im Kartellverfahren, bietet sie den Unternehmen in aller Regel die Aufnahme von Vergleichsgesprächen an. Hieran schließen sich bilaterale Gespräche zwischen der Kommission und den Unternehmen an.144 Nachdem die Kommission die potentiellen Beschwerdepunkte und ihre wesentlichen Grundlagen sowie die voraussichtliche Bußgeldhöhe den Unternehmen vorgetragen hat, haben die Parteien die Möglichkeit zur Stellungnahme. Sind sich die Parteien einig, kann die Kommission die Unternehmen zur Abgabe einer sog. Vergleichsausführung binnen einer Frist von mindestens 15 Arbeitstagen auffordern. Soweit die Kommission von der Vergleichsausführung nicht abweicht, ist sie für die Unternehmen bindend.145 In einem nächsten Schritt erlässt die Kommission die Mitteilung der Beschwerdepunkte, die im Wesentlichen dem Inhalt der Vergleichsausführung entspricht. Die Kommission gibt den Unternehmen innerhalb einer Frist von zwei Wochen die Gelegenheit, die Beschwerdepunkte ausdrücklich zu bestätigen.146 Auf Grundlage einer solchen Erklärung kann die Kommission schließlich die Entscheidung endgültig annehmen. Da die Unternehmen in ihrem Vergleichsantrag auf weitere Akteneinsicht oder eine erneute mündliche Anhörung verzichtet haben, sind

139

Ziff. 41 der Vergleichsmitteilung. ABl. 2008 Nr. C 167/1. 141 Einen ausführlichen Überblick zum Vergleichsverfahren gibt Sauer, in: Schulte/ Just (Hrsg.), Kommentar zum Kartellrecht, Art. 23, Rn. 231 ff. 142 Ziff. 22, 26 und 29 der Vergleichsmitteilung. 143 Vgl. im Einzelnen Ziff. 5 der Vergleichsmitteilung. 144 Ziff. 14, 15 der Vergleichsmitteilung. 145 Ziff. 22 der Vergleichsmitteilung. 146 Ziff. 22, 26 der Vergleichsmitteilung. 140

A. Überblick und Systematik

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keine weiteren Verfahrensschritte erforderlich.147 Wie ein herkömmliches Verwaltungsverfahren führt auch das Vergleichsverfahren zur Annahme einer Entscheidung nach Art. 7 oder 23 VO 1/2003. Bei der Bestimmung der Geldbuße bleibt es daher bei Art. 23 II, III VO 1/2003 und den das Ermessen konkretisierenden Bußgeld-Leitlinien. Allerdings kommt darüber hinaus eine weitere Ermäßigung der Geldbuße i. H. v. 10 Prozent in Betracht.148 Haben die Unternehmen zudem einen Kronzeugenantrag gestellt, wird eine daraus resultierende Ermäßigung kumuliert.149 5. Sanktionsbedingte Zahlungsunfähigkeit („inability to pay“) Nicht nur die Kooperationsmöglichkeiten durch Kronzeugenregelung und Vergleichsverfahren ermächtigen die Kommission, von ihrem Ermessen Gebrauch zu machen, das Bußgeld zu reduzieren oder gänzlich zu erlassen. Nach den Bußgeld-Leitlinien 2006 berücksichtigt die Kommission bei der Verhängung von Bußgeldern ferner auf Antrag eines Unternehmens die Leistungsfähigkeit in einem „gegebenen sozialen und ökonomischen Umfeld“ 150, wenn die Besorgnis besteht, dass die durch die Kommission verhängte Geldbuße die Insolvenz des Unternehmens zur Folge hätte. Dabei tritt die Bußgeldreduzierung neben die 10-Prozent-Obergrenze, wenn die Kappung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen wird, um die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Unternehmens zu gewährleisten. Dies stellen die Bußgeld-Leitlinien 2006 ausdrücklich fest, wonach die Kommission keine Ermäßigung wegen der bloßen Tatsache einer nachteiligen oder defizitären Finanzlage gewährt. Vielmehr muss eindeutig nachgewiesen werden, dass die Verhängung der Geldbuße die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit des Unternehmens unwiderruflich gefährden würde.151 Das Instrument zur Abwehr einer sanktionsbedingten Zahlungsunfähigkeit erfreut sich bei der Kommission seit einigen Jahren an Beliebtheit. Während anfangs entsprechende Anträge weitestgehend abgelehnt wurden, neigt die Kommission neuerdings dazu, die Geldbußen herabzusetzen oder gänzlich zu erlassen, wenn die strengen Voraussetzungen der Ziff. 35 Bußgeld-Leitlinien 2006 vorliegen.152 Diese Praxis ist Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Form eines Übermaßverbots, wonach eine Kartellsanktion nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen darf.153 147 148 149 150 151 152 153

Ziff. 20 lit. d, 28 der Vergleichsmitteilung. Ziff. 30, 32 der Vergleichsmitteilung. Ziff. 33 der Vergleichsmitteilung. Ziff. 35 S. 1 der Bußgeld-Leitlinien 2006. Ziff. 35 S. 2 und 3 der Bußgeld-Leitlinien 2006. Vgl. Stockmann, ZWeR 2012, S. 20, 22. Dazu bereits oben, § 3 B. I.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

6. Abschließende Anmerkungen aus marktrechtlicher Perspektive Ungeachtet der Tatsache, dass die im Vormarsch befindlichen sanktionsrechtlichen Instrumente der Kommission in den letzten Jahren eine Erfolgsgeschichte geschrieben haben, die auch zunehmend einzelne Mitgliedstaaten bei der Ausformung ihrer eigenen Sanktionspraxis inspiriert, sind einige Anmerkungen erforderlich, da das weite Ermessen der Kommission in den letzten Jahren scharf kritisiert wurde. Dabei geht es weniger um die rechtsstaatlichen Bedenken aus der Täterperspektive, die an anderer Stelle noch ausführlicher zu erörtern sind.154 Vielmehr geben die unterschiedlichen Instrumente der Kommission auch Anlass darüber nachzudenken, inwiefern sich diese negativ auf marktrechtliche Strukturen auswirken könnten. Die Perspektive der Betrachtung ist somit auf die Marktgegenseite zu lenken, insbesondere auf Konkurrenten, Verbraucher sowie auf die Allgemeinheit insgesamt. Vor diesem Hintergrund können und sollen die wettbewerbspolitischen Instrumente der Kommission kritisch hinterfragt werden, wenn es etwa um den Schutz und Erhalt der marktwirtschaftlichen Ordnung geht. Auszugehen ist von der Prämisse, dass der Staat durch seine Maßnahmen nicht in die marktwirtschaftliche Ordnung eingreifen darf, sei es auch durch Instrumente, die der Wettbewerbspolitik gemeinhin dienen. Sicherlich kann der Kommission nicht unterstellt werden, dass sie durch ihre Wettbewerbspolitik die marktwirtschaftliche Ordnung gefährden will. Im Gegenteil möchte sie mit aller Vehemenz die effektive und effiziente Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsvorschriften sicherstellen, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten. Hierfür ist es jedoch gleichermaßen erforderlich, dass die gewählten Instrumente und getroffenen Maßnahmen durch die Kommission insbesondere bei Konkurrenten und Verbrauchern glaubwürdig sein müssen. Der Glaube an die Aufrechterhaltung der marktwirtschaftlichen Ordnung wird jedoch dann erschüttert, wenn Unternehmen sich bei einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung darauf verlassen können, dass sie „ungeschoren“ davonkommen und die „verbotenen Früchte“ einbehalten dürfen, wie es bei Kronzeugen regelmäßig der Fall ist. Das Problem wird dann virulent, wenn Kartellopfer keine Möglichkeit haben, Kartelltäter in Anspruch zu nehmen. Diese Gefahren bestehen sowohl bei der Kronzeugenregelung als auch beim Vergleichsverfahren in nicht unerheblicher Weise. Kartellopfer dürften gegenüber Unternehmen, die einen Kronzeugenantrag gestellt haben oder sich mit der Kommission vergleichen haben, Schwierigkeiten haben, ihre Schäden zu kompensieren. Bei den Kronzeugen wird das daran liegen, dass ihre Dokumente durch die Wettbewerbsbehörden besonders geschützt werden, um den Anreiz für Unternehmen nicht zu schmälern. Im Vergleichsverfahren dürften Kartellopfer ebenso Schwierigkeiten haben, Zugang zu Beweismitteln zu bekommen, weil die Kommission auf tiefgreifende Ermittlungen zugunsten eines Vergleichs verzichtet. Diese Verfahrenseffizienzgewinne haben die 154

Vgl. dazu sogleich, B.

A. Überblick und Systematik

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Kehrseite, dass Kartellopfer in der Regel Schwierigkeiten haben, ihre Schäden vor Gericht erfolgreich darzulegen, da, wie bereits angemerkt, der Gerichtshof in den ökonomisierten Ermessensspielraum der Kommission sehr selten eingreift.155 Zudem liegt der Sinn von Vergleichsverfahren gerade in der Entlastung des Gerichtshofs von übermäßigen Klagewellen. Diese Gefahren werden vermutlich auch in Zukunft weiterhin als Kollateralschäden des Primats der öffentlichen gegenüber der privaten Kartellrechtsdurchsetzung hingenommen. Dafür mögen ebenso gute Gründe sprechen wie dagegen. Für die Kommission bleibt es hingegen weiterhin eine Herausforderung, trotz ihrer Erfolgsgeschichte bei der Kartellbekämpfung einen angemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu finden. In der Tat wird es in Anbetracht der Erfolgsgeschichte dieser Ermittlungsinstrumente aussichtslos erscheinen, wenn man für die Abschaffung von Kronzeugen- oder Settlement-Verfahren plädieren würde. Ein solcher Versuch ließe – um es in den Worten von Stockmann zu formulieren – „jeden Ritter beim Kampf gegen Windmühlen vergleichsweise seriös aussehen“.156 Die Erschütterung der Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit, wenn eine solche tatsächlich angenommen werden sollte, ist daher zugunsten einer wirksamen Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts hinzunehmen, da offensichtlich ohne diese Instrumente mit hoher Wahrscheinlichkeit ein größerer Schaden für die Volkswirtschaft zu erwarten wäre. Das Interesse an der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV dürfte somit größer sein als das Interesse an der Nebenwirkung solcher Sanktionsinstrumente. Gleichwohl erscheint die Sanktionspraxis der Kommission nicht alternativlos, dies gilt insbesondere im Hinblick auf die sanktionsbedingte Zahlungsunfähigkeit. Die Kommission begründet ihre neue Praxis mit dem Übermaßverbot und dem öffentlichen Interesse.157 Der Kommission ist zuzustimmen, dass Kartellgeldbußen als öffentliche Maßnahmen stets den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren haben. Darunter gehört auch, die Grundrechte der Unternehmen auf allgemeine Handlungsfreiheit zu sichern. Wenn nun die Kartellgeldbuße die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen unwiderruflich gefährdet, kann die Maßnahme von Verfassung wegen schon nicht rechtmäßig sein.158 Der Kommission ist insofern zuzustimmen, als Maßnahmen, die zur Insolvenz von Unternehmen führen, die marktwirtschaftliche Ordnung stören würden. Wenn Unternehmen nämlich ab einer gewissen Größenordnung aus dem Markt ausscheiden, dann hat das sicherlich marktwirtschaftliche Effekte, die nicht unerheblich sind. 155 Zur Praxis des Gerichtshofs bei der Überprüfung von Entscheidungen der Kommission vgl. sogleich, IV. 2. 156 Stockmann, ZWeR 2012, S. 20, 29. 157 Vgl. Übersicht bei Stockmann, ZWeR 2012, S. 20, 26 f. 158 Dazu bereits oben, § 3 B. I.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

Jedoch kommen bei einer Gefahr der Zahlungsunfähigkeit auch andere Maßnahmen in Betracht, als die Sanktion vollständig zu erlassen, wie etwa die Gewährung von Ratenzahlungen oder Stundungen, die aus der Sicht von Konkurrenten und Kartellopfern vermutlich nachvollziehbarer erscheinen werden. Dies dient auch mehr dem Allgemeinwohl, da die Bußgeldhöhe identisch, also dem öffentlichen Haushalt erhalten bleibt. Ein Blick auf nationale Rechtsordnungen, wie etwa im deutschen Recht, zeigt, dass die Einräumung von Ratenzahlungen oder Stundung eine durchaus praktikable Alternative sein kann.159 Die Kommission sollte ihre ablehnende Haltung gegenüber Ratenzahlungen und Stundungen160 daher aus marktrechtlicher Perspektive neu überdenken.

IV. Rechtsschutz im Kartellsanktionsverfahren vor dem Gerichtshof Nicht immer sind Unternehmen bereit, ihre Beteiligung an einem Kartell durch Kooperation einzugestehen. In vielen Fällen fühlen sich Unternehmen zu Unrecht dem Verdacht ausgesetzt, sie hätten sich an einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung beteiligt. Gegen einen Kartellsanktionsbescheid der Kommission können Unternehmen sowie Unternehmensvereinigungen daher vor dem Gerichtshof Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 IV AEUV einlegen. Für solche Klagen ist das Gericht erster Instanz (EuG) gem. Art. 256 AEUV zuständig. Gegen die Entscheidungen des EuG kann dann beim EuGH gem. Art. 56, 58 der Satzung des Gerichtshofs ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel eingelegt werden. Gegen diese Praxis des Gerichtshofs werden in Folge des weiten Ermessens der Kommission schwerwiegende rechtsstaatliche Einwände erhoben. Bevor jedoch auf die rechtsstaatliche Kritik an der Rechtspraxis der Unionsorgane bei der Verhängung und Überprüfung von Kartellsanktionen eingegangen wird, sollen die Grundzüge des gerichtlichen Verfahrens vor dem EuG/EuGH skizziert werden, ohne deren Kenntnis eine adäquate Würdigung der rechtsstaatlichen Kritik nur bedingt möglich ist. 1. Verfahrensgrundsätze a) Vorbemerkungen Das gerichtliche Verfahren zur Überprüfung von Kartellsanktionsbeschlüssen der Kommission wird vor dem Gerichtshof von allgemeinen Verfahrensgrundsät159

Vgl. Tätigkeitsbericht des BKartA 2009/2010, S. 17. Die Kommission zieht nach wie vor ihre Praxis zur sanktionsbedingten Zahlungsunfähigkeit gegenüber der Einräumung von Ratenzahlungen und Stundung vor. Information Note by Almunia/Lewandowski, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, v. 12.6.2010, SEC (2010) 737/2. 160

A. Überblick und Systematik

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zen geleitet, die traditionell stark am französischen Verwaltungsprozessrecht angelehnt sind.161 Diese sind weitestgehend in den einzelnen Verfahrensordnungen des EuG und EuGH geregelt, die zu großen Teilen wortgleich sind. Neben der 2012 neu gefassten Satzung des Gerichtshofs (EuGH-Satzung)162 und der ebenfalls 2012 neu erlassenen Verfahrensordnung des Gerichtshofs (EuGH-VerfO)163 sind detaillierte Vorschriften über die Gerichtsverfassung und das Verfahrensrecht auch in der Verfahrensordnung des Gerichts (EuG-VerfO)164 von 2011 enthalten. Bei der Bestimmung der einzelnen Verfahrensgrundsätze sind zudem die grundrechtlichen Verfahrensgarantien der Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK zu beachten, die nicht nur natürlichen, sondern auch juristischen Personen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen Gericht verleihen. Der darin verankerte Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes umfasst mehrere Elemente, zu denen etwa die Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Waffengleichheit und das Recht auf Zugang zu den Gerichten gehören, nicht jedoch der Zugang zu mehreren Gerichtsinstanzen.165 Zu den hier interessierenden Verfahrensgrundsätzen bei der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV gehören im Kartellsanktionsverfahren vor allem im Hinblick auf das später noch zu untersuchende deutsche Recht neben dem Verfügungs- und Beschleunigungsgrundsatz der Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatz, die im Folgenden näher erläutert werden sollen. b) Verfügungsgrundsatz Im Verfahren vor dem EuG und EuGH zwecks Überprüfung der Bußgeldentscheidungen der Kommission gilt der Verfügungsgrundsatz, auch Dispositionsmaxime genannt.166 Hiernach sind die Parteien Herren des Verfahrens und können frei über den Streitgegenstand und damit über die Einleitung und Beendigung des Verfahrens bestimmen. Sie legen zudem durch ihre Anträge und durch ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel den Umfang der richterlichen Prüfung und der möglichen Entscheidungen fest.167 Der Dispositionsgrundsatz entspricht zum einem dem Grundsatz ne ultra petita, der dem Gericht verbietet, ohne einen 161

Hierzu Neumann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, § 21, S. 391 ff. 162 Protokoll (Nr. 3) über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, ABl. 2008 C 115/210; neu gefasst durch VO 741/2012 v. 11.8.2012, ABl. L 228/1. 163 Verfahrensordnung des Gerichtshofs ABl. 2010/C 177/02. 164 Verfahrensordnung des Gerichts, ABl. C 177/37. 165 EuGH v. 28.7.2011, Rs. C-69/10, Slg. 2011, I-7151, Rn. 69 – Samba Diouf. 166 Das Gegenstück zum Verfügungsgrundsatz ist das Offizialprinzip, wonach die Einleitung des Verfahrens und die Bestimmung des Verfahrensinhalts von Amts wegen erfolgen. 167 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 13, Rn. 20; Danwitz, EU-VerwR, 2008, S. 297 f.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

entsprechenden Antrag der Parteien eine Rechtsfolge anzuordnen, und zum anderen dem Grundsatz ne infra petita, der den Richter verpflichtet, über alle Anträge der Parteien auch tatsächlich zu entscheiden.168 Abweichend vom deutschen Verwaltungsprozessrecht, wonach der deutsche Verwaltungsrichter die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Aktes insgesamt überprüft, beschränkt sich der Unionsrichter aufgrund der Dispositionsmaxime somit auf die von den Klägern gerügten Klagegründe. Das Rechtsmittelverfahren ist auf europäischer Ebene von daher als adversatorisches Verfahren ausgestaltet. Eine Einschränkung der Dispositionsmaxime wird durch den EuGH jedoch dann vorgenommen, wenn ausnahmsweise schwerwiegende Mängel des angefochtenen Aktes von Amts wegen geprüft werden, wie beispielsweise ein Begründungsmangel.169 In solchen Fällen erfolgt eine Überprüfung solcher zwingenden Prozessvoraussetzungen von Amts wegen.170 Dieser Umstand ist angeblich ein schlagender Beweis dafür, dass eine nur auf die Anträge der Parteien gestützte Rechtmäßigkeitskontrolle von hoheitlichen Strafen grundsätzlich nicht effektiv sein kann und somit gegen Art. 47 I GRC verstößt.171 Gegen diese These spricht jedoch die Tatsache, dass der effektive Rechtsschutz nach Art. 47 I GRC keine vollständige Prüfung von Amts wegen erfordert. Es genügt bereits die Möglichkeit des Gerichts, sich mit allen Punkten der Entscheidung befassen zu können.172 c) Beschleunigungsgrundsatz Die Dispositionsmaxime ist im laufenden Verfahren jedoch durch Präklusionsvorschriften eingeschränkt (vgl. Art. 127 I EuGH-VerfO und Art. 48 § 2 EuGVerfO). Diese Beschränkung der Dispositionsmaxime ist Ausdruck des Beschleunigungsgrundsatzes und garantiert den Parteien nach Maßgabe des Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK, den Rechtsstreit innerhalb angemessener Frist zu entscheiden. Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel können hiernach nicht mehr vorgebacht werden, es sei denn, dass sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind. Zudem kann der Gerichtshof durch Beschluss die maximale Länge der einzureichenden Schriftsätze bzw. Erklärungen festlegen (Art. 58 EuGH-VerfO). Diese Rügeobliegenheit der Parteien dient objektiv der Verfahrensökonomie und sorgt für eine wirksame Wahrnehmung der grundrechtlichen Interessen sowie der gerichtlichen Aufgaben. Die Präklusionsvorschriften zwingen zudem die Prozessparteien, bereits frühzei168 Neumann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, § 21, S. 394. 169 EuGH v. 2.4.1998, Rs. C-367/95 P, Rn. 78 – Sytraval. 170 EuGH v. 8.12.2011, Rs. C-386/10 P, Rn. 64 – Chalkor und Rs. C-389/10 P, Rn. 131 – MKE. 171 So etwa de Bronett, WuW 2016, S. 153, 172 Ausführlich dazu unten, B. II. 1. a).

A. Überblick und Systematik

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tig den Klagegegenstand festzulegen. Hiermit wird das Risiko der Verfahrensverschleppung minimiert. d) Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatz Das Verfahren vor dem Gerichtshof zur Überprüfung von Kartellsanktionsentscheidungen der Kommission gliedert sich in der Regel in ein schriftliches und ein mündliches Verfahren (vgl. Art. 20 EuGH-Satzung, Art. 76 ff. und 120 ff. EuGH-VerfO und Art. 43 ff. EuG-VerfO). Anders als im deutschen Recht ist der Grundsatz der Mündlichkeit im europäischen Prozessrecht jedoch keine verbindliche Vorgabe für den Unionsrichter.173 Hier kommt dem schriftlichen Verfahren traditionell eine größere Bedeutung als dem mündlichen Verfahren zu. So wird das Mündlichkeitsprinzip vor allem durch Art. 76 II EuGH-VerfO eingeschränkt, wonach der EuGH auf eine mündliche Verhandlung verzichten kann, wenn er sich durch die im schriftlichen Verfahren eingereichten Schriftsätze oder Erklärungen für ausreichend unterrichtet hält, um eine Entscheidung zu erlassen. Im Interesse einer Verfahrensbeschleunigung können die Grundsätze der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit im gerichtlichen Verfahren des Gerichtshofs daher Einschränkungen erfahren. Dies betrifft vor allem die Ladung und Vernehmung von Zeugen, soweit dies nach der Ansicht des erkennenden Gerichts nicht sachdienlich erscheint.174 In der Praxis ergeht daher vor allem in Kartellfällen eine Entscheidung ohne vorherige mündliche Verhandlung, weshalb Gerichtsverhandlungen im europäischen Recht – anders als im deutschen Recht, in dem das gerichtliche Verfahren von den rigiden Verfahrensgrundsätzen der Mündlichkeit sowie der formellen und materiellen Unmittelbarkeit beherrscht wird175 – in der Regel nur wenige Tage in Anspruch nehmen.176 Diese Praxis ist aus rechtsstaatlicher Sicht auch insofern unbedenklich, als die Mindestanforderungen an ein faires Verfahren nach den Grundsätzen des Art. 47 II GRC sowie Art. 6 I, III lit. d EMRK solche starren Verfahrensgrundsätze auch nicht absolut verlangen. Der EuGH hat in diesem Zusammenhang beispielsweise betont, dass es vielmehr grundsätzlich Sache des Gerichts ist, darüber zu entscheiden, ob beispielsweise die Ladung eines Zeugen erforderlich oder sachdienlich ist. Das Verfahren als Ganzes muss dem Angeklagten lediglich eine angemessene und ausreichende Gelegenheit dazu geben, dem auf ihm lastenden Verdacht entgegenzutreten.177 173 Der Mündlichkeitsgrundsatz im deutschen Gerichtsverfahren könnte jedoch abweichend von der gegenwärtigen Rechtslage nach der StPO in verfassungsrechtlich zulässiger Weise modifiziert werden, vgl. dazu unten, § 7 D. IV. 174 Dazu Neumann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, § 21, S. 398. 175 Ausführlich dazu unten, § 7 D. 176 Nachweise bei Dannecker, NZKart 2015, S. 30, 30. 177 EuGH v. 19.12.2013, Rs. C-239/11 P, Rn. 325 – Siemens; v. 28.6.2005, Rs. C189/02 P, Rn. 70 f. – Dansk Rørindustri.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

Die Ladung und Vernehmung eines Zeugen ist nur dann erforderlich, wenn entweder der Inhalt der Akten und die Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung nicht ausreichen, um über den Rechtsstreit zu entscheiden, oder wenn die Zeugenaussage das einzige oder entscheidende belastende Beweismittel darstellt.178 Daher kommt es in der Praxis des Gerichtshofs selten vor, dass Belastungszeugen zur Hauptverhandlung geladen werden. Dies dient der verfahrensrechtlichen Effektivität und Effizienz bei der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sowie dem aus Art. 47 II GRC abgeleiteten Anspruch auf Verfahrensbeschleunigung insgesamt. 2. Prüfungsdichte des Gerichtshofs im Kartellsanktionsverfahren Hinsichtlich der Prüfungsdichte des Gerichtshofs ist bei Kartellsanktionsverfahren zwischen der Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 263 AEUV und der unbeschränkten Nachprüfung gem. Art. 261 AEUV i.V. m. Art. 31 VO 1/2003 zu unterscheiden. a) Rechtmäßigkeitskontrolle gem. Art. 263 AEUV Nach Art. 263 AEUV überwacht der Gerichtshof die Rechtmäßigkeit der Gesetzgebungsakte sowie der Handlungen der europäischen Organe. Eine gerichtliche Überprüfung kommt hier nur wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Gemeinschaftsrechts oder einer bei der Durchführung der Verträge anzuwendenden Rechtnormen sowie wegen Ermessensmissbrauchs in Betracht. Dies beinhaltet eine Überprüfung der Begründungserfordernisse eines Rechtsaktes sowie der Einhaltung allgemeiner Rechtsprinzipien, wozu neben den Verfahrensrechten der Unternehmen insbesondere der Verhältnismäßigkeits- und Gleichheitsgrundsatz gehören. Zudem unterliegt die Einhaltung der Bußgeld-Leitlinien, der Kronzeugenmitteilung sowie die Einhaltung der 10-Prozent-Grenze i. S. d. Art. 23 II VO 1/2003 durch die Kommission der gerichtlichen Kontrolle. Die Rechtmäßigkeitskontrolle beruht dabei auf der Prämisse, dass der Unionsrichter an die Entscheidung des Gesetzgebers gebunden ist, die Verwaltung mit der Rechtsanwendung zu betrauen, der Unionsrichter sich also nicht an die Stelle der Verwaltung setzen darf. Die Anerkennung eines Ermessensspielraums der Kommission, der ausschließlich der Verwaltung zugesprochen wurde und der Kontrolle des Unionsrichters entzogen ist, ist also der Rechtmäßigkeitskontrolle geradezu inhärent.179

178 179

Vgl. dazu EuG v. 16.6.2011, Rs. T-191/06 – FMC Foret. de Bronett, ZWeR 2012, S. 157, 198, m.w. N.

A. Überblick und Systematik

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b) Unbeschränkte Überprüfung gem. Art. 261 AEUV i.V. m. Art. 31 VO 1/2003 Neben der Rechtmäßigkeitsüberprüfung besitzt der Gerichtshof darüber hinaus gem. Art. 261 AEUV i.V. m. Art. 31 VO 1/2003 die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Kommissionsentscheidung. Der Gerichtshof kann hiernach die Geldbuße oder das Zwangsgeld aufheben, herabsetzen oder sogar erhöhen. Es besteht also kein Verbot der reformatio in peius. Von dieser unbeschränkten Nachprüfungsbefugnis macht das EuG jedenfalls dann Gebrauch, wenn ein Rechtsfehler bei der Bußgeldbestimmung festgestellt wurde.180 Art. 31 VO 1/2003 erweitert somit die Zuständigkeit des Gerichtshofs bei der Nachprüfung von Entscheidungen der Kommission, wobei die Umschreibung der Befugnisse mit „unbeschränkter Ermessensnachprüfung“ ebenfalls dem französischen sowie dem belgischen Verwaltungsrecht entnommen ist, die die sog. compétence de pleine juridiction kennen.181 Hiernach überprüfen die Unionsrichter die kartellbehördliche Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in vollem Umfang, insbesondere im Hinblick auf die erforderlichen Tatsachenfeststellungen sowie im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit, Angemessenheit und Richtigkeit etwaiger ökonomischer Prognosen.182 Diese unbeschränkte Nachprüfungsbefugnis ist eine notwendige Vorbedingung einer unbeschränkten Entscheidungsbefugnis des Gerichtshofs, welche eine Rechtmäßigkeitskontrolle und ergänzend ein uneingeschränktes Nachprüfrecht – etwa im Hinblick auf die Nachvollziehbarkeit einer Entscheidung – beinhaltet. Insofern hat der Gerichtshof in der Sache Chalkor klargestellt, dass, auch wenn der Kommission in komplexen Wirtschaftsfragen ein Ermessensspielraum zusteht, dies nicht zwangsläufig auch bedeutet, dass der Unionsrichter eine Kontrolle der Auslegung von Wirtschaftsdaten durch die Kommission unterlassen muss. Der Unionsrichter könne vielmehr nach Art. 31 VO 1/2003 nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen, sondern darüber hinaus auch kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen. Somit kann auch ohne das Vorliegen eines Rechtsfehlers oder einer unzutreffenden Tatsachenwürdigung die von der Kommission verhängte Kartellsanktion geändert oder aufgehoben werden, wenn sie dem Gerichtshof unangemessen erscheint.183 180

Sauer, in: Schulte/Just (Hrsg.), Art. 31, Rn. 3. Vgl. dazu Dannecker/Müller, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, § 39, Rn. 110, mit Verweisen auf Joliet, Le droit institutionnel des Communautés européennes – Le contentieux, S. 6; Schmidt, Die Befugnis des Gemeinschaftsrichters zu unbeschränkter Ermessensüberprüfung, S. 25 ff.; Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 261, Rn. 3. 182 Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), Art. 261 AEUV, Rn. 5; Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 261 AEUV, Rn. 4. 183 EuGH v. 8.12.2011, Rs. C-386/10 P, Rn. 54 und 64 ff. – Chalkor. 181

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

c) Die Prüfungsdichte des Gerichtshofs in der kartellrechtlichen Praxis Zwar verleiht Art. 31 VO 1/2003 dem EuG die generelle Befugnis, an Stelle der Kommission neu zu entscheiden. Gleichwohl entspricht die Ausübung dieser Befugnis zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung allerdings keiner Prüfung von Amts wegen.184 In der Praxis hat das EuG bisher nur in sehr wenigen Fällen von dieser uneingeschränkten Nachprüfungsbefugnis Gebrauch gemacht.185 Im Rechtsmittelverfahren hingegen beschränkt sich der EuGH auf eine Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bußgeldbeschlusses der Kommission auf die Fragen, ob Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob eine ausreichende Begründung erfolgt ist, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung des Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen. Die gerichtliche Kontrolle der Bußgeldbeschlüsse der Kommission beschränkt sich daher auf offensichtliche Beurteilungsfehler.186 Diese Praxis des Gerichtshofs wird daher gelegentlich als Zeichen unzureichender gerichtlicher Kontrolle gewertet, die im Hinblick auf den sehr weiten Ermessensspielraum der Kommission gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK verstoße.187 Ob und inwieweit diese erhobenen Bedenken berechtigt sind, soll unter anderem im folgenden Abschnitt näher beleuchtet werden.

B. Keine Verletzung rechtsstaatlicher Fundamentalprinzipien I. Stand der Diskussion Das Kartellsanktionsverfahren der Europäischen Union mag auf den ersten Blick einfachen, verwaltungsrechtlichen Strukturen entsprechen, die wenig Anlass zur Kritik geben. In Wirklichkeit gerät das Kartellbußgeldverfahren der 184 Grundlegend dazu EuGH v. 8.12.2011, Rs. C-386/10 P, Rn. 64 – Chalkor; v. 8.12.2011, Rs. C 272/09 P, Rn. 104. – KME; vgl. dazu auch ausführlich unten, § 6 B. II. 1. a). 185 Näher dazu Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 59 ff. 186 EuGH v. 17.11.1987, verb. Rs. 142/84 u. 156/84, Slg. 1987, I-4487, Rz. 62 – BAT u. Reynolds; EuG v. 2.7.1992, Rs. T-61/89, Slg. 1992, II-1931, Rz. 129 – Dansk Pelsdyravlerforening; v. 15.7.1994, Rs. T-17/93, Slg. 1994, II-595, Rz. 104 – Matra; v. 21.2.1995, Rs. T-29/92, Slg. 1995, II-289, Rz. 288 – SPO; v. 30.1.2002, Rs. T-54/99, Slg. 2002, II-313, Rz. 58 – Max.mobil; v. 28.2.1992, Rs. T-395/94, Slg. 2002, II-875, Rz. 257 – Atlantic Container Line; v. 28.2.2002, Rs. T-86/95, Slg. 2002, II-1011, Rz. 339 – Compagnie Générale Maritime; v. 21.3.2002, Rs. T-131/99, Slg. 2002, II2023, Rz. 38 – Shaw und Falla; v. 17.9.2007, T-201/04, Slg. 2007, II-3601, Rz. 482 – Microsoft; v. 7.5.2009, Rs. T-151/05, Slg. 2009, II-1219, Rz. 53 – NVV; v. 15.12.2010, Rs. T-427/08, Rz. 66 – CEAHR; v. 22.3.2011, Rs. T-419/03, Rz. 63, 80 – Altstoff Recycling Austria. 187 Vgl. de Bronett, ZWeR 2012, S. 157, 191 f.

B. Keine Verletzung rechtsstaatlicher Fundamentalprinzipien

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Europäischen Union immer wieder ins Fadenkreuz von Kartellrechtlern sowie grundrechtssensiblen Straf- und Verfassungsrechtlern, die rechtsstaatliche Kritik an der gegenwärtigen Sanktionspraxis der Unionsorgane üben. So wird immer wieder bemängelt, dass auf europäischer Ebene in unzulässiger Weise „Kartellstrafrecht“ in einem verwaltungsrechtlichen Verfahren durchgesetzt werde, was zu erheblichen rechtsstaatlichen Defiziten führe. Bereits 1996 wurde daher auf europäische Ebene gefordert, das Kartellsanktionsverfahren der Europäischen Union grundlegend zu reformieren.188 Eine von der deutschen Anwaltschaft ausgearbeitete und breit ausgelegte Studie kam im Jahre 2008 zu dem Ergebnis, dass die Sanktionsgeldpraxis der Unionsorgane mit diversen rechtsstaatlichen Mängeln behaftet sei und daher einer grundlegenden Reform bedürfe.189 Diese Studie entfachte auf nationaler Ebene eine kontrovers geführte Diskussion über die Rechtsstaatlichkeit des Kartellsanktionssystems der Europäischen Union, die nicht nur zahlreiche und renommierte deutsche Wettbewerbsrechtler,190 sondern auch die deutsche Politik ernsthaft beschäftigte.191 Dass diese Kritik jedoch nicht nur Ausfluss des Unbehagens deutscher Juristen ist, belegen zahlreiche Stellungnahmen durch internationale Autoren, die ebenfalls das Kartellrechtsregime der Unionsorgane in Frage stellen.192 Auch diese Untersuchung muss sich die Frage nach der Vereinbarkeit des europäischen Kartellsanktionssystems mit rechtsstaatlichen Grundsätzen gefallen lassen. Indessen soll an dieser Stelle keine umfassende rechtsstaatliche Untersuchung vorgenommen werden, da diese Arbeit sich nicht in Fundamentalopposition zum europäischen Recht sieht. Gleichwohl sollen die wesentlichen Kritikpunkte aufgegriffen werden, die vor allem einer verfah188 Frank Montag forderte damals „. . . a Radical Reform of the Infringement Procedure . . .“, ECLR 1996, S. 428. 189 Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008; daran anknüpfend Schwarze, WuW 2009, S. 6 und ders., in EuR 2009, S. 171. 190 Vgl. die Stellungnahme von Ackermann, ZWeR 2010, 329 ff.; die Erwiderung durch Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160 ff., und das anschließende Schlusswort von Ackermann, ZWeR 2012, S. 3 ff. 191 So wurde am 17.10.2012 in der 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags durch zahlreiche Bundestagsabgeordnete und die Fraktion der SPD eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, ob im europäischen Kartellrecht ein grundsätzlicher Reformbedarf bestehe, BT-Drucks. 17/11071. Die Antwort der Bundesregierung am 2.11.2012 verneinte diese Frage und befürwortete vielmehr eine materiellrechtliche und prozedurale Konvergenz des GWB mit dem EG-Kartellrecht, BT-Drucks. 17/11285. 192 Vgl. etwa Bombois, La protection des droits fondamentaux des entreprises en droit européen répressif de la concurrence, 2012, S. 13 f.; Thomas, in: FS Canenbley, 2012, S. 459 ff.; Editorial Comments, Towards a more judicial approach? CMLR 48 (2011), S. 1405; Forrester, A Challenge for Europe´s Judges: The Review of Fines in Competition Cases, E.L.Rev. 2011, S. 185; Temple Lange, Three Possibilities for Reform of the Procedure of the European Commission in Competition Cases unter Regulation 1/2003, CEPS Special Report, Nov. 2011; Slater/Thomas/Waelbroeck, Competition Law Proceedings before the European Commission and the right to a fair trial: No Need for Reform?, GCLC Working Paper 04/08.

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

rensrechtlichen Konvergenz des deutschen Kartellsanktionsrechts entgegenstehen könnten.

II. Die wesentlichen Kritikpunkte im Einzelnen Gegen die Kartellrechtspraxis der Unionsorgane wird seit jeher im Wesentlichen vorgetragen, dass die Kumulierung von Ermittlungs- und Sanktionierungsaufgaben bei der Kommission und die daran anschließende beschränkte Nachprüfung durch den Gerichtshof gegen die Gewaltenteilung und das Recht auf ein faires Verfahren, die strenge Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren stellten, verstießen (1). Zweitens sollen die Ausdehnung des kartellrechtlichen Haftungsadressaten auf Konzernobergesellschaften und die damit verbundenen Vermutungsregeln mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung unvereinbar sein (2). Drittens sei der Schuldgrundsatz wegen unzureichender Voraussetzungen für vorsätzliches und fahrlässiges Verhalten der Unternehmen verletzt (3). Soweit es um das Auskunftsverlangen der Kommission gegenüber Unternehmen geht, werden viertens Verletzungen des nemo tenetur-Grundsatzes gerügt (4). Im Hinblick auf das weite Ermessen der Kommission, das durch Bußgeld-Leitlinien konkretisiert wird, werden fünftens Bedenken wegen des Bestimmtheitsgrundsatzes erhoben (5). 1. Das Recht auf ein faires Verfahren im Hinblick auf die Sanktionspraxis der Unionsorgane a) Die due process-Debatte im europäischen Kartellsanktionsrecht Das Recht auf ein faires Verfahren (fair trial) enthält in Art. 47 GRC und 6 EMRK umfassende rechtsstaatliche Garantien, wonach unter anderem jede Person das Recht hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen Gericht verhandelt wird. Vor diesem Hintergrund wird die Sanktionspraxis der Unionsorgane im Hinblick auf die Rollenverteilung zwischen Kommission und Gerichtshof als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens kritisiert, da die Kommission kartellrechtliche Zuwiderhandlungen ermittelt, Verstöße feststellt, anklagt und zugleich sanktioniert. Sie sei somit „Ermittlerin und Richterin in einer Person“, während die Rolle des Gerichtshofs sich oftmals auf eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Bußgeldbescheids beschränkt, obwohl er zur uneingeschränkten Überprüfung nach Art. 31 VO 1/2003 grundsätzlich befugt wäre.193 Diese Praxis verstoße aufgrund des strafrechtlichen Charakters von Kar193 Bombois, La protection des droits fondamentaux, 2012, S. 13 f.; Thomas, in: FS Canenbley, 2012, S. 459 ff.; Editorial Comments, Towards a more judicial approach? CMLR 48 (2011), S. 1405; Forrester, E.L.Rev. 2011, S. 185; Temple Lange, Three Possibilities for Reform, 2011; Slater/Thomas/Waelbroeck, Competition Law Proceedings before the European Comission, GCLC Wordking Paper 04/08 = Eur. Comp. J. 2009, S. 97; allgemein zur Prüfungsdichte des Gerichtshofs in Kartellsachen vgl. Voet van Vormizeele, EuR 2015, S. 103 f.

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tellsanktionen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit. Nach Möschel194 gleicht diese Aufgabenteilung zwischen Kommission und Gerichtshof einem „Inquisitionsprozess“ und verstoße dadurch gegen das Prinzip der Gewaltenteilung und die Justizgrundrechte. Ähnlich sieht es de Bronett195, der für eine Reform der Aufgabenteilung zwischen Kommission und Gerichtshof plädiert. Temple Lang196 hat in diesem Zusammenhang die Schaffung einer eigenständigen europäischen Kartellbehörde vorgeschlagen, um den rechtsstaatlichen Bedenken gegen das europäische Kartellsanktionsverfahren entgegenzuwirken. Dieser – mit dem Begriff des due process zusammengefassten – Diskussion197 um die Rechtsstaatlichkeit des europäischen Kartellsanktionsverfahrens liegt jedoch die irrige Annahme zugrunde, bei den von der Kommission verhängten Kartellsanktionen handele es sich aufgrund des mittlerweile erreichen Bußgeldniveaus um Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter oder sogar um Sanktionen, die dem Kernstrafrecht zuzuordnen sind, weshalb die umfassenden Garantien der Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK ähnlich wie im Strafverfahren auch im Kartellsanktionsverfahren anzuwenden seien.198 Zwar handelt es sich bei den Kartellsanktionen der Kommission nach den sog. Engel-Kriterien zutreffend um strafrechtsähnliche Sanktionen.199 Jedoch ist spätestens seit der Jussila-Entscheidung des EGMR anerkannt, dass im Kartellsanktionsverfahren abgestufte Verfahrensgrundsätze aus Art. 6 EMRK anwendbar sind.200 Dies gilt nach der Rechtsprechung des EuGH unter Bezugnahme auf das Jussila-Urteil des EGMR auch für die Verfahrensgarantien aus Art. 47 GRC.201 Die Sichtweise des EGMR wurde nunmehr vollends durch seine Menarini-Entscheidung aus dem Jahre 2011 bestätigt, die die Vereinbarkeit des italienischen Kartellverfahrens mit Art. 6 EMRK ausdrücklich betont hat.202 Der italienische Gesetzgeber hat 1990 ein eigenes Kartellgesetz erlassen, das aus verfahrensrechtlicher Sicht weitestgehend am europäischen Recht orientiert ist.203 Aufgrund der Vergleichbarkeit der verfahrensrechtlichen Struktur lassen sich daher die vom EGMR getroffenen Aussagen hinsichtlich des italienischen Kartellsanktionsverfahrens auch auf das europäische Kartellsanktionsverfahren und auf Art. 47 GRC übertragen, weshalb sich die Unionsorgane in

194

Möschel, Geldbußen im europäischen Kartellrecht, DB 2010, S. 2377. de Bronett, ZWeR 2012, S. 157 f. 196 Temple Lang, Three Possibilities for Reform, 2011, S. 219 ff., der alternativ auch eine stärkere Aufgabenzuweisung an den Wettbewerbskommissar erwägt (ebd., S. 211). 197 Dazu Soltész, WuW 2012, S. 141, 142. 198 Chmeis, NZKart 2016, S. 564, 568. 199 Zu der Rechtsnatur der Kartellsanktion vgl. bereits oben, § 3 A. I. und B. II. 2. 200 EGMR, Urteil vom 23.11.2006 – Rs. 73053/1, Rn. 43 – Jussila/Finnland. 201 EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 30 f. – Schindler. 202 EGMR, Urteil vom 28.9.2011, Antrag Nr. 43509/08 – A. Menarini Diagnostics S.R.L./Italien. 203 Dazu Bueren, EWS 2012, S. 363, 366 f. 195

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ihrer kartellrechtlichen Sanktionspraxis bestätigt gesehen haben.204 Im Grundsatz bescheinigte der EGMR dem administrativen Kartellsanktionsverfahren eine Vereinbarkeit mit Art. 6 EMRK, vorausgesetzt, es bestehe die Befugnis eines unabhängigen Gerichts zur vollumfänglichen richterlichen Nachprüfung der Verwaltungsentscheidung (pleine juridiction).205 Richter Pinto de Albuquerque betonte sogar in einem Sondervotum unter Verweis auf die Rechtsprechung zum deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht,206 dass das bußgeldverhängende Organ nicht alle Vorgaben von Art. 6 EMRK beachten muss, wenn die Kartellsanktion der umfassenden Nachprüfungsbefugnis eines Gerichts i. S. v. Art. 6 EMRK unterliegt.207 Eine solche Möglichkeit sieht jedoch gerade das europäische Kartellrecht in Art. 31 VO 1/2003 vor, wonach der Gerichtshof die „Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung“ der Kommission hat. In diesem Zusammenhang wird dem Gerichtshof jedoch vorgeworfen, er würde seine Kompetenz zur unbeschränkten Nachprüfung der Kommissionsbeschlüsse nicht wahrnehmen.208 Diesem Vorwurf hat der Gerichtshof am 8. Dezember 2011 gleich durch zwei Urteile in den Sachen Chalkor209 und KME 210 entgegengebracht, dass die Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung nach Art. 31 VO 1/2003 nicht einer Prüfung von Amts wegen entspricht und dass das Verfahren vor den Gerichten der Union ein streitiges Verfahren ist. Diese Rechtsprechung hat der EuGH in der Sache Schindler nochmals bestätigt.211 Mit Ausnahme der Gründe zwingenden Rechts, die der Richter von Amts wegen zu berücksichtigen hat, wie etwa das Fehlen einer Begründung der Entscheidung, ist es Sache des Klägers, gegen die Entscheidung Klagegründe vorzubringen und für diese Beweise beizubringen. In Fortführung dieser Rechtsprechung betonte der EuGH unter expliziter Bezugnahme auf die Urteile des EGMR in den Sachen Jussila und Menarini zudem, dass jedenfalls der Umstand, dass die Bußgeldentscheidungen in Wettbewerbssachen von der Kommission erlassen werden, für sich genommen nicht gegen Art. 6 EMRK verstoße, sofern der Betroffene gegen 204 Vgl. etwa EuG v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Rn. 53 – Schindler; vgl. auch Wils, World Competition 33 (2010) 1, S. 5, 15 f.; Castillo De La Torre, Word Competition 32 (2009) 4, S. 505, 571 f.; Bouquet, The compatibility of the Commission’s role in competition procedures with the fundamental rights: a real pressing legal problem or just a question of opportunity? A critical view on the (draft) report of Working Group 3 of the Global Competition Law Center (GCLC), Brussels June 2009, S. 7, 12, 17. 205 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Nr. 43509/08, Rn. 58 f. – Menarini. 206 Grundlegend EGMR v. 25.1.1984, Öztürk/Deutschland, Nr. 8544/79, Serie A 73. 207 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Nr. 43509/08, Menarini, Sondervotum, Rn. 8. 208 Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008, S. 55 f.; Hirsbrunner/Werner, justletter v. 20.9.2010, S. 6; Brinker, Due Process and the Art of Fining, St. Gallener Internationales Kartellrechtsforum 2011. 209 EuGH v. 8.12.2011, Rs. C-386/10 P, Rn. 64 – Chalkor. 210 EuGH v. 8.12.2011, Rs. C-272/09 P, Rn. 104 – KME. 211 EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 36 – Schindler.

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eine solche Bußgeldentscheidung ein Gericht anrufen könne, das die in Art. 6 EMRK vorgesehenen Garantien durch eine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der behördlichen Entscheidung biete.212 Dies gelte selbst dann, wenn in einem verwaltungsrechtlichen Verfahren eine Kartellsanktion mit strafrechtlichem Charakter verhängt werde. Diese Sichtweise des Gerichtshofs deckt sich auch mit dem Wortlaut des Art. 31 VO 1/2003, der lediglich von einer „Befugnis“ zur unbeschränkten Nachprüfung spricht, nicht jedoch von einer „Verpflichtung“. Für die Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK reicht es daher aus, dass ein Gericht die grundsätzliche Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung besitzt. Ein darüberhinausgehender Anspruch kann aus den grundrechtlichen Gewährleistungen jedenfalls nicht abgeleitet werden, da Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK von vornherein nur ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht vorsehen. Die dem Gerichtshof durch Art. 31 VO 1/2003 verliehene unbeschränkte Nachprüfungskompetenz geht somit über die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 263 AEUV und folglich über die grundrechtlichen Gewährleistungen der Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK hinaus.213 Insoweit ist auch eine umfassende Prüfungskompetenz des EuGH gegenüber Entscheidungen des EuG in Kartellfällen rechtsstaatlich nicht zwingend vorgesehen, da bereits das EuG in vielen Fällen eine unbeschränkte Prüfungs- und Entscheidungsbefugnis in rechtsstaatlich gebotener Weise unter Wahrung des judicial self restraint ausübt.214 Eine unbeschränkte Nachprüfung zusätzlich durch den EuGH ist somit aus rechtsstaatlicher Sicht nicht zwingend erforderlich. Dies lässt sich auch damit begründen, dass bereits die Vorgängervorschrift ex. Art. 17 VO 17/62 eine solche unbeschränkte Nachprüfungsbefugnis des Gerichtshofs vorgesehen hat, bevor das EuG im Jahre 1988 zur Entlastung des EuGH errichtet worden ist. Die VO 1/2003 hat an dieser unbeschränkten Nachprüfungsbefugnis des Gerichtshofs festgehalten, also sowohl dem EuG als auch dem EuGH diese Befugnis eingeräumt. Würde jedoch aus Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK stets eine unbeschränkte Prüfung des EuGH auch gegenüber Entscheidungen des EuG abgeleitet werden, würde die durch die Schaffung des EuG angestrebte Entlastung des Gerichtshofs ad absurdum geführt. Aus verfahrensökonomischer Sicht ist die Praxis des EuGH, der Entscheidungen des EuG nur in rechtlicher Hinsicht überprüft, nicht zu beanstanden. Im Ergebnis wird die Menarini-Entscheidung des EGMR als Bestätigung der Rechtsstaatlichkeit des europäischen Kartellsanktionsverfahrens anzusehen sein, die ihren Ausdruck auch in den Urteilen des EuGH in den Sachen Chalkor, KME und Schindler gefunden hat. Hierbei kann es jedoch nur um die Rechtmäßigkeit 212

EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 35 und 28 – Schindler. So auch zutreffend Wils, The Increased Level of EU Antitrust Fines, Judicial Review and the European Convention on Human Rights, World Competition 33 (2010). 214 Dazu Dannecker/Müller, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der EU, § 39, Rn. 112 f. 213

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des rechtlichen Rahmens des europäischen Kartellsanktionsrechts gehen, nicht aber um einzelne Fälle. Ob das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK im konkreten Fall gewährleistet wird, ist von den Unionsorganen einzelfallbezogen zu prüfen. So kann unter Umständen in speziellen Fallkonstellationen des europäischen Kartellsanktionsverfahrens durchaus eine Verletzung der o. g. Rechte in Betracht kommen, etwa wenn ein Gericht sich trotz umfassender Prüfungsbefugnis weigert, etwaige Aspekte gerichtlich zu überprüfen. Mit dieser Judikatur des EuGH sowie des EGMR dürfte sich die due process-Debatte um das europäische Kartellsanktionsrecht weitestgehend erledigt haben. b) Rechtspolitische Maßnahmen der Kommission zur Verbesserung der Kartellverfahren und Stärkung der Verfahrensrechte Im Zusammenhang mit der Rechtsstaatlichkeitsdebatte um das europäische Kartellsanktionsverfahrensrecht sei der Vollständigkeit halber noch auf unterschiedliche Maßnahmen der Kommission hingewiesen, die den o. g. rechtsstaatlichen Bedenken trotz der gegenteiligen Auffassung der obersten Gerichtshöfe insbesondere aus rechtspolitischer Sicht entgegenwirken sollen. Auch wenn die Kommission sich vor allem durch die Judikatur des EuGH und EGMR in ihrer kartellrechtlichen Praxis wiederholt bestätigt gefühlt hat, bemüht sie sich durch rechtspolitische Maßnahmen um mehr Rechtssicherheit und Transparenz bei ihrer Sanktionspraxis. Hierzu hat die Kommission etwa ein Maßnahmenpaket zur Verbesserung ihrer Kartellverfahren und Stärkung der Verfahrensrechte der am Kartellverfahren beteiligten Unternehmen erlassen, das aus einer Best PracticesBekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 AEUV, aus einem Arbeitspapier über bewährte Vorgehensweisen für die Übermittlung wirtschaftlichen Beweismaterials und einem neuen Mandat des Anhörungsbeauftragten in Kartellverfahren besteht.215 Der ehemalige für Wettbewerbspolitik zuständige Vizepräsident der Kommission, Joaquín Almunia, erklärte in diesem Zusammenhang: „Das Maßnahmenpaket zeugt von unserer Bereitschaft, alle Beteiligten anzuhören, aus früheren Erfahrungen zu lernen und Verbesserungen vorzunehmen, ohne dass dies zulasten der effizienten Durchführung der Verfahren ginge.“ 216 In der kartellrechtlichen Praxis ist dieser Vorstoß der Kommission auf positive Resonanz gestoßen, wenngleich für manche Unternehmensvertreter im Hinblick auf die due process-Debatte „kein Quantensprung“ vorliegt.217 Jedoch wurde das überarbeitete Mandat des Anhörungsbeauftragten und insbesondere die Stärkung seiner Rolle bereits im Ermittlungsverfahren posi215 Einzelne Maßnahmen abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/antitrust/ legislation/legislation.html (zuletzt aufgerufen am 1.6.2017). 216 Almunia, Rede v. 30.5.2011, abrufbar unter: http://europa.eu/rapid/press-release_ SPEECH-11-396_en.htm?locale=en (zuletzt aufgerufen am 1.6.2017). 217 So etwa Soltész, EuZW 2010, S. 81 f.

