Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters: Konstruktion eines Mythos [Reprint 2016 ed.] 9783110933024, 9783484640252

Charlemagne is one of the few medieval figures to have maintained a constant presence in the cultural memory of later ag

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Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters: Konstruktion eines Mythos [Reprint 2016 ed.]
 9783110933024, 9783484640252

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Abkürzungen
Das Karlsbild in der lateinischen Großdichtung des Mittelalters
Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik
Karl im Land der Trobadors: Das Karlsbild der altokzitanischen Epik
Karl der Große in der italienischen und frankovenetischen Literatur des Mittelalters
Potentiale und Probleme der Geschichten über Karl den Großen in den iberoromanischen Literaturen des Mittelalters
„Ende hi was de aldercloecste ende besochste ridder": Das Bild Karls des Großen in den Niederlanden
„der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott": Karl der Große in der deutschen erzählenden Literatur des Mittelalters
Die altnordische Karlsdichtung: Das Beispiel der „Karlamagnüs saga ok kappa hans"
Die mittelenglischen Romane um Karl den Großen
„Und den Rabbenu Moses brachte der König Karl mit sich": Zum Bild Karls des Großen in der hebräischen Literatur des Mittelalters
Karl der Große in der arabischen Historiographie: Eine Spurensuche
Karl der Große in der Geschichtsschreibung des hohen Mittelalters
Register
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters

Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters Konstruktion eines Mythos Herausgegeben von Bernd Bastert

Max Niemeyer Verlag 2004

Gedruckt mit Unterstützung des Germanistischen Instituts der Ruhr-Universität Bochum

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 3-484-64025-1

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Umschlagabbildung: Karolus Rex (aus der „Chronica Regia Coloniensis": Aachen, um 1240). Brüssel, Bibl. Royale, Ms. 467, Fol. 23r. Copyright Bibl. Royale, Brüssel Satz: Walter Pape, Köln Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt

Vorwort Einleitung Abkürzungen Christine Ratkowitsch Das Karlsbild in der lateinischen Großdichtung des Mittelalters

VII IX XVIII

1

Peter Wunderli Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik

17

Angelika Ivens, Annette Klein Karl im Land der Trobadors: Das Karlsbild der altokzitanischen Epik

39

Stefan Härtung f Karl der Große in der italienischen und frankovenetischen Literatur des Mittelalters

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Victor Millet Potentiale und Probleme der Geschichten über Karl den Großen in den iberoromanischen Literaturen des Mittelalters . 79 Hans van Dijk „Ende hi was de aldercloecste ende besochste ridder": Das Bild Karls des Großen in den Niederlanden

107

Bernd Basiert „der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott": Karl der Große in der deutschen erzählenden Literatur des Mittelalters

127

Susanne Kramarz-Bein Die altnordische Karlsdichtung: Das Beispiel der „Karlamagnüs saga ok kappa hans"

149

VI Janet M. Cowen Die mittelenglischen Romane von Karl dem Großen

Inhalt

163

Elisabeth Hollender „Und den Rabbenu Moses brachte der König Karl mit sich": Zum Bild Karls des Großen in der hebräischen Literatur des Mittelalters . . . 183 Alexander M. Schilling Karl der Große in der arabischen Historiographie: Eine Spurensuche

201

Bernd Schütte Karl der Große in der Geschichtsschreibung des hohen Mittelalters

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Register

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Wie jedes Buch, so hat auch dieses seine Geschichte. Es existierte zunächst nur als Gedanke im Umfeld meiner Habilitationsschrift, die der deutschen Chanson de geste-Rezeption gewidmet ist. Während der Arbeiten an dieser Studie wurde mir recht schnell bewußt, wie tief und in welch feinen Verästelungen der Karlsmythos sich in die europäischen Literaturen des Mittelalters einschrieb - und vor allem, wie intensiv sich die Forschung mit diesem Thema beschäftigt hat. Nicht selten sind die fraglichen Primär- und Sekundärtexte allerdings nur schwer zugänglich, zuweilen sind sie in Idiomen verfaßt, die nicht jeder und jedem ohne weiteres verständlich sind. Oft genug stellte sich dann der Wunsch ein: ,Wenn es doch nur ein Werk gäbe, das einem die mühsame und zeitraubende Recherche und Beschaffung ersparte und so profund wie kompakt über das ausgedehnte Feld der europäischen Karlsliteratur informieren würde ...' Während mehrerer Gespräche über dieses Thema, die im März 1999 mit Literaturwissenschaftlern und Historikern auf dem Leipziger Karlskongreß geführt wurden, ermutigten mich beinahe alle, das damals lediglich virtuell existierende Buch durch die Suche nach entsprechenden Beiträger/innen bald in konkrete Gestalt zu überführen. Bevor jedoch die Idee in die Tat umgesetzt werden konnte und ausgewiesene Fachleute für jedes Gebiet gefunden waren, die zudem genügend Zeit und Enthusiasmus mitbrachten, einen Artikel verfassen zu wollen, vergingen noch einige Jahre; bevor die Beiträge geschrieben waren, ging weitere Zeit ins Land. Selbstverständlich kann der schließlich dann doch fertig gestellte Band nicht alle (der im Sinne des anfangs erwähnten Wunsches) aufgeworfenen Fragen umfassend beantworten. Das gilt schon allein deshalb, weil sich aus unterschiedlichen Gründen einige der ursprünglich geplanten Artikel nicht realisieren ließen. So fehlen etwa Ausführungen über das Karlsbild in der slawischen Literatur des Mittelalters, über Karl den Großen in der mittelalterlichen Fachliteratur und über die Karlsikonographie mittelalterlicher Handschriften. Um so größerer Dank gilt daher zuvorderst allen, die sich - oft genug trotz drängender anderer Belastungen - der Mühe unterzogen haben, ihr Fachwissen beizusteuern. Gleichwohl wäre das Unternehmen ohne die Hilfe weiterer Personen und Institutionen nicht zustande gekommen. Genannt werden sollen das Germanistische Institut der Ruhr-Universität Bochum, das einen Druckkostenzuschuß gewährte sowie der Niemeyer-Verlag, der das Projekt in sein Verlagsprogramm aufnahm und, in Gestalt von Frau Saier, ebenso kompetent wie entgegenkommend betreute. Carla Dauven-van Knippenberg übertrug den Artikel von Hans van Dijk aus dem Niederländischen ins Deutsche, Rabea Bockwyt hat

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Vorwort

in einem wichtigen Stadium bei redaktionellen Arbeiten geholfen. Und ohne Walter Pape, der den Band mit großer Geduld und noch größerer Sachkenntnis für den Druck eingerichtet hat, hätte er in seiner jetzigen Form niemals erscheinen können. Ihnen allen sei dafür ebenfalls herzlich gedankt. Den größten Dank schulde ich freilich Stephanie Altrock, die mir nicht nur bei der Übersetzung des englischen Beitrags von Janet M. Cowen half, die nicht nur eine aufmerksame und mitdenkende Korrekturleserin war, sondern mir auch in Situationen, in denen die für ein solches Unternehmen notwendige Nervenstärke eines Herausgebers manchen Belastungen ausgesetzt war, immer hilfreich zur Seite stand.

Bochum/Köln, im März 2004

Bernd Bastert

Einleitung

Karl der Große gehört zu den wenigen historischen Gestalten des Mittelalters, die bis heute im kulturellen Gedächtnis der westlichen Welt präsent sind. Dazu haben sicherlich mehrere Faktoren beigetragen: die kulturellen und religiösen Impulse, die während seiner langen Regierungszeit von ihm selbst und seiner Umgebung ausgingen, ebenso wie seine politischen und militärischen Erfolge; die prominente Stellung als erster weströmischer Kaiser des Mittelalters, auf den sich alle späteren römisch-deutschen Kaiser berufen konnten, genauso wie seine Bedeutung für das Verhältnis von Papsttum und Kaisertum und die damit zusammenhängende Durchsetzung des römisch-katholischen Ritus in weiten Teilen Europas. Es ließen sich weitere Faktoren anfuhren, die in der einschlägigen Forschung jeweils intensiv diskutiert worden sind. Doch diese feste, trotzdem immer wieder neu zu befestigte Verankerung Karls im kulturellen Gedächtnis Europas wäre schwerlich möglich gewesen, ohne daß sie durch schriftliche Quellen auf Dauer gestellt und zugleich modelliert worden wäre. Kulturelles Gedächtnis wird dabei verstanden im Sinne von Aleida und Jan Assmann, die in zahlreichen Arbeiten gezeigt haben, daß das .Gedächtnis' einer Kultur nicht etwas zufallig Gewordenes ist, in dem sich bestimmte Erinnerungen einnisten und andere nicht, sondern etwas artifiziell Gemachtes und sorgsam Verwaltetes. Herausragende Bedeutung kommt bei der Verankerung Karls im kulturellen Gedächtnis Europas den seit dem 8. Jahrhundert auf Latein verfaßten und somit in ganz Europa verständlichen Texten über Karl den Großen zu, insbesondere gilt dies für Einharts „Vita Karoli Magni". Neben jener supranationalen Literatur über den ersten Frankenkaiser entwikkelte sich in Europa jedoch noch eine andere, nicht minder bedeutende KarlsTradition in den verschiedenen Volkssprachen. Faßbar wird diese vernakulare Literatur, die oft unter dem Einfluß des Kreuzzugsgedankens steht, für uns allerdings erst mit der ältesten schriftlichen Fassung des altfranzösischen Rolandslieds, der „Chanson de Roland", die wohl in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts aufgezeichnet wurde. Für eine frühere, mündliche Existenz (französischer) Epen über Karl den Großen existieren Indizien, sicher belegen kann man diese Form der Heroik jedoch nicht. Eindeutig nachweisen läßt sich allerdings, dass die französische Heldenepik, vom romanischen Sprachraum ausgehend, innerhalb weniger Jahrzehnte ganz Europa erfaßte und bald von Skandinavien im Norden bis zur Iberischen Halbinsel im Süden und von England im Westen bis zum böhmischen Raum im Osten reichte. Vernakulare und lateinische Karlsliteratur, die zum Teil unterschiedliche Karlsbilder zeichnen, scheinen weitgehend problemlos

X

Einleitung

nebeneinander existiert zu haben, zuweilen wird die volkssprachliche Epik im lateinischen Schrifttum allerdings kritisiert und als lügenhaft diskreditiert. Partiell ergeben sich freilich auch Interferenzen; so etwa, wenn Karls Kampf gegen die spanischen Sarazenen - und mithin die zentrale Episode volkssprachlicher Karlsepik - zum Thema des lateinischen „Pseudo-Turpin" wird und spätere vernakulare Texte sich wiederum aus dieser Quelle bedienen. Ob hier und in ähnlichen Fällen lateinische Autoren auf Erzählungen rekurrieren, die in (vorschriftlicher) Heldenepik vorgeprägt waren, ob umgekehrt bereits existierende lateinische Texte mit hagiographischer Tendenz auf die altfranzösische Heroik einwirkten, oder ob beide Traditionen unabhängig voneinander auf der Grundlage eines gemeinsamen Nährbodens entstanden, ist Gegenstand einer langen und intensiven Forschungsdebatte, die hier jedoch nicht näher erörtert werden kann. Mit ausgelöst wurde jene Debatte durch die 1865 erschienene, auf Grund ihrer immensen Stoffkenntnis nach wie vor beeindruckenden und noch immer mit Gewinn zu lesenden Arbeit von Gaston Paris über die „Histoire Poétique de Charlemagne", in der der große französische Gelehrte fast alle seinerzeit bekannten lateinischen wie volkssprachlichen Werke über Karl den Großen bearbeitet.1 Daß eine ähnlich souveräne Zusammenschau der europäischen Karlsliteratur samt der einschlägigen wissenschaftlichen Aufarbeitung heute längst nicht mehr in der Form zu leisten ist, wie dies Gaston Paris vor rund 150 Jahren noch gelingen konnte, liegt nicht zuletzt an der Explosion der Forschungsliteratur, in der jenes Thema seit dem 19. Jahrhundert extensiv behandelt worden ist. Eine im Jahr 1993 unter dem Titel „The Médiéval Charlemagne Legend" erschienene Bibliographie führt nicht weniger als 2765 Einträge auf;2 inzwischen werden noch einige hundert hinzugekommen sein. Angesichts solcher Zahlen und vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Ausdifferenzierung und zunehmenden Spezialisierung der mit dem Thema ,Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters' befaßten Forschungsbereiche entstand der Gedanke, die literarischen Auseinandersetzungen mit dem Frankenkaiser von Fachleuten unterschiedlicher mediävistischer Disziplinen aufarbeiten und analysieren zu lassen, um so der Partikularisierung der Forschung entgegenzuwirken und - wenigstens der Tendenz nach - zu einer Gesamtdarstellung des literarischen Umgangs mit jener Zentralfigur des Mittelalters zu gelangen. Dabei konnte für einige Literaturen, so etwa für die altfranzösische oder auch für die mittelniederländische, auf eine lange und dichte Forschungsdebatte zurückgegriffen werden, die teilweise jedoch neu zu bewerten war. Für andere Bereiche, etwa für die hebräische und die provenzalische Literatur, aber auch für die arabische Historiographie, stellte sich die Situation völlig anders dar. Für die in diesen Sprachen verfaßten Texte existierten bislang keine oder jedenfalls keine umfassenden Vorarbeiten, so daß hier Grundlagenarbeit für das literarische Karlsbild zu leisten war. 1 2

Gaston Paris: Histoire Poétique de Charlemagne. Paris 1865. Susan E. Farrier: The Medieval Charlemagne Legend. An Annotated Bibliograpy. New York, London 1993 (Garland Medieval Bibliographies 15).

Einleitung

XI

Im Zentrum des vorliegenden Bandes steht die Auseinandersetzung mit Karl dem Großen in unterschiedlichen volkssprachlichen Literaturen des europäischen Mittelalters. Eingerahmt werden diese Beiträge von zwei Studien, die sich der Darstellung des Frankenkaisers in lateinischen Texten und Textsorten widmen. Ihre Begründung findet eine solche, die lateinische Literatur an prominenter Position ausstellende und dadurch präferierende Anordnung der Beiträge in der überragenden Bedeutung, die das lateinische Schrifttum für alle vernakularen Literaturen des Mittelalters besitzt. Hinzu kommt, daß lateinische Texte über den Frankenkaiser die ältesten für uns greifbaren Manifestationen mittelalterlicher Karlsliteratur bilden. Mit einem Teil jener Texte setzt sich Christine Ratkowitsch in ihrem Beitrag über „Das Karlsbild in der lateinischen Großdichtung des Mittelalters" auseinander. Dabei beleuchtet sie zunächst panegyrische Werke, die noch zu Karls Lebzeiten entstanden sein dürften. Jene enkomiastische Perspektive, die sich bereits in den frühen Texten zeigt, dominiert gleichfalls in den folgenden Jahrhunderten einen großen Teil der lateinischen Erzähldichtung über Karl den Großen. Auf die ältesten literarischen Ausformungen können deshalb selbst einige der schon an der Schwelle zur Neuzeit entstandenen lateinischen Werke noch unmittelbar zurückgreifen - wodurch sie zugleich deren ansonsten unbekannten Inhalt für die Nachwelt konservierten. Abgesehen von wenigen frühen, von monastischer Seite lancierten Schriften, die Karls Umgang mit dem anderen Geschlecht kritisieren, wird Karl in der lateinischen Großdichtung beinahe durchgehend als exemplarische Herrscherfigur geschildert, die teilweise sogar Züge einer Heiligengestalt annimmt. Jene Hagiographisierungstendenz der lateinischen Literatur beeinflußt, so Ratkowitsch, zugleich das Karlsbild der volkssprachlichen Literaturen, in denen der Kaiser teilweise ebenfalls als heiligmäßige Person erscheint. An diese Beobachtungen kann der erste von vier Beiträgen, die dem literarischen Karlsbild in den romanischen Volkssprachen des Mittelalters gewidmet sind, nahtlos anknüpfen. Peter Wunderli beginnt seinen ,tour d'horizon' durch die altfranzösische Heldenepik, die Chanson de geste, mit dem ältesten und zugleich wichtigsten Vertreter dieses Genres: der „Chanson de Roland", die mindestens ebenso sehr ein Text über Karl wie über Roland ist. Die aus der lateinischen Literatur bekannten enkomiastischen, partiell sogar hagiographischen Merkmale Karls lassen sich auch dort nachweisen. Gleichwohl umfaßt das Karlsbild der „Chanson de Roland" bereits in jener ältesten Chanson de geste, erst recht jedoch in den später entstandenen Epen, eine sehr viel größere Spannbreite. Sie reicht von einer (fast) ungebrochen positiven Darstellung Charlemagnes in der „Chanson de Roland" bis zum ambivalenten Karlsbild der sogenannten Empörerepik und der geradezu lächerlichen Karlsgestalt im „Voyage de Charlemagne". Gleichviel, ob für jene polyvalente Darstellung wechselnde Auftraggeber mit je unterschiedlichen politischen Interessen verantwortlich sein sollten, oder ob sich das facettenreiche Karlsbild der Chanson de geste eher aus der Lust am Durchspielen, am Ausspekulieren möglichst vieler literarischer Varianten erklärt, das Ergebnis

XII

Einleitung

ist jedenfalls beeindruckend genug. Es macht die altfranzösische Heldenepik mit ihren gut 80 Chansons de geste, in denen Karl dem Großen eine mehr oder minder bedeutende Rolle zufallt, zu der in diesem Bereich quantitativ wie qualitativ reichsten Literatur Europas, die allen anderen Literaturen als - wie auch immer umzusetzendes - Vorbild dienen konnte. Vor der Folie der altfranzösischen „Chanson de Roland" sind beispielsweise die beiden provenzalischen Texte zu lesen, die sich mit dem ersten Frankenkaiser auseinandersetzen und dabei die Schlacht von Roncesvalles, also die zentrale Episode aus der vita poetica Karls des Großen, in den Mittelpunkt stellen. Wie Angelika Ivens und Annette Klein in ihrem Beitrag darlegen, präsentieren jedoch beide Karl und seine Helden, im Unterschied zum altfranzösischen Ausgangstext, nicht als vorbildliche Kreuzfahrer und (potentielle) Märtyrer, sondern als durchaus problematische, ja sogar gebrochene Figuren. Am eindringlichsten manifestiert sich diese Sichtweise vielleicht in jenen Versen des provenzalischen „Ronsasvals", in denen die - in der Chanson de geste-Forschung zwar breit diskutierte, doch in mittelalterlichen Texten nur selten erwähnte - inzestuöse Zeugung Rolands durch Karl und dessen Schwester zum Thema wird. Problematisiert wird der Frankenkaiser ebenfalls in manchen Werken der italienischen und frankovenetischen Literatur. Im Sprachund Kulturgebiet des heutigen Oberitalien wurde, erleichtert durch die Benutzung des Französischen als Literatursprache, die altfranzösische Heldenepik ausgesprochen früh rezipiert. Zudem entstanden in Norditalien, das der leider viel zu früh verstorbene Stefan Härtung in seinem Beitrag zu Recht als ein „Kernland der Karlsepik" charakterisiert, mehrere bedeutende Chansons de geste, darunter einige wichtige Fassungen der „Chanson de Roland". Auch in den nachfolgenden Jahrhunderten blieb Italien ein zentraler Produktionsort karlsepischer Literatur, die ab dem 14. Jahrhundert freilich in einer eigenen italienischen Literatursprache verfaßt wurde. In den italienischen und frankovenetischen Texten wird das polyvalente Karlsbild der altfranzösischen Literatur übernommen und teilweise noch weiter aufgefächert, zugleich aber den spezifischen Bedingungen italienischer Rezipienten angepaßt. Vergleichbar gestaltet sich, wie Victor Millet verdeutlicht, die Situation auf der Iberischen Halbinsel. Dort wurde offenbar die altfranzösische Karlsliteratur ebenfalls früh rezipiert, auch wenn dafür solch eindeutige Belege wie in Italien fehlen. Im Fokus des Rezeptionsinteresses scheint insbesondere die „Chanson de Roland" gestanden zu haben, die auf der Iberischen Halbinsel schon allein deshalb von großer Relevanz sein mußte, weil in ihr Kampfhandlungen in Spanien geschildert werden. Gerade dieses Faktum trug indes dazu bei, daß sich in Teilen der in Spanien verfaßten Karlsliteratur eine sehr spezifische Darstellung des fränkischen Herrschers herausbildete, die ihn in ein eher zweifelhaftes Licht rückt. Konnte doch aus spanischem Blickwinkel die in der „Chanson de Roland" beschriebene Militärexpedition des fränkisch-französischen Kaisers als versuchte Okkupation der Iberischen Halbinsel verstanden werden. Im Unterschied zum äußerst facettenreichen Bild Karls des Großen in den romanischen Volkssprachen erweist sich der Umgang mit der Figur des Frankenkai-

Einleitung

XIII

sers in der vernakularen Literatur der Germania, wie die vier Beiträge eines zweiten Blocks zeigen, als insgesamt konsistenter, dadurch aber auch als monotoner. Zwar kennt die mittelniederländische Literatur, die über das Scharnier Flandern/Brabant stark auf die altfranzösische Literatur ausgerichtet war, schon früh das ambivalente Karlsbild der Empörerepik, doch ist, wie aus dem Beitrag von Hans van Dijk erhellt, die positive Einschätzung Karls des Großen im ganzen bestimmender. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wird Karl in niederländischen Texten sogar explizit als Heiliger bezeichnet. Der heilige Karl steht, wie Bernd Bastert zeigt, ebenfalls im Mittelpunkt der deutschsprachigen Erzählliteratur über den Frankenkaiser, wobei sich eine Neigung zur Hagiographisierung im oberdeutschen Raum ebenso nachweisen läßt wie im mittel- und niederdeutschen Sprach- und Kulturgebiet. Ähnlich stark ist die altnordische Karlsepik, die Susanne Kramarz-Bein am Beispiel der „Karlamagnüs saga" analysiert, „durch ihr religiöses Kolorit geprägt und vertritt zugleich ein religiöses Anliegen", was nicht ohne Auswirkungen auf die Darstellung Karls des Großen bleiben konnte. Eine besonders prägnante Ausgestaltung als christlicher Held erfährt der Frankenkaiser in mittelenglischen Karlstexten, die, wie Janet M. Cowen aufzeigt, im größeren Zusammenhang spätmittelalterlicher Kreuzzugsliteratur und einer Verehrung der Passionsreliquien zu sehen sind. In einigen mittelenglischen Karlsromanen trägt Karl sogar die Dornenkrone Christi und erscheint durch diese imitatio implizit als Heiliger. Naturgemäß kann es in Texten, die nicht in der christlichen Gedankenwelt gründen, schwerlich um den heiligen Karl gehen. In ihrem Beitrag zum Karlsbild in der hebräischen Literatur des Mittelalters demonstriert Elisabeth Hollender jedoch, daß Karl der Große auch in den wenigen hebräischen Texten, in denen der Frankenkaiser begegnet, als überaus positive Figur agiert, die sich durch große Toleranz und Sympathie gegenüber der jüdischen Minderheit auszeichnet. Demgegenüber stellt, wie Alexander M. Schilling herausarbeitet, eine positive Charakterisierung des Frankenherrschers in historiographischen Quellen des arabischen Spanien, also aus der Sicht des Gegners, die große Ausnahme dar. Besondere Beachtung verdient es daher, wenn der Name Karl in einem Zweig dieser arabischen Geschichtsschreibung - die, falls sie sich überhaupt für Karl interessiert, ihn meist als Aggressor darstellt - als generelle Bezeichnung für fränkische Herrscher Verwendung findet. Die kaum zu überschätzende Bedeutung Karls für die fränkische Geschichte scheint demnach auch von seinen Gegnern (teilweise) registriert worden zu sein. Mit dem letzten Beitrag des Bandes wird gewissermaßen der Bogen zum ersten zurückgeschlagen, stehen in ihm doch wieder lateinische Texte im Mittelpunkt. Bernd Schütte geht darin den variablen Karlsbildern in der lateinischen Geschichtsschreibung insbesondere des hohen Mittelalters nach. Auch in diesen Texten geht es natürlich nicht um den historischen Karl. Vielmehr erweist sich, analog zur volkssprachlichen Tradition, ebenfalls die Darstellung des Frankenkaisers in der lateinischen Historiographie als von Anfang an durch idealisierende und typisierende Bilder und Intentionen

XIV

Einleitung

überlagert. Es ist auffallig, daß dabei die zu dieser Zeit reich blühende vernakulare Literatur so gut wie unberücksichtigt geblieben ist. Wenn Karl etwa als miles Christi gezeichnet werden soll, greift man in der hochmittelalterlichen lateinischen Geschichtsschreibung nicht auf die „Chanson de Roland" oder auf das „Rolandslied", sondern auf den lateinischen „Pseudo-Turpin" zurück, und wenn die Eroberung Sachsens als heilsgeschichtlich bedeutsame Tat des Frankenkaisers dargestellt wird, geschieht das ebenfalls allein durch Verweise auf lateinische Quellen. Man kann dieses Faktum zum Teil damit erklären, daß die von Schütte behandelten Texte ganz überwiegend auf dem Gebiet des römisch-deutschen imperium geschrieben wurden, in dem die Karlsepik weit weniger verbreitet war als in der Romania. Gerade für das Bild des heiligmäßigen und heilsgeschichtlich bedeutsamen Königs hätten jedoch Vorbilder aus dem Fundus der deutschsprachigen Karlsliteratur bereitgestanden. In nicht wenigen der überaus zahlreichen Publikationen, die sich mit dem ersten Frankenkaiser beschäftigen, wird Karl der Große als ,Mythos' bezeichnet. Ausgedrückt werden soll dadurch zum einen die unbestreitbar überragende Bedeutung, die Karl für den Verlauf der europäischen Geschichte besitzt, zum anderen Karls Prominenz im kulturellen Gedächtnis der westlichen Welt. 3 Darüber, wie beides miteinander zusammenhängt, was also Karl allererst zu einem Mythos hat werden lassen, legen sich nicht immer alle Autoren, die den eingängigen Begriff benutzen, genauere Rechenschaft ab. In der Tat ist es schwierig, den schillernden Begriff des Mythos, der sehr verschieden ausgelegt werden kann und unterschiedlich verwendet worden ist, exakt zu definieren und in dem so herauspräparierten Sinn dann auf einen Ort, eine Sache oder auf eine Person zu beziehen. Nicht selten bedeutet eine definitorische Klärung und eine damit notwendigerweise einhergehende Festlegung auf eine bestimmte Perspektive zugleich den Ausschluß von Sichtweisen, die ebenso erhellend oder sogar noch adäquater wären. Um diesem Dilemma zu entgehen, haben A. und J. Assmann vorgeschlagen, zwischen mehreren, verschiedenen Forschungsfeldern zuzuordnenden, MythosBegriffen zu differenzieren und sie je gesondert zu analysieren. 4 Von den sieben Mythos-Begriffen, die sie auf solche Art herausarbeiten, lassen sich (mindestens) zwei auf den literarischen Umgang mit der Karlsfigur anwenden, wobei eine Trennlinie zwischen beiden nicht immer scharf gezogen werden kann. Unter dem dritten der beschriebenen Mythos-Begriffe verstehen A. u. J. Assmann „einen kulturellen Leistungswert", der sich umschreiben läßt als „fundierende, legitimierende und weltmodellierende Erzählung". 5 Ein wichtiges Kenn3

Vgl. etwa Robert Morrissey: L'empereur ä la barbe fleuri. Charlemagne dans la mythologie et l'histoire de France. Paris 1997; Max Kerner: Karl der Große. Entschleierung eines Mythos. Köln, Weimar, Wien 2000.