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tiv gewertet.218 Gleichwohl hat die Kritik am gegenwärtigen System des europäischen Kartellbußgeldverfahrens aus den zuvor erörterten Gesichtspunkten nicht abgenommen.219 In der Summe ist jedoch festzuhalten, dass der Vorstoß der Kommission aus rechtspolitscher Sicht begrüßenswert ist, da die unterschiedlichen Maßnahmen künftig für mehr Objektivität und Transparenz im Kartellsanktionsverfahren sorgen werden. 2. Die Unschuldsvermutung im Hinblick auf die Heranziehung der wirtschaftlichen Einheit als Sanktionsadressatin Neben der Kritik, dass die grundsätzliche Struktur und Aufgabenteilung der Unionsorgane im europäischen Kartellsanktionsverfahren rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entspricht, wird auch im Hinblick auf die Ausdehnung des Kartellsanktionsadressaten auf das gesamte Unternehmen als wirtschaftliche Einheit seit Jahren der Einwand erhoben, dass diese Sanktionspraxis gegen die Unschuldsvermutung (in dubio pro reo) verstoße.220 Kritisiert wird vor allem, dass die Muttergesellschaft für die kartellrechtliche Zuwiderhandlung ihrer Tochtergesellschaft nach der Akzo-Vermutung einzustehen hat, ohne dass ihr ein konkreter Tatvorwurf nachgewiesen zu werden braucht.221 Auch wenn der Muttergesellschaft von der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Möglichkeit zur Widerlegung dieser Vermutung zugesprochen worden ist, sei die Vermutung in der kartellrechtlichen Praxis der Unionsorgane de facto nicht widerlegbar,222 so dass im Ergebnis die Beweislast, die grundsätzlich die Kommission im Kartellbußgeldverfahren zu tragen habe, zulasten der Unternehmen umgekehrt werde.223 Zunächst kann nicht in Abrede gestellt werden, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung gem. Art. 48 I GRC und 6 II EMRK auch im europäischen Kartellsanktionsverfahren Geltung beansprucht. Hiernach gilt jede beschuldigte Person bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis ihrer Schuld als unschuldig.224 Würde man also sanktionsrechtlich auf die einzelnen Rechtsträger bzw. auf die einzelnen juristischen Personen abstellen, sie also unabhängig voneinander jeweils für eigenes Verhalten in Anspruch nehmen, wäre eine widerlegbare Vermu218

Dazu auch ausführlich Bueren, WuW 2012, S. 684 ff. Vgl. etwa Körber, Europäisches Kartellverfahren in der rechtspolitischen Kritik, 2013, S. 23 f. 220 Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008, S. 30 f. 221 Dazu bereits oben, A. II. 2. 222 Bosch, ZHR 177 (2013), S. 454, 457 f.; de Bronett, EWS 2012, S. 113, 123; Kling, ZWeR 2011, S. 169, 183. 223 Vgl. dazu Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/ Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 99. 224 EuG v. 2.10.2007, Rs. T-474/04, Rn. 76 – Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse. 219

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tung im Sinne der Akzo-Rechtsprechung des EuGH mit der Unschuldsvermutung nach Art. 48 I GRC und 6 II EMRK sicherlich nicht vereinbar. Die Verfasser der Verträge haben sich jedoch im Hinblick auf den kartellrechtlichen Unternehmensbegriff offensichtlich nicht dafür entschieden, auf die einzelnen Gesellschaften oder juristischen Personen abzustellen, wie es beispielsweise nach Art. 54 AEUV bei der Dienstleistungsfreiheit und nach Art. 62 AEUV auch bei der Niederlassungsfreiheit der Fall ist. Hiernach können sich nicht nur natürliche, sondern auch juristische Personen auf die Grundfreiheiten berufen, wobei Gesellschaften und juristische Personen in diesen Fällen anders definiert werden als der Unternehmensbegriff nach Art. 101, 102 AEUV. Diese Systematik legt nahe, dass es schon primärrechtlich verfehlt wäre, im Rahmen der Wettbewerbsvorschriften nach Art. 101, 102 AEUV den gleichen Begriff von Gesellschaften und juristischen Personen anzulegen, wie es bei Art. 54, 62 AEUV der Fall ist. Hätten die Verfasser der Verträge also gewollt, dass der kartellrechtliche Unternehmensbegriff gleichsam zu verstehen wäre wie Gesellschaften und juristische Personen i. S. d. Grundfreiheiten zu verstehen sind, hätten sie diese Intention hinlänglich zum Ausdruck bringen können. Von dieser Gesetzessystematik ging auch offenbar der EuGH in der Entscheidung Schindler aus, als er die Rechtsmittelgründe hinsichtlich des vermeintlichen Verstoßes der Akzo-Vermutung gegen den Grundsatz in dubio pro reo zurückgewiesen hat.225 Wendet man sich also von dem Verständnis ab, dass die Mutter als eigenständige juristische Person für ihre als ebenso eigenständige juristische Person organisierte Tochter haftet, und legt man den kartellrechtlichen Unternehmensbegriff zugrunde, wonach Mutter- und Tochtergesellschaft gemeinsam ein ganzes Unternehmen im Sinne einer wirtschaftlichen Einheit bilden,226 die dann als solche zur bußgeldrechtlichen Verantwortung herangezogen wird, sind die erhobenen Einwände jedenfalls nicht mehr haltbar.227 Der Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit der einzelnen Rechtsträger kann nach diesem Verständnis nicht mehr ausschlaggebend sein, um den Urheber einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zu bestimmen.228 Dass im Ergebnis die Muttergesellschaft im Bußgeldbescheid als Adressatin ausgewiesen ist, ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass zwecks Vollstreckung des Bußgeldbescheids auf einen Rechtsträger mit Rechtspersönlichkeit abgestellt werden muss.229 Da die wirtschaftliche Einheit als solche keine Rechtspersönlichkeit besitzt, muss entweder die Tochter- oder die Muttergesellschaft herangezogen werden. Vor diesem Hintergrund kann dann nicht mehr von einer Haftung der Muttergesellschaft für 225

EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 102 – Schindler. Ausführlich zum Unternehmensbegriff im europäischen Kartellrecht vgl. oben, A. II. 1. 227 So auch zutreffend Kersting, WuW 2014, S. 1156, 1159. 228 EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 100 – Schindler. 229 Vgl. dazu ausführlich oben, A. II. 1. b). 226

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fremdes Verschulden der Tochtergesellschaft gesprochen werden. Es liegt vielmehr ein Verschulden der gesamten wirtschaftlichen Einheit vor. Ein gegenteiliges Verständnis führte zu dem unbilligen Ergebnis, dass der wirtschaftlichen Einheit zwar das sog. Konzernprivileg zugesprochen, sie aber auf sanktionsrechtlicher Ebene in einzelne Rechtsträger unterteilt würde, die nicht füreinander haften. Dieses Ergebnis stünde auch nicht im Einklang mit der bereits ausgeführten Gesetzessystematik mit dem Unternehmensbegriff nach den Wettbewerbsvorschriften und dem Begriff von Gesellschaften und juristischen Personen nach den Grundfreiheiten. Ginge man zudem davon aus, dass die Muttergesellschaft sich auf die Unschuldsvermutung berufen könnte und sie hinsichtlich der 100-prozentigen Beteiligung den Gegenbeweis nicht erbringen müsste, würde man der kartellrechtlichen Missbrauchsgefahr aus sanktionspolitischer Sicht Tür und Tor öffnen. So kann sich die Muttergesellschaft durch gezielte gesellschaftsrechtliche Strategiemaßnahmen einer Bußgeldhaftung entziehen. Die Muttergesellschaft wird ohnehin aus der kartellrechtlichen Zuwiderhandlung der Tochtergesellschaft Nutzen ziehen, selbst dann, wenn die Gewinne aus der kartellrechtlichen Zuwiderhandlung der Tochtergesellschaft gutgeschrieben werden. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Muttergesellschaft von dem Wertzuwachs der Geschäftsanteile an der Tochtergesellschaft ebenfalls profitiert. Die Muttergesellschaft könnte dazu verleitet werden, bestimmte Geschäftsbereiche auszulagern (Outsourcing), um die Haftung für Kartellverstöße auf die Tochtergesellschaft abzuwälzen.230 Überdies könnte die Muttergesellschaft die Tochtergesellschaft anweisen, bei der Kommission als erstes Unternehmen eine entsprechende Kronzeugenbehandlung zu beantragen, um letztendlich als wirtschaftliche Einheit der Bußgeldhaftung zu entgehen. Dies kann nicht der Sinn und Zweck einer kartellrechtlichen Sanktionspolitik sein, die auf Prävention und Abschreckung gerichtet ist. Die Haftungsvermutung hinsichtlich der Muttergesellschaft bei einer 100-prozentigen Beteiligung an der Tochtergesellschaft findet ihre Berechtigung gerade im kartellrechtlichen Präventionsgedanken. Da es sich bei der Einflussnahme der Muttergesellschaft auf die Tochtergesellschaft meist um interne Vorgänge handelt, die der Kommission in der Regel verschlossen bleiben, bedarf ein effektives und effizientes Kartellsanktionsverfahren eines Instruments wie der Vermutung hinsichtlich der 100-prozentigen Beteiligung, um die Beteiligten zur Preisgabe der wahren gesellschaftlichen sowie ökonomischen Verhältnisse zu zwingen.231 Nach den vorstehenden Ausführungen dürfte auch die Vermutungsregel im Kartellrecht mit den grundrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 48 I GRC und Art. 6 II EMRK vereinbar sein. Dies folgt zum einen aus der Jussila-Rechtsprechung des EGMR, wonach im Kartellsanktionsrecht abgestufte Verfahrensgaran230 231

Vgl. dazu Köhler, WRP 2011, S. 277 ff. So zutreffend Ackermann, ZWeR 2010, S. 329, 346.

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tien nach Art. 6 EMRK möglich sind, und zum anderen aus der Schindler-Rechtsprechung des EuGH, der sich bei der Auslegung des Art. 48 I GRC die Sichtweise des EGMR zu eigen gemacht hat. Durch eine abgestufte Anwendung dieser grundrechtlichen Verfahrensgarantien, insbesondere im Hinblick auf juristischen Personen, kann eine solche Vermutungsregel – selbst dann, wenn sie schwer zu widerlegen ist – durchaus mit den grundrechtlichen Garantien aus Art. 48 GRC und 6 EMRK vereinbar sein, wenn sie in angemessenem Verhältnis zu den verfolgten Zielen steht und Möglichkeiten bestehen, sowohl den gegenteiligen Beweis zu erbringen als auch die Verteidigungsrechte zu wahren.232 Die Vermutungsregel beruht nämlich wie jeder andere Anscheinsbeweis auf einer typischen und durch Erfahrung bestätigten Kausalbeziehung233 und ist gleichzusetzen mit den im deutschen Recht entwickelten Grundsätzen der tatrichterlichen Überzeugung unter Heranziehung von Erfahrungssätzen,234 wonach das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit vom Grad der Wahrscheinlichkeit abhängig ist, den der jeweilige Erfahrungssatz beinhaltet.235 Dass es sich in der kartellrechtlichen Praxis in der Tat als sehr schwierig erweist, die Vermutung durch die Unternehmen zu widerlegen, bedeutet für sich genommen noch nicht, dass die Vermutung in tatsächlicher Hinsicht nicht widerlegbar sei. Die Schwierigkeit, den erforderlichen Gegenbeweis zu erbringen, wird oftmals mit den komplizierten Unternehmensstrukturen in Verbindung stehen, wobei dieses Risiko jedoch in die Sphäre der Unternehmen selbst fällt. Dieses Risiko kann jedoch nicht aufgrund einer vermeintlichen Umkehr der Beweislast zurückgewiesen werden, da ab einer gewissen Größenordnung und einer damit verbundenen Unternehmensstruktur unterschiedliche Aufsichtspflichten der Obergesellschaften bestehen, die kartellrechtswidriges Verhalten möglichst unterbinden sollen. Der mit dieser Vermutungsregel verfolgte Zweck liegt somit im kartellrechtlichen Präventionsgedanken, der sowohl auf General- als auch Spezialprävention gerichtet ist.236 Die Vermutungsregel ist insofern ein ausgeglichener Kompromiss zwischen einer effektiven und effizienten Kartellrechtsdurchsetzung auf der einen Seite und der Wahrung rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Grundsätze auf der anderen Seite, wodurch die Vermutungsregel in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel gewogen wird.237 232 Hinsichtlich der graduellen Anwendung von Verfahrensgarantien aus Art. 47 GRC und Art. 6 EMRK auf juristische Personen im Kartellsanktionsverfahren vgl. bereits oben, § 3 B. II. 2. c) und d). 233 EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 96 – Schindler. 234 So jedenfalls Chmeis, Ad Legendum 02/2017, S. 172, 173. 235 BGH Az. KRB 2/05, juris-Rn. 20 – Berliner Transportbeton; vgl. auch BGH 1 StR 40/02, NStZ 2002, 636, 656. 236 Zum Umfang und zur Reichweite des kartellrechtlichen Präventionsgedankens vgl. oben § 3. A. I. 237 In diesem Sinne auch EuGH v. 29.9.2011, Rs. C-521/09 P, Rn. 59 – Elf Aquitaine; darauf zurückgreifend EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 108 – Schindler.

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3. Der Schuldgrundsatz im Hinblick auf den Verschuldensmaßstab nach Art. 23 II VO 1/2003 Ebenso wie die Unschuldsvermutung gilt im Kartellbußgeldverfahren gem. Art. 48 I GRC und Art. 6 II EMRK auch der Schuldgrundsatz, der nach Art. 23 II VO 1/2003 nur bei einem vorsätzlichen oder fahrlässigen Verhalten des Unternehmens eine Bußgeldverantwortlichkeit auslösen kann, wobei die Unternehmensschuld naturgemäß nur anhand der Zurechnung des Verschuldens natürlicher Personen bestimmt werden kann.238 Die Handlungen der natürlichen Personen werden somit als Handlungen des gesamten Unternehmens – also der wirtschaftlichen Einheit – angesehen. Es ist also nicht erforderlich, dass die Geschäftsführung an der kartellrechtlichen Zuwiderhandlung beteiligt war oder von dieser gewusst hat. Der Kreis der natürlichen Personen wird von den Unionsorganen sogar so weit gezogen, dass eine Zurechnung des Verhaltens natürlicher Personen auch bei solchen vorliegen kann, die seitens des Unternehmens nicht berechtigt waren, gegen die kartellrechtlichen Bestimmungen zu verstoßen. Eine Zurechnung scheidet erst aus, wenn die natürliche Person den Rahmen des ihr übertragenen Aufgabenkreises offenkundig überschritten hat.239 Von der deutschen Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Zurechnung des Verhaltens eines Mitarbeiters zum Unternehmen in der Praxis de facto nicht möglich ist.240 Soweit es um die Zurechnung von Verhalten natürlicher Personen gegenüber der Gesellschaft geht, kann jedoch auch in solchen Fällen nicht auf die praktische Schwierigkeit des Erbringens eines Gegenbeweises abgestellt werden, weil nach dieser Logik sämtliches Verhalten natürlicher Personen immer in Zweifel gezogen werden kann, zumal kartellrechtliche Zuwiderhandlungen in der Regel geheim vereinbart und schriftlich nicht dokumentiert werden. a) Verbotsirrtum im europäischen Kartellrecht? Der richtige Verschuldensmaßstab nach Art. 23 II VO 1/2003 ist jedoch unter einem anderen Gesichtspunkt problematisch, nämlich dann, wenn das Unternehmen irrtümlich davon ausgeht, dass das Marktverhalten mit den europäischen Wettbewerbsvorschriften konform ist, obwohl das Unternehmen tatsächlich gegen die Wettbewerbsvorschriften verstoßen hat. Grundsätzlich unterscheiden die Unionsorgane zwischen einem Tatsachen- und Rechtsirrtum auf der einen Seite und einem Verbotsirrtum auf der anderen Seite. Während dem Irrtum über Tatsachen regelmäßig vorsatzausschließende Wirkung beigemessen wird und der Rechtsirrtum differenziert behandelt wird, herrschte lange Zeit Unklarheit da238 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23, Rn. 61 und 184 f. 239 Dazu bereits oben, A. II. 1. c). 240 Vgl. dazu etwa Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008, S. 46.

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rüber, ob und inwieweit der Verbotsirrtum im Kartellrecht anerkannt ist.241 Das Problem von Irrtümern und ihre Vermeidbarkeit im Kartellrecht wurden spätestens seit der Einführung der VO 1/2003 virulent, mit der ein Übergang vom Einzelfreistellungsverfahren hin zum System der Legalausnahme stattgefunden hat. Schon damals wurde befürchtet, dass die Bedeutung von Verbotsirrtümern zunehmen würde, da Unternehmen ihr Verhalten nach dem Inkrafttreten der VO 1/2003 selbst im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem europäischen Kartellrecht einschätzen müssen. So wurde vor allem gefordert, dass die Kommission ihre Fahrlässigkeitsmaßstäbe lockern müsste, da insbesondere der Art. 101 III AEUV unbestimmte Rechtsbegriffe enthalte und die Unternehmen nach der Umstellung des Kartellrechtsregimes keinerlei Ansprüche gegenüber der Wettbewerbsbehörde auf Auskunft über die Frage der Kartellrechtswidrigkeit ihres Verhaltens mehr haben.242 Der Gerichtshof hat sich in der Vergangenheit mehrfach mit dem Institut des schuldausschließenden Verbotsirrtums im europäischen Wettbewerbsrecht auseinandergesetzt, wenngleich er das Problem immer nur gestreift hat.243 Das Problem des Verbotsirrtums im Kartellrecht ist jedenfalls seit der Schenker-Entscheidung des EuGH im Jahr 2013 virulent geworden, der eine Schuldfreistellung aufgrund eines unvermeidbaren Verbotsirrtums abgelehnt hat.244 Der EuGH entschied hierzu, dass selbst der Rechtsrat eines im Kartellrecht fachkundigen Rechtsanwalts oder die Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde nicht schuldbefreiend wirken kann, wenn das kartellrechtliche Verhalten des Unternehmens zwar nicht gegen nationales Kartellrecht, wohl aber gegen die europäischen Wettbewerbsvorschriften verstößt. In dem Fall ging es um mehrere Speditionsunternehmen, die von der österreichischen Wettbewerbsbehörde wegen eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV verfolgt wurden. Hintergrund des Rechtsstreits ist ein langjähriges Kartell auf dem österreichischen Markt für Speditionsdienstleistungen, die sog. „Spediteurs-Sammelladungs-Konferenz“ (SSK), die Mitte der 1990er Jahre entstand und zu deren Mitgliedern rund 40 Speditionsunternehmen (u. a. Schenker) gehörten. Zwischen den Mitgliedern der SSK wurden von 1994 bis 2007 insbesondere Absprachen über die Tarife für den InlandsSammelladungsverkehr getroffen. Die Mitglieder der SSK waren bestrebt, auf keinen Fall mit dem europäischen Wettbewerbsrecht in Konflikt zu geraten, weswegen sie die Zusammenarbeit auf das Hoheitsgebiet der Republik Österreich beschränkt hatten. Die Unternehmen beantragten 1995 beim österreichischen Kartellgericht festzustellen, dass die SSK ein sog. „Bagatellkartell“ i. S. d. öster241 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Vor Art. 23 VO 1/2003, Rn. 200. 242 Dreher/Thomas, WuW 2004, S. 8, 15. 243 Vgl. dazu EuGH v. 28.2.2013, Rs. C-681/11, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 38 m.w. N. auf die frühere Rechtsprechung des Gerichtshofs. 244 EuGH v. 18.6.2013, Rs. C-681/11, Rn. 37 f. – Schenker.

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reichischen Kartellgesetzes sei und deshalb ohne Genehmigung durchgeführt werden könne. Dies wurde vom Kartellgericht 1996 durch Beschluss bestätigt. Zu der gleichen Auffassung gelangte die damals von der SSK beauftragte Rechtsanwaltskanzlei, die ebenfalls die SSK als „Bagatellkartell“ ansah. Sie hielt in einem Schreiben von 1996 die Punkte fest, die bei der Durchführung der SSK als „Bagatellkartell“ zu beachten seien. Auf die Frage, ob das „Bagatellkartell“ mit europäischem Kartellrecht vereinbar sei, ging das Schreiben allerdings nicht ausdrücklich ein. Im Zuge einer Novellierung des österreichischen Kartellgesetzes hat die SSK im Jahr 2005 die Rechtsanwaltskanzlei erneut aufgesucht, um die Auswirkungen der Gesetzesänderung auf die SSK zu überprüfen. Auch hier ging die Rechtsberatung der Anwaltskanzlei nicht explizit auf die Vereinbarkeit mit europäischem Recht ein. Am 11. Oktober 2007 gab die Kommission bekannt, dass sie Nachprüfungen in den Geschäftsräumen verschiedener Anbieter von internationalen Speditionsdienstleistungen durchgeführt hatte und dass der Verdacht bestand, dass die betreffenden Unternehmen gegen das europäische Kartellrecht verstoßen haben. Wenige Wochen später, am 29. November 2007, fanden erneut Gespräche der Mitglieder der SSK u. a. mit der Rechtsanwaltskanzlei zum Thema der Anwendung des österreichischen und europäischen Wettbewerbsrechts statt. Es bestehe das Risiko der Anwendbarkeit des europäischen Kartellrechts, woraufhin die SSK mit sofortiger Wirkung aufgelöst wurde. Am 18. Februar 2010 beantragte die Bundeswettbewerbsbehörde beim Oberlandesgericht Wien als Kartellgericht festzustellen, dass Schenker u. a. gegen Art. 101 AEUV verstoßen habe, ohne jedoch gegen diese Gesellschaft eine Geldbuße zu verhängen, weil sie eine Kronzeugenbehandlung beantragt hatte, wohl aber gegen die anderen Antragsgegnerinnen wegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV. Die Beteiligten seien von 1994 bis 2007 „an einer einzigen, komplexen und vielgestaltigen Zuwiderhandlung gegen nationales Kartellrecht und das Kartellrecht der Union beteiligt gewesen, indem sie österreichweit die Tarife für den Inlandssammelladungsverkehr abgesprochen hätten“. Interessant an dem Fall ist die Existenzdauer des Kartells zwischen 1994 und 2007. Zwischenzeitlich ist 2004 die neue VO 1/2003 in Kraft getreten, die nicht nur ein Paradigmenwechsel im Kartellrechtsregime, sondern erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der im Vorabentscheidungsersuchen gestellten Fragen vor dem Gerichtshof mit sich brachte. Der österreichische Oberste Gerichtshof als Kartellobergericht wollte im Wege der Vorabentscheidung wissen, ob Verstöße eines Unternehmens gegen Art. 101 AEUV mit einer Geldbuße geahndet werden können, wenn das Unternehmen sich über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens geirrt hat und dieser Irrtum nicht vorwerfbar ist, weil das Unternehmen auf den Rat eines im Kartellrecht versierten Rechtsberaters und/oder auf die Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde vertraut hatte. Zudem wollte der Oberste Gerichtshof wissen, ob nationale Wettbewerbsbehörden befugt sind festzustellen, dass ein Unternehmen an einem gegen Wettbewerbsrecht der Union

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verstoßenden Kartell beteiligt war, wenn über das Unternehmen keine Geldbuße zu verhängen ist, weil es die Anwendung der Kronzeugenregelung beantragt hat. Der Gerichtshof hat ohne viel Argumentationsmühe entschieden, dass Art. 101 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Unternehmen nicht der Verhängung einer Geldbuße entgehen kann, wenn es gegen Art. 101 AEUV aufgrund eines Irrtums über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens verstoßen hat, der auf dem Inhalt eines Rechtsrats eines Anwalts oder einer Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde beruht.245 Zudem seien Art. 101 AEUV sowie der Art. 23 II VO 1/2003 dahin auszulegen, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden, falls das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV erwiesen ist, in Ausnahmefällen darauf beschränken können, diese Zuwiderhandlung festzustellen, ohne eine Geldbuße zu verhängen, wenn das betreffende Unternehmen an einem nationalen Kronzeugenprogramm teilgenommen hat.246 b) Stellungnahme Die Entscheidung des Gerichtshofs ist in mehrfacher Hinsicht beachtlich und zugleich erstaunlich. Anders als gelegentlich suggeriert wird, beschränken sich die Rechtsfragen im Fall Schenker nicht ausschließlich auf die Anerkennung rechtsstaatlicher sowie strafrechtlicher Grundsätze im Kartellrecht (hier namentlich den Schuldgrundsatz), sondern betreffen vielmehr die Grundstrukturen der VO 1/2003, insbesondere die Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden innerhalb des ECN. Gerade deswegen sind die kurzen Antworten des Gerichtshofs auf die gestellten Fragen bedauerlich, wenngleich ihm im Ergebnis zuzustimmen ist. Hingegen ist die Generalanwältin (GA) Kokott in ihren Schlussanträgen differenzierter vorgegangen,247 die jedoch vor dem Gerichtshof offensichtlich wenig Gehör gefunden haben. So hat Kokott etwa vorgeschlagen, den schuldausschließenden Verbotsirrtum aufgrund des strafrechtsähnlichen Charakters von Kartellgeldbußen im Kartellrecht anzuerkennen,248 wenngleich sie zutreffend einräumt, dass das Kartellsanktionsrecht nicht zum Kernbereich des Strafrechts i. S. d. JussilaRechtsprechung des EGMR249 gehört.250 Ist ein Irrtum über die Rechtmäßigkeit des Verhaltens eines Unternehmens darauf zurückzuführen, dass es auf den Rechtsrat eines Anwalts vertraut hat, so kann der Irrtum nach Auffassung der 245 246 247 248

EuGH v. 18.6.2013, Rs. C-681/11, Rn. 43 – Schenker. EuGH v. 18.6.2013, Rs. C-681/11, Rn. 50 – Schenker. Schlussanträge der GA Kokott vom 28.2.2013, Rs. C-681/11 – Schenker. Schlussanträge der GA Kokott vom 28.2.2013, Rs. C-681/11, Rn. 38–48 – Schen-

ker. 249 EGMR, 23.11.2006, Rs. 73053/1, Rn. 43 – Jussila/Finnland; auch Kokott räumt ein, dass im Kartellrecht eine abgestufte Anwendung strafrechtlicher Prinzipien möglich ist; vgl. dazu auch oben, § 3 B. II. 2. c). 250 Schlussanträge der GA Kokott vom 28.2.2013, Rs. C-681/11, Rn. 40 – Schenker.

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GA Kokott unter bestimmten von ihr aufgezählten Mindestvoraussetzungen251 nicht vorwerfbar sein. Neben der Gutgläubigkeit des Unternehmens muss der Rechtsrat von einem externen, im Kartellrecht spezialisierten Rechtsanwalt eingeholt werden, der vom Unternehmen lückenlos und wahrheitsmäßig über die Umstände des Falles informiert wird. Zudem muss der Anwalt sich umfassend mit der Verwaltungs- und Entscheidungspraxis der Unionsorgane auseinandersetzen. Schlussendlich darf der Rechtsrat nicht offensichtlich falsch sein. Ergibt sich aus dem Rechtsgutachten, dass die Rechtslage unklar ist, handelt das betroffene Unternehmen auf eigene Gefahr, da es zumindest billigend in Kauf nimmt, dass es mit seinem Marktverhalten gegen das europäische Wettbewerbsrecht verstößt. Es wäre erfreulich gewesen, wenn auch der Gerichtshof eine gleichartige Differenzierung vorgenommen hätte, statt ohne weitere Prüfung zu entscheiden, dass der Rechtsrat eines Rechtsanwalts „auf keinen Fall“ ein berechtigtes Vertrauen darin begründen kann, dass ein Verhalten nicht gegen Art. 101 AEUV verstößt.252 Neben einer gewissen Schmälerung der Bedeutung anwaltlicher Rechtsberatung auf einem komplexen Rechtsgebiet wie dem Kartellrecht steht die Entscheidung nicht im Einklang mit der Vorjudikatur des Gerichtshofs. Während früher eine fehlerhafte oder unvollständige Auskunft eines Rechtsberaters der Verhängung einer Geldbuße nicht entgegenstand, weil die Unternehmen neben der Rechtsberatung einen sog. Negativattest nach ex Art. 2 VO 17/62 bei der Kommission beantragen konnten,253 haben Unternehmen unter dem neuen Kartellrechtsregime der VO 1/2003 keinen Anspruch mehr auf Erteilung einer Auskunft über die Feststellung der Nichtanwendbarkeit von Art. 101 AEUV. Durch die Einholung einer solchen Auskunft konnten sich Unternehmen darauf verlassen, dass ihre Kartellpraxis europarechtskonform war. Ein falscher Rechtsrat von einem Anwalt konnte schon daher nicht mehr exkulpierend wirken. Eine solche Feststellung der Nichtanwendbarkeit des Art. 101 AEUV erteilt die Kommission heute nach Art. 10 VO 1/2003 nur noch von Amts wegen, wenn dies aus Gründen des öffentlichen Interesses erforderlich ist. Umso mehr sind Unternehmen seit der Einführung der Selbsteinschätzung nach dem neuen System der VO 1/2003 auf den qualifizierten Rechtsrat eines Anwalts angewiesen. Zugegebenermaßen räumt der Gerichtshof selbst ein, dass das streitige Verhalten der Unternehmen vor Inkrafttreten der VO 1/2003 begonnen hat, weswegen die Unternehmen nach dem ex. Art. 2 VO 17/62 eine solche Auskunft hätten einholen können, zumal es auf der Hand liegt, dass sich Unternehmen, die unmittelbar ihre Preise absprechen, nicht über die Wettbewerbswidrigkeit ihres Verhaltens im Unklaren sein können.254 Gleichwohl signalisiert der EuGH mit seiner Formulie251

Schlussanträge der GA Kokott vom 28.2.2013, Rs. C-681/11, Rn. 62–73 – Schen-

ker. 252 253 254

EuGH v. 18.3.2013, Rs. C-681/11, Rn. 41 – Schenker. Vgl. dazu EuGH v. 13.2.1979, Slg. 1979, I-461, Rn. 134 – Hoffmann-La Roche. EuGH v. 18.3.2013, Rs. C-681/11, Rn. 39 – Schenker.

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rung „auf keinen Fall“, dass der Rechtsrat eines Anwalts nicht nur in diesem Fall, sondern in allen erdenklich in Betracht kommenden Fällen keine Rolle bei der Beurteilung eines vorwerfbaren Verhaltens spielt. Dies dürfte sich bei weniger klaren Fällen als dem vorliegenden als besonders problematisch erweisen. Ebenfalls bedenklich ist die Entscheidung des Gerichtshofs, dass Unternehmen anscheinend nicht einmal auf die Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde vertrauen können, wenn diese den Sachverhalt nicht auch auf seine Vereinbarkeit mit europäischem Recht prüft. Als sich die Mitglieder der SSK 1996 in Sicherheit wiegten, weil sie vom österreichischen Kartellgericht als „Bagatellkartell“ angesehen wurde, wurde die SSK von der nationalen Wettbewerbsbehörde ausschließlich auf ihre Vereinbarkeit mit nationalem Recht, nicht jedoch mit europäischem Recht überprüft. Der Gerichtshof verneinte pauschal die Begründung berechtigten Vertrauens durch die Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde, weil diese nicht befugt sei, einen Negativattest zu erteilen.255 Dies mag in der Sache zutreffend sein, die Begründung ist jedoch insgesamt zu kurz geraten. Hier hätte der Gerichtshof ebenfalls eine differenzierte Betrachtungsweise vornehmen können, wie es die GA Kokott in ihren Schlussanträgen vorgeschlagen hat.256 Zwar können nationale Wettbewerbsbehörden keine Negativatteste in Bezug auf das Unionskartellrecht erteilen. Gleichwohl sind sie nach Art. 5 S. 3 VO 1/2003 in der Lage zu entscheiden, dass für sie kein Anlass besteht, tätig zu werden, wenn die Voraussetzungen für ein Verbot nach den ihnen vorliegenden Informationen nicht gegeben sind. Die Mindestvoraussetzungen hier sind ähnlich wie beim Rechtsrat durch einen Anwalt: Das Unternehmen muss hier im guten Glauben sein, dass eine nach Art. 5 und 35 VO 1/2003 zuständige Behörde eine Entscheidung erlässt. Die nationale Stelle muss zuvor umfassend und wahrheitsgemäß vom Unternehmen über alle entscheidungserheblichen Umstände informiert worden sein. Neben der Gutgläubigkeit des Unternehmens darf schließlich die Stellungnahme der nationalen Stelle nicht offensichtlich in Widerspruch mit dem europäischen Recht stehen. Diese Kriterien sind durchaus plausibel und genügen den Anforderungen an den allgemein anerkannten Grundsatz des Vertrauensschutzes im Gemeinschaftsrecht. Während vor Inkrafttreten der VO 1/2003 die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht zur parallelen Anwendung des Unionskartellrechts verpflichtet waren, besteht eine solche behördliche Verpflichtung heute nach Art. 3 VO 1/2003. Auch wenn im konkreten Fall sowohl die GA Kokott als auch der Gerichtshof nach dem damaligen Recht einen etwaigen Vertrauenstatbestand aufgrund der Entscheidung der österreichischen Wettbewerbsbehörde im Ergebnis ablehnen, so fehlt in dem Urteil des Gerichtshofs ein wegweisender Hinweis darauf, wie künftig mit solchen Fäl255 EuGH v. 18.3.2013, Rs. C-681/11, Rn. 42 – Schenker, mit Verweis auf seine Vorjudikatur v. 2.5.2011, Rs. C-375/09, Slg. 2011, I-3055, Rn. 19–30 – Tele2Polska. 256 Schlussanträge der GA Kokott vom 28.2.2013, Rs. C-681/11, Rn. 87–96 – Schenker.

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len umzugehen ist, zumal alle nationalen Wettbewerbsbehörden innerhalb des ECN verpflichtet sind, neben ihren eigenen Rechtsordnungen parallel die europäischen Wettbewerbsvorschriften von Amts wegen anzuwenden. Im Interesse einer wirksamen und effektiven Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV ist daher eine Kurskorrektur des Gerichtshofs wünschenswert. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Behandlung von Kronzeugen im Rahmen des ECN. Wenn Unternehmen künftig weder auf den Rechtsrat irgendeiner im Kartellrecht versierten Anwaltskanzlei noch auf etwaige Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden (und von Mitgliedern des ECN) vertrauen können, bleibt die Frage offen, wem man die Würdigung der Wettbewerbspraxis überhaupt noch anvertrauen sollte. Daher könnten Unternehmen generell davon abgeschreckt werden, entsprechende Kronzeugenanträge vor nationalen Wettbewerbsbehörden zu stellen, da sie nach der gegenwärtigen Rechtsprechung nie sichergehen können, ob das dünne Eis unter ihren Füßen zerbricht, auf dem sie sich bewegen. Daran wird auch das Zugeständnis des Gerichtshofs nichts ändern, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden bei Kronzeugen befugt sind, in Ausnahmefällen eine Zuwiderhandlung festzustellen, ohne gegen den Kronzeugen eine Geldbuße zu verhängen,257 da der Gerichtshof zum einen seine „Ausnahmefälle“ mit Sicherheit restriktiv verstehen wird und zum anderen Unternehmen trotz des Absehens von einer Kartellsanktion durch die Kartellbehörden mit Sicherheit private Schadensersatzklagen befürchten müssen. 4. Das Bestimmtheitsgebot im Hinblick auf das weite Kommissionsermessen gem. Art. 23 II VO 1/2003 Im Hinblick auf den sehr weiten Ermessensspielraum der Kommission wird die Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot nach Art. 49 GRC sowie Art. 7 EMRK bezweifelt, da der sanktionsrechtliche Tatbestand des Art. 23 II VO 1/2003 weniger durch normative Vorgaben abgesteckt und mehr durch ermessenskonkretisierende Bußgeld-Leitlinien ausgefüllt wird. Zusammenfassend wird bemängelt,258 dass Art. 23 II VO 1/2003 und seine Auslegung als Kappungsgrenze keine klare Rechtsgrundlage für die Verhängung von Geldbußen seien. Zwar handele es sich bei den Kartellsanktionen nicht um den harten Kern des Strafrechts. Das Bestimmtheitsgebot gelte nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch unabhängig davon, ob eine Sanktion verwaltungsrechtlicher oder strafrechtlicher Natur sei. Eine Sanktion kann hiernach nur dann verhängt werden, wenn sie auf einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage beruht. Davon ausgehend wird 257

EuGH v. 18.3.2013, Rs. C-681/11, Rn. 50 – Schenker. Vgl. etwa Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008, S. 15 f. u. 40 f.; ebenso Rittner/Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl., 2008, S. 650; Rittner/Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 7. Aufl., 2008, S. 470. 258

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angenommen, dass die geringe Normdichte des Art. 23 II VO 1/2003 diesen Anforderungen nicht genüge, selbst dann nicht, wenn die Kommission ihr Ermessen durch Leitlinien konkretisiert, da diese weder in der VO 1/2003 selbst normiert sind noch als administratives soft law allgemeine Rechtsverbindlichkeit entfalten. Diese Praxis habe zur Folge, dass Kartellsanktionen im Gewand des kartellrechtlichen Präventionsgedankens immer schärfer und höher ausfallen, ohne sich auf eine eindeutige Rechtsgrundlage berufen zu können. Die Bußgeld-Leitlinien, die in der kartellrechtlichen Praxis maßgeblich für die Berechnung der Bußgeldhöhe sind, hätten vielmehr vom Rat erlassen werden müssen. Dies folge bereits aus Art. 290 AEUV, der die Befugnisübertragung auf die Kommission durch Gesetzgebungsakte betrifft. An dieser Stelle werde, so jedenfalls die Kritiker, die Rechtsstaatlichkeit zugunsten einer auf Prävention gestützten Sanktionspolitik aufgeopfert. Diese Kritik ist vermutlich der falschen Prämisse geschuldet, bei den BußgeldLeitlinien handele es sich für die Kommission um eine Ermächtigungsgrundlage für die Verhängung von Kartellsanktionen. Die Bußgeld-Leitlinien sind jedoch weder Gesetzgebungsakte noch abgeleitetes Recht i. S. d. Art. 290 AEUV und erst recht keine gesetzliche Ermächtigung zur Verhängung von Geldbußen. Diese stellen lediglich Verhaltensnormen für die Verwaltung dar, die einen Hinweis auf die zu befolgende Praxis enthalten, wobei der EuGH in seiner Entscheidung Chalkor259 mit Verweis auf seine frühere Rechtsprechung betont hat, dass die Verwaltung im Einzelfall nicht ohne Angabe von Gründen, die mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung vereinbar sind, abweichen darf. Ein Verstoß der Sanktionspraxis der Kommission gegen den Bestimmtheitsgrundsatz ergibt sich auch nicht daraus, dass Unternehmen die Berechnungsmethode aus Art. 23 II VO 1/2003 sowie aus den Bußgeld-Leitlinien der Kommission nur schwer vorhersehen können, da die Klarheit des Gesetzes nicht ausschließlich anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmungen zu beurteilen ist. Vielmehr hat der EGMR klargestellt, dass auch eine Präzisierung durch eine ständige und veröffentlichte Rechtsprechung erfolgen kann, um ausreichend Klarheit über den gegebenen Sanktionsrahmen zu schaffen.260 Die Tatsache, dass ein Gesetz Ermessen einräume, verletze für sich genommen noch nicht das Erfordernis der Vorhersehbarkeit, sofern der Umfang und die Modalitäten der Ausübung eines solchen Ermessens im Hinblick auf das in Rede stehende legitime Ziel hinreichend deutlich festgelegt sind, um dem Einzelnen angemessenen Schutz vor staatlicher Willkür zu bieten.261 Das in Rede stehende Ziel ist freilich auch hier im kartellrechtlichen Präventionsgedanken zu finden, der, wie bereits 259 260 261

EuGH v. 8.12.2011, Rs. C-386/10 P, Rn. 54 u. 60 ff. – Chalkor. EGMR, Urteil v. 27.9.1995, A. Nr. 325-B, § 25 – G./Frankreich. EGMR, Urteil v. 25.2.1992, A. Nr. 226, § 75 – Margareta.

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mehrfach erwähnt, sich stets am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen muss. Auf die Rechtsprechung des EGMR zurückgreifend äußerte sich der EuGH in den Sachen Evonik Degussa262 und Schindler263 dahingehend, dass Rechtsunterworfene bereits anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und notfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen können müssen, welche Handlungen und Unterlassungen ihre sanktionsrechtliche Verantwortung begründen.264 Diese Anforderungen sind nach dem Gerichtshof dann erfüllt, wenn für die Bestimmtheit des Tatbestandes auch Präzisierungen durch eine ständige Rechtsprechung herangezogen werden können, um den Umfang des behördlichen Ermessens klar zu umreißen.265 Ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer kann daher durchaus und erforderlichenfalls mit Hilfe eines Rechtsbeistands hinreichend genau die Berechnungsmethode und die Größenordnung der Kartellsanktion vorhersehen, die ihm bei einem bestimmten Verhalten droht. Die Tatsache, dass einige Wirtschaftsteilnehmer in manchen Fällen die Höhe der Kartellsanktion im Voraus nicht in Erfahrung bringen können, stellt für sich genommen noch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit und das Bestimmtheitsgebot dar.266 Diese Rechtsprechung wurde freilich als inkonsistent deklariert. Sie genüge den Anforderungen an den in Art. 290 AEUV geregelten Wesentlichkeitsvorbehalt nicht, der unmittelbar aus den primärrechtlichen Vorgaben des Demokratieprinzips und des in Art. 52 I GRC normierten Gesetzesvorbehalts für Grundrechtseingriffe folgt.267 Diese Grundsätze setzten voraus, dass Eingriffe in grundrechtssensible Bereiche – wie im Kartellsanktionsrecht – durch einen demokratisch legitimierten Gesetzgeber selbst festgelegt werden müssen. Gelegentlich wird daher vorgeschlagen, in die VO 1/2003 eine detaillierte Berechnungsgrundlage für Geldbußen und neue Grundsätze für die Bußgeldfestsetzung aufzunehmen, um dem Bestimmtheitsgebot zu genügen.268 Jedoch würde die Aufnahme einer detaillierten Berechnungsmethode in die VO 1/2003 eine flexible Handhabung und Reaktion der Kommission auf komplizierte wirtschaftliche Vorgänge erschweren. Der europäische Gesetzgeber kann sich nicht permanent mit der europäischen 262 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-266/06 P, Slg. 2008, I-81 – Evonik Degussa. Zwar bezieht sich die Entscheidung auf die Vorgängerregelung in Art. 15 VO Nr. 17/62, ist jedoch ohne weiteres auf Art. 23 II VO 1/2003 übertragbar. 263 EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 53 f. – Schindler. 264 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-266/06 P, Slg. 2008, I-81, Rn. 39 – Evonik Degussa. 265 EuGH v. 22.5.2008, Rs. C-266/06 P, Slg. 2008, I-81, Rn. 45 – Evonik Degussa. 266 A. A. hingegen Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008, S. 15 f. u. 40 f.; ebenso Rittner/Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl., 2008, S. 650; Rittner/Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 7. Aufl., 2008, S. 470. 267 Soltész, WuW 2012, S. 141, 143. 268 Vgl. etwa Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160, 164; vgl. auch die Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der SPD-Fraktion, BT-Drucks. 17/11285, S. 2.

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wirtschaftlichen Entwicklung auseinandersetzen und die Gesetzeslage regelmäßig anpassen. Die Legitimation zum Erlass von Leitlinien besteht gerade darin, flexibel auf komplexe Sachverhalte zu reagieren, ohne ständig den Gesetzgeber damit zu beauftragen. Die Bußgeld-Leitlinien sind gerade deshalb weder ein Gesetzgebungsakt noch abgeleitetes Recht i. S. d. Art. 290 AEUV. Die Rechtsgrundlage für die Verhängung von Kartellsanktionen sind nicht die Bußgeld-Leitlinien selbst, sondern Art. 23 VO 1/2003, wobei der Bußgeldtatbestand durch die Leitlinien als Verhaltensnormen konkretisiert wird.269 5. Die Selbstbelastungsfreiheit im Hinblick auf das Auskunftsverlangen der Kommission gem. Art. 18 VO 1/2003 Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens kann die Kommission gem. Art. 18 VO 1/2003 Unternehmen verpflichten, alle erforderlichen Auskünfte zu erteilen, soweit dies für die Ermittlung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen nach Art. 101, 102 AEUV erforderlich erscheint. Dieses zentrale Ermittlungsinstrument der Kommission kommt in allen Verfahrensabschnitten zum Einsatz und dient der Sachverhaltsaufklärung wie auch der Beibringung von Beweismitteln.270 Das Auskunftsverlangen der Kommission wird gelegentlich bezugnehmend auf die Rechtsprechung des EGMR271 wegen des Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit kritisiert, das ein Kernstück eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK und 47 GRC darstellt. Hiernach setzt das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit voraus, dass die Anklage bemüht sein muss, ihre Beweisführung in einem Verfahren so zu begründen, dass sie ohne Beweismittel auskommt, die gegen den Willen des Angeklagten durch Zwang oder Druck erlangt wurden.272 Von dieser Rechtsprechung des EGMR ausgehend wird den Unionsorganen vorgeworfen, dass diese durch ihre Praxis die Selbstbelastungsfreiheit der Unternehmen verletzten würden, wenn die Kommission die Herausgabe von Informationen unter Androhung von Sanktionen (vgl. Art. 23 Ia und Art. 24 Id VO 1/2003) verlangen kann.273 Diese Sichtweise verkennt indessen, dass ein absolutes Auskunftsverweigerungsrecht im europäischen Recht nicht existiert. Die Anerkennung eines solchen Rechts ginge über das hinaus, was zur Wahrung der Verteidigungsrechte der Unternehmen erforderlich wäre, und würde zu einer ungerechtfertigten Behinderung der Kommission bei der effektiven und effizienten Durchsetzung der Art. 101,

269 270

Vgl. auch EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 65 f. – Schindler. Dazu Sauer/Vollrath, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kartellrecht Kommentar, Art. 23,

Rn. 1. 271

Vgl. dazu etwa EGMR, Urteil v. 3.5.2001, Az. 31827/96 – J. B. Schweiz. EGMR, Urteil v. 11.7.2006, Az. 54810/00 – Abu Bakah Jalloh. 273 Vgl. nur Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, 2008, S. 31 ff. 272

C. Zusammenfassung und Schlussfolgerung

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102 AEUV führen.274 Daher hat der EuGH in seiner Orkem-Entscheidung das Recht der Unternehmen auf Selbstbelastungsfreiheit dahingehend beschränkt, dass kein Geständnis einer Zuwiderhandlung erzwungen werden darf.275 Hingegen seien Dokumente, die zum Beweis des Kartellverstoßes genutzt werden können, herauszugeben.276 Gleichwohl muss das Unionsrecht auch im Rahmen des Auskunftsverlangens stets die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Verteidigungsrechte der Unternehmen beachten. So würde die Kommission das Grundrecht der Unternehmen, sich zu verteidigen, dann beeinträchtigen, wenn sie sich beispielsweise ungerechtfertigte Einblicke in den Informationsaustausch mit freiberuflichen Rechtsanwälten verschaffte (legal professional privilege).277

C. Zusammenfassung und Schlussfolgerung für den Fortgang der Untersuchung Dieser Befund zeigt hinlänglich, dass die gegenwärtige rechtsstaatliche Kritik am europäischen Kartellverfahrensrecht unbegründet ist. Dies gilt zunächst in Anbetracht dessen, dass Kartellsanktionen keine staatlichen Maßnahmen sind, die dem Kernbereich des Strafrechts zuzuordnen sind, obwohl der strafrechtsähnliche Charakter von Kartellsanktionen mittlerweile unbestritten ist. Soweit gelegentlich davon die Rede ist, dass die These vom Kern- und Nebenstrafrecht bei Kartellsanktionen „irreführend“ sei,278 wird die von der Rechtsprechung des EuGH und EGMR konsequent verfolgte Linie verkannt,279 Kartellsanktionen weniger als scharfes Schwert des Kernstrafrechts280 und mehr als wettbewerbspolitisches Instrument der Wirtschaftsaufsicht einzuordnen, wobei von den Gerichten keineswegs der Eindruck vermittelt wird, Kartellsanktionen bewegten sich innerhalb eines „verwässerten“ 281 Rechtsrahmens grundrechtlicher Gewährleistungen. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der Gesamtschau der Urteile des EGMR in den Sachen Engel, Jussila und Menarini sowie aus den Urteilen des EuGH in den Sachen Chalkor, KME und Schindler. Auf dieser Rechtsprechungslinie beru-

274

de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 18, Rn. 11. EuGH v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Rn. 31 ff. – Orkem. 276 EuGH v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Rn. 27 – Orkem; ebenso EuGH v. 29.6.2006, C301/04 P, Rn. 44, 48 – SGL Carbon. 277 Zur Problematik des legal professional privilege bei der Behördenkooperation innerhalb des ECN vgl. oben, § 4 A. 278 Soltész, WuW 2012, S. 141, 145. 279 Gerade deshalb, weil der Streit über die Rechtsnatur von Kartellsanktionen und die damit verbundene abgestufte Anwendung von Verfahrensgarantien aus der GRC und der EMRK in der Regel „nicht weiter vertieft werden“, vgl. etwa Soltész, WuW 2012, S. 141, 145. 280 So aber Bueren, EWS 2012, S. 363, 265. 281 Soltész, WuW 2012, S. 141, 145. 275

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§ 6 Strukturelemente des europäischen Kartellsanktionsverfahrens

hen zahlreiche Judikaturen zur Vereinbarkeit des europäischen Kartellsanktionsverfahrens mit rechtsstaatlichen Fundamentalprinzipien. Die Verfahrensgarantien aus Art. 47 und 48 GRC sowie aus Art. 6 und 7 EMRK sind hiernach grundsätzlich mit der Maßgabe anzuwenden, dass Kartellsanktionen zwar eine abgestufte, aber stets an Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten orientierte Anwendung der soeben erwähnten strafrechtlichen Verfahrensgarantien erlauben, die im Kartellsanktionsrecht beispielsweise durch die Anerkennung einer Vermutungsregel, eines weiten und ökonomisierten behördlichen Ermessens, das durch Bußgeld-Leitlinien konkretisiert wird, oder auch durch ein weitreichendes Auskunftsverlangen der Kartellbehörde zum Ausdruck gebracht wird. Diese Erkenntnisse erlauben weitere Schlussfolgerungen für diese Untersuchung: Es kann davon ausgegangen werden, dass die gegenwärtige Sanktionspraxis der Unionsorgane grundrechtlichen sowie rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht, weshalb auch die unterschiedlichen Bestimmungen des von der Kommission verabschiedeten RL-Vorschlags, gemessen an gleichen grundrechtlichen sowie rechtsstaatlichen Grundsätzen, ebenfalls primärrechtsgemäß sein werden.282 Diese Schlussfolgerung erlaubt freilich eine weiter gehende Konvergenz der nationalen Kartellsanktionsregime mit den europarechtlichen Vorgaben, wie sie durch den RL-Vorschlag der Kommission bezweckt wird. Es kann hiernach nicht davon gesprochen werden, dass der deutsche Gesetzgeber durch seine ständigen Konvergenzbestrebungen den „institutionellen Missstand“ auf europäischer Ebene durch „vorauseilenden Gehorsam“ vertiefen würde.283 Jedenfalls nach den hier diskutieren Implikationen des Kartellsanktionsrechts liegt kein „institutioneller Missstand“ vor, den der deutsche Gesetzgeber durch seine Konvergenztendenzen weiter vertiefen könnte. Vielmehr vertieft der deutsche Gesetzgeber einen europarechtlich-integrativen Ansatz, der zu einer wirksameren Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV beitragen soll. Dadurch soll das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes insgesamt gestärkt werden. Ob und inwiefern dem deutschen Gesetzgeber dieses Bemühen vor allem durch die 9. GWB-Novelle 2017 tatsächlich gelungen ist und ob ein darüberhinausgehender Reformbedarf im deutschen Kartellsanktionsrecht besteht, soll nunmehr im letzten Kapitel dieser Arbeit untersucht werden.

282

Vgl. zur Grundrechtmäßigkeit des RL-Vorschlags oben, § 5 A. IV. 4. So aber de Bronett, NZKart 2017, S. 46 mit Bezug auf unterschiedliche Implikationen des europäischen Kartellsanktionsrechts, wie etwa bei der Bestimmung des richtigen Adressaten einer Kartellsanktion. 283

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens Bevor die einzelnen Implikationen des deutschen Kartellsanktionsrechts im Hinblick auf die Erfüllung (oder Nichterfüllung) europäischer Vorgaben untersucht werden, sind einige Anmerkungen hinsichtlich der Rechtsnatur und Systematik des deutschen Kartellsanktionsrechts notwendig, die aufgrund der Implementierung des Kartellsanktionsrechts (GWB) in die Systematik des Ordnungswidrigkeitenrechts (OWiG und StPO) in manchen Teilen doch erheblich von der europäischen Rechtsordnung abweichen. Wenngleich der deutsche Gesetzgeber in den letzten Jahren immer wieder durch unterschiedliche Novellierungen den Schulterschluss mit der europäischen Rechtspraxis gesucht hat, scheint das strenge Dogma des tradierten deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts eine weitgehende und wirksame Konvergenz mit der europäischen Rechtsordnung zu verhindern. Gleichwohl ist spätestens seit der 9. GWB-Novelle 2017 eine Durchbrechung dieses Dogmas erkennbar, um einen Gleichlauf zwischen der deutschen und europäischen Sanktionspraxis zu ermöglichen. Diese Entwicklung wird durch den RL-Vorschlag der Kommission flankiert, der das gleiche Ziel zum Inhalt hat – nämlich eine weitgehende Konvergenz der Kartellsanktionssysteme innerhalb des ECN. Zu untersuchen ist daher, inwieweit die 9. GWBNovelle 2017 europäische Vorgaben zu erfüllen vermag und ob sie mit den künftigen Vorgaben des RL-Vorschlags der Kommission vereinbar ist. Ferner ist zu untersuchen, ob über den RL-Vorschlag hinaus weiter gehende Reformmöglichkeiten bestehen, die ebenfalls zu einer wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV sowie zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes insgesamt beitragen können.

A. Systematik des deutschen Kartellsanktionsverfahrens I. Das deutsche Kartellsanktionsverfahren im Gefüge des Ordnungswidrigkeitenrechts Anders als das europäische Kartellsanktionsverfahren, das einem verwaltungsrechtlichem Aufbau folgt, ist das deutsche Kartellsanktionsrecht im Gefüge des Ordnungswidrigkeiten- und des Strafprozessrechts eingebettet. Diese Gesetzessystematik geht auf die Einschätzung des deutschen Gesetzgebers 1952 zurück.1 1

Vgl. dazu BT-Drucks. II/1158, Anlage 1, S. 27, 28.

224

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

Damit hat sich der deutsche Gesetzgeber – mit Ausnahme des 1997 eingeführten § 298 StGB2 – gegen die Kriminalisierung des Kartellrechts und für eine Einstufung von kartellwidrigem Verhalten als Ordnungswidrigkeit entschieden.3 Seither wird in regelmäßigen Abständen eine Debatte über eine über § 298 StGB hinausgehende Kriminalisierung des deutschen Kartellrechts geführt, die den deutschen Gesetzgeber jedoch nicht davon abhalten konnte, an seiner damaligen Einschätzung festzuhalten. Vielmehr ist eine entgegengesetzte Tendenz erkennbar, die strengeren Strukturen des Ordnungswidrigkeitenrechts zugunsten einer wirksamen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts zu lockern. Diese Tendenz ist vor allem seit der 9. GWB-Novelle 2017 stark erkennbar, die zwar weitreichende Änderungen im deutschen Kartellsanktionsrecht mit sich brachte, jedoch immer noch an die starren Prinzipien des OWiG festhält, die insbesondere in der Zweigleisigkeit des deutschen Kartellverfahrens zum Ausdruck kommt.

II. Die Zweigleisigkeit des deutschen Kartellverfahrens Das deutsche Kartellverfahrensrecht ist im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen innerhalb des ECN zweigleisig ausgestaltet. Grundsätzlich wird zwischen dem reinen Verwaltungsverfahren nach §§ 54 ff. GWB und dem Sanktionsverfahren nach §§ 81 ff. GWB unterschieden. Beide Verfahren, die nach den jeweiligen Verfahrensgrundsätzen durchzuführen sind, sind formal betrachtet streng voneinander zu unterscheiden. Neben dem förmlichen Verwaltungsverfahren nach §§ 54 ff. GWB, wonach dem BKartA verwaltungsrechtliche Entscheidungs- und Anordnungsbefugnisse zustehen, beispielsweise durch Anordnung aller erforderlichen Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art (§ 32 GWB) sowie die Anordnung einer einstweiligen Maßnahme (§ 32a GWB), kann die Kartellbehörde parallel hierzu ein Kartellsanktionsverfahren nach §§ 81 ff. GWB einleiten und durchführen. Dabei unterscheiden sich Verwaltungs- und Sanktionsverfahren in der Systematik insofern, als das Kartellsanktionsverfahren im Gefüge des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts implementiert wurde, weshalb durch die Verweisungsnorm des § 46 OWiG diverse Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO) Anwendung finden. Auch wenn beide Verfahren streng voneinander getrennt werden, kann die Kartellbehörde vor allem am Anfang von Ermittlungen beide Verfahren parallel laufen lassen.4 Jedoch muss die Behörde bei jeder Maßnahme hinreichend deutlich erkennen lassen, ob 2

Zum Ausnahmecharakter des § 298 StGB vgl. Dreher, WuW 2011, S. 232 ff. Diese Wertung des deutschen Gesetzgebers, die teilweise im Widerspruch zu anderen Rechtsgütern – wie etwa des UWG und des WpHG, die kriminalisiert sind – steht, wird oftmals als nicht mehr zeitgemäß empfunden; vgl. dazu etwa Dannecker, in: FS für Tiedemann. Der strafrechtliche Schutz des Wettbewerbs. Notwendigkeit und Grenzen einer Kriminalisierung von Kartellrechtsverstößen, S. 805 f. 4 Schneider, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Vor § 54 GWB, Rn. 3; Seckler/Funke, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), vor § 54, Rn. 2. 3

A. Systematik des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

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sie im Sanktionsverfahren oder im förmlichen Verwaltungsverfahren handelt, um den Anforderungen an verfahrensrechtliche Standards zu genügen.5 Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf die unterschiedlichen Anforderungen hinsichtlich der richterlichen Anordnung bei Durchsuchungen von Geschäfts- und Wohnräumen. 1. Grundzüge des Kartellverwaltungsverfahrens Das förmliche Verwaltungsverfahren der Kartellbehörden ist in den §§ 54 ff. GWB spezialgesetzlich geregelt. Ergänzend dazu finden auch die Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) Anwendung.6 Das GWB enthält dabei Vorschriften über die Art und Weise der Einleitung des Verfahrens (§ 54), über Zuständigkeiten von Kartellbehörden (§ 55), über den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 56) sowie über das Auskunftsverlangen der Kartellbehörden (§ 59) im Rahmen ihrer Ermittlungsbefugnisse. Gegen eine Verfügung der Kartellbehörde ist die Rechtsbeschwerde zulässig, die in §§ 63 ff. GWB ausführlich geregelt ist. Die wohl wichtigsten verwaltungsrechtlichen Entscheidungs- und Anordnungsbefugnisse, die eine Kartellbehörde ausüben kann, finden sich in §§ 32 und 32a GWB. Neben der Anordnung einer einstweiligen Maßnahme nach § 32a GWB kommt insbesondere eine Maßnahme nach § 32 GWB in Betracht, wonach die Kartellbehörden in Anlehnung an Art. 7 VO 1/2003 alle erforderlichen Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art vorschreiben können, die gegenüber der festgestellten Zuwiderhandlung verhältnismäßig und für eine wirksame Abstellung der Zuwiderhandlung erforderlich sind. Die Verfahrensregeln, die die Kartellbehörde hier zu beachten hat, sind in den o. g. §§ 54 ff. GWB geregelt.7 Die geltende Fassung des § 32 GWB lehnt sich seit der 8. GWB-Novelle 2013 stark an das europäische Recht an und ist Ausdruck des Bemühens des deutschen Gesetzgebers, weiterhin den Anschluss an die VO 1/2003 zu suchen. Nunmehr sind § 32 GWB und Art. 7 VO 1/2003 in Wortlaut und Inhalt weitestgehend harmonisiert. Lediglich der Tatbestand des § 32 II a GWB, der den Kartellbehörden die Möglichkeit gibt, die Rückerstattung infolge kartellrechtswidrigen Verhaltens erwirtschafteter Vorteile anzuordnen, geht weiter als die europäische Vorschrift nach Art. 7 VO 1/2003. 2. Grundzüge des Kartellsanktionsverfahrens Davon streng zu trennen ist das Bußgeldverfahren, das im GWB unmittelbar nach dem Verwaltungsverfahren geregelt ist und außer den materiellen Bußgeld5

Peter, in: Schulte/Just (Hrsg.), § 54, Rn. 1. BGH, 19.12.1995 – KVZ 23/95, WuW/E BGH 3035 (3036) = NJWE-WettbR 1996 – Nichtzulassungsbeschwerde. 7 Mäsch, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Deutsches und Europäisches Kartellrecht, 2. Aufl., 2015, § 32, Rn. 1. 6

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

vorschriften nach § 81 GWB und der Auskunftspflicht nach § 81a GWB ausschließlich behördliche (§ 82 GWB) sowie gerichtliche Zuständigkeitsregeln (§ 82a–86 GWB) enthält. Im Übrigen gelten im deutschen Kartellsanktionsverfahren die Grundzüge des Bußgeldverfahrens nach dem OWiG.8 Die Verfolgung von Kartellordnungswidrigkeiten liegt somit im Ermessen der Kartellbehörde (§ 47 I OWiG), so dass das Opportunitätsprinzip gilt. Die Kartellbehörde kann als Verfolgungsbehörde alle ihrer Ansicht nach notwendigen Ermittlungen durchführen und Unterlagen beschlagnahmen, die Betroffenen sowie Zeugen und Sachverständige vorladen und vernehmen. Zudem gilt im deutschen Kartellsanktionsverfahren der Untersuchungsgrundsatz. Dem Betroffenen ist daher Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Sind die Ermittlungen abgeschlossen, ist dem Verteidiger des Betroffenen volle Einsicht in die Akten zu gewähren (§ 46 I OWiG i.V. m. § 147 StPO). Die Verfolgungsbehörde kann nach Abschluss der Ermittlungen, sobald dem Betroffenen die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben wurde, das Verfahren durch Einstellung, Verwarnung oder durch den Erlass eines Bußgeldbescheids abschließen. Wurde der Bußgeldbescheid dem Betroffenen zugestellt, wird eine Einspruchsfrist von zwei Wochen in Gang gesetzt (§ 67 I OWiG). Durch Einlegung eines Widerspruchs bei der Kartellbehörde, die den Bußgeldbescheid erlassen hat, geht die Entscheidungszuständigkeit gem. § 83 GWB auf das Oberlandesgericht (OLG), in dessen Bezirk die zuständige Kartellbehörde ihren Sitz hat, über, während die Kartellbehörde durch Einlegung des Widerspruchs ad hoc ihre Zuständigkeit verliert. Wird also gegen den Bußgeldbescheid des BKartA Einspruch eingelegt und hilft die Behörde in einem Zwischenverfahren nicht ab (§ 69 II OWiG), leitet das BKartA die Akten an die Generalstaatsanwaltschaft beim zuständigen Oberlandesgericht weiter (§ 69 III OWiG), wodurch das BKartA die Aufgaben der Verfolgungsbehörde an die Generalstaatsanwaltschaft übergibt (§ 69 IV S. 1 OWiG). Die Staatsanwaltschaft entscheidet dann nach selbstständiger Ermittlung, die in kartellrechtlichen Fällen in der Regel mehrere Monate in Anspruch nimmt, ob sie den Fall gerichtlich überprüfen lässt (§ 69 IV S. 2 OWiG). Die Anklage wird somit von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten, während das BKartA nur noch beschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten am gerichtlichen Verfahren hat, wie etwa die Gelegenheit, relevante Gesichtspunkte vorzutragen, die nach Ansicht des BKartA für die Entscheidung von Bedeutung sind (§ 76 I OWiG). Das Gericht kann sogar davon absehen, das BKartA zu beteiligen, wenn seine besondere Sachkunde für das Verfahren entbehrlich ist (§ 76 II OWiG). Diese Regelungen haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass die Vertretung der Anklage im gerichtlichen Verfahren nur unvollkommen funktionierte. Das BKartA konnte seine Entscheidung vor Gericht daher nicht wirkungsvoll verteidigen. Daran änderte auch der durch die 7. GWB-Novelle 2005 eingeführte § 82a GWB nichts, der bestimmte Anpas-

8

Dazu und folgend vgl. Bechtold/Bosch, GWB-Kommentar, Vor § 80, Rn. 3 ff.

A. Systematik des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

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sungen des im OWiG geregelten Gerichtsverfahrens enthält, indem er die Rolle des BKartA im gerichtlichen Verfahren durch die bloße Möglichkeit, Fragen zu stellen, unwesentlich stärkte, ohne jedoch den grundsätzlichen Übergang der Verfolgungszuständigkeit auf die Generalstaatsanwaltschaft in Frage zu stellen. Aufgrund des Übergangs der Verfolgungs- und Entscheidungszuständigkeit auf die Generalstaatsanwaltschaft findet auch kein Transfer der Ermittlungsergebnisse aus dem behördlichen in das gerichtliche Ermittlungsverfahren statt. Der ursprünglich von der Kartellbehörde erlassene Bußgeldbescheid erweist sich dann als vorläufige Entscheidung in einem Vorschaltverfahren9 und hat praktisch nur noch die Funktion einer Anklageschrift, die Tat und Gegenstand des Verfahrens umschreibt. Das OLG ist bei seiner Entscheidungsfindung aufgrund der Eigentümlichkeiten des Ordnungswidrigkeitenverfahrens nicht an die Festsetzung der Geldbuße durch die Kartellbehörde gebunden.10 Es kann nach § 72 OWiG entweder ohne Hauptverhandlung durch Beschluss entscheiden, wenn der Betroffene und die Staatsanwaltschaft diesem Verfahren nicht widersprechen. In diesem Fall darf das Gericht gem. § 72 III S. 2 OWIG i.V. m. § 358 II StPO nicht zum Nachteil des Betroffenen entscheiden. Findet hingegen eine Hauptverhandlung statt, so gilt dieses Verbot der reformatio in peius nicht. Das OLG kann den von der Kartellbehörde erlassenen Bußgeldbescheid dann auch zum Nachteil des Betroffenen ändern. Im Übrigen gelten – anders als im Kartellverwaltungsverfahren nach §§ 54 ff. GWB – die teilweise verfahrenserschwerenden Grundsätze des Strafprozessrechts, die aufgrund der komplexen kartellrechtlichen Sachverhalte häufig zu einer überlangen Verfahrensdauer führen. Dies liegt neben der recht schwachen Stellung des BKartA im gerichtlichen Bußgeldverfahren insbesondere an unterschiedlichen strafprozessualen Grundsätzen, wie etwa der Unmittelbarkeit, der Mündlichkeit sowie an Beweisantrags- und Präklusionsvorschriften. Gegen das Urteil und den Beschluss des OLG kann im zweiten Instanzenzug gem. § 84 GWB Rechtsbeschwerde beim BGH eingelegt werden. Die Frist für deren Einlegung beträgt dabei eine Woche (§ 79 III OWiG i.V. m. § 341 StPO) und beginnt ab Zustellung des Urteils. Die Rechtsbeschwerde muss spätestens einen Monat nach Ablauf der Einlegungsfrist bzw. nach Zustellung des Urteils begründet werden (§ 345 I StPO). Die Frist kann zwar nicht verlängert werden. Allerdings können im Rahmen der Sachrüge Begründungen beliebig nachgeschoben werden. Der BGH entscheidet in der Regel dann durch Beschluss. Die Systematik des deutschen Kartellsanktionsrechts führt aufgrund der Verzahnung unterschiedlicher Rechtsmaterien teilweise zu erheblichen Spannungen mit europarechtlichen Vorgaben. Die strengeren strafprozessualen Grundsätze des OWiG erlauben beispielsweise nur begrenzte Möglichkeiten hinsichtlich der Heranziehung von Muttergesellschaften als Sanktionsadressaten (§§ 30, 130 OWiG). 9 10

Vgl. BGH NJW-RR 1992, 1130 f., 1131. Vgl. dazu BGH, NZKart 2013, S. 195, 198, Rn. 57 f. – Grauzementkartell.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

Daher wurde durch die 9. GWB-Novelle beispielsweise die Haftung von Muttergesellschaften für ihre Töchter sowie die Haftung von rechtlichen und wirtschaftlichen Nachfolgern in Abkehr vom strengen Dogma des OWiG durch den neuen § 81 IIIa–d GWB erweitert. Das System des OWiG wirkt sich jedoch effizienzmindernd auf unterschiedliche Bestimmungen des gerichtlichen Verfahrens aus, angefangen bei der schwachen verfahrensrechtlichen Stellung des BKartA und der damit korrespondierenden Verfolgungszuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaft bis hin zu unterschiedlichen gerichtlichen Verfahrensgarantien, namentlich im Hinblick auf die Grundsätze der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit sowie im Hinblick auf nicht ausreichend vorhandene Präklusionsvorschriften, die abweichend vom europäischen Recht das Verfahren erheblich in die Länge ziehen.11

III. Konvergenzstand mit dem EU-Kartellsanktionsverfahren Ungeachtet der Tatsache, dass im deutschen Recht aufgrund der Besonderheiten des Ordnungswidrigkeiten- und Strafprozessrechts Abweichungen vom europäischen Kartellsanktionsverfahren vorliegen, ist gleichwohl eine starke Konvergenztendenz in den letzten Jahren erkennbar, die zahlreiche Verfahrenselemente des deutschen Rechts an europäische Standards angeglichen hat. Nicht nur die Ermittlungsbefugnisse des BKartA wurden weitestgehend an die Ermittlungsbefugnisse der Kommission angeglichen (1). Auch die Ausübung und Konkretisierung des Ermessens des BKartA ist stark an die Praxis der Kommission angelehnt. Dies gilt neben der Bußgeldbemessung durch Bußgeld-Leitlinien (2) insbesondere für unterschiedliche Kooperationsmöglichkeiten für Unternehmen, etwa durch Kronzeugen- und Settlement-Anträge, sowie für die Praxis des BKartA bei der sanktionsbedingten Zahlungsunfähigkeit (3). 1. Ermittlungsbefugnisse des BKartA Hinsichtlich der Ermittlungsbefugnisse des BKartA ist neben der Durchsuchung von Geschäfts- und Privaträumen vor allem die sektorspezifische Untersuchung sowie das Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen nennenswert, die weitgehend an europäische Vorgaben angeglichen wurden. Grundlage dieser schrittweisen Angleichung der Ermittlungsbefugnisse ist neben dem in Art. 4 III EUV verankerten Effektivitätsgrundsatz die Empfehlung des ECN, Ermittlungsbefugnisse der einzelnen Wettbewerbsbehörden anzupassen. Die kartellrechtliche Praxis innerhalb des ECN hat gezeigt, dass unterschiedliche Ermittlungsinstrumente der nationalen Wettbewerbsbehörden sowohl die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV als auch die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte der 11

Dazu ausführlich unten, D. IV.

A. Systematik des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

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Unternehmen erschweren. Um diesen misslichen Zustand aufzuheben, hat der deutsche Gesetzgeber durch unterschiedliche Novellierungen des GWB die Ermittlungsbefugnisse des BKartA an die der Kommission angeglichen. a) Durchsuchungen von Geschäftsräumen und anderen Räumlichkeiten Im Hinblick auf Durchsuchungen von Geschäftsräumen und anderen Räumlichkeiten geben die Art. 20, 21 VO 1/2003 der Kommission weitreichende Befugnisse an die Hand. Hieran – wenn auch durch Besonderheiten des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts gekennzeichnet – orientieren sich auch Durchsuchungsmaßnahmen durch das BKartA. Der Umfang der Durchsuchungsbefugnisse variiert dabei je nachdem, welches Verfahren durch das BKartA geführt wird. Im Rahmen des Kartellverwaltungsverfahrens etwa richtet sich eine Durchsuchungsanordnung nach § 59 IV GWB, die nur auf Anordnung des Amtsrichters, in dessen Bezirk die Kartellbehörde ihren Sitz hat, vorgenommen werden kann. Hingegen ist die Durchsuchungsanordnung im Rahmen eines Kartellsanktionsverfahrens nicht im GWB selbst geregelt, sondern richtet sich nach den strengeren Vorschriften der § 46 II OWIG i.V. m. § 105 StPO. Hiernach dürfen Durchsuchungen nur durch den Richter, bei Gefahr in Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 GVG) angeordnet werden. Soll eine Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume ohne Beisein des Richters oder der Staatsanwaltschaft stattfinden, so sind, wenn möglich, Gemeindebeamte zuzuziehen. Abgesehen von diesen Besonderheiten orientieren sich die Durchsuchungsbefugnisse weitestgehend an den Befugnissen der Kommission nach Art. 20, 21 VO 1/2003. b) Sektorspezifische Untersuchung Einen unmittelbaren Einfluss auf die Ermittlungsbefugnisse des BKartA hat die VO 1/2003 unterdessen im Rahmen von sektorspezifischen Untersuchungen gehabt. § 32e GWB, der dem BKartA Befugnisse zur Untersuchung einzelner Wirtschaftszweige und einzelner Arten von Vereinbarungen verleiht, wurde durch die 7. GWB-Novelle 2005 eingeführt und entspricht weitestgehend Art. 17 VO 1/2003. § 32e GWB gibt somit sowohl dem BKartA als auch den obersten Landesbehörden12 die gleichen Möglichkeiten für Sektoruntersuchungen und die Untersuchung einzelner Arten von Vereinbarungen, wie sie die Kommission nach Art. 17 VO 1/2003 hat.13 Der Wortlaut des Art. 17 VO 1/2003 wurde nahezu 12 Die Möglichkeit, dass auch die obersten Landesbehörden derartige allgemeine Untersuchungen durchführen, wurde erst im späteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens aufgrund eines Beschlusses des Vermittlungsausschusses aufgenommen, vgl. BTDrucks. 15/2735. 13 Vgl. dazu de Bronett, WuW 2010, S. 258 f.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

identisch in § 32e GWB übernommen und entspricht einer Vollharmonisierung im Bereich der Ermittlungsbefugnisse des BKartA sowohl bei der dezentralen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV als auch bei der Anwendung nationalen Kartellrechts im Rahmen etwaiger Kartellverfahren nach dem GWB. c) Das Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen Eine weitere Angleichung der Ermittlungsbefugnisse des BKartA an jene der Kommission fand im Bereich des Auskunftsverlangens gegenüber Unternehmen statt. § 81a GWB, der durch die 8. GWB-Novelle 2013 eingeführt wurde, statuiert bußgeldbewehrte Verpflichtungen der Unternehmen, gegenüber dem BKartA Auskünfte zu erteilen, die die Ermittlungen im Rahmen eines Kartellsanktionsverfahrens vorantreiben sollen. Nach der damaligen Begründung des Regierungsentwurfs soll § 81a GWB in Sanktionsverfahren die erfolgreiche Arbeit der Kartellbehörden weiter im Interesse einer „effektiven und effizienten Ahndung von Kartellverstößen“ und somit die kohärente Anwendung der Art. 101, 102 AEUV fördern.14 Dabei beschränkte sich die Fassung der 8. GWB-Novelle 2013 lediglich auf Auskünfte über die Umsätze der betroffenen Unternehmen, da diese Umsätze unter verschiedenen Gesichtspunkten für die Höhe der Kartellsanktion relevant sein können. § 81a GWB stellte somit einen angemessenen Ausgleich zwischen der effektiven und effizienten Durchsetzung des Kartellrechts auf der einen Seite und der Wahrung der Verteidigungsrechte der Unternehmen auf der anderen Seite dar.15 2. Rahmen und Bemessung einer Kartellsanktion durch Leitlinien Ähnlich wie die Kommission hat das BKartA sein weites Ermessen bei der Festsetzung von Kartellsanktionen unter anderem durch die Bußgeld-Leitlinien 2006,16 die später bedingt durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durch die Bußgeld-Leitlinien 201317 ersetzt wurden, konkretisiert. Zum Erlass solcher Bußgeld-Leitlinien in Form von Verwaltungsvorschriften ist das BKartA nach § 81 VII GWB befugt, um die Bußgeldbemessung gem. § 81 IV S. 6 GWB festzusetzen. Nach dieser Vorschrift, die wörtlich Art. 23 III VO 1/2003 entnommen wurde, ist bei der Festsetzung der Geldbuße sowohl die Schwere der Zu14

BT-Drucks. 17/9852, S. 34. BT-Drucks. 17/9852, S. 34. 16 Bekanntmachung Nr. 38/2006 über die Festsetzung von Geldbußen nach § 81 IV S. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen – Bußgeldleitlinien – vom 15.9.2006. 17 Leitlinien für die Bußgeldzumessung in Kartellordnungswidrigkeitenverfahren v. 25.6.2013, abrufbar unter: https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/ DE/Leitlinien/Bekanntmachung%20%20Bu%C3%9Fgeldleitlinien-Juni%202013.pdf? blob=publicationFile&v=5 (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 15

A. Systematik des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

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widerhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen. Dabei sind die im europäischen Recht entwickelten Grundsätze nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen auch bei der Anwendung des deutschen Rechts heranzuziehen.18 Die Sanktion muss sich indessen im vorgesehenen Bußgeldrahmen nach § 81 IV S. 2 GWB bewegen, der mit der 7. GWB-Novelle 2005 ebenfalls nach dem Vorbild des Art. 23 II VO 1/2003 Einzug in das deutsche Recht gefunden hat. Hiernach darf eine gegen ein Unternehmen oder eine Unternehmensvereinigung verhängte Kartellsanktion 10 Prozent des im Vorjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen. Nach der damaligen Gesetzesbegründung war eine Anpassung des deutschen Sanktionsrahmens an die europäische Regelung notwendig, um der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV praktische Wirksamkeit zu verschaffen.19 Hiervon ausgehend handelte es sich nach der Intention des Gesetzgebers bei der 10-Prozent-Grenze des § 81 IV S. 2 GWB nach dem europäischen Vorbild in Art. 23 II VO 1/2003 offensichtlich um die Einführung einer Kappungsgrenze.20 Dem lag nach dem europäischen Vorbild die Vorstellung zugrunde, § 81 IV S. 2 GWB bezwecke eine nach oben offene Bußgeldskala, so dass lediglich bei Überschreitung der 10-Prozent-Grenze kraft Gesetzes eine Kappung eintritt. Dabei ließ der Gesetzgeber geflissentlich unbeachtet, dass Kartellsanktionen nach deutschem Recht im Ordnungswidrigkeitenverfahren verhängt werden, das sich an strafrechtlichen und verfassungsrechtlichen Prinzipen wie dem Bestimmtheitsgebot messen lassen muss, so dass erhebliche Reibungspunkte zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz entstanden sind. An diese Intention des deutschen Gesetzgebers angelehnt richtete das BKartA infolgedessen seine Bußgeld-Leitlinien 2006 aus.21 In der deutschen Wissenschaft wurde seither eine kontroverse Debatte über die Verfassungsmäßigkeit des § 81 IV S. 2 GWB und der damit verbundenen kartellrechtlichen Praxis des BKartA geführt,22 die ihren Zenit in dem Grauzement-Urteil des BGH aus dem Jahr 2013 gefunden hat. Dieser bestätigte zwar die Verfassungsmäßigkeit des § 81 IV S. 2 GWB, betonte jedoch die Auslegung der Vorschrift – entgegen der europäischen Rechtspraxis – als Bußgeldobergrenze, um verfassungsrechtlichen Prinzipien wie dem Bestimmtheitsgebot i. S. d. Art. 103 II GG zu genügen.23 Infolge der Recht18 Cramer/Pananis, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), § 81, Rn. 64; Künstner, in: Schulte/Just (Hrsg.), § 81, Rn. 13. 19 Bericht und Beschlussfassung des Wirtschaftsausschusses, BT-Drucks. 15/5049, S. 50; näher zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift Achenbach, ZWeR 2009, S. 1, 5. 20 Dazu Ackermann, ZWeR 2010, S. 329, 337 f. 21 Bekanntmachung Nr. 38/2006 v. 15.9.2006, Abschnitt III („Kappungsgrenze“), Rn. 18. 22 Vgl. dazu die Erwiderung auf Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 f. durch Bechtold/ Bosch, ZWeR 2011, S. 160, 164 und m.w. N. Dannecker/Biermann, in: Immenga/ Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/Teil 1, § 81, Rn. 346 f. 23 BGH, Besch. v. 26.2013 – KRB 20/12, Rz. 55 – Grauzementurteil.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

sprechung des BGH sah sich das BKartA gezwungen, seine Bußgeld-Leitlinien 2013 anzupassen, wonach künftige Kartellsanktionen auf Grundlage des § 81 IV S. 2 GWB als umsatzbezogene Bußgeldobergrenze festzusetzen sind. Die Rechtsprechung des BGH mag zwar durch die Einbettung des Kartellsanktionssystems im Gefüge des Ordnungswidrigkeitenrechts gerechtfertigt sein, bedeutet aber eine gleichzeitige Abkehr von Konvergenztendenzen des deutschen Gesetzgebers, was freilich zu dem Folgeproblem führen wird, wie sich diese Lesart des § 81 IV S. 2 GWB mit den Änderungen der 9. GWB-Novelle 2017 verträgt, wonach die aus dem EU-Recht stammende Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit in das GWB implementiert wurde. 3. Kooperationsmöglichkeiten für Unternehmen Eine wesentliche Annäherung an europäische Vorgaben fand im deutschen Recht zudem hinsichtlich der Kooperationsmöglichkeiten für Unternehmen statt. Hierzu gehört neben der Einführung eines Kronzeugenprogramms (a) vor allem die Einführung eines Settlement-Verfahrens (b), wonach bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ähnlich wie im europäischen Recht Kartellsanktionen erlassen oder ermäßigt werden können. In diesem Zusammenhang spielt auch die Praxis des BKartA zur sanktionsbedingten Zahlungsunfähigkeit eine wichtige Rolle, die beispielsweise eine unverhältnismäßig hohe Kartellsanktion und eine dadurch bedingte Zahlungsunfähigkeit von Unternehmen verhindern soll (c). a) Kronzeugenprogramme Ganz nach der Sanktionspraxis der Europäischen Kommission erlässt oder reduziert auch das BKartA im Rahmen eines Kronzeugenprogramms die Geldbuße, wenn Unternehmen durch uneingeschränkte Kooperation wesentlich zur Aufdeckung eines Kartells beitragen. Hierzu wurde im Jahr 2000 die erste Bonusregelung erlassen, die dann durch die Bonusregelung 2006 ersetzt wurde.24 Die Bonusregelung des BKartA hat die Qualität allgemeiner Verwaltungsgrundsätze i. S. d. § 81 VII GWB, die im Rahmen des behördlichen Ermessens zu berücksichtigen sind. Wie bei der Kronzeugenregelung der Kommission ist die Bonusregelung des BKartA nur in Fällen von horizontalen Absprachen und Abstimmungen zwischen Wettbewerbern anwendbar. Das BKartA kann die Geldbuße vollständig erlassen, wenn ein Unternehmen als Erstes das Kartell offenbart und an der weiteren Aufklärung des Kartells uneingeschränkt mitwirkt, sofern das Unternehmen nicht alleiniger Anführer des Kartells war und andere zur Teil24 Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung, abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/Shared Docs/Publikation/DE/Bekanntmachungen/Bekanntmachung%20-%20Bonusregelung. pdf?__blob=publicationFile&v=7 (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017).

A. Systematik des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

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nahme an dem Kartell nicht gezwungen hat.25 Zugunsten eines Unternehmens, das die Voraussetzungen für einen Erlass nicht erfüllt, kann das BKartA die Geldbuße reduzieren, wenn das Unternehmen an der weiteren Aufklärung des Kartells mitwirkt.26 Für den Rang eines Bonusantrags beim BKartA ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem das Unternehmen seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt. Hierzu können Unternehmen ebenfalls sog. Marker setzen, um den Rang eines etwaigen Bonusantrags zu sichern.27 b) Settlement-Verfahren Ebenfalls bußgeldmindernd berücksichtig das BKartA die Bereitschaft der Unternehmen zur einvernehmlichen Verfahrensbeendigung (Settlement), um die Verfahrenseffizienz zu steigern. Anders als das Vergleichsverfahren der Kommission, das durch eine Mitteilung veröffentlicht wurde, ist das Vergleichsverfahren des BKartA weder durch Mitteilungen noch durch Leitlinien normiert. In der Praxis führt das BKartA vor Zustellung des Beschuldigtenschreibens Gespräche mit kooperationswilligen Unternehmen, die dazu aufgefordert werden, eine Sachverhaltsbestätigung abzugeben. In der Regel findet auch nur eine eingeschränkte Akteneinsicht statt.28 Unternehmen versprechen sich bei einem solchen Deal neben der schnellen und effizienten Erledigung des Verfahrens eine Minderung der Kartellsanktion um 10 Prozent. Ähnlich wie im europäischen Recht stellt sich auch hier die Frage nach den Auswirkungen eines Settlement-Verfahrens auf spätere Schadensersatzklagen durch Kartellgeschädigte. Diese dürften aufgrund der eingesparten Ermittlungen des BKartA und des Kurz-Bußgeldbescheids, der wenig Aussagekraft vor Gericht haben wird, Schwierigkeiten bei der Durchsetzung privater Schadensersatzklagen haben. c) Sanktionsbedingte Zahlungsunfähigkeit Wie die Bußgeld-Leitlinien der Kommission sehen auch die Leitlinien des BKartA vor, dass bei der Bußgeldbemessung die wirtschaftliche Leistungskraft der Unternehmen zu berücksichtigen ist.29 Diese Sanktionspraxis ist Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, wonach eine Geldbuße nicht die wirtschaftliche Existenz des Unternehmens oder gar die marktwirtschaftliche Ordnung insgesamt gefährden darf.30 Weisen die Unternehmen etwa Zahlungsschwierigkeiten nach, so sieht das BKartA Instrumente vor, um die künftige Insolvenz der Unterneh25 26 27 28 29 30

Rn. 3 und 4 der Bonusregelung Nr. 9/2006. Rn. 5 der Bonusregelung Nr. 9/2006. Rn. 11 der Bonusregelung Nr. 9/2006. Vgl. dazu Bechtold/Bosch, GWB-Kommentar, § 81, Rn. 42. Bußgeldleitlinien 2013, Rn. 16. Vgl. dazu ausführlich oben, § 3 B. I.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

men abzuwenden. Anders als bei der Kommission, die in solchen Fällen regelmäßig Kartellsanktionen gänzlich erlässt, besteht beim BKartA die Möglichkeit von Ratenzahlungen oder Stundung der Forderung.31 Diese Sanktionspraxis des BKartA ist aus marktrechtlicher Perspektive vorzugswürdiger als die Sanktionspraxis der Kommission,32 da einerseits durch eine Ratenzahlung oder Stundung keine Insolvenz der Unternehmen zu befürchten ist und andererseits die Glaubwürdigkeit einer effektiven und effizienten Sanktionierung in der Öffentlichkeit nicht in Frage gestellt wird.

B. Nichterfüllung europäischer Vorgaben bis zur 9. GWB-Novelle 2017 Trotz des fortgeschrittenen Konvergenzstandes zwischen dem deutschen und dem europäischen Kartellsanktionsrecht zeigte die deutsche Sanktionspraxis in den letzten Jahren, dass noch teilweise erhebliche Unterschiede zwischen beiden Verfahrensrechtsordnungen bestanden.33 Dies wurde in regelmäßigen Abständen vor allem vom BKartA moniert, das bei der Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV erhebliche Defizite im deutschen Kartellsanktionsrecht feststellte. Dabei ging es hauptsächlich um die Bestimmung des richtigen Adressaten einer Kartellsanktion.34 Nach der Rechtslage vor der 9. GWB-Novelle 2017 bestanden nur eingeschränkte Möglichkeiten, Muttergesellschaften sowie wirtschaftliche und rechtliche Nachfolger in die Haftung zu nehmen. Auch die Monopolkommission hatte in einem Sondergutachten darauf hingewiesen, dass diese Rechtslage im deutschen Recht europäische Vorgaben nicht erfüllte.35 Zu untersuchen ist daher, ob dieser Vorwurf berechtigterweise erhoben wurde (I). Weitere Defizite ergaben sich zudem daraus, dass das deutsche Recht im Hinblick auf das Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen trotz der Einführung des § 81a GWB a. F. durch die 8. GWB-Novelle 2013 noch weit hinter dem europäischen Pendant des 31

Vgl. BKartA, Tätigkeitsbericht 2009/2010, S. 17. Dazu bereits oben, § 6 A. III. 5. 33 Vgl. dazu bereits oben § 2 D. II. 34 Vgl. dazu umfassend den Zwischenbericht des BKartA zum Expertenkreis Kartellsanktionsrecht, Reformimpulse für das Kartellbußgeldverfahren v. 12.1.2015, abrufbar unter http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Berichte/AG_Kar tellsanktionenrecht_Zwischenbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 2110.2016), und das Hintergrundpapier des BKartA zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht v. 4.10.2012, Kartellbußgeldverfahren zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz, abrufbar unter https://www.bundeskartellamt.de/ SharedDocs/Publikation/DE/Diskussions_Hintergrundpapier/Bundeskartellamt%20-% 20Kartellbu%C3%9Fgeldverfahren%20zwischen%20deutschem%20Systemdenken%20 und%20europ%C3%A4ischer%20Konvergenz.html (zuletzt aufgerufen am 21.10.2016). 35 Monopolkommission (MK), Sondergutachten 72, S. 33 ff., abrufbar unter: http:// www.monopolkommission.de/images/PDF/SG/s72_volltext.pdf (zuletzt aufgerufen am 21.10.2016). 32

B. Nichterfüllung europäischer Vorgaben

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Art. 18 VO 1/2003 zurückstand (II). Zudem scheint die verfahrensrechtliche Stellung des BKartA im gerichtlichen Verfahren nicht mit dem EuGH-Urteil in der Sache VEBIC36 im Einklang zu stehen, mit dem der Gerichtshof die Rechte und Stellung der Wettbewerbsbehörden offensichtlich stärken wollte, um die Art. 101, 102 AEUV wirksam durchzusetzen (III).

I. Im Hinblick auf die Bestimmung des richtigen Adressaten einer Kartellsanktion Durch die Einbettung des Kartellsanktionsrechts in das System der Ordnungswidrigkeiten nach dem OWiG ergaben sich bei der Bestimmung des kartellrechtlichen Haftungsadressaten vor der 9. GWB-Novelle 2017 eine Vielzahl von Besonderheiten, die teilweise zu erheblichen Unterschieden zur Praxis der Unionsorgane führten. Nach europäischem Recht haften in aller Regel die Muttergesellschaften auch für Kartellverstöße ihrer Töchter mit. Das folgt bereits aus dem Verständnis des Begriffs der wirtschaftlichen Einheit, wonach die Unionsorgane den gesamten Konzern als Haftungsadressaten eines Kartellsanktionsbescheides heranziehen. Somit können gegen mehrere Gesellschaften innerhalb dieser wirtschaftlichen Einheit Kartellsanktionen verhängt und vollstreckt werden. Im deutschen Recht galten hingegen formalistische Prinzipien, wonach nur diejenige juristische Person als Haftungsadressat herangezogen werden konnte, die auch den kartellrechtlichen Verstoß tatsächlich begangen hatte (1). Dieses formalistische System hatte indessen zur Folge, dass im deutschen Recht weder Muttergesellschaften (2) noch rechtliche oder wirtschaftliche Nachfolger von Unternehmen, die ursprünglich den Kartellverstoß begangen hatten, in die kartellrechtliche Haftung genommen werden konnten (3). 1. Das Haftungssystem nach dem OWiG Durch das Haftungssystem nach dem OWiG hat sich der deutsche Gesetzgeber für das sog. Rechtsträgerprinzip entschieden,37 wonach Geldbußen nur gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen verhängt werden konnten, die den kartellrechtlichen Pflichtverstoß auch begangen hatten.38 Hiernach hafteten nur diejenigen juristischen Personen oder Personenvereinigungen, für die ein Leitungsverantwortlicher (§ 30 OWiG) oder sonstiger Mitarbeiter (§ 14 OWiG) in zurechenbarer Weise gehandelt hatte (§§ 9, 130 OWiG). Lediglich im Rahmen 36 EuGH v. 7.12.2010, Rs. C-439/08, Rn. 63 – VEBIC; vgl. dazu auch oben § 5 B. II. 2. g). 37 Im Gegensatz dazu gilt im europäischen Recht das Funktionsträgerprinzip, vgl. dazu § 6 A. III. 1. a). 38 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/Teil 1, Vor § 81, Rn. 128 f.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

des Haftungsumfangs war gem. § 81 IV S. 3 GWB auf die aus dem europäischen Recht übernommene Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit abzustellen. Somit war zwischen dem materiellrechtlichen Verstoß als Haftungsgrund auf der Tatbestandsseite (Art. 101 AEUV, § 1 GWB) einerseits und der Bestimmung des Haftungsumfangs (§ 81 IV S. 3 GWB) sowie des Haftungsadressaten (§ 30 OWiG) auf der Rechtsfolgenseite andererseits zu unterscheiden. Während also das deutsche Recht hinsichtlich des materiellrechtlichen Haftungsgrundes (§ 1 GWB) und des sachlichen Haftungsumfangs, also der Bußgeldbemessung nach § 81 IV S. 2 und 3 GWB, weitgehend an das europäische Recht angeglichen wurde, galten hinsichtlich des persönlichen Haftungsumfangs noch bis zur 9. GWB-Novelle 2017 die Besonderheiten des deutschen Kartellordnungswidrigkeitenrechts gem. §§ 30, 130 OWiG. Diese punktuelle und teilweise unvollständige Konvergenz führte freilich zu erheblichen Spannungen mit dem europäischen Recht.39 In diesem Zusammenhang war sowohl die Haftung von Mutter- für Tochtergesellschaften als auch die Haftung von rechtlichen und wirtschaftlichen Nachfolgern im deutschen Kartellsanktionsrecht besonders problematisch. 2. Konzernhaftung Während im europäischen Recht die Haftung von Mutter- für Tochtergesellschaften nach der Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit bestimmt wird,40 fehlten entsprechende Regelungen im deutschen Recht. Um diese Rechtslücken zu schließen, versuchte das BKartA in der Vergangenheit, eine Konzernhaftung in Form einer Verletzung der Aufsichtspflicht gem. § 130 OWiG zu begründen.41 Hiernach konnte gegen einen Inhaber eines Betriebs oder Unternehmens,42 der vorsätzlich oder fahrlässig die Aufsichtsmaßnahmen unterlässt, die erforderlich sind, um in dem Betrieb oder Unternehmen Zuwiderhandlungen gegen Pflichten, die den Inhaber treffen, zu unterbinden, eine Geldbuße verhängt werden. Sinn und Zweck dieser Vorschrift war es also dafür zu sorgen, dass in Betrieben und Unternehmen Vorkehrungen gegen die Begehung von betriebsbezogenen Zuwiderhandlungen getroffen werden.43 Das BKartA legte dabei den Begriff des „Unternehmens“ i. S. d. § 130 OWiG europarechtskonform aus, so dass die gesamte wirtschaftliche Einheit als Unternehmen im Sinne dieser Norm anzusehen

39 Chmeis, Ad Legendum 02/2017, S. 170, 172; darauf zurückgreifend Chmeis, NZKart 2017, S. 403, 403; in die gleiche Richtung argumentieren auch Ost/Kallfaß/ Roesen, NZKart 2016, S. 447, 450. 40 Zur Konzernhaftung im EU-Recht vgl. oben § 6 A. II. 3. 41 Vgl. Ost, in: Bien (Hrsg.), Das deutsche Kartellrecht nach der 8. GWB-Novelle 2013, S. 305, 318; ders., NZKart 2013, S. 25, 26. 42 Wozu nach § 130 I S. 1 OWiG auch öffentliche Unternehmen gehören. 43 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/Teil 1, Vor § 81, Rn. 155.

B. Nichterfüllung europäischer Vorgaben

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war.44 Umstritten war allerdings lange, ob in diesem Zusammenhang überhaupt eine Aufsichtspflicht der Mutter- gegenüber der Tochtergesellschaft im Konzern besteht.45 Eine höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Frage fehlte. Der BGH hatte diese Frage jedenfalls in der Sache Transportbeton-Vertrieb offengelassen.46 Nach Ansicht des BKartA ist eine konzernrechtliche Aufsichtspflicht europarechtlich vorgesehen, weshalb § 130 OWiG entsprechend anzuwenden sei.47 Jedoch ist aufgrund des Haftungssystems des OWiG sowie aufgrund der unklaren Regelung in § 130 OWiG eine Übertragung der von den Unionsorganen entwickelten Grundsätze hinsichtlich der Zurechnung von Wettbewerbsverstößen in Konzernen nicht ohne weiteres möglich. Das Bestehen einer originären Aufsichtspflicht der Konzernobergesellschaft wurde teilweise unter Hinweis auf die Spezifikationen des europäischen Kartellsanktionsrechts, die nicht ohne weiteres auf nationale Rechtsordnungen übertragbar seien, sowie auf „unüberschaubare Zurechnungskaskaden auf rechtlich ungesicherter Basis“ abgelehnt.48 Dem ist in der Tat insoweit zu folgen, als Sonderwege des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts nur bedingt durch europarechtliche Vorgaben modifiziert werden können. Der Versuch des BKartA, sich punktuell an europäische Standards anzunähern, war zwar vor dem Hintergrund der kohärenten Anwendung der Art. 101, 102 AEUV begrüßenswert, scheiterte jedoch an den formalistischen Strukturen des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts. Der Bundesrat hatte daher in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf für die 8. GWB-Novelle49 unter Verweis auf die seinerzeit bestehende Unsicherheit eine ausdrückliche Klarstellung in § 130 OWiG dahingehend gefordert, dass eine Konzernobergesellschaft nach § 130 OWiG hafte, wenn sie ihren Aufsichtspflichten nicht nachkomme. Dies wurde damit begründet, dass der Konzern Adressat des europäischen Kartellrechts sei und sich daher die kartellrechtliche Verantwortlichkeit nicht auf die unmittelbar handelnden juristischen Personen beschränken dürfe. Gleichwohl lehnte die Bundesregierung die Forderung nach einer solchen gesetzlichen Regelung mit dem Verweis auf eine sachgerechte Regelung in § 130 OWiG ab.50 Damit teilte die Bundesregierung offensichtlich die Ansicht des BKartA. Doch selbst wenn eine 44 Vgl. dazu Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 453; Ost, NZKart 2013, S. 25, 26; ders., in: Bien (Hrsg.), 2013, S. 305, 319. 45 Zum Diskussionsstand Rogall, in: KK, OWiG, § 130, Rn. 27. Vgl. auch Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/Teil 1, Vor § 81, Rn. 157. 46 BGH, Beschluss v. 1.12.1981, KRB 3/79, WuW/E BGH 1871, 1876. 47 BKartA, Tätigkeitsbericht 2011/2012, S. 67, sowie Fallbericht aus 2012 Az. B1200/06-P und B1-2-200/06-U13 – Tondachziegel; vgl. auch Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 453; Ost, NZKart 2013, S. 25, 26; ders., in: Bien (Hrsg.), 2013, S. 305, 319. 48 Vgl. etwa Gürtler, in: Göhler (Hrsg.), OWiG, § 130, Rn. 5a. 49 BT-Drucks. 17/9852, S. 40. 50 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf der 8. GWB-Novelle, BT-Drucks. 17/9852, S. 49.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

gesetzliche Regelung in § 130 OWiG dergestalt eingeführt wird, dass eine Aufsichtspflicht der Konzernobergesellschaft gegenüber der Tochtergesellschaft begründet werden kann, wären die Sanktionsdefizite bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV nicht vollends beseitigt worden. Im europäischen Recht besteht nämlich ein Gleichlauf zwischen unternehmensbegründender Beherrschungsmacht und sanktionsrechtlicher Verantwortlichkeit, unabhängig davon, ob eine Aufsichtspflichtverletzung nachgewiesen wird oder nicht. Dabei handelt es sich weder um eine bloße Zurechnung fremden Verschuldens oder um eine bloße Haftung für Organisationsverschulden.51 Zudem ist aus gesetzessystematischer Hinsicht anzumerken, dass es bereits nach der damals geltenden Fassung des § 81 IV S. 2, 3 GWB bei der Bestimmung der Bußgeldhöchstgrenze auf die Umsätze der wirtschaftlichen Einheit ankam. Diese Bezugsgröße bei der Bußgeldfestsetzung betraf zwar nicht den Sanktionsadressaten, drängte aber bereits frühzeitig zu der Überlegung, die Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit durch eine unionsrechtskonforme Auslegung in das deutsche Kartellsanktionsrecht hineinzuinterpretieren.52 Diese Ansicht konnte sich jedoch nicht durchsetzen, ebenso wenig wie der Vorschlag,53 die kartellbefangene wirtschaftliche Einheit als Personenvereinigung in Form einer Außen-GbR aufzufassen.54 Wäre die Haftung der Konzernobergesellschaft von einer Aufsichtspflichtverletzung abhängig gemacht geworden, wäre es zu einer weiteren künstlichen Aufspaltung zwischen Bußgeldbemessung nach § 81 V S. 2 und 3 GWB und Tatnachweis nach § 130 OwiG gekommen, da eine eigenständige Pflichtverletzung der Muttergesellschaft in solchen Fällen nachzuweisen gewesen wäre. Dies hätte wiederum nur den Anschein einer Rechtsangleichung an das Unionsrecht begründet, getragen von Besonderheiten des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts, wären solche nationalen Sonderwege doch Nährboden für die Bildung von weiteren Rechtslücken und Rechtsunsicherheiten gewesen. 3. Nachfolgehaftung Diese alte Rechtslage führte auch zu dem Folgeproblem der kartellrechtlichen Haftung von rechtlichen und wirtschaftlichen Nachfolgern, wonach die Haftungsadressaten wegen gesellschaftsrechtlicher Umstrukturierung regelmäßig wegfielen. Mit der 8. GWB-Novelle wurde erstmals durch § 30 IIa OWiG eine ausdrückliche gesetzliche Regelung hinsichtlich der Behandlung der Rechtsnachfolger von Unternehmen ins Kartellsanktionsrecht aufgenommen. Grund für die 51

Vgl. dazu oben, § 6 A. II. 2. Ost, NZKart 2013, S. 25, 26 m.w. N. 53 Kersting, WuW 2014, S. 1156, 1170. 54 Dem steht schon entgegen, dass der gemeinsame Zweck einer solchen Außen-GbR in einem kartellwidrigen Verhalten läge, so dass die GbR jedenfalls in dieser Hinsicht gem. §§ 134, 139 i.V. m. §§ 705 ff. BGB unwirksam wäre, vgl. dazu das Sondergutachten der MK 72, S. 36. 52

B. Nichterfüllung europäischer Vorgaben

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Neuregelung war unter anderem, dass aufgrund europarechtlicher Vorgaben Gefahren für die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV bestanden.55 Während im europäischen Recht Fragen der rechtlichen und wirtschaftlichen Nachfolgehaftung ebenfalls durch die Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit bestimmt werden,56 fehlte im deutschen Recht auch hier eine entsprechende gesetzliche Regelung. Die Rechtsprechung erkannte bereits vor der 8. GWB-Novelle die Möglichkeit einer Gesamtrechtsnachfolge unter restriktiven Voraussetzungen an. Dem Grunde nach konnte eine Geldbuße gegen den Rechtsnachfolger verhängt werden, wenn das Unternehmen nach der gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierung dasselbe geblieben war.57 Grundlegend dazu war ein Urteil des BGH aus dem Jahre 1986, in dem er eine Rechtsnachfolge in der Bußgeldhaftung nach § 30 OWiG a. F. annahm, als sich zwei wirtschaftlich bedeutende Bauunternehmen vergleichbarer Größe zusammengeschlossen hatten. Nach dem BGH kam es hierbei nicht darauf an, dass das haftende Vermögen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Bußgeldverhängung noch in der gleichen Art und Weise verselbstständigt ist wie zur Zeit der Tat.58 Es genügte vielmehr, dass das Vermögen des Verantwortlichen getrennt in gleicher oder ähnlicher Weise wie bisher eingesetzt wird, da zwischen der früheren und der neuen Vermögensverbindung nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise nahezu eine Identität besteht.59 Bei der Übernahme eines Unternehmens durch ein anderes kam es also entscheidend darauf an, ob eine wirtschaftliche Fortführung wesentlicher Teile des übernommenen Unternehmens vorlag.60 Konnten etwa Geldbußen vor der Übernahme sowohl gegen das übernehmende als auch gegen das übernommene Unternehmen verhängt werden, blieb auch nach der Übernahme die Verhängung von zwei selbstständigen Geldbußen gegen das neue einheitliche Unternehmen möglich.61 Diese Rechtsprechung fand jedoch schnell ihre Grenzen in gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten, die Unternehmen oft ausnutzten, um der bußgeldrechtlichen Verantwortung zu entgehen. So wurde keine Rechtsnachfolge angenommen, wenn die Unternehmensidentität durch Verschmelzung geändert wurde.62 Brisant wurde diese Problematik im Fall Versicherungsfusion des BGH, in dem eine Gesellschaft im Wege des Anteilserwerbs (share deal) von einem 55 BT-Drucks. 17/9852, S. 40 f.; vgl. hierzu auch das Schreiben des Generaldirektors der DG Wettbewerb Italianer v. 18.6.2012 an das Bundeskartellamt, Anlage zur Stellungnahme des Bundeskartellamts zum Regierungsentwurf der 8. GWB-Novelle. 56 Vgl. dazu oben, § 6 A. II. 3. 57 BGH v. 13.2.2013, WuW/E DE-R, 3861, Rn. 82 ff. – Grauzementkartell. 58 Dannecker/Dannecker/Müller, ZWeR 2013, S. 417, 425. 59 BGH, Beschl. v. 11.3.1986, WuW/E BGH 2265, 2267 – Rechtsnachfolge; vgl. zuletzt auch BVerfG, Beschluss v. 20.8.2015, 1 BvR 980/15, Rn. 13. 60 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/Teil 1, Vor § 81, Rn. 130. 61 Raum, in: Langen/Bunte (Hrsg.), § 81, Rn. 41. 62 So das OLG Frankfurt v. 6.7.1984, WuW/E OLG 3314 – U-Bahn Lose.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

Unternehmen übernommen und mit einer Konzerntochtergesellschaft verschmolzen wurde. In so einem Falle kann nicht mehr davon gesprochen werden, dass aus der gesellschaftlichen Umgestaltung wieder dieselbe Person hervorgegangen sei. Die Rechtsprechung lehnte in diesem Fall eine extensive Auslegung des § 30 OWiG a. F. unter Berufung auf das Analogieverbot gem. Art. 103 II GG, § 3 OWiG ab.63 Dadurch trug der BGH dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege Rechnung, der auch im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt.64 Gleichwohl sah der BGH, insbesondere im Hinblick auf die lange Verfahrensdauer einer etwaigen Bußgeldentscheidung, die Gefahren, die mit dieser Gesetzeslücke entstanden, und räumte ein, dass die Respektierung der Grenzen, die Art. 103 II GG der Verhängung von Kartellgeldbußen gegen juristische Personen setzt, zu misslichen Konsequenzen führen kann. Sie eröffne Unternehmen nämlich die Möglichkeit, eine drohende bußgeldrechtliche Sanktion durch die gezielte Wahl gesellschaftsrechtlicher Gestaltungen zu umgehen. Indessen hielt der BGH die Schranken zulässiger Auslegung des geltenden Rechts und damit die Ausweitung bestehender Sanktionsmöglichkeiten für erreicht, so dass eine Ausdehnung der bußgeldrechtlichen Haftung von Rechtsnachfolgern nur durch den Gesetzgeber vorgenommen werden konnte.65 Auch der Gesetzgeber sah diese besonderen Gefahren, die mit einer Umstrukturierung des kartellbefangenen Vermögens durch gesellschaftsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten verbunden waren,66 die schließlich durch den im Rahmen der 8. GWB-Novelle 2013 eingeführten § 30 IIa OWiG geschlossen werden sollten. Fortan räumte § 30 IIa OWiG dem BKartA die Befugnis ein, eine Kartellgeldbuße auch im Falle einer Gesamtrechtsnachfolge oder partiellen Gesamtrechtsnachfolge (§ 123 UmwG) gegen den oder die Rechtsnachfolger zu verhängen – und das unabhängig vom Vorliegen der wirtschaftlichen Identität. Voraussetzung ist also das Vorliegen einer Gesamtrechtsnachfolge. Erfasst waren wiederholte bzw. mittelbare Rechtsnachfolger, die im Rahmen einer Verschmelzung nach dem UmwG erfolgen.67 Darunter zu verstehen ist insbesondere die Übernahme durch Übertragung des Vermögens eines oder mehrerer Rechtsträger als Ganzes auf einen anderen bestehenden Rechtsträger oder die Neugründung durch Übertragung der Vermögen von zwei oder mehreren Rechtsträgern auf einen neuen,

63 BGH Beschluss v. 10.8.2011, KRB 55/10, WuW/E DE-R 3455, 3459 – Versicherungsfusion. 64 BVerfGE 38, 348, 371; BVerfGE 71, 108, 1114; BVerfGE 87, 363, 391; vgl. auch Dannecker/Dannecker/Müller, ZWeR 2013, S. 417, 426. 65 BGH Beschluss v. 10.8.2011, KRB 55/10, WuW/E DE-R 3455, 3459 – Versicherungsfusion. 66 Vgl. dazu BT-Drucks. 17/11053, S. 26 und 32 f. 67 Vgl. Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/Teil 1, Vor § 81, Rn. 133.