4

Aleida und Jan Assmann: Art. Mythos. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. IV. Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 179-200. Vgl. dazu auch die Einleitung und einzelne Beiträge in: Texte zur modernen Mythentheorie, hg. von Wilfried Barner, Anke Detken, Jörg Wesche. Stuttgart 2003 (RUB 17642).

5

A. u. J. Assman [Anm. 4], S. 180.

Einleitung

XV

zeichen dieses Typs, der sich auf Mythen bezieht, die für eine Gruppe oder Gesellschaft kulturell bedeutsam und/oder identitätsstiftend sein wollen, besteht darin, daß solche Mythen lebenspraktisch eingebunden sind, indem an sie .geglaubt' wird. Aus diesem Grund kommt es zu Interferenzen mit rituellen Akten. Wie für alle anderen Mythos-Begriffe ist auch für diesen seine „proteische Qualität" konstitutiv, also das Potential, sich in den unterschiedlichsten Formen ausdrücken zu können.6 Das führt zu einer immensen Variabilität, die sich in einer theoretisch unendlichen Reihe von Fassungen dokumentiert. Allerdings bedeutet Variabilität nicht etwa absolute Beliebigkeit. Verhindert wird dies unter anderem durch das „gehärtete Grundmuster",7 das den Kern oder Kristallisationspunkt eines legitimierenden Mythos bildet und dafür sorgt, daß dessen „genetische Stabilität bei gleichzeitiger Variabilität" gewährleistet ist.8 Hans Blumenberg spricht in diesem Zusammenhang von der „ikonischen Konstanz" eines Mythos.9 Unter einem so verstandenen Mythos-Begriff läßt sich zweifellos auch ein großer Teil der unterschiedlichen mittelalterlichen Ausprägungen des Karl-Stoffes subsumieren. Als „gehärtetes Grundmuster" oder „ikonische Konstante" eines legitimierenden Karls-Mythos kann wohl, spätestens seit dem ersten sicher nachweisbaren Auftreten in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die christlich imprägnierte, mit Kreuzzugsideologie aufgeladene Darstellung der RoncesvallesSchlacht ausgemacht werden (vgl. dazu den Beitrag von Wunderli). Von hier nahm der glaubensbestätigende und somit legitimierende Mythos von Karls aufopferungsvollem und unermüdlichem Einsatz für die christliche Sache, der in den volkssprachlichen Literaturen des europäischen Mittelalters „in ständiger Reorganisation und Anpassung an die je veränderte Gegenwart"10 künstlerisch variiert wurde, seinen Ausgang (vgl. dazu die Beiträge von Basiert, Cowen, van Dijk und Kramarz-Bein). Doch in welchen Variationen und Fortschreibungen und in welcher Sprache auch immer die vitapoetica des großen Frankenkaisers während des europäischen Mittelalters neu- und umerzählt worden sein mag, das unveränderbare „gehärtete Grundmuster" bildeten dabei stets die Ereignisse in und um Roncesvalles (vgl. dazu etwa den Beitrag von Ivens und Klein). Dies zeigt sich schon allein darin, daß im Kosmos der vernakularen Bearbeitungen des Karlsmythos die Schlacht bei Roncesvalles als chronologischer Orientierungspunkt fungiert, auf den das relative Zeitsystem vieler Karlsepen bezogen ist - ähnlich wie in der lateinischen Geschichtsschreibung Christi Geburt als Bezugspunkt der 6

7 8

9 10

Ebd., S. 189. So existiert beispielsweise fur Lévi-Strauss ein Mythos nur in der Gesamtheit seiner Versionen, vgl. Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen. In: ders.: Strukturale Anthropologie. Frankfurt/M. 1967, S. 226-254. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 1979, S. 166. Susanne Bürkle: Erzählen vom Ursprung. Mythos und kollektives Gedächtnis im „Annolied". In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Udo Friedrich und Bruno Quast. Berlin 2004 (Trends in Médiéval Philology 2), (im Druck). Blumenberg [Anm. 7], S. 165f. Assmann [Anm. 4], S. 189.

XVI

Einleitung

Zeitrechnung dient. Keineswegs zufallig erweist sich dann auch gerade die „ikonische Konstante" der Roncesvalles-Erzählung als Sinnkern einer christlichen Karlsverehrung, die in manchen Ritualräumen, so beispielsweise im Aachener Münster, in der Kathedrale von Chartres oder im Dom zu Halberstadt, als ikonographisches Memorialbild in Szene gesetzt worden ist. In Gestalt der durch den „Pseudo-Turpin" vermittelten Fassung ging jenes „gehärtete Grundmuster" ebenfalls in einige Bearbeitungen der „Legenda Aurea" ein. Vor allem aber bildet es das Grundgerüst der kurz nach der Kanonisation des Frankenkaisers entstandenen Aachener „Vita Karoli Magni" (vgl. dazu den Beitrag von Schütte), auf die sich die Aachener Karlsliturgie stützt, die ihrerseits zum Vorbild kultischer Verehrung an weiteren Orten wurde. Daher ist es dann mehr als ein Symbol, wenn bildliche Darstellungen von Karls Sieg über die heidnischen Feinde bei Roncesvalles das Dach des goldenen Schreins zieren, in dem die Gebeine des verehrten Heiligen ruhen - und damit das gesamte mythische Gebäude vom heiligen Karl gleichsam überwölben. Mit der christlich aufgeladenen Konstruktion vom heiligen Karl ist allerdings nur eine Facette des lebenspraktisch eingebundenen Karlsmythos erfaßt. Existiert daneben doch ein, unter den Kapetingern gegen Ende des 12. Jahrhunderts noch einmal forcierter, Mythos, der den Frankenkaiser zum imperial-expansionistischen Heros des Frankenreichs, oder genauer des französischen Königreichs, stilisierte. Diese nationale und insofern gleichfalls identitätsstiftende Ausprägung des Karlsmythos, bei dem wiederum Karls Spanienfeldzug das „gehärtete Grundmuster" abgibt, blieb in ihrer Reichweite freilich beschränkt. Ähnlich universelle Relevanz wie die des christliche Identität stiftenden heiligen Karl konnte der politisch aufgeladene Mythos des Frankenkaisers nicht gewinnen. Er provozierte im Gegenteil, etwa in Spanien, sogar Abwehrreaktionen, die wiederum eigene, literarisch transportierte Mythen hervorbrachten (vgl. dazu den Beitrag von Millet). Einige Literaturwissenschaftler rechnen zu diesen Abwehrreaktionen auch französische Chansons de geste, in denen Karl, wie in den Empörerepen oder im „Voyage de Charlemagne", nicht als positive, sondern als ambivalente oder sogar als lächerliche Figur erscheint. Dadurch werde der positive kapetingische Karl durch ein negatives, aus antiköniglicher Perspektive entwickeltes und so die Interessen der großen Vasallen unterstützendes Bild konterkariert. Wie immer man zu dieser Auffassung steht, es ist kaum zu übersehen, daß Epen wie „Renaut de Montauban" oder „Voyage de Charlemagne", die von komischen Zügen nicht frei sind, überdeterminiert erscheinen im Sinne eines narratives Überschusses, der nur schwer mit einem der bislang beschriebenen mythischen Karl-Bilder zu verrechnen ist. Noch weitaus stärker gilt dies für den Umgang mit der Figur des Frankenkaisers in vernakularen und lateinischen Texten, die im Italien des späten 15. und 16. Jahrhunderts entstanden und spielerisch mit den älteren Epen umgehen. Die in ihnen transportierten Mythen werden dadurch in eine Form überführt, die kein ,geglaubter' Mythos mehr sein will. Diese neue, dezidiert literarische Seinsweise des Karlsmythos (vgl. dazu die Beiträge von Härtung und Ratkowitsch) reflektiert

Einleitung

XVII

sehr genau die vorgängigen Ausprägungen und ist mithin „immer schon in Rezeption übergegangen", wie H. Blumenberg jene „Arbeit am Mythos" charakterisiert." „Statt Heiligkeit gilt hier essentielle Distanz, statt Unveränderlichkeit gilt spielerische Behandlung und Freiheit der Imagination".12 Jener literarische Karlsmythos, der dem sechsten der von A. und J. Assmann angeführten Mythos-Begriffe entspricht, kann dabei durchaus Anteil am funktionalistischen, kollektive Identität stiftenden Karlsmythos haben. Der Mythos Karls des Großen zerfallt demnach in den europäischen Literaturen des Mittelalters in mehrere, sich teilweise überlagernde Mythen, denen gemeinsam ist, daß sie die Erinnerung an den ersten Frankenkaiser auf je spezifische Art modellieren, ja daß sie teilweise eine bestimmte Form der Erinnerung an Karl den Großen überhaupt erst produzieren. Jenes erstaunliche Kommemorationspotential, das die Figur Karls des Großen in den literarischen Bearbeitungen des Mittelalters kennzeichnet, bestimmt den Umgang mit dem Frankenkaiser bis auf den heutigen Tag. Nach dem Scheitern der Nationalismen in den Greueln des zweiten Weltkriegs wird das kulturelle Gedächtnis des modernen Europa gegenwärtig durch einen neuen, ebenfalls sorgsam in Szene gesetzten Karl-Mythos bestimmt, der den Frankenkaiser als ersten Europäer feiert. Als Vordenker der Einigung Europas wird er zum Beispiel durch die jährliche Verleihung des Aachener Karlspreises präsentiert. „Geschichte, die zur verpflichtenden Erinnerung verdichtet und in Festen kommemoriert wird, ist Mythos. Solche Erinnerung verwendet die Vergangenheit nicht nur als Überhöhung und legitimierenden Sockel für die Gegenwart, sondern auch als einen ,Motor' für die Verwirklichung kollektiver Ziele, Hoffhungen, Ideale."13 Weshalb sich gerade Karl der Große für eine solche „Mythomotorik" als stärker disponibel erwiesen hat als die meisten anderen Figuren der europäischen Geschichte und Literatur, bleibt freilich zu diskutieren.

11

Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hg. von Manfred Fuhrmann. München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 11-66, hier S. 28.

12

Assmann [Anm. 4], S. 180.

13

Ebd., S. 197.

Abkürzungen

DTM

Deutsche Texte des Mittelalters

DVjs

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

FmSt

Frühmittelalterliche Studien

GAG

Göppinger Arbeiten zur Germanistik

GRLMA

Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Heidelberg 1968ff.

LexMA

Lexikon des Mittelalters. 9 Bde., Registerband. München, Zürich 1980-1999.

MGH

Monumenta Germaniae histórica. Hannover u. a. 1826ff.

Mlat.Jb

Mittellateinisches Jahrbuch

MLN

Modern Language Notes

MTU

Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters

PBB

Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur

PL

Patrologiae cursus completus, ser. Latina, hg. von J.-P. Migne u. a.

RGA

Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Begr. von Johannes Hoops. Zweite, völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Aufl. Hrsg. von Heinrich Beck u. a. Bd. lff. Berlin, New York 1973 ff.

VL2

Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begr. von Wolfgang Stammler, fortgef. von Karl Langosch. 2., völlig neu bearbeitete Aufl. Hrsg. von Kurt Ruh u. a. Bd. lff. Berlin, New York 1978 ff.

ZfdA

Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur

ZfdPh

Zeitschrift für deutsche Philologie

ZfrPh

Zeitschrift für romanische Philologie

Christine

Ratkowitsch

Das Karlsbild in der lateinischen Großdichtung des Mittelalters Für Dieter Schaller (19.6.1929-11.7.2003)

Die poetischen Huldigungen an Karl den Großen setzen mit der Eroberung des Langobardenreiches im Jahr 774 ein.1 Neben Widmungen oder persönlichen Inhalten treten in den Gedichten allmählich Karls siegreiche Kriege und religionspolitische Maßnahmen in den Vordergrund. Zu dieser Gruppe zählen das paraliturgische Oster-Canticum des Paulinus von Aquileia über die Niederwerfung des Langobardenaufstandes (776) und das „Carmen de conversione Saxonum" (777) desselben Dichters, in dem dieser die Zwangstaufe der Sachsen in einen heilsgeschichtlichen Rahmen stellte.2 Den ersten Höhepunkt der karolingischen Hofdichtung bildete die sogenannte Zirkulardichtung: Dabei handelt es sich um längere Gedichte, in denen Karl, seine Familie und die Hofgesellschaft im Rahmen bestimmter feierlicher Anlässe geschildert werden und die dafür gedacht sind, von Hand zu Hand der genannten Personen zu eilen. Auf Angilbert, der mit carm. 2 (794/95) den Anfang macht, folgen im Jahr 796 die Gedichte Alkuins (carm. 26) und Theodulfs (carm. 25), der auf humorvolle Weise den Preis Karls anläßlich des Awarensieges mit der Schilderung eines Festmahls verbindet, das ihm Gelegenheit bietet, in die Charakterisierung herausragender Personen der Hofgesellschaft pointierte Angriffe auf persönliche Gegner einzuflechten.3 Auf derartigen Gelegenheitsgedichten vornehmlich preisenden Inhalts aufbauend, entwickelte sich am Ende des 8. Jahrhunderts das in der Antike entstandene 1

Einen Überblick über die lateinischen Dichtungen an und über Karl bieten zwei Lexikonartikel: Dieter Schaller: Karl I. der Große in der Dichtung. In: LexMA 5 (1991), Sp. 961f.; Christine Ratkowitsch: Karl in der lateinischen Dichtung. In: RGA 16 (2000), S. 251-254.

2

Vgl. Dieter Schaller: Der Dichter des „Carmen de conversione Saxonum". In: Tradition und Wertung. Festschrift für Franz Brunhölzl zum 65. Geburtstag, hg. von Günter Bernt, Fidel Rädle, Gabriel Silagi. Sigmaringen 1989, S. 27-45; mit Ergänzungen nochmals abgedruckt in: Dieter Schaller: Studien zur lateinischen Dichtung des Frühmittelalters. Stuttgart 1995 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 11), S. 313-331 und S. 429f.; ders.: Ein Oster-Canticum des Paulinus von Aquileia für Karl den Großen. Erstedition und Kommentar. In: Schaller, Studien, S. 361-398; ders.: Karl der Große im Licht zeitgenössischer politischer Dichtung. In: Karl der Große und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa. Bd. 1. Wissen und Weltbild, hg. von Paul Butzer, Max Kemer, Walter Oberschelp. Tumhout 1997, S. 193-219.

3

Vgl. dazu Dieter Schaller: Vortrags- und Zirkulardichtung am Hof Karls des Großen. In: Mlat. Jb. 6 (1970), S. 17-36 (wieder in: Schaller, Studien [Anm. 2], S. 87-109 und S. 412-414); ders.: Der junge „Rabe" am Hof Karls des Großen (Theodulf. carm. 27). In: Festschrift für Bernhard Bischoff zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Johanne Autenrieth, Franz Brunhölzl. Stuttgart 1971, S. 123-141 (wieder in: Schaller, Studien [Anm. 2], S. 110128 und S. 415-419).

2

Christine Ratkowitsch

historisch-panegyrische Epos neu. Den ersten Schritt in diese Richtung tat ein anonymer irischer Dichter mit dem bloß fragmentarisch überlieferten Gedicht über den Abfall des Bayernherzogs Tassilo III. und dessen Unterwerfung durch Karl im Jahr 787. Dieses als Gespräch zwischen dem Dichter und der Muse konzipierte Werk integriert ebenfalls das Geschehen in einen heilsgeschichtlichen Rahmen; die Schlange erscheint nämlich als Urheberin des Zerwürfnisses zwischen Karl und Tassilo. Als Verfasser wird im Titel ein Hibernicus Exsul genannt, dessen Identifikation mit den irischen Gelehrten Dungal oder Dicuil sich jedoch nicht beweisen ließ.4 Die erste epische Großleistung allerdings begegnet in dem vermutlich in den Jahren bald nach der Kaiserkrönung verfaßten sogenannten „Aachener Karlsepos", das unter den zum Teil irreführenden Titeln „De Carolo Magno et Leone papa" oder „Paderborner Epos" in die Forschung Eingang fand.5 Diese einzig in einer Sammelhandschrift des späten 9. Jahrhunderts aus St. Gallen (heute Zürich) überlieferte Dichtung berichtet nach einem Proömium und einem ausführlichen Preis von Karls iustitia und sapientia von dem Bau der Pfalz von Aachen und einer im dortigen Wildpark stattfindenden Jagd, in deren Verlauf Karl einen wilden Eber erlegt. Das letzte Drittel des Textes ist der Begegnung zwischen Karl und Papst Leo III. im Sommer 799 in Paderborn gewidmet, die als Folge des auf den Papst im März desselben Jahres in Rom verübten Attentats stattfand und den Weg für die Kaiserkrönung am Weihnachtstag 800 in Rom ebnete. Da die Dichtung mit den Feierlichkeiten beim Eintreffen des Papstes in Paderborn endet, vermutete die ältere Forschung in dem Text eine vollständige, noch in Paderborn während des dortigen Treffens abgefaßte Begrüßungsdichtung für den Papst.6 Dagegen vertrat Dieter Schaller die These, es handle sich vielmehr 4

Zu dieser Dichtung vgl. Alfred Ebenbauer: Carmen historicum. Untersuchungen zur historischen Dichtung im karolingischen Europa I. Wien 1978 (Philologica Germanica 4), S. 18-29; Peter Godman: Poetry of the Carolingian Renaissance. London 1985, S. 174-179; ders.: Poets and Emperors. Frankish Politics and Carolingian Poetry. Oxford 1987, S. 61-63; Francesco Stella: Lapoesiacarolingia. Firenze 1995, S. 124-127 und S. 384-386.

5

Die jüngste Edition (mit deutscher Übersetzung) stammt von Franz Brunhölzl. In: Karolus Magnus et Leo papa. Ein Paderbomer Epos vom Jahre 799, hg. von Helmut Beumann, Franz Brunhölzl, Wilhelm Winkelmann. Paderborn 1966 (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 8), S. 55-97; unverändert nachgedruckt wurde Brunhölzls Edition als Beiheft zu: De Karolo rege et Leone papa. Der Bericht über die Zusammenkunft Karls des Großen mit Papst Leo III. in Paderborn 799 in einem Epos für Karl den Kaiser, hg. von Wilhelm Hentze. Paderborn 1999 (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 36). Dieser Band enthält folgende Beiträge: Lutz Edler von Padberg: Das Paderborner Treffen von 799 im Kontext der Geschichte Karls des Großen, S. 9-104; Hans-Walter Stork: Die Sammelhandschrift Zürich, Zentralbibliothek, C 78, S. 105-118; Johannes Schwind: Similienapparat zum Text von „De Karolo rege et Leone papa", S. 143-155; vgl. ders.: Eine Nachlese zum Thema Dichterreminiszenzen im „Aachener (Paderborner) Karlsepos". In: Mlat. Jb. 35 (2000), S. 11-19.

6

Vgl. Karl Hauck: Die Ausbreitung des Glaubens in Sachsen und die Verteidigung der römischen Kirche als konkurrierende Herrscheraufgaben Karls des Großen. In: FmSt 4 (1970), S. 138-172, hier S. 165; ähnlich Helmut Beumann: Das Paderborner Epos und die Kaiseridee Karls des Großen. In: Karolus Magnus [Anm. 5], S. 1-54, hier S. 7-12.

Das Karlsbild in der lateinischen Großdichtung des Mittelalters

3

um das einzig erhaltene dritte Buch eines ursprünglich vier Bücher umfassenden, in Aachen entstandenen panegyrischen Epos auf Karl, das mit dessen Krönung zum römischen Kaiser endete, daher erst nach 800 abgefaßt worden sein konnte - möglicherweise von Einhart, dem späteren Biographen des Herrschers.7 Diese vornehmlich auf gattungsgeschichtlichen, quellenanalytischen und formalen, besonders das Proömium betreffenden, Argumenten beruhende Deutung konnte ich anhand einer literarischen Gesamtinterpretation des Textes bestätigen.8 Es ließ sich zeigen, daß der Karlsepiker in jedem einzelnen Großabschnitt der Dichtung bestimmte Szenen aus Vergils „Aeneis", der „Vita Martini" des Venantius (6. Jahrhundert) und dem panegyrischen Epos „De laudibus Iustini" des Corippus (6. Jahrhundert) kombinierte:9 Der Herrscher soll nämlich im Sinne der drei altissimae personae, wie sie Alkuin in seiner ersten brieflichen Reaktion (epist. 174) auf das auf Leo verübte Attentat im Juni 799 definierte, die Tugenden des Aeneas, des Heiligen Martin und des oströmischen Kaisers Justin in sich vereinen. Auf diese Weise erscheint Karl nicht nur als der ideale Herrscher der Franken, der die Nachfolge des weströmischen Reiches angetreten hat, sondern auch als würdiger Führer der Christenheit und rechtmäßiger Kaiser, allerdings nun im Westen.10 Die Intention des Epos dürfte somit in der poetisch-panegyrischen Untermauerung sowohl des Führungsanspruchs Karls im Frankenreich und in der Kirche als auch der ja in Konkurrenz zu Byzanz erfolgten Kaiserkrönung zu suchen sein; in dieser muß das letzte Buch gegipfelt haben. Kürzlich konnte die vermutete Abfassungszeit nach der Kaiserkrönung des Jahres 800 noch von einer anderen Seite her wahrscheinlich gemacht werden: In dem Epos „Carlias" des Florentiner Humanisten Ugolino Verino, auf den am Ende des Beitrags ausführlich eingegangen werden soll, ließen sich nicht nur eindeutige Zitate aus dem erhaltenen Teil des „Karlsepos" nachweisen, sondern es dürften sich - vor allem in der abschließen-

7

Dieter Schaller: Das Aachener Epos fur Karl den Kaiser. In: FMSt 10 (1976), S. 134-168 (wieder in: Schaller, Studien, [Anm. 2], S. 129-163 und S. 4 1 9 ^ 2 2 ) ; ders.: Interpretationsprobleme im Aachener Karlsepos. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 41 (1977), S. 160-179 (wieder in: Schaller, Studien [Anm. 2], S. 164-183 und S. 422); ders.: De Karolo rege et Leone papa („Aachener Karlsepos"). In: VL2 4 (1983), Sp. 1041-1045; ders.: Vergilunddie Wiederentdeckung des Epos im frühen Mittelalter. In: Medioevo e Rinascimento 1 (1987), S. 75-100 (wieder in: Schaller, Studien [Anm. 2], S. 270-295 und S. 428); ders.: Frühkarolingische Epik und Zeitgeschehen. In: Zeitgeschehen und seine Darstellung im Mittelalter. L'actualité et sa représentation au Moyen Age, hg. von Christoph Cormeau. Bonn 1995, S. 9-24, hier S. 19-24.

8

Christine Ratkowitsch: Karolus Magnus - alter Aeneas, alter Martinus, alter Iustinus. Zu Intention und Datierung des,.Aachener Karlsepos". Wien 1997 (Wiener Studien. Beiheft 24. Arbeiten zur mittel- und neulateinischen Philologie 4).

9

Auf die Verarbeitung einzelner Zitate aus Corippus im „Karlsepos" machte bereits Dieter Schaller aufmerksam: Frühkarolingische Corippus-Rezeption. In: Wiener Studien 105 (1992), S. 173-187 (wieder in: Schaller, Studien [Anm. 2], S. 346-360 und S. 431).

10

Wie der Dichter im einzelnen in der literarischen Ausgestaltung vorgeht, soll am Ende des Beitrags in einem Vergleich mit einer Szene aus dem humanistischen Epos „Carlias" des Ugolino Verino gezeigt werden.