B. Nichterfüllung europäischer Vorgaben

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von ihnen dadurch gegründeten Rechtsträger.68 Bei einer Aufspaltung des Rechtsvorgängers gem. § 123 UmwG kann es zu einer partiellen Gesamtrechtsnachfolge kommen, die ebenfalls von § 30 IIa OWiG erfasst wurde. In diesem Fall kam eine Geldbuße gegen die mindestens zwei partiellen Gesamtrechtsnachfolger in Betracht, wobei es im Ermessen der Kartellbehörde oder des erkennenden Gerichts stand, gegen welche Teilrechtsnachfolger vorgegangen werden sollte.69 Damit vollzog der deutsche Gesetzgeber im Rahmen der kartellrechtlichen Rechtsnachfolge eine Rechtsangleichung an die Rechtspraxis der Unionsorgane. Gleichwohl blieben mit § 30 IIa OWiG noch Einzelfragen offen, die Anlass für Kritik gaben. Denn mit diesem wurden zwar die praxisrelevanten Fälle der Rechtsnachfolge in Form der Verschmelzung erfasst. Gleichwohl wurden weiterhin gesellschaftsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten durch Unternehmen gezielt genutzt, um sich der kartellrechtlichen Haftung zu entziehen. Ist etwa auf der Seite des Rechtsvorgängers oder Rechtsnachfolgers eine natürliche Person beteiligt, greift § 30 IIa OWiG nicht, da diese Norm ausschlich juristische Personen bzw. Personenvereinigungen betrifft.70 Gleiches gilt für die Abspaltung nach § 123 II UmwG und die Ausgliederung nach § 123 III UmwG, da in diesen Fällen der Rechtsvorgänger zunächst weiter besteht.71 Der Ansatz zur Einführung von § 30 IIa OWiG wurde insbesondere vom BKartA während des Gesetzgebungsverfahrens kritisiert, da er weiterhin Umgehungsmöglichkeiten offen lasse.72 Nicht von § 30 IIa OWiG erfasst sind auch Fälle der Einzelrechtsnachfolge, insbesondere wenn sie nicht im Wege des Anteilserwerbs (share deals), sondern durch Übertragung des Gesamtbetriebs durch sachenrechtliche Verfügungen bei Weiterbestehen der „gesellschaftlichen Hülle“ 73 (asset deals) erfolgt.74 Vor allem diese gesellschaftsrechtliche Gestaltungsmöglichkeit war in der Praxis häufig anzutreffen. Unternehmen übertrugen oft ganze Betriebe oder wesentliche 68

Bechtold/Bosch, GWB-Kommentar, § 81, Rn. 76. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestages, Beschlussempfehlung und Bericht zur 8. GWB-Novelle, BT-Drucks. 17/11053, S. 22. 70 Dazu Bechtold/Bosch, GWB-Kommentar, § 81, Rn. 77; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/ Teil 1, Vor § 81, Rn. 134; Dannecker/Dannecker/Müller, ZWeR 2013, S. 417, 430; siehe auch die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie, BT-Drucks. 17/11053, S. 28 f. 71 Zu diesen Fällen vgl. Sauer, in: Schulte/Just (Hrsg.), Kartellrecht, Art. 23, Rn. 18. 72 Vgl. die Stellungnahme des Bundeskartellamts zum Regierungsentwurf zur 8. GWB-Novelle, Bonn, 22.6.2012. 73 Zu dieser Formulierung vgl. Dannecker/Dannecker/Müller, ZWeR 2013, S. 417, 430. 74 Vgl. Heinichen, WRP 2012, S. 159, 165 f.; Ost, in: Bien (Hrsg.), Das deutsche Kartellrecht nach der 8. GWB-Novelle, 2013, S. 305, 311; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/ Teil 1, Vor § 81, Rn. 134. 69

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

Vermögensgegenstände durch sachenrechtliche Verfügungen, so dass letztlich nur die „Hülle“ der Gesellschaft sanktioniert werden konnte, die in der Praxis Insolvenz anmeldete. Auf diesem Wege konnten Unternehmen geschickt der bußgeldrechtlichen Haftung entgehen, ohne eine Haftung durch eine Rechtsnachfolge befürchten zu müssen. In manchen Fällen kam es auch vor, dass der frühere Vermögensträger nach Übertragung der Vermögensgegenstände gleich vollständig liquidiert und gelöscht wurde.75 Diese Rechtslücken haben Wursthersteller der Tönnies-Gruppe geschickt ausnutzen können, nachdem das BKartA im Jahr 2014 gegen 21 Unternehmen sowie gegen 33 verantwortlich handelnde Personen ein Bußgeld i. H. v. 338 Millionen Euro verhängt hatte.76 Das Verfahren gegen die Gesellschaften der Tönnies-Gruppe wurde wegen gesellschaftsrechtlicher Umstrukturierung eingestellt.77 Die seitdem bekannt gewordene Wurstlücke im deutschen Kartellsanktionsrecht konnte die Tönnies-Gruppe durch einen geschickten asset deal ausnutzen. Das Unternehmen löschte die kartellbefangenen Gesellschaften aus dem Handelsregister, so dass sie rechtlich nicht mehr existierten.78 Dadurch entgingen dem BKartA insgesamt 128 Millionen Euro, die nicht mehr eingetrieben werden konnten. Die Muttergesellschaft konnte somit aufgrund der Systematik des OWiG nicht in Anspruch genommen werden, so dass die vom BKartA verhängte Kartellsanktion teilweise ins Leere ging. Die Wurstlücke im deutschen Kartellsanktionsrecht war insbesondere im Hinblick auf die europäische Rechtspraxis bedenklich,79 da rechtliche sowie wirtschaftliche Nachfolger eines Rechtsträgers über die gesamtschuldnerische Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit für die Kartellgeldbuße haften.80 Der Vorschlag des BKartA, zwecks Vermeidung von Ahndungslücken solche Fälle an die Kommission zu verweisen,81 konnte sich nicht durchsetzen.82 Daher versuchte das BKartA, die durch § 30 IIa OWiG verbliebenen Rechtslücken hin75

Vgl. zu diesen Fällen Mühlhoff, NZWiSt 2013, S. 321, 327 m.w. N. Vgl. dazu Pressemitteilung des BKartA v. 15.7.2014, abrufbar unter: https://www. bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2014/15_07_2014_ Wurst.html?nn=3591568 (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 77 Vgl. dazu Pressemitteilung des BKartA v. 19.6.2016, abrufbar unter: https://www. bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2016/19_10_2016_ ClemensT%C3%B6nnies_Gruppe_Wurst.html (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 78 Bünder/Grossarth, Wurstfabrikant Tönnies führt das Kartellamt vor, FAZ v. 3.2.2015. 79 Siehe dazu Bischke/Brack, NZG 2012, S. 1140, 1141; kritisch zur Praxis der Unionsorgane Heinrich, WRP 2012, S. 159, 165. 80 Vgl. dazu oben, § 6 A. II. 3. 81 BKartA, Stellungnahme zum Diskussionsentwurf des BMJ zur Regelung der Rechtsnachfolge in der Bußgeldhaftung, S. 4 f.; ebenso der Präsident des BKartA Mundt, wie zitiert in: Agra Europe/Deter, Mundt fordert Schließung von Regelungslücken im Kartellrecht, topagraronline vom 14. Juli 2015. 82 Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer Verfahrensüberleitung vom BKartA an die Kommission vgl. nur Krohs/Timmerbeil, BB 2012, S. 2447 f. 76

B. Nichterfüllung europäischer Vorgaben

243

sichtlich der kartellrechtlichen Rechtsnachfolge durch einen Rückgriff auf die europäische Vorschrift des Art. 5 S. 2 Spiegelstrich 4 VO 1/2003 zu schließen.83 Nach dieser Vorschrift können nationale Wettbewerbsbehörden, die in Einzelfällen für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zuständig sind, Geldbußen, Zwangsgelder und sonstige Sanktionen verhängen. Aus dieser Vorschrift leitete das BKartA unmittelbar die Ermächtigungsgrundlage ab, um nach europäischem Vorbild bei Geldbußen auch Rechtsnachfolger in die kartellrechtliche Haftung zu nehmen.84 Diese Interpretation des Art. 5 S. 2 Spiegelstrich 4 VO 1/2003 konnte sich jedoch seit dem Urteil des BGH zur Nahezu-Identität 85 ebenfalls nicht durchsetzen,86 so dass das BKartA letztendlich vorschlug, das deutsche Recht in Anlehnung an das europäische Recht zu überarbeiten.87 Im Rahmen der 9. GWBNovelle wurden daher umfassende Regelungen betreffend der rechtlichen und wirtschaftlichen Rechtsnachfolge eingeführt, um eben all diese Rechtslücken im deutschen Recht zu schließen.88

II. Im Hinblick auf Auskunftsverlangen gegenüber Unternehmen Wenngleich der deutsche Gesetzgeber im Rahmen der 8. GWB-Novelle erstmals Auskunftspflichten der Unternehmen in § 81a GWB statuiert hatte, blieb diese Regelung immer noch weit hinter den Anforderungen des europäischen Pendants nach Art. 18 VO 1/2003 zurück.89 Die kartellrechtliche Praxis der Wettbewerbsbehörden erwies in den letzten Jahren, dass Kartellverfahren effizienter und effektiver geführt und abgeschlossen werden können, wenn Unternehmen im Rahmen des Ermittlungsverfahrens zur Herausgabe von Informationen verpflichtet werden. Dies hatte auch der Gesetzgeber der 8. GWB-Novelle 2013 erkannt, als er die Einführung des § 81a GWB im Interesse einer effektiven und effizienten Ahndung von Kartellrechtsverstößen gerechtfertigt sah.90 Gleichwohl war der Gesetzgeber bei der Formulierung des § 81a GWB aus verfassungsrechtlichen Gründen recht zurückhaltend, obwohl er selbst erkannte, dass die Selbstbelas83 Siehe dazu Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Kommentar zum deutschen Kartellrecht, Bd. 2: GWB/Teil 1, Vor § 81, Rn. 19; Dannecker/Dannecker/Müller, ZWeR 2013, S. 417, 431; Klocker, Schwerpunkte 2013, S. 1, 7; Mühlhoff, NZWiSt 2013, S. 321, 325, vgl. auch oben § 5 B. II. 2. c). 84 Ost, in: Bien (Hrsg.), 8. GWB-Novelle, S. 305. 312 ff.; ders., JECLP 5 (2014), S. 125, 132 f. 85 BGH Beschl. v. 16.12.2014, Az.: KRB 47/13. 86 Vgl. dazu ausführlich oben § 5 B. II. 2. c). 87 Brück/Schumacher, Fleischkonzern umgeht Kartellstrafe, Wirtschaftswoche v. 31.1.2015. 88 Dazu unten, D. III. 1. b) und c). 89 Chmeis, NZKart 2016, S. 564, 565 f. 90 BT-Drucks. 17/9852, S. 34.

244

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

tungsfreiheit Ausfluss der Menschenwürde ist und auf juristische Personen jedenfalls nicht wesensgleich i. S. d. Art. 19 III GG anwendbar ist.91 Auf europäischer Ebene wird die Grenze des Selbstbelastungsverbots nach der Orkem-Entscheidung des EuGH jedenfalls dort gezogen, wo ein Geständnis seitens der Unternehmen faktisch erzwungen wird.92 Somit beschränkt sich die Auskunftsverpflichtung nach Art. 18 VO 1/2003 nicht nur auf tatferne Informationen, sondern umfasst „alle erforderlichen Auskünfte“, die zur effektiven und effizienten Führung eines Kartellsanktionsverfahrens notwendig sind. Dazu gehören auch potentiell tatnahe Daten, die Unternehmen mitunter belasten können. Nicht nachvollziehbar ist daher die Beschränkung des § 81a I GWB auf tatferne Daten, die sich in den Nr. 1 und 2 auf die Umsätze der betroffenen Unternehmen beziehen. Diese tatbestandliche Beschränkung ist im Hinblick auf die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV durch die deutschen Wettbewerbsbehörden und Gerichte bedenklich. Aufgrund der umfangreicheren Auskunftsverpflichtung nach Art. 18 VO 1/2003 können verfahrensrechtliche Unterschiede die Behördenkooperation innerhalb des ECN erschweren, was auch zu Rechtsunsicherheiten bei den betroffenen Unternehmen führen kann.93

III. Im Hinblick auf die verfahrensrechtliche Stellung des BKartA im gerichtlichen Verfahren Weitere verfahrensrechtliche Ineffizienzen im deutschen Recht ergeben sich insbesondere aus der verfahrensrechtlichen Stellung des BKartA in einem gerichtlichen Sanktionsverfahren, obwohl das BKartA auf der internationalen Bühne eine Vorreiterrolle94 bei der Bekämpfung von Kartellen eingenommen hat. Gem. Art. 35 I 1 VO 1/2003 sind die Mitgliedstaaten zur Bestimmung der zuständigen Wettbewerbsbehörden verpflichtet, die die Bestimmungen der VO 1/2003 (also bei der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV) wirksam anwenden. Art. 35 I 1 VO 1/2003 ist auch Ausdruck der vom Primärrecht sowie den Unionsorganen anerkannten mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie, so dass die Bestimmung der Wettbewerbsbehörden und die Ausstattung der jeweiligen Rechte und Befugnisse grundsätzlich den einzelnen Mitgliedstaaten obliegt. Die Grenzen der Verfahrensautonomie sind jedoch dort zu ziehen, wo die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV erschwert wird.95 Die effektive und effiziente Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV kann in diesem Zusammenhang 91

BT-Drucks. 17/9852, S. 35. EuGH v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Rn. 31 ff. – Orkem. 93 Dazu oben, § 4 A. 94 Handelsbatt v. 27.12.2013, „Bundeskartellamt feiert sich selbst“, abrufbar unter http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland /bilanz-bundeskartellamt-feiert-sichselbst/9265640.html (zuletzt aufgerufen am 01.10.2017). 95 Dazu oben, § 5 B. II. 3. 92

B. Nichterfüllung europäischer Vorgaben

245

durch eine schwache Beteiligung der zuständigen Wettbewerbsbehörde im gerichtlichen Sanktionsverfahren gefährdet werden. In diesem Zusammenhang stellte der EuGH in seiner VEBIC-Entscheidung ausdrücklich klar, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden die Möglichkeit haben müssen, sich wirksam an einem nationalen Gerichtsverfahren zu beteiligen, das sich gegen eine von dieser Wettbewerbsbehörde erlassenen Entscheidung richtet.96 Die gegenwärtige rechtliche Stellung des BKartA im gerichtlichen Sanktionsverfahren genügt jedoch nicht diesen Anforderungen des EuGH zur Auslegung des Art. 35 I 1 VO 1/2003.97 Dies hat auch das BKartA moniert und ausgeführt, dass seine Verfahrensstellung insbesondere im gerichtlichen Verfahren zu einer überlangen Verfahrensdauer führen kann, vor allem wenn es um die Würdigung komplexer wirtschaftlicher Sachverhalte geht.98 Das deutsche System des Kartellsanktionsrechts führt aufgrund der Einbettung in das Ordnungswidrigkeitenrecht zu einer gespaltenen Zuständigkeit zwischen BKartA und Staatsanwaltschaft sowohl im behördlichen als auch im gerichtlichen Verfahren. Legen die Unternehmen etwa Widerspruch gegen den vom BKartA erlassenen Bußgeldbescheid ein, verliert das BKartA ad hoc die Zuständigkeit, während sich die Staatsanwaltschaft erneut in den Fall einarbeiten muss. Diese entscheidet sodann aufgrund eigenständiger Ermittlungen, ob sie den Fall gerichtlich überprüfen lässt. Das BKartA wird dann in die Stellung eines Verfahrensbeteiligten ohne ein eigenständiges Fragerecht gedrängt. Das BKartA hat im gerichtlichen Bußgeldverfahren gem. § 82a I GWB lediglich die Möglichkeit, durch einen Vertreter etwaige Fragen an Betroffene, Zeugen und Sachverständige zu richten, wobei das Gericht von dieser Möglichkeit auch absehen kann. Dieser Zustand ist zunächst aus verfahrensökonomischer Sicht misslich. Das BKartA beschäftigt sich mit dem Sachverhalt in der Regel mehrere Jahre und mit dem notwendigen Sachverstand, bevor ein Bußgeldbescheid erlassen wird. Die erneute Einarbeitung der Staatsanwaltschaft, die dann ebenfalls mehrere Monate in Anspruch nimmt, ist eine Wiederholung behördlicher Ermittlungen, die verfahrensrechtliche Ressourcen ohne erkennbaren Mehrwert in Anspruch nimmt. Zudem wird die Staatsanwaltschaft nicht mit der gleichen kartellrechtlichen Fachexpertise wie das BKartA ausgestattet sein, womit eine recht oberflächliche Würdigung komplexer, wirtschaftlicher Sachverhalte einhergeht. Die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV wird de facto auf die Staatsanwaltschaft übertragen, die nach §§ 146, 147 GVG gegenüber den vorgesetzten Staatsanwälten, dem Bundesgeneralanwalt sowie gegenüber dem Bundesminister für Justiz weisungsgebunden ist. Dies ist nicht nur im Hinblick auf die vom EuGH postulierte Stärkung nationaler Wettbewerbsbehörden im gerichtlichen Verfahren bedenklich, sondern darüber hinaus auch im Hinblick auf den RL-Vorschlag der Kommission, der die politische Unabhängigkeit nationaler 96 97 98

EuGH v. 7.12.2010, Rs. C-439/08, Rn. 64 – VEBIC. Chmeis, NZKart 2016, S. 564, 566. Vgl. dazu Klocker/Ost, in: FS Bechtold, 2006, S. 229, 244.

246

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

Wettbewerbsbehörden als zwingende Voraussetzung für dir wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV vorschreibt.99 An diesem rechtlichen Rahmen hat sich auch durch die 9. GWB-Novelle 2017 nichts geändert, da diese hinsichtlich der gerichtlichen Verfahrensstellung des BKartA bedauerlicherweise keine Vorgaben enthält.

C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017: Ein großer Wurf? I. Die These Seit einigen Jahren werden in Deutschland unterschiedliche Ansätze vertreten, um das deutsche Kartellsanktionsrecht wirksamer und europarechtskonform umzugestalten. Während einige Strafrechtler die seit 1952 geführte Debatte über die Kriminalisierung des deutschen Kartellrechts in regelmäßigen Abständen neu anstoßen, gehen neuerdings Überlegungen von Wirtschaftsrechtlern dahin, das deutsche Recht im Hinblick auf europäische Vorgaben verwaltungsrechtsähnlich neu zu strukturieren. Die Vorschläge gehen sogar so weit, das deutsche Kartellsanktionsrecht aus dem Gefüge des tradierten Ordnungswidrigkeitenrechts herauszulösen und in ein Kartellsanktionssystem sui generis in Form eines wirtschaftsaufsichtsrechtlichen Instrumentariums einzubetten.100 Erste Anregungen hierzu fanden sich bereits in einem von K. Schmidt im Jahre 1990 veröffentlichten Beitrag zur Verantwortung von Gesellschaften und Verbänden im Kartellordnungswidrigkeitenrecht. Schon damals stellte er zunehmend in Frage, ob das deutsche OWiG überhaupt für die Bewältigung des Kartellordnungswidrigkeitenrechts gerüstet ist, ohne dabei als Wirtschaftsrechtler gegenüber Strafrechtlern um seine Reputation zu fürchten. Denn „es geht [. . .] nicht an, daß der Mut zum interdisziplinären Gespräch zwischen Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften ohne Seriösitätsbedenken als Leistung honoriert wird, während sich die Rechtsdisziplinen untereinander zunehmend entfremden“.101 Er spielte dabei auf die fehlende „Einheit der Rechtsordnung“ 102 im GWB an, die er bereits in seiner als maßgeblich anzusehenden Habilitationsschrift aus dem Jahr 1977 darzulegen versuchte.103 Nicht das Kartellsanktionsrecht als solches sollte Gegenstand der Betrachtung sein, sondern vielmehr die funktionale Systematik und die Rechts99

Vgl. dazu unten, D. V. Zum Diskussionsstand im deutschen Recht vgl. oben, § 2 D. 101 K. Schmidt, wistra 1990, S. 131, 132. 102 K. Schmidt hat immer wieder den zur Parömie gewordenen Titel der Habilitationsschrift von K. Engisch, „Einheit der Rechtsordnung“, als Arbeitsprogramm aufgegriffen. 103 K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, Kartellverwaltungsrecht, Bürgerliches Recht, 1977, S. 296 ff. 100

C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017

247

technik des GWB insgesamt, die durch unterschiedliche Verbotstatbestände zivilrechtlicher (z. B. Schadensersatzansprüche, Unterlassungsansprüche und vertragliche Unwirksamkeit), verwaltungsrechtlicher (z. B. strukturelle oder verhaltensorientierte Maßnahmen) sowie ordnungswidrigkeitenrechtlicher (insbesondere Bußgelder) Art für eine Kartellrechtspflege insgesamt zu sorgen haben. Im Ausgangspunkt wird man K. Schmidt in seiner Beobachtung wohl zustimmen müssen, dass Ahndungs- und Zwangsmittel im Bereich der Wirtschaftsaufsicht aufgrund der hierdurch bedingten Verwaltungszwangsfunktion kartellbehördlicher Bußgeldbescheide nur theoretisch streng voneinander geschieden werden können. Daher sollte von einer objektiven Wirtschaftsaufsicht erwartet werden, dass sie sich als ein Teil geübten Verwaltungsrechts des Verwaltungszwangs bedient, um die Ge- und Verbote des Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen durchzusetzen. Dass sich das GWB zur Erfüllung dieser Aufgabe des Bußgeldverfahrens bedient, „erweist sich de lege lata bereits deshalb als trügerisch, weil sich Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht im Hinblick auf die Sanktionen gegen juristische Personen und handelsrechtliche Personengesellschaften unterscheiden.“ Von diesen Überlegungen K. Schmidts ausgehend und vor dem Hintergrund des hybriden Charakters kartellsanktionsrechtlicher Maßnahmen darf heute berechtigterweise darüber nachgedacht werden, ob die Besonderheiten der deutschen Kartellrechtspflege zu rechtspolitischem Umdenken zwingen, erst recht dann, wenn nationales Recht durch europäisches Recht überlappt oder gar gänzlich verdrängt wird. Während nämlich nach dem OWiG die Verfolgung von juristischen Personen eher eine Ausnahmeerscheinung bildet, steht diese nach dem GWB im Mittelpunkt.104 Es wäre bereits vor diesem Hintergrund zu kurz gegriffen, Ordnungswidrigkeiten nach dem GWB mit Bagatellverstößen nach dem OWiG gleichzustellen. Vielmehr sollte über eine Emanzipation des Kartellsanktionsrechts von dem tradierten deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht nachgedacht werden. Eine Anlehnung des Kartellsanktionsrechts beispielsweise an das deutsche Verwaltungsrecht würde den Erfordernissen einer effektiven und effizienten Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV eher gerecht, ohne dabei fundamentale verfassungsrechtliche sowie grundrechtliche Prinzipien zu verwässern.105 Wie noch zu zeigen sein wird, ebnet dazu bereits die kürzlich in Kraft getretene und lebhaft umstrittene 9. GWB-Novelle 2017 den Weg, die das deutsche Kartellsanktionsrecht aufgrund europarechtlicher Vorgaben grundlegend veränderte. Beflügelt wird der Gedanke der Emanzipierung des Kartellsanktionsrechts vom OWiG schließlich durch den RL-Vorschlag der Kommission, der bei Umsetzung

104

So auch der Präsident des BKartA Mundt, WuW 2007, S. 458, 459. Erste Anregungen hierzu gab das BKartA, vgl. dazu den Zwischenbericht des Expertenkreises Kartellsanktionsrecht v. 13.1.2015, abrufbar unter: http://www.bundeskar tellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Berichte/AG_Kartellsanktionenrecht_Zwischen bericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017); ausführlich dazu auch unten, D. I. 2. 105

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

durch den europäischen Gesetzgeber eine 10. Novellierung des GWB in absehbarer Zeit notwendig machen wird. Spätestens dann sollte sich der Gesetzgeber über ein neues „institutionelles Design“ bei der Kartellrechtspflege in Deutschland Gedanken machen.

II. Maßgebliche Änderungen durch die 9. GWB-Novelle 2017 Bevor jedoch auf die Einzelheiten der 9. GWB-Novelle 2017 eingegangen wird, die zu einer grundlegenden Änderung der deutschen Dogmatik geführt hat, soll ein kurzer Abriss darüber gegeben werden, welche Bereiche des deutschen Kartellrechts von der Novellierung des GWB betroffen waren. Insgesamt lassen sich drei Schwerpunkte ausmachen: Grundlage und erster Schwerpunkt der 9. GWB-Novelle 2017 war zunächst die Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU), die bis zum 27. Dezember 2016 in deutsches Recht umzusetzen war. Aufgrund einiger Verzögerungen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens trat das neue Gesetz jedoch erst im Juli 2017 in Kraft. Das ausgerufene Ziel der Kartellschadensersatzrichtlinie war die Vereinfachung der Verfahren bei Schadensersatzklagen, damit Unternehmen und Verbraucher als Kartellgeschädigte ihre Schadensersatzansprüche effektiver und effizienter durchsetzen können, wenn sie durch einen Kartellverstoß einen Schaden erlitten haben. Der deutsche Gesetzgeber nahm die Richtlinienumsetzung auch zum Anlass, das deutsche Kartellrecht im Zuge der vorangeschrittenen Digitalisierung der Wirtschaft grundlegend zu modernisieren, namentlich in Bereichen der Fusions- und der Missbrauchskontrolle. Der zweite Schwerpunkt der Novellierung war somit die Anpassung des kartellrechtlichen Ordnungsrahmens an die digitalisierte Wirtschaft, da das digitale Zeitalter mit seinen augenscheinlich rasanten technologischen Entwicklungen neue Herausforderungen an die Wettbewerbspolitik stellt, die in Europa zu bewältigen sind. Die Wettbewerbspolitik wird somit den geänderten Verhältnissen der globalisierten Weltwirtschaft angepasst. Dritter Schwerpunkt und Anlass für diese Untersuchung waren die Änderungen des deutschen Kartellsanktionsrechts als Fortsetzung der 8. GWB-Novelle 2013. Bereits der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 16. Dezember 2013 enthielt seinerzeit den wettbewerbspolitischen Auftrag, die Auswirkungen der 8. GWB-Novelle 2013 auszuwerten und weitere Schritte zur „Straffung des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens“ bei Kartellverstößen zu prüfen.106 Diesem politischen Auftrag ist der deutsche Gesetzgeber jedoch nur im Hinblick auf das behördliche Verfahren nachgekommen. So wurden insbesondere Regelungen hinsichtlich der Unternehmensverantwortlichkeit bei Konzernen 106 Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode v. 16.12.2013, S. 17, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsver trag.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017).

C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017

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sowie der kartellrechtlichen Haftung von rechtlichen und wirtschaftlichen Nachfolgern eingeführt, um die Rechtslücken im deutschen Recht zu schließen, die von Unternehmen geschickt ausgenutzt wurden und die wirksame Durchsetzung des europäischen Kartellrechts gefährdeten (§ 81 IIIa–e GWB n. F.). Zudem wurde eine Regelung hinsichtlich der Ausfallhaftung im Übergangszeitraum eingeführt (§ 81a GWB n. F.). In verfahrensrechtlicher Hinsicht wurde sowohl die Kooperation zwischen Staatsanwaltschaft und BKartA bereits im Vorfeld der Ermittlungen gestärkt (§ 82 S. 2 GWB n. F.) als auch die Auskunftsverpflichtung der am Kartellverfahren beteiligten Unternehmen erweitert (§ 81b GWB n. F.). Bedauerlicherweise finden sich weder im Referenten- und Regierungsentwurf noch in den unterschiedlichen Stellungnahmen des Bundesrates und der betroffenen Verbände Anregungen oder Hinweise hinsichtlich der Straffung des gerichtlichen Kartellbußgeldverfahrens im deutschen Recht, obwohl dies – wie bereits erwähnt – im Koalitionsvertrag vom 16. Dezember 2013 angekündigt wurde. Die kartellrechtliche Praxis der letzten Jahre hat nicht nur Rechtslücken im behördlichen Kartellverfahren offenbart, sondern darüber hinaus auch gezeigt, dass das gerichtliche Kartellsanktionsverfahren aufgrund der Systematik des GWB i.V. m. OWiG und StPO zunehmend schwerfälliger wird. Grund hierfür ist wie bereits erwähnt die gegenwärtige verfahrensrechtliche Stellung des BKartA. Hier hätte der deutsche Gesetzgeber über den § 82 S. 2 GWB n. F. hinaus Regelungen hinsichtlich der gespaltenen Zuständigkeit zwischen BKartA und Staatsanwaltschaft treffen können, um das Verfahren nach Widerspruchseinlegung effizienter und effektiver zu gestalten. Weitere Erschwernisse des gerichtlichen Kartellsanktionsverfahrens ergeben sich auch aus der Systematik und dem Ablauf des gerichtlichen Verfahrens, das aufgrund des OWiG und der StPO von strafverfahrensrechtlichen Prinzipien dominiert wird. Zu untersuchen ist daher, ob die im gerichtlichen Verfahren geltenden strafprozessualen Grundsätze der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit einer verfassungsrechtlich zulässigen Modifikation zugänglich sind, um für den besonderen Gerichtsprozess in Kartellsachen effizientere Verfahrensregeln einzuführen. Diese Fragen, die weder in die 9. GWB-Novelle 2017 noch in den RL-Vorschlag der Kommission Eingang gefunden haben, werden im letzten Abschnitt dieses Kapitels zu beantworten sein.107

III. Angleichung des deutschen Kartellsanktionsrechts an europäische Vorgaben Die einzelnen Änderungen hinsichtlich des deutschen Kartellsanktionsrechts haben zu einer weitgehenden Konvergenz mit europarechtlichen Vorgaben geführt, namentlich in Bereichen der kartellrechtlichen Haftung von Konzernobergesellschaften sowie rechtlicher und wirtschaftlicher Nachfolger von Unter107

Dazu unten, D.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

nehmen (1). Aber auch die Ermittlungsbefugnisse des BKartA hinsichtlich des Auskunftsverlangens wurden an europäische Vorgaben angepasst (2). Nicht gänzlich aufgehoben wurde hingegen die grundsätzliche institutionelle Struktur der Kartellrechtsdurchsetzung durch das OWiG, daher bleibt es im Falle eines Widerspruchs gegen einen Bußgeldbescheid weiterhin bei der gespaltenen Zuständigkeit zwischen BKartA und Staatsanwaltschaft. Jedoch wurden Informationspflichten zwischen beiden Behörden statuiert, um die behördliche Zusammenarbeit effizienter zu gestalten (3). 1. Übernahme der wirtschaftlichen Einheit in das deutsche Kartellsanktionsrecht Durch die 9. GWB-Novelle führt der Gesetzgeber mit § 81 IIIa–e GWB erstmals im deutschen Recht eine an Unternehmen gerichtete Sanktionsmöglichkeit nach dem Vorbild des europäischen Rechts (Art. 23 II VO 1/2003) ein, die mit ausdifferenzierten Tatbeständen in das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht implementiert wurde. Damit werden zwei sich überschneidende Ziele verfolgt: Zum einen soll für die Zukunft verhindert werden, dass sich Unternehmen als Normadressaten den sanktionsbewehrten Verbots- und Gebotsbestimmungen des europäischen und nationalen Kartellrechts entziehen können. Zum anderen sollen mit der Neufassung des Gesetzes europäische Vorgaben erfüllt werden, um eine effektive Rechtsdurchsetzung sicherzustellen.108 a) Einzelheiten zur Neuregelung des § 81 IIIa–e GWB Neben der unternehmensgerichteten Sanktion in § 81 IIIa GWB werden spezielle Regelungen hinsichtlich der Rechtsnachfolge in § 81 IIIb GWB eingeführt. Der damit zusammenhängende Begriff der wirtschaftlichen Kontinuität wird erstmals in § 81 IIIc GWB geregelt. Zudem finden sich in § 81 IIId GWB Regelungen zum Höchstmaß der Sanktion und der Verjährung sowie in § 81 IIIe GWB Regelungen zur gesamtschuldnerischen Haftung. aa) Unternehmensgerichtete Sanktionen gem. § 81 IIIa GWB Mit § 81 IIIa GWB wurde eine unternehmensgerichtete Sanktionsmöglichkeit gegen juristische Personen in das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht eingeführt, die weitestgehend an Art. 23 II VO 1/2003 und die dazugehörige Rechtspraxis der Unionsorgane109 angelehnt ist.110 Die Bestimmung lautet wie folgt:

108 109 110

BT-Drucks. 18/10207, S. 84. Zu der Rechtspraxis der Unionsorgane vgl. oben, § 6 A. II. BT-Drucks. 18/10207, S. 89 f.

C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017

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Hat jemand als Leitungsperson im Sinne des § 30 Absatz 1 Nummer 1 bis 5 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten eine Ordnungswidrigkeit nach den Absätzen 1 bis 3 begangen, durch die Pflichten, welche das Unternehmen treffen, verletzt worden sind oder das Unternehmen bereichert worden ist oder werden sollte, so kann auch gegen weitere juristische Personen oder Personenvereinigungen, die das Unternehmen zum Zeitpunkt der Begehung der Ordnungswidrigkeit gebildet haben und die auf die juristische Person oder Personenvereinigung, deren Leitungsperson die Ordnungswidrigkeit begangen hat, unmittelbar oder mittelbar einen bestimmenden Einfluss ausgeübt haben, eine Geldbuße festgesetzt werden. Diese Bestimmung eröffnet in Anlehnung an Art. 23 II VO 1/2003 die Möglichkeit über § 30 OWiG hinaus, Geldbußen im Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen juristische Personen und Personenvereinigungen festzusetzen, die als wirtschaftliche Einheit operiert und somit ein Unternehmen gebildet haben, an das sich die kartellrechtlichen Ge- und Verbotsnormen richten und dessen Umsatz Bezugspunkt des gesetzlichen Bußgeldrahmens nach § 81 IV S. 2 und 3 GWB ist. Dabei wird die Bußgeldverantwortlichkeit auf die leitenden Konzernobergesellschaften begrenzt, die zum Tatzeitpunkt unmittelbar oder mittelbar einen bestimmenden Einfluss auf die Gesellschaft ausgeübt haben, deren Leitungsperson die kartellrechtliche Zuwiderhandlung begangen hat.111 § 81 IIIa GWB knüpft dabei an das OWiG an, wonach eine Kartellsanktion einen tauglichen Anknüpfungstäter i. S. d. § 30 I Nr. 1–5 OWiG voraussetzt. Somit bleibt auch nach dieser Neuregelung die Ordnungswidrigkeit einer natürlichen Person, die den Pflichtverstoß gegen eine sanktionsbewehrte kartellrechtliche Bestimmung begangen hat, Ausgangspunkt der unternehmensgerichteten Sanktionierung nach § 81 IIIa GWB. Gegen diese natürliche Person als Anknüpfungstäter können dann Kartellsanktionen verhängt werden, wobei ihr die Unternehmenseigenschaft nach § 9 OWiG zugerechnet wird. Der Gesellschaft, für die der Anknüpfungstäter gehandelt hat, wird die Verantwortlichkeit dann auf Grundlage des § 30 OWiG zugewiesen. Mit dieser Gesetzestechnik hat sich der Gesetzgeber entschieden, europäische Vorgaben in das System des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts zu implementieren. Die Besonderheit des § 81 IIIa GWB liegt jedoch darin, dass die Neuregelung über § 30 OWiG hinaus eine sog. Einstandspflicht der lenkenden Muttergesellschaft einführt. Somit löst § 81 IIIa GWB die starre Anbindung an den Rechtsträger, dessen Leitungsperson die Ordnungswidrigkeit unmittelbar begangen hat.112

111 112

BT-Drucks. 18/10207, S. 88. Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 455.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

bb) Gesamtrechtsnachfolge gem. § 81 IIIb GWB Die sog. „Wurstlücke“ offenbarte erhebliche Ahndungslücken im Rahmen der kartellrechtlichen Rechtsnachfolge, wodurch Unternehmen durch geschickte gesellschaftsrechtliche Umstrukturierungsmaßnahmen einer kartellrechtlichen Sanktion entgehen konnten. Obwohl im Rahmen der 8. GWB-Novelle bereits solche Gefahren erkannt wurden, wurde die Gesamtrechtsnachfolge nur partiell in § 30 IIa OWiG geregelt.113 In Fortführung der 8. GWB-Novelle und in Ergänzung zu § 30 IIa OWiG bestimmt § 81 IIIb GWB nunmehr: Im Falle einer Gesamtrechtsnachfolge oder einer partiellen Gesamtrechtsnachfolge durch Aufspaltung (§ 123 Absatz 1 des Umwandlungsgesetzes) kann die Geldbuße nach Absatz 3a auch gegen den oder die Rechtsnachfolger festgesetzt werden. Im Bußgeldverfahren tritt der Rechtsnachfolger oder treten die Rechtsnachfolger in die Verfahrensstellung ein, in der sich der Rechtsvorgänger zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Rechtsnachfolge befunden hat. § 30 Absatz 2a Satz 2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten findet insoweit keine Anwendung. Satz 3 gilt auch für die Rechtsnachfolge nach § 30 Absatz 2a Satz 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten, soweit eine Ordnungswidrigkeit nach § 81 Absatz 1 bis 3 zugrunde liegt. § 81 IIIb GWB schafft somit eine eigenständige Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Kartellsanktionen gegen Rechtsnachfolger im kartellrechtlichen Ordnungswidrigkeitenverfahren. Der Gesetzgeber bezweckt mit dieser Neuregelung ebenfalls eine Angleichung des nationalen Rechts an das unionsrechtliche System der Gesamtrechtsnachfolge, indem er sich auf den in Art. 4 III EUV verankerten effet utile-Grundsatz beruft und die Bußgeldverantwortlichkeit über die ordnungswidrigkeitenrechtliche Rechtsnachfolge des § 30 IIa OWiG und die von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen der „Nahezu-Identität“ 114 hinaus ausdehnt.115 Dies ist auch logische Folge des § 81 IIIa GWB, der die Unternehmensverantwortlichkeit auf die wirtschaftliche Einheit als solche bezieht. Die Verantwortlichkeit wird daher auf die Gesamtrechtsnachfolger juristischer Personen sowie Personenvereinigungen ausgedehnt, gegen die eine Geldbuße nach § 81 IIIa GWB verhängt werden kann. Gesamtrechtsnachfolger juristischer Personen oder Personenvereinigungen, gegen die eine Geldbuße nach § 30 Absatz 1 und 2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten festgesetzt werden kann, können dagegen nach wie vor auf Basis des § 30 Absatz 2a Satz 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten unter Ausschluss des dortigen Satzes 2 zur Verantwortung 113 Zu dem damals neu eingeführten § 30 IIa OWiG und den damit verbundenen Durchsetzungsdefiziten im Rahmen der kartellrechtlichen Gesamtrechtsnachfolge vgl. oben, B. I. 3. 114 Zuletzt BVerfG, Beschluss v. 20.8.2015 – 1 BvR 980/15, Rn. 13; vgl. dazu ausführlich oben, § 7 B. I. 3. 115 BT-Drucks. 18/10207, S. 91.

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gezogen werden, § 81 IIIb S. 4 OWiG. Diese Gesetzessystematik ist darauf zurückzuführen, dass der Adressat einer Kartellsanktion das ganze Unternehmen als wirtschaftliche Einheit ist, was letztendlich dazu führt, dass die Angemessenheit einer Kartellsanktion nicht mehr am einzelnen Rechtsträger, sondern an der wirtschaftlichen Einheit bemessen wird, so dass die Geldbuße gegen den Gesamtrechtsnachfolger mithin den Wert des übernommenen Vermögens übersteigen kann. § 81 IIIb S. 3 OWiG stellt daher klar, dass abweichend von § 30 IIa S. 2 OWiG die dort festgelegte Begrenzung einer gegen den Rechtsnachfolger festsetzbaren Geldbuße keine Anwendung findet. Durch diese Neuregelung soll es Unternehmen nicht mehr möglich sein, sich ihrer bußgeldrechtlichen Haftung durch geschickte gesellschaftsrechtliche Umgestaltungen zu entziehen, wie es etwa beim Wurst-Kartell116 der Fall gewesen ist. cc) Wirtschaftliche Nachfolge gem. § 81 IIIc GWB Neben der Gesamtrechtsnachfolge in § 81 IIIb GWB wird auch die wirtschaftliche Nachfolge durch den neu eigeführten § 81 IIIc GWB geregelt, die ebenfalls Ausfluss des unionsrechtlichen Unternehmensbegriffs ist und später von den Unionsorganen konkretisiert wurde.117 Mit § 81 IIIc GWB wird der von den Unionsorganen entwickelte Begriff der wirtschaftlichen Kontinuität in das deutsche Recht wie folgt übernommen: Die Geldbuße nach § 30 Absatz 1 und 2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten sowie nach Absatz 3a kann auch gegen die juristischen Personen oder Personenvereinigungen festgesetzt werden, die das Unternehmen in wirtschaftlicher Kontinuität fortführen (wirtschaftliche Nachfolge). Für das Verfahren gilt Absatz 3b Satz 2 entsprechend. Nach diesem Grundsatz kommt bei einer konzernexternen Vermögensübertragung – beispielsweise in Form einer Einzelübertragung der betriebsbildenden Vermögensgegenstände (asset deal) – eine Inanspruchnahme des neuen Betreibers in Betracht, sollte der ursprüngliche Betreiber rechtlich wegfallen oder wirtschaftlich nicht mehr existieren. Zudem erfasst die Regelung Fälle der konzerninternen Vermögensübertragung, in denen der kartellbefangene Geschäftsbereich auf einen anderen Rechtsträger innerhalb desselben Konzerns übertragen wird, ohne dass der ursprüngliche Rechtsträger rechtlich oder wirtschaftlich wegfällt. § 81 IIIc GWB erfasst auch die wiederholte bzw. mittelbare Nachfolge. Im Hinblick auf die verfahrensrechtliche Stellung des wirtschaftlichen Nachfolgers gilt § 81 IIIb S. 2 GWB entsprechend (§ 81 IIIc S. 2 GWB). Existiert der Vorgänger in rechtlicher Hinsicht noch fort, so tritt der wirtschaftliche Nachfolger anders als 116 Vgl. dazu Pressemitteilung des BKartA v. 19.6.2016, abrufbar unter: https://www. bundeskartellamt.de/SharedDocs/Meldung/DE/Pressemitteilungen/2016/19_10_2016_ ClemensT%C3%B6nnies_Gruppe_Wurst.html (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017). 117 Vgl. dazu oben, § 6 A. II. 3.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

bei der Rechtsnachfolge im Verfahren nicht an dessen Stelle, sondern als weiterer Beteiligter hinzu. Aus der entsprechenden Anwendung des § 81 IIIb S. 2 GWB ergibt sich indessen, dass die bisherigen Verfahrenshandlungen des Vorgängers auch gegen den wirtschaftlichen Nachfolger wirken.118 dd) Höchstmaß der Sanktion und Verjährung gem. § 81 IIId GWB In § 81 IIId S. 1 GWB finden sich Regelungen zum Höchstmaß der Geldbuße sowie zur Verjährung, die in Fällen des § 81 III a, b und c GWB auf das geltende Recht nach dem OWiG verweisen: In den Fällen der Absätze 3a, 3b und 3c bestimmen sich das Höchstmaß der Geldbuße und die Verjährung nach dem für die Ordnungswidrigkeit geltenden Recht. Die Geldbuße nach Absatz 3a kann selbstständig festgesetzt werden. Die Regelung über das Höchstmaß der Geldbuße orientiert sich also nach § 30 II S. 2 OWiG und sieht vor, dass sich das Höchstmaß nach dem für die Ordnungswidrigkeit angedrohten Höchstmaß der Geldbuße bestimmt. Hinsichtlich der Verjährung gilt § 31 OWiG. Hiernach wird zum einen die Verjährungsfrist festgelegt und zum anderen die Akzessorietät zur Bezugstat im Hinblick auf verjährungsunterbrechende Maßnahmen betont. Diese Vorschrift stellt somit klar, dass die Verjährung von Kartellsanktionen bei Zuwiderhandlungen nach § 81 III a, b und c GWB in das verfahrensrechtliche Gefüge des Ordnungswidrigkeitenrechts implementiert worden ist. Eine Besonderheit für die Festsetzung der Geldbuße nach § 81 IIIa GWB ergibt sich aus § 81 IIId S. 2 GWB, wonach die Geldbuße „selbstständig“ festgesetzt werden kann. Hiermit soll die Möglichkeit geschaffen werden, in Einzelfällen erst ein Verfahren gegen die nach § 30 OWiG verantwortliche Konzernobergesellschaft sowie gegen die handelnde natürliche Person abzuschließen, um sodann ein Verfahren gegen die Muttergesellschaft selbstständig zu führen.119 ee) Gesamtschuldnerische Haftung gem. § 81 IIIe GWB Wird eine Geldbuße gegen das ganze Unternehmen als wirtschaftliche Einheit verhängt, so sind alle Teile dieses Unternehmens in gleicher Weise gegenüber dem Staat verantwortlich. § 81 IIIe GWB regelt daher: Soweit in den Fällen der Absätze 3a, 3b und 3c gegen mehrere juristische Personen oder Personenvereinigungen wegen derselben Ordnungswidrigkeit Geldbußen festgesetzt werden, finden die Vorschriften zur Gesamtschuld entsprechende Anwendung. 118 119

BT-Drucks. 18/10207, S. 92. BT-Drucks. 18/10207, S. 92.

C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017

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Mit dieser Vorschrift können Kartellbehörden und Gerichte wegen einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung die unternehmensbezogene Geldbuße (vgl. § 81 IV und V GWB) grundsätzlich in voller Höhe sowohl gegen die Gesellschaft verhängen, für die der Anknüpfungstäter gehandelt hat, als auch gegen die diese Gesellschaft lenkenden Konzernobergesellschaften sowie deren Nachfolger. Die Gesamtschuld besteht für den einzelnen Rechtsträger jedoch nur insoweit, wie gegen ihn selbst wegen der Ordnungswidrigkeit eine Geldbuße festgesetzt worden ist. Die Erfüllung einer nach dieser Vorschrift festgesetzten Bußgeldforderung durch einen Gesamtschuldner wirkt stets für die übrigen Gesamtschuldner schuldbefreiend und führt somit zum Erlöschen der bestehenden Bußgeldforderungen entsprechend § 422 BGB.120 Haftungsfragen im Innenverhältnis müssen grundsätzlich von den Gesamtschuldnern selbst geregelt werden. Soweit keine Vereinbarungen über Ausgleichansprüche getroffen wurden, ist die Rechtsprechung des BGH zu individuellen Verursachungs- und Verschuldensbeiträgen der Beteiligten sowie zu den für die Bemessung der Geldbuße maßgeblichen Tatsachen heranzuziehen.121 ff) Ausfallhaftung gem. § 81a GWB Zudem wurde die Möglichkeit der Ausfallhaftung für den Übergangszeitraum geschaffen, um entleerenden Vermögensverschiebungen und Umstrukturierungen bis zur vollen Wirksamkeit des neuen Gesetzes entgegenzuwirken. § 81a I GWB ordnet daher an: Erlischt die nach § 30 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten verantwortliche juristische Person oder Personenvereinigung nach der Bekanntgabe der Einleitung des Bußgeldverfahrens oder wird Vermögen verschoben mit der Folge, dass ihr oder ihrem Rechtsnachfolger gegenüber eine nach § 81 Absatz 4 und 5 in Bezug auf das Unternehmen angemessene Geldbuße nicht festgesetzt oder voraussichtlich nicht vollstreckt werden kann, so kann gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen, die zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einleitung des Bußgeldverfahrens das Unternehmen gebildet und auf die verantwortliche juristische Person oder Personenvereinigung oder ihren Rechtsnachfolger unmittelbar oder mittelbar einen bestimmenden Einfluss ausgeübt haben oder die nach der Bekanntgabe der Einleitung des Bußgeldverfahrens Rechtsnachfolger im Sinne des § 81 Absatz 3b oder wirtschaftlicher Nachfolger im Sinne des § 81 Absatz 3c werden, ein Haftungsbetrag in Höhe der nach § 81 Absatz 4 und 5 in Bezug auf das Unternehmen angemessenen Geldbuße festgesetzt werden. 120

BT-Drucks. 18/10207, S. 93. BGH, Urteil v. 18.11.2014, KZR 15/12, BGHZ 203, 193–218, Rn. 32 – Calciumcarbid-Kartell II; EuGH v. 10.04.2014, verb. Rs. C-247/11 P u. C-253/11 P, Rn. 152 – Areva. 121

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

Dieser recht weit formulierte Tatbestand soll Anreize der Unternehmen unterbinden, aufgrund der langen Dauer von Kartellsanktionsverfahren der Festsetzung oder Vollstreckung einer etwaigen Geldbuße durch Vermögensverschiebung oder Umstrukturierung insbesondere in laufenden Verfahren zu entgehen. Aufgrund des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots nach Art. 103 II GG beinhaltet § 81a GWB keinen ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sanktionsvorwurf, sondern knüpft lediglich an Veränderungen im Unternehmen an („Erlöschen“ oder „Vermögensverschiebungen“), die nach Einleitung eines Bußgeldverfahrens eintreten. Rechtsgrund für die Anordnung einer solchen Ausfallhaftung ist somit keine Kartellordnungswidrigkeit, wie etwa in den Fällen des § 81 IIIa–c GWB – sondern vielmehr ein der Tat nachgelagertes Ereignis, namentlich das nach Einleitung eines Bußgeldverfahrens veranlasste Erlöschen einer Gesellschaft oder eine anderweitige Vermögensverschiebung, das die Festsetzung oder Vollstreckung einer Geldbuße vereiteln würde.122 Diese Regelung ist erforderlich, um dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot aus Art. 4 III EUV Rechnung zu tragen und den Vollzug des europäischen Kartellrechts sicherzustellen. Würde nämlich die Festsetzung oder Vollstreckung einer Geldbuße durch solche Veränderungen in laufenden Verfahren ganz oder teilweise vereitelt, wäre eine wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV nicht mehr möglich. b) Stellungnahme und Bewertung der Neuregelung in § 81 IIIa–e GWB Die durch § 81 IIIa–e GWB eingeführten Neuregelungen im deutschen Kartellsanktionsrecht sind aus unterschiedlichen Perspektiven zu durchleuchten und zu beurteilen. Zunächst sind die Neuregelungen im Hinblick auf ein kohärentes Haftungssystem innerhalb des ECN begrüßenswert, da Muttergesellschaften sowie rechtliche und wirtschaftliche Nachfolger fortan nach gleichen Maßstäben zur Haftung herangezogen werden können (aa). Diese Praxis verstößt auch nicht, wie gelegentlich behauptet wird, gegen das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip, da der Gesetzgeber abweichend von zivilrechtlichen Haftungsbeschränkungen im Sanktionsrecht eine andere Wertung vornehmen kann und in manchen Fällen sogar vornehmen muss (bb). Auch die verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf den Schuldgrundsatz sind vor dem Hintergrund des maßgeblichen Grundrechtsschutzes im Kartellsanktionsrecht nicht haltbar (cc). Gleichwohl offenbaren die Neuregelungen des § 81 IIIa–e GWB jene Grundkonflikte zwischen europäischer Einheitsvorstellung und nationalem Souveränitätsdenken, die immer noch eine Herausforderung für die gegenwärtige Kartellrechtspraxis darstellen (dd).

122

BT-Drucks. 18/10207, S. 95.

C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017

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aa) Die Neuregelung im Lichte eines kohärenten Haftungssystems innerhalb des ECN Die mit der 9. GWB-Novelle 2017 verbundene Ausdehnung der Bußgeldverantwortlichkeit auf das ganze Unternehmen als wirtschaftliche Einheit sowie auf die rechtlichen und wirtschaftlichen Nachfolger ist in mehrfacher Hinsicht zu begrüßen. Hiermit wird nicht nur ein seit Jahren geführter Streit über die Übernahme der Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit in das deutsche Kartellrecht beigelegt. Die Neuregelungen sorgen darüber hinaus für Rechtsklarheit und Sicherheit sowohl für die Wettbewerbsbehörden als auch für die betroffenen Unternehmen. Zum einen wird die Kooperation zwischen der Kommission und dem BKartA künftig erleichtert werden, da fortan beide Wettbewerbsbehörden nach gleichen Maßstäben Unternehmen als Haftungsadressaten bei der Bebußung heranziehen werden. Zum anderen müssen Unternehmen künftig nicht mehr fürchten, bei der einen Wettbewerbsbehörde als Haftungsadressat herangezogen zu werden, bei der anderen hingegen nicht. Diese Gefahren bestanden im Rahmen der Fallverteilung jederzeit, insbesondere dann, wenn die Kommission sich für die Bearbeitung des Falles als besser geeignet ansah und den Fall gem. Art. 11 VI VO 1/2003 an sich zog.123 Zudem betonte das BKartA mehrmals, dass ihm die Möglichkeit offen stehe, bei etwaigen Rechtslücken im deutschen Sanktionssystem den Fall an die Kommission zu verweisen.124 Dies gilt auch im Hinblick auf die Bebußung von Muttergesellschaften wegen Verstößen durch die Tochtergesellschaft, sollte die Haftung von Muttergesellschaften nach dem deutschen Recht nicht möglich sein. Diese Überweisungsbefugnis an die Kommission steht dem BKartA nämlich nach der geltenden Netzwerkbekanntmachung zweifelsohne zu.125 Aus verfahrensrechtlicher Sicht ist ein Gleichlauf zwischen dem europäischen und dem deutschen Unternehmensbegriff daher nicht nur geboten, sondern auch längst überfällig. Der Gleichlauf zwischen dem deutschen und dem europäischen Unternehmensbegriff könnte auch Vorbildcharakter für andere Mitgliedstaaten haben, zumal einige Mitgliedstaaten ohnehin bereits den europarechtskonformen Zustand hergestellt haben.126 Nur so lässt sich eine kohärente Anwendung der Art. 101, 123 Zu den verfahrensrechtlichen Unsicherheiten für betroffene Unternehmen, die sich im Rahmen der Fallverteilung innerhalb des ECN stellen, vgl. oben, § 4 C. III. 124 Vgl. etwa Mundt, Präsident des Bundeskartellamts, in der Arbeitssitzung der Studienvereinigung Kartellrecht am 9.11.2011 und beim Internationalen Forum EU-Kartellrecht am 14.3.2012. 125 Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer Verfahrensüberleitung vom BKartA an die Kommission vgl. nur Krohs/Timmerbeil, BB 2012, S. 2447 f. 126 So etwa in Österreich (§ 29 Ziff. 1 KartG), Frankreich (Art. L.420-1 i.V. m. Art. L.465-1, 2 des franz. Code de Commerce), Italien (§ 2 I i.V. m. § 15 I des ital. Gesetzes Nr. 287) und Großbritannien (Sec. 2(1) i.V. m. Sec. 36(1) Competition Act 1998), vgl. dazu auch MK, Sondergutachten 72, Rn. 127.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

102 AEUV durch die Wettbewerbsbehörden und Gerichte innerhalb des ECN sicherstellen. Das europarechtliche Effektivitätsgebot aus Art. 4 III EUV fordert nämlich, dass die europäischen Wettbewerbsvorschriften durch die Mitgliedstaaten wirksam durchgesetzt werden. Hierbei ist das europarechtliche Effektivitätsgebot nicht nur dann betroffen, wenn die effektive und effiziente Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV generell in Frage steht, sondern bereits dann, wenn in bestimmten Fallkonstellationen eine adäquate Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV nicht mehr sichergestellt werden kann. Dies dürfte seit der erfolgreichen Umgehung einer Kartellsanktion durch Unternehmen im Wurst-Kartellfall nicht mehr angezweifelt werden. Die Neuregelungen sind zudem in sanktionspolitischer sowie in präventionsrechtlicher Hinsicht bei der Schaffung eines kohärenten Gesamtsanktionssystems innerhalb des ECN zu begrüßen. Kartellsanktionen orientieren sich primär an präventionsrechtlichen Gesichtspunkten.127 Werden einzelne Rechtsträger zur Verantwortung gezogen, die gleichzeitig Teil eines großen Unternehmens sind, erscheint die Bebußung einzelner Unternehmensteile vor dem Hintergrund der Beherrschungsmacht großer Konzernobergesellschaften nicht sachgerecht, zumal nicht geleugnet werden kann, dass die Früchte des Kartells den Umsatz der gesamten wirtschaftlichen Einheit wesentlich beeinflussen. Weshalb in solchen Fällen die Muttergesellschaft oder rechtliche sowie wirtschaftliche Nachfolger nicht zur Verantwortung gezogen werden sollen, dürfte vor diesem Hintergrund nur schwer zu rechtfertigen sein. In präventionsrechtlicher Hinsicht dürfte die Heranziehung der Mutter- und Nachfolgegesellschaften als Adressaten einer Kartellsanktion die Anreize zur Bildung von Kartellen innerhalb der wirtschaftlichen Einheit schmälern. Konzernobergesellschaften werden künftig daher vermehrt auf Compliance-Programme Wert legen, um etwaige Zuwiderhandlungen durch ihre Tochtergesellschaften zu unterbinden. In diesem Zusammenhang sollte auch über eine bußgeldmindernde Berücksichtigung von Compliance-Programmen innerhalb eines Konzerns nachgedacht werden.128 bb) Die Neuregelung im Lichte des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips Die Neuregelungen in § 81 IIIa–e GWB haben jedoch trotz dessen heftige Reaktionen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung hervorgerufen, wie etwa den Vorwurf, dass die Einführung einer Haftung von Konzernobergesellschaften eine unzulässige Durchbrechung des fundamentalen Trennungsprinzips

127 Zum präventionsrechtlichen Sanktionsgedanken im Kartellrecht vgl. ausführlich oben, § 3 I. 2. 128 Die bußgeldmindernde Berücksichtigung von Compliance-Programmen wird sowohl von der Kommission als auch vom BKartA bisher abgelehnt.

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im Gesellschaftsrecht darstellen würde,129 das gerade auf der zurechnungsrechtlichen Selbstständigkeit juristischer Personen beruhe.130 In der Tat weist sogar die Gesetzesbegründung darauf hin, dass es sich bei der Einführung einer Haftung von Muttergesellschaften für die Kartellverstöße ihrer Tochtergesellschaften um eine bewusste Lösung vom gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip und den Besonderheiten der nationalen Regelungen über die Verantwortlichkeit von juristischen Personen handelt.131 Diese Loslösung vom gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip132 wird sogar missverständlich als Abkehr vom Verantwortungsprinzip hin zu einer mittelalterlichen „Sippenhaftung“ 133 deklariert, ohne dabei in Erwägung zu ziehen, den Sinn und Zweck des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips zu hinterfragen, der gerade darin besteht, natürliche Personen vor einer persönlichen Haftung gegenüber der Gesellschaft zu schützen, um das Zusammenwirken und die gemeinsame Zweckverfolgung natürlicher Personen zu erleichtern. Dieser Sinn lässt sich, wenn überhaupt, nur bedingt auf große Konzernstrukturen übertragen, wenn Konzernobergesellschaften für kartellrechtliche Zuwiderhandlungen der Töchter zur Bußgeldverantwortung herangezogen werden. In der Regel sind natürliche Personen hiervon nicht betroffen. Zudem wäre eine unreflektierte Anwendung des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips außerhalb des Gesellschaftsrechts, vor allem im Kartellsanktionsrecht, das einer zunehmenden Hybridisierung unterschiedlicher Rechtsregime und Rechtsquellen ausgesetzt ist, viel zu kurz gegriffen, zumal das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip in besonderen Situationen des Kartellrechts zu Rechtsfolgen führen würde, die von der Rechtsordnung nicht gebilligt werden. Dies hat die Wurstlücke mittlerweile hinreichend zum Ausdruck gebracht, die es Unternehmen ermöglicht hat, sich der bußgeldrechtlichen Verantwortung aufgrund gesellschaftsrechtlicher Umstrukturierung zu entziehen. Abgesehen von den Rechtslücken im deutschen Recht, die bei einem starren Festhalten an dem gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip unvermeidbar wären, kann und darf im Kartellsanktionsrecht nicht ohne weiteres auf zivilrecht129 Vgl. dazu etwa Gehring/Kasten/Mäger, CCZ 2013, S. 1, 5 f.; Voet van Vormizeele, WuW 2010, S. 1008, 1018 f.; Kling, ZWeR 2011, S. 170, 180 f.; Suchsland/Rossmann, NZKart 2016, S. 342, 343; vgl. auch das vom BDI beauftragte Gutachten zur 9. GWB-Novelle: Thomas/Brettel, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016, S. 26 ff. 130 Zum gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip vgl. etwa Heider, in: MüKoAktG, 4. Aufl., 2016, § 1 Rn. 47. 131 BT-Drucks. 18/10207, S. 88. 132 Teilweise wird sogar in Frage gestellt, ob es sich überhaupt um eine Abkehr vom gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip handelt, da nach § 81 IIIa GWB nicht sämtliche Anteilseigner, sondern vielmehr nur die beherrschenden Gesellschaften einbezogen werden, die einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten ausüben und die konzerninterne Ausgestaltung weitgehend bestimmen können, vgl. dazu etwa Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 455. 133 So etwa Brettel/Thomas, WuW 2016, S. 336, 337.

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liche Figuren zurückgegriffen werden, die der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben entgegenstünden. Der Gesetzgeber ist befugt und sogar unter Umständen auch verpflichtet, die Person des zu ahndenden Verbandes im Kartellsanktionsrecht nach dem europäischen Vorbild neu zu definieren, und das abweichend von zivilrechtlichen Grundsätzen des nationalen Rechts. Dem stehen auch keine verfassungsrechtlichen Vorbehalte entgegen, da keine verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers an das im Gesellschafts- und Zivilrecht geltende System der juristischen Person besteht.134 Der Gesetzgeber ist bei der Formulierung des Sanktionsrechts somit keineswegs an die Wertungen des Zivil- und Gesellschaftsrechts gebunden.135 Vielmehr kann der Gesetzgeber im Kartellsanktionsrecht eine von gesellschaftsrechtlichen Prinzipien losgelöste und eigenständige Regelung treffen. Das hat auch der BGH im Fall Versicherungsfusion regelrecht angemahnt, als er zutreffend erkannt hat, dass Rechtslücken in der kartellrechtlichen Nachfolgehaftung durch Unternehmen gezielt ausgenutzt werden können, um eine drohende bußgeldrechtliche Sanktion durch die gezielte Wahl gesellschaftsrechtlicher Gestaltungen zu umgehen. Eine Ausdehnung der bußgeldrechtlichen Haftung auf Rechtsnachfolger kann nämlich nur von dem Gesetzgeber vorgenommen werden, der auch ihre Grenzen festzulegen hätte.136 Dieser Verpflichtung ist der deutsche Gesetzgeber nunmehr durch die § 81 IIIa–e GWB nachgekommen. cc) Die Neuregelung im Lichte des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips Neben gesellschaftsrechtliche werden in Bezug auf die Neuregelungen vor allem auch verfassungsrechtliche Vorbehalte geäußert. So soll die Einführung einer Konzernhaftung nach § 81 IIIa GWB gegen den verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatz verstoßen. Jedoch gilt auch hier, dass bei der Bestimmung der Grundrechtmäßigkeit des Kartellsanktionsrechts ein ausschließlicher Rückgriff auf nationale Verfassungsgrundsätze zu kurz gegriffen ist. Die Annahme, bei § 81 IIIa GWB liege ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz vor, basiert vermutlich auf dem Rückschluss, bei dem OWiG handele es sich um ein nationalrechtliches Rechtsgebiet, das ausschließlich anhand nationaler Grundrechte zu messen ist. Dieser Annahme stünde grundsätzlich nichts entgegen. Jedoch sind europäische Vorgaben eng mit dem OWiG verzahnt, so dass die Kartellrechtsdurchsetzung sich im Wirkungsfeld der GRC bewegt, sowohl im Hinblick auf die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV als auch im Hinblick auf die Anwendung rein nationalen Kartellrechts durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Dies gilt erst recht dann, wenn der RL-Vorschlag der Kommission künftig in nationales Recht 134

Dazu Dannecker/Dannecker/Müller, ZWeR 2013, S. 417, 428. Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 456. 136 BGH Beschluss v. 10.8.2011 – KRB 55/10, Rn. 29, WuW/E DE-R 3455, 3459 – Versicherungsfusion. 135

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umgesetzt wird, da in diesem Falle die kartellrechtlichen Bestimmungen ausschließlich nach der GRC zu messen sind. Soweit also in der deutschen Literatur wiederholt die Verfassungswidrigkeit einer unternehmensgerichteten Sanktionierung vorgetragen wird, liegt dem eine irrige Annahme über den richtigen Grundrechtsmaßstab im Kartellverfahren zugrunde. Zudem wird keine Haftung für fremdes Verschulden eingeführt, wie von Teilen der Literatur wiederholt kritisiert wird. Vor allem Thomas137, zuletzt zusammen mit Brettel138, vertritt vehement die Auffassung der Verfassungswidrigkeit des § 81 IIIa GWB mit der Begründung, dass ein Bußgeld gegen juristische Personen aufgrund des strafähnlichen Charakters einer Kartellsanktion nicht schuldunabhängig festgesetzt werden darf. Auch dieser Auffassung liegt die irrige Annahme zugrunde, dass es sich bei der Einstandspflicht der Mutter- gegenüber der Tochtergesellschaft um eine akzessorische Haftung für fremdes Verschulden handele, die durch eine rein gesellschaftsrechtliche Betrachtung des einzelnen Rechtsträgers bedingt sein dürfte.139 Der deutsche Gesetzgeber hat sich jedoch bewusst für eine Loslösung vom gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip und den Besonderheiten der nationalen Regelungen über die Verantwortlichkeit von juristischen Personen (insb. §§ 30, 130 OWiG) entschieden, um gerade europäische Vorgaben erfüllen zu können.140 Eine verfassungsrechtliche Beurteilung hat ohnehin – wie bereits ausgeführt – losgelöst von gesellschaftsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten zu erfolgen.141 Daher sind auch die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neuregelung in § 81 IIIa GWB nicht haltbar. dd) Die Neuregelung zwischen europäischer Konvergenz und deutschem Systemdenken: Eine Herausforderung für die kartellrechtliche Praxis? Die vorstehenden Regelungen zur Übernahme der von den Unionsorganen entwickelten Rechtsfigur zur wirtschaftlichen Einheit wurden in Deutschland lange Zeit vor der 9. Novellierung des GWB lebhaft diskutiert. Dies erkennt man bereits an den vorherigen Novellierungen des GWB, durch die eine Übernahme europäischer Vorgaben nur partiell erfolgte. In aller Regel hat sich die deutsche Rechtsdogmatik des OWiG als Hauptursache für diese partielle und unvollständige Angleichung des Kartellsanktionsrechts erwiesen, die einer „Übernahme der Merkmale, die an das europäische Konzept und die Rechtsprechung der Unions137 Vgl. dazu Thomas, KSzW 2 (2011) 1, S. 10, 12 f.; ders., Journal of European Competition Law & Practice 2012, S. 11 ff. 138 Vgl. das vom BDI beauftragte Gutachten zur 9. GWB-Novelle: Thomas/Brettel, Compliance und Unternehmensverantwortlichkeit im Kartellrecht, 2016, S. 53 ff. 139 Vgl. zutreffend Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 456 f. 140 BT-Drucks. 18/10207, S. 88. 141 Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 456.

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gerichte anknüpfen“ 142, häufig im Wege stand. So wurde bereits frühzeitig versucht, die Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit in das tradierte System des OWiG einzufügen, doch erwiesen sich diese Bemühungen oftmals als trügerisch. So wurde bei der Bestimmung der Bußgeldhöchstgrenze bereits vor der 9. GWBNovelle 2017 gem. § 81 IV S. 2 und 3 GWB auf die Umsätze der wirtschaftlichen Einheit abgestellt, ohne die wirtschaftliche Einheit als Sanktionsadressaten heranzuziehen. Diese unvollkommene Rechtsangleichung drängte freilich zu der Überlegung, die Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit schon damals durch eine unionsrechtskonforme Auslegung in das deutsche Kartellsanktionsrecht hineinzulesen.143 Dieser Gedanke vertrug sich jedoch nicht mit der Einbettung des Kartellsanktionsrechts in das deutsche Sanktionsregime, das nach §§ 30, 130 OWiG eine Bußgeldverantwortlichkeit einer leitenden Person oder eine Aufsichtspflichtverletzung einer Konzernobergesellschaft voraussetzt.144 Diesen schwierigen Spagat zwischen GWB und OWiG versucht der Gesetzgeber der 9. GWB-Novelle 2017 nunmehr dadurch zu lösen, indem nicht jede Handlung eines Mitarbeiters, der innerhalb seines Aufgabenbereichs für das Unternehmen tätig ist, eine Bußgeldverantwortlichkeit auslöst. Vielmehr muss – wohlgemerkt entgegen der europäischen Rechtspraxis – eine Leitungsperson i. S. d. § 30 Nr. 1–5 OWiG gehandelt haben. Damit handelt es sich bei § 81 IIIa GWB nicht um eine verschuldensunabhängige Erfolgshaftung von Konzernunternehmen, wie gelegentlich von Teilen der Literatur im Hinblick auf das Unionsrecht suggeriert wird.145 Ein Bußgeld droht nach der Neufassung des Gesetzes nur dann, wenn ein Fehlverhalten einer Leitungsperson im Unternehmen nachweisbar ist.146 Gleichwohl scheinen auch hier die Bemühungen des deutschen Gesetzgebers um bestmögliche verfahrensrechtliche Konvergenz abermals an Grenzen der deutschen Dogmatik nach dem OWiG zu stoßen, die einer Übernahme der Merkmale, die an das europäische Konzept und die Rechtsprechung der Unionsgerichte anknüpfen, im Wege stehen. Dies wird vor allem daran deutlich, dass eine horizontale bußgeldrechtliche Haftung in der wirtschaftlichen Einheit – auch hier abweichend vom Unionsrecht – ausgeschlossen ist, also ein Kartellverstoß nicht zwischen Schwestergesellschaften zugerechnet werden kann. Die Neuregelung in § 81 IIIa GWB knüpft an die Voraussetzung an, dass die Konzernobergesellschaft auf die Tochtergesellschaft einen „bestimmenden Einfluss“ ausgeübt ha142 Dies war jedenfalls das ausgerufene Ziel der 9. GWB-Novelle 2017, vgl. dazu BT-Drucks. 18/10207, S. 86. 143 Vgl. dazu nur Ackermann, ZWeR 2010, S. 329, 345. 144 Vgl. Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 450 f., die in § 30 OWiG einen ungeeigneten „deutschen Sonderweg“ sehen, der zu erheblichen Ahndungslücken führt. 145 Achenbach, ZWeR 2009, S. 3, 8; Bauer/Anweiler, ÖZK 2011, S. 71, 78; Brettel/ Thomas, ZWeR 2009, S. 25, 53 ff.; Meyring, WuW 2010, S. 157, 168; Möschel, DB 2010, S. 2377; Thomas, KSzW 2 (2011) 1, S. 10, 12 f. 146 Vgl. dazu auch die Stellungnahme des BKartA zum Referentenentwurf zur 9. GWB-Novelle, 25.5.2017, S. 7.

C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017

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ben muss. Die Bußgeldverantwortlichkeit wird damit auf lenkende Konzernobergesellschaften begrenzt, die unmittelbar oder mittelbar einen „bestimmenden Einfluss“ auf die Gesellschaft ausgeübt haben, deren Leitungsperson die kartellrechtliche Zuwiderhandlung begangen hat. Dies ist laut Gesetzesbegründung bei Schwestergesellschaften regelmäßig nicht der Fall.147 Demgegenüber ist in der europäischen Rechtspraxis auch bei Schwestergesellschaften eine wechselseitige Zurechnung unternehmerischen Verhaltens möglich,148 wenn die Gesellschaften zu derselben wirtschaftlichen Einheit gehören.149 Voraussetzung ist jedoch, dass die eine Schwester- gegenüber der anderen Schwestergesellschaft weisungsbefugt ist oder bestimmte Koordinierungsaufgaben übernimmt.150 Dass in manchen Fällen eine Schwestergesellschaft gegenüber der anderen Schwestergesellschaft aber als de facto-Muttergesellschaft agieren kann, erkennt jedoch selbst die Gesetzesbegründung.151 Diese Abweichung vom EU-Recht wurde prompt als Anlass genommen, dem Gesetzgeber Inkonsistenz bei der Einführung einer einheitlichen Konzernhaftung zu attestieren.152 Der Gesetzgeber schweigt zudem hinsichtlich der Frage, unter welchen konkreten Haftungsvoraussetzungen der „bestimmende Einfluss“ einer Konzernobergesellschaft vorliegt. Er stellt zunächst in Anlehnung an die europäische Rechtsprechung darauf ab, dass die Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Einheit (und damit eines „Unternehmens“) vorliegen, wenn die betreffenden Gesellschaften kapitalmäßig derart miteinander verflochten sind, dass dadurch die Möglichkeit einer einheitlichen Leitung eröffnet wird und diese Leitung auch tatsächlich ausgeübt wird.153 Hinsichtlich der Ausübung eines „bestimmenden Einflusses“ stellt die Gesetzesbegründung hingegen generalklauselartig auf die Unternehmensstrategie, Betriebspolitik, Betriebspläne, Investitionen, Kapazitäten, Finanzausstattungen, Personalwesen und Rechtsangelegenheiten ab,154 ohne näher zu bestimmen, was hierunter konkret zu verstehen ist. Dies ist insofern bedenklich, als solche Gesichtspunkte in der Praxis der Unionsorgane von Fall zu Fall variie-

147

BT-Drucks. 18/10207, S. 89. Dazu MK, Sondergutachten 72, S. 11, 12 m.w. N. zur Rechtsprechung des Gerichtshofs; vgl. auch Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 449. 149 Vgl. dazu EuGH v. 2.10.2003, Rs. C-196/99 P, Slg. 2003, I-11005, Rz. 91 ff., insb. 98 f. – Aristrain; EuGH v. 28.6.2005, Rs. C-189/02 P u. a., Slg. 2003, I-11005, Rz. 91 ff., insb. 98 f. – Dansk Rørindustri. 150 EuG v. 27.9.2006, Rs. T-43/02, Slg. 2003, I-11005, Rz. 91 ff., insb. 98 f. – Jungbunzlauer. 151 BT-Drucks. 18/10207, S. 90, mit Verweis auf das Urteil des EuGH v. 10.7.2010, Rs. C-407/08 P, Slg. 2010, I-6375, Rn. 106 ff. – Knauf Gips. 152 Vgl. etwa Brettel/Thomas, WuW 2016, S. 336, 338; kritisch auch Weck, WuW 2016, S. 404, 406. 153 BT-Drucks. 18/10207, S. 89 m.w. N. zur Rechtsprechung des Gerichtshofs. 154 BT-Drucks. 18/10207, S. 89. 148

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

ren können und nicht abschließend geklärt sind.155 Problematisch ist auch die Frage, ab wann eine kapitalmäßige Verbundenheit zwischen den Gesellschaften vorliegt, um überhaupt von einer wirtschaftlichen Einheit zu sprechen. Auch hier ist die Praxis der Unionsorgane sehr unterschiedlich. Eine solche Verbundenheit wird nach der gegenwärtigen Rechtspraxis der Unionsorgane angenommen, wenn eine 100-prozentige Beteiligung der Mutter- an der Tochtergesellschaft vorliegt. Dann wird widerleglich vermutet, dass die Mutter einen bestimmenden Einfluss auf die Tochter ausüben kann.156 Eine Übernahme dieser sog. Akzo-Vermutung in das deutsche Kartellsanktionsrecht sieht die Gesetzesbegründung jedoch ausdrücklich nicht vor. Dies wird damit begründet, dass diese Rechtsprechung europarechtsspezifisch sei, so dass bei der Bestimmung des „bestimmenden Einflusses“ i. S. d. § 81 IIIa GWB deutsches Recht als Maßstab anzulegen sei.157 Es wird sodann wertungsgemäß auf die Besonderheiten des deutschen Kartellsanktionsrechts nach dem OWiG abgestellt, wonach es bei dem Nachweis eines „bestimmenden Einflusses“ der vollen tatrichterlichen Überzeugung bedarf.158 Auch an dieser Stelle scheint der Versuch des Gesetzgebers durch, europäische Rechtsfiguren in das eng geschnürte Korsett des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts hineinzupressen, dessen verfassungsrechtliche Schnüre europarechtliche Figuren zu deformieren drohen. Es kann mithin nicht überzeugen, wenn der Gesetzgeber an der einen Stelle einräumt, dass die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV neben der wirtschaftlichen Einheit die Übernahme der „Merkmale erfordert, die an das europäische Konzept und die Rechtsprechung der Unionsgerichte anknüpfen“ 159, an anderer Stelle jedoch die Übernahme des entscheidenden Merkmals der wirtschaftlichen Einheit, nämlich der Akzo-Vermutung, ablehnt.160 Diesen Wertungswiderspruch versucht der Gesetzgeber dadurch aufzulösen, indem er auf den vom BGH entwickelten Grundsatz der tatrichterlichen Überzeugung unter Heranziehung von Erfahrungssätzen abstellt, so dass letztendlich der „bestimmende Einfluss“ und somit das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit vom Grad der Wahrscheinlichkeit abhängt, den der jeweilige Erfahrungssatz beinhaltet.161 So soll also in Fällen, in denen eine deutliche Mehrheit der Anteile gehalten wird, eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür vorliegen, dass die Geschäftspolitik der betreffenden Gesellschaft durch die Mehrheitsanteilseignerin (also 155 Dazu Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Bd. 1: EU/Teil 2, Kommentar zum Europäischen Kartellrecht, Vor Art. 23, Rn. 92. 156 EuGH v. 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Slg. 2009, I-8237 – Akzo Nobel. 157 BT-Drucks. 18/10207, S. 90. 158 BT-Drucks. 18/10207, S. 90 mit Verweis auf Raum, in: Langen/Bunte (Hrsg.), 12. Aufl., § 81, Rn. 167. 159 BT-Drucks. 18/10207, S. 86. 160 BT-Drucks. 18/10207, S. 90. 161 BT-Drucks. 18/10207, S. 90, mit Verweis auf BGH, Urteil vom 28.6.2005, Az. KRB 2/05, juris-Rn. 20 – Berliner Transportbeton; vgl. auch BGH, Urteil vom 16.5. 2002, 1 StR 40/02, NStZ 2002, 636, (656).

C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017

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durch die Muttergesellschaft) bestimmt wird. So kann beispielsweise bei einer 89- bis 100-prozentigen Beteiligung durchaus auf das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit geschlossen werden.162 Das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit wird somit von Erfahrungsgrundsätzen abhängig gemacht, die dem Grunde nach nicht wesentlich anders zu beurteilen sind als die Akzo-Vermutung, die durch Unternehmen, wie bei der tatrichterlichen Überzeugung, widerlegt werden kann.163 Diese rechtsdogmatische Entscheidung des Gesetzgebers ist auf das Sanktionssystem des OWiG zurückzuführen und enthält ein nicht zu unterschätzendes Potential für die Bildung von weiteren Rechtslücken, die der Gesetzgeber gerade schließen wollte. Durch die Übernahme des Begriffs der wirtschaftlichen Einheit in § 81 IIIa GWB stellt sich zudem die Frage nach der künftigen Auslegung der 10-ProzentObergrenze i. S. d. § 81 IV S. 2 GWB, die bedauerlicherweise im Gesetzgebungsverfahren nicht vertieft behandelt wurde. Nach der geltenden Fassung des § 81 IV S. 2 GWB kann die Geldbuße bis zu 10 Prozent des im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung betragen. Der Gesetzgeber der 7. GWB-Novelle 2005 ging bei dieser 10-Prozent-Regel in Anlehnung an die europarechtliche Vorschrift des Art. 23 II S. 1 VO 1/2003 offenbar von einer Kappungsgrenze aus, während der BGH kürzlich durch sein Grauzement-Urteil164 die Auslegung der Vorschrift als Bußgeldobergrenze bestätigt hat. Die gegenteilige Deutung durch den Gesetzgebers als Kappungsgrenze steht wohl mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG nicht in Einklang, wonach der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafund Ahndbarkeit so genau umschreiben muss, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind.165 Jedoch ist der deutsche Gesetzgeber auch hier verpflichtet, bei der Bußgeldbemessung effektive Sanktionsmechanismen für Kartellrechtsverstöße vorzusehen, die dem Effektivitätsgebot des Art. 4 III EUV entsprechen. Dies wird vor dem Hintergrund der Übernahme der Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit in das deutsche Kartellsanktionsrecht wohl erst recht gelten. Mit der Anwendung der wirtschaftlichen Einheit im deutschen Sanktionsrecht wird das künftige Verständnis der 10-Prozent-Regel i. S. d. § 81 IV S. 2 GWB bedeutsam. Die Auslegung des § 81 IV S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze mag zwar aus deutscher Sicht rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen, gefährdet allerdings einmal mehr die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV in nicht unerheblicher Weise. Diese Frage wird weiteren Nährboden für die Entdeckung von Rechtslücken und das Aufkommen von Rechtsunsicherheiten bieten.166 Ob sich die 162 163 164 165 166

BT-Drucks. 18/10207, S. 90. In diesem Sinne wohl auch Ost/Kallfaß/Roesen, NZKart 2016, S. 447, 449. BGH Urteil v. 26.2.2013 = NZKart 2013, S. 195, 197, Rn. 50 ff. Dazu Bechtold/Bosch, GWB-Kommentar, § 81, Rn. 29 f. Chmeis, Ad Legendum 02/2017, S. 172, 176.

266

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

Rechtsprechung des BGH mit der 9. GWB-Novelle vertragen wird, bleibt ebenfalls abzuwarten. 2. Erweiterung von Auskunftspflichten im behördlichen Sanktionsverfahren a) Die Neufassung des § 81b GWB Die Reform des deutschen Kartellsanktionsrechts durch die 9. GWB-Novelle 2017 betrifft nicht nur die Übernahme und Auslegung bestimmter materieller Rechtsfiguren aus dem Unionsrecht, sondern auch die Anpassung von behördlichen Ermittlungsbefugnissen bei der Durchsetzung des Kartellrechts. Dabei geht es vornehmlich um die Ergänzung und Erweiterung des Anwendungsbereichs der Auskunftspflichten von Unternehmen im Ermittlungsverfahren. Anlass für die Einführung solcher Informationspflichten ist die Tatsache, dass sowohl im Verwaltungs- als auch im gerichtlichen Verfahren die Sachverhaltsaufklärung aufgrund der Komplexität kartellrechtlicher Sachverhalte sehr zeitaufwendig ist.167 Deswegen zählen die Wettbewerbsbehörden auf die Kooperation seitens der Unternehmen, wie etwa im Rahmen des Kronzeugen- oder Settlement-Verfahrens. Diese setzen jedoch eine einvernehmliche Streitbeilegung zwischen Wettbewerbsbehörden und Unternehmen voraus. Bei streitigen Verfahren ist es unterdessen notwendig, Unternehmen zur Herausgabe von Informationen zu verpflichten, um den Sachverhalt rasch aufzuklären. Auf europäischer Ebene gibt Art. 18 VO 1/2003 der Kommission umfangreiche Befugnisse an die Hand, die teilweise weitergehen als die deutsche Regelung in § 81a GWB a. F. Durch diese Norm wurden im Rahmen der 8. GWB-Novelle 2013 erstmals Auskunftspflichten statuiert, die sich auf umsatzbezogene Daten beziehen, wie etwa zur Berechnung der 10Prozent-Obergrenze des § 81 IV S. 2 GWB sowie zur Berechnung von Marktumsätzen. Die Begrenzung der Auskunftspflichten auf umsatzbezogene Daten wurde bereits im Rahmen der 8. GWB-Novelle als unzureichende Umsetzung europäischer Vorgaben kritisiert.168 Daher wurde der Anwendungsbereich der Auskunftsverpflichtung im Rahmen der 9. GWB-Novelle 2017 nunmehr durch § 81b GWB im Sinne des europäischen Pendants in Art. 18 VO 1/2003 ausgedehnt. Der bisherige § 81a GWB wurde durch den neuen § 81b GWB ersetzt. Zu den neuen Auskunftspflichten gehören zum einen Informationen über die Unternehmensstruktur (Nr. 3). Diese betreffen gesellschaftliche Verbindungen, insbesondere Beteiligungsverhältnisse, Gesellschafts- und Unternehmensverträge. Ferner müssen Unternehmen künftig Auskünfte über Gesellschafterrechte und Gesellschaf167 Ost, in: Bien (Hrsg.), Das deutsche Kartellrecht nach der 8. GWB-Novelle, S. 305, 324. 168 So etwa Ost, in: Bien (Hrsg.), Das deutsche Kartellrecht nach der 8. GWB-Novelle, S. 305, 326.

C. Lösungsansätze durch die 9. GWB-Novelle 2017

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tervereinbarungen sowie deren Ausübung, Geschäftsordnungen und Sitzungen von Beratungs-, Aufsichts- und Entscheidungsgremien auf Verlangen des BKartA erteilen. Zudem müssen Unternehmen künftig Auskünfte über Nachfolgekonstellationen gewähren (Nr. 4), wie etwa die Übertragung und den Erhalt von Vermögenswerten sowie Veränderungen der rechtlichen Ausgestaltung eines Unternehmens. b) Vereinbarkeit mit dem nemo tenetur-Grundsatz Eine solche Ausdehnung von Informationspflichten auf Fragen von Unternehmensstrukturen sah bereits der Referentenentwurf zur 8. GWB-Novelle 2013 vor,169 der aber seinerzeit die Ressortabstimmung nicht überstand. Die damalige Zurückhaltung des Gesetzgebers bei der Ausdehnung von Ermittlungsbefugnissen des BKartA war offenkundig dem nemo tenetur-Grundsatz geschuldet, der auch im deutschen Bußgeldrecht nach dem OWiG zu beachten ist. Jedoch war eine solche Zurückhaltung nicht geboten, da nach dem BVerfG die Selbstbelastungsfreiheit in einem tragenden Zusammenhang mit der Menschenwürde steht und daher auf juristische Personen nicht wesensgleich i. S. d. Art. 19 III GG anwendbar ist.170 Auf europäischer Ebene hat der EuGH in seiner Orkem-Entscheidung das Recht der Unternehmen auf Selbstbelastungsfreiheit darauf beschränkt, dass kein Geständnis einer Zuwiderhandlung erzwungen werden darf.171 Hingegen seien Dokumente, die zum Beweis eines Kartellverstoßes genutzt werden können, herauszugeben.172 Vor diesem Hintergrund ist die Ausdehnung von Informationspflichten auf Unternehmensstrukturen und Nachfolgekonstellationen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Gleichwohl beschränkt sich § 81b GWB weiterhin auf tatferne Informationen,173 die hinter den weiten Ermittlungsbefugnissen der Kommission nach Art. 18 VO 1/2003 zurückstehen. So könnte beispielsweise die Auskunftsverpflichtung auch auf tatnahe Informationen ausgedehnt werden, ohne das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit zu verletzen. Die Grenze ist nach dem europäischem Pendant jedenfalls dort zu ziehen, wo ein Geständnis faktisch erzwungen wird. Trotz der noch bestehenden marginalen Unterschiede zwischen dem deutschen und europäischen Recht wurden die Ermittlungsbefugnisse des BKartA an die Befugnisse der Kommission weiter angeglichen, um die Behördenkooperation innerhalb des ECN effektiver und effizienter zu gestalten. So können Informationen, die im Rahmen des Ermittlungsverfahrens durch das BKartA erhoben werden, wesentlich leichter an andere nationale

169

RefE 8. GWB-Novelle v. 10.11.2011, S. 17. BVerfG, Urteil vom 30.6.2009, BVerfGE 95, 220 (241). 171 EuGH v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Rn. 31 ff. – Orkem. 172 EuGH v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Rn. 27 – Orkem; ebenso EuGH v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, Rn. 44, 48. – SGL Carbon. 173 BT-Drucks. 18/10207, S. 99. 170

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

Wettbewerbsbehörden, die gleiche verfahrensrechtliche Standards aufweisen, oder an die Kommission weitergeleitet werden. Dies dient letztlich der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des ECN. 3. Kooperation zwischen BKartA und Staatsanwaltschaft a) Die Neufassung des § 82 GWB Die 9. GWB-Novelle 2017 sieht auch eine Stärkung der Verfahrensstellung des BKartA bei der Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft gem. § 82 GWB vor.174 Durch die Anfügung von Satz 2 und 3 werden gegenseitige Informationspflichten zwischen dem BKartA und der Staatsanwaltschaft begründet, um etwaige Maßnahmen beider Behörden aufeinander abzustimmen. Diese verfahrensrechtliche Kooperation ist vor dem Hintergrund der kartellrechtlichen Besonderheit der gespaltenen Zuständigkeit zwischen BKartA und Staatsanwaltschaft nicht nur verfahrensökonomisch sinnvoll, sondern auch dringend geboten. Nach § 82 S. 1 GWB ist die Kartellbehörde für das Verfahren bei der Festsetzung einer Geldbuße gem. §§ 81 GWB, 130 OWiG in Fällen ausschließlich zuständig, in denen eine Straftat verwirklicht ist. Daher muss die Staatsanwaltschaft schon frühzeitig die Kartellbehörde über getroffene Maßnahmen informieren, um etwaige Beweisverluste im Ermittlungsverfahren zu verhindern.175 b) Stellungnahme Der Gesetzgeber der 9. GWB-Novelle 2017 hat somit weiterhin an der gespaltenen Zuständigkeit zwischen BKartA und Staatsanwaltschaft festgehalten, die dem hybriden Charakter des deutschen Kartellsanktionsverfahrensrechts geradezu immanent ist. Legen Unternehmen gegen den Bußgeldbescheid des BKartA Einspruch ein, geht die Zuständigkeit als Verfolgungsbehörde auf die Staatsanwaltschaft über. Das BKartA muss ohnehin nach § 41 OWiG das Verfahren gegen natürliche Personen an die Staatsanwaltschaft abgeben, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass eine Straftat (insb. nach § 298 StGB) vorliegt. Dies stellt auch die Bonusregelung des BKartA ausdrücklich klar.176 Daher ist eine enge Kooperation zwischen beiden Behörden schon frühzeitig im Ermittlungsstadium unabdingbar. Insofern ist § 82 GWB eine verfahrenseffiziente Vorschrift, die die Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV nur fördern kann. Jedoch könnte das gegenwärtige System des deutschen Rechts vor dem Hintergrund des RLVorschlags der Kommission durchaus in Frage gestellt werden.177 174

BT-Drucks. 18/10207, S. 99. Vgl. dazu auch die Stellungnahme des BKartA zum Referentenentwurf zur 9. GWB-Novelle, 25.5.2017, S. 10. 176 Bonusregelung des BKartA, Rn. 24. 177 Dazu sogleich, D. IV. 7. 175

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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IV. Zwischenergebnis: Nur teilweise Erfüllung europäischer Vorgaben Betrachtet man die soeben untersuchten Neuregelungen der 9. GWB-Novelle 2017 im Lichte des RL-Vorschlags der Kommission, so fällt auf, dass die künftigen Richtlinienanforderungen im Hinblick auf die Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse der Wettbewerbsbehörden nunmehr im Wesentlichen erfüllt werden. In dieser Hinsicht scheint jedenfalls nur noch ein geringer Umsetzungsbedarf an einigen Stellen zu bestehen. Die marginalen Unterschiede, die im Hinblick auf die Anforderungen des RL-Vorschlags verblieben sind, wurzeln weiterhin in den Besonderheiten des deutschen OWiG, die einer wirksamen Konvergenz im Wege stehen. Dies gilt vor allem für die Akzo-Vermutung im Rahmen der wirtschaftlichen Einheit, für die künftige Auslegung der 10 %-Obergrenze des § 81 IV S. 2 GWB sowie für die Auskunftsverpflichtung für Unternehmen, die in Teilen noch hinter den europäischen Vorgaben zurückstehen. Ob und inwiefern sich diese verbliebenen Unterschiede negativ auf die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV auswirken werden, muss die künftige kartellrechtliche Praxis der deutschen Wettbewerbsbehörden und Gerichte erst noch zeigen. Vorerst bleibt festzuhalten: Die 9. GWB-Novelle 2017 hat lediglich im Rahmen der Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse der Wettbewerbsbehörden eine weitreichende Konvergenz mit dem europäischen Recht und demzufolge mit den Vorgaben des RL-Vorschlags zur Folge gehabt. Betrachtet man hingegen die übrigen Vorgaben des RL-Vorschlags der Kommission, so drängt sich bei genauerem Hinsehen freilich auf, dass noch keineswegs von einem großen Wurf die Rede sein kann. Der verbliebene Reformbedarf im deutschen Recht, der sich mit der Umsetzung der künftigen Richtlinienvorgaben ergeben wird, soll im Folgenden näher erläutert werden, bevor über weitere notwendige Reformansätze im deutschen Recht nachgedacht wird, die unabhängig vom RL-Vorschlag der Kommission im Hinblick auf die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV möglich erscheinen.

D. Weiterer Umsetzungsbedarf im Hinblick auf den Richtlinien-Vorschlag der Kommission Abgesehen von den marginalen Unterschieden, die aufgrund des deutschen Sanktionssystems gegenüber den Vorgaben des RL-Vorschlags in Bezug auf die Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse verblieben sind, enthält der RL-Vorschlag noch andere Vorgaben, die einen weiteren Umsetzungsbedarf im deutschen Recht nach sich ziehen können. Dies betrifft namentlich den hybriden Charakter des deutschen Verfahrensrechts, das zwischen dem behördlichen Verwaltungsverfahren nach §§ 54 ff. GWB sowie dem Sanktionsverfahren nach §§ 81 ff. GWB i.V. m. OWiG und StPO auf der einen Seite und dem strafrechtsähnlichen Gerichtsverfahren in Kartellfällen auf der anderen Seite unterscheidet.

270

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

I. Vorüberlegungen 1. Die grundsätzliche Problematik des deutschen Kartellsanktionssystems In Deutschland besteht anders als in anderen nationalen Rechtsordnungen und in der europäischen Rechtsordnung ein kartellsanktionsrechtliches Hybridsystem, das zunächst im behördlichen Stadium zwischen einem Verwaltungsverfahren nach §§ 54 ff. GWB und einem Sanktionsverfahren nach §§ 81 ff. GWB i.V. m. dem OWiG und den maßgeblichen Vorschriften der StPO unterscheidet. Je nachdem, ob eine Kartellbehörde ein Verwaltungs- oder ein Sanktionsverfahren einleitet, unterscheiden sich hiernach die Ermittlungsbefugnisse maßgeblich. Dies hängt damit zusammen, dass die Ermittlungsbefugnisse aufgrund der Verweisungen des OWiG in die StPO andere Voraussetzungen und Grenzen haben als im behördlichen Verwaltungsverfahren. Komplizierter wird es im Falle eines Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid durch die Unternehmen. Hier wandelt sich das verwaltungsrechtlich geprägte Sanktionsverfahren des BKartA in ein strafrechtsähnliches Gerichtsverfahren um. Da danach die Verfolgungszuständigkeit vom BKartA auf die Generalstaatsanwaltschaft übergeht, die nach eigenständigen Ermittlungen darüber entscheidet, ob der Fall vor Gericht verhandelt wird, verliert die Kartellbehörde ihre Zuständigkeit und wird in die Stellung eines einfachen Verfahrensbeteiligten mit beschränkten Mitwirkungsmöglichkeiten gedrängt. Damit wird zugleich eine andere Einrichtung, nämlich die Generalstaatsanwaltschaft, mit der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV betraut, die nicht die gleiche Fachexpertise besitzt wie die Wettbewerbsbehörde selbst. Entscheidet sich die Generalstaatsanwaltschaft nach eigenen Ermittlungen dazu, den Fall vor Gericht zu bringen, wird der Fall in einem strafrechtsähnlichen Gerichtsverfahren verhandelt. An dieser Stelle wird die Komplexität des deutschen Rechts erkennbar, das der Logik einer aufgestuften strafrechtlichen Hybridisierung folgt. Dieses deutsche Mischsystem ist sowohl im Hinblick auf die VO 1/2003 sowie im Hinblick auf die künftigen Vorgaben des RL-Vorschlags der Kommission nicht unproblematisch. So differenzieren weder die VO 1/2003 noch der RL-Vorschlag wie im deutschen Recht zwischen einem Verwaltungsund Sanktionsverfahren aus der behördlichen Perspektive und einem strafrechtsähnlichen Verfahren aus der gerichtlichen Perspektive. Dies müssen sie zwar nicht zwangsläufig, da beide Maßnahmen Besonderheiten im nationalen Verfahrensrecht Rechnung tragen und nationale Rechtstraditionen auch respektieren müssen. Die europäische Toleranzgrenze ist jedoch dann erreicht, wenn nationale Verfahrensstandards die wirksame Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsvorschriften innerhalb des ECN beeinträchtigen. Dies ist gegenwärtig im deutschen System trotz der weitreichenden Konvergenzbestrebungen des Gesetzgebers beim Kartellsanktionsrecht – zuletzt durch die 9. GWB-Novelle 2017 – aus mehrfachen Gründen noch der Fall. Neben der Tatsache, dass die verfahrens-

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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rechtliche Stellung des BKartA im gerichtlichen Verfahren mit beschränkten Mitwirkungsmöglichkeiten sehr schwach ausgestaltet ist, wird mit dem Übergang der Verfolgungszuständigkeit auf die Generalstaatsanwaltschaft eine andere Einrichtung mit der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV befasst, der den künftigen Vorgaben des RL-Vorschlags vor allem im Hinblick auf die politische Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft nicht genügen wird. Zusätzliche verfahrensrechtliche Erschwernisse bergen die umfangreichen strafprozessualen Verfahrensgarantien im Gerichtsverfahren, die in verfahrensökonomischer Hinsicht nur bedingt praktikabel sind. Vor allem die Form der mündlichen Verhandlungsführung in Kartellsachen, die durch eine große Zahl von Verfahrensbeteiligten und komplexe wirtschaftliche Sachverhalte geprägt sind, führt zu langwierigen und schwerfälligen Prozessen, mit denen erhebliche Belastungen für die öffentlichen Ressourcen und alle Beteiligten verbunden sind, wobei zu Recht in Frage gestellt werden kann, ob die überkommenen Förmlichkeiten des deutschen Strafprozessrechts tatsächlich einen rechtsstaatlichen Mehrwert beinhalten, der zum Schutz der Betroffenen überhaupt beitragen kann. Dies gilt erst recht dann, wenn die Schwerfälligkeiten des deutschen Strafprozesses augenscheinlich nicht nur als kartellrechtliches Problem,178 sondern auch außerhalb des Kartellrechts schlechthin als ineffektiv und praxisuntauglich empfunden werden. Daher wird in der Literatur eine grundsätzliche Neuausrichtung des deutschen Strafprozesses in Erwägung gezogen.179 So werden auch im Bereich des Kernstrafprozessrechts Reformen diskutiert, da in der Praxis eine erhebliche Unzufriedenheit mit dem geltenden Strafprozessrecht herrscht. Dies gilt vor allem im Hinblick auf das strenge Beweisrecht und die rigiden Regeln zur formellen und materiellen Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozess. Darauf weist neben dem Gutachten der Großen Strafrechtskommission180 vor allem der Alternativ-Entwurf Beweisaufnahme181 hin. Diese haben zwar keinen Eingang in das kürzlich in Kraft getretene Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens182 gefunden, doch zeigt diese Entwicklungen eindringlich, dass wenn 178 Eine mögliche Anpassung strafprozessualer Prinzipien an die Besonderheiten des Kartellsanktionsrechts wurde bereits im Rahmen der 8. GWB-Novelle 2013 diskutiert, ohne dass die Novellierung große Änderungen mit sich brachte; vgl. dazu vor allem die Stellungnahme des BKartA zur 8. GWB-Novelle v. 22.6.2012, S. 18. 179 Dazu Dannecker, NZKart 2015, S. 30, 31, m.w. N. 180 Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes, Gutachten zum Thema: Bedarf es zur Effektivierung und Beschleunigung von Wirtschaftsstraf- und Kartellbußgeldverfahren einer Durchbrechung des Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzips? Ergebnisse der Sitzung vom 24. bis 29. September 2012 in Worpswede. 181 Ester et al., Alternativ-Entwurf Beweisaufnahme, GA 2014, S. 1 ff. 182 Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 22.2.2017, BT-Drucks 18/11277; die Gesetzesänderung enthält eine Reihe von verfahrensrechtlichen Erleichterungen für den deutschen Strafprozess, wie etwa die neu eingeführte Präklusionsvorschrift in § 244 VI StPO, die die Verfahrensführung wesentlich beschleunigen soll, vgl. dazu unten, IV.