4

Christine Ratkowitsch

den Krönungsszene durch den Papst in Rom - sogar noch Spuren der entsprechenden, heute verlorenen Szene des karolingischen Epos erhalten haben." Nach einer Phase eher kritischer Distanz unter Karls Nachfolger Ludwig dem Frommen, in der auch die dunklen Seiten des Herrschers betont werden, um Ludwig entsprechend von seinem Vorgänger absetzen zu können, 12 wurde Karl gegen Ende der karolingischen Epoche noch einmal zum Haupthelden einer Großdichtung erwählt: Um 890 verfaßte ein unter dem Namen Poeta Saxo bekannter, nicht mit Agius von Corvey zu identifizierender, sächsischer Dichter die „Gesta Karoli Magni Imperatoris". Die Bücher 1 bis 4 versifizieren in Hexametern, dem üblichen Versmaß des Epos, mehrere Annalen des Frankenreichs. Buch 5 dagegen verbindet Einharts „Vita Karoli Magni" mit einer Klage über den Tod des Herrschers, ist daher in elegischen Distichen abgefaßt. Von dem Widmungsträger, König Arnulf von Kärnten, dem Karls Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen als Vorbild dienen sollte, erhoffte sich der Dichter die Wiederherstellung der Reichseinheit. Die Dichtung endet mit einer eschatologischen Vision, in der nach den Aposteln mit den von ihnen bekehrten Juden- und Heidenchristen Karl an der Spitze der durch ihn christianisierten Sachsen vor den Weltenrichter tritt. Indirekt wird so der Kaiser unter die Apostel gereiht, womit der Weg bereitet ist für die Legendenbildungen des Hochmittelalters und die Kanonisation Karls durch Friedrich Barbarossa im Jahre 1165. 13

11

12

13

Dazu vgl. Christine Ratkowitsch: Karoli vestigia magna secutus. Die Rezeption des „Aachener Karlsepos" in der „Carlias" des Ugolino Verino. Wien 1999 (Wiener Studien. Beiheft 25. Arbeiten zur mittel- und neulateinischen Philologie 5); dies.: Das „Aachener Karlsepos" und die „Carlias" des Ugolino Verino. In: Das Mittelalter 4 (1999), S. 27-38. Die These der Unvollständigkeit des „Karlsepos" und dessen Abfassung nach 800 ist heute allgemein anerkannt; vgl. die Beiträge in De Karolo rege [Anm. 5], ferner Max Kerner: Karl der Große. Entschleierung eines Mythos. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 84—89. Einzig Brunhölzl tritt nach wie vor für die Vollständigkeit der Dichtung und deren Vollendung im Jahre 799 ein. Deshalb hält er einen irischen fili, der unter Karl zum Hofdichter avanciert sei, für den Verfasser, da „zur fili-Dichtung gehörte, daß sie bald nach dem Ereignis, das es zu preisen galt, geschaffen wurde, als allen noch der Vorgang im Gedächtnis war." Vgl. Franz Brunhölzl: Über die Verse „De Karolo rege et Leone papa". In: Historisches Jahrbuch 120 (2000), S. 274—283, hier S. 283. In der genannten Darlegung argumentiert Brunhölzl allerdings weder aus dem Text des „Karlsepos" heraus, noch setzt er sich mit der Forschungsliteratur der letzten Jahre auseinander. Zwischen 825 und 827 versifizierte Walahfrid Strabo den Prosabericht über die Jenseitsvision seines Lehrers Wetti, in der Karl als Büßer im Jenseits erscheint, dem ein wildes Tier zur Strafe für seine sexuelle libido (Bezug auf Karls zahlreiche Konkubinen) die Schamteile abbeißt. Vgl. dazu auch den Beitrag von Bernd Schütte in diesem Band, S. 223-245. Ediert sind die „Gesta Karoli Magni Imperatoris" in: MGH Poetae 4 1, S. 1-71, ferner von Antonio Isola: Poeta Sassone. Le Gesta dell' imperatore Carlo Magno. Milano 1988. Zum Problem des Autors und der Intention des Werks vgl. Bernhard Bischoff: Das Thema des Poeta Saxo. In: Mittelalterliche Studien 3 (1981), S. 253-259; Heinz E. Stiene: Agius von Corvey und der Poeta Saxo. In: Mlat. Jb. 22 (1987), S. 80-100; Helmut Beumann: Poeta Saxo. In: VL2 7 (1989), Sp. 766-769.

Das Karlsbild in der lateinischen Großdichtung des Mittelalters

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Ebenfalls als Exempelfigur erscheint Karl in dem im Jahr 1200 vollendeten, dem künftigen französischen König Ludwig VIII. gewidmeten „Karolinus" des Egidius von Paris.14 Dabei handelt es sich um eine didaktisch-panegyrische Dichtung: In Karl dem Großen wird dem jungen Prinzen der Idealtyp eines Herrschers vor Augen gefuhrt, dem es nachzueifern gilt. Daher ordnet der Dichter die ersten vier Bücher seines Fürstenspiegels jeweils einer Kardinaltugend unter: Buch 1, das von Karls Königskrönung, seinen Vorfahren und der Auseinandersetzung mit Hunold berichtet, steht unter dem Aspekt der prudentia. In Buch 2 manifestiert sich Karls iustitia in den Kriegen gegen den Langobardenkönig Desiderius, gegen die Sachsen, die Sarazenen in Spanien, die Friesen, Awaren und andere Völker. Seine fortitudo stellt er in Buch 3 in den Ereignissen, die von dem Attentat auf Papst Leo bis zur Kaiserkrönung und zur Wiederherstellung von Leos Amtsgewalt reichen, ferner in der Auseinandersetzung mit dem Bayernherzog Tassilo unter Beweis. Karls herausragende Eigenschaft in privatem Bereich schließlich ist die temperantia, deren Erörterung den Inhalt von Buch 4 ausmacht, wobei die Ereignisse bis zum Tod des Kaisers geführt werden. Die Darstellung von Karls Leben ist - mit Ausnahme von Rolands Tod im zweiten Buch - nicht den legendenhaften Erzählungen des Hochmittelalters verpflichtet, sondern folgt historischen Quellen, vor allem Einharts „Vita Karoli Magni". Allerdings ändert der Dichter bestimmte Gegebenheiten gegenüber Einharts Bericht, vor allem was den Abschnitt über Karls zahlreiche Ehefrauen, Konkubinen, eheliche und außereheliche Kinder betrifft. Der Grund für diese Änderungen, in Buch 1 bereits knapp angedeutet, offenbart sich im letzten Buch 5, das der utilitas gewidmet ist: Prinz Ludwig soll sich den Charakter seines Ahnen zum Vorbild nehmen und zu einem neuen Karl werden. Ludwigs Vater Philipp II. Auguste dagegen dient Egidius beinahe als Kontrastfigur und Negativfolie zu Karl: Mehrfach tadelt der Dichter den regierenden französischen König wegen seines Fehlverhaltens in familiären und öffentlichen Angelegenheiten, vor allem weil sich dieser von seiner Gattin Ingeborg hatte scheiden lassen und diejenigen Geistlichen, die das von Papst Innozenz III. über ihn verhängte Interdikt befolgten und seine mit Agnes geschlossene Ehe nicht anerkannten, in die Verbannung trieb. In der intendierten Polemik gegen den französischen König ist somit der Grund für die merkliche Reduzierung und Verharmlosung von Karls Beziehungen zu Frauen zu suchen.15 Tritt dem Leser in den bisher genannten Werken ein alles in allem historischer Karl entgegen, ist das bei den noch zu besprechenden Dichtungen nicht der Fall. Ihren Ausgang nahmen alle Legenden des Hochmittelalters von Einharts „Vita

14

15

Die Edition des Werks stammt von Marvin L. Colker: The „Karolinus" of Egidius Parisiensis. In: Traditio 29 (1973), S. 199-325. Zu den Änderungen gegenüber Einhait und deren Funktion vgl. Christine Ratkowitsch: Carolus castus. Zum Charakter Karls des Großen in der Darstellung des Egidius von Paris. In: Scripturus vitam. Lateinische Biographie von der Antike bis in die Gegenwart. Festgabe für Walther Berschin zum 65. Geburtstag, hg. von Dorothea Walz. Heidelberg 2002, S. 369-377.

6

Christine Ratkowitsch

Karoli Magni", der dort in Kapitel 9 von Karls Zug des Jahres 778 gegen die Sarazenen in Spanien berichtet. Dieses Unternehmen, das Karl bis Zaragoza führte, blieb zunächst ohne großen Erfolg. Auf dem Rückweg wurde die fränkische Nachhut, möglicherweise unter der Führung des Markgrafen Hruodland,16 von christlichen (!) Basken überfallen und aufgerieben: in quo proelio Eggihardus regiae mensae praepositus, Anseimus comes palatii et Hruodlandus Britannici limitis praefectus cum aliis compluribus interficiuntur (in diesem Kampf fielen der königliche Truchseß Ekkehard, Pfalzgraf Anselm, Markgraf Roland von der Bretagne und viele andere). Die vom 11. Jahrhundert an in der Bestrebung, die an die Araber verlorenen Gebiete der Christenheit zurückzuerobern, entwickelte Legende machte Roland zu Karls Neffen und Erzbischof Turpin von Reims (748 - 794) zu einem Teilnehmer des Zuges, verlegte das Geschehen in das Pyrenäental von Roncesvalles und ließ die Franken von den muslimischen Sarazenen überfallen werden, also einen Märtyrertod sterben. Roland wurde zur Identifikationsfigur für alle Adeligen, die sich der Idee der ,reconquista', der Rückeroberung der arabischen Gebiete Spaniens, bzw. eines Kreuzzugs ins Heilige Land, verpflichtet fühlten. So kämpften nun in den Legenden Karl, Roland und andere Helden in Spanien, Italien und Palästina gegen die Muslime. Ihren Niederschlag fanden diese Ideen in den altfranzösischen Chansons de Geste, vor allem in der „Chanson de Roland", aber auch in lateinischen Dichtungen. Den Sarazenenkrieg in Spanien thematisiert das „Haager Fragment" aus dem 10./11. Jahrhundert, ein im Codex Den Haag, Kgl. Bibl. 921, überlieferter Text,17 bei dem es sich vermutlich um die Prosaauflösung einer in klassizistischen Hexametern verfaßten, heute verlorenen Dichtung handelt. Denselben Stoff verarbeitete (vermutlich im 13. Jahrhundert) das „Carmen de tradicione Guenonis", das in elegischen Distichen über den durch den Verrat des Ganelon verursachten Tod Rolands berichtet.18 Diese literarisch nicht sehr hochwertige Dichtung orientiert sich an der „Chanson de Roland", aber auch an der Erzbischof Turpin zugeschriebenen, tatsächlich jedoch erst in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandenen „Historia Karoli Magni et Rotholandi". Diese Chronik brachte um 1200 ein anonymer Autor unter dem Titel „Karolellus" in Hexameter.19 Noch einmal wird im Humanismus Karl der Große Protagonist eines umfangreichen lateinischen historisch-panegyrischen Epos, der „Carlias" des Florentiner 16

Da nicht alle Handschriften den Namen Rolands enthalten, ist die Echtheit von dessen Erwähnung fraglich.

17

Zugänglich ist das Textfragment in der alten Edition der MGH SS III, S. 708-710. Die Dichtung wurde ediert von William D. Paden, Patricia H. Stäblein: „De tradicione Guenonis". An Edition with Translation. In: Traditio 44 (1988), S. 201-251.

18

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Die jüngste Edition stammt von Paul G. Schmidt: Karolellus atque Pseudo-Turpini Historia Karoli Magni et Rotholandi, hg. von Paul Gerhard Schmidt. Stuttgart, Leipzig 1996 (Bibliotheca scriptorum graecorum et romanomm Teubneriana); vgl. ders.: Historia Karoli Magni metrice. In: Literatur, Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk zum 60. Geburtstag, hg. von Hinrich Hidde, Udo Schöning, Friedrich Wolfzettel. Heidelberg 1997, S. 31-35.

Das Karlsbild in der lateinischen Großdichtung des Mittelalters

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Dichters Ugolino Verino. Diese Dichtung entstand in mehreren, teilweise stark voneinander differierenden Versionen. Das offizielle, mit einem Widmungsschreiben an den französischen König Karl VIII. versehene Exemplar des Codex Riccardianus 838 (R), die getreue Abschrift eines Autographs, stammt aus dem Jahr 1489; auf diesem Codex beruht auch die Erstedition durch Nikolaus Thum.20 Für die Rezeption mittelalterlicher Texte allerdings interessanter ist ein früheres Autograph aus dem Jahr 1480, das die älteste vollständige Version des Epos bietet, der Codex Magliabecchianus II, II, 94 (M). Diese Version ist merklich stärker von mittelalterlichem Gedankengut geprägt als die Version in R und enthält zudem noch vermehrt Zitate mittelalterlicher Autoren, die in R reduziert bzw. überhaupt gestrichen werden.21 Doch vorweg kurz zum Inhalt, den Hauptbezugstexten und der Intention der „Carlias". Verino verarbeitet - sprachlich, in der szenischen Ausgestaltung und im Großaufbau an Vergils „Aeneis" orientiert - den Stoff zweier Dichtungen der Chanson de Geste.22 In den Büchern 1 bis 4 wird Karl auf der Rückkehr von Palästina durch einen von Satan erregten Seesturm nach Buthrotum in Epirus verschlagen; dort erzählt er dem griechischen König Iustinus von seinem Siegeszug gegen die Heiden im Heiligen Land. Es handelt sich hierbei um eine Kombination aus dem Aufenthalt des Aeneas bei dem Priamossohn Helenus in Buthrotum (Aen. 3) mit dem von der feindlichen Iuno erregten Seesturm, durch den der Held nach Karthago verschlagen wird (Aen. 1 ); dazu tritt die altfranzösische Dichtung „Voyage de Charlemagne à Jérusalem et à Constantinople", in der Karl auf der Rückkehr von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land bei dem byzantinischen Herr-

20

Nikolaus Thum (Hg.): Ugolino Verino. Carlias. Ein Epos des 15. Jahrhunderts. München 1995 (Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen. Reihe II. Texte 31 ); ders.: Kommentar zu Carlias des Ugolino Verino. München 2002 (Humanistische Bibliothek. Texte und Abhandlungen. Reihe II. Texte 33).

21

Zu der Rezeption vor allem des „Aachener Karsiepos" in der „Carlias" Verinos, dem möglicherweise sogar noch ein vollständiges, also alle vier Bücher des karolingischen Epos enthaltendes Exemplar vorlag, vgl. Ratkowitsch: Karoli vestigia magna secutus [Anm. 11]; dies.: Das „Aachener Karlsepos" [Anm. 11].

22

Verino dürfte den Stoff nicht nur aus populären nationalsprachigen Prosadarstellungen wie den „Reali di Francia" und „Aspramonte" des Andrea da Barberino bezogen, sondern auch direkt poetische Bearbeitungen herangezogen haben. Zu den altfranzösischen Dichtungen und deren franko-italischen bzw. italienischen Um- und Überarbeitungen als Quellen für die „Carlias" vgl. bereits Antoine Thomas: Notice sur la Carliade, poème épique latin de Ugolino Verino. In: Annales de la Faculté des Lettres de Bordeaux 4 (1882), S. 27-37; Alfonso Lazzari: Ugolino e Michele Verino. Studii biografïci e critici. Torino 1897, hier S. 153-189; Christine Ratkowitsch: Karl der Große als epischer Held. In: Wiener Humanistische Blätter 41 (1999), S. 25-58 (mit 1. Oktober 2001 begann unter meiner Leitung ein auf vier Jahre anberaumtes, vom Fond zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstütztes Projekt, in dem der Einfluß weiterer altfranzösischer Chansons bzw. deren italienischer Umarbeitungen auf Verino einerseits, ein möglicher direkter Einfluß des „Aachener Karlsepos" auf die altfranzösischen Chansons des Hochmittelalters anderseits untersucht werden sollen); zuletzt Thum, Kommentar [Anm. 20], hier S. 18-51.

8

Christine Ratkowitsch

scher verweilt.23 Die Bücher 9 bis 15 der „Carlias" berichten von Karls erfolgreichen Kämpfen in Italien, gegen die Sarazenen im Süden und gegen den Langobardenkönig Desiderius im Norden; auf die Eroberung von Pavia in Buch 15 folgt unmittelbar als triumphaler Abschluß die Kaiserkrönung in Rom. Für diesen Teil des Epos ist der Krieg, den Aeneas in seiner neuen Heimat Italien führen muß (Aen. 7-12), kombiniert mit den legendenhaften Kämpfen Karls gegen die Sarazenen in Süditalien in der altfranzösischen „Chanson d'Aspremont". 24 Für die Bücher 5 bis 8 schließlich, in denen Karl durch Hölle, Fegefeuer und Paradies wandert, wo ihn sein Vater Pippin zum Kampf gegen die Muslime auffordert, ist Dantes „Divina Commedia" verbunden mit dem Unterweltgang des Aeneas und dessen Begegnung mit seinem Vater Anchises (Aen. 6). Neben diesen Werken wirkte aber auch das „Aachener Karlsepos" ein: Die Rezeption reicht von einzelnen gemeinsamen Junkturen über die Verarbeitung ganzer Szenen bis zur adaptierenden Übernahme der Gesamtintention. In der karolingischen Dichtung vereint, wie gesagt, Karl in idealer Weise die Funktionen des fränkischen Königs, des rechtmäßigen Kaisers und des Schützers der Christenheit. Dieses Konzept kam Verinos eigenen literarischen Absichten bestens entgegen, die er in dem Widmungsbrief an Karl VIII. darlegte, bezeichnenderweise versehen mit einem einleitenden Zitat aus dem „Karlsepos". Verino fordert dort den französischen König dazu auf, er möge in imitatio seines Vorfahren gleichen Namens, der ebenfalls König über die Franken war, durch einen Kreuzzug dem wahren Glauben zum Sieg verhelfen, d. h. sich als Schützer der Christenheit erweisen. Außerdem solle Karl dem deutschen Kaiser die Macht in Italien entziehen und die Kaiserwürde - wie einst Karl der Große - zurück in den Westen, nach Gallien, bringen. Diese Zeilen, deren Aussage in allen drei Punkten deijenigen des „Karlsepos" entspricht, spiegeln die Hoffnungen der damaligen Zeit.25 Einerseits war der Einfluß des römisch-deutschen Kaisers in Italien gegenüber dem des französischen

23

Diese Chanson aus dem späten 12. Jahrhundert, die bereits den Legendenstoff von Karls Reise nach Jerusalem parodiert, ist ihrerseits nur in einer einzigen Handschrift tradiert. Außerdem existieren wohl mehrere skandinavische, eine keltische und insgesamt sechs französische Versionen des 15. Jahrhunderts, jedoch ist keine franko-italische erhalten. Trotzdem sind die Struktur- und Motivparallelen in Groß- und Kleinkontext der Empfangsszenen (Karl beim byzantinischen Herrscher Hugo im „Voyage"; Karl beim griechischen König Iustinus in der „Carlias") so auffällig, daß eine direkte Benutzung dieser Chanson durch Verino, vermutlich in einer heute verlorenen franko-italischen Bearbeitung, sehr wahrscheinlich ist; vgl. dazu Ratkowitsch, Karl der Große [Anm. 22], hier S. 40-58.

24

Von der „Chanson d'Aspremont" existieren mehrere franko-italische Bearbeitungen, die im Humanismus sogar ins Italienische übertragen wurden, so daß Verino eine solche leicht kennen konnte. Auch hier weisen Struktur- und Motivparallelen auf eine direkte Benutzung einer solchen Version durch Verino hin; vgl. Ratkowitsch, Karl der Große [Anm. 22], hier S. 30-40. Mit Sicherheit verwendete er auch die Prosabearbeitung „Aspramonte" des Andrea da Barberino; vgl. Thum, Kommentar [Anm. 20], hier S. 47. Vgl. dazu auch den Beitrag von Stefan Härtung in diesem Band S. 53-78.

25

Dazu vgl. B. Yvonne Labande-Mailfert: Charles VIII et son milieu (1470-1498). La jeunesse au pouvoir. Paris 1975, hier S. 186-189 und 197.

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Königs ständig im Schwinden; anderseits plante Karl VIII. schon länger einen 1494 dann tatsächlich realisierten Italienzug, um dem Papst zur Seite zu stehen und mit Neapel einen Stützpunkt zu gewinnen, von dem aus ein Kreuzzug ins Heilige Land möglich gewesen wäre (dazu kam es dann aber nicht mehr). Neben diesen in der politischen Lage begründeten Motiven war zweifellos noch ein künstlerischer Grund für die Rezeption des „Karlsepos" maßgebend. Dieses stellte, ebenso wie die Chansons de Geste, eine literarische Herausforderung dar. Bereits der Karlsepiker setzte sich ja unter anderem intensiv mit Vergil auseinander, indem er ein sogar in großen Szenenkomplexen kontrastierend an der „Aeneis" orientiertes Epos schuf. Diese frühmittelalterliche Vergilrezeption durch eine moderne, im Selbstverständnis des Humanismus begründete zu überbieten, mußte eine reizvolle Herausforderung für einen Dichter wie Verino sein. In diesem Bestreben dürfte ein Grund dafür liegen, daß oft Zitate aus dem „Karlsepos", die in den frühen Versionen noch deutlich zu erkennen sind, in der späteren offiziellen Fassung, wie andere mittelalterliche Elemente auch, zurückgedrängt werden zugunsten einer klassischeren, d. h. vergilischen, oder eigenständigeren Formulierung. Ein anderer Grund liegt in dem ungezwungeneren Umgang der Humanisten mit antiken heidnischen Texten, im speziellen mit Vergil. Dieses im 15. Jahrhundert - anders als in karolingischer Zeit - nicht mehr problematisierte Verarbeiten antiker Vorbildstellen soll abschließend an je einer Traumszene des „Aachener Karlsepos" und der „Carlias" gezeigt werden: Beide Stellen rekurrieren auf die entsprechenden Szenen der „Aeneis", wobei zudem die Szene des „Karlsepos" der der „Carlias" als Bezugstext diente. Dazu eine grundsätzliche Vorbemerkung: Die Dichter der Antike schrieben ebenso wie die des lateinischen Mittelalters und der Neuzeit für ein literarisch gebildetes Publikum, das mit den verarbeiteten Bezugstexten und deren Intention vertraut war, daher auch die Änderungen der rezipierenden Dichter entsprechend nachvollziehen konnte, die gerade dadurch ihren Lesern zwischen den Zeilen Hinweise auf ihre eigene, neue Intention erteilten. Dessen muß sich ein moderner Leser ständig bewußt sein, um die Leistungen dieser Autoren entsprechend würdigen und sie richtig interpretieren zu können. Im „Karlsepos" geht der zu behandelnden Traumerscheinung die umfangreiche zentrale Episode des erhaltenen Eposteils voraus, die vermutlich symbolischheilsgeschichtlich zu deutende Ebeijagd (137-323). Sie beruht vornehmlich auf der Kombination mehrerer Stellen der drei Hauptvorbildautoren Vergil, Venantius und Corippus, aus der die literarische Absicht des Karlsepikers deutlich wird: Es handelt sich um Vergil, Aen. 4, 129-159 (Aeneas zieht mit Dido, seinem Sohn Ascanius und großem Gefolge in Karthago zu einer Jagd aus, die jedoch den moralischen Fall des Protagonisten zur Folge hat, da es während eines Gewitters zur Liebesvereinigung mit der karthagischen Königin kommt und Aeneas seinen Götterauftrag, den trojanischen Penaten in Italien eine neue Heimat zu suchen, vergißt); Venantius, Mart. 3, 326-367 (der Heilige Martin rettet während einer Ha-

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senjagd einem hilflosen, von der wilden Hundemeute, dem Werkzeug des Bösen, verfolgten Häschen, das den reuigen Sünder repräsentiert, das Leben); Venantius, carm. 8, 3, 263-278 (Katalog der die christlichen Tugenden symbolisierenden Edelsteine, mit denen eine verstorbene Nonne als Braut Christi im Himmel geschmückt ist); Corippus, Iust., 2,1-127 (Iustinus zieht am Morgen des Krönungstages mit seiner Familie in die Kirche und kleidet sich danach für die Krönungsfeierlichkeiten in prunkvolle, ebenfalls mit Edelsteinen verzierte Gewänder, die dort für die weltliche Macht des Kaisers stehen). Im „Karlsepos" begibt sich Karl gemeinsam mit seiner Familie - alle angetan mit prachtvollen Gewändern, die mit den Edelsteinen der Gedichte des Venantius bzw. Corippus geschmückt sind - in einem großen Festzug von der Kirche zur Jagd, tötet einen dämonischen Eber und rettet so seinen Jagdhunden das Leben: Der Herrscher vereint auf diese Weise die Eigenschaften der Helden der drei antiken Epen, übertrifft sie alle jedoch durch diese Kumulation und wird so zu einem neuen christlichen Aeneas, Martin und Iustinus in einem. Die Tötung des wütenden Ebers, der ja die Rolle der bösen Hunde bei Venantius innehat, nimmt symbolhaft die Errettung des Papstes vor dem ebenfalls vom Teufel aufgehetzten Pöbel vorweg.26 Die Überleitung zu dem an die Jagd unmittelbar anschließenden Abschnitt über den Papst geschieht - in Form einer Kompositionsfuge - mit Hilfe einer Traumszene: In der auf die Jagd folgenden Nacht erscheint der von dem Attentat des römischen Pöbels schwer verletzte Papst Karl im Traum: sol fugit interea, lucem nox occupat umbris; membra solo exoptant placidum defessa soporem: portentum rex triste vidit monstrumque nefandum in somnis, summum Romanae adstare Leonem urbis pontificem mestosque effundere fletus, squalentes oculos, maculatum sanguine vultum, truncatam linguam horrendaque multa gerentem vulnera. sollicitos gelidus pavor occupat artus augusti. Rapidos Romana ad moenia missos tres iubet ire, foret si sanus pastor opimus explorare gregis; quid tristia somnia signent miraturque, piam curam gerit ille fidelem. (324-335) (Die Sonne flieht inzwischen, das Tageslicht hüllt die Nacht mit Schatten ein;/ die erschöpften Leiber [der Jäger] ersehnen am Boden den sanften Schlaf:/ Da erblickt der König ein unheilvolles Vorzeichen, eine schreckliche Erscheinung/ im Schlaf, daß nämlich vor ihm stehe Leo, der höchste Priester/ der Stadt Rom, und traurige Tränen vergieße,/ blutstarrend die Augen, blutbefleckt sein Gesicht,/ verstümmelt die Zunge, und bedeckt von vielen schrecklichen/ Wunden. Kalter Schrecken umfängt die erregten Glieder/ des Herrschers. Eilboten zu den Mauern Roms,/ dreien an der Zahl, gebietet er zu gehen und, ob sich wohl befinde der mächtige Hirte/ der Herde, zu erforschen; über die Bedeutung dieses unheilvollen Traumes/ wundert er sich und leistet fromm treue Hilfe.)

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Zur Interpretation dieser langen Passage vgl. Ratkowitsch, Karolus Magnus [Anm. 8], hier S. 30-47.

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W i e schon längst erkannt, w e i l v o m Dichter d e m Leser durch mehrere Zitate verdeutlicht, liegt hier ein direkter B e z u g auf die Traumerscheinung Hektors in A e n . 2, 2 6 8 - 2 9 7 vor. Hektor tritt, s o zugerichtet w i e damals, als Achill seinen Leichnam u m Trojas Mauern schleifte, vor A e n e a s hin in d e m Augenblick, als die Griechen bereits in das schlafende Troja eingedrungen sind; er mahnt ihn zur Flucht, weil Troja verloren sei: tempus erat, quo prima quies mortalibus aegris incipit et dono divum gratissima serpit: in somnis, ecce, ante oculos maestissimus Hector visus adesse mihi largosque effundere fletus, raptatus bigis ut quondam, aterque cruento pulvere perque pedes traiectus lora tumentis. ei mihi, qualis erat, quantum mutatus ab illo Hectore, qui redit exuvias indutus Achilli vel Danaum Phrygios iaculatus puppibus ignis! squalentem barbam et concretos sanguine crinis vulneraque illa gerens, quae circum plurima muros accepitpatrios. [...] (Aen 2, 268-279) ,heu, fuge, nate dea, teque his' ait ,eripe flammis ! hostis habet muros, ruit alto a culmine Troia. satpatriae Priamoque datum: si Pergama dextra defendi possent, etiam hac defensa fuissent. sacra suosque tibi commendat Troia penatis: hos cape fatorum comités, his moenia quaere magnapererrato statues quae deniqueponto!' (Aen 2, 289-295) (Es war die Zeit, in der zuerst Ruhe für die leidenden Menschen/ beginnt und als Göttergeschenk höchst willkommen herannaht:/ Siehe, da schien mir im Traum vor meinen Augen Hektor voll Trauer/ zu stehen und viele Tränen zu vergießen,/ wie einst vom Gespann geschleift, schwarz vom blutigen/ Staub, die aufgeschwollenen Füße mit Riemen durchbohrt./ Weh mir, wie sah er aus, wie verändert gegenüber jenem/ Hektor, der zurückkehrte, angetan mit Achills Rüstung,/ oder der in die Schiffe der Danaer phrygische Fackeln geschleudert hatte!/ Starrend der Bart und blutverklebt seine Haare,/ trägt er die Wunden, die er zahlreich im Kampf um die Mauern/ der Vaterstadt empfing. [...] ,Ach, flieh, Sohn der Göttin', sagte er, ,und entreiße dich den Flammen!/ Der Feind hält die Mauern besetzt, es stürzt vom hohen Gipfel Troja./ Für das Vaterland und Priamos ist genug getan: Wenn Pergamon von Menschenhand/ verteidigt werden könnte, wäre es schon von meiner verteidigt worden./ Sein Heiliges, seine Penaten vertraut dir Troja an:/ Sie nimm dir als Gefährten deines Schicksals, fur sie suche Mauern,/ die du erhaben endlich nach irrender Seefahrt errichten wirst!') D i e literarische Funktion der beiden Traumerscheinungen ist in mehrfacher Hinsicht vergleichbar. In beiden Fällen erhält der Protagonist des Epos durch eine tödlich verwundete b z w . schwer verstümmelte herausragende Persönlichkeit Trojas b z w . R o m s den Auftrag zur Rettung der religiösen Werte: Der v o n Achill getötete und n o c h als Leichnam geschändete Hektor, der Hauptheld Trojas, übergibt A e n e a s im Traum das Heiligste, das Troja besaß, die Penaten, und befiehlt ihm, diesen Schutzgöttern eine neue Heimat z u suchen; der durch das Attentat schwer verwundete Papst Leo, der Oberhirte R o m s u n d der Christenheit, fordert Karl durch seine Traumerscheinung wortlos dazu auf, ihm und damit der g e s a m -

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ten Christenheit zu Hilfe zu kommen. Beide Helden reagieren unmittelbar nach dem Aufwachen auf die Erscheinungen, doch zeigt sich nun - charakteristisch für die christlich-mittelalterliche Dichtung, die der pagan-antiken zwar bewundernd, jedoch mit kritischer Distanz gegenübersteht - die Überlegenheit des christlichen Herrschers gegenüber dem heidnischen Helden. Die christliche Überhöhung der Szene besteht nämlich nicht nur darin, daß ein homerisch-vergilischer Heros durch den Papst, einen miles Christi, ersetzt wird,27 sondern äußert sich subtil in zweifacher Weise: Zunächst sind bei der Erscheinung des Papstes keinerlei erklärende Worte vonnöten; Karl erkennt ja, ohne über das Attentat Bescheid zu wissen, von sich aus die Gefahr und schickt Gesandte nach Rom, um die Ursache des Traumgesichts in Erfahrung zu bringen und helfend eingreifen zu können. Aeneas dagegen hat im Traum sogar das vergessen, was er bereits weiß, daß nämlich Hektor schon längst gefallen ist; deshalb fragt er ihn zunächst verwundert, wo er denn so lange geblieben sei (2, 279-286). Hektor muß ihm daraufhin erst ausfuhrlich erklären, daß Trojas Untergang besiegelt, ein Kampf daher sinnlos sei; vielmehr müsse Aeneas fliehen und den Göttern seiner alten Heimat Troja in weiter Ferne eine neue Stadt errichten. Am deutlichsten manifestiert sich der Unterschied zwischen den beiden Protagonisten allerdings in deren auf den Traum folgenden Handlungen: Karl erkennt, wie gesagt, ohne von dem Attentat unterrichtet zu sein, von sich aus die Gefahr und unternimmt Maßnahmen zu deren Überwindung. Aeneas dagegen stürzt, als er nach dem Aufwachen sieht, daß sich Troja bereits in der Hand der feindlichen Griechen befindet, ohne Besinnung in den aussichtslosen Kampf. Hektars Auftrag zur Flucht und zur Errettung der Götter hat er völlig aus seinem Bewußtsein gedrängt. Erst als er den Tod des greisen Priamos mit ansehen muß, kommt er wieder zur Besinnung; doch auch jetzt denkt er nicht an die von ihm geforderte pietas gegenüber den trojanischen Schutzgöttern, sondern einzig an seinen eigenen alten Vater und seine Familie man vergleiche dagegenpiatn{\) curam fidelem bei Karl (V. 335). So erklärt sich Aeneas zwar nun endlich zur Flucht bereit, auf die er die Penaten mitnimmt, seine innere Zustimmung zur Erfüllung des Götterauftrags allerdings muß er sich noch in einem mühsamen Weg durch Leid, Schuld und Verirrung erwerben, die die gesamte erste Hälfte des Epos ausmachen. Erst die Begegnung mit seinem inzwischen verstorbenen Vater in der Unterwelt (in Buch 6), der ihm die künftige ruhmvolle Geschichte Roms vor Augen führt, läßt Aeneas den Götterauftrag zur Gründung einer neuen Heimat innerlich akzeptieren. Zu dieser Unterweltschau wird Aeneas durch eine neuerliche Traumerscheinung, diesmal seines Vaters Anchises, gerufen, der er nun - anders als in Buch 2 - sofort Folge leistet: et Nox atra polum bigis subvecta tenebat: visa dehinc caelo facies delapsa parentis Anchisae subito talis effundere voces : ,nate, mihi vita quondam, dum vita manebat,

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Zur Funktion dieses Zitats vgl. Ratkowitsch, Karolus Magnus [Anm. 8], hier S. 47.

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care magis, nate Iliacis exercite fatis, imperio Iovis huc venio, qui classibus ignem depulit, et caelo tandem miseratus ab alto est. consiliis pare quae nunc pulcherrima Nautes dat senior; lectos iuvenes, fortissima corda, defer in Italiam: gens dura atque aspera cultu debellanda tibi Latio est. Ditis tarnen ante infernas accede domos et Averna per alta congressus pete, nate, meos. non me impia namque Tartara habent, tristes umbrae, sed amoena piorum concilia Elysiumque colo. Huc casta Sibylla nigrarum multo pecudum te sanguine ducet; tum genus omne tuum et quae dentur moenia disces. iamque vale! torquet medios Nox umida cursus et me saevus equis Oriens adflavit anhelis.' dixerat et tenuis fugit ceu fumus in auras. (Aen. 5, 721-740) (Und die finstere Nacht auf ihrem Doppelgespann hielt schon den Himmel besetzt:/ Da schien vom Himmel herabzugleiten die Gestalt seines Vaters/ Anchises und solche Worte zu verströmen:/ ,Sohn, mir einst, solange ich am Leben war/ teurer als mein Leben, Sohn, durch Ilions Schicksal geprüft/ auf Jupiters Befehl komme ich zu dir, der von der Flotte den Brand/ abwendete und endlich vom hohen Himmel her Erbarmen zeigte./ Gehorche dem Rat, den dir jetzt höchst trefflich Nautes,/ der greise, erteilt; erlesene Jünglinge, tapfere Herzen,/ nimm nach Italien mit: Du mußt ja mit einem harten und wilden Volk/ Krieg fuhren in Latium. Doch vorher betritt des Dis/ Unterweltreich und durch den Abgrund des Avernus/ komm und triff dich mit mir, Sohn. Denn mich hält nicht der verruchte/ Tartaros fest, die unheilvollen Schatten, sondern an der Frommen lieblichen/ Vereinigung nehme ich teil im Elysium. Hierher wird dich die keusche Sibylle/ fiihren, wenn viel Blut von schwarzen Schafen geopfert wurde;/ dann wirst du dein gesamtes Geschlecht kennenlernen und die dir verheißenen Mauern./ Jetzt leb wohl! Die feuchte Nacht lenkt ihre Bahn schon abwärts,/ und mich weht grausam der Morgen an mit seinen schnaubenden Rossen.'/ So hatte er gesprochen und entfloh wie zarter Rauch in die Lüfte.)

Dieser Szene voraus gehen dort die heiteren Wettspiele, die Aeneas zu Ehren seines vor einem Jahr verstorbenen Vaters in Sizilien veranstalten läßt. Die Spiele, die beinahe das gesamte Buch 5 beherrschen, zeigen einen sich der Verantwortung um sein Volk bereits bewußten Aeneas und weisen durch diverse Wunderzeichen auf Roms künftige Größe voraus - eine Funktion, die mit deijenigen der Eberjagd im „Karlsepos" vergleichbar ist. Zwar gerät dann Aeneas durch den von Juno initiierten und von den der Seefahrt überdrüssigen trojanischen Frauen konkret verursachten Schiffsbrand noch einmal in eine tiefe Krise, aus der ihn nicht einmal der Rat des greisen Nautes zu befreien vermag. Doch dem durch die Traumerscheinung des Anchises, der ihn zu sich in die Unterwelt ruft, vermittelten Auftrag leistet nun Aeneas ohne Zögern Folge. Der Karlsepiker wählte trotz der vergleichbaren Großstruktur Jagd - Traum bzw. Wettspiele - Traum und der jeweils implizierten symbolischen Vorausdeutung auf künftige Ereignisse bewußt nicht die Traumerscheinung von Buch 5 als Bezugsstelle, sondern die von Buch 2, wo Aeneas in der Folge in die Irre geht. Der Grund liegt darin, daß der christliche Frankenkönig, Nachfolger des römischen Reiches und Kaiser des Westens, von seinem heidnischen Urahn moralisch abgehoben werden muß. Ein derartiger Ef-

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fekt läßt sich durch eine Kontrastimitation am besten erzielen; in diesem schöpferischen Konflikt zwischen der Imitation paganer Dichter und der eigenen christlichen Weltanschauung liegt aber auch die Originalität des Mittelalters. Ganz anders geht Verino in seiner literarischen Auseinandersetzung mit Vergil vor. Der humanistische Dichter steht - im Unterschied zum mittelalterlichen nicht mehr vor dem Gewissenskonflikt, zwischen Vergil und dem Christentum vermitteln zu müssen: Inzwischen war ja Vergil, vor allem durch seine christlich gedeutete vierte Ekloge, zu einem Vorläufer des Christentums geworden; die Verse dieser Ekloge mit der Prophezeiung von der Geburt eines Knaben, der eine neue Friedenszeit bringen werde, konnten gemeinsam mit messianischen Prophezeiungen alttestamentlicher Propheten in Kirchen angebracht werden, und Vergil selbst war in Dantes „Divina Commedia", einem bedeutenden Bezugstext für Verino, als Führer des Dichters durch Inferno und Purgatorio aufgetreten. Demgemäß muß nun Karl seinen heidnischen Typus nicht mehr in jeder Hinsicht übertreffen, sondern kann viel häufiger in derselben - selbstverständlich moralisch richtigen - Weise wie schon vor ihm Aeneas agieren. Diese Art der Vergilrezeption zeigt allerdings nicht nur die geänderte Einstellung des Humanismus zur Antike, sondern offenbart zugleich die ihrerseits nun kritische Auseinandersetzung Verinos mit dem mittelalterlichen Karlsbild des „Aachener Karlsepos". Daß er diesen Text neben Vergil für seine Konzeption der Traumszene heranzog, zeigt der ganz ähnliche Kontext. Bei Verino geht nämlich, wie im „Karlsepos", der Traumerscheinung eine umfangreiche Jagdschilderung voraus, die sich noch dazu in der älteren Fassung von M, ebenfalls genau dem Karlsepos entsprechend, organisch aus einem allgemeinen Preis von Karls sapientia, iustitia und Jagdleidenschaft entwickelt. Gleich ist ferner die Struktur der eigentlichen Jagdszene (5, 28-173): Einladung durch Iustinus und Auszug zur Jagd, Erlegung der Beute (Rainald tötet einen Bären, Karl einen Eber wie im „Karlsepos", Orlandus einen Löwen), Rückkehr der Gefährten von der Jagd; daran schließt sich Karls Traum in der folgenden Nacht an, der zum nächsten Szenenkomplex überleitet. Neben diesen strukturellen Parallelen weist Verinos Szenenkomplex aber auch sprachlich-motivische, teilweise nur durch direkten Bezug auf das „Karlsepos" zu erklärende Gemeinsamkeiten auf, vor allem aber funktionale. Wie Karls Bewährung im Kampf gegen den dämonischen Eber seine Errettung des Papstes vor dem durch die Schlange aufgehetzten Pöbel präfiguriert, so nimmt die Bezwingung der drei Bestien durch die drei Haupthelden der „Carlias" deren Siege über die Sarazenen in Süd- und über König Desiderius in Norditalien der Bücher 9 bis 15 vorweg.28 Für die Traumszene wählt Verino allerdings in bewußtem Kontrast zum Karlsepiker nicht die Traumerscheinung Hektors in Aen. 2, zum Vorbild, sondern die des Anchises in Aen. 5 (Carl. 5, 174—225): et iam roriferos crines nigrante galero 28

Zu diesen Implikationen und der Auseinandersetzung Verinos mit der Jagd des „Karlsepos" vgl. Ratkowitsch, Karoli vestigia [Anm. 11], hier 29-41.

Das Karlsbild

in der lateinischen

Großdichtung

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Mittelalters

Nox tecta obscuro terram involvebat amictu, iamque aderat volucer Laeteo a flumine Somnus fessa soporiferis demulcens corpora lymphis, cum seram tandem Carlus per membra quietem accepit. cari tum lapsa parentis imago de caelo visa est thalamoque effulsit ut astrum. [...] nec mentem variis insomnia falsa flguris ludebant, sed coram oculos faciemque parentis spectabat vigil haec roseo sie ore loquentis: ,o mihi dilectos inter carissime natos, Carle, meus sanguis, superi qui dogmata Christi Amplificas, magni cuiparet machina mundi, Maumettique nefas labemque abolere Photini Niteris, et quiequid Manicheus et Arrius olim Scripserit erroris, deles ultricibus armis ! iam nunc externis Aeneia regna tyrannis eripere et Latio crudelem excindere gentem, Scandavios sevosque Gothos Scythiaeque colonos, Delere intendis dignosque assumere fasces Caesaris et Victor remeare in regnapaterna. [...] at sunt infernae sedes et Averna fragosis stagna prius visenda vadis Stigiique liquoris atra palus sulcanda tibi, gyrosque per omnes inferni incolumem et per inhospita Tartara Ditis te summo delapsa polo Titania virgo ducet et Elysios campos Astraea docebit. mox te gemmiferis pennis demissus ab astris suseipiet Seraphis, portam quipandet Olympi. alite quo vectus super ardua culmina caeli, quanta sit aeternae spectabis gloria gentis, aliferasque novem circum praetoria turmas meque Herum aspicies nostrosque ab origine reges.' haec ubi dicta dedit, tenues effugit in auras; at Carlus somno attonitus visisque paternis prosiluit Strato secum divina revolvens siderei praeeeptapatris [... ]

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(Carl. 5, 174-180)

(Carl. 5, 185-198)

(Carl. 5, 209-224)

(Und schon hüllte, ihre tautragenden Haare mit verdunkelnder Haube bedeckt,/ die Nacht mit finsterem Mantel die Erde ein,/ und schon war fliegend vom Fluß Lethe gekommen der Schlaf,/ die müden Leiber mit schlafbringendem Naß berührend^ als Karls Leib endlich, spät zwar, Ruhe/ fand. Dann erschien ihm das Bild seines lieben Vaters, herabgeflogen/ vom Himmel, und erstrahlte im Gemach wie ein Stern./ [...] Und nicht trieben mit seinem Sinn trügerische Traumgesichte in falschen Gestalten/ ihr Spiel, sondern vor seinen Augen erblickte er das Gesicht seines Vaters,/ hellwach, der folgendes aus rosigem Mund zu ihm sprach:/ ,Du, mir unter meinen geliebten Kindern am teuersten,/ Karl, mein Blut, der du die Lehre Christi im Himmel/ mehrst, dem das große Geffige der Welt gehorcht,/ der du die Untat Mohammeds und die Schande des Photinus zu tilgen/ dich bemühst und jeglichen Irrtum, den Manichäer und Arius einst/ schrieben, mit rächender Waffengewalt vernichtest!/ Jetzt strebst du danach, fremden Gewaltherrschern das Reich des Aeneas/ zu entreißen und in Latium ein grausames Volk auszurotten,/ Stämme des Nordens, wilde Goten und Bewohner Skythiens,/ zu vernichten, verdient anzunehmen die hohe Würde/ des Kaisers und siegreich in dein väterliches Reich heimzukehren. [...] Doch mußt du die Unterwelt, den Avernersee mit seinen tosenden/ Fluten vorher besuchen und der Styx/ dunklen Sumpf durchfurchen. Durch sämtli-

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Christine Ratkowitsch che Kreise/ der Hölle und den ungastlichen Tartaros des Dis/ wird dich unversehrt vom hohen Himmel herabfliegend die Titanentochter/ Astraea geleiten und dich über die Elysischen Gefilde unterrichten./ Bald dann wird dich, auf edelsteinbesetzten Flügeln von den Steinen herabgesandt^ der Seraph übernehmen, der dir öffnen wird das Tor zum Olymp./ Auf diesem geflügelten Wesen über die höchsten Höhen des Himmels gleitend,/ wirst du schauen, wie gewaltig der Ruhm unseres Stammes in alle Ewigkeit ist,/ wirst die neun flügeltragenden Scharen rings um den Herrscherpalast/ und mich selbst wiedersehen und unsere Könige von ihrem Ursprung an.'/ Nach diesen Worten entfloh er in die zarten Lüfte./ Doch Karl, erschüttert von dem Traum und der Erscheinung seines Vaters,/ sprang vom Lager auf, in seinem Inneren überdenkend die göttlichen/ Vorschriften seines Vaters im Himmel [...].)

Die Bezüge zu der Traumerscheinung des Anchises sind deutlich zu erkennen. In beiden Fällen ruft der bereits verstorbene Vater seinen Sohn, der einen furchtbaren Krieg gegen ein wildes Volk in Italien zu fuhren hat, vor dieser großen Aufgabe zu sich in die Elysischen Gefilde, um ihm durch eine Heldenschau die dazu nötige Motivation zu vermitteln: Aeneas wird die künftigen Helden der römischen Geschichte erblicken, Karl die bereits verstorbenen Herrscher und Künstler von der Antike an bis zu seinen unmittelbaren Vorfahren. So ist es auf den ersten Blick nicht erstaunlich, daß Verino gerade diese Traumerscheinung der „Aeneis" als Bezugstext wählt - noch dazu, wo er ja in den anschließenden Büchern 6 bis 8 den Unterweltgang des Aeneas mit Dantes Wanderung durch Inferno, Purgatorio und Paradiso verbindet und so Karls Jenseitswanderung mit dem gebührenden christlichen Inhalt füllt. Doch ergab sich durch diese Wahl für den humanistischen Dichter zudem ein willkommener Nebeneffekt, der ihm eine Absetzung von seinem mittelalterlichen Bezugstext, dem „Karlsepos", ermöglichte. Prinzipiell wäre die Traumerscheinung Hektors, die sich der Karlsepiker zum Vorbild nahm, ebenfalls als (zusätzlicher) Bezugstext für Verinos Intention geeignet gewesen. Auch sie enthält ja einen göttlichen, von einem bereits Verstorbenen erteilten Auftrag an Aeneas und fordert ihn zu einer großen Aufgabe auf, in der er seine pietas unter Beweis zu stellen hat. Allerdings versteht dort Aeneas, wie bereits festgestellt, diese Botschaft zunächst nicht und geht in die Irre, was dem Karlsepiker Gelegenheit bot, seinen christlichen Herrscher von dessen heidnischem Typus abzusetzen. Eine solche versteckte Polemik hat der humanistische Dichter nicht mehr notwendig: Er kann seinen Karl ohne Distanzierung als Pendant zu Aeneas auftreten lassen, indem er sich ausschließlich auf diejenige Traumerscheinung beruft, in der Aeneas, bereits auf dem richtigen Weg, in Einklang mit dem göttlichen Willen handelt und dem Auftrag seines Vaters sofort Folge leistet - wie nach ihm Karl der Große.

Peter Wunderli

Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik1

Die altfranzösische Literatur ist in ihrer früheren Phase ohne jeden Zweifel die reichste unter den romanischen Literaturen, und sie beginnt - geht man von den überlieferten Texten aus - fast mit einem Paukenschlag: mit der „Chanson de Roland". Dieses Werk ist sicherlich bereits ein Meisterwerk der Weltliteratur, der frühe Höhepunkt einer Gattung, die sich bis weit ins 13. Jahrhundert hinein größter Beliebtheit erfreuen sollte und auch noch darüber hinaus in der Form von Bearbeitungen und v. a. von sogenannten ,mises en prose' weiterleben sollte. Die Masse der Heldenepen wird meist in drei Zyklen eingeteilt: die ,Karlsgeste', die ,Wilhelmsgeste' und die .Empörergeste'.2 In der ,Karlsgeste' wird der Kampf Karls gegen die Heiden und für die Konsolidierung des Reiches dargestellt; die ,Wilhelmsgeste' befaßt sich mit den Taten des Karl treu ergebenen Vasallen Guillaume d'Orange zum Schutze und zur Erhaltung von Karls Erbe unter dem (nach der epischen Tradition) unfähigen Nachfolger Ludwig; in der ,Empörergeste' schließlich steht der Kampf einer Reihe von aufmüpfigen Vasallen gegen den König im Vordergrund. Im ersten und dritten dieser Zyklen spielt Karl eine ganz zentrale Rolle, was allerdings nicht bedeutet, daß er immer im Zentrum des Geschehens steht - ganz im Gegenteil: Mit wenigen Ausnahmen bleibt Karl eine Figur des zweiten oder dritten Gliedes.3 Trotzdem bleibt seine Person eine Art Kristallisationspunkt, um den herum sich die Haupthandlung organisiert. Allerdings muß gleich zu Anfang darauf hingewiesen werden, daß der Karl, der uns in den altfranzösischen Epen entgegentritt, kaum etwas mit dem historischen König (und Kaiser) zu tun hat.4 Dies ergibt sich schon daraus, daß historisch identifizierbare Ereignisse, die nachweislich in die Regierungszeit von Pipin

1

Der vorliegende Text stellt eine gekürzte und überarbeitete Fassung von Peter Wunderli: Speculatio Carolina. Variationen des Karlsbilds in der altfranzösischen Epik. In: Vox Romanica 55 (1996), S. 38-87, dar.

2

Vgl. hierzu etwa Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der französischen Literatur. Mittelalter I, hg. von Henning Krauß. Stuttgart 1985, S. 77f.; Alfred Adler: Epische Spekulanten. Versuch einer synchronen Geschichte des altfranzösischen Epos. München 1975 (Theorie der Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen 33), S. 19 u. ö.

3

Vgl. hierzu Frantiäek Graus: Littérature et mentalité médiévales; le roi et le peuple. In: Histórica 16 (1969), S. 5-79, bes. S. 25f. Vgl. hierzu Adler [Anm. 2], S. 21, sowie die bei Wunderli [Anm. 1], S. 39, Anm. 4 zitierte Literatur.

4

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Peter Wunderli

oder Karl Martell fallen, oft Karl zugeschrieben werden.5 Zudem werden auch wirtschaftliche, kulturelle und politische Gegebenheiten aus der Entstehungszeit der Epen auf den epischen Karl und sein Umfeld projiziert, und nicht anders ergeht es der Figur Karls selbst, dem oft Züge der zeitgenössischen Könige (Philippe I, Louis VII, Philippe II Auguste) zugewiesen werden. Was uns so in der Literatur entgegentritt, ist ein (aus historischer Sicht) verfremdeter Karl, eine Figur, die je nachdem idealisierend überhöht oder aber auch verteufelt wird, die wenig über den historischen Karl aussagt, dafür umso mehr über das Königsbild im 12. und 13. Jahrhundert - je nachdem ein Wunsch- oder ein Zerrbild, und manchmal auch beides gleichzeitig.6 Wenn wir uns der Darstellung des Karlsbildes in der altfranzösischen Epik zuwenden, kann es natürlich nicht darum gehen, die ganze Masse der Chansons de geste aufzuarbeiten. Ich werde mich darauf beschränken müssen, auf einige für unsere Fragestellung besonders interessante Werke etwas ausführlicher einzugehen und auf einige andere gewissermaßen ergänzend zu verweisen; viele andere werden dagegen aus Platzgründen unerwähnt bleiben.

1. Das Karlsbild der „Chanson de Roland" Das Bild Karls, das uns in der „Chanson de Roland"7 vorgeführt wird, gilt allgemein als Idealbild: schön, majestätisch, weise, überlegt, kriegstüchtig, initiativ, gerecht - all dies sind Attribute, mit denen er normalerweise charakterisiert wird; v. a. aber ist er auch ein in jeder Hinsicht vorbildlicher Lehnsherr.8 Besonders blumig werden die äußeren Qualitäten im „Pseudo-Turpin" dargestellt, einer Fälschung, die wohl zwischen 1130 und 1140 unter Rückgriff auf die altfranzösischen Epen entstanden ist:9

5

Vgl. etwa Henning Krauß (Hg.): Altfranzösische Epik. Darmstadt 1978 (Wege der Forschung 354), S. 8.

6

Vgl. hierzu auch Graus [Anm. 3], S. 16, S. 51; Karl-Heinz Bender: La genèse de l'image littéraire de Charlemagne, élu de Dieu, au XIe siècle. In: Boletin de la Real Academia de Buenas Letras de Barcelona 31 (1965/66), S. 35-49; Gaston Paris: Histoire poétique de Charlemagne. Paris 1865, S. 16f.

7

Für ausfuhrliche Zusammenfassungen vgl. Grundriß der romanischen Philologie, Bd. 2/1, hg. von Gustav Gröber. Straßburg 1902, S. 4 6 3 ^ 6 5 ; Jules Horrent: Chanson de Roland et geste de Charlemagne. In: GRLMA 3/1, Fase. 2. Heidelberg 1981 , S. 1-51, hier S. 5ff.; Köhler [Anm. 2], S. 36-38.

8

Vgl. z. B. Karl-Heinz Bender: König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de geste des XII. Jahrhunderts. Heidelberg 1967 (Studia Romanica 13), S. 9, S. 21.

9

Vgl. Gaston Paris: De Pseudo-Turpino. Paris 1865. Der folgende Text ist der zweisprachigen Ausgabe von Klein entnommen: Die Chronik von Karl dem Großen und Roland. Der lateinische Pseudo-Turpin in den Handschriften aus Aachen und Andernach. Ediert, kommentiert und übersetzt von Hans-Wilhelm Klein. München 1986 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 13), S. 90f.

Das Karlsbild

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Epik

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Et erat rex Karolus capillis brunus, facie rubeus, corpore decens et venustus, sed visu efferus. Statura vero eius erat in longitudine octo pedibus, scilicet longissimis pedibus suis, humeris suis erat amplissimus, renibus aptus, venire congruus, brachiis et cruribus grossus, omnibus artubus fortissimus, certamine atrocissimus, miles acerrimus. Habebat in longitudine facies eius unum palmum et demidium, et barba unum et [nasus] circiter dimidium. Et frons eius erat unius pedis, et oculi eius similes oculis leonis scintillantes ut carbunculus. Supercilia oculorum eius dimidium palmum habebant. Omnis homo statim perterritus erat, quem ipse ira commotus apertis oculis aspiciebat. Cingulum itaque, quo ipse cingebatur, octo palmis extensum habebatur, preter corrigias que pendebant. Parum panis adprandium comedebat, sed quartam partem arietis, aut gallinas duas, aut anserem, aut spatulam porcinam, aut pavonem, aut gruem, aut leporem integrum edebat. (Karl hatte dunkelbraunes Haar, ein rotes Gesicht, einen wohlgeformten und schönen Körper, aber einen durchdringenden, drohenden Blick. Er war acht Fuß hoch, gemessen nach dem Maß seiner eigenen, sehr großen Füße, breitschultrig, mit kräftigen Hüften, einem entsprechenden Leib, starken Armen und Beinen, überhaupt mit sehr starken Gliedmaßen begabt, ein kühner Kämpfer. Sein Gesicht maß in der Länge anderthalb Spannen, der Bart eine und die Nase etwa eine halbe. Seine Stirn maß einen Fuß, seine Augen funkelten und blitzten wie die eines Löwen. Die Augenbrauen maßen eine halbe Spanne. Jeder Mensch erschrak zutiefst, wenn er ihn voller Zorn mit weit aufgerissenen Augen ansah. Der Gürtel, den er um den Leib trug, war acht Spannen lang, ohne die Riemenenden, die noch herabhingen. Bei den Mahlzeiten aß er wenig Brot, aber einen Viertel Hammel, oder zwei Hühner, oder eine Gans, oder eine Schweineschulter, oder einen Pfau oder einen Kranich, oder einen ganzen Hasen.) Die Überzeichnung wirkt auf den heutigen Leser schon komisch, ist aber keinesw e g s so intendiert: Sie soll die Majestät der Erscheinung unterstreichen. In anderen Punkten ist der Autor des „Pseudo-Turpin" dagegen sehr realistisch und liefert damit ein Karlsbild, das sich deutlich v o n dem in der „Chanson de R o land" abhebt. So stellt er z. B. Karl als einen im besten Alter stehenden Mann dar, während er im altfranzösischen Text als ehrwürdiger Greis erscheint: Weißer Bart und Silberhaar kennzeichnen ihn, und immer wieder wird darauf insistiert, daß seine wallende Haarpracht auf die Rüstung fällt, wenn er in die Schlacht reitet. 10 Obwohl er faktisch zum Zeitpunkt der Schlacht von Roncesvalles erst ca. 30 Jahre alt war, steht er angeblich bereits im biblischen Alter von über 2 0 0 Jahren. 11 Wie sehr das hohe Alter Karls zum geradezu unabdingbaren Topos geworden ist, illustriert auch die späte, auf das Jahr 1205 datierte Chanson von „ D o o n de Mayence". 1 2 In ihr tritt uns ein Karl entgegen, der eben gerade frisch zum K ö nig gekrönt worden ist (768) - also ein richtig j u n g e r Spund'. Während der Vorbereitung seines Feldzuges nach Dänemark läßt er sich von seinem Friseur auf alt trimmen: die Haare werden gebleicht, das Gesicht mit Furchen geschminkt, die 10

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Vgl. „Chanson de Roland" V. 3121-3123, V. 3316-3319, V. 3503 usw. (Zitiert nach : La chanson de Roland, publiée d'après le manuscrit d'Oxford et traduite par Joseph Bédier. Paris 1922; dt. Übersetzung: Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck. Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart 1999 [RUB 2746]). Vgl. hierfür Paris [Anm. 6], S. 346; Emst Robert Curtius: Das Rolandslied. In: Krauß [Anm. 5], S. 64-84, hier S. 76f.; Bender [Anm. 8], S. 25, usw. Für die Datierung vgl. Raphael Levy: Chronologie approximative de la littérature française du moyen âge. Tübingen 1957 (Beih. zur ZfrPh 98), S. 46.

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Gestalt zu einer gebeugten Haltung gezwungen, ein langer weißer Bart angeklebt, so daß man ihn für über hundertjährig halten konnte.13 Dieser topische Greisenhabitus bleibt aber rein äußerlich: Sowohl im „Doon de Mayence" als auch in der „Chanson de Roland" ist Karl ein mächtiger Kriegsherr und ein großartiger Kämpfer, was auch von den Sarazenen vorbehaltlos anerkannt wird (vgl. „Chanson de Roland" V. 2115-2118, V. 2737-2740, V. 3443-3450, V. 3564-3620). Neben diesen physischen Zügen kennzeichnen Karl auch eine Reihe von typischen Gesten und Verhaltensweisen. Wenn z. B. ein Problem auftaucht, entscheidet er sich nicht spontan oder redet, er senkt vielmehr den Kopf und denkt nach; und während er überlegt, streicht er sich gedankenverloren den Bart und dreht sich den Schnauz (V. 139-141,214-116, V. 242ff.).14 Darüberhinaus erweist sich der Bart auch als unerläßliches Requisit, wenn Karl schwört, daß er irgend etwas vollenden oder verhindern werde: Genau wie die Moslems beim Bart des Propheten schwören, schwört Karl bei seinem eigenen Bart oder Schnauz!15 Damit sind wir bereits zu den moralischen Qualitäten Karls vorgestoßen. Von den bereits erwähnten Zügen, die sich in Beschreibungstopoi niederschlagen, repräsentieren sicher Bedächtigkeit und Überlegtheit des Königs eine moralische Qualität. In diesen Zusammenhang gehört zweifellos auch die Tatsache, daß Karl vor schwierigen Entscheidungen seine Barone um Rat fragt. Nach dem Friedensangebot von Marsilius ist z. B. eine solche Situation gegeben: Desuz un pin en est Ii reis alez, Ses baruns mandet pur sun cunseill finer: Par cels de France voelt il del tut errer. (165-167) (Er begibt sich unter eine Fichte./ Seine Barone ruft er zusammen, um zu einem Beschluß zu kommen:/ Er will im Einvernehmen mit den fränkischen Fürsten handeln.)

Obgleich de facto ein französischer König im 11. Jahrhundert wohl überhaupt nicht in der Lage war, etwas ohne die Zustimmung seiner Feudalherren zu unternehmen,16 erlaubt es die Umprojektion der zeitgenössischen Verhältnisse auf den mythisierten Karl, diese Zustimmungsbedürftigkeit als moralische Qualität darzustellen: Der König erscheint so nicht als schwächlicher (kapetingischer) Herrscher, sondern als aufgeklärter (karolingischer) Despot! Zu den besonders hervorgehobenen Qualitäten Karls zählt auch seine Frömmigkeit. Er steht regelmäßig früh auf und hört dann zuerst die Messe (vgl. z. B. V. 163f., V. 669f.). Bevor er in den Kampf zieht, bittet er Gott um Hilfe und Unterstützung, und nach dem errungenen Sieg dankt er als erstes Gott (vgl. z. B. 13

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Vgl. hierzu: Doon de Mayence. Chanson de geste publiée d'après les manuscrits de Montpellier et de Paris par Alexandre Pey. Paris 1859 (Anciens Poètes de la France 2), S. 224. Vgl. auch Bender [Anm. 8], S. 48; Paris [Anm. 6], S. 346; Köhler [Anm. 2], S. 46.

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Vgl. „Chanson de Roland" V. 248-251, V. 259-262.

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Vgl. auch Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern, München 41967; Reto R. Bezzola: Von Roland bis Raoul de Cambrai. In: Krauß [Anm. 5], S. 130-163, hier S. 138.

Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik

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V. 2476-2481). Diese Frömmigkeit ist nun aber nicht einfach Unterwürfigkeit, ritualisierte Ergebenheit in eine höhere, unsichtbare Macht. Vielmehr besteht zwischen Karl und Gott so etwas wie eine Feudalbeziehung, die auf dem do ut des-Prinzip aufbaut, und in der Karl die Rolle des Vasallen, Gott die Rolle des Feudalherren spielt. Wenn Karl einerseits Gott dient, dann ist Gott andererseits verpflichtet, ihn für diesen Dienst zu belohnen - und er tut dies, indem er ihm im Schlaf Träume und Visionen schickt, die ihm die Zukunft künden (vgl. z. B. V. 717ff, V. 2525ff, V. 2555ff., V. 3993ff.). Der eindeutigste Beleg für diese ,Gottesunmittelbarkeit' Karls ist die Schlacht am Ebro, in der Karl den Tod Rolands, Oliviers und Turpins rächt. Die Nacht naht, die Sarazenen sind noch nicht vernichtet, das Hereinbrechen der Dunkelheit könnte ihre totale Niederlage verhindern. In dieser Situation wendet sich Karl wieder einmal an Gott, bittet um ein Wunder - und das Wunder geschieht: Gott hält den Lauf der Sonne an (V. 24472459). Karl ist also ein Vasall Gottes ganz besonderer Art: Er ist ein Erwählter, denn Gott tut Wunder für ihn.17 Bis hierher ist das Bild von Karl geradezu ideal. Der Text enthält nun aber auch Elemente, die ein ganz anderes Karlsbild durchscheinen lassen. So gesteht der Autor u. a. zu, daß man Karl durchaus täuschen könne (V. 94f.). Wie verträgt sich dies mit dem Bild eines idealen Herrschers, der überdies noch Gottes Fürsorge und Hilfe gewiß ist? Und wie kann es kommen, daß Roland diesem absoluten (wenn auch aufgeklärten) Herrscher widersprechen kann, wenn er durchblikken läßt, daß er zu einer Annahme des Friedensangebots von Marsilius neigt (V. 193 ff.)? Wird dadurch nicht Karls Autorität kompromittiert18 - und dies um so mehr, als er einen heftigen Streit zwischen Roland und Ganelon über diese Frage zuläßt? Noch bedenklicher scheint Karls Verhalten in der Beratung über die Gesandtschaft zu Marsilius und im Ganelonprozeß zu sein (V. 179ff., 3750ff.). Erich Köhler hat gezeigt, daß historisch gesehen die Institution des conseil des barons insofern einer Realität entsprochen hat, als der König bei schwierigen Entscheidungen verpflichtet war, sich durch seine Barone beraten zu lassen und deren Einverständnis einzuholen. Gleichwohl ist er keineswegs in dem Ausmaß an die Vorgaben des Feudaladels gebunden wie im Falle des jugement des barons, das im Sinne des Judicium parium der königlichen Rechtswillkür einen Riegel vorschieben soll.19 Was geht nun bei der Botschafterwahl vor sich? Die Barone haben den Vorschlag Nahnes' angenommen, auf das Friedensangebot von Marsilius einzugehen

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Vgl. dazu auch Bender [Anm. 8], S. 18f.; Bender [Anm. 6], S. 39f.; Adler [Anm. 2], S. 60; Köhler [Anm. 2], S. 46. Vgl. Reto R. Bezzola: Les neveux. In: Mélanges de langue et de littérature françaises du Moyen Age et de la Renaissance offerts à Jean Frappier. 2 Bde. Genève 1970, Bd. 1, S. 89-114, v. a. S. 93-99. Vgl. Erich Köhler: Conseil des barons und Jugement des barons. In: Krauß [Anm. 5], S. 368—412; Köhler [Anm. 2], S. 51-62.

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(V. 230-243), und es geht nun darum, einen Abgesandten zu bestimmen. Naimes bietet sich selbst für dieses Himmelfahrtskommando an - und Karl lehnt unwirsch ab (V. 244-251). Gleichermaßen verfahrt er mit den Angeboten von Roland und Olivier und fügt dann auch gleich noch bei, daß er keinen der zwölf Pairs in dieser Rolle sehen wolle (V. 252-263). Als dann Roland seinen Stiefvater Ganelon vorschlägt, schweigt Karl und wartet den Beifall der Barone ab (V. 274ff.) - den er bisher immer durch eine rasche Intervention zu verhindern gewußt hat. Er hört sich auch das anschließende Wortgefecht zwischen Roland und Ganelon und die Racheschwüre des letzteren ruhig an, um dann einfach zu entscheiden: Ganelon geht (V. 298). Offensichtlich hat Karl seinen conseil des barons manipuliert: Sein Abwägen und Nachdenken war nur Schau; voreingenommen gegen Ganelon, hat er mit List das bekommen, was er bekommen wollte. All dies paßt nicht zu einem idealen Karlsbild, wie wir es eingangs nachgezeichnet haben. Karl ist nicht gerecht, er verletzt seine Pflichten als Feudalherrscher und macht die Institutionen, denen er eigentlich verpflichtet ist, zu Requisiten einer Komödie.20 Als noch eklatanterer Rechtsbruch muß Karls Verhalten im Ganelonprozeß erscheinen, denn hier wäre er nach dem Feudalrecht auf jeden Fall verpflichtet gewesen, dem Ratschluß seiner Vasallen zu folgen. Ganelon verteidigt sich mit dem Argument, er habe keineswegs den Kaiser verraten, sondern mit Roland eine persönliche Fehde ausgetragen. Die Barone bitten Karl fast einmütig um Gnade für den Verräter. Karl setzt eine finstere Mine auf und schweigt - und gibt so seinem (und Rolands) getreuem Gefolgsmann Thierry d'Anjou Gelegenheit, ein Gottesurteil zu fordern. Damit setzt er den Beschluß der Fürsten außer Kraft, und es kommt doch noch zur Hinrichtung Ganelons. Karl hat erneut seine Ratsversammlung manipuliert und ein pseudo-objektives Urteil provoziert, das seinen eigenen Interessen entspricht.21 Er handelt in beiden Fällen nicht wie ein mächtiger karolingischer Herrscher, sondern wie ein mickriger kapetinigischer König, der nicht die Interessen des Reiches im Auge hat, sondern auf krummen Wegen Hausmachtpolitik betreibt, indem er die rechtlichen Institutionen des Feudalwesens zur Elimination persönlicher Gegner einsetzt.22 Fassen wir zusammen. Karl erscheint in der „Chanson de Roland" zuerst als der ideale, wunschbildhafte Herrscher, der alle Qualitäten zu haben scheint, die man sich nur wünschen kann. Bei näherem Zusehen zeigen sich aber Risse in dieser glatten Oberfläche, Züge, die keineswegs zu der Leitfigur einer idealen

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Vgl. auch Adler [Anm. 2], S. 53; Köhler, Conseil [Anm. 19], S. 376ff. Offen bleibt die Frage, warum Karl nicht auf gleiche Weise die Ernennung Rolands zum Führer der Nachhut verhindert; vgl. hierzu Auerbach [Anm. 16], S. 97-99; Köhler, Conseil [Anm,. 19], S. 394. Vgl. Bender [Anm. 8], S. 60; Adler [Anm. 2], S. 67-69; Köhler, Conseil [Anm. 19], S. 400ff.; Köhler [Anm. 2], S. 60-62. Vgl. Köhler, Conseil [Anm. 19], S. 404ff.

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Projektgemeinschaft23 passen: Das Ideal kollidiert mit den Realitäten der Kapetingerzeit.

2. „Ansei's de Carthage" In den nun zu besprechenden Epen werden Züge Karls, die wir bereits kennen, je nachdem abgeschwächt oder akzentuiert. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht der „Ansei's de Carthage", ein Text, der dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts zugewiesen wird und einen zweiten Kreuzzug Karls nach Spanien zum Gegenstand hat.24 Karl wird in diesem Text ganz ähnlich beschrieben wie in der „Chanson de Roland", doch wird immer wieder die geradezu mustergültige Gerechtigkeit des Kaisers unterstrichen, der in vorbildlicher Weise Recht spricht und Unrecht verhindert (vgl. „Ansei's" V. 10809-10840, V. 19841-19857, V. 10860ff., V. 11148ff.). Der Hauptunterschied zwischen den beiden Epen liegt aber in der Tatsache, daß im „Ansei's" Karl nicht nur äußerlich eine ehrwürdige Gestalt ist, sondern auch als tatsächlich alt und schwach, als richtiger Schlottergreis präsentiert wird.25 Von einem Engel aufgefordert, dem in Bedrängnis geratenen Ansei's zu Hilfe zu eilen, erklärt er: „ He dex ", dist Karies, „ ki naistre me fesis! Bien a . VII. ans pases, ke jou languis; Or me convient ostoier, che m 'est vis, Mais tant suifoibles et de fort mal aquis, Ne m 'a mestier palefrois ne ronchis A moi porter, trop sui vieus et aflis. Or ferai faire un car, ke iert faitis, Caroies iere, quant jou serai sus mis." (9318-9325) (Oh Gott, dem ich mein Leben verdanke!/ Schon über sieben Jahre sieche ich dahin;/ nun soll ich Krieg fuhren,/ aber ich bin so schwach und so schwer krank,/ daß mich weder ein Reitpferd noch ein Saumpferd/ wird tragen müssen, ich bin zu alt und zu schwach./ Ich werde einen Karren machen lassen, der sehr schön sein wird;/ ich werde gefahren werden, wenn man mich daraufhebt.)

Sowohl das Hinfalligkeits- als auch das Wagenthema werden immer wieder angesprochen und begleiten Karl fast wie ein Leitmotiv (V. 9270-9275, V. 9367,

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Vgl. Matthias Waltz: Rolandslied, Wilhelmslied, Alexiuslied. Zur Struktur und geschichtlichen Bedeutung. Diss. Heidelberg 1965, S. 15; Bender [Anm. 8], S. 60; Köhler [Anm. 2], S. 77.

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Für den Text vgl.: Anseïs von Karthago, hg. von Johann Alton. Stuttgart 1892 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 194). Für Inhaltsangaben vgl. ebd. S. 499-570; Gröber [Anm. 7], S. 545; Adler [Anm. 2], S. 167f.; Jules Horrent: L'histoire poétique de Charlemagne dans la littérature française du moyen âge. In: Charlemagne et l'épopée romane. Actes du VIIe Congrès International de la Société Rencesvals, 2 Bde., hg. von Madeleine Tyssens, Claude Thiry. Paris 1978, Bd. 1, S. 27-57, hier, S. 52-54; Horrent [Anm. 7], S. 38ff.

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Vgl. auch Adler [Anm. 2], S. 166, S. 168.

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V. 9354—9356, V. 9465f.). Karl ist jedoch nicht nur physisch hinfällig, auch seine Autorität scheint angeschlagen zu sein. Als Karl zum Kriegszug nach Spanien aufruft, zeigen sich seine Barone äußerst widerspenstig: Sie wollen nicht unter einem alten und kranken König kämpfen, der besser das Bett hüten sollte. Karl muß die Hilfe seiner Vasallen richtiggehend erkaufen, indem er ihnen verspricht, sie in Zukunft nie mehr zu einem Feldzug aufzubieten. So weit ist es mit seiner Machtfülle gekommen (V. 9390-9405, V. 9409-9413, V. 9414-9419). Andererseits hat sich Karl aber seine Gottesunmittelbarkeit bewahrt, denn Gott tut erneut Wunder für ihn. Als Karl mit seiner Armee an die Gironde kommt, läßt Gott die Wassermassen sich teilen, so daß alle trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen können (V. 9500-9548). Und als er schließlich die von Marsilius belagerte Festung erreicht, in der Anseis eingeschlossen ist, bittet er Gott um Kraft, damit er wieder reiten und Waffen tragen könne, um die Sarazenen in Stücke zu hauen (V. 10017-10026). Und wieder geschieht ein Wunder: Dex a oi le desirer; Li rois se sent vertueus et legier; II s 'estent si, k 'il fait croistre et froisier les flans del car et les archons brisier; Li rois s 'escrie et comenche a hucier: „ Or tost as armes, franc baron cevalier! Mes armes vuelpor moi apareillier. " (10027-33) (Gott hat den Wunsch erhört;/ der König fühlt sich stark und leicht,/ er reckt sich derart, daß die Seiten des Wagens sich biegen und zersplittern/ und die Wagenbogen zerbrechen./ Der König schreit und beginnt zu rufen:/ „Nun schnell zu den Waffen, edle Ritter!/ Ich will meine Waffen, um mich zu rüsten!")

Von dem Moment an ist Karl wieder der alte große Kriegsheld: Er reitet durch seine Truppen und organisiert die Schlacht; er stellt sich Marsilius zu einem ersten und einem zweiten Zweikampf und besiegt ihn schließlich (V. 10187ff., V. 10360-10408, V. 10690-10742). Bei seiner Schlußrede ist Karl aber wieder alt und schwach; nach Aachen zurückgekehrt wird er krank und stirbt innerhalb der ihm von Gott verkündeten Frist von einem Jahr (V. 11566ff.). Ein alter, schwacher, in einem Wagen in den Krieg ziehender Karl paßt schlecht zu dem großen Helden der „Chanson de Roland". Er ist im „Anseis" nicht mehr in der Lage, seine Herrscherpflichten auszuüben. Das Königtum und der fast zu einem Nichts gewordene König können nur durch eine massive göttliche Intervention im letzten Moment nochmals gerettet werden.26

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Vgl. auch Adler [Anm. 2], S. 169. Ein ähnliches Karlsbild wie im „Anseis" findet sich auch im ,Aiquin", im „Couronnement Louis" und im „Huon de Bordeaux"; vgl. hierzu Wunderli [Anm. 1], S. 53ff.

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3. „Chanson d'Aspremont" Wir verlassen nun den alternden, ja steinalten Karl und kehren zurück zum idealen, im Zenit seiner Leistungsfähigkeit stehenden Herrscher. In der „Chanson de Roland" hatten wir eine Reihe von Rissen in der glatten Oberfläche des Idealbildes festgestellt. Diese Risse fehlen nun in der wohl kurz vor dem dritten Kreuzzug entstandenen „Chanson d'Aspremont", die einen Kreuzzug nach Süditalien und die Vernichtung des sarazenischen Gegenspielers Agolant schildert, weitestgehend.27 Die Darstellung Karls entspricht im wesentlichen dem idealtypischen Bild, das man in bezug auf den großen Führer der Christenheit erwarten kann: Er ist reich, von vorbildlicher Großzügigkeit, ein großartiger Kämpfer, und v. a. ist er von äußerst majestätischem Aussehen (vgl. „Aspremont" V. 408-^24, V. 133-139, V. 140-142, V. 160-163, V. 5874-6070, V. 427ff.).28 Im Gegensatz zur „Chanson de Roland" macht er auch keine gravierenden Fehler, und v. a. bestimmt er nicht einen Großvasallen zum Abgesandten bei Agolant: Klug und vorsichtig stellt er vielmehr die Bedingung, daß der mit diesem Auftrag Betraute ein junger und unbedeutender Ritter sein müsse (V. 1767-1773).29 Gleichwohl ist das Karlsbild nicht makellos. Bei aller kriegerischen Tüchtigkeit gerät der König z. B. im Zweikampf mit Aumont in eine hoffnungslose Situation: Er wäre verloren gewesen ohne die Intervention von Jung-Roland, der seinen Onkel im letzten Moment heraushaut (V. 5977fF., bes. V. 6071-6075). Karl ist somit von Roland abhängig, und gleichermaßen ist er es auch von Girart de Fraite, einem unbotmäßigen Vasallen, der ihn zwar auf seinem Kreuzzug nach Süditalien unterstützt, ihm aber den Lehnseid verweigert: Girart bestreitet nicht nur den entscheidenden Schlußkampf gegen Agolant, er hat auch schon vorher Karl wichtige Hilfe in der ersten Schlacht gegen Aumont geleistet (V. 10498ff., V. 4760ff.). Karl ist aber nicht nur von Girart abhängig, dieser verachtet ihn auch und macht ihn und seine Ahnen schlecht und klein. So fordert er z. B. seine Söhne und Neffen auf: Je vos domant, quant jo seraifenis, Ne tenes rien de Carlon al fier vis. Ses pere fu uns dolans nains caitis; Enbloit as grans et toloit as petis. (1433-1436)

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Für den Text vgl. La chanson d'Aspremont. Chanson de geste du XIe siècle. Texte du manuscrit de Wollaton Hall, hg. von Louis Brandin. 2 Bde. Paris 1923/24 (Classiques Français du Moyen Age 19; 25). Für Zusammenfassungen vgl. Philipp August Becker: Aspremont. In: Krauß [Anm. 5], S. 85-129, hier S. 85f.; Gröber [Anm. 7], S. 540f.; Horrent, L'histoire [Anm. 24], S. 34-36; Horrent [Anm. 7], S. 20-23. Zur Datierung vgl. Köhler, Conseil [Anm. 19], S. 380 und Becker, S. 85. Vgl zu diesen Punkten auch Becker [Anm. 27], S. 120; Paris [Anm. 6], S. 853; Bender [Anm. 8], S. 133f„ Adler [Anm. 2], S. 96. Vgl. auch Becker [Anm. 27], S. 105, S. 108-110.