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schon eine Reform des Kernstrafprozessrechts erforderlich und möglich erscheint, dies erst recht für den besonderen und komplexeren Bereich des Kartellordnungswidrigkeitenprozesses gelten muss. 2. Der Zwischenbericht des BKartA zum Expertenkreis Kartellsanktionsrecht: Ein tauglicher Lösungsvorschlag? Auf die soeben skizzierten Missstände im deutschen Kartellsanktionsrecht hat auch das BKartA in seinem Zwischenbericht zum Expertenkreis Kartellsanktionsrecht vom 12. Januar 2015 hingewiesen, der brisante Thesen zu einer weitreichenden Reform des deutschen Kartellsanktionsverfahrens vor allem im Hinblick auf das gerichtliche Verfahren beinhaltet. Dabei nimmt der Zwischenbericht die bereits von K. Schmidt 1990 formulierte These auf, dass das deutsche System nach dem OWiG und der StPO nur bedingt in der Lage zu sein scheint, die Herausforderungen des Kartellsanktionsrechts zu bewältigen, da es sich beim Kartellordnungswidrigkeitenrecht um „Wirtschaftsaufsicht [handelt], die sich um ethische Missbilligung wenig kümmert, sondern auf die Einhaltung der Rechtsordnung hinwirkt“.183 Diesen Überlegungen wird man im Ergebnis wohl insofern zustimmen müssen, dass die Besonderheiten des deutschen Kartellverfahrensrechts, das zunehmend europäischen Einflüssen ausgesetzt ist, den Anwendungsbereich des traditionellen OWiG zunehmend marginalisieren. Dies gilt sowohl für Fragen der kartell- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Sanktionsnormen, der gesetzlichen Obergrenze, der Zumessung und der Adressatenstellung einer Kartellsanktion als auch für Fragen des kartellrechtlichen Sanktionsverfahrens, namentlich im Hinblick auf die strafprozessualen Garantien und ihre Auswirkungen auf die von der Praxis entwickelten Sonderformen der deutschen Bonusregelung und des Settlement-Verfahrens. In Fortsetzung dieser Diskussion184 schlägt der Zwischenbericht unterschiedliche Reformansätze vor, um das deutsche Kartellsanktionsrecht zu straffen, ganz im Sinne des Koalitionsvertrages aus dem Jahre 2013, der bereits seinerzeit den politischen Auftrag enthalten hat, weitere Schritte zur „Straffung des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens bei Kartellverstößen zu prüfen“ 185, da die Anwendung materiell gleichen Rechts (Art. 101, 102 AEUV) in national unterschiedlichen Verfahrensrechten nicht in jedem Fall 183

BKartA, Zwischenbericht, S. 11 mit Verweis auf K. Schmidt, wistra 1990, S. 131,

137. 184 Auf die These von K. Schmidt haben sich in der Folgezeit viele Kartellrechtler berufen, die einen Systemwechsel im deutschen Recht anregen, vgl. etwa Klocker/Ost, in: FS Bechtold, 2006, S. 229, 242; Mundt, Präsident des Bundeskartellamts, WuW 2007, S. 458, 459; neuerdings auch Ackermann, ZWeR 2010, S. 329, 334; ders., ZWeR 2012, S. 3 ff.; ders., NZKart 2015, S. 17 ff.; Chmeis, NZKart 2016, S. 564 ff.; ders., NZKart 2017, S. 403 ff. 185 Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode v. 16.12.2013, S. 17, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsver trag.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017).

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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gleich effektiv möglich ist,186 was zu erheblichen verfahrensrechtlichen Problemen innerhalb des ECN führen kann. Der Zwischenbericht könnte nunmehr im Lichte des RL-Vorschlags der Kommission erneut an Aktualität gewinnen, da – wie noch zu zeigen sein wird – viele Vorgaben des RL-Vorschlags sich inhaltlich mit den Thesen des Zwischenberichts decken. Die folgenden Ausführungen in den Abschnitten II bis IV orientieren sich daher der Übersichtlichkeit halber an der Themengliederung des Zwischenberichts, um diesen im Hinblick auf die europäischen Vorgaben, insbesondere die künftigen Vorgaben des RL-Vorschlags der Kommission eingehender untersuchen zu können.

II. Rechtlicher Rahmen denkbarer Verfahrensgestaltung 1. Vorgaben aus dem europäischen Recht Im Hinblick auf etwaige Reformbestrebungen steckt der Zwischenbericht des BKartA zunächst den rechtlichen Rahmen ab, der durch diverse Vorgaben aus dem europäischen Recht determiniert ist.187 Zutreffend wird darauf abgestellt, dass die Kartellverfolgung in Deutschland wie in allen anderen Rechtsordnungen innerhalb der Europäischen Union der dezentralen Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des ECN unterliegt. Sobald also ein kartellrechtlicher Verstoß einen grenzüberschreitenden Bezug aufweist, folgt aus unterschiedlichen Bestimmungen des Unionsrechts, namentlich der VO 1/2003 sowie dem effet utile-Grundsatz aus Art. 4 III EUV, die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, eine wirksame und einheitliche Anwendung der europäischen Wettbewerbsvorschriften sicherzustellen. Dabei stellt der Zwischenbericht die zutreffende These auf, dass unterschiedliche Verfahrensgestaltungen und -traditionen möglich bleiben, soweit sie einen Mindeststandard an Wirksamkeit nicht gefährden.188 Dies wird damit begründet, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung des eigenen Verfahrensrechts zwar grundsätzlich autonom sind. Diese mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie darf jedoch nicht dazu führen, dass die nationalen Verfahrensmodalitäten dem Sinn und Zweck der VO 1/2003 zuwiderlaufen, die gerade die wirksame Anwendung der Art. 101, 102 AEUV sicherstellen möchte. Dem ist im Grundsatz und in Bezug auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH zuzustimmen.189 Darüber hinaus wird der rechtliche Rahmen durch den RL-Vorschlag der Kommission weiter verdichtet, der konkrete Vorgaben hinsichtlich der nationalen Verfahrensmodalitäten beinhaltet. Dies betrifft

186 Vgl. dazu auch die Antwort der Bundesregierung v. 2.11.2012 auf eine kleine Anfrage der SPD-Fraktion, BT-Drucks. 17/11285, S. 3. 187 Zwischenbericht, S. 4. 188 Zwischenbericht, S. 5. 189 Zur Bedeutung und Durchbrechung der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten im Kartellverfahrensrecht vgl. bereits oben, § 5 C.

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vor allem die rechtliche Stellung von nationalen Wettbewerbsbehörden innerhalb des ECN. 2. Grundrechtsstandard im Kartellsanktionsverfahren insbesondere im Hinblick auf juristische Personen Einer der Kernpunkte des Zwischenberichts sind die Ausführungen hinsichtlich des Grundrechtsstandards bei Bußgeldverfahren zur Durchsetzung des europäischen Kartellrechts.190 Zunächst geht der Zwischenbricht zutreffend davon aus, dass im Kartellsanktionsverfahren ein grundrechtliches Mehrebenensystem aus dem GG, der GRC und der EMRK besteht. Mit Bezug auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH vor allem in den Sachen Åkerberg und Meloni gilt zwar zunächst der höhere Grundrechtsschutz. Ein weiter gehender nationaler Schutzstandard muss jedoch unangewendet bleiben, wenn die konkrete Durchsetzung des europäischen Rechts im Einzelfall nicht möglich ist oder wesentlich erschwert wird. Zudem stellt der Zwischenbericht die zutreffende These auf, dass eine spürbare Angleichung der Grundrechtsgewährleistungen infolge der Geltung von GRC und EMRK im europäischen wie im nationalen Verfahren dafür sprechen kann, einheitliche Verfahrensstandards einzuführen.191 Dies gelte erst recht dann, wenn juristische Personen am Kartellverfahren beteiligt sind.192 Der Gehalt der Grundrechte sowie der prozessualen Garantien kann sich für juristische Personen zu Recht von demjenigen für natürliche Personen unterscheiden, wenn die in Rede stehenden grundrechtlichen und prozessualen Garantien Ausfluss der Menschenwürde und der persönlichen Betroffenheit der Rechtsunterworfenen sind.193 Diese Thesen gelten unabhängig davon, ob der RL-Vorschlag der Kommission umgesetzt wird oder nicht. Im Falle einer unionskonformen Umsetzung der Richtlinienvorgaben richtet sich der Grundrechtsmaßstab gem. Art. 3 RLVorschlag ausschließlich nach der GRC. Das grundrechtliche Mehrebenensystem wird insoweit institutionalisiert, dass nationale Grundrechte, wenn überhaupt, nur noch eine marginale Rolle im Kartellsanktionsverfahren spielen. Problematisch könnte allerdings der Umstand sein, dass der RL-Vorschlag nur unvollkommene Vorgaben hinsichtlich der Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens zu machen scheint, die einen großen Interpretationsspielraum lassen. Sollte der RL-Vorschlag aber tatsächlich Vorgaben enthalten, die die Rechtsnatur und Systematik 190 Zwischenbericht, S. 5–11; vgl. dazu auch die Stellungnahmen zum Zwischenbericht von G. Dannecker, NZKart 2015, S. 14, 15 u. 25 ff.; Ackermann, NZKart 2015, S. 18; Stockmann, ZWeR 2015, S. 189, 192. 191 Zu den grundrechtlichen Konvergenztendenzen im Kartellsanktionsrecht vgl. bereits oben, § 5 B. II. 192 Dazu Ackermann, NZKart 2015, S. 17 ff. m.w. N. 193 Zur Reichweite der grundrechtlichen und prozessualen Gewährleistungen juristischer Personen im Kartellsanktionsrecht vgl. ausführlich oben, § 3 B. II. 2. d) und § 5 B. II.

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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nationaler Gerichtsverfahren betreffen könnten, würde sich die Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Ausgestaltung des gerichtlichen Sanktionsverfahrens auch in diesem Falle im Wirkungsfeld der GRC bewegen. Aber selbst wenn diese Lesart der Richtlinienanforderungen nicht der hiesigen Auffassung entsprechen sollte, besteht kein Anlass zur Resignation: Eine Lockerung von strengen strafprozessualen Grundsätzen im gerichtlichen Verfahren könnte nämlich – wie noch ausführlich zu zeigen sein wird – auch ohne Richtlinienvorgaben nach dem geltenden nationalen Verfassungsrecht zulässig sein.194 Dies gilt vor allem für die Beweisaufnahme im deutschen Kartellordnungswidrigkeitenrecht, die überkommenen Strukturen des Strafprozesses folgt und zu sachlich kaum zu rechtfertigenden Ineffizienzen des Verfahrens führt. Der Zwischenbericht gibt hierzu einige Anregungen, ist jedoch in der verfassungsrechtlichen Begründung zu kurz gegriffen. Daher sollen in Ergänzung der unterschiedlichen Thesen des Zwischenberichts sowohl die gesetzgeberischen Gestaltungsspielräume als auch deren verfassungsrechtliche Grenzen herausgearbeitet werden, die eine Lockerung dieser strengen strafprozessualen Verfahrensgrundsätze ermöglichen, unabhängig davon, ob bei der Neuausrichtung des deutschen Kartellsanktionsrechts die strafprozessuale Verfahrensstruktur beibehalten werden soll oder in Anlehnung an das europäische Kartellverfahren eine verwaltungsprozessuale Verfahrensstruktur eingeführt wird. In beiden Fällen kommt man nämlich nicht umhin, die geltenden Garantien des GG sowie der GRC und EMRK zu beachten, die allerdings – wie bereits im Allgemeinen Teil dieser Arbeit herausgearbeitet195 – eine abgestufte Anwendung strafprozessualer Grundsätze im Kartellsanktionsrecht ermöglichen.

III. Grundstruktur und Charakter des Verfahrens 1. Überprüfung behördlicher Entscheidung oder de novo-Entscheidung? Bevor der Zwischenbericht des BKartA die Ausgestaltung des deutschen Kartellsanktionsverfahrens im Einzelnen untersucht, werden einige Thesen hinsichtlich der Grundstruktur und des Charakters des deutschen Verfahrensrechts aufgestellt.196 Zutreffend geht der Zwischenbericht zunächst davon aus, dass mit der Einordnung des Verstoßes gegen das Kartellrecht als Ordnungswidrigkeit – und gerade nicht als Strafe – der Gesetzgeber seinen Beurteilungsspielraum ausgeübt hat und zu erkennen gegeben, dass das Kartellsanktionsrecht nicht dem Kernbereich des Strafrechts zugeordnet werden kann. Diese Sichtweise fügt sich hinlänglich in die bereits herausgearbeiteten Rechtsprechungen des EuGH und des 194 195 196

Dazu im Einzelnen unten, IV. § 3 B. II. 2. c). Zwischenbericht, S. 13.

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EGMR ein, die Kartellsanktionen nicht an den strengen strafprozessualen Garantien der Art. 48 GRC und Art. 6 EMRK messen wollen. Auch wenn Kartellsanktionen als „strafrechtliche Anklage“ im Sinne dieser Vorschriften verstanden werden, gelten die darin verankerten strafrechtlichen Grundsätze nicht in voller Stringenz. Daraus lassen sich weitreichende Schlussfolgerungen für die künftige Ausgestaltung des deutschen Kartellsanktionsverfahrens ziehen, die die Verfahrensführung aus prozessökonomischer Sicht erheblich beschleunigen und mithin europäische Vorgaben erfüllen können. Die derzeitige Ausgestaltung des deutschen Kartellsanktionsrechts ist dadurch gekennzeichnet, dass nach Einspruchseinlegung im gerichtlichen Verfahren von Grund auf neu über den Verstoß und die damit zusammenhängende Bußgeldverhängung entschieden wird. Obwohl die Kartellbehörde bereits eine umfassende Beweisaufnahme durchgeführt hat, wird diese Beweisführung im gerichtlichen Verfahren wiederholt. Diese doppelte Beweisaufnahme führt zu erheblichen Verzögerungen des gesamten Verfahrens, ohne einen rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Mehrwert für die Betroffenen erkennen zu lassen. Daher behandelt der Zwischenbericht zunächst die Frage, ob verfassungsrechtliche Vorgaben bestehen, die eine doppelte Beweisaufnahme im behördlichen und gerichtlichen Verfahren verlangen, oder ob ein Übergang zu einem System der gerichtlichen Überprüfung der behördlichen Entscheidung möglich wäre (a). Im letzten Fall müsste weiter darüber nachgedacht werden, ob auch die Bußgeldhöhe einer bloßen Überprüfung des behördlichen Ermessens unterliegen kann oder ob hier eine eigenständige Zumessungsentscheidung des Gerichts zu verlangen ist (b). a) Richtervorbehalt nach Art. 92 GG sowie Anspruch auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 IV GG und Art. 6 EMRK Der Zwischenbericht geht zutreffend davon aus, dass in Anbetracht der Tatsache, dass Kartellsanktionen nicht dem Kernstrafrecht zugeordnet werden, der Richtervorbehalt gem. Art. 92 GG nicht gilt. Hiernach ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut, wonach der Richter ausschließlich über bestimmte Gegenstände des Kernbereichs der Strafgerichtsbarkeit entscheidet. Daher ist in solchen Fällen zwingend erforderlich, dass das Gericht eine neue und eigene Entscheidung über den festgestellten Sachverhalt trifft. Nach diesen Grundsätzen ist jedoch gegenwärtig auch das deutsche Kartellsanktionsverfahren ausgestaltet, vor allem im Hinblick auf das gerichtliche Verfahren nach Einspruchseinlegung durch die Unternehmen. Dies ist aber verfassungsrechtlich nicht zwingend erforderlich, da der Gesetzgeber in Ausübung seines Beurteilungsspielraums offenkundig zum Ausdruck gebracht hat, Kartellsanktionen als Ordnungswidrigkeiten und nicht als Materie des Kernstrafrechts einzuordnen. Während Kriminalstrafen zum Kernbereich der Strafgerichtsbarkeit zählen, weshalb ihre Verhängung ausschließlich den Richtern nach Art. 92 GG vorbehalten ist, gelte dieser Richtervorbehalt nicht für Kartellsanktionen nach dem GWB. Der An-

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wendungsbereich des Art. 92 GG hängt somit vom Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers ab, ob bestimmte Sanktionen dem Richtervorbehalt unterfallen oder nicht.197 Zwar geht der Zwischenbericht nicht auf die in diesem Zusammenhang maßgebliche Rechtsprechung des EGMR in der Sache Öztürk ein, jedoch ist die Abhängigkeit des Anwendungsbereichs des Art. 92 GG vom Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers auch mit dieser Rechtsprechung vereinbar, mit der der Gerichtshof entschieden hat, dass die Grundsätze des Art. 6 EMRK weder der Auferlegung einer bestrafenden Verwaltungssanktion noch etwaigen Entkriminalisierungstendenzen entgegenstehen, solange der Betroffene die Möglichkeit hat, effektiven Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte nachzusuchen.198 Auf diese Rechtsprechung hat sich auch wiederholt der EuGH in seinen Urteilen zur Rechtmäßigkeit des europäischen Kartellsanktionsverfahrens berufen, nach denen die gleichen Grundsätze im Hinblick auf Art. 48 GRC Geltung beanspruchen.199 Folgerichtig prüft der Zwischenbericht daher in diesem Zusammenhang die Auswirkungen der Nichtanwendung von Art. 92 GG im Kartellsanktionsverfahren auf den effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 IV GG sowie Art. 6 EMRK, die auch außerhalb des Kernstrafrechts gelten. Entscheidungen von Verwaltungsbehörden, die nicht zur rechtsprechenden Gewalt i. S. d. Art. 92 GG gehören, unterliegen jedoch lediglich einer Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Verwaltungsgerichte, wobei eine erneute Beweisaufnahme nur in Fällen erfolgt, in denen sich dies für das Verwaltungsgericht zur Erforschung der Wahrheit als erforderlich erweist. Diesen Ausführungen des Zwischenberichts ist zuzustimmen. Wie das BVerfG nämlich ausgeführt hat, gehört es zur effektiven Wahrnehmung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 IV GG, „daß das Gericht das Rechtsschutzbegehren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüfen kann200 und genügend Entscheidungsbefugnisse besitzt, um drohende Rechtsverletzungen abzuwenden oder erfolgte Rechtsverletzungen zu beheben“.201 Somit muss der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des effektiven Rechtsschutzes lediglich sicherstellen, dass die Verwaltungsgerichte über die Möglichkeit verfügen, die behördliche Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig zu überprüfen, was eine Bindung an die im Verwaltungsverfahren getroffe197 Vgl. dazu BVerfG, 6.6.1967, BVerfGE 22, 49, Rn. 103; BVerfG, 17.7.1969, BVerfGE 27, 18, Rn. 43. 198 EGMR, Urteil v. 25.1.1984, Öztürk/Deutschland, Nr. 8544/79, Serie A 73, Rn. 49. 199 EuG v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Rn. 53 – Schindler; v. 8.7.2009, Rs. T-99/04, Rn. 113, Slg. 2008, II-1501 – AC-Treuhand AG. 200 Durch die Formulierung „kann“ betont das BVerfG, dass nicht in jedem Fall eine vollumfängliche Überprüfung behördlicher Entscheidungen notwendig ist, um der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 IV GG zu genügen, sondern lediglich, dass die Verwaltungsgerichte die Möglichkeit haben müssen, eine behördliche Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu überprüfen. 201 BVerfGE 101, 106, Rn. 70.

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nen Feststellungen und Wertungen grundsätzlich ausschließt. Die Rechtsweggarantie, die jedem Einzelnen gewährleistet wird, bedarf daher einer gesetzlichen Ausgestaltung. Art. 19 IV GG gibt dem Gesetzgeber dabei lediglich die Zielrichtung und die Grundzüge der Regelung vor, lässt ihm im Übrigen aber einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum.202 Die vom BVerfG aufgestellten Anforderungen an Art. 19 IV GG sowie die Thesen des Zwischenberichts des BKartA decken sich auch weitgehend mit den Rechtsprechungen des EuGH und des EGMR im Hinblick auf das europäische Kartellsanktionsverfahren. Wie der EGMR in der Sache Menarini203 und darauf zurückgreifend der EuGH in der Sache Schindler204 zusammenfassend ausführen, ist ein administratives Kartellsanktionsverfahren mit den Grundsätzen aus Art. 6 EMRK und 48 GRC vereinbar, solange die Möglichkeit bestehe, eine behördliche Entscheidung gerichtlich vollumfänglich zu überprüfen (pleine jurisdiction).205 Eine solche Möglichkeit sieht das europäische Kartellrecht beispielsweise in Art. 31 VO 1/2003 vor, wonach der Gerichtshof die „Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung“ der Kommission hat. In solchen Fällen erfordert der Anspruch auf eine Entscheidung durch ein unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendem Gericht jedenfalls keine de novo-Entscheidung in Kartellsanktionssachen. b) Eigene gerichtliche Entscheidung über die Bußgeldhöhe nach dem Vorbild des Art. 31 VO 1/2003 Daher sind die Überlegungen des Zwischenberichts naheliegend, das deutsche Recht an das Vorbild der europäischen Regelung aus Art. 31 VO 1/2003 anzulehnen.206 Nach dem europäischen Recht überprüfen zwar die Gerichte die Entscheidung der Kommission gem. Art. 263 I, IV AEUV grundsätzlich nur auf die Rechtmäßigkeit, jedoch verfügt der Gerichtshof bei Klagen gegen Entscheidungen, mit denen die Kommission eine Kartellgeldbuße nach Art. 23 VO 1/2003 festgesetzt hat, über eine Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung der Entscheidung gem. Art. 261 AEUV i.V. m. Art. 31 VO 1/2003. Diese Befugnis ermächtigt die Gerichte dazu, neben der Rechtmäßigkeitsüberprüfung der Entscheidung auch die Beurteilung der Kommission durch eine eigene zu ersetzen und die verhängte Geldbuße aufzuheben, herabzusetzen oder gar zu erhöhen. Im europäischen Recht gilt somit kein Verbot der Schlechterstellung (reformatio in peius).207 Diesem Rechtsrahmen scheint der Grundsatz des deutschen Verwaltungsprozessrechts nach § 88 VwGO entgegenzustehen, wonach die Verwal202 203 204 205 206 207

BVerfGE 101, 106, Rn. 72. EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Nr. 43509/08, Rn. 58 f. – Menarini. EuGH v. 18.7.2013, Rs. C-501/11 P, Rn. 36 – Schindler. Vgl. dazu ausführlich oben, § 6 B. II. 1. a). Zwischenbericht, S. 14; dem zustimmend Stockmann, ZWeR 2015, S. 189, 196. Dazu oben, § 6 A. IV. 2. b).

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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tungsgerichte an das Klagebegehren und das Verbot der reformatio in peius gebunden sind. Der Zwischenbericht entgegnet auf diese Bedenken mit dem Argument, dass die Möglichkeit der reformatio in peius logischer Bestandteil einer originären gerichtlichen Entscheidung über die Sanktionshöhe ist und als solche vom BVerfG auch benannt worden. Dies wäre auch keine Abkehr vom derzeitigen System nach dem OWiG. Eine reformatio in peius besteht nämlich nur in den Fällen des § 72 III S. 2 OWiG i.V. m. § 358 II StPO, wenn das OLG ohne Hauptverhandlung durch Beschluss entscheidet. Da aber im Regelfall eine Hauptverhandlung stattfindet, kann auch hier das Gericht die Geldbuße erhöhen.208 Abweichend von den Thesen des Zwischenberichts scheint auch diese Frage dem Gestaltungspielraum des Gesetzgebers zu unterliegen, ob er das deutsche Recht an den Rechtsrahmen des Art. 31 VO 1/2003 anpasst oder die Besonderheiten des deutschen Verwaltungsrechts nach § 88 VwGO beibehält. 2. Besonderer Strafprozess oder Einbettung in den Verwaltungsprozess? Diese Gestaltungsspielräume werfen zunächst die brisante Frage auf, ob der Übergang zu einem System der gerichtlichen Überprüfung der Behördenentscheidung eine Annäherung an den deutschen Verwaltungsprozess bedeuten würde, die mithin zur Folge hätte, das deutsche Kartellsanktionsrecht aus dem Gefüge des OWiG i.V. m. der StPO herauszulösen und in den verwaltungsrechtlichen Rahmen der Kartellaufsicht einzubetten. Der Zwischenbericht stellt zwei Alternativen gegenüber. Im Falle einer Einbettung des deutschen Kartellsanktionsrechts in den verwaltungsrechtlichen Rahmen müsste sichergestellt werden, dass die besonderen Garantien, die aus dem strafrechtlichen Charakter der Kartellsanktion folgen, gewahrt werden. Alternativ hierzu könnte aber auch der strafprozessuale Rahmen mit der Modifikation beibehalten werden, bei der richterlichen Wahrheitsermittlung stärker auf die Erkenntnisse aus dem behördlichen Verfahren zurückzugreifen. Der Zwischenbericht stellt fest, dass eine Angleichung des deutschen Kartellsanktionsrechts bei beiden Alternativen auf ähnliche Weise möglich erscheint, da die Anforderungen des Grundgesetzes sowie des europäischen Rechts an ein Kartellsanktionsverfahren unabhängig von der Bezeichnung und Einbettung des Verfahrens gelten.209 Hiervon ausgehend stellt der Zwischenbericht zwei Thesen auf: Für eine verwaltungsrechtliche Ausgestaltung des deutschen Kartellsanktionsrechts spricht, dass der Charakter des kartellbehördlichen Verfahrens und der dort geleisteten Ermittlungsarbeit eine gerichtliche Überprüfung der Behördenentscheidung als sachgerechter erscheinen lassen als eine Ausgestaltung entsprechend dem OWiG, die von einem eher summarischen Vorver208 209

§ 7 A. II. 2. Zwischenbericht, S. 15 f.

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fahren ausgeht, an das sich erst bei Einspruch eine vertiefte gerichtliche Prüfung anschließt. Kartellsanktionen können daher als mögliche Maßnahmen der Wirtschaftsaufsicht anderen gravierenden Eingriffsmöglichkeiten, wie etwa der Untersagung (§ 32 I GWB), der Anordnung der Rückerstattung (§ 32 IIb GWB) und der Vorteilsabschöpfung (§ 34 GWB), zugeordnet werden. Zugleich würde damit auch eine Annäherung an den prozeduralen Rahmen in Europa erreicht werden. Wie der Zwischenbericht aber selbst erkennt, könnte gegen diese These das Argument sprechen, dass Kartellsanktionen Strafcharakter haben und die hier behandelten Herausforderungen und Probleme auch im strafprozessualen Verfahren gelöst werden können. Der Zwischenbericht lässt diese Frage bedauerlicherweise offen. Eine Antwort könnte sich jedoch aus den künftigen Vorgaben des RL-Vorschlags der Kommission ergeben, der für die erste These spricht. 3. Bewertung des Zwischenberichts im Lichte des Richtlinien-Vorschlags der Kommission Auszugehen ist zunächst von Art. 12 RL-Vorschlag, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass die Wettbewerbsbehörden die Möglichkeit haben müssen, entweder selbst durch Entscheidung in einem „Verwaltungsverfahren“ Geldbußen wegen eines Verstoßes gegen Art. 101, 102 AEUV zu verhängen oder die Verhängung solcher Geldbußen in einem „nichtstrafrechtlichen Gerichtsverfahren“ zu beantragen. Im argumento e contrario lässt sich daraus schlussfolgern, dass die RL-Vorgaben nicht erfüllt werden, wenn Geldbußen ausschließlich in einem strafrechtlichen Gerichtsverfahren verhängt werden können, wie es etwa in Irland gegenwärtig der Fall ist. Ein solches System hat sich offenbar als Hemmnis für eine wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV erwiesen.210 Dieser Fall lässt sich jedoch nur bedingt auf die deutsche Systematik übertragen, da das deutsche Recht sowohl verwaltungsrechtliche als auch strafrechtliche Elemente beinhaltet. Solche Hybridsysteme sind in Art. 12 RL-Vorschlag nicht ausdrücklich geregelt, weshalb hieraus der Umkehrschluss gezogen wird, dass solche Mischformen im Kartellverfahren im Hinblick auf die Vorgaben des RL-Vorschlags zulässig bleiben werden.211 Jedoch ist Art. 12 RL-Vorschlag in systematischer Hinsicht vor allem im Lichte des Art. 28 RL-Vorschlag zu verstehen, wonach die Mitgliedstaaten weiterhin sicherstellen müssen, dass die Rolle der nationalen Wettbewerbsbehörden vor den zuständigen nationalen Gerichten dergestalt gestärkt wird, dass diese die Möglichkeit haben müssen, sich „uneingeschränkt“ und „eigenständig“ als Klägerin, Beklagte oder Antragsgegnerin an einem Verfahren zu beteiligen, und die gleichen Rechte eingeräumt bekommen wie die 210 Dazu Commission Staff Working Document v. 9.7.2014, Enhancing competition enforcement by the Member States’ competition authorities: institutional and procedural issues, SWD (2014) 231 final, Rn. 40 f. 211 So etwa König, NZKart 2017, S. 397, 400.

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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öffentlichen Parteien des Verfahrens. Laut Begründung des RL-Vorschlags soll hierdurch insbesondere vermieden werden, „dass es durch die Befassung einer anderen Einrichtung mit der Verteidigung zu einem Anstieg der Kosten und Anstrengungen kommt“.212 Auch wenn der RL-Vorschlag selbst einräumt, dass die Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten und die damit verbundenen nationalen Besonderheiten des Verfahrensrechts beachtet und respektiert werden müssen, dürfte diese Lesart der Art. 12 und 28 RL-Vorschlag für die erstere These des Zwischenberichts sprechen, das Kartellsanktionsverfahren in einem verwaltungsrechtlichen Rahmen einzubetten. Auch wenn eine Verbesserung der Verfahrenseffizienz im Rahmen des weiterhin als Strafverfahren ausgestalteten Ordnungswidrigkeitenrechts vielversprechend ist, so stehen die übrigen verfahrensrechtlichen Besonderheiten des OWiG hinter den Anforderungen der Art. 12 und 28 RL-Vorschlag zurück, namentlich im Hinblick auf die Befassung der Generalstaatsanwaltschaft nach Einlegung des Widerspruchs. Um diese Schwächen auszuräumen, die der Dogmatik des OWiG geradezu immanent sind, müsste die Verfolgungszuständigkeit auch nach Einlegung des Widerspruchs weiterhin bei der Kartellbehörde bleiben, die den Fall selbstständig und mit der notwendigen Fachexpertise vor Gericht verteidigen könnte. Die Richtlinienanforderungen sprechen daher mehr für die erste These des Zwischenberichts, Kartellsanktionen als Instrument der Wirtschaftsaufsicht in einem verwaltungsrechtlichen Rahmen einzuordnen. Der Gesetzgeber hat hierzu auch einen weiten Gestaltungsspielraum, indem er beispielsweise ein Kartellsanktionsrecht sui generis schaffen könnte. Solche Möglichkeiten sind auch in anderen Rechtsordnungen der Europäischen Union nicht fremd, wie ein Blick in das niederländische Kartellverfahrensrecht zeigt. Dort wurde im Zuge der Entkriminalisierung des Kartellrechts nicht nur eine verwaltungsrechtliche Verfahrensstruktur eingeführt. Darüber hinaus hat der niederländische Gesetzgeber verschiedene Ausnahmen von den Standardregelungen des allgemeinen Verwaltungsrechts in Kauf genommen, um eine bestmögliche Kohärenz mit dem europäischen Kartellverfahrensrecht zu ermöglichen.213 Nach diesem Vorbild könnte der deutsche Gesetzgeber beispielsweise Elemente des europäischen Kartellverwaltungsrechts sowie Elemente des allgemeinen Verwaltungsrechts kombinieren, um die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV zu gewährleisten. Wie die einzelnen Verfahrenselemente ausgestaltet werden können, soll nunmehr anhand der übrigen Thesen des Zwischenberichts eingehender untersucht werden.

212 213

RL-Vorschlag, S. 23 f. Dazu bereits oben, § 2 D. I.

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IV. Mögliche Ausgestaltung des Verfahrensrechts im Einzelnen Die Emanzipation des deutschen Kartellsanktionsrechts vom OWiG und dementsprechend von den umfangreichen und strengen strafprozessualen Vorschriften der StPO erfordert freilich eine Reihe an Änderungen des geltenden Rechts, die aus verfassungsrechtlicher Sicht auch zulässig sein müssen. Der deutsche Kartellprozess im Gewand strafprozessualer Gesichtspunkte ist durch die besondere Bedeutung und Ausgestaltung etwa der Grundsätze der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und der Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren gekennzeichnet, die sich historisch allesamt aus einer hohen Eingriffsintensität von staatlichen Sanktionen erklären lassen und ihren gesetzlichen Niederschlag in unterschiedlichen Vorschriften der StPO gefunden haben, die über § 46 OWiG auch im Kartellordnungswidrigkeitenverfahren anwendbar sind. So bestimmt § 261 StPO, dass der Richter nach seiner freien, aus dem „Inbegriff der Verhandlung“ geschöpften Überzeugung entscheiden muss. In das Urteil dürften demnach nur solche Tatsachen einfließen, die Gegenstand der Hauptverhandlung waren. Ein Transfer der behördlichen Ermittlungen und Akten in das gerichtliche Verfahren ist hiernach ausgeschlossen.214 Dieses Spezifikum des deutschen Strafverfahrens, wonach die Beweisaufnahme notwendigerweise in der Hauptverhandlung wiederholt werden muss, wird als Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit bezeichnet, der im 19. Jahrhundert zum Schutz des Beschuldigten eingeführt wurde und einen Transfer der im Ermittlungsverfahren erzielten Beweisergebnisse in die Hauptverhandlung verhindern soll.215 Der Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit wird im deutschen Strafprozessrecht vom Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit flankiert, der seinen gesetzlichen Niederschlag in § 250 StPO gefunden hat. Hiernach gilt ein Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis, weshalb Zeugen und Sachverständige in der Hauptverhandlung grundsätzlich erneut befragt werden müssen.216 Diese beiden Grundsätze führten in der Vergangenheit insbesondere bei komplexen kartellrechtlichen Sachverhalten zu langwierigen Verfahren, die sowohl verfahrensrechtliche Ressourcen als auch Verfahrensbeteiligte ohne erkennbaren rechtsstaatlichen Mehrwert belasten. Daher werden im Hinblick auf die soeben erwähnte Effizienz und Effektivität der Allokation verfahrensrechtlicher Ressourcen als auch im Hinblick auf den nicht erkennbaren rechtsstaatlichen Mehrwert sowohl der formelle als auch der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz zunehmend in Frage gestellt. Der Zwischenbericht etwa weist aufgrund der langjährigen Behördenerfahrung zu Recht darauf hin, dass diese formalen Regeln in weitem Maße ihren Schutzcharakter verfehlen und eine er-

214 215 216

Meyer-Großner, Kommentar zur StPO, § 261, Rn. 5. Dannecker, NZKart 2015, S. 30 f. Meyer-Großner, Kommentar zur StPO, § 250, Rn. 2a.

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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hebliche Belastung aller Beteiligten mit sich bringen.217 Zudem führen diese recht rigiden Grundsätze im Vergleich zum europäischen Gerichtsprozess zu einer wesentlich längeren Verfahrensdauer. Daher erscheint es mehr als notwendig, diese überkommenen Vorgaben des deutschen Strafprozessrechts unter Beachtung von verfassungsrechtlichen Anforderungen vor allem im Hinblick auf die Beweisaufnahme in der kartellrechtlichen Hauptverhandlung zu überprüfen. Nur unter dieser Prämisse, dass die soeben erwähnten strafprozessualen Grundsätze nach §§ 250 und 261 StPO gelockert werden können, lässt sich die wirksame Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren gewährleisten. 1. Abkehr vom „Inbegriff der Hauptverhandlung“ Zunächst stellt sich die Frage, ob im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren eine Abkehr von § 261 StPO möglich ist, wonach der Richter über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheidet. Grundlage der richterlichen Sachentscheidung ist somit die forensische Wahrheit, die ihren Ausdruck in den beiden Grundsätzen der Mündlichkeit und der formellen Unmittelbarkeit findet.218 Während nach dem Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit die Beweisaufnahme unmittelbar vor dem erkennenden Gericht zu erfolgen hat, wonach alle relevanten Beweise in der gerichtlichen Hauptverhandlung zu erheben sind, darf nach dem Grundsatz der Mündlichkeit nur der mündlich vorgetragene und erörterte Prozessstoff dem Urteil zugrunde gelegt werden. Dies hat zur Folge, dass etwaige Einlassungen der Betroffenen oder Zeugenaussagen Dritter im behördlichen Ermittlungsverfahren vor Gericht keinen Beweiswert haben, sie müssen in der Hauptverhandlung daher wiederholt werden, damit sie dem Urteil zugrunde gelegt werden können. Hierdurch kommt es zu einer Doppelung der Beweisaufnahme, wodurch gerichtliche Kapazitäten in Anspruch genommen werden, die gerade in komplexen und umfangreichen Kartellverfahren ohnehin strapaziert sind.219 Hinzu kommt der Umstand, dass die aus dem o. g. Erfordernis der gerichtlichen Wahrheitsfindung folgende Notwendigkeit, jedes Beweismittel nicht nur während des behördlichen Ermittlungsverfahrens, sondern genau in der Hauptverhandlung präsent zu haben, unter Umständen die Gefahr in sich birgt, dass die Tatsachengrundlage des gerichtlichen Urteils verkürzt wird. Dies scheint aber der eigentlich angestrebten Verbesserung der gerichtlichen Wahrheitsfindung abträglich zu sein.220 Daher wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die gesetzgeberische Intention, durch die Trennung der einzelnen Verfahrensab217 218 219 220

Zwischenbericht, S. 16. Dazu Meyer-Großner, Kommentar zur StPO, § 261, Rn. 1 u. 7. Duttge, ZStW 115 (2003), S. 539, 565; Radtke, GA 2012, S. 187, 200. Dannecker, NZKart 2015, S. 30, 34 m.w. N.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

schnitte Ermittlungsverfahren und Hauptverfahren die Unvoreingenommenheit des entscheidenden Gerichts zu sichern, in der aktuellen Verfahrenswirklichkeit aufgrund der faktischen Wirkungen, die von den im Ermittlungsverfahren gewonnenen Erkenntnissen für die Hauptverhandlung ausgehen, einen starken Bedeutungsverlust erfahren hat.221 Wenn der Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit grundsätzlich kritisiert wird, mag diese Erwägung wohl erst recht gelten für das gerichtliche Kartellsanktionsverfahren. Eine Reform könnte sich, wie neuerdings vom BKartA und einigen Stimmen aus der Literatur vorgeschlagen wird, beispielsweise am deutschen verwaltungsgerichtlichen Verfahren orientieren. Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung wäre demnach nicht mehr die aus dem „Inbegriff der Hauptverhandlung“ geschöpfte Überzeugung nach § 261 StPO, sondern vielmehr die „aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens“ nach § 108 I S. 1 VwGO.222 Die Frage, ob dieser Paradigmenwechsel möglich ist, lässt sich jedoch nicht anhand des einfachen Gesetzes beantworten, da die Grundsätze der Mündlichkeit und der formellen Unmittelbarkeit keinen direkten gesetzlichen Niederschlag in § 261 StPO gefunden haben. Die Antwort ist vielmehr in der Verfassung selbst zu suchen. Der Zwischenbericht geht jedenfalls von der These aus, dass weder die Verfassung noch höherrangiges Recht für das kartellgerichtliche Sanktionsverfahren eine Entscheidung nach dem „Inbegriff der Hauptverhandlung“ verlangen, ohne diese These jedoch aus verfassungsrechtlicher Sicht näher zu erläutern.223 Beurteilt man diese These zunächst aus der Perspektive des RL-Vorschlags der Kommission, so scheint die richtlinienkonforme Umsetzung der Art. 12 und 28 RL-Vorschlag für einen solchen Paradigmenwechsel zu sprechen. Der grundrechtliche Schutz, der dem gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren sodann Grenzen setzt, wäre nach den Bestimmungen der GRC zu messen. Aber selbst dann, wenn diese Richtlinienanforderungen eine andere Lesart bestimmen, können auch aus nationaler verfassungsrechtlicher Sicht keine Bedenken erhoben werden. Die Grundsätze der Mündlichkeit und der formellen Unmittelbarkeit stellen nämlich keine Rechtsgrundsätze von Verfassungsrang dar. Diese liegen lediglich im Wirkungsfeld unterschiedlicher Verfassungsgebote, wozu das Recht auf einen effektiven Rechtsschutz (Art. 19 IV GG), das Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) sowie das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 I i.V. m. Art. 20 III GG) gehören. Diese Verfassungsgebote fordern lediglich die grundsätzliche Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung einer behördlichen Entscheidung, aber keineswegs, dass die gerichtliche Überzeugungsbildung auf die im Gerichtsverfahren erhobenen Beweise beschränkt wird. Eine Er-

221 Vgl. etwa Weigend, FS Eisenberg, 2009, S. 657, 663 f.; darauf zurückgreifend Dannecker, NZKart 2015, S. 30, 34. 222 Zwischenbericht, S. 18. 223 Zwischenbericht, S. 17 f.

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weiterung des Prozessstoffes auf alle im behördlichen Kartellsanktionsverfahren erhobenen Beweise und Akteninhalte stellt somit nicht notwendigerweise eine Verletzung der o. g. Verfassungsgebote dar.224 Verfassungsrechtliche Grenzen können sich allenfalls daraus ergeben, dass die Betroffenen die Möglichkeit haben müssen, sich zu den erhobenen Vorwürfen zu äußern, wie es beispielsweise im Verwaltungsprozess nach § 108 II VwGO der Fall ist. Diese Äußerungsmöglichkeit ist als notwendiges Korrektiv zu § 108 I S. 1 VwGO zu verstehen, wonach der Richter nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet, und im Hinblick auf die o. g. Verfassungsgrundsätze nicht disponibel.225 Daher geht der Zwischenbericht zu Recht davon aus, dass im deutschen Verwaltungsverfahren die o. g. Verfassungsgebote ebenso eingehalten werden, weshalb sich hieraus Anhaltspunkte für eine Umgestaltung des gerichtlichen Kartellsanktionsverfahrens ergeben können.226 Zu der Bildung der richterlichen Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens nach § 108 I, II VwGO zählt hiernach neben dem von den Parteien mündlich vorgetragenen Beweisstoff auch die Zusammenfassung des wesentlichen Akteninhalts durch den Richter gem. § 103 II VwGO.227 Zwar entscheidet der Richter nach § 101 I VwGO aufgrund einer mündlichen Verhandlung. In der Praxis beschränkt sich die mündliche Verhandlung jedoch auf die Erörterung der wesentlichen streitigen Gesichtspunkte, die im Rahmen eines vorbereitenden schriftlichen Verfahrens nach § 84 IV VwGO zusammengestellt wurden.228 Das Verwaltungsgericht kann zudem nach § 84 I S. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art hat. Die Beteiligten sind nach § 84 I S. 2 VwGO lediglich anzuhören. Damit wird der Grundsatz der Mündlichkeit auch im Verwaltungsverfahren gewahrt, ebenso wie der Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit, der hinlänglich durch § 112 VwGO zum Ausdruck kommt: Hiernach kann das Urteil nur von Richtern und ehrenamtlichen Richtern gefällt werden, die an der dem Urteil zugrundeliegenden Verhandlung auch teilgenommen haben. Beweismittel des behördlichen Ermittlungsverfahrens können somit ohne Bedenken zum Erkenntnisstand des gerichtlichen Verfahrens herangezogen werden, in dem aber weiterhin eine eigene Würdigung verlangt wird. Somit finden die Grundsätze der Mündlichkeit und der formellen Unmittelbarkeit auch im Verwaltungsverfahren Anwendung, wenngleich in abgestufter Form. Daher geht der Zwischenbericht zu Recht davon aus, dass die Funk224 Hier könnten sich allenfalls Vorbehalte aus dem Frage- und Konfrontationsrecht der Beteiligten ergeben, das Bestandteil des Rechs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG sowie des Rechts auf ein faires Verfahren ist; vgl. dazu sogleich, IV. 5. 225 Schmidt, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, § 108, Rn. 10 f. 226 Zwischenbericht, S. 18. 227 Schmidt, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, § 108, Rn. 1. 228 Geiger, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, § 86, Rn. 57.

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tion des § 261 StPO, die verfassungsrechtlich hier in dieser Form nicht geboten ist, im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren in einer anderen Weise sichergestellt werden kann, etwa durch ein Verfahren nach § 108 VwGO. Durch die Zusammenfassung des wesentlichen Akteninhalts und Erörterung der streitigen Punkte in der Hauptverhandlung werden alle entscheidungserheblichen Punkte vor dem erkennenden Gericht mündlich thematisiert. Zu Recht geht der Zwischenbericht in seinen Thesen auch davon aus, dass ein solches Verfahren eine effiziente Durchführung der mündlichen Verhandlung gewährleistet, die mithin eine effektive Kartellverfolgung ermöglicht. Es scheint daher in der Tat sinnvoll und rechtlich möglich zu sein, eine schriftsätzliche Vorbereitung der Verhandlung zu ermöglichen, die eine Sortierung und Begrenzung des Verfahrensstoffes ermöglicht. Ein möglicher Paradigmenwechsel im deutschen Kartellsanktionsrecht kann sich daher in verfassungsrechtlich zulässiger Weise innerhalb dieses verwaltungsrechtlichen Rahmens bewegen, selbst dann, wenn es sich bei Kartellsanktionen um Maßnahmen mit strafrechtlichem Charakter handelt. Dies bedeutet aber keineswegs, dass über die o. g. Verfassungsgebote hinaus strengere strafprozessuale Fundamentalprinzipien, wie beispielsweise nach der StPO, Geltung beanspruchen, handelt es sich bei Kartellsanktionen trotz ihres strafrechtlichen Charakters doch um Instrumente der Wettbewerbspolitik, die im Wettbewerbsverfahren vor allem in Bezug auf juristische Personen eine graduelle Anwendung strafrechtlicher sowie strafprozessrechtlicher Garantien ermöglichen. 2. Verwendung der behördlichen Akten und Einführung von Schriftstücken Die Grundsätze der Mündlichkeit und der formellen Unmittelbarkeit, wonach das Gericht nach der aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung entscheidet, erfordern nicht nur eine doppelte Beweiserhebung im gerichtlichen Verfahren. Darüber hinaus wird verhindert, dass die behördliche Akte im gerichtlichen Verfahren verwendet wird. Das Verbot der Verwendung von behördlichen Akten und die Einführung von Schriftstücken im Rahmen des gerichtlichen Kartellsanktionsverfahrens führt in der Praxis jedoch zu extrem zeitaufwendigen Verfahren, was aus verfahrensökonomischer Sicht nicht sinnvoll erscheint. Die vollständige Wiederholung der Beweiserhebung unabhängig von der Aussicht auf einen Aufklärungsfortschritt scheint zudem im Hinblick auf den europäischen Effektivitätsgrundsatz bedenklich zu sein. Will der deutsche Gesetzgeber sich bei der Umgestaltung des gerichtlichen Kartellsanktionsverfahrens von den Erfordernissen des § 261 StPO abkehren, stellt sich für ihn auch hier die Frage, ob behördliche Akten im gerichtlichen Verfahren verwendet werden dürften. Der Zwischenbericht geht auch hier von der These aus, dass der Einführung der Akte des Verwaltungsverfahrens im Kartellordnungswidrigkeitenverfahren entsprechend § 103 II VwGO keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenstehen. Art. 19 IV GG setzt nur voraus, dass sich die Parteien gegen die Feststel-

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lungen in der Akte wirksam zur Wehr setzen können. Dies wird bereits durch die Möglichkeit gewährleistet, Feststellungen der Verwaltungsbehörde zu widersprechen, sowie durch die Überprüfung dieser Feststellungen durch das Gericht nach den Grundsätzen der Amtsaufklärung. Im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG scheint es aber sinnvoll zu sein, die wesentlichen Beweismittel zu benennen, um den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, sich zu verteidigen.229 Verfassungsrechtliche Grenzen ergeben sich somit ebenfalls aus den Verfassungsgeboten der Art. 19 IV und 103 GG, die der Begrenzung des Verfahrensstoffes dienen und dem Betroffenen die Möglichkeit gewährleisten, zu allen Punkten, auf die das Gericht seine Entscheidung stützen will, sich zu äußern. Das Gericht muss die Ausführungen des Betroffenen somit zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen. Eine Verletzung dieses Äußerungsrechts liegt nach dem BVerfG nur dann vor, wenn besondere Umstände des Einzelfalles deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen des Betroffenen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei einer Entscheidung nicht erwogen worden ist.230 Das BVerfG führt zudem aus, dass das Recht zur Äußerung eng verknüpft ist mit dem Recht auf Information. Art. 103 I GG setze nämlich voraus, dass die Verfahrensbeteiligten zu erkennen vermögen, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Die müssen sich bei der Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können.231 Die Verwendung von behördlichen Akten im gerichtlichen Verfahren darf hiernach nicht zur Entgrenzung des Verfahrensstoffes führen. Diese Gefahr besteht in der Praxis aber gerade bei umfangreichen und komplexen Verfahrensakten in Kartellfällen, die im Laufe der behördlichen Ermittlung auf bis zu mehrere hundert Seiten anwachsen können. Die Überflutung mit Informationen, die teilweise auch nicht sachdienlich sind, kann die Ausübung des Rechts auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG gefährden.232 Um dieser Gefahr zu entgehen, sollten die wesentlichen Tatsachenfragen von den unwesentlichen getrennt und in angemessener Weise zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemacht werden.233 Hierzu ist wohl die Kartellbehörde, die die Ermittlungen durchgeführt hat, besser geeignet als das Gericht selbst. Daher sollte bereits im Vorfeld eines gerichtlichen Verfahrens eine Zusammenfassung der wesentlichen Tatsachen durch die Kartellbehörde zusammengetragen werden, die dann mit der entsprechenden Akte des Verwaltungsverfahrens entsprechend § 103 II VwGO in das gerichtliche Verfahren eingeführt wird. 229

Zwischenbericht, S. 21. BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 7.12.2006, 2 BvR 2228/06, Rn. 3. 231 BVerfG, Beschluss v. 8.6.1993, 1 BvR 878/90, BVerfGE 89, 28, Rn. 26 m.w. N. auf die frühere Rechtsprechung. 232 Vgl. dazu Knemeyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, § 178, Rn. 29 m.w. N. 233 So auch Dannecker, NZKart, 2015, S. 30, 45. 230

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3. Materielle Unmittelbarkeit und Zeugenbeweis Doch selbst wenn die behördliche Akte entsprechend § 103 II VwGO in das gerichtlichen Verfahren einbezogen wird, können vorhandene Vernehmungsprotokolle sowie schriftliche Einlassungen der Betroffenen oder anderer Kartellmitglieder im derzeitigen Verfahren grundsätzlich nicht als Beweismittel verwendet werden, da im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren neben dem Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit auch der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit gilt. Der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit kommt durch die §§ 250 ff. StPO zum Ausdruck und ist über § 71 OWiG im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren anwendbar, wonach ein strenger Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis gilt. Dieser Grundsatz der persönlichen Vernehmung darf nach § 250 S. 2 StPO nicht durch die Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden. Unter das Verlesungsverbot fallen vor allem Sachverständigengutachten,234 die in komplexen und langjährigen Kartellfällen jedoch aus praktischer Sicht eine weitaus größere Bedeutung haben als die Vernehmung von Zeugen, die nach langer Zeit möglicherweise unter Gedächtnisschwund leiden oder beispielweise nicht mehr dem Unternehmen angehören oder in komplexen wirtschaftlichen Fragen nicht die gleiche Fachexpertise besitzen. Der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz führt daher im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren ähnlich wie der formelle Unmittelbarkeitsgrundsatz zu schwerfälligen Prozessen, ohne dabei der Wahrheitsfindung aus § 261 StPO in verfahrensökonomischer Hinsicht dienlich zu sein. Auch der Zwischenbericht geht in seinen Thesen davon aus, dass der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz in der Praxis oftmals das verhindert, was er eigentlich bezweckt, da der Zeugenbeweis im Vergleich mit dem Urkundenbeweis nicht immer das zuverlässigere Beweismittel ist. Historisch betrachtet wurde der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz bereits in die Reichsstrafprozessordnung von 1877 in der Überzeugung aufgenommen, auf diese Weise ein der Wahrheitsfindung dienliches Verfahren zu schaffen.235 Damit sollte die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege insgesamt gewährleistet werden.236 Damals schien eine generelle Pflicht zur Vernehmung von Zeugen unmittelbar durch das Gericht gegenüber der Heranziehung von Vernehmungsprotokollen einer Voruntersuchung eine weiter gehende und bessere Gewähr für die Wahrheitsfindung zu versprechen, zumal Angeklagte natürliche Personen waren, die regelmäßig überschaubare und einfache Delikte begangen hatten. Übertragen auf die heutige Entwicklung des modernen und komplexen Kartellsanktionsrechts scheinen diese 234

Meyer-Großner, Kommentar zur StPO, § 250, Rn. 11. Einen Überblick über die historische Entwicklung des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes geben Eser et al., Alternativ-Entwurf Beweisaufnahme, GA 2014, S. 1, 13 f. m.w. N. 236 Dannecker, ZWeR 2015, S. 30, 32, m.w. N. 235

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rechtspolitischen Erwägungen jedoch eher kontraproduktiv für die Verfahrensführung zu sein.237 Während der Vorrang des Zeugenbeweises vor dem Urkundenbeweis in der Beweisaufnahme der klassischen Bereiche des Kriminalstrafrechts mit einem überschaubaren Prozessstoff noch seine Berechtigung finden wird, kann das Telos des § 250 StPO nur bedingt auf umfangreiche Wirtschaftsverfahren in Bereichen des Kartellsanktionsrechts übertragen werden, das durch komplexe Wirtschaftsfragen geprägt ist. Da gelegentlich der Vergleich von Kartellfällen mit Falschparken angeführt wird, sei angemerkt, dass das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung, die oftmals globale Auswirkungen hat, nicht ausschließlich Gegenstand menschlicher Handlungen ist, wie die Verwirklichung eines Delikts nach herkömmlichem Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht, die anhand einer Zeugenvernehmung bewiesen oder bestritten werden können. Abgesehen von dieser rechtspolitischen Fragwürdigkeit des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren müssen etwaige Reformen sich jedoch auch hier innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen bewegen. Auch hier ist zunächst festzuhalten, dass der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht unmittelbar in der Verfassung verbürgt ist.238 Der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz weist gleichwohl verfassungsrechtliche Bezüge auf, die das BVerfG mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren begründet.239 Jedoch weist das BVerfG darauf hin, dass das Recht auf ein faires Verfahren keinen starren Vorrang der Beweisregeln aus §§ 250 ff. StPO erfordert. Vielmehr trügen die sorgfältig aufeinander abgestimmten strafprozessualen Regelungen der §§ 244 ff. StPO sowie der Grundsatz der freien Beweiswürdigung aus § 261 StPO der verfassungsrechtlich gebotenen und am Verhältnismäßigkeitsprinzip zu orientierenden Abwägung der widerstreitenden Interessen in nicht zu beanstandender Weise Rechnung. Starre Beweisregeln brächten das ausgewogene Verhältnis zwischen richterlicher Aufklärungspflicht nach § 244 II StPO und Überzeugungsbildung nach § 261 StPO ins Wanken.240 Die Regelungen der §§ 250 ff. StPO sind somit kein unmittelbarer Ausfluss der verfassungsrechtlich verbürgten Garantie des Rechts auf ein faires Verfahren, sondern vielmehr eine mögliche einfachgesetzliche Ausgestaltung zur prozeduralen Wahrheitsfindung, die neben anderen bestehen kann. Dies zeigt sich vor allem daran, dass dieser Grundsatz in der Vergangenheit unterschiedliche Relativierungen erfahren hat, die überwiegend mit dem Argument der Verfahrensbeschleunigung gerechtfertigt

237 So auch Frister, in: FS Fezer, 2008, S. 211 ff.; Radtke, GA 2012, S. 187, 199 f.; Weigend, in FS Eisenberg, 2009, S. 657 ff.; siehe auch Eser et al., GA 2014, S. 1, 13 ff. 238 BVerfGE 1, 418, 429; 57, 250, 276 ff.; BVerfG, Beschluss v. 30.1.2008, 2 BvR 2300/07, NJW 2008, 2243, 224. 239 BVerfG, Beschluss v. 26.5.1981, 2 BvR 215/81. 240 BVerfG, Beschluss v. 26.5.1981, 2 BvR 215/81, Rn. 35.

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wurden.241 Es obliegt somit dem Gesetzgeber, im Rahmen seines weiten Beurteilungsspielraums zu bestimmen, welche Formen der Wahrheitssuche er für geeignet hält. Hiernach hat er ein geeignetes Verfahren zu schaffen, das den modernen und komplexen Erfordernissen des Kartellrechts gerecht wird.242 So kann sich der Gesetzgeber im Rahmen des gerichtlichen Kartellsanktionsrechts beispielsweise dafür entscheiden, dem Gericht ein pflichtgemäßes Ermessen einzuräumen, ob ein Zeuge in der Hauptverhandlung vernommen oder dessen Aussage im behördlichen Ermittlungsverfahren als Surrogat verwendet wird. Damit wird die Entscheidung über eine persönliche Vernehmung einer Beweisperson in der Hauptverhandlung an die Amtsaufklärungspflicht nach § 244 II StPO angeknüpft, also an die Frage konkreter Dienlichkeit zur Wahrheitsfindung.243 Es bleibt jedenfalls festzuhalten, dass ungeachtet der verfassungsrechtlich gebotenen Verpflichtung zur Wahrheitsfindung im Einzelfall durchaus eine Abkehr vom formalen Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis möglich ist. Die Abkehr sowohl vom formellen als auch vom materiellen Grundsatz der Unmittelbarkeit im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren könnte daher zu einer begrüßenswerten Konvergenz mit europäischen Vorgaben führen. Diese Grundsätze finden auf europäischer Ebene nämlich nur in abgestufter Form eine Entsprechung. Zwar gelten vor dem Gerichtshof ähnlich wie im deutschen Recht die Prozessmaximen der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit, diese Grundsätze erfahren jedoch in der Praxis aufgrund verfahrensökonomischer Gesichtspunkte erhebliche Einschränkungen, die aus rechtsstaatlicher Sicht nicht zu beanstanden sind. Weder Art. 47 II GRC noch Art. 6 I, III lit. d EMRK fordern solche strengen Beweisführungsregeln, wie sie im deutschen Recht bekannt sind.244 Mit Blick auf den Effektivitätsgrundsatz scheint daher eine Aufhebung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in Kartellfällen aus verfahrensökonomischer Sicht nicht nur zweckmäßig, sondern auch erforderlich.245 4. Richterliche Entscheidungsfreiheit in der Beweiserhebung und Beweisantragsrecht Die Überlegungen zu einer Reform des deutschen Kartellsanktionsrechts im gerichtlichen Verfahren können sich weiterhin auf die richterliche Entscheidungs241 Vgl. etwa Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1984, BT-Drucks. 10/ 1313, S. 51; Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1979, BT-Drucks. 8/1988, S. 4. 242 Vgl. dazu auch Radtke, GA 2012, S. 187, 189, m.w. N.; Dannecker, NZKart 2015, S. 30, 32. 243 So auch Eser et al., Alternativ-Entwurf Beweisaufnahme, GA 2014, S. 5, 11 u. 18 ff.; darauf zurückgreifend Dannecker, NZKart 2015, S. 30, 32; zustimmend Stockmann, ZWeR 2015, S. 189, 199. 244 Vgl. dazu bereits oben, § 6 B. IV. d). 245 Zwischenbericht, S. 23; zustimmend auch Stockmann, ZWeR 2015, S. 189, 199.

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freiheit hinsichtlich der Beweiserhebung und des Beweisantragsrechts der Betroffenen beziehen. Im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt anders als im Strafverfahren nicht das uneingeschränkte Beweisantragsrecht nach § 244 III StPO; vielmehr bestimmt das Gericht im Ordnungswidrigkeitenverfahren gem. § 77 II OWiG den Umfang der Beweisaufnahme nach pflichtgemäßem Ermessen. Damit wird dem Gericht bereits nach dem OWiG ein weitgehendes Recht zur Ablehnung von Beweisanträgen eingeräumt, soweit der Amtsermittlungsgrundsatz nach § 244 II StPO nicht verletzt ist.246 Diese Erleichterungen nach dem OWiG erkennt auch der Zwischenbericht selbst. Gleichwohl schlägt er weiter gehende verfahrensrechtliche Erleichterungen dahingehend vor, § 77 II OWiG bereits früher und in größerem Umfang heranzuziehen, um nach den Maßstäben des Amtsermittlungsgrundsatzes die Beweiserhebung auf das erforderliche Maß zu beschränken, sollte die behördliche Verwaltungsakte tatsächlich entsprechend § 103 II VwGO im gerichtlichen Kartellsanktionsverfahren herangezogen werden.247 Dem stehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen. Das Beweisantragsrecht, das ebenfalls in der Verfassung selbst nicht verbürgt ist, beruht zwar auf dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG. Jedoch wird diesem verfassungsrechtlichen Anspruch schon dadurch genügt, dass dem Angeklagten die Möglichkeit gegeben wird, vor einer gerichtlichen Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können.248 Etwas zu weit geht jedoch die rechtspolitisch fragwürdige These des Zwischenberichts, das förmliche Beweisantragsrecht in ein Beweisanregungsrecht umzuwandeln. Der Zwischenbericht geht jedenfalls davon aus, dass damit eine Reduzierung des formalen Aufwandes insbesondere bei Beweisanträgen verbunden wäre, die nur zur Wahrung der Rechte im Hinblick auf eine Rechtsbeschwerde gestellt werden.249 Dieser These kann nicht ohne weiteres zugestimmt werden. Für sie könnte zwar in der Tat der eher formale Aufwand der Beweisführung sowie die damit verbundene Fehleranfälligkeit der Ablehnung von Beweisanträgen sprechen, die auch bei unbegründeten Beweisanträgen anfällt. Zu Recht wird jedoch in der Literatur auf die möglicherweise gegenläufigen Effekte zu einer Senkung des formalen Aufwands und damit der Fehleranfälligkeit gerichtlicher Entscheidungen über Beweisanträge hingewiesen.250 Die Ersetzung des Beweisantragsrechts durch ein Beweisanregungsrecht würde die Gerichte 246

Göhler, OWiG-Kommentar, § 77, Rn. 1. Zwischenbericht, S. 25. 248 BVerfG, Plenumsbeschluss v. 30.4.2003, 1 PBvU 1/02, Rn. 42. 249 Zwischenbericht, S. 25. 250 Vgl. etwa Dannecker, NZKart 2015, S. 30, 38, der die Senkung der Aufhebungsquoten bei Bußgeldentscheidungen durch Abschaffung des förmlichen Beweisantragsrechts eher kritisch sieht. 247

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nämlich in die alleinige Verantwortung für die Sachaufklärung nehmen, womit die Gefahr bestünde, dass aufklärungsbedürftige Aspekte übersehen werden, die nicht im Rahmen eines beratungs- und begründungsbedürftigen Ablehnungsbeschlusses vergegenwärtigt werden. Daher sollte mit Rücksicht darauf, dass es sich beim Beweisantragsrecht um eines der traditionell zentralen Verteidigungsrechte handelt, darauf verzichtet werden, das Beweisantragsrecht abzuschaffen.251 5. Umfang und Grenzen des Frage- und Konfrontationsrechts Eine den Thesen des Zwischenberichts entsprechende Reform des gerichtlichen Kartellsanktionsverfahrens, vor allem im Hinblick auf den in § 261 StPO verankerten und durch den materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz zum Ausdruck gebrachten Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis, muss sich jedoch in den Grenzen des Frage- und Konfrontationsrechts der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren bewegen. Das Frage- und Konfrontationsrecht ist eine besondere Ausformung des Rechts auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG sowie des Rechts auf ein faires Verfahren, das aus Art. 2 I i.V. m. Art. 20 III GG abgeleitet wird und unmittelbar in Art. 6 III lit. d EMRK verbürgt ist. Hiernach hat jeder Angeklagte mindestens das Recht darauf, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen. Dieses Recht wird als zentrales Verteidigungsrecht der Betroffenen im gerichtlichen Verfahren verstanden.252 Die Zurückweisung von Fragen durch das Gericht ist daher nach § 241 II StPO nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Hiernach dürfen nur ungeeignete und zur Sache nicht gehörige Fragen zurückgewiesen werden. Dies muss jedoch durch den Richter im Einzelfall festgestellt werden. Das Fragerecht als Ganzes darf nach § 241 II S. 1 StPO nicht entzogen werden.253 Der Zwischenbericht geht jedenfalls von der These aus, dass das Konfrontations- und Fragerecht einer etwaigen Verschlankung der gerichtlichen Beweisaufnahme nicht im Wege steht, soweit dem Zeugenbeweis insgesamt eine geringere Bedeutung zugewiesen wird. Hierzu bedarf es jedoch, wie bereits ausgeführt, der Aufhebung des Grundsatzes der materiellen Unmittelbarkeit.254 Mit der Aufhebung des Vorrangs des Zeugenbeweises könnte jedoch die Gefahr verbunden sein, dass Betroffene im gerichtlichen Verfahren keine Möglichkeit mehr haben, Belastungszeugen konfrontativ zu befragen, um deren Glaubwürdigkeit auf die Probe zu stellen. Dies wäre mit dem Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG nur schwer vereinbar. Jedoch stellt der Zwischenbericht mit Bezug auf die einschlägige Rechtsprechung des

251 252 253 254

So auch Stockmann, ZWeR 2015, S. 189, 200. BGH StV 1996, 471. Meyer-Großner, StPO-Kommentar, § 241, Rn. 6. Zwischenbericht, S. 28.

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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EGMR255 fest, dass das Frage- und Konfrontationsrecht nicht zwingend in der gerichtlichen Hauptverhandlung gewährt werden muss. Es reiche vielmehr aus, dass die Betroffenen auch im Verwaltungsverfahren, also im Rahmen des behördlichen Ermittlungsverfahrens, von diesem Recht Gebrauch machen können.256 Das bedeutet im Umkehrschluss, dass im kartellbehördlichen Verfahren nicht konfrontativ gehörte Belastungszeugen im gerichtlichen Verfahren grundsätzlich vernommen werden müssen. Diese Möglichkeit bestünde bei einer thesenkonformen Novellierung des deutschen Kartellsanktionsrechts durch ein dem Gericht eingeräumtes pflichtgemäßes Ermessen, ob Zeugen vernommen oder deren Aussage im Verwaltungsverfahren als Surrogat herangezogen werden soll. Daher steht das Frage- und Konfrontationsrecht der Betroffenen einer thesenkonformen Reform des gerichtlichen Kartellsanktionsverfahrens nicht im Wege. Eine darüberhinausgehende Beschränkung des Frage- und Konfrontationsrechts ist jedoch im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG nicht möglich.257 6. Rügeobliegenheiten, Präklusionsvorschriften, Übergang zu einem adversatorischen Verfahren Dem Zwischenbericht zufolge erscheint es zudem möglich, Rügeobliegenheiten und Präklusionsvorschriften nach dem europäischen Vorbild einzuführen, womit auch ein Übergang des deutschen Rechts zu einem adversatorischen Verfahren und somit eine Annäherung an das europäische verwaltungsrechtlich ausgerichtete Gerichtsverfahren verbunden wäre.258 Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist nämlich durch den Verfügungs- und Beschleunigungsgrundsatz geprägt, wonach es grundsätzlich Sache der Parteien ist, den Streitgegenstand zu bestimmen. Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind zudem nur in engen Grenzen möglich.259 In Deutschland sind jedoch anders als im europäischen Recht sowohl das verwaltungsrechtliche Verfahren (§ 86 VwGO) als auch das Ordnungswidrigkeitenverfahren (§ 46 OWiG i.V. m. § 244 II StPO) durch den Amtsaufklärungsgrundsatz geprägt, der eine Ausprägung des in Art. 19 IV GG verbürgten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt sowie des Rechtsstaatsprinzips ist.260 Der Amtsaufklärungsgrundsatz 255 EGMR, Urteil v. 20.11.1989, Appl. No. 11454/85, Rn. 41 – Kostovski/Niederlande; Urteil v. 26.4.1991, Appl. No. 12398/86, Rn. 26 – Asch./Österreich; vgl. auch Meyer-Großner, StPO-Kommentar, Art. 6 EMRK, Rn. 22b; Zwischenbericht, S. 25 f. 256 Siehe dazu auch Ott, in: KK-StPO, § 261, Rn. 29g m.w. N. 257 Vgl. dazu auch Dannecker, NZKart 2015, S. 30, 41; Stockmann, ZWeR 2015, S. 189, 200. 258 Zwischenbericht, S. 28 f. 259 Vgl. dazu oben, § 6 A. IV. 1. b) und c). 260 Zum Verwaltungsverfahren vgl. Geiger, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, § 86, Rn. 5; zum Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren vgl. Krehl, in: KK-StPO, § 244, Rn. 27 ff.

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begründet eine Verpflichtung der Gerichte zur selbstständigen Erforschung des Sachverhalts. Gleichwohl besteht zwischen dem deutschen Straf- und Verwaltungsverfahren im Hinblick auf die Mitwirkungspflichten der betroffenen Verfahrensbeteiligten ein wesentlicher Unterschied: Im Verwaltungsverfahren sind die Parteien bei der Sachverhaltsaufklärung nämlich nach § 86 I S. 1 VwGO heranzuziehen. Sie trifft somit eine Prozessförderungspflicht. Daher sieht § 87b VwGO die Möglichkeit vor, verspätetes Vorbringen durch die Prozessparteien zurückzuweisen. Die allgemeine Amtsaufklärungspflicht des Gerichts wird im Verwaltungsverfahren im Gegensatz zu dem Ordnungswidrigkeitenverfahren somit maßgeblich eingeschränkt.261 Im Gegensatz dazu sind im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren Vorträge der Parteien praktisch unbegrenzt möglich, was in der Vergangenheit zu erheblichen Verzögerungen des gerichtlichen Verfahrens geführt hat. Dies ergibt sich aus § 46 OWiG i.V. m. §§ 244 III, 246 StPO, wonach eine Beweiserhebung nicht wegen zu spät vorgebrachter Tatsachen abgelehnt werden darf. Beweisanträge können daher bis zum Beginn der Urteilsverkündung gestellt werden. Angesichts der schon ohnehin überlangen Verfahrensdauer eröffnet die Möglichkeit für unbegrenzt verspätetes Vortragen von Tatsachen die Gelegenheit zur maximalen Ausschöpfung von Verteidigungspositionen, die eine Verfahrensverschleppung zur Folge haben kann. Ein Beweisablehnungsgrund nach § 244 III S. 2 StPO, § 77 II Nr. 2 OWiG kommt nämlich nur dann in Betracht, wenn dem Unternehmen eine Verschleppungsabsicht nachgewiesen werden kann.262 Dies dürfte sich in der Praxis jedoch häufig als schwierig erweisen, auch nach Einführung des neuen § 244 VI StPO, wonach der Richter nunmehr auch im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen kann.263 Die Ablehnung eines Beweisantrags bedarf nämlich nach § 244 VI S. 1 StPO immer eines Gerichtsbeschlusses, der bei § 87b VwGO jedoch nicht notwendig ist. Daher ist den Thesen des Zwischenberichts auch in diesem Punkt zuzustimmen, dass Rügeobliegenheiten und Präklusionsvorschriften grundsätzlich möglich sind, soweit sich die Ausgestaltung des Verfahrensrechts nach den Grundsätzen der VwGO verwirklichen lässt. Mit Blick auf die hohe Bedeutung des effektiven Rechtsschutzes sowie des Anspruchs auf rechtliches Gehör sollten sich diese Reformen jedoch nur auf die Verfahrensbeteiligung von juristischen Personen beziehen, die sich nicht in gleichem Umfang auf diese Verfahrensgarantien berufen können wie natürliche Personen.264 261

Geiger, in: Eyermann (Hrsg.), VwGO, § 87b, Rn. 3. Meyer-Großner, StPO-Kommentar, § 246, Rn. 1. 263 Die Präklusionsvorschrift des § 244 VI StPO wurde erst kürzlich im Zuge der Reform des deutschen Strafprozessrechts eingeführt, um die Verfahrensführung wesentlich zu erleichtern; vgl. dazu den Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 22.2.2017, BT-Drucks 18/11277, S. 34. 264 So auch Stockmann, ZWeR 2015, S. 189, 291. 262

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7. Die Rollenverteilung bei der Vertretung der Anklage im Gerichtsverfahren Zu den wohl brisantesten Thesen des Zwischenberichts gehört der Vorschlag, die Rollenverteilung zwischen dem BKartA und der Generalstaatsanwaltschaft im gerichtlichen Verfahren grundlegend zu überdenken.265 Dies betrifft vor allem die doppelte bzw. die gespaltene Verfolgungszuständigkeit zwischen beiden Behörden im Hinblick auf die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV. Neben den bereits angesprochenen verfahrensrechtlichen Aspekten, die das gerichtliche Verfahren aufgrund der schwerfälligen strafprozessualen Grundsätze erheblich verzögern, führt die gespaltene Verfolgungszuständigkeit zwischen BKartA und Staatsanwaltschaft zusätzlich zu einer erheblichen Verzögerung des gesamten Verfahrensablaufs, die aus prozessökonomischer Sicht wenig sinnvoll erscheint. Dieser Befund lässt sich anhand exemplarischer Fälle aus der Vergangenheit belegen, die einen erheblichen Bearbeitungszeitraum in Anspruch genommen haben.266 Im Fall Tondachziegel beispielsweise schloss sich an das behördliche Ausgangsverfahren mit einer Dauer von ca. zwei Jahren eine behördliche Prüfung des Einspruchs von einem Jahr und zusätzlich eine staatsanwaltschaftliche Prüfung im Zwischenverfahren von ca. vier Jahren an. Im Fall Brillenglas nahm das behördliche Ausgangsverfahren zwei Jahre in Anspruch, während das Einspruchsverfahren und die staatsanwaltliche Prüfung insgesamt vier Jahre andauerten. Ähnlich lang war das Verfahren im Fall Silostellgebühren, der im behördlichen Ausgangsverfahren gute drei Jahre und in der Einspruchs- und staatsanwaltlichen Prüfung etwa zwei Jahre geführt wurde. Solche langen Verfahren sind in der kartellrechtlichen Praxis in Deutschland keine Seltenheit, vielmehr bestätigen sie die rigiden Verfahrensstandards, die dem deutschen Verfahrenssystem nach dem OWiG geradezu immanent sind. Legen die Unternehmen gegen die Bußgeldentscheidung des BKartA Einspruch ein, hat die Wettbewerbsbehörde zunächst in einem Zwischenverfahren die Möglichkeit, nach § 69 II OWiG abzuhelfen. Andernfalls leitet das BKartA gem. § 69 III OWiG die Akten an die Generalstaatsanwaltschaft beim zuständigen Oberlandesgericht weiter, wodurch die Verfolgungszuständigkeit kraft Gesetzes von der Wettbewerbsbehörde auf die Generalstaatsanwaltschaft übergeht, § 69 IV S. 1 OWiG. Die Generalstaatsanwaltschaft wird dann erneut Ermittlungen vornehmen, die regelmäßig mehrere Monate in Anspruch nehmen und in der kartellrechtlichen Praxis keinen erkennbaren Mehrwert gegenüber den vorherigen Ermittlungen des BKartA erbringen. Von den eigenständigen Ermittlungen macht die Generalstaatsanwaltschaft sodann abhängig, ob sie den Fall gerichtlich überprüfen lässt oder nicht, § 69 IV S. 2 GWB. Zugegebenermaßen wird es in der

265 266

Zwischenbericht, S. 31 f. Nachweise hierzu finden sich im Zwischenbericht, S. 32, Fn. 118.

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kartellrechtlichen Praxis zwar selten vorkommen, dass die Generalstaatsanwaltschaft zu einem gegenüber der Auffassung des BKartA abweichenden Ergebnis kommt. Gleichwohl ist nicht mit hoher Sicherheit auszuschließen, dass mit dieser gespaltenen Verfolgungszuständigkeit die wirksame Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsvorschriften de facto auf die Staatsanwaltschaft übertragen wird, die in der Regel nicht über die gleiche ökonomische Fachexpertise verfügen wird wie eine Wettbewerbsbehörde und zudem nach §§ 146,147 GVG politisch Weisungsgebunden ist.267 Zwar wurden im Rahmen der 9. GWB-Novelle 2017 durch § 82 GWB Informationspflichten zwischen dem BKartA und der Staatsanwaltschaft statuiert, um eine engere Zusammenarbeit zwischen beiden Behörden zu ermöglichen. Jedoch können solche Informationspflichten und Kooperationsmöglichkeiten nichts an der Tatsache ändern, dass die Gesamtdauer der Verfahren aufgrund der doppelten Befassung unterschiedlicher Behörden sich erheblich verzögert. Die Erfahrungen des BKartA zeigt eindringlich, dass es ungeachtet der engen Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft häufig zu Verzögerungen und Missverständnissen kommt,268 die ohne eine gespaltene Verfolgungszuständigkeit vermieden werden könnten.269 Ungeachtet der prozessökonomischen Ineffizienz und Ineffektivität eines solchen Verfolgungssystems, das im Übrigen keinen rechtsstaatlichen Mehrwert zugunsten der Betroffenen aufweist, lässt sich dieser Befund nur schwer mit den Vorgaben des RL-Vorschlags der Kommission vereinbaren. Nach Art. 28 und 29 RL-Vorschlag müssen die Mitgliedstaaten nämlich sicherstellen, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden ihre Entscheidungen eigenständig vor Gericht verteidigen können. Es soll dadurch vermieden werden, dass es durch die Befassung einer „anderen Einrichtung“ mit der Verteidigung zu einem Anstieg der Kosten und Anstrengungen kommt.270 Die gespaltene Verfolgungszuständigkeit im deutschen Recht und die damit verbundene lange Verfahrensdauer führen sowohl zu einem Anstieg der Kosten als auch der Anstrengungen für alle Verfahrensbeteiligten, der mit Art. 28 und 29 RL-Vorschlag nicht im Einklang steht. Es stellt sich daher die Frage, ob und in welcher Form eine Umgestaltung des Verfahrens möglich ist, um eben diesen Richtlinienvorgaben zu genügen. Der Zwischenbericht selbst geht auf diese Frage jedenfalls nur rudimentär ein, indem er vorschlägt, dass das BKartA auch vor dem Gericht die Funktion der Staatsanwaltschaft übernehmen könnte.271 Das BKartA ist wie die Staatsanwaltschaft zur

267 Chmeis, NZKart 2017, S. 403, 407; ders., NZKart 2016, S. 564, 566; zur Problematik der Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft im Kartellsanktionsverfahren vgl. unten, V. 1. 268 Zwischenbericht, S. 31 f. 269 Ähnlich auch Stockmann, ZWeR 2015, S. 189, 202. 270 RL-Vorschlag, S. 24. 271 Zwischenbericht, S. 33.

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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Neutralität verpflichtet und wäre bei einer eigenständigen Anklagevertretung vor Gericht in einer vergleichbaren Position wie die Staatsanwaltschaft in Strafsachen, in denen Letztere ebenfalls sowohl im Ermittlungsverfahren als auch im Anklageverfahren zuständig ist. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen jedenfalls nicht, da eine Kumulierung der Ermittlungs- und Anklagezuständigkeit beim BKartA weder gegen Grundrechte von juristischen noch von natürlichen Personen verstößt. Gleichwohl könnte im Falle der Aufhebung der gespaltenen Verfolgungszuständigkeit das in § 151 I StPO verankerte Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft verletzt sein.272 Hiergegen kann jedoch bereits der Einwand erhoben werden, dass es sich bei Kartellsanktionen mit Ausnahme des § 298 StGB nicht um eine Materie des Strafrechts handelt. Im Ordnungswidrigkeitenrecht wird das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft im Übrigen dadurch relativiert, dass die Verwaltungsbehörde zunächst selbst die Möglichkeit hat, Abhilfe zu schaffen (§ 69 II OWiG). Zudem haben die Verwaltungsbehörden im Ordnungswidrigkeitenverfahren dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft selbst (§ 46 II OWiG). Die Staatsanwaltschaft ist zwar ein den Gerichten gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege, dem die Strafverfolgung und die Mitwirkung im Strafverfahren obliegt.273 Jedoch ist sie im Sinne der Gewaltenteilung kein Teil der rechtsprechenden Gewalt i. S. d. Art. 92, 97 GG, sondern vielmehr – wie die Kartellbehörde selbst – Teil der Exekutive.274 Verfassungsrechtlich ist die Aufhebung der gespaltenen Verfolgungszuständigkeit in Kartellfällen jedenfalls nicht zu beanstanden. Dass die Staatsanwaltschaft weder im Ordnungswidrigkeiten- noch im Strafrecht ein verfassungsrechtlich absolut abgesichertes Anklagemonopol hat, zeigen auch die Vorschriften der §§ 386 ff. AO, wonach die Finanzbehörden im Steuerstrafverfahren zentrale Funktionen im Ermittlungsverfahren haben. Die Finanzbehörden führen das Ermittlungsverfahren wegen einer Steuerstraftat nach § 386 II AO selbstständig und weisungsungebunden durch, wobei § 386 IV AO einen Kooperationsmechanismus zwischen der Finanzbehörde und der Staatsanwaltschaft vorsieht. Hiernach kann die Finanzbehörde die Strafsache jederzeit an die Staatsanwaltschaft abgeben. Andererseits kann die Staatsanwaltschaft die Strafsache aber auch an sich ziehen. In beiden Fällen kann die Staatsanwaltschaft jedoch im Einvernehmen mit der Finanzbehörde die Strafsache wieder an die Finanzbehörde abgeben. Diese flexible Kooperationsform könnte durchaus Vorbildcharakter für die Ausgestaltung des deutschen Kartellsanktionsverfahrens ha272 Zum Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft vgl. Meyer-Großner, StPO-Kommentar, Vor § 141 GVG, Rn. 3. 273 Meyer-Großner, StPO-Kommentar, Vor § 141 GVG, Rn. 1. 274 BVerfG NJW 2001, 1121; 2002, 815; vgl. dazu auch Mayer, in: KK-StPO, GVG § 144, Rn. 4; Meyer-Großner, StPO-Kommentar, Vor § 141 GVG, Rn. 6; kritisch dazu Schäfer, NJW 2001, S. 1396; Kintzi, in: FS Wassermann, 1985, S. 899 ff.; Zuberbier, DRiZ 88, S. 254.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

ben, unabhängig davon, ob sich der deutsche Gesetzgeber für die Beibehaltung des ordnungswidrigkeitenrechtlichen Rahmens oder für einen verwaltungsrechtlichen Rahmen entscheidet.275 Beide Varianten würden den Anforderungen des RL-Vorschlags der Kommission hinreichend Rechnung tragen, soweit die politische Unabhängigkeit sowohl des BKartA als auch der Staatsanwaltschaft gesichert ist.276 8. Uneingeschränktes Fragerecht des BKartA im gerichtlichen Verfahren Wird gänzlich auf die gespaltene Verfolgungszuständigkeit zwischen BKartA und Staatsanwaltschaft verzichtet, wofür grundsätzlich bessere Gründe sprechen, erübrigt sich die Frage nach der stärkeren Mitwirkungsmöglichkeit des BKartA in einem gerichtlichen Verfahren, da in diesem Falle die Kartellbehörde selbst die Anklage führen würde. Sollte jedoch die gespaltene Verfolgungszuständigkeit beibehalten werden, müsste mindestens darüber nachgedacht werden, die Rolle des BKartA im gerichtlichen Verfahren wesentlich zu stärken. Eine im Zwischenbericht zwar angerissene, aber nicht eingehend erörtere Problematik des gerichtlichen Kartellsanktionsverfahrens betrifft neben der verfahrensrechtlichen Stellung auch das Recht des BKartA, eigenständig und uneingeschränkt Fragen an Betroffene, Zeugen und Sachverständige zu stellen. De lege lata verfügt das BKartA im gerichtlichen Verfahren lediglich über eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten, wie beispielsweise die Gelegenheit, relevante Gesichtspunkte vorzutragen, die nach Ansicht der Wettbewerbsbehörde für die Entscheidung von großer Bedeutung sind, § 76 I OWiG. Das Gericht kann jedoch davon absehen das BKartA zu beteiligen, wenn seine besondere Sachkunde für das Verfahren entbehrlich ist, § 76 II OWiG. In der Vergangenheit haben diese Regelungen im OWiG in der Tat dazu geführt, dass die Vertretung der Anklage im gerichtlichen Verfahren nur unvollkommen funktionierte, wodurch die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV erschwert wurde.277 Weder verfügte die Generalstaatsanwaltschaft über die notwendige ökonomische Fachexpertise, noch konnte das BKartA seine Entscheidung vor Gericht wirkungsvoll verteidigen.278 An dieser Situation vermochte auch der durch die 7. GWB-Novelle 2005 eingeführte § 82a GWB nichts zu ändern, der bestimmte Anpassungen des im OWiG geregelten Gerichtsverfahrens enthält und die Mitwirkungsrechte des BKartA über die blo-

275 Dazu Klocker/Ost, in FS Bechtold, 2006, S. 229, 245 f., die eine Zuständigkeit der Kartellbehörden als Verfolgungsbehörde auch nach Einlegung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid vorschlagen; ähnlich auch MK, Hauptgutachten XX, Rn. 190; vgl. im Übrigen Stockmann, ZWeR 2015, S. 189, 203; Biermann, ZWeR 2007, S. 1, 43 ff. 276 Dazu sogleich, D. V. 277 Vgl. dazu auch Chmeis, NZKart 2017, S. 403, 407. 278 Bechtold/Bosch, GWB-Kommentar, § 82a, Rn. 2; Künstner, in: Schulte/Just (Hrsg.), § 82a, Rn. 1; Seitz, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), § 82a, Rn. 2.

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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ßen Informations- und Anhörungsrechte hinaus nur unwesentlich stärkte, ohne dem BKartA ein vollumfängliches und eigenes Fragerecht im gerichtlichen Verfahren einzuräumen. Auch im Rahmen der 8. GWB-Novelle 2013 wurde erneut vorgeschlagen, dem BKartA ein eigenes Fragerecht im gerichtlichen Bußgeldverfahren einzuräumen,279 ohne allerdings den Übergang der Verfolgungszuständigkeit auf die Staatsanwaltschaft in Frage zu stellen.280 Da sich das BKartA mehrere Jahre mit dem kartellrechtlichen Sachverhalt beschäftigt hat und über die notwendige Fachexpertise verfügt, ist ein eigenständiges Fragerecht nicht nur zweckmäßig, sondern auch europarechtlich geboten, zumal die Staatsanwaltschaft durch neue Fakten im gerichtlichen Verfahren überrascht werden könnte, ohne sich hierauf im Vorfeld wirksam vorzubereiten. In diesem Fall kann ein eigenes Fragerecht des BKartA im gerichtlichen Verfahren verfahrensbeschleunigend wirken. All diese Erwägungen konnten den daran anschließenden Regierungsentwurf nicht beeinflussen, weshalb der Vorschlag des Referentenentwurfs zur 8. GWB-Novelle 2013 nicht umgesetzt worden ist. Dies mag unter Umständen den Besonderheiten des gerichtlichen Bußgeldverfahrens nach dem OWiG Rechnung tragen, ist im Hinblick auf die kohärente Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln innerhalb des ECN jedoch kritisch zu sehen. Wie der EuGH zutreffend in seiner VEBIC-Entscheidung ausgeführt hat, sind zwar die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie zuständig, unter Gewährleistung der Achtung der Grundrechte und der vollen Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts der Union, jenes Organ zu bestimmen, das sich als Antragsgegner an einem Verfahren vor einem nationalen Gericht beteiligt.281 Jedoch steht Art. 35 VO 1/2003 einer nationalen Regelung entgegen, die einer nationalen Wettbewerbsbehörde nicht die Befugnis einräumt, sich als Antragsgegnerin an einem gerichtlichen Verfahren zu beteiligen, das sich gegen die von ihr erlassene Entscheidung richtet.282 Es ist zuvörderst Sache der nationalen Wettbewerbsbehörden, die Erforderlichkeit und den Nutzen ihrer Beteiligung im Hinblick auf die wirksame Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union abzuschätzen.283 Entgegenstehende nationale Regelungen beeinträchtigen die praktische Wirksamkeit der Art. 101 und 102 AEUV.284 Diese Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der Auslegung des Art. 35 VO 1/2003 ist nunmehr in Art. 28, 29 RL-Vorschlag zwingend vorgeschrieben, die die Mitgliedstaaten umzusetzen haben.

279 280 281 282 283 284

RefE 8. GWB-Novelle v. 10.11.2011, S. 51. Bechtold/Bosch, GWB-Kommentar, § 82a, Rn. 1. EuGH v. 7.12.2010, Rs. C-439/08, Rn. 63 – VEBIC. EuGH v. 7.12.2010, Rs. C-439/08, Rn. 64 – VEBIC. EuGH v. 7.12.2010, Rs. C-439/08, Rn. 60 – VEBIC. EuGH v. 7.12.2010, Rs. C-439/08, Rn. 21 – VEBIC.

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

9. Unterschiedliche Ermittlungsbefugnisse im Verwaltungs- und Sanktionsverfahren Im Zwischenbericht nicht aufgegriffen, an dieser Stelle aber gleichwohl von großer Bedeutung ist das weitere Problem, dass die Ermittlungsbefugnisse des BKartA im Verwaltungs- und Sanktionsverfahren nicht die gleiche Trag- und Reichweite haben. Vielmehr orientieren sich die Ermittlungs- und Entscheidungsbefugnisse danach, ob ein Verwaltungsverfahren nach §§ 54 ff. GWB oder ein Sanktionsverfahren nach §§ 81 ff. GWB i.V. m. dem OWiG und den maßgeblichen Vorschriften der StPO geführt wird. Zwar werden in manchen Fällen, in denen eine kartellrechtliche Zuwiderhandlung offenkundig Sanktionen nach sich ziehen wird, beide Verfahren gleichzeitig eingeleitet, jedoch muss das BKartA auch in solchen Fällen hinreichend zum Ausdruck bringen, auf welcher Grundlage es etwaige Maßnahmen ergreift. Jedoch könnte eine solche Differenzierung der Ermittlungs- und Entscheidungsbefugnisse zwischen Verwaltungs- und Sanktionsverfahren gegen die Vorgaben des RL-Vorschlages der Kommission verstoßen. Ungeachtet dessen, welches konkrete Verfahren nun eingeleitet und abgeschlossen wird, sind die Ermittlungs- und Entscheidungsbefugnisse des BKartA weitgehend denen der Kommission angeglichen, wenngleich noch marginale Unterschiede verblieben sind. Daher scheint der Kompetenzkatalog der Art. 6–11 RL-Vorschlag aus der Sicht des deutschen Rechts eher wenig zu beeindrucken. Das gilt beispielsweise für die in Art. 9–11 RL-Vorschlag genannten Entscheidungsbefugnisse, die in weitestgehender Übereinstimmung in § 32 I GWB (Abstellungsverfügungen), § 32 II GWB (Abhilfemaßnahmen), § 32a GWB (einstweilige Maßnahmen) und § 32b I GWB (Verpflichtungszusagen) wiederzufinden sind. Zudem sind die in Art. 6–8 RL-Vorschlag genannten Ermittlungsbefugnisse, wie etwa das Betreten und Versiegeln von Räumen, die Prüfung von Dokumenten und Befragung von Mitarbeitern, ebenfalls im deutschen Recht vorhanden. Für das Verwaltungsverfahren ergeben sich diese unmittelbar aus den §§ 57 ff. GWB, für das Sanktionsverfahren hingegen über § 46 II OWiG aus den maßgeblichen Vorschriften der StPO. Insofern wird kein maßgeblicher Umsetzungsbedarf für das deutsche Recht bestehen. Problematisch könnte jedoch der Umstand sein, dass die Reichweite der Ermittlungsbefugnisse des BKartA davon abhängt, ob ein Verwaltungs- oder ein Sanktionsverfahren betrieben wird.285 Eine solche Differenzierung sieht jedoch weder die VO 1/2003 noch der RL-Vorschlag der Kommission vor. Auf europäischer Ebene gilt beispielsweise das Auskunftsverlangen nach Art. 18 VO 1/2003 gleichermaßen, unabhängig davon, ob Ziel des Verfahrens ein verwaltungsrechtliches Verbot oder eine Kartellsanktion ist. Gleiches gilt auch für etwaige Nachprüfungsbefugnisse nach Art. 20 VO 1/2003. Hieran lehnen sich auch Art. 6–8 285

Vgl. dazu auch König, NZKart 2017, S. 397, 399 ff.

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

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RL-Vorschlag an, die ebenfalls nicht zwischen Verwaltungs- und Sanktionsverfahren differenzieren. Im deutschen Recht gilt jedoch beispielsweise das Auskunftsverlangen nach § 59 GWB ausschließlich für das Verwaltungsverfahren, nicht aber für das Sanktionsverfahren.286 Dies hat maßgebliche Auswirkung auf die Reichweite der Auskunftspflicht der Unternehmen. So sieht Art. 8 RL-Vorschlag vor, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden Unternehmen verpflichten können, „alle erforderlichen Informationen“ innerhalb einer gesetzten Frist zu erteilen. Eine solch weitreichende Auskunftsverpflichtung besteht gegenwärtig nur im Verwaltungsverfahren nach § 59 GWB, während eine Auskunftsverpflichtung im Sanktionsverfahren nach § 81b GWB nur beschränkt möglich ist.287 Weitere Unterschiede, die in der Praxis häufig zu Problemen führen, ergeben sich auch aus den Anforderungen an Untersuchungen durch die Wettbewerbsbehörde.288 Während beispielsweise bei Durchsuchungen im Verwaltungsverfahren eine richterliche Anordnung nach § 59 IV GWB notwendig ist, bedarf es im Sanktionsverfahrenen einer solchen Anordnung nach den strengeren Voraussetzungen der § 46 OWiG i.V. m. § 105 StPO. Zudem erstrecken sich Betretungs-, Einsichtsund Prüfungsrechte im Verwaltungsverfahren nach § 59 I Nr. 3 und III GWB lediglich auf Geschäftsräume, nicht aber auf Privatwohnungen und Fahrzeuge von Mitarbeitern. Solche Durchsuchungen sind aber im Sanktionsverfahren nach den strengen Voraussetzungen der § 46 II OWiG i.V. m. § 103 StPO möglich. Diese Beispiele zeigen, dass das deutsche Recht den Anforderungen des RL-Vorschlags nicht genügen wird, der gerade bei Ermittlungsbefugnissen in Anlehnung an die VO 1/2003 keine Differenzierung zwischen Verwaltungs- und Sanktionsverfahren vornimmt.

V. Weisungsgebundenheit und politische Unabhängigkeit von Behörden 1. Bundeskartellamt Weiterhin dürfte sich aus Art. 4 RL-Vorschlag ein zusätzlicher Umsetzungsbedarf für das deutsche Recht ergeben, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass nationale Wettbewerbsbehörden ihre Aufgaben und Befugnisse unparteiisch und frei von politischer sowie anderer externer Einflussnahme erfüllen 286

Bechtold/Bosch, GWB-Kommentar, § 59, Rn. 2. Manche gehen sogar davon aus, dass sich aus §§ 444 II S. 2, 426 II, 163a III S. 2, 136 I S. 2 StPO ein einfachgesetzliches Schweigerecht der beschuldigten juristischen Personen ergibt, vgl. dazu etwa Krauß, in: Kamann/Ohlhoff/Völcker (Hrsg.), Kartellverfahren und Kartellprozess, 2017, § 18, Rn. 64, sowie König, NZKart 2017, S. 397, 400. Diese Sichtweise deckt sich jedoch nicht mit der hier vertretenen Auffassung, dass die Selbstbelastungsfreiheit Ausfluss der Menschenwürde ist und nach Art. 19 III GG nicht wesensgleich auf juristische Personen anwendbar ist. 288 Vgl. dazu auch oben, § 4 B. 287

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§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

müssen, indem Weisungen von Regierungen oder anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen ausdrücklich ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist bereits fraglich, ob die Beschlussabteilungen des BKartA unabhängig von Weisungen i. S. d. Art. 4 II lit. b RL-Vorschlag entscheiden können. Nach § 52 GWB kann nämlich das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie allgemeine Weisungen gegenüber dem BKartA erteilen. Das Wirtschaftsministerium ist gegenüber dem BKartA somit zu allgemeinen Weisungen und auch zu Einzelweisungen befugt. Hiernach sind weder das BKartA als solches noch die einzelnen Beschlussabteilungen unabhängig und weisungsfrei.289 Soweit ersichtlich hat das Wirtschaftsministerium in Bezug auf die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV zwar noch nie solche Weisungen gegenüber dem BKartA erteilt, doch dürfte eine negative Verwaltungspraxis nicht ausreichend sein, um eine Richtlinie unionsrechtskonform umzusetzen.290 Daher müsste die politische Unabhängigkeit des BKartA gegenüber dem Wirtschaftsministerium bei der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV ausdrücklich und entgegen § 52 im GWB geregelt werden. Ein auf den ersten Blick eher fernliegender Gedanke ergibt sich zudem daraus, dass die politische Unabhängigkeit des BKartA durch die deutsche Besonderheit der Ministererlaubnis nach § 42 GWB in Frage gestellt werden könnte, die dem Bundeswirtschaftsminister politische Interventionsbefugnisse verleiht, um einen vom BKartA untersagten Unternehmenszusammenschluss doch noch zu erlauben. Zwar ist die nationale Fusionskontrolle ausdrücklich von der dezentralen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV ausgeschlossen (vgl. Art. 3 III VO 1/2003), da aufgrund der Unterschiedlichkeit nationaler Fusionskontrollregime eine kohärente Anwendung nur bedingt möglich ist,291 doch könnte durchaus in Ausnahmefällen auch darüber nachgedacht werden, ob Art. 4 RL-Vorschlag sich unweigerlich auch auf die Ministererlaubnis nach § 42 GWB auswirken wird, wie etwa bei der Gründung und Beteiligung an Gemeinschaftsunternehmen (Joint Venture), die zwischen einem Kartell und einem Unternehmenszusammenschluss stehen. Hier kommt es nicht selten zu einer sog. Doppelkontrolle von Fusionsvorschriften einerseits und Kartellverbot andererseits (§ 1 GWB, Art. 101 AEUV).292 In 289 Vgl. dazu Bechtold/Bosch, GWB-Kommentar, Art. 52, Rn. 2; Staebe, in: Schulte/ Just (Hrsg.), Kommentar Kartellrecht, § 52, Rn, 2; Dannecker/Biermann, in: Immenga/ Mestmäcker (Hrsg.), § 81, Rn. 236. 290 Zu den Anforderungen an die Richtlinienumsetzung vgl. sogleich, VI. 291 EuGH v. 17.11.1987, verb. Rs. 142/84 und 156/84, Slg. 1987, I-4487 – BritishAmerican Tobacco; v. 21.2.1973, Rs. 6/72, Slg. 1973, I-215 – Europemballage; vgl. auch van der Hout/Reinalter, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), Art. 3 VO 1/2003, Rn. 24. 292 Zur Doppelkontrolle von Kartellverbot und Fusionskontrolle vgl. BGH, 8.5.2001 – KVR 12/99, BGHZ 147, 325 = WuW/E DE-R 711 = WRP 2001, 1218 – Ostfleisch; BGH, 1.10.1985 – KVR 6/84, WuW/E BGH 2169 – Mischwerke; BKartA 15.7.2001 – B8-40000-Ib-87/01 – citiworks; BKartA, 11.4.2000 – B7-216/99, WuW/E DE-V 243 (245) – Saft/Tadiran; vgl. auch v. Merveldt, in: Berg/Mäsch (Hrsg.), § 37 GWB, Rn. 33.

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

303

solchen Fällen, in denen ein Unternehmenszusammenschluss auch wegen eines Verstoßes gegen das Kartellverbot untersagt wird, könnte bei einer künftigen Umsetzung des RL-Vorschlags daher die politische Unabhängigkeit des BKartA im Falle eines Antrags auf Ministererlaubnis nach § 42 GWB zu Recht diskutiert werden.293 2. Staatsanwaltschaft Die von Art. 4 RL-Vorschlag vorgesehene politische Unabhängigkeit nationaler Wettbewerbsbehörden betrifft im deutschen Kartellsanktionsrecht zudem – zumindest mittelbar – die politische Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft, die sich nach Einlegung eines Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid gem. § 69 III OWiG mit dem Fall beschäftigt. Auch unter diesem Blickwinkel scheint das deutsche Kartellsanktionssystem im Hinblick auf die Vorgaben des RL-Vorschlags bedenklich zu sein. So wie das BKartA gegenüber dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie nach § 52 GWB weisungsgebunden ist, untersteht die Staatsanwaltschaft nach §§ 146, 147 GVG den Weisungsbefugnissen der jeweiligen Aufsichtsbehörde. Weisungsbefugt sind dabei die vorgesetzten Staatsanwälte sowie die Justizminister der Länder und der des Bundes. Da die Justizminister jedoch keine Staatsanwälte sind, wird ihre politische Weisungsbefugnis als extern bezeichnet. Die externe Weisung des Justizministers wird dann von der Generalstaatsanwaltschaft in eine interne Weisungsbefugnis gegenüber den behördlich nachstehenden Staatsanwälten umgewandelt. Dabei können die Weisungen, die rechtliche sowie tatsächliche Sachbehandlungen zum Gegenstand haben, allgemeiner Art sein oder einen Einzelfall betreffen.294 Im Kartellsanktionsverfahren spielt vor allem das externe Weisungsrecht eine besondere Rolle, da solche externe Weisungen in der Regel politisch motiviert sind. Anders als die Richter, deren Unabhängigkeit verfassungsrechtlich in Art. 97 GG verbürgt ist, sind Staatsanwälte den Weisungen der oberen Dienstbehörden untergeordnet. Während die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen dem Legalitätsprinzip nach §§ 152 II, 163 I StPO unterworfen sind, gilt das von Gesetzes wegen für die weisungsbefugte Justizverwaltung gerade nicht. Daher wird die Weisungsbefugnis der Justizverwaltung gegenüber der Staatsanwaltschaft auch in der öffentlichen Meinung als Ungereimtheit empfunden.295 Spätestens seit der Entlassung des Generalbundesanwaltes Range durch Bundesjustizminister Maas im Jahre 2015 steht die politische Unabhängigkeit der deutschen Strafverfolgung

293

So etwa Chmeis, NZKart 2017, S. 403, 405. Dazu Meyer-Großner, Kommentar zur StPO, § 146 GVG, Rn. 1; Mayer, in: KKStPO, § 146 GVG, Rn. 1. 295 FAZ v. 5.8.2015, „Richter fordern die Abschaffung des Weisungsrechts“, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/staatsanwaltschaft-richter-fordern-ab schaffung-des-weisungsrechts-13735928.html (zuletzt abgerufen am 1.10.2017). 294

304

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

wieder im Fokus der öffentlichen Diskussion.296 Die Kritik an dem externen Weisungsrecht des Justizministers ist dabei nicht neu, sondern war in der Vergangenheit bereits Ziel vielfacher Reformbestrebungen.297 Auch der Deutsche Richterbund forderte im Jahre 2013 sogar die gänzliche Abschaffung des politischen Weisungsrechts gegenüber Staatsanwälten. Zwar mache die Politik von ihrem Weisungsrecht nur selten Gebrauch, „aber allein der böse Schein einer Einflussnahme“ schade dem Ansehen der Justiz.298 Neue Impulse erhält die rechtspolitische Diskussion auch durch die Entwicklung im europäischen Raum. Die jüngsten Reformvorschläge, das externe Weisungsrecht abzuschaffen, orientieren sich dabei überwiegend an den Überlegungen der Kommission im „Grünbuch zur Schaffung eines Europäischen Staatsanwalts“ vom 11. Dezember 2001, das als dessen wesentliches Merkmal die Unabhängigkeit hervorhebt.299 Diese Entwicklung zeigt, dass die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft im deutschen Recht nicht nur im Hinblick auf das Kartellsanktionsverfahren, sondern darüber hinaus auch im Allgemeinen rechtspolitisch fragwürdig ist. Jedenfalls wird Art. 4 RL-Vorschlag sich unweigerlich auch auf die Weisungsgebundenheit der Staatsanwalt nach §§ 146, 147 GVG auswirken. Umso mehr erscheint es daher geboten, die Befassung der Staatsanwaltschaft mit Fällen im Rahmen von Kartellsanktionsverfahren grundlegend zu überdenken.

VI. Gesetzliche Regelung der Bußgeld-Leitlinien und Bonusregelung des BKartA Im Hinblick auf die Bußgeld-Leitlinien sowie die Bonusregelung des BKartA könnte sich schlussendlich ein Umsetzungsbedarf daraus ergeben, dass bloße allgemeine Verwaltungsgrundsätze nicht ausreichend sind, um die künftigen Richtlinienanforderungen zu erfüllen. Sowohl den Gesetzesbegründungen als auch den bekannten Intentionen des BKartA zufolge sind die Bußgeld-Leitlinien sowie die Bonusregelung des BKartA als allgemeine Verwaltungsgrundsätze nach § 81 VII 296 Welt v. 9.8.2015, „Range räumt mit einem Märchen auf“, abrufbar unter: https:// www.welt.de/politik/deutschland/article144979267/Range-raeumte-mit-einem-Maerchenauf.html (zuletzt abgerufen am 1.10.2017). 297 Vgl. Arenhövel, DRiZ 2004, S. 336 f.; Rautenberg, NJ 2003, S. 169 f.; Günter, DRiZ 2002, S. 55 f.; Kissel, GVG, 8. Aufl. 2015, § 141, Rn. 8; Boll, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 18. Lfg. 2001, § 147 GVG, Rn. 10; Rautenberg, DRiZ 2000, S. 141 f.; Rudolph, NJW 1998, S. 1205 f.; Roxin, DRiZ 1969, S. 387 f.; ders., DRiZ 1997, S. 117 f.; Schäfer, NJW 1997, S. 1753 f.; Odersky, in: FS Rebmann, 1989, S. 357 f.; Ulrich, DRiZ 1988, S. 371 f.; Kintzi, DRiZ 1987, S. 461 f.; Theisen, in: FS Zeidler, 1987, S. 1172, 1175; Kintzi, in: FS Wassermann, 1985, S. 899, 905; Krey/Pföhler, NStZ 1985, S. 145 f.; Krause, DöD 1981, S. 195 f.; Wagner, JZ 1974, S. 212, 218; Schoreit, DRiZ 1970, S. 226 f. 298 DRiB, Zehn-Punkte-Papier zur Stärkung des Rechtsstaates – Rechtspolitische Eckpunkte für die 18. Wahlperiode, 1. Aufl., Mai 2013, S. 2. 299 KOMM (2001) 715 endg., S. 30 f., abrufbar unter https://ec.europa.eu/antifraud/ sites/antifraud/files/docs/body/green_paper_de.pdf (zuletzt abgerufen am 1.10. 2017).