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(Ich befehle euch, nach meinem Tod/ nichts von Karl mit dem stolzen Antlitz anzunehmen./ Sein Vater war ein jämmerlicher Zwerg,/ der die Großen betrog und die Kleinen beklaute.)

Man kann letztlich das Problem Karls im „Aspremont" darauf zurückführen, daß er Girart de Fraite neben sich hat. Karl ist sicherlich ein großer König, der von großen Fürsten umgeben ist, aber Girart ist immer ein bißchen größer.30 Charakteristisch ist in dieser Hinsicht auch, wie der Spion Sobrin vor Agolant das Verhältnis zwischen Karl und Girart beschreibt: Mais Caries a un molt riche voisin; Gerart d'Eufrate l'apielent Limosin. Tant par est riches de tieres et d'or fin, Trente cités sont bien a lui aclin. S'ilfiist a Carie ne ami ne cosin, Bien vos peiissent cil doi metre al cemin. Mais ne ferait por lui un romesin: Plus hetl'uns l'autre que trïacles venin. (2503-2510) (Aber Karl hat einen sehr reichen Nachbarn;/ Girart de Fraite nennen ihn die Limousiner./ Er ist unglaublich reich an Ländereien und feinem Gold,/ gut 30 Städte sind ihm tributpflichtig./ Wenn Karl weder Freund noch Vetter hätte,/ diese beiden könnten dich vertreiben./ Aber er würde für ihn nicht das Geringste tun;/ sie hassen sich mehr als ein Theriak das Gift.)

Im Interesse der Nation zieht dann Girart gleichwohl nach Italien (V. 1438— 1511), aber er tut es auf eigene Faust und unabhängig von Karl. Er ist sogar bereit, sich dem Oberbefehl des Königs zu unterstellen (V. 4177-4189), betont aber am Schluß des Epos, daß er zwar den König im Krieg als Führer akzeptiert und seinen Herren genannt habe, daß ihm dies aber am Hofe nie vorgeworfen werden dürfe. Alles, was er getan habe, habe er aus Liebe zu Gott getan. Er sei weder Karls Vasall noch sein Lehnsmann, und er werde es Zeit seines Lebens nie sein (V. 11341-11346). Girart ist also ein widerspenstiger und störrischer Fürst, der auf das peinlichste auf seinen eigenen Ruhm und seine Unabhängigkeit bedacht ist.31 Karl muß letztlich sogar selbst zugeben, daß Girart ein durchaus würdiger König wäre, was dieser jedoch bescheiden ablehnt (V. 7153-7158). Karl hat aber insofern eindeutig recht, als die Handlungen Girarts von durchaus königlichem Zuschnitt sind, und dies sowohl im Kampf, als auch wenn er in Reggio eine Abtei gründet, Karl dreizehn gefangene Königinnen zum Präsent macht oder dem jungen Florent ganz zum Schluß einen Königsspiegel präsentiert (V. 10567ff., V. 11086ff., V. 11181-11254). Gerade dieser Königsspiegel hat es nun in sich, denn er enthält die folgende Passage: Ne faire mie de ton seif ton segnor. Lai le vilain a faire son labor, 30

Vgl. auch Adler [Anm. 2], S. 99.

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Vgl. auch Becker [Anm. 27], S. 103-105; Bender [Anm. 8], S. 130; Horrent, L'histoire [Anm. 24], S. 36; Adler [Anm. 2], S. 91.

Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik

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Car Ii vilains n 'a que faire d'onor; A sa nature revient al cief del tor. (11223-11236) (Mache nie aus deinem Untergebenen deinen Herrn./ Lasse den Nichtadeligen bei seiner Aufgabe,/ denn er taugt nicht für Ehrenämter;/ er kehrt immer zu seinem Ursprung zurück.)

Diese Stelle ist eine Ohrfeige fiir Karl, der für seinen Feldzug und die einzelnen Schlachten Hinz und Kunz mobilisiert hat: Er hat ohne Ansehen der Abkunft alles in den Ritterstand erhoben, was ihm nützlich sein konnte; und die so .Beförderten' fühlen sich ihm auch entsprechend verpflichtet! (V. 7270-7279, V. 74427450, V. 9656-9663, V. 9668-9676, V. 9678-9688, V. 9725-9730). Ganz anders verhält sich in diesem Punkt Girart: Zwar betreibt auch er .Beförderungspolitik', aber es kommen für ihn hierfür nur Adelige in Frage (V. 7254—7265). So erklärt sich denn auch seine (indirekte) Kritik im Königsspiegel: Eine Allianz des Königs mit den Nichtadeligen, ein Einreißen der sozialen Schranken sind für diesen .reinrassigen' Fürsten vollkommen unannehmbar. 32 Fassen wir zusammen. Girart ist geprägt von Mißtrauen und Distanz zu Karl, und zwar betreffen seine Vorbehalte nicht die Institution des Königtums, sondern die Person des Königs; wir haben also eine Dissoziation von Institution und Amtsträger. 33 Dieses Mißtrauen scheint u. a. auch dadurch begründet zu sein, daß der Herrscher selbst die ursprüngliche Verbundenheit mit dem Hochadel aufgibt und sich mit Nichtadligen verbündet 34 - ganz offensichtlich ein Reflex der politischen Situation unter Philippe II Auguste, der erstmals eine Allianz zwischen Königtum und Bürgertum realisierte und damit den Hochadel ins Abseits drängte.

4. Das Karlsbild der Empörerepen Kommen wir nun zu den Empörerepen. Hier könnte man u. a. auf „Girart de Vienne", „Jehan de Lanson", „Daurel et Beton" und viele andere mehr eingehen,35 aus Platzgründen ziehe ich es vor, mich gleich der Krone dieser Untergattung, den „Quatre fils Aymon", auch bekannt als „Renaut de Montauban", zuzuwenden. Dieses gewaltige, fast 20.000 Verse umfassende, Werk dürfte kurz vor 1200 entstanden sein36 und erzählt den Kampf von Renaut, seinen Brüdern und ihrem Cousin Maugis gegen Karl.37 Auch hier haben wir es mit einem keineswegs idea 32

33 34 35 36 37

Vgl. hierzu auch Paris [Anm. 6], S. 353; Bender [Anm. 8], S. 69, S. 119f., S. 122ff.; Adler [Anm. 2], S. 95f., S. 98. Vgl. Adler [Anm. 2], S. 95. Vgl. Bender [Anm. 8], S. 95ff„ S. 124ff. Vgl. hierzu Wunderli [Anm. 1], S. 64ff. Vgl. Köhler [Anm. 2], S. 91. Für den Text vgl.: La chanson des quatre fils Aymon d'après le manuscrit la Vallière avec introduction, description du manuscrits, notes au texte et principales variantes, appendice où sont complété l'examen et la comparaison des manuscrits et des diverses rédactions, hg. von

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len Karl zu tun, und die Fälle von Fehlverhalten sind fast endlos. Er hat z. B. einen objektiv durch nichts zu rechtfertigenden Wutanfall, als Ydelon de Bavière ihm in einer langen Rede zur Versöhnung mit Renaut rät; er beschimpft seinen Ratgeber und droht, er werde jeden ins Gefängnis werfen oder aufhängen lassen, der Renaut in der Schlacht schone („Renaut" [ed. Castets] V. 5587-5603). Ydelon hat hier ganz offensichtlich nicht genügend in Rechnung gestellt, was er doch selbst zu Beginn seiner Rede als charakteristischen Mangel im königlichen Verhalten bezeichnet hatte: Il n 'est hom qui puist mie devant vo cors paller, S'i ne dist tot vo uen et tot vo volenté Qu'il ne soitpar vos sempres de traison reté. (5552-5554) (Es gibt niemanden, der vor euch sprechen könnte/ und nicht des Verrats bezichtigt würde,/ wenn er nicht in eurem Sinne redet.)

Karl ist also eingebildet, überheblich und schlägt jeden Rat seiner Barone in den Wind. 38 Der conseil des barons ist zur Farce geworden. Dies muß unweigerlich zur Rebellion der Barone fuhren. Ein erster Aufstand findet statt, als Karl seine Barone zu zwingen versucht, Richard, den jüngsten Bruder Renauts, hinzurichten: Einer nach dem anderen lehnt ab, und schließlich verlassen sie gemeinsam und unter Protest das Zelt des Königs (V. 9934-10316). 39 Die Hauptrebellion findet sich aber gegen Ende des Epos im Kampf um Dortmund. Karl weigert sich immer noch, auf die Friedensangebote Renauts einzugehen, obwohl dieser inzwischen Richart de Normandie gefangen genommen hat und droht, ihn als Geisel zu benutzen. Dies beeindruckt den König nicht im geringsten: Er will Renaut zwingen, ihm seinen Cousin Maugis, den verhaßten Zauberer, auszuliefern, und dafür ist er auch bereit, einen seiner Getreuesten zu opfern. Damit verletzt er in eklatanter Weise seine Fürsorgepflicht gegenüber einem Vasallen. Dies veranlaßt dann einen nach dem anderen seiner Barone, sich von ihm loszusagen und ihn zu verlassen, so daß Karl gar nichts anderes mehr übrig bleibt, als schließlich einzulenken (V. 15017-15115). 40 In diesen Szenen wird auch ein weiterer Grundzug von Karls Charakter deutlich: seine Ungerechtigkeit sowohl gegenüber seinen Feinden als auch gegenüber

Ferdinand Castets. Montpellier 1909 (Publications de la Société pour l'étude des langues romanes 23); für die Ardennenepisode vgl. auch Jacques Thomas (Hg.): L'épisode ardennais de Renaut de Montauban. Edtion synoptique des versions rimées, 3 Bde. Brügge 1962. Für ausfuhrliche Zusammenfassungen vgl. Castets, S. 16-36; Köhler [Anm. 2], S. 90f.; Gröber [Anm. 7], S. 547-549; Adler [Anm. 2], S. 144f.; Alfred Adler: Rückzug in epischer Parade. Studien zu Les Quatres Fils Aymon, Le Chevalerie Ogier de Danemarche, Garin le Loherenc, Raoul de Cambrai, Aliscans, Huon de Bordeaux. Frankfurt/M. 1963 (Analecta Roman i c a l l ) , S. 33f. 38

Vgl. auch Adler, Rückzug [Anm. 37], S. 49f.

39

Vgl. auch ebd., S. 58f.

40

Vgl. auch Bender [Anm. 8], S. 152, S. 154.

Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik

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seinen Freunden. Ungerechtigkeit des Herrschers hat letztlich auch den Streit mit dem jungen Renaut ausgelöst. Renaut und Bertolai spielen Schach, Bertolai verliert und beschimpft Renaut massiv, der ihm eine herunterhaut. Bertolai, des Kaisers Neffe, läuft zum großen Onkel und beklagt sich, worauf Karl (ohne Abklärung des Sachverhalts) Renaut beschimpft, der nun seinerseits dem König den Verrat an seinem Onkel Beuve vorhält. Karl schlägt Renaut ins Gesicht, Renaut läuft weg, begegnet Bertolai, den er noch schnell mit einem Schachbrett erschlägt - und das Verhängnis nimm seinen Lauf (V. 1905-1945).41 Wir haben also eine Kettenreaktion, eine Lawine, letztlich ausgelöst durch eine Kleinigkeit. Hätte sich Karl korrekt und gerecht verhalten, wäre überhaupt nichts passiert. Und noch ein anderer Zug, der Karl als unwürdigen Herrscher erscheinen läßt: Er ist geizig, er zählt seine deniers;42 im Krieg gegen die Aymoniden ist seine größte Sorge, daß der listige Maugis ihn bestehlen könnte (V. 5678-5680). Ein Kaiser mit einer Krämerseele wirkt aber lächerlich. Und dies ist geradezu ein spezifischer Zug des „Renaut de Montauban", der uns bisher nicht begegnet ist: Karl wird immer wieder und schon fast systematisch lächerlich gemacht, und zwar vor allem durch Renauts Cousin, den Zauberer Maugis, aber auch durch Renaut selbst.43 In Paris wird auf den Rat von Naimes ein Pferderennen veranstaltet, bei dem ein hoher Preis ausgesetzt und die Krone Karls ausgestellt wird; Ziel ist es, Renaut in eine Falle zu locken und sich Renauts Pferd Bayard zu bemächtigen. Der verkleidete Renaut mit seinem unkenntlich gemachten Bayard gewinnt natürlich das Rennen - und klaut Karl noch nebenbei seine Krone. Zurück bleibt ein jammernder Karl, der um seine Krone bettelt (V. 4760ff.). Nicht viel besser geht es Karl in seinem Zweikampf mit Renaut: Dieser packt Karl um die Hüften, lädt ihn sich auf die Schultern und rennt mit dem strampelnden, um Hilfe rufenden König Richtung Bayard, um seine ,Beute' in Sicherheit zu bringen, die ihm aber im letzten Moment noch von Roland und seinen Leuten abgejagt wird (V. 10878-11053).44 Diese Szene findet ihre Wiederholung unter der Regie von Maugis (V. 12530—12557).45 Der listige Cousin schleicht sich eines Nachts bei Karl ein, spricht eine Zauberformel und bringt den wehrlosen König Huckepack zu Renaut nach Montauban (der ihn allerdings später freiwillig wieder freiläßt). Maugis hatte übrigens kurz zuvor Karl einen ähnlichen Streich gespielt: Von diesem gefangengesetzt, wendet er wieder einmal einen seiner Zaubertricks an, so daß um Mitternacht die ganze Mannschaft (Karl und die zwölf Pairs eingeschlossen) einschläft. Mit einem zweiten Zauber öffnet er dann alle Riegel, Türen, Kettenschlösser usw. und spaziert ungehindert aus dem Gefängnis

41 42 43 44 45

Vgl. auch Adler, Rückzug [Anm. 37], S. 37. Vgl. auch ebd., S. 48-50. Vgl. Adler [Anm. 2], S. 128; Adler, Rückzug [Anm. 37], S. 57f. Vgl. auch ebd., S. 54, S. 61. Vgl. auch ebd., S. 57.

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Wunderli

- nicht ohne Karl und den zwölf Pairs ihre Schwerter zu klauen (V. 11610— 11651 ).46 Der Höhepunkt der Komik wird aber sicher in der Pilgerszene erreicht (V. 9480ff.).47 Nachdem Karl Renauts Bruder Richard gefangengenommen hat und diesen hinrichten lassen will, verkleidet sich Maugis als Pilger, um ihn zu befreien (was letztlich auch gelingt). Trotz des Ernstes der Lage kann es sich Maugis aber nicht verkneifen, mit Karl sein Spielchen zu treiben. Er gibt sich als kranker Mann aus, dem in einem Traum offenbart worden sei, daß er nur genesen könne, wenn Karl ihn, vor ihm kniend, futtere. Und in der Tat, er bringt den König dazu, aufsein Ansinnen einzugehen: A genoillons se met l'emperere Charlon: Puis a pris .1. coutel, si desfait le paon.; Puis a pris .1. morsel, siflst benei'(on. „ Paumier, oevre la bouce et nos le te donron. " Maugis oevre la geule ä guise de grifon Et Charles Ii mist ens le morsel ä bandon. Saches qu 'il n 'ifailli, se molt petittet non, Que Maugis ne leprist as dens por le doiton (9650-9657) (Kaiser Karl kniet nieder;/ dann hat er ein Messer genommen und den Pfau zerlegt,/ dann ein Stück genommen und Gott gedankt./ „Pilger, öffne den Mund, wir werden es dir geben."/ Maugis öffnet das Maul wie ein Greif/ und Karl schiebt ihm das Stück ungehindert hinein./ Wißt, daß nur wenig gefehlt hätte,/ und Maugis hätte ihn in den großen Finger gebissen.)

Dieser Höhepunkt der ganzen Komödie ist derart geschickt und ausführlich vorbereitet, daß kein Leser die parodistische Intention des Autors verkennen kann. Ein derartiges Karlsbild ist das pure Gegenteil dessen, was wir in der „Chanson de Roland" angetroffen haben: Karl ist hier zum Antiideal geworden, zum Vorbild dafür, wie ein Herrscher nicht sein sollte.48 Einem solchen König muß natürlich jeder mythische Zug abgehen, und dem entsprechend kann es in „Renaut de Montauban" auch keine göttlichen Interventionen zugunsten des Königs geben ganz im Gegenteil: Wenn Gott eingreift, dann tut er dies zugunsten seiner Gegner und verdeutlicht damit, auf wessen Seite das Recht ist.49 Macht und Recht, König und Vasall sind hier zu fast unvereinbaren Gegensätzen geworden, die alte dialektische Einheit des Feudalstaates ist zerbrochen.50 Dies bedeutet allerdings nicht, daß das König- bzw. Kaisertum als solches in Frage gestellt würde; die vier Haimonskinder usurpieren nie die Königswürde, nutzen ihre Erfolge nie aus:51 Renaut gibt Karl die gestohlene Krone wieder zu46 47 48 49 50 51

Vgl. auch ebd., S. 58. Vgl. auch ebd., S. 57f. Vgl. auch Bender [Anm. 8], S. 153f., S. 165, S. 171f. Vgl. auch ebd., S. 167f. Vgl. Köhler [Anm. 2], S. 78, S. 92; Bender [Anm. 8], S. 145fT., S. 156. Vgl. Bender [Anm. 8], S. 100f.; Köhler [Anm. 2], S. 91f.; Adler, Rückzug [Anm. 37], S. 34, S. 70; Adler [Anm. 2], S. 130f.

Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik

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rück, und wenn die Rebellen den Herrscher einmal in ihre Gewalt gebracht haben, lassen sie ihn wenig später wieder unversehrt frei. Was in Frage gestellt wird, ist offensichtlich nicht die Institution, sondern die Person des Herrschers.

5. „Voyage de Charlemagne" Der letzte der Texte, auf die hier eingegangen werden soll, ist der sogenannte „Voyage de Charlemagne", ein Werklein von nur 870 Versen, das meist der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zugewiesen wird. Dieser Text ist anders als die bisherigen: Was dort (ganz oder doch zumindest überwiegend) ,tragico more' dargestellt wird, ist hier durchgängig ,comico more' präsentiert.52 Komisch-parodistisch ist schon der Anfang: 53 Ein aufgeblasener, eitler Karl präsentiert sich an einem Festtag im vollen Schmuck seiner Herrscherwürde und erwartet, daß alle vor seiner Schönheit und Größe in Ohnmacht fallen - aber seine Angetraute spielt das Spiel nicht mit und verletzt seine Eitelkeit in nicht gerade kluger Weise: Sie behauptet, Hugo der Starke von Konstantinopel sei viel größer und schöner („Voyage" V. lff. [ed. Aebischer]). 54 Anlaß der ganzen Geschichte ist also nichts weiter als ein handfester Ehekrach, der Karl dazu veranlaßt, umgehend über Jerusalem nach Konstantinopel zu fahren, um den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zu überprüfen. Nicht weniger disproportioniert sind die Ereignisse in Jerusalem.55 Es beginnt damit, daß Karl sich - vollkommen unbedarft und naiv - auf den Stuhl Christi setzt und seine zwölf Pairs um sich herum auf den Stühlen der Apostel plaziert (V. 112-122). Für diese Tölpelhaftigkeit - und nur aus diesem Grunde - wird er anschließend vom Patriarchen mit dem Titel ,der Große' ausgezeichnet (V. 156-159). Komisch ist auch der Jude, der die Barone auf den Abendmahlsstühlen entdeckt; der Schreck fährt ihm in die Glieder, er fallt beinahe hin, flieht, geht zum Patriarchen, um ihm zu berichten und verspricht, sich nun taufen zu lassen - er hält die dreizehn für Gott und die zwölf Apostel (V. 129-140)! Der Höhepunkt der Komik wird aber bei einer feier-

52

Für den Text vgl.: Le voyage de Charlemagne à Jérusalem et à Constantinople, hg. von Paul Aebischer. Genève 1965 (Textes Littéraires Française 115) und II „Voyage de Charlemagne", edizione critica a cura di Guido Favati. Bologna 1965 (Biblioteca degli Studi Mediolatini e Volgari 4). Bezüglich der Datierung spricht sich Favati, S. 134, allerdings für die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts auf. Für Zusammenfassungen vgl. Köhler [Anm. 2], S. 78-81; Horrent [Anm. 7], S. 43f.

53

Vgl. hierfür und das folgende auch Peter Wunderli: Karl der Große in Konstantinopel. In: Philia 1997/1, S. 12-20. Vgl. auch Paul Aebischer: Les versions norroises du Voyage de Charlemagne en Orient. Leurs sources. Paris 1956 (Bibliothèque de la faculté de philosophie et lettres de l'Université de Liège 140), S. 162; Hans-Jörg Neuschäfer: Le Voyage de Charlemagne en Orient als Parodie der Chanson de geste. In: Romanistisches Jahrbuch 10 (1959), S. 78-103, hier S. 84; Köhler [Anm. 2], S. 82.

54

55

Vgl. Aebischer [Anm. 54], S. 162f.; Neuschäfer [Anm. 54], S. 88ff.; Köhler [Anm. 2], S. 82.

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liehen Übergabe von Reliquien an Karl erreicht (V. 162ff.). Zum Inventar gehören: der Arm des Hl. Simon; der Kopf des Hl. Lazarus; Blut von St. Stephan; das Schweißtuch Christi; einer der Nägel, die Christus bei der Kreuzigung durch den Fuß geschlagen wurden; die Dornenkrone Christi; der Abendmahlskelch und die Abendmahlsschale; das Messer, mit dem Christus gegessen hat; Bart- und Kopfhaare von Petrus; Muttermilch von Maria und ein Stück ihres Hemdes. Man sollte sich nicht zu sehr an den einzelnen Reliquien stoßen, denn im christlichen Reliquiengeschäft des Mittelalters ist (fast) alles möglich; eindeutig komisch ist hier die Häufung der Reliquien, die geradezu an Rabelais erinnert.56 Die Komik setzt sich in Konstantinopel ungebrochen fort, ja sie wird noch gesteigert. Da ist zuerst einmal der von seiner Sänfte aus mit goldenem Gerät pflügende Hugo, ein Bild, das die biederen Franken in den Grundfesten ihrer Überzeugungen erschüttert (V. 283ff.).57 Ein erster Höhepunkt wird aber mit Hugos Château tournant, einem sich in einem aufkommenden Sturm plötzlich um die eigene Achse drehenden Palast, erreicht (V. 354ff.).58 Karies vit le palais tourneër et frémir: Il ne sout que ceo fud, ne l'out de luign apris. Ne pout ester sur pez: sur le marbre s'asist. Franceis sunt tut versez: ne se poent tenir. E covrirent lur chef e adenz e suvin, E dist li uns al altre: „ Mal sûmes entrepris! Les portes sunt uvertes: si n 'en poiim issir! " (3 85-391 ) (Karl sah den Palast sich drehen und erzittern:/ Er weiß nicht, was die Ursache ist, denn er kennt dies nicht./ Er kann sich nicht auf den Beinen halten und setzt sich auf den Marmorboden./ Alle Franken sind umgefallen, sie können sich nicht aufrecht halten/ und bedecken ihren Kopf, auf dem Bauch und auf dem Rücken liegend./ Der eine sagt zum anderen: „Wir sitzen in der Falle!/ Die Türen sind offen, und wir können nicht hinaus!")

Die Komik der Szene wird noch dadurch akzentuiert, daß Hugo von dem ganzen Geschehen unbeeindruckt unter den Franzosen herumspaziert und dem verzweifelten Karl ganz ruhig erklärt, er solle sich doch etwas gedulden (V. 394-399). Kaum hat sich der Wind gelegt, setzt man sich auch schon zu Tisch: Die Franken gehen nahtlos von der Todesangst zu größter Freßlust über (V. 399ff.). Schon beim Essen beginnt eine große Sauferei, die dann im Schlafgemach fortgesetzt wird und zu einer langen Serie von prahlerischen Reden (gabs) fuhrt (V. 448ff). Olivier will das Töchterlein des Kaisers hundert Mal in einer Nacht lieben; Guillaume d'Orange will eine Kugel, die 30 Mann nicht aufheben können, mit einer Hand 40 Klafter weit schleudern; Bernart de Brusban will ganz Konstantinopel unter Wasser setzen usw. 56 57 58

Vgl. auch Favati [Anm. 52], S. 51ff. Vgl. auch Aebischer [Anm. 54], S. 164f.; Köhler [Anm. 2], S. 82f. Zur Thematik des Château tournant und ihrer Tradition vgl. Sergio Cigada: Il tema arturiano del Château tournant. Chaucer et Christine de Pisan. In: Studi medievali, 3" serie, 2/2 (1961), S. 576-606; ferner Favati [Anm. 52], S. 23f.

Das Karlsbild

in der altfranzösischen

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Epik

Nach der Prahlerei kommt auch gleich wieder der Sturz ins Gejammer. Durch einen Spion informiert, verlangt Hugo die Einlösung der großmäulig verkündeten Heldentaten (V. 643ff.). Keine Entschuldigung hilft, weder der Verweis auf den Vollrausch, noch die Behauptung, derartige Prahlereien seien in Frankreich in Männergesellschaften eben üblich: Die Franken können nur ihr ,nostra culpa' singen und Gott um Hilfe bitten (V. 669-670). Diese wird auch gewährt, schlägt aber gleich wieder in Komik um: Die von Bernart benötigten Wassermassen sind so mächtig, daß nicht nur Hugo auf seinen Turm, sondern auch Karl und seine Barone wie Affen auf eine alte Pinie fliehen müssen:59 Desur un pin antifest Charles al vis fer, Il e li duze pers, Ii barun chevaler, Eprient Damne Deu que d'eauls il aitpited.

(780-782)

(Auf einer alten Pinie sitzt Karl mit dem stolzen Gesicht,/ er und die zwölf Pairs, die ritterlichen Barone/ und bitten Gott, er möge sich ihrer erbarmen.)

Und Gott hat dann schließlich auch ein Einsehen und läßt die Wassermassen zurückweichen (V. 791 f.), so daß das ganze Unternehmen doch noch zu einem friedlichen und glücklichen Abschluß gelangen kann. Für die im „Voyage de Charlemagne" erzählten Ereignisse gibt es mit Sicherheit keinen konkreten historischen Hintergrund.60 Wir haben hier eine frei erfundene Parodie mit dem Ziel, das Karlsbild zu destruieren. Erreicht wird dies durch das, was Aebischer sehr treffend als „bric-à-brac épique" bezeichnet;61 traditionelle Motive der Chanson de geste und v. a. des Karlszyklus werden verfremdet, umgelenkt,62 dadurch, daß sie in einen unerwarteten Kontext eingebettet werden: Es handelt sich nicht mehr um den Kontext Christentum und Vaterland', sondern um den banalen Bereich eines Ehekraches. Die enttäuschte Publikumserwartung läßt so den (fast) idealen Herrscher zu einem hemdsärmeligen Pantoffelhelden werden.63 *

Obwohl wir nur einige ausgewählte Texte aus dem Bereich der altfranzösischen Epik analysiert haben, ist uns darin ein Karlsbild begegnet, das von der (fast) idealen Herrscherfigur in der „Chanson de Roland" bis hin zum Tyrannen des „Renaut de Montauban" reicht. Zwischen diesen Extremen gibt es die unterschiedlichsten Zwischenpositionen. Dazu kommt noch, daß Karl keineswegs immer ernst genommen, sondern oft verulkt oder sogar durchgängig parodiert wird. Wie ist nun dieser verwirrende Befund zu interpretieren? 59

Vgl. auch Favati [Anm. 52], S. 24ff.

60

Vgl. auch Aebischer [Anm. 54], S. 154; Köhler [Anm. 2], S. 81.

61

Aebischer, Versions [Anm. 54], S. 176.

62

Vgl. Neuschäfer [Anm. 54], S. 82f.

63

Vgl. ebd., S. 83, S. 89.

34

Peter WunderIi

Ganz wesentliche Erklärungsinstrumente verdanken wir den literatur-soziologischen Überlegen von Erich Köhler, für den die altfranzösischen Epen aus den Gegebenheiten der Feudalgesellschaft im 11. und 12. Jahrhundert zu erklären sind.64 Das ursprünglich schwache (kapetingische) Königtum versucht gerade in dieser Zeit, von den großen Feudalherren unabhängig zu werden und deren Macht und Einfluß auf die Zentralgewalt zu verringern, ja letztlich zu brechen, was natürlich zum Konflikt zwischen dem König und dem Feudaladel fuhren mußte.65 Wir haben es in den rund 150 Jahren, die uns interessieren, mit vier kapetingischen Königen zu tun: Philippe I, Louis VI ,le Gros', Louis VII ,le Jeune' und Philippe II Auguste. Philippe I war noch ein ausgesprochen schwacher König gewissermaßen ein typischer Frühkapetinger —, und ähnliches kann man auch noch von seinen beiden Nachfolgern sagen. Gleichwohl betrieben diese Herrscher im Rahmen ihrer Möglichkeiten Zentralisierungspolitik und erzielten einige (wenn auch bescheidene) Erfolge. Der Durchbruch gelang schließlich Philippe II Auguste durch seine antifeudale Allianz mit der Funktionärsschicht und dem Bürgertum: Nach der Schlacht von Bouvines (1214) waren die Großvasallen endgültig entmachtet.66 Geht man nun davon aus, die „Chanson de Roland" sei in der Oxforder Version während der Regierungszeit von Philippe I entstanden, dann bietet sich die Erklärung für das in ihm gezeichnete Karlsbild an: Im Gegensatz zum schwachen kapetingischen König erscheint Karl sowohl äußerlich als auch von seiner moralischen Statur her als idealer, mächtiger Weltkaiser, der, von Nationalgefühl und christlichem Sendungsbewußtsein getragen, auch in der Lage ist, seine Vorstellungen durchzusetzen67 - er stellt also ein Wunschbild, eine Zielprojektion aus proköniglicher Sicht dar. Gleichwohl dringen die profeudalen Positionen vereinzelt durch: Unter der scheinbar glatten Oberfläche werden die inneren Widersprüche und Spannungen der gegebenen Situation deutlich, denen sich eben auch die Idealfigur nicht entziehen kann. Ganz anders liegen die Dinge für den um 1200 entstandenen „Renaut de Montauban". Was unter Philippe I noch reines Wunschdenken war, hat sich unter Philippe II Auguste weitgehend zur Realität gemausert: An der Spitze Frankreichs steht jetzt ein glanzvoller, zunehmend mächtiger Herrscher. Der Feudaladel sieht seine Felle davonschwimmen, denn er konnte seine partikulären Interessen nur unter einem schwachen König durchsetzen. Literarischer Ausfluß der profeudalen Sicht der geschichtlichen Entwicklung ist die Rebellenepik, die im „Renaut de Montauban" kulminiert, in dem der mächtige Herrscher als Tyrann erscheint.68

64

Vgl. Köhler, Conseil [Anm. 19], S. 368f.

65

Vgl. hierfür und für das folgende Erich Köhler: Die Rolle des niederen Rittertums bei der Entstehung der Trobadorlyrik. In: ders.: Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania. Frankfurt/M. 21972, S. 9-27, v. a. S. 20ff.

66

Vgl. Bender [Anm. 8], S. 115, S. 119; Köhler [Anm. 2], S. 91.

67

Vgl. Köhler [Anm. 2], S. 44. Vgl. auch Krauß [Anm. 5], S. 9; Bezzola [Anm. 16], S. 131.

68

Vgl. Krauß [Anm. 5], S. 9f.; Köhler [Anm. 2], S. 91f.

Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik

35

Dies darf nun aber nicht dazu verleiten, einen durchgängigen Parallelismus zwischen der Entwicklung der Feudalgesellschaft einerseits und den sich in der epischen Literatur spiegelnden politischen Themen andererseits anzunehmen, wie dies z. B. Bezzola und Becker tun.69 Sicher: Die Zuordnung „Chanson de Roland" - Philippe I und seine Zeit, „Renaut de Montauban" - Philippe II Auguste und seine Zeit haben ihre Gültigkeit. Wie aber erklärt es sich, daß im „Voyage de Charlemagne", einem wie der „Renaut de Montauban" der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts angehörenden Werk, der Kaiser nicht verteufelt, sondern einfach lächerlich gemacht wird? Und wie erklärt es sich, daß in der gleichen Zeit mit dem „Ansei's de Carthage" ein Epos entstehen kann, in dem Karl zwar alt und schwach erscheint, das in seiner Grundhaltung aber durchaus proköniglich ist? Und was ist mit „Aspremont", einem Text, der auf 1188 datiert wird und der somit bereits in die Regierungszeit des von allem Anfang an zielstrebig die Entmachtung der Feudalherren betreibenden Philippe II Auguste fällt? Sicher, Girart de Fraite ist immer ein bißchen größer als Karl, aber Karl ist weitgehend fehlerfrei - wir haben also einen Text, der keineswegs als antiköniglich angesehen werden kann. Bei der Lösung dieser Probleme hilft uns der Ansatz von Alfred Adler weiter.70 Nach ihm darf das gesamte Korpus der Chansons de geste nicht auf seine chronologische Abfolge fixiert und in Abhängigkeit von ihr betrachtet werden.71 Die Epenautoren würden vielmehr (mehr oder weniger) die gesamte Stoffmasse überblicken und vor dem Hintergrund des Gesamtinventars gewisse Typen von Konstellationen exemplarisch behandeln, ja sie bis in ihre extremsten Konsequenzen ausspekulieren. Verstärkt würde die didaktische Funktion der ausspekulierten Kasus durch die Technik der Gegenbildlichkeit, d. h. durch die Abhandlung von einander diametral entgegengesetzten Konstellationen in verschiedenen Epen. Unsere Ergebnisse in bezug auf das Karlsbild liefern eine Bestätigung von Adlers Arbeitshypothese: Zwischen der proköniglichen Extremposition in der „Chanson de Roland" und der profeudalen im „Renaut de Montauban" kann dieses Bild beliebig variiert und nuanciert werden, wobei diese Variation abhängig ist von der für das Epos gewählten Gesamtkonstellation. Das Ausspekulieren unterschiedlicher Ausprägungen der Relation Herrscher - Feudaladel schlägt somit auf das Karlsbild zurück, die epische Spekulation (Adler) wird zur ,specula-

69

Vgl. Bezzola [Anm. 16], S. 130-163; Becker [Anm. 27], S. 114ff.; Bender [Anm. 8], S. 7f.

70

Vgl. Adler [Anm. 2]. Vgl auch Erich Köhler: Episches , Ausspekulieren' und,synchronische Geschichte'. In: Romanist. Zeitschr. für Literaturgeschichte 1 (1977), S. 234-241; Krauß [Anm. 5], S. 11; Alberto Limentani: Les nouvelles méthodes de la critique et l'étude des chansons de geste. In: Charlemagne et l'épopée romane. Actes du VIIe Congres International de la Société Rencesvals. 2 Bde., hg. von Madeleine Tyssens, Claude Thiry. Paris 1978, Bd. 2, S. 295-334, hier S. 307.

71

Für eine derartige Betrachtungsweise spricht auch die Tatsache, daß die ganze Chronologie der altfranzösischen Epen nach wie vor äußerst fragwürdig ist und es wohl auch immer bleiben wird.

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tio Carolina'. Welche Konstellation für die verschiedenen Figuren gewählt wird, hängt von der ideologischen Position des Autors und seinem Zielpublikum ab.72 Bleibt noch der „Voyage de Charlemagne", ein Text, der vorerst nicht so recht in unser Erklärungsschema zu passen scheint. Andererseits vermag auch die Bewertung von Guido Favati73 nicht zu befriedigen, nach der es sich um „un'opera di puro divertimento, dovuta ad un letterato che si e dilettato di prendersi gioco di un insieme di situatzioni epiche raggruppate ad un Carlomagno smanioso di eccellere" handeln würde. Soweit Favati den ,bricolage', die Technik des Ausspekulierens und der Gegenbildlichkeit, im Blick hat, vermag ich ihm beizupflichten - aber dieses Spiel ist nicht ganz so unschuldig, wie es sich gibt, nicht einfach ein literarischer Zeitvertreib, sondern von höchster politisch-ideologischer Brisanz. Dies scheint sich mir schon daraus zu ergeben, daß Parodie und Komik sich ja nicht nur (durchgängig) im „Voyage" finden, sondern (punktuell) auch eine wichtige Rolle in einer .ernsthaften' Chanson de geste, dem fast gleichzeitig entstandenen „Renaut de Montauban", spielen.74 Für die Erklärung dieses Phänomens scheint sich mir die Theorie der Karnevalisierung von Michail Bachtin anzubieten.75 Für Bachtin gibt es vom Altertum bis in die Renaissance eine Tradition des ,populären Lachens', die weitgehend wenn auch nicht ausschließlich - an die öffentlichen Plätze und das auf ihnen stattfindende Jahrmarktstreiben gebunden wäre.76 Funktion dieser Institution wäre es, eine Art karnevalistische Gegenwelt zur offiziell-feierlichen Welt von Kirche und Staat zu schaffen, einen Rahmen abzugeben, in dem man sich ohne Furcht vor Strafe und Repressionen austoben, Kritik an der obrigkeitlichen Welt üben und seine Aggressionen gegen diese loswerden kann: Es eröffnet sich die Möglichkeit eines ,monde totalement autre', eines ,monde ä l'envers', einer verkehrten' Welt, in der das Lachen oberstes Prinzip ist, ein Lachen, das einerseits kritisch-destruktiven (und damit befreienden) Charakter hat, andererseits aber auch durchaus konstruktiv und zukunftsstiftend im Sinne einer Zielprojektion sein kann. In diesem Rahmen muß der „Voyage de Charlemagne" gesehen werden. Zwar handelt es sich nicht um ein populäres, für die ,place publique' bestimmtes Werk, sondern um ein literarisches Kunstprodukt elitären Charakters - aber die Kamevalisierung hat schließlich auch anderweitig in den oberen Kreisen eine Rolle 72 73 74 75

76

Vgl. auch Graus [Anm. 3], S. 16, S. 23f.; Limentani [Anm. 70], S. 302. Vgl. Favati [Anm. 52], S. 78. Darüber hinaus finden sich komische Szenen auch in anderen Epen. Vgl. v. a. Michail Bachtin: L'oeuvre de Rabelais et la culture populaire au Moyen Âge et sous la Renaissance. Paris 1970. Vgl. auch Peter Wunderli: Das komische Leiden. Aspekte der Krankheit in den Cent Nouvelles Nouvelles. In: Der kranke Mensch in Mittelalter und Renaissance, hg. von Peter Wunderli. Düsseldorf 1986, S. 59-131, hier S. 115-18; Limentani [Anm. 70], S. 326. Und die Chanson de geste ist ja ursprünglich ein „article de foire", vgl. Jean Rychner: La chanson de geste. Essai sur l'art épique des jongleurs. Genève, Lille 1955 (Société de Publications Romanes et Françaises 53).

Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik

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gespielt.77 Durch die Transposition vom populären in den elitären Bereich eröffnet sich so die Möglichkeit einer hochrangigen Kritik an der offiziellen Ideologie und an ihrer ,Image-Pflege': Ebenso wie dies Alfred Adler für die komischen Szenen des „Renaut de Montauban" unterstrichen hat,78 werden auch im „Voyage" das königliche Selbstverständnis und seine propagandistische Außendarstellung verunglimpft und parodiert. Allerdings glaube ich nicht, daß es sich dabei (so Adler) um parodistische Selbstironie handelt. Alles spricht vielmehr für eine karnevalistische Ideologiekritik an der proköniglichen Position aus der Sicht des Feudaladels. Da der „Voyage de Charlemagne" durchaus in der Regierungszeit von Philippe II Auguste entstanden sein könnte, und da gerade dieser Herrscher das idealisierte Karlsbild ausgiebig als Propagandainstrument einsetzte,79 fände eine karnevalistische Antwort auf die offiziellen Indoktrinationsversuche wie von selbst ihren Platz im literarisch gespiegelten Kräftefeld der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Parteien. Wir sind im Laufe unserer Überlegungen mit einem außerordentlich vielfaltigen, in hohem Maße schillernden Karlsbild konfrontiert worden, das uns ein Reflex der Auseinandersetzung zwischen Königtum und Feudaladel ab Mitte des 11. bis Anfang des 13. Jahrhunderts zu sein scheint. Die jeweilige Ausgestaltung der Karlsfigur ist abhängig von der ideologischen Position des Autors und dem Zielpublikum und variiert im Sinne der epischen Spekulation weitgehend chronologieunabhängig zwischen der dezidiert proköniglichen Darstellung in der „Chanson de Roland" und der dezidiert profeudalen im „Renaut de Montauban". In diesem Gefüge finden auch partielle oder durchgängige Karnevalisierungen ihren Platz. Angesichts der Variationsbreite und der Widersprüche bei der Bewertung der Herrscherfigur könnte man versucht sein, in der altfranzösischen Chanson de geste so etwas wie die (freie) politische Presse einer längst vergangenen, deswegen an sozialen Spannungen aber keineswegs armen Epoche zu sehen.

77

78 79

Vgl. z. B. für die „Cent Nouvelles Nouvelles" und den burgundischen Hof Wunderli [Anm. 75], S. 118. Vgl. Adler, Rückzug [Anm. 37], S. 62f. Vgl. Becker [Anm. 27], S. 109f. und Köhler, Conseil [Anm. 19], S. 390, sowie Bender [Anm. 8], S. 123ff., S. 133ff.

Angelika Ivens und Annette Klein

Karl im Land der Trobadors: Das Karlsbild der altokzitanischen Epik

Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist das Karlsbild in mittelalterlichen Texten, die im südfranzösischen Raum, d. h. im okzitanischen Sprachgebiet, entstanden sind. Nach einer historisch-geographischen Vorbemerkung und einem kurzen Überblick über die Texte, in denen Karl der Große als literarische Figur auftritt, soll das Hauptaugenmerk auf zwei Epenfragmente gerichtet werden, die den Rolandsstoff behandeln und damit interessante Vergleichspunkte zur altfranzösischen „Chanson de Roland"1 bieten. Das okzitanische Sprachgebiet dehnte sich im Mittelalter im Norden bis in die Gegend von Poitiers aus und erstreckte sich demnach über die heutigen Regionen Languedoc, Limousin, Gascogne, Auvergne, Périgord und Velay. Obwohl in diesem relativ weiträumigen Gebiet verschiedene Dialekte existiert haben, entwickelte sich seit dem Ende des 10. Jahrhunderts eine einheitliche Literatursprache, die auch in Katalonien und Norditalien verwendet wurde. In historisch-politischer Hinsicht zerfiel das Gebiet hingegen in verschiedene Territorien, die wiederum unterschiedlichen Einflußbereichen angehörten. So bildete z. B. das Herzogtum Aquitanien von seiner Begründung im 7. Jahrhundert bis zum Ende des Mittelalters ein Machtzentrum von großer Eigenständigkeit, das v. a. seit der Heirat Aliénors d'Aquitaine mit dem späteren englischen König Heinrich II. Plantagenêt (1152) in starker Konkurrenz zur französischen Krone stand. Die beiden anderen wichtigen Fürstentümer Südfrankreichs, die Grafschaft Toulouse und die Grafschaft Provence/Barcelona, wurden nach einer Blütezeit im 12. Jahrhundert besonders stark von den Albigenserkriegen (1208/9-29) betroffen, in denen Papst Innozenz III. mit der Unterstützung nordfranzösischer Fürsten gegen die .häretischen' Bewegungen der Albigenser und Katharer in der Region vorging. Der südfranzösische Widerstand wurde unter dem Protektorat des Königs von Aragon (und Grafen von Barcelona) organisiert; nachdem jedoch Mitte des 13. Jahrhunderts die letzten Katharerfestungen gefallen waren, festigte sich mehr und mehr der Einfluß des französischen Königs. Auch die Zeit der kulturellen Blüte des Okzitanischen war damit vorüber. In der romanistischen Forschung wird immer wieder auf den Tatbestand hingewiesen, daß im Altokzitanischen, das als erste romanische Literatursprache schon im frühen 12. Jahrhundert bedeutende Werke der Trobadordichtung hervorbrachte,

1

Das altfranzösische Rolandslied. Übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck. Mit einem Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart 1999 (RUB 2746).

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kaum epische Texte aus dieser Zeit erhalten sind.2 Dies mag der Grund dafür sein, daß die Theorien zur Entstehung des Epos in Frankreich das Altokzitanische nicht berücksichtigt haben. Dennoch liegt der Gedanke nahe, daß Epen, in denen Kämpfe um südfranzösische Städte dargestellt werden, auch in den Regionen entstanden sein dürften, in denen sich die Handlung abspielt. Folglich verdient der Beitrag der altokzitanischen Literatur bei der Erforschung der frühen romanischen Epik stärkere Beachtung. Dies gilt insbesondere auch für die Texte, die die Figur Karls des Großen zum Gegenstand haben und unter diesem Aspekt bisher noch nicht untersucht worden sind. Die Texte, die sich mit Karl dem Großen befassen, lassen sich einteilen in solche, die offensichtliche Übertragungen lateinischer oder altfranzösischer Vorlagen sind, und solche, für die sich keine unmittelbaren Vorlagen in anderen Sprachen nachweisen lassen und die somit eventuell originäre Schöpfungen in altokzitanischer Sprache sein könnten. Zur ersten Kategorie gehört die „Chronique dite Saintongeaise"3 (1. Drittel des 13. Jahrhunderts), die auf der Grundlage des „Pseudo-Turpin" die Taten Karls des Großen schildert, wobei hier zusätzlich die Feldzüge in Südwestfrankreich behandelt werden. Des weiteren die Chronik „Gesta Caroli Magni ad Carcassonam et Narbonam"4, auch „Philomena" genannt (Mitte 13. Jahrhundert), die in Latein und Okzitanisch überliefert ist und auf verschiedene lateinische Quellen, u. a. den „Pseudo-Turpin"5, zurückgeht. Auch der „Pseudo-Turpin" selbst liegt in einer okzitanischen Fassung vor, die spätestens auf die 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts zu datieren ist und eine Übertragung der lateinischen Langversion darstellt. Zu erwähnen ist weiterhin „Fierabras"6 (1230/ 40), eine gekürzte Version des gleichnamigen altfranzösischen Epos, in dem der Feldzug Karls des Großen gegen den Heiden Balan und dessen Sohn Fierabras beschrieben wird, die gemeinsam Rom erobert haben. Olivier besiegt Fierabras, der daraufhin zum Christentum konvertiert und fortan an der Seite Karls des Großen kämpft. Olivier gerät mit anderen Franken in Gefangenschaft. Einer der Franken erwirbt die Liebe der Schwester von Fierabras, bevor alle durch Karl und Fierabras befreit werden.

2

3

4

5

6

Vgl. Rita Lejeune: Le problème de l'épopée occitane. In: Dies.: Littérature et société occitane au Moyen Age. Liège 1979, S. 67-99. André de Mandach (Hg.): Chronique dite Saintongeaise. Texte franco-occitan inédit "Lee". A la découverte d'une chronique gasconne du XHIe siècle et de sa poitevinisation. Tübingen 1970 (Beihefte zur Zeitschrift fur Romanische Philologie 120). Friedrich E. Schneegans (Hg.): Gesta Caroli Magni ad Carcassonam et Narbonam Lateinischer Text und provenzalische Übersetzung mit Einleitung. Halle 1898 (Romanische Bibliothek XV). O. Schultz: Der provenzalische Pseudo-Turpin. In: Zeitschrift fur Romanische Philologie 14 (1890), S. 467-520. Immanuel Bekker (Hg.): Der Roman von Fierabras, provenzalisch. Berlin 1829 (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, hist.-philologische Klasse 10); Michael A. Poutney (Hg.): Fierabras d'Alichandre. Chanson de geste occitan du XlIIe siècle, éditée d'après l'unique manuscrit. Diss. Poitiers 1980.

Das Karlsbild der altokzitanischen Epik

41

Die zweite Kategorie, d. h. die Texte ohne bekannte Vorlagen in anderen Sprachen, ist wenig umfangreich. Zu nennen ist hier zunächst das Epos „Daurel et Beton" 7 (ca. 1170), in dem Karls Schwester Beuve d'Antone heiratet, aber auch von dessen Freund Gui begehrt wird. Als sie ihn abweist, tötet Gui Beuve unerkannt und bringt Karl dazu, dessen Witwe mit ihm zu verheiraten. Danach versucht er, auch Beuves Sohn Beton umzubringen, der aber von dem Jongleur Daurel gerettet wird und später seinen Vater rächen kann. Darüber hinaus gehört der „Roman d'Arles" 8 (14. Jahrhundert) zu den wahrscheinlich originär okzitanischen Schöpfungen. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte der Stadt Arles, deren zweiter Teil zur Zeit Karls des Großen und seines Sohnes Ludwig spielt. Ein Sarazene namens Thibaut kämpft darin zunächst gegen die Truppen Karls, dann gegen diejenigen von Guillaume d'Orange um die Stadt Arles. Die Schlacht von Roncesvalles bildet an einer Stelle den Hintergrund der Handlung. Aufgrund der zentralen Bedeutung des Rolandsstoffes innerhalb der romanischen Karlsliteratur, die in der Vielzahl von Untersuchungen zur altfranzösischen „Chanson de Roland" und zum „Pseudo-Turpin" deutlich wird, verdienen zwei weitere Epenfragmente besondere Aufmerksamkeit: die altokzitanischen Rolandiana, „Roland à Saragosse" und „Ronsasvals". Beide Texte sind von der deutschsprachigen Romanistik bisher nicht rezipiert worden und sind auch in der französischsprachigen Forschung nicht unter dem Aspekt der literarischen Darstellung der Figur Karls des Großen betrachtet worden. Sie wurden erst im Jahre 1912 von einem Bibliothekar in einem Manuskript, das in einem Notariat in der Stadt Apt (Vaucluse) gelagert war (und immer noch ist), entdeckt. Außer den genannten Texten enthielt es Akteneintragungen, die auf das Jahr 1398 datiert waren. Dieser Fund war um so bedeutsamer, als es sich um die einzige erhaltene Realisierung des Rolandsstoffes in altokzitanischer Sprache handelte. In den zwanziger Jahren wurden beide Texte von dem französischen Philologen Mario Roques erstmals wissenschaftlich untersucht und durch seine Ausgaben von 1932 und 1956 der Forschung zugänglich gemacht.9 Mario Roques war es auch, der den Texten die Titel gab, unter denen sie heute bekannt sind. 1991 legten Robert Lafont und Gérard Gouiran eine neue Edition mit neufranzösischer Übersetzung vor, die sich nun auch an ein breiteres Publikum wendet.10 Das Fragment „Ronsasvals" umfaßt 1802 Verse in 51 Laissen mit einer Auslassung von ca. 400 Versen nach Vers 821. Damit wäre es selbst in der vollständigen Fassung nur etwa halb so lang wie die Oxforder Version der „Chanson de

7

Arthur S. Kimmel (Hg.): A Critical Edition of the Old Provençal Epie „Daurel et Beton". Chapel Hill 1971.

8

Mario Roques (Hg.): „Le Roman d'Arles". Histoire littéraire 38,2 (1949), S. 606-641 und Impr. Nationale 1950.

9

Ders.:Ronsasvals:poèmeépiqueprovençal.In:Romania58(1932),S. 1-28,S. 161-189;ders.: Roland à Saragosse. Poème épique mériodional du XTVe siècle. Paris 1956 (CFMA 83).

10

Gérard Gouiran und Robert Lafont: Le Roland occitan. Paris 1991 (10/18 2175). Alle im folgenden zitierten Textstellen nach dieser Ausgabe.

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Roland" (4002 Verse). Auch „Roland à Saragosse" hat fragmentarischen Charakter, da der Anfang der Erzählung (ungefähr 380 Verse) fehlt. Formal unterscheidet sich letzterer Text von dem erstgenannten vor allem dadurch, daß die 1410 Verse in nur 18 Laissen angeordnet sind. Gemeinsam ist beiden Texten, daß die Laissen größtenteils in Zehnsilbern verfaßt sind, wobei, wie in zahlreichen altokzitanischen Epen seit dem Ende des 12. Jahrhunderts, einzelne Alexandriner eingestreut sind. In der Regel handelt es sich um assonierende Laissen, d. h. Gruppen von Versen, in denen nur der Tonvokal am Versende übereinstimmt; gelegentlich finden sich aber auch reimende Verse, die am Versende häufig franzisierende Formen aufweisen, Merkmale, die in der gesamten altokzitanischen Epik nicht ungewöhnlich sind. Die Entstehungszeit der beiden Texte ist umstritten. Zwar befinden wir uns in der glücklichen Lage, das Manuskript von Apt auf das Jahr 1398 datieren zu können, es ist aber nicht zu klären, ob der dort überlieferten Version eine schriftliche oder eine mündliche Quelle vorausgeht und wie diese zeitlich einzuordnen ist. Die verschiedenen Vorschläge reichen vom 12. Jahrhundert" (Martin de Riquer) über das erste Drittel des 13. Jahrhunderts 12 (Elisabeth Schulze-Busacker) bis zur zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts 13 (Hans-Erich Keller). Belege für die Verbreitung des Rolandsstoffes in Südfrankreich lassen sich allerdings seit dem 11., verstärkt aber seit dem 12. Jahrhundert finden, wie es z. B. Rita Lejeune mittels der Eigennamenforschung, kunstgeschichtlicher Zeugnisse (z. B. die Kapitelle der Abteikirche von Conques) und Anspielungen in anderen literarischen Werken nachgewiesen hat. 14 Interessant ist in diesem Zusammenhang v. a. das ensenhamen von Guerau de Cabrera 15 (Mitte 12. Jahrhundert), ein Text, in dem der katalanische Autor ausfuhrt, welche Stoffe ein guter Spielmann (joglar) kennen sollte, und in dem u. a. „Daurel et Beton", „Mainet", „Ogier", „Les Saisnes" und „Roland" genannt werden. „Ronsasvals" und „Roland à Saragosse" gehören unterschiedlichen literarischen Traditionen an. Während „Ronsasvals" sowohl in bezug auf den Inhalt als auch auf die Gattung in unmittelbarer Nähe zur altfranzösischen „Chanson de Roland" anzusiedeln ist, handelt es sich bei „Roland à Saragosse" um eine Mischform aus Epenparodie und ,roman d'aventures'. 11

Martin de Riquer: La antigüedad del Ronsasvals Provenzal. In: Coloquios de Roncesvalles. Agosto 1955. Pamplona 1956, S. 245-251.

12

Elisabeth Schulze-Busacker: La datation de Ronsasvals (I, II). In: Romania 110,1-2 (1989), S. 127-166; (1989), S. 396-425.

13

Hans-Erich Keller: Roland à Saragosse. Rencontre de deux cultures. Mélanges offerts à Rita Lejeune. Gembloux 1969,1, S. 137-158 (Wiederabdruck in ders.: Autour de Roland. Recherches sur la chanson de geste. Paris 1989, S. 311-331).

14

Rita Lejeune: L'esprit de croisade dans l'épopée occitane. In: dies.: Littérature et société occitane au Moyen Age. Liège: Marche romane 1979, S. 29-46.

15

Martin de Riquer (Hg.): Guerau de Cabreira: Ensenhamen. In: Actes du Xle Congrès International de la Société Rencesvals (Barcelone 22-27 août 1988). Barcelona 1990 (Memorias de la Real Academia de Buenas Letras de Barcelona 21-22), S. 332-351.

Das Karlsbild der altokzitanischen Epik

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Das „Roland ä Saragosse" genannte Epenfragment läßt sich in seinem heutigen Umfang in vier Teile gliedern, die zwar formal nicht mit einem Laissenwechsel zusammenfallen, inhaltlich jedoch jeweils einen Ortswechsel einleiten, der zu einem Umschwung der Handlung führt. So gelangt man zu folgender Einteilung: 6. Der Aufbruch (1-261) 7. Rolands Sieg (262-699) 8. Roland in Gefahr (700-1151) 9. Oliviers Rache (1152-1410). Die Handlung beginnt in Roncesvalles, im Zelt Karls des Großen, dem Roland wohl soeben von seinem Entschluß berichtet hat, alleine mit Olivier in die von den Sarazenen besetzte Stadt Zaragoza einzudringen, wo die schöne Braslimonda, Ehefrau von König Marsile, ihn erwartet. Karl bittet ihn eindringlich, von diesem Vorhaben abzulassen. Er bietet seinem Neffen sogar die Krone an und berichtet von einem unheilvollen Traum, der ihn um sein Leben fürchten läßt. Doch Roland bleibt bei seinem Entschluß. Die beiden Ritter legen nun ihre Waffen an und nehmen nach einem kurzen Gebet Abschied von Karl dem Großen. Nachdem dieser den Wunsch geäußert hat, Olivier möge Roland beschützen, bricht Karl zunächst in Tränen aus, doch bald darauf ruft er einige der Pairs zu sich, die Roland mit 60.000 Männern einholen sollen, was ihnen aber erst am Abend des nächsten Tages gelingen wird. Roland und Olivier sind unterdessen auf einem Hügel vor Zaragoza angekommen. Da äußert Roland seine Absicht, ohne seinen Gefährten in die Stadt einzudringen, was Olivier verzweifelt, doch vergeblich zu verhindern trachtet. In seiner Ehre gekränkt, bleibt er alleine zurück. Roland gelingt es, sehr zur Freude Braslimondas, in die Stadt zu gelangen, nachdem er König Farnagan im Kampf besiegt und am Stadttor siegreich mit hundert Sarazenen gekämpft hat. Braslimonda reitet Roland entgegen, warnt ihn vor Marsile und schenkt ihm ihren prachtvollen Mantel, den er Karl dem Großen zum Beweis seiner Tapferkeit überreichen soll. Da erscheinen die Sarazenen unter der Führung des eifersüchtigen Marsile, den Roland töten will, auf Bitte Braslimondas jedoch verschont. Um sich einen Weg zum Stadttor zu bahnen, tötet Roland bis zum Abend nicht weniger als 1200 Sarazenen, unter ihnen auch den tapferen Greis Bravis. Schließlich sprengt er das Tor mit einem gewaltigen Hieb seines Schwertes Durendal und reitet in die Ebene hinaus, während Marsile 60.000 Verfolger hinter ihm her schickt. Beim Anblick dieser erdrückenden Übermacht und am Ende seiner Kräfte bittet Roland Olivier, der sich nicht vom Fleck gerührt hat, wiederholt um Hilfe. Doch, immer noch gekränkt, lehnt Olivier ab. Roland muß den Kampf alleine aufnehmen. Erst im Augenblick der höchsten Not, als Roland von einem Sarazenen aus dem Sattel geworfen wird, greift Olivier ein und nimmt an Rolands Stelle den Kampf auf. Da erreichen endlich auch Turpin und die anderen fränkischen Verfolger den Ort des Geschehens und schlagen die Sarazenen in die Flucht. Die Franken kehren nun nach Roncesvalles zurück. Einzig Olivier reitet voraus, um sich bei Karl dem Großen über Rolands Verhalten zu beklagen. Als er in sein

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Lager zurückreitet, verrät ihm der Sarazene Golian, wie er sich des Schatzes des Königs von Mont Negre bemächtigen kann. Olivier bricht unverzüglich auf, erobert den Schatz, teilt ihn unter seinen Männern auf und nimmt schließlich noch die Sarazenenfestung Gorreya ein. Inzwischen ist auch Roland in Karls Lager zurückgekehrt und überreicht ihm Braslimondas Mantel, den Karl sofort anlegt. Roland speist und legt sich schlafen. Da berichtet ein Bote Karl davon, daß Olivier mit seinen Rittern das Heer verlassen hat. Wutentbrannt begibt sich Karl zu Roland, macht ihm Vorwürfe und fordert ihn auf, Olivier nach Roncesvalles zurückzubringen. Roland erreicht Gorreya, wo er von Olivier, der sich als Sarazene verkleidet hat, zum Zweikampf gefordert wird und diesen um ein Haar erschlägt. Nachdem Roland die Täuschung durchschaut hat, holt er nun auch Karl den Großen und sein Heer nach Gorreya. Müde versöhnt Karl nun endlich Roland und Olivier. Das Liebesabenteuer zwischen Roland und Braslimonda, der Ehefrau des heidnischen Königs Marsile, bildet den Ausgangspunkt der Handlung und führt zu dem tollkühnen Versuch Rolands, allein in die Stadt Zaragoza einzudringen. Dieses beinahe gescheiterte Unternehmen, das nur mit Oliviers Hilfe erfolgreich beendet wird, stellt das zentrale Element der Handlung dar und kommt damit den Prahlereien (gabs) nahe, wie wir sie aus der altfranzösischen Epik, z. B. aus dem „Voyage de Charlemagne à Jérusalem et Constantinople"16 kennen. Das Thema ist in dieser Form sonst nicht überliefert; es finden sich allerdings Parallelen zu einigen in Italien entstandenen Epen („Spagna" in Vers- und Prosaform, „Viaggio di Carlo Magno", „La Rotta di Roncesvalle" und „L'entrée d'Espagne"), die noch eingehender zu untersuchen wären. Die Abwertimg der Figur Rolands als Prototyp des fränkischen Kriegers ordnet „Roland à Saragosse" in eine epische Tradition ein, die das nordfranzösische Heldentum kritisch hinterfragt. In „Roland à Saragosse" ist dieser negative Aspekt allein auf die Figur Rolands bezogen; dies nimmt Robert Lafont zum Anlaß, die „Bestrafung Rolands" („Roland puni") als Kernaussage des Textes herauszustellen.17 Vor dem Hintergrund dieser neuen Konstellation der Protagonisten ist auch das Bild Karls des Großen zu sehen. In dem Streitgespräch zu Beginn des Textes wird Karl als Widerpart Rolands und Oliviers dargestellt. Er widersetzt sich vehement dem unvernünftigen Vorhaben der beiden, seine Autorität reicht aber nicht aus, um sie davon abzubringen. Als Karl voller Sorge von seinem unheilverkündenden Traum erzählt, in dem er Rolands Begräbnis vorhergesehen hat, entgegnet Roland ihm wenig respektvoll: Ar auch planch benestant, car vos per sompni mi annas spantani. (Da höre ich Klagen, die Euch ähnlich sehen, da Ihr mir ständig durch Träume Schrecken einjagt, V. 32f.)18 16

Le Voyage de Charlemagne à Jérusalem et à Constantinople, traduction critique par Madeleine Thyssens. Gand 1977.

17

Robert Lafont: Roland matamore ou l'ethnotype du Franc fanfaron. In: Revue des langues romanes, 94/1 (1990), S. 61-79.

18

Alle Übersetzungen aus dem Altokzitanischen von den Verf.

Das Karlsbild

der altokzitanischen

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Epik

Die Träume und Visionen Karls des Großen, von denen er sich in seinem Handeln leiten läßt und die ihn als Erwählten Gottes auszeichnen, sind in anderen Karlsepen häufig Vorzeichen für später tatsächlich eintretende Geschehnisse. Man denke z. B. an die Szene am Ende der „Chanson de Roland", in der Gott durch den Erzengel Gabriel Karl in einer Vision den Auftrag erteilt, weiter für die Christenheit zu kämpfen." In „Roland á Saragosse" hingegen erhält das Motiv des Traums eine andere Funktion, da Roland die göttliche Warnung, die ihm durch Karl übermittelt wird, als übertriebene Ängstlichkeit abtut und damit Karl als notorischen Unheilsverkünder hinstellt. Auf diese Weise wird Karl dem Großen der Nimbus des Vermittlers göttlicher Botschaften genommen, was letztlich zur Profanisierung des Karlsbildes beiträgt. Auch die Funktionen Karls als feudaler Herrscher und Heerführer werden in „Ronsasvals" in Frage gestellt. Gleich zu Beginn des Fragments bietet Karl seinem Neffen Roland die Krone an, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. ,.fren la corona anuech o lo matin, es qeu seray tos Servern desotz ti e te meys serviray a ton pan es a ton vin."

(3-5)

(Nimm die Krone heute abend oder morgen früh,/ Und ich werde Dein Diener sein, Dir Untertan,/ Und ich selbst werde Dir Brot und Wein auftragen.)

Dies wird von Roland zwar abgelehnt, zeigt aber doch, daß zumindest aus der Sicht Karls des Großen ein Generationswechsel denkbar ist. In diesen Zusammenhang gehört auch, daß Karl niemals selbst als kämpfender Ritter auftritt, sondern daß nur auf frühere Heldentaten angespielt wird (z. B. die Eroberung Pamplonas, V. 126ff), während er in der altfranzösischen „Chanson de Roland" selbst den entscheidenden Streich im Kampf gegen den heidnischen Heerführer Baligant führt.20 Im altokzitanischen Text ist der aktive Part bereits von der jüngeren Generation übernommen worden, wohingegen Karl der Große nur eine übergeordnete Herrscherinstanz verkörpert, die Aufträge erteilt und Berichte entgegennimmt, selbst aber nicht ins Kampfgeschehen eingreift. Selbst in dieser passiven Rolle wird seine Autorität jedoch vor allem von Olivier und Roland untergraben. Dies wird nicht nur in dem eingangs geschilderten Streitgespräch deutlich, sondern auch in der Szene, in der Roland sich nach seiner Rückkehr aus Zaragoza weigert, auf Karls Aufforderung hin sofort Rechenschaft über sein Tun abzulegen (V. 1289-91), sowie durch das Verhalten Oliviers, der kurz darauf ohne Auftrag und ohne Wissen Karls das Lager zu einem Eroberungszug verläßt. Diese Eigenmächtigkeit Oliviers wird von einem Boten sofort als Bruch der Loyalitätspflicht des Vasallen gedeutet:

19

„Chanson de Roland" [Anm. 1], V. 3993-3998.

20

Ebd., V. 3615-3619.

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Angelika Ivens und Annette Klein „ Sire emperayre, mot ti vay malamant; la tieua cort si vay de tot partant, que d'Olivier non aves vos niant, huey s 'en annet am sas mayneyas gratis." Cant ho aus Karle, iret fon e dolans. (1303-7) („Herr und Kaiser, es steht sehr schlecht um Dich/ Dein ganzer Hof ist im Begriff, Dich zu verlassen,/ Denn Oliver habt Ihr nicht mehr bei Euch/ Heute ist er fortgegangen mit seiner großen Gefolgschaft."/ Als Karl dies hört, wird er zornig und schmerzerfullt.)

Zwar bestätigt sich diese Befürchtung nicht, da Olivier am Ende die von Karl vermittelte Versöhnung mit Roland anzuerkennen scheint; dies wird aber im vorliegenden Text so verkürzt dargestellt, daß Karl auch in dieser Rolle als Schiedsrichter glanzlos bleibt. Wie in der altfranzösischen „Chanson de Roland" ist das abschließende Bild Karls des Großen das des müden Helden: Las en fon Karle l'emperayre bon franc/ cant ac fin fach d'Olivier am Rollan (Da war Karl, der gute edle Kaiser, müde, als er der Sache mit Olivier und Roland ein Ende gemacht hatte, V. 1407/8). Während er im altfranzösischen Text eine göttliche Mission, die nur er als Verteidiger der Christenheit erfüllen kann, erhält, nimmt er im altokzitanischen Text eine Aufgabe wahr, die sich allein auf den privaten Bereich bezieht. Als kaiserliche Instanz und fester Bezugspunkt im feudalen System bleibt Karl der Große also in „Roland ä Saragosse" unangefochten, wenn auch wenig glanzvoll. Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist das Paar der Kampfgefährten Roland und Olivier, deren Rollen im Vergleich zur Tradition weiterentwickelt und umgedeutet werden. Der zweite Text, der hier besprochen werden soll, „Ronsasvals", setzt sich aus drei Episoden zusammen, in deren Mittelpunkt jeweils die Hauptpersonen Roland, Karl und Aude stehen: 1. Die Schlacht von Roncesvalles (1-1424) 2. Die Trauerzeremonie (1425-1696) 3. Die schöne Aude (1697-1802). Die Erzählung beginnt am Montag der Woche vor Pfingsten. Die Nachhut der Franken befindet sich bereits in der Schlacht gegen die Truppen des sarazenischen Königs Marsile. Sie schlagen sich zunächst tapfer gegen die drückende Übermacht des Feindes; bis zum Abend des darauffolgenden Tages sind nur noch dreißig Franken und ein Heide am Leben. Dieser schafft es allerdings, zu Marsile zu fliehen, um Verstärkung herbeizuholen. Währenddessen fordert Olivier Roland auf, sein Horn zu blasen, um Kaiser Karl zu Hilfe zu rufen. Als Roland sich weigert, wirft er ihm Hochmut vor. Am nächsten Morgen ist erneut ein riesiges Heer von Sarazenen zum Kampf gegen die letzten dreißig Franken versammelt. Diese fallen nun einer nach dem anderen. Erneut verlangt Olivier, Roland solle das Horn blasen, was dieser jedoch erst tut, als Olivier ihn an die schöne Aude erinnert, die er niemals wiedersehen wird. Als der Kampf bereits fast verloren ist, erscheint der junge Galian, Sohn Oliviers und der Tochter des Kaisers von Kon-

Das Karlsbild der altokzitanischen Epik

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stantinopel, der bei seiner Mutter aufgewachsen ist und sich nun von Karl zum Ritter hat schlagen lassen, um seinem Vater in der Schlacht beizustehen. Er kann jedoch nicht verhindern, daß dieser tödlich verwundet wird. Olivier trifft bei dem Versuch, sich an seinem Gegner zu rächen, unabsichtlich Roland und verwundet diesen ebenfalls schwer. Galian kann seinen Vater rächen und stirbt selbst nach tapferem Kampf. Zuletzt sind vom fränkischen Heer nur noch Gandelbuon und Roland übrig, beide schwerverletzt. Gandelbuon bettet Roland etwas abseits auf einen Stein und wird von dem Sterbenden als Botschafter zu Karl geschickt: Er soll diesem das Schicksal der schönen Aude ans Herz legen und ihn dafür sorgen lassen, daß die Gefallenen mit allen Ehren bestattet werden. Gandelbuon erfüllt seinen Auftrag. Als er von der Vernichtung der Nachhut berichtet, gelingt Ganelon die Flucht. Karl zieht mit seinem Heer nach Roncesvalles. Roland stirbt wehrlos durch den Lanzenstoß eines unritterlichen Sarazenen. Im Augenblick des Todes steht ihm jedoch ein anderer Sarazene bei, der seinen Glauben und seine persönliche Würde achtet. Da erscheint Karl der Große in Roncesvalles. Beim Anblick der vielen Toten in Roncesvalles bittet Karl Gott darum, den Lauf der Sonne anzuhalten. Die Sonne steht drei Tage lang still, während die Franken um ihre Toten trauern. Danach soll die Beerdigung stattfinden. Karl spricht die Totenklage für Roland, wobei er eingesteht, daß dieser sein Sohn aus einer inzestuösen Verbindung mit seiner Schwester war. Rolands Schwert Durendal wirft er in einen See. Ein Jongleur mit Namen Portajoyas spricht die Klage für den gefallenen Erzbischof Turpin und stirbt aus Schmerz um dessen Tod. Auf Bitte Karls hin schickt Gott einen Löwen, der ihm die gefallenen Franken auf dem Schlachtfeld zeigt, so daß alle ein ehrenvolles Begräbnis erhalten können. Nur die zwölf Pairs werden in ihre Heimat überfuhrt. Währenddessen wird die schöne Aude bereits von unheilvollen Vorahnungen heimgesucht. Als ein Pilger aus Santiago an ihrem Garten vorbeizieht, fragt sie ihn nach Roland. Er berichtet ihr daraufhin von dessen Tod und dem Entschluß des Kaisers, dies vor Aude geheimzuhalten. Tatsächlich zeigt das Heer Karls beim Einzug in die Stadt keine Zeichen der Trauer. Als Karl jedoch sieht, daß Aude die Wahrheit bereits kennt, muß er ihr den Leichnam Rolands zeigen. Sie schließt diesen so fest in die Arme, daß ihr Herz dabei zerspringt. Karl erweist beiden die letzte Ehre. Mit „Ronsasvals" kehren wir zum Kontext der Kreuzzüge und zum bekannten Handlungskern der altfranzösischen „Chanson de Roland" zurück. Der erste Teil, in dem die ruhmreichen Helden der Christenheit in ihren Schlachten gegen die Sarrazins fellons,/ bons de batalha (niederträchtigen, aber kampfstarken Heiden, V. 1274 f.) beschrieben werden, weicht denn auch in Gestaltung und Ideologie kaum von den entsprechenden Passagen der altfranzösischen Texte ab. Auch im Altokzitanischen spielt zunächst der Kreuzzugsgedanke mit allem Fanatismus des Märtyrertums im Heiligen Krieg eine zentrale Rolle, wie sich z. B. an der Predigt Turpins (V. 221 ff.), in der die Elemente der gängigen Kreuzzugspropaganda aufgegriffen werden, nachvollziehen läßt. Erzbischof Turpin als Idealtyp eines miles Christi und Roland als Träger der Oriflamme und somit Ver-

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treter der Königsmacht an seiner Seite stellen durchaus ein vorbildliches Modell religiös legitimierter Gewaltausübung dar - wäre nicht die Macht der Franken mit einem Makel behaftet: dem Hochmut. Zunächst handelt es sich hier, wie auch bereits in der „Chanson de Roland", um den Hochmut Rolands, der, wie Olivier ihm mehrfach vorhält, (V. 535-38, V. 565-69) zu stolz ist, rechtzeitig Hilfe herbeizuholen. Ganelon wiederholt den Vorwurf des Hochmuts in seiner Rechtfertigungsrede nach der Entdeckung seines Verrats durch Karl den Großen, betont jedoch, daß es sich dabei um eine Strafe Gottes handele, die nicht zuletzt auch den Kaiser trifft: Mal grat qu 'en aya Karle ni sieu parlier, Dieu donara ha cascun son loguier (Wie sehr es auch Karl und seinen Schwätzern mißfallen möge, Gott wird jedem seinen [gerechten] Lohn geben, V. 990f.). Auch der Kundschafter Gandelbuon spricht, als die Niederlage von Roncesvalles sicher ist, in seiner Verzweiflung Karl eine Mitschuld am Verhängnis der Franken zu: Cor aura mays de tant bons valedors/ com Karle pert ayssi per sa follorj car arte trames Gayne a l'amaysorl (Wann wird Karl je wieder so viele gute, tapfere Männer haben, wie er sie hier durch seine Torheit verliert, da er damals Ganelon zum Al-Mansur schickte?, V. 629f.). Die darauf folgende Verwünschung Dieus Ii confonda l'erguelh e sa ricorl (Gott möge seinen Hochmut und seine Macht zerstören!, V. 632) kann zwar nicht eindeutig auf Karl bezogen werden, es fällt jedoch auf, daß das Stigma des Hochmutes immer wieder mit den primären Vertretern der fränkischen Herrschaft, Roland und Karl, in Zusammenhang gebracht wird. Dabei entspricht die Figur Karls des Großen in den ersten Szenen, in denen er selbst auftritt, durchaus dem traditionellen Bild des Weltbeherrschers, der Macht und Weisheit vereint und dessen besondere Verbindung zu Gott in prophetischen Träumen zutage tritt. Der erste Auftritt Karls ist mit der Ankunft des fremden Galian und dessen offizieller' Anrede an den Kaiser geradezu als Ehrenbezeugung inszeniert: Gentil rey Karle, enterndes mon semblant, grans es le pres que ha vostra cort s 'espant, vostre pres sabon d 'ayssi en Oriant, vostre pres sabon tro al solelh colcant, vostre pres sabon Sarrazins e Persans, car cor mirable e poder aves gran e sens antix vos an fach valer tant. (834—40) (Edler König Karl, hört meine Ansicht:/ Groß ist der Ruhm, der sich an Eurem Hof verbreitet,/ Euer Ruhm ist bekannt von hier bis zum Orient,/ Euer Ruhm ist bekannt bis zur untergehenden Sonne,/ Euren Ruhm kennen Sarazenen und Perser,/ denn Ihr habt bewundernswerten Mut und große Macht,/ und antike Weisheit gibt Euch solch großes Verdienst.)

Das Eingreifen Galians ist jedoch im Verlauf der Handlung letztlich nur ein retardierendes Moment; der junge Ritter Karls kann den Tod seines Vaters Olivier und die vernichtende Niederlage der Franken nicht verhindern. Von diesem Augenblick an zeichnet sich die charakteristische Umdeutung des Rolandsstoffes ab:

Das Karlsbild der altokzitanischen Epik

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„Ronsasvals" ist als eine Tragödie von viel umfassenderem Ausmaß angelegt, als dies in der Oxforder Version der „Chanson de Roland" der Fall ist. Die Werte selbst, für die Roland und die zwölf Pairs stehen, scheinen in Gefahr zu geraten: Der einzige überlebende Franke der Schlacht von Roncesvalles, der Botschafter Gandelbuon, zieht aus der Erfahrung des heldenhaften Martyriums den erstaunlichen Schluß: cavallaria may non pres un denier (die Ritterschaft ist mir keinen Pfennig mehr wert, V. 1200). Ganelon flieht und entzieht sich damit der kaiserlichen Gerechtigkeit, und anstelle einer die Ordnung wiederherstellenden Racheaktion des Kaisers wird der gesamte verbleibende Text von nicht enden wollenden Trauerzeremonien geprägt. Gewiß bleibt die Topik der Klage in ihren festgefügten Mustern und darf daher nicht überbewertet werden - dennoch erscheint das folgende Selbstportrait Karls des Großen, das in einer solchen Klage steht, charakteristisch für die Atmosphäre der Endzeit und des Niedergangs einer Herrschaft, die im letzten Drittel des Textes dominiert: [...] vielh suy e freol, armas non puesc portier, una perdis may non poyray mangier, ar auray guerra cant degra repauzier; an gran dolor, senher Dieu drechurier, sa m 'es a vieure