D. Weiterer Umsetzungsbedarf

305

GWB zu verstehen.300 Zwar überlässt Art. 288 III AEUV bei der Richtlinienumsetzung grundsätzlich den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel. Gleichwohl war lange Zeit umstritten, welche Umsetzungsmittel in Betracht kommen, um den Anforderungen aus Art. 288 III AEUV zu genügen.301 Die Wahlfreiheit des Umsetzungsmittels hat der EuGH bereits 1976 dahingehend präzisiert, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, innerhalb der ihnen belassenen Entscheidungsfreiheit die Form und Mittel zu wählen, die sich zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit (effet utile) der Richtlinien unter Berücksichtigung des mit ihnen verfolgten Zwecks am besten eignen.302 Davon ausgehend lehnt der EuGH eine Richtlinienumsetzung durch eine richtlinienkonforme Verwaltungspraxis jedenfalls ab, da diese sich jederzeit ändern kann, so dass eine kontinuierliche Richtlinienkonformität der Umsetzung nicht gewährleistet werden kann.303 Schwieriger zu beurteilen ist hingegen eine Richtlinienumsetzung durch inneradministrative Bestimmungen wie beispielsweise Verwaltungsvorschriften, circulaires oder administrative circulars. Auch in solchen Fällen verneint der EuGH in seiner ständigen Rechtsprechung die Unionsrechtskonformität der Richtlinienumsetzung, jedenfalls in solchen Fällen, in denen Einzelnen Ansprüche aus unionsrechtlichen Bestimmungen zustehen sollen.304 Diese Sichtweise ist jedoch vor allem in Deutschland umstritten.305 Dem EuGH ist jedoch insoweit zuzustimmen, dass die Bindungswirkung von Verwaltungsvorschriften nicht endgültig geklärt ist. Auch Verwaltungsvorschriften, die naturgemäß abänderbar sind, unterliegen ähnlich wie die Verwaltungspraxis einer dynamischen Entwicklung, ohne dem parlamentarischen Gesetzesvorbehalt unterliegen zu müssen. Daraus lässt sich jedoch noch nicht schlussfolgern, dass Verwaltungsvorschriften generell nicht geeignet sind, Richtlinienbestimmungen umzusetzen. 300

Dazu Bechtold/Bosch, GWB Kommentar, § 81, Rn. 52 m.w. N. Vgl. dazu Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EUV/AEUV, Art. 288, Rn. 32 ff. m.w. N. 302 Grundlegend EuGH v. 8.4.1976, Rs. 48/75, Slg. 1976, I-497, Rn. 69 u. 73 – Royer. 303 EuGH v. 6.5.1980, Rs. 102/79, Slg. 1980, I-1473, Rn. 10 f. – Belgien; v. 25.5. 1982, Rs. 96/81, Slg. 1982, I-1791, Rn. 12 – Niederlande; v. 25.5.1982, Rs. 97/81, Slg. 1982, I-1819, Rn. 12 – Niederlande; v. 15.12.1982, Rs. 160/82, Slg. 1982, I-4637, Rn. 4 – Niederlande; v. 1.3.1981, Rs. 300/81, Slg. 1983, I-449, Rn. 10 – Italien; v. 15.3.1983, Rs. 145/82, Slg. 1983, I-711, Rn. 10 f. – Italien; v. 28.2.1991, Rs. 131/88, Slg.1991, I-825, Rn. 8 – Deutschland; v. 9.3.2000, Rs. C-358/98, Slg. 2000, I-1255, Rn. 17 – Italien. 304 EuGH v. 28.2.1991, Rs. C 131/88, Slg. 1991, I-825 – Deutschland; v. 30.5.1991, Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567, Rn. 10 ff. – Deutschland; v. 30.5.1991, Rs. C-59/89, Slg. 1991, I-2607, Rn. 9 ff. – Deutschland. 305 Breuer, Entwicklung des europäischen Umweltrechts, 1993, S. 74 ff.; Czychowski, ZAU 6 (1993), S. 340, 349 f.; v. Danwitz, VerwArch 84 (1993), S. 73, 81 ff.; Gellermann, Beeinflussung des bundesdeutschen Rechts durch Richtlinien der EG, S. 57 ff.; Reinhardt, DÖV 1992, S. 102; Salzwedel/Reinhardt, NVwZ 1991, S. 946, 947; Sendler, UPR 1993, S. 321, 328 f.; Weber, UPR 1992, S. 5, 8; Winter, DVBl. 1991, S. 657, 658 ff. 301

306

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

Jedenfalls ist eine Richtlinienumsetzung durch Verwaltungsvorschriften dann nicht möglich, wenn Individuen subjektive Rechte aus der Richtlinie geltend machen wollen.306 Diese Rechtsprechung dürfte nur bedingt auf die Bestimmungen des Kartellsanktionsrechts übertragbar sein, da allenfalls aus der Bonusregelung des BKartA subjektive Rechte in Form eines Erlasses oder einer Reduktion der Kartellsanktion abzuleiten sind. Dies trifft regelmäßig bei den Bußgeld-Leitlinien nicht zu, da diese keine subjektiven Rechte verleihen, sondern in Konkretisierung der Rechtsgrundlage nach § 81 GWB in Rechtspositionen der Unternehmen eingreifen. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die künftigen Vorgaben aus Art. 16–22 RL-Vorschlag mindestens eine gesetzliche Regelung der Bonusregelung notwendig machen werden. Auch im europäischen Recht wurde durch Art. 4a VO 773/2004 erstmals eine Rechtsgrundlage für das Kronzeugenprogramm geschaffen, der allgemein formulierte Vorgaben enthält, wann ein Bußgelderlass oder eine Bußgeldreduzierung durch die Kommission gewährt werden kann.307 Hinsichtlich der Bußgeld-Leitlinien wird wohl eine solche gesetzliche Regelung nicht notwendig sein, zumal diese ähnlich wie bei den Bußgeld-Leitlinien der Kommission von der Entwicklung der kartellrechtlichen Praxis abhängig sind und regelmäßig an die komplexen wirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden müssen.

E. Lösungsvorschlag: Einführung eines Kartellverfahrensrechts sui generis für juristische Personen I. Spaltung der öffentlichen Kartellrechtsdurchsetzung gegen juristische und natürliche Personen Der vorliegende Befund konnte zeigen, dass das deutsche Kartellsanktionsrecht trotz des guten Willens des deutschen Gesetzgebers um bestmögliche verfahrensrechtliche Konvergenz noch weit hinter den europäischen Vorgaben sowohl aus der VO 1/2003 als auch aus dem RL-Vorschlag der Kommission zurücksteht. Während die 9. GWB-Novelle 2017 wesentliche Elemente des Kartellsanktionsrechts an europäische Standards anpasste, wurden hinsichtlich der Übernahme der Rechtsfigur der wirtschaftlichen Einheit sowie der Erweiterung von Auskunftsverpflichtungen von Unternehmen noch Unterschiede diagnostiziert, die auf das deutsche System des Ordnungswidrigkeitenrechts zurückzuführen sind. Wesentlich schwerer wiegen die Unterschiede des deutschen Gerichtsverfahrens in Kartellsachen gegenüber dem europäischen Recht. Neben der schwachen Stellung der Kartellbehörde im gerichtlichen Verfahren, insbesondere im Hinblick 306 EuGH v. 25.7.2008, Rs. C-237/07, Slg. 2008, I-6221, Rn. 34 ff. – Janecek/ Bayern; vgl. dazu auch Faßbender, EuR 2009, S. 400 f. 307 Dazu oben, § 6 A. III. 3. a).

E. Lösungsvorschlag

307

auf die gespaltene Zuständigkeit zwischen dem BKartA und der Staatsanwaltschaft sowie im Hinblick auf die begrenzten Mitwirkungsmöglichkeiten des BKartA im gerichtlichen Verfahren, wird das gesamte Verfahrensrecht von den rigiden strafprozessualen Vorschriften der StPO regiert, die schwerfällige und langatmige Gerichtsverfahren zur Folge haben. Obwohl bereits der Koalitionsvertrag der Bundesregierung vom 16. Dezember 2013 seinerseits den politischen Auftrag enthielt, weitere Schritte zur Straffung des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens bei Kartellverstößen zu prüfen,308 konnten all diese Fragen in den Beratungsgremien zur 9. GWB-Novelle 2017 keinen Eingang finden. Jedoch wird sich der deutsche Gesetzgeber spätestens durch den Erlass des RL-Vorschlags der Kommission durch den europäischen Gesetzgeber, der mit hoher Wahrscheinlichkeit eine 10. GWB-Novellierung in absehbarer Zeit notwendig machen wird, mit diesen Fragen beschäftigen müssen. Der deutsche Gesetzgeber sollte in diesem Zusammenhang die Möglichkeit nutzen, sich über eine grundlegende Umgestaltung und Neuausrichtung des deutschen Kartellsanktionsrechts innerhalb des hier untersuchten Rahmens Gedanken zu machen. Der in der Vergangenheit wiederholt formulierte Ansatz, das deutsche Kartellsanktionsrecht aus dem Gefüge des tradierten Ordnungswidrigkeitenrechts herauszulösen und in eine verwaltungsrechtlich ausgerichtete Wirtschaftsaufsicht einzubetten, dürfte vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung auf europäischer Ebene erneut an Aktualität gewinnen. Dafür plädieren seit Jahren sowohl namhafte Wirtschaftsrechtler als auch das BKartA selbst, zuletzt durch seinen rechtspolitisch brisanten Zwischenbericht des Expertenkreises Kartellsanktionsrecht. Der deutsche Gesetzgeber, der seine Augen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung und Globalisierung von Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkungen auf internationaler Ebene nicht mehr verschließen darf, steht nunmehr in der Pflicht, eine angemessene Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen vorzunehmen, auf der einen Seite die wirksame Durchsetzung der europäischen Wettbewerbsvorschriften nach Art. 101, 102 AEUV bestmöglich zu gewährleisten, auf der anderen Seite aber rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungen der Unternehmen zu respektieren, ohne dabei den gesamteuropäischen Blick außer Acht zu lassen. Es wird schlussendlich darum gehen, die dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des ECN unter verfahrenseffizienzrechtlichen sowie unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wirksamer zu gestalten. Hierzu wird dem deutschen Gesetzgeber durch eine künftige Richtlinie zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksame Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes ein Instrumentarium an die Hand gegeben. Die künftigen Richtlinienvorgaben würden, wie 308 Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode v. 16.12.2013, S. 17, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsver trag.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt aufgerufen am 31.10.2017).

308

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

bereits aufgezeigt wurde, einen erheblichen Umsetzungsbedarf im deutschen Kartellverfahrensrecht, insbesondere im Hinblick auf das Kartellsanktionsverfahren, nach sich ziehen. Ein bislang kaum erörterter Ansatz ginge in diesem Zusammenhang dahin, die öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung im deutschen Recht zu spalten.309 Der deutsche Gesetzgeber könnte beispielsweise ein Kartellsanktionsverfahren sui generis schaffen, das sich speziell an juristische Personen, die eigentlichen Adressaten des Kartellrechts, richtet, während natürliche Personen weiterhin nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht sanktioniert werden könnten, wenngleich Sanktionen gegen natürliche Personen eher selten vorkommen. Nach wie vor liegt der Schwerpunkt der Kartellrechtsdurchsetzung auf der Sanktionierung von Unternehmen als juristische Personen. Mit diesem Modell müssten natürliche Personen keine Abweichung von fundamentalen Prinzipien des Straf- und Strafverfahrensrechts fürchten, die im Ordnungswidrigkeitenrecht – anders als bei juristischen Personen – in vollem Umfang gelten. Dem denkbaren Einwand einer möglichen Rechtszersplitterung in einem ohnehin sehr komplizierten und hybriden Rechtsgebiet wie dem Kartellsanktionsrecht kann entgegengesetzt werden, dass der Gedanke einer solchen differenzierten Betrachtungsweise zwischen der Sanktionierung von juristischen Personen auf der einen Seite und natürlichen Personen auf der anderen Seite sowohl in der VO 1/2003 als auch in dem RL-Vorschlag der Kommission verankert ist. Art. 12 III VO 1/2003 sieht ausdrücklich vor, dass Informationen, die sich gegen natürliche Personen richten, innerhalb des ECN nicht ausgetauscht und verwertet werden können, wenn in den Rechtsordnungen der betroffenen Mitgliedstaaten im Hinblick auf natürliche Personen keine ähnlich gearteten Sanktionsmöglichkeiten vorliegen oder wenn im Hinblick auf die grundrechtlichen Gewährleistungen nicht das gleiche Schutzniveau garantiert ist. Auch der RL-Vorschlag der Kommission betont an unterschiedlichen Stellen, dass Beweise, die zwecks Anwendung der Art. 101, 102 AEUV durch nationale Wettbewerbsbehörden erhoben werden, nicht gegen natürliche Personen verwendet werden dürften.310 Dieser Ansatz gewährleistet zum einen, dass natürliche Personen nach einheitlichen Grundsätzen sowohl in einem strafrechtlichen Verfahren (soweit es sich um Submissionsabsprachen nach § 298 StGB handelt) als auch in einem ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfahren (soweit es um eine kartellrechtliche Ordnungswidrigkeit nach dem GWB geht) sanktioniert werden 309

Vgl. dazu etwa Chmeis, NZKart 2017, S. 403, 407. Vgl. Artikel 29 I RL-Vorschlag: „Die auf der Grundlage der Vorschriften in dieser Richtlinie erfassten Informationen sollten nur zu dem Zweck verwendet werden, zu dem sie erhoben wurden. Sie sollten nicht als Beweismittel für die Verhängung von Sanktionen gegen natürliche Personen verwendet werden.“ Vgl. auch Erwägungsgrund 11 RL-Vorschlag: „Diese Richtlinie gilt nicht für nationale Rechtsvorschriften, sofern diese strafrechtliche Sanktionen gegen natürliche Personen vorsehen, mit Ausnahme der Vorschriften für das Zusammenwirken von Kronzeugenprogrammen mit Sanktionen gegen natürliche Personen.“ 310

E. Lösungsvorschlag

309

können, die nahezu einheitliche Maßstäbe sowohl im behördlichen als auch im gerichtlichen Verfahren vorsehen. Innerhalb des ECN dürften die unter diesen Voraussetzungen erhobenen Informationen nur im Rahmen des Art. 12 III VO 1/2003 sowie der maßgeblichen nationalrechtlichen Vorschriften, die den RLVorschlag der Kommission umsetzen, ausgetauscht werden. Zum anderen können Kartellsanktionen gegen juristische Personen, die den Tätigkeitsschwerpunkt innerhalb des ECN bilden, in einem verwaltungsrechtlich ausgerichteten Sanktionsverfahren nach europäischem Vorbild verhängt werden. Das Kartellsanktionsrecht gegen juristische Personen wäre in diesem Falle keine Domäne des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts mehr, sondern vielmehr als besonderes Verwaltungsrecht neu zu qualifizieren, das im Sinne der zuvor erörterten Thesen des Zwischenberichts nach den Grundsätzen der VwGO ausgestaltet wird.

II. Das niederländische Kartellverfahren als Vorbild für eine mögliche Umgestaltung des deutschen Kartellsanktionsrechts Ein Blick in andere Rechtsordnungen innerhalb des ECN, wie beispielsweise in den Niederlanden, zeigt eindringlich, dass die Ausgestaltung des Kartellsanktionsrechts als besonderes Verwaltungsrecht keineswegs fremd ist. In den Niederlanden werden Kartellsanktionen seit der Entkriminalisierung des Kartellrechts in Form von Verwaltungssanktionen nach dem allgemeinen Verwaltungsgesetz (Algemene wet bestuursrecht, kurz: Awb) verhängt. Während noch in den 1970er Jahren nur wenige Ermächtigungsgrundlagen Verwaltungssanktionen vorsahen, erfreuen sich Verwaltungssanktionen im niederländischen Recht aufgrund von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten allmählich zunehmend an Beliebtheit. Mittlerweile sehen mehr als 60 unterschiedliche Gesetze des besonderen Verwaltungsrechts in den Niederlanden die Verwaltungssanktion als Instrument der Verwaltungsaufsicht vor.311 Das niederländische Verwaltungsrecht geht bei den Verwaltungssanktionen im Kartellrecht von einem weiten Sanktionsbegriff aus und unterscheidet zwischen bestrafenden und wiederherstellenden Sanktionen. Während dem deutschen Recht wiederherstellende Verwaltungssanktionen nach verwaltungsrechtlicher Dogmatik als Bestandteil der Verwaltungsvollstreckung (z. B. Zwangsmittel nach § 9 VwVG) oder kartellverwaltungsrechtlich in Form von Abstellungsverfügungen (§ 32 GWB) bekannt sind, kennt das deutsche Recht bislang keine bestrafenden Verwaltungssanktionen, wie sie im niederländischen Recht verhängt werden. Im niederländischen Recht wird der Zentralbegriff der Verwaltungssanktion in Art. 5:2 Abs. 1 Awb legaldefiniert, wonach eine Verwaltungssanktion als eine durch ein Verwaltungsorgan wegen einer Zuwiderhandlung 311 Vgl. hierzu Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, 2011, S. 165 ff., m.w. N.

310

§ 7 Strukturelemente des deutschen Kartellsanktionsverfahrens

auferlegte Pflicht oder eine Versagung eines Anspruchs zu verstehen ist.312 Dieser Definition ist in der niederländischen Literatur eine lang anhaltende Debatte über das Verhältnis von Verwaltungssanktionen zum Strafrecht vorausgegangen,313 wobei die Gemeinsamkeiten beider Rechtsmaterien als Bestandteile des öffentlichen Rechts nicht übersehen wurden.314 Dabei ähnelte die Diskussion im niederländischen Recht weitgehend der deutschen Debatte über das Verhältnis von Ordnungswidrigkeiten zu Straftaten.315 An dieser Stelle wird daher bewusst auf die Widergabe der niederländischen Diskussion über die Rechtsnatur von Kartellsanktionen verzichtet.316 Der niederländische Gesetzgeber hat seinerzeit erkannt, dass der Versuch in der Literatur, strafrechtliche und verwaltungsrechtliche Sanktionen ihrem Wesen nach in materieller Weise zu unterscheiden, überwiegend fruchtlos geblieben ist. Anerkannt ist lediglich, dass ein bestimmter Kern an Verbrechen naturgemäß nicht durch die Verwaltung, sondern lediglich durch Gerichte bestraft werden kann. Außerhalb dieses Kernbereichs obliegt es indessen dem Gesetzgeber, durch seinen Beurteilungsspielraum zu bestimmen, ob bestimmte Normübertretungen mit Mitteln des Straf- oder des Verwaltungsrechts sanktioniert werden sollen.317 Insbesondere Bereiche des Wirtschaftsverwaltungsrechts, wozu auch die öffentliche Kartellrechtsdurchsetzung in Form von Kartellsanktionen gehört, liegen außerhalb des Kernbereichs des Strafrechts und sind daher grundsätzlich der Einführung von Verwaltungssanktionen zugänglich.318 Dies gilt auch bei exorbitant hohen Sanktionen, die den Eindruck einer echten Strafe vermitteln. Die rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Grenzen, die im niederländischen Recht gezogen werden, sind wie im europäischen Kartellsanktionsrecht sowohl Art. 47 und 48 GRC sowie Art. 6 und 7 EMRK zu entnehmen.319 Der deutsche Gesetzgeber könnte seinen Beurteilungsspielraum ähnlich wie der niederländische Gesetzgeber dahingehend ausüben, Kartellsanktionen als Verwaltungssanktionen zu qualifizieren. Damit ginge eine Loslösung des Kartellsanktionsverfahrens aus dem Gefüge des deutschen OWiG einher, die eine weitere Annäherung an europäische Vorgaben ermöglichen würde. 312 Vgl. dazu auch de Poorter, in: van Buuren/Borman (Hrsg.), Algemene wet bestuursrecht, Art. 5:2, Rn. 2. 313 Vgl. nur Hartmann/v. Russen Groen, Contouren van het bestuursstrafrecht, S. 288 ff. m.w. N. 314 Bereits Prins, RM Themis 1958, S. 133, 134. 315 Ausführlich hierzu Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, 2011, S. 189. 316 Zur dogmatischen Einordnung der bestrafenden Verwaltungssanktion in den Niederlangen vgl. Reintjes, AA 53, 2004, S. 552, 556, der den Streit als eine Verschwendung von Zeit und Energie ansieht. Zur Diskussion über die Rechtsnatur von Kartellsanktionen im deutschen Recht vgl. hingegen bereits oben, § 3 B. II. 2. 317 Hartmann/v. Russen Groen, Contouren van het bestuursstrafrecht, S. 33. 318 Bröring, De bestuurlijke boete, S. 12. 319 Koch, Verwaltungssanktionen im europäischen und niederländischen Verwaltungs- und Kartellrecht, 2011, S. 294 ff.

§ 8 Schlussteil A. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung konnten die wichtigsten Implikationen des europäischen und deutschen Kartellsanktionsrechts hinsichtlich der eingangs verdichteten These herausgearbeitet werden, dass einheitliche Verfahrensregeln innerhalb des Europäischen Wettbewerbsnetzwerkes ECN notwendig sind, um die europäischen Wettbewerbsvorschriften nach Art. 101, 102 AEUV wirksam durchzusetzen. Die Notwendigkeit von verfahrensrechtlicher Konvergenz im ECN resultiert in der Tat und notgedrungen aus der globalen Entwicklung des Wettbewerbs sowie den damit verbundenen globalen Wettbewerbsbeschränkungen, die grenzüberschreitende Kooperation zwischen den Wettbewerbsbehörden nahezu unabdingbar machen. Zudem sind einheitliche Verfahrensstandards unerlässlich, um Rechtslücken innerhalb und zwischen den einzelnen Rechtsordnungen im ECN zu schließen, die oftmals durch Unternehmen geschickt ausgenutzt werden, um hohen Kartellsanktionen zu entgehen. Divergierende Verfahrensstandards bilden den Nährboden für die Bildung solcher Rechtslücken, die das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes insgesamt beeinträchtigen. Von diesen Feststellungen ausgehend orientiert sich die folgende Zusammenfassung weniger an der Gliederung dieser Arbeit. Vielmehr sollen die in dieser Untersuchung herausgearbeiteten Befunde mit Verweis auf die einschlägigen Kapitel zusammengefasst werden, die vor allem in Deutschland eine wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV gewährleisten sowie das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sicherstellen.

I. Kartellsanktionen als wirtschaftspolitisches Instrumentarium mit strafrechtlichem Charakter Kartellsanktionen, verstanden als öffentlich-rechtliches Instrument der kartellrechtlichen Durchsetzung innerhalb der Europäischen Union, haben sich in den letzten Jahrzehnten zu den wichtigsten wettbewerbspolitischen Maßnahmen entwickelt, um den europäischen Binnenmarkt nachhaltig zu erhalten und zu schützen.1 Neben der Europäischen Kommission verfügen mittlerweile nahezu alle nationalen Wettbewerbsbehörden über solche öffentlich-rechtliche Sanktionsmittel, 1

§ 2, A.

312

§ 8 Schlussteil

die insbesondere und hauptsächlich präventionsrechtliche Gesichtspunkte verfolgen, namentlich eine möglichst hohe Abschreckungswirkung gegenüber Unternehmen entfalten sollen, um künftiges wettbewerbswidriges Verhalten zu verhindern. Dabei haben Kartellsanktionen in den letzten Jahren enorme Summen erreicht, die jegliche Vorstellungskraft sprengen. Denkt man allein an die Rekordkartellgeldbußen der Kommission in den Fällen LKW und Google, die insgesamt nahezu 5,3 Milliarden Euro für zwei Wettbewerbsbeschränkungen erreicht haben, drängt sich zu Recht die Frage nach der Verhältnismäßigkeit solcher Sanktionen auf.2 Setzt man jedoch die globale Entwicklung von Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkungen sowie den mit dieser Entwicklung verbundenen kartellbedingten Gewinn von Unternehmen in Relation, scheint sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der EU-Kartellsanktionen schnell zu relativieren. Jedenfalls scheint der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dann verletzt zu sein, wenn Kartellsanktionen die wettbewerbsrechtliche Ordnung nicht wie beabsichtigt wiederherstellen, sondern ad absurdum führen, indem Unternehmen durch sie zahlungsunfähig werden und aus den relevanten Märkten ausscheiden. Unabhängig von einer solchen ökonomischen Betrachtungsweise müssen sich Kartellsanktionen als öffentlich-rechtliche Maßnahmen stets an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie an grundrechtlichen sowie strafrechtlichen und strafprozessualen Grundsätze orientieren, da das Kartellsanktionsverfahren als „strafrechtliche Anklage“ i. S. d. GRC sowie der EMRK zu verstehen ist.3 Diese Prinzipien garantieren den Unternehmen ein faires Verfahren als Ausfluss rechtsstaatlichen Handelns öffentlicher Gewalt und müssen außerhalb des Kernstrafrechts auch im Kartellsanktionsrecht Beachtung finden. Dies stellen unmissverständlich sowohl nationale als auch europäische Grundrechtsstandards klar. Der Wortlaut des Art. 48 GRC sowie des Art. 6 EMRK setzen die Anwendung strafrechtlicher Grundsätze in einem etwaigen Sanktionsverfahren voraus, soweit es sich bei dem Kartellsanktionsverfahren um eine „strafrechtliche Anklage“ handelt. Sowohl der EuGH als auch der EGMR haben die Garantien der strafrechtlichen Grundsätze im Kartellsanktionsverfahren bestätigt.

II. Keine bedingungslose Anwendung strafrechtlicher und strafprozessualer Garantien im Kartellsanktionsverfahren Gleichzeitig eröffnet der Wortlaut dieser Bestimmungen jedoch die Möglichkeit, abhängig von dem jeweiligen Rechtsgebiet, der konkret zu verhängenden Sanktion sowie den zu bestimmenden Adressaten einer solchen Sanktion eine abgestufte Anwendung der strafrechtlichen sowie strafprozessualen Garantien aus Art. 47 und 48 GRC sowie Art. 6 und 7 EMRK anzunehmen, wie es die obersten 2 3

§ 3, B. I. § 3, B. II. 1.

A. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

313

Gerichtshöfe als Grundrechtsinterpreten der jeweiligen Grundrechtsquelle anerkannt haben.4 Der EGMR hat in der Sache Engel den strafrechtlichen Charakter einer Kartellsanktion zwar bestätigt, in der Sache Jussila jedoch ausdrücklich betont, dass die Reichweite der Anwendung strafrechtlicher sowie strafprozessualer Garantien davon abhängig ist, ob es sich bei der Sanktionsart um eine Rechtsmaterie des Kern- oder Nebenstrafrechts handelt. Kartellsanktionen werden hiernach, trotz der exorbitanten Höhe mancher Kartellgeldbußen, nicht dem Kernstrafrecht zugeordnet, mit der Folge, dass eine graduelle Anwendung verfahrensrechtlicher Garantien aus Art. 6 EMRK geboten ist. Diese Sichtweise hat sich auch der EuGH in den Sachen Chalkor, KME und Schindler zu eigen gemacht, indem er bei der Auslegung der Tragweite der entsprechenden Garantien aus Art. 47 und 48 GRC ausdrücklich auf die Jussila-Rechtsprechung des EGMR Bezug genommen und ebenfalls eine graduelle Anwendung der strafrechtlichen sowie strafprozessualen Garantien im Kartellsanktionsverfahren angenommen hat. Hieraus konnten zwei Schlussfolgerungen gezogen werden. Zum einen ist die gegenwärtige rechtsstaatliche Kritik am bestehenden Kartellsanktionssystem der Unionsorgane unbegründet. Ebenso wenig überzeugend ist daher zum andern die Kritik aus der deutschen Literatur, die einer weiter gehenden verfahrensrechtlichen Konvergenz des deutschen mit dem europäischen Recht verfassungsrechtliche Bedenken aufgrund angeblicher rechtsstaatlicher Defizite im europäischen Kartellsanktionsrecht entgegenbringt.

III. Divergierende Verfahrensstandards als akute Gefährdung der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des ECN Von dieser verfassungsrechtlichen sowie grundrechtlichen Prämisse ausgehend, wurden verfahrensrechtliche Aspekte herausgearbeitet, die die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des ECN akut gefährden.5 Die Gefahr hat zwei Aspekte. Zum einen führen unterschiedliche Verfahrensstandards zu Rechtslücken, die Unternehmen durch gesellschaftsrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten geschickt ausnutzen können, um einer hohen Kartellsanktion zu entgehen. Zum anderen bewirken divergierende Verfahrensstandards zwischen den einzelnen Verfahrensrechtsordnungen eine ineffektive und ineffiziente behördliche Zusammenarbeit innerhalb des ECN, die in Zeiten der Globalisierung von Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkungen jedoch unabdingbar erscheint, um globale und geheime Kartelle aufzudecken. Die durch die VO 1/2003 eingeführte dezentrale Anwendung der Art. 101, 102 AEUV durch die einzelnen Mitgliedstaaten führte zwar zu einer schleichenden Institutionalisierung der behördlichen 4 5

§ 3, B. II. 2. § 4.

314

§ 8 Schlussteil

Kooperation, die jedoch aufgrund unterschiedlicher nationale Verfahrensstandards schnell an ihre verfahrensrechtlichen Grenzen stößt. Der Einwand, die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie gebiete gerade solche verfahrensrechtlichen Grenzen von Verfassung wegen, scheint im Hinblick auf die unzähligen Durchbrechungen dieser Verfahrensautonomie durch die VO 1/2003 bereits de lege lata nicht stichhaltig zu sein.6 Durch die VO 1/2003 scheint die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie jedenfalls nur noch eine marginale Rolle zu spielen, wie auch im RL-Vorschlag der Kommission hinreichend zum Ausdruck gebracht wurde.

IV. Mögliche gesetzgeberische Maßnahmen zur Lösung der verfahrensrechtlichen Probleme im ECN Der RL-Vorschlag der Kommission, der Ausdruck des jahrelangen Bemühens um bestmögliche verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN ist, bezweckt eine verfahrensrechtliche Konvergenz der Kartellsanktionsregime zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten, die nicht oder kaum bereit waren, ihr nationales Kartellsanktionsrecht freiwillig anzupassen.7 Unterschiedliche Empfehlungen und Stellungnahmen des ECN, mit denen die Kommission versucht hat, eine autonome Konvergenz der mitgliedstaatlichen Verfahrensrechte anzuregen, blieben seit langer Zeit erfolglos, weshalb die Kommission nunmehr eine gesetzgeberische Maßnahme auf europäischer Ebene für erforderlich hält. Auch wenn es sich bei den Konvergenzmaßnahmen um sensible, nationalrechtlich vorbehaltene Bereiche des Verfahrensrechts handelt, lässt sich eine künftige Richtlinie in der Tat auf europäische Kompetenzen stützen, da Gegenstand der gesetzlichen Regelung sowohl die wirksame Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV als auch das reibungslose Funktionieren des gesamten Binnenmarktes ist.8 Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass sich diese Ziele ohne kohärente Verfahrensregeln kaum erreichen lassen. Sollte die Richtlinie im Sinne der Kommission tatsächlich im Rahmen des europäischen Gesetzgebungsverfahrens verabschiedet werden, werden die in dieser Arbeit untersuchten und festgestellten verfahrensrechtlichen Probleme innerhalb des ECN beseitigt werden. Darüber hinaus würde sich eine künftige Richtlinie positiv auf die institutionelle Struktur des Verwaltungsverbundes ECN auswirken, da fortan wichtige Instrumente, wie beispielsweise das ECN-Kronzeugenmodell, verbindlichen Charakter für die Mitgliedstaaten hätten. Die durch die VO 1/2003 schleichend eingeführte Institutionalisierung der behördlichen Zusammenarbeit würde durch eine künftige Richtlinie, die die Verfahrensrechte der Mitgliedstaaten aneinander anpasst, fort-

6 7 8

§ 5, C. II. § 5, A. I. und II. § 5, A. IV. 2.

A. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

315

geführt, was im Ergebnis zu mehr Transparenz und Rechtssicherheit für den Rechtsanwender führen würde.9

V. Das europäische Kartellsanktionsrecht und sein Einfluss auf die nationalen Verfahrensrechte Bei näherer Betrachtung weisen die unterschiedlichen Kapitel des RL-Vorschlags starke Parallelen zur europäischen Rechtspraxis auf, wie sie von den Unionsorganen bei der wirksamen Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV entwickelt wurde und angewendet wird.10 Daher ist der RL-Vorschlag in seiner gegenwärtigen Fassung auch mit dem Primärecht vereinbar,11 da die erhobenen rechtstaatlichen Bedenken gegen die Rechtspraxis der Unionsorgane im Lichte der Rechtsprechung des EuGH und EGMR unbegründet ist.12 Die Anlehnung des RL-Vorschlags an die Rechtspraxis der Unionsorgane verwundert indessen nicht, geht es doch bei den Bestrebungen der Kommission um eine bestmögliche verfahrensrechtliche Konvergenz innerhalb des ECN. Nur wenn gleiche Verfahrensstandards eingeführt werden, die im Hinblick auf die Voraussetzungen und Rechtsfolge einer wirksamen Kartellsanktion nach ähnlichen Maßstäben angewendet werden, lassen sich die festgestellten Defizite bei der wirksamen Bekämpfung von globalen Kartellen beseitigen. Der RL-Vorschlag der Kommission, der die Unionspraxis in die Verfahrensrechte der Mitgliedstaaten transferieren will, ist eine notwendige Folge der Grundsätze des Vorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit des Unionsrechts, wie sie vom Gerichtshof entwickelt wurden und in ständiger Rechtsprechung bestätigt werden. Diese Grundsätze dürfen dem Grunde nach nicht durch entgegenstehende nationale Regelungen beeinträchtigt werden. Zwar gelten diese Grundsätze auch unabhängig von einer etwaigen gesetzgeberischen Maßnahme auf europäischer Ebene, was sich aus dem Effektivitätsgrundsatz des Art. 4 III EUV (effet utile) ergibt.13 Gleichwohl wird diesem Effektivitätsgrundsatz, insbesondere im Hinblick auf das deutsche Recht, nicht hinreichend Genüge getan. Der deutsche Gesetzgeber hat sich in der Vergangenheit immer wieder bemüht, das Kartellsanktionsrecht durch unterschiedliche GWB-Novellen an europäische Standards anzugleichen, jedoch immer nur mit partiellem Erfolg.14 Dies dürfte nicht zuletzt dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass das deutsche Kartellsanktionsrecht aufgrund der engen Verzahnung von GWB, OWiG sowie StPO in hohem Maße hybridisiert ist. Der strafrechtliche Charakter des deutschen Kartellordnungswidrigkeitenverfahrens verhinderte je9

§ 4, A. III. § 6, A. II., III. und IV. 11 § 5, A. IV. 12 § 6, B. II. 13 § 5, B. I. 1. 14 § 7, B. 10

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§ 8 Schlussteil

des Mal eine wirksame und vollständige Angleichung an das europäische Kartellsanktionsverfahren.

VI. Das deutsche Kartellsanktionsrecht im Spannungsfeld zwischen europäischer Konvergenz und nationalem Systemdenken Letztlich bleibt festzuhalten, dass sich der deutsche Gesetzgeber in der Tat zunehmend dem Druck ausgesetzt fühlt, im Spannungsverhältnis zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz adäquate Lösungen für das Kartellsanktionsrecht zu finden.15 Dies wird ihm jedoch im Hinblick auf die gegenwärtigen Herausforderungen, die mit globalen Wettbewerbsbeschränkungen verbunden sind, de lege lata kaum gelingen, da bei dem gegenwärtigen deutschen System eine Überbewertung des einen Abwägungspostens immer eine Unterbewertung des anderen bedeuten würde. Gleichwohl besteht für die Befürworter eines kohärenten Verfahrenssystems innerhalb des ECN kein Anlass zu Resignation. Sollten aufgrund des deutschen Systems Durchsetzungsdefizite nicht behoben werden können, wird sich die Kommission mit Sicherheit gerne bereit erklären, Fälle, die oberhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle liegen, an sich zu ziehen. Im Ergebnis müsste man sich vergegenwärtigen, dass das Festhalten an vermeintlich strengeren verfassungsrechtlichen Prinzipien in Deutschland lediglich eine Verlagerung der behördlichen Zuständigkeit von Bonn nach Brüssel bedeuten würde, die der Sache nach einer effektiven und effizienten Allokation verfahrensrechtlicher Ressourcen nur bedingt entsprechen würde, obwohl dies doch gerade mit der Einführung eines dezentralen Anwendungssystems nach der VO 1/2003 beabsichtigt wurde. In Anbetracht der Tatsache, dass das deutsche Kartellsanktionsrecht nicht isoliert im Gefüge des deutschen Verfassungsrechts, sondern als institutionelles Strukturelement des europäischen Wirtschaftsverwaltungsrechts angesehen werden kann, ja sogar angesehen werden muss, ist aus deutscher Sicht ein Umdenken notwendig und längst angezeigt, das nicht nur als Impulsgeber für andere Mitgliedstaaten, sondern darüber hinaus als Bekenntnis zur weiter gehenden Integration des europäischen Binnenmarktes, des europäischen Wirtschaftsverwaltungsrechts und nicht zuletzt zur Europäischen Union insgesamt zu verstehen wäre.

B. Bewertung der aktuellen Entwicklung und Ausblick Die Behauptung, das deutsche Kartellrecht werde dem Grunde nach „in jeder Legislaturperiode einer grundlegenden Renovierung“ 16 unterzogen, bestätigt sich fortwährend durch die lebendige Materie des Kartellrechts sowohl auf europäi15 16

§ 7, C. III. 1. b) dd). Jungbluth, NZKart 2017, S. 257, 257.

B. Bewertung der aktuellen Entwicklung und Ausblick

317

scher als auch auf nationaler Ebene. Die ständigen Umbauten des Kartellrechts sind nicht zuletzt Ausfluss einer rasanten technischen Entwicklung im digitalen Zeitalter und der damit verbundenen Globalisierung von Wettbewerb, Wettbewerbsbeschränkungen und Wettbewerbspolitik und müssen in sehr kurzen Abständen immer wieder neue Antworten auf die gegenwärtigen Herausforderungen innerhalb der Europäischen Union finden. Gerade deshalb versucht die europäische Wettbewerbspolitik, die kartellrechtliche Durchsetzungskraft innerhalb des ECN signifikant zu stärken und den aktuellen wettbewerbspolitischen Entwicklungen anzupassen, angefangen mit der Einführung eines dezentralisierten Durchsetzungsregimes durch die VO 1/2003, das durch den RL-Vorschlag der Kommission als Fortentwicklung dieser Wettbewerbspolitik auf ein neues institutionelles Niveau angehoben werden soll. Die Einflüsse dieser europäischen Wettbewerbspolitik auf die nationalen Rechtsordnungen sind in Anbetracht der Tatsache, dass globale Wettbewerbsbeschränkungen nur durch eine loyale Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten bekämpft werden können, nicht nur zu begrüßen, sondern auch folgerichtig und notwendig, weshalb sich auch der deutsche Gesetzgeber diesen Einflüssen weder entziehen noch verschließen darf. Erst kürzlich ist in Deutschland die 9. GWB-Novelle 2017 in Kraft getreten, die das Kartellrecht einer grundlegenden Renovierung unterzogen hat. Jedoch machen die künftigen Vorgaben des RL-Vorschlages der Kommission eine 10. Novellierung des Gesetzes in absehbarer Zeit notwendig, die bereits in der 19. Legislaturperiode diskutiert und verabschiedet werden könnte. Insofern gilt auch hier der altbewährte Grundsatz: Nach der Novelle ist vor der Novelle. Anders als die letzten Novellierungen, die das GWB lediglich renoviert und in Anpassung an das digitale Zeitalter verschönert haben, könnte der deutsche Gesetzgeber nunmehr den RL-Vorschlag der Kommission zum Anlass nehmen, das GWB grundlegend zu sanieren und ihm ein neues „institutionelles Design“ zu verleihen, indem er das Kartellsanktionsrecht aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht herauslöst und entsprechend den Grundzügen des Verwaltungsrechts ein Kartellsanktionsrecht sui generis schafft. Zwar gilt das institutionelle Gefüge des GWB, vor allem wegen der bedeutsamen Rolle des BKartA auf der internationalen Bühne, in der Tat als Vorreitermodell für andere Rechtsordnungen innerhalb des ECN. Gleichwohl hat diese Arbeit nachweisen können, dass selbst das deutsche Recht nicht allen Herausforderungen gewachsen ist, die sich gegenwärtig durch die aktuelle Entwicklung des globalen Wettbewerbs stellen.

Zusammenfassende Thesen 1. Die nationalen Wettbewerbsbehörden sind angesichts der Globalisierung von Wettbewerbsbeschränkungen auf die Kooperation mit anderen nationalen und internationalen Wettbewerbsbehörden angewiesen, um internationale und geheime Kartelle aufzudecken und zu zerschlagen. Die Notwendigkeit dieser behördlichen Kooperation ergibt sich bereits de lege lata aus unterschiedlichen Bestimmungen der VO 1/2003. 2. In Ermangelung eines kohärenten Vollzugssystems sind die einzelnen Kartellsanktionsregime innerhalb der Europäischen Union verfahrensrechtlich unterschiedlich ausgestaltet, weshalb der kartellrechtliche Vollzug im Hinblick auf die dezentrale Anwendung und Durchsetzung der Art. 101, 102 AEUV durch die Mitgliedstaaten nur bedingt wirksam ist. Die Kooperation stößt nämlich dort an ihre Grenzen, wo nationales Verfahrensrecht unterschiedlich ausgestaltet ist. 3. Unterschiedliche Kartellsanktionsverfahren innerhalb des ECN sind Nährboden für die Bildung von Rechtslücken und Rechtsunsicherheit sowohl für Behörden als auch für Unternehmen. Dies gilt insbesondere für die Bestimmung des kartellrechtlichen Sanktionsadressaten sowie für die Kronzeugenbehandlung innerhalb des ECN. 4. Kartellsanktionen sind insbesondere auf Prävention gerichtete Maßnahmen mit strafrechtsähnlichem Charakter. Gleichwohl ist keine bedingungslose Anwendung strafrechtlicher sowie strafprozessualer Garantien im Kartellsanktionsverfahren notwendig. 5. Die verschiedenen Kartellsanktionsverfahren sind mitunter Folge der sog. mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie und der unterschiedlichen verfassungssowie grundrechtlichen Gewährleistungen der einzelnen Netzmitglieder innerhalb des ECN. 6. Ungeachtet der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie sowie der divergierenden grundrechtlichen Gewährleistungen der Mitgliedstaaten bestehen rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten zur verfahrensrechtlichen Konvergenz innerhalb des ECN. Zum einen aufgrund einer europarechtlichen Verpflichtung durch den Richtlinien-Vorschlag der Kommission zur Stärkung der nationalen Wettbewerbsbehörden und zum anderen aufgrund einer auf dem Effektivitätsgrundsatz (effet utile) basierenden und autonomen Konvergenz der Netzmitglieder selbst. 7. Bei der dezentralen Anwendung von Art. 101, 102 AEUV durch die Mitgliedstaaten handelt es sich um eine Durchführung des Unionsrechts i. S. d.

Zusammenfassende Thesen

319

Art. 51 I GRC. Daher sind die grundrechtlichen Gewährleistungen der GRC maßgeblich. Höhere oder niedrigere nationale grundrechtliche Gewährleistungen sind im Kartellsanktionsverfahren an das Schutzniveau der GRC anzupassen. 8. Die verfahrensrechtliche Konvergenz ist im Interesse einer einheitlichen und wirksamen Anwendung der Art. 101, 102 AEUV innerhalb des ECN an das europäische Kartellsanktionssystem anzulehnen, das im Hinblick auf die Sanktionierung von juristischen Personen die Mindestanforderungen an rechtstaatliche Fundamentalprinzipien erfüllt. 9. Das deutsche Kartellsanktionsrecht genügt den europarechtlichen Anforderungen aus der VO 1/2003 trotz des weitgehenden Harmonisierungsgrades in einigen Bereichen nicht. Grund hierfür ist die Einbettung des deutschen Kartellsanktionsrechts in das Haftungssystem des Ordnungswidrigkeitenrechts (GWB, OWIG, StPO). Die Nichterfüllung europarechtlicher Anforderungen in Deutschland bestehen auch nach der 9. GWB-Novelle 2017 namentlich im Hinblick auf das gerichtliche Kartellsanktionsverfahren fort, das strafprozessrechtlich dominiert ist. 10. Das deutsche Haftungssystem nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht steht einer wirksamen verfahrensrechtlichen Konvergenz zwischen der deutschen und der europäischen Rechtsordnung entgegen. Daher ist eine Loslösung des deutschen Kartellsanktionsrechts aus dem tradierten Ordnungswidrigkeitenrecht und eine Einbettung in ein verwaltungsrechtliches System nach niederländischem Vorbild notwendig, etwa in Form eines Kartellsanktionsrecht sui generis für juristische Personen.

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Sachverzeichnis Adversatorisches Verfahren 196 Amtshilfe 10, 11, 23, 33, 40, 49, 85, 86, 87, 109, 113, 116, 121, 122 Ausfallhaftung 15, 249, 255, 256 Auskunftsverlangen 14, 110, 125, 165, 202, 220, 222, 225, 228, 230, 243, 300 Autonome Konvergenz 127, 133, 135, 314 Beschleunigungsgrundsatz 13, 195, 196, 293 Bestimmtheitsgebot 14, 41, 187, 217, 219, 231, 265 Beweisantragsrecht 138, 290, 291, 292, 323 Binnenmarkt 25, 27 Bußgeld-Leitlinien 16, 38, 45, 60, 61, 65, 66, 166, 185, 186, 191, 198, 202, 217, 218, 220, 222, 228, 230, 231, 232, 233, 304, 306 Bußgeldverantwortlichkeit 211, 251, 252, 262, 263 Deskriptive Ökonomie 181 Dezentrale Anwendung 30, 57, 86, 108, 143, 244, 260, 265, 307, 313, 318 Dezentralisierung 28 Ermessensspielraum 163, 178, 181, 182, 183, 185, 193, 199, 217 Europäische Gemeinschaft 21, 58, 61, 68, 74, 76, 80, 211, 217, 219, 220, 327, 331, 335 Europäische Wettbewerbspolitik 21, 38, 47 European Competition Network 22 Evokationsrecht 12, 153, 154, 155 Funktionsträgerprinzip 12, 167, 235

Geldbußen 11, 38, 43, 58, 60, 62, 65, 72, 73, 80, 101, 103, 110, 111, 113, 121, 139, 140, 148, 150, 163, 166, 183, 185, 186, 188, 191, 203, 217, 218, 219, 230, 232, 235, 239, 243, 251, 280, 325, 327, 330, 331, 335 Gesamtrechtsnachfolge 15, 176, 239, 240, 252, 253 Globalisierung 20, 24, 31 Harmonisierung 91, 123, 124, 128, 132, 322, 323, 326 Hauptverhandlung 16, 198, 227, 282, 283, 284, 286, 290, 293 Institutionalisierung 9, 22, 23, 24, 31, 47, 48, 49, 50, 84, 94, 144, 313 International Competition Network 22 Justiziabilität 10, 94, 96 Kartellrechtsvollzug 26, 84 Kartellsanktionssysteme 10, 11, 28, 59, 84, 85, 115, 128, 132 Kartellsanktionsverfahren 10, 11, 13, 14, 15, 16, 27, 28, 41, 45, 46, 48, 54, 60, 63, 69, 70, 71, 73, 74, 75, 76, 80, 81, 88, 90, 115, 116, 125, 129, 135, 136, 138, 139, 162, 163, 165, 180, 181, 188, 194, 195, 198, 200, 201, 203, 204, 207, 209, 210, 223, 224, 228, 249, 256, 274, 276, 278, 279, 281, 283, 284, 285, 286, 288, 289, 290, 291, 296, 304, 308, 312, 313, 318, 319 Kartellverfahrensrecht 28, 30, 32, 48, 50, 52, 54, 58, 72, 73, 86, 94, 104, 123, 146, 147, 148, 150, 152, 153, 155, 158, 165, 181, 188, 189, 221, 224, 246, 273, 281, 308, 322, 329, 330, 334, 338

340

Sachverzeichnis

Kartellverfahrensverordnung 23 Kartellverwaltungsverfahren 45, 227 Konvergenz 9, 10, 11, 15, 17, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 33, 40, 48, 50, 52, 57, 59, 71, 82, 83, 91, 92, 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 146, 148, 150, 152, 154, 156, 157, 158, 161, 201, 202, 222, 223, 231, 234, 236, 249, 261, 262, 269, 290, 306, 311, 313, 314, 315, 316, 318, 319, 321, 337 Konzernhaftung 12, 14, 132, 170, 171, 236, 260, 263, 321 Kooperationsmöglichkeiten 13, 14, 186, 189, 191, 228, 232 Kronzeugenregelung 11, 13, 24, 25, 103, 105, 111, 112, 143, 163, 188, 191, 192, 214, 232 More Economic Approach 13, 64, 97, 179, 322, 338 Multi-Stop-Shop 10, 99, 100, 104 Mündlichkeitsgrundsatz 197 Nachfolgehaftung 12, 14, 174, 176, 177, 238, 239, 260 Netzwerkbekanntmachung 10, 40, 48, 49, 54, 91, 92, 94, 100, 105, 117, 25 Ökonomische Analyse 32, 180, 183 Ökonomische Theorie 181 One-Stop-Shop 11, 105, 117 Ordnungswidrigkeitenrecht 26, 63, 70, 138, 184, 204, 240, 245, 247, 250, 289, 291, 308, 319 Politische Unabhängigkeit 16, 301, 302, 303 Präklusion 138 Prävention 9, 33, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 70, 72, 74, 76, 78, 80, 82, 209, 218, 318, 320, 337

Rechtmäßigkeitskontrolle 13, 196, 198, 199, 205, 277 Rechtsträgerprinzip 168, 235 Richtervorbehalt 16, 276, 277 Richtlinien-Vorschlag 10, 15, 25, 106, 108, 269, 318, 323 Rügeobliegenheiten 16, 293, 294 Sanktionsadressaten 25 Sanktionspraxis 20, 38, 62, 65, 66, 72, 79, 82, 126, 162, 163, 170, 186, 192, 193, 201, 202, 204, 206, 207, 218, 223, 232, 233, 234 Schuldgrundsatz 13, 202, 211, 214, 256, 260 Selbstanzeige 24, 99, 112, 117, 333 Selbstbelastungsfreiheit 14, 55, 74, 88, 125, 139, 141, 220, 221, 267, 301 Settlement 14, 65, 193, 228, 232, 233, 266, 272 Staatsanwaltschaft 15, 16, 56, 226, 227, 229, 245, 249, 250, 268, 271, 295, 296, 297, 298, 299, 303, 304, 329, 331, 333, 334, 337, 338 Strafrechtliche Fundamentalprinzipien 58 Subsidiarität 11, 118, 122, 128, 321 Trennungsprinzip 259, 261 Unmittelbarkeitsgrundsatz 13, 197, 288, 289, 292, 323 Unschuldsvermutung 13, 87, 88, 125, 126, 139, 141, 172, 174, 202, 207, 208, 211 Verbotsirrtum 13, 178, 211, 212, 214 Verfahrensautonomie 12, 24, 30, 33, 50, 113, 120, 124, 129, 131, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 149, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 244, 273, 299, 314, 318, 330

Sachverzeichnis Verfahrensgarantien 77, 78, 79, 81, 125, 158, 181, 195, 210, 221, 222, 228, 271, 294, 323, 327 Verfahrensgrundsätze 13, 33, 76, 78, 138, 194, 195, 197, 203 Verfügungsgrundsatz 13, 195 Vergleichsverfahren 13, 44, 189, 190, 191, 192, 193, 233 Verteilungsmechanismus 10, 11, 53, 54, 92, 93, 95, 100, 117 Verwaltungsprozess 279, 285

341

Weisungsgebundenheit 16, 271, 296, 301, 303, 304, 329 Wirtschaftliche Einheit 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 209, 252, 253, 254, 257, 262, 337 Wirtschaftliche Nachfolge 15, 253 Zahlungsunfähigkeit 13, 14, 191, 194, 228, 232, 233 Zwangsgelder 11, 53, 110, 111, 113, 148, 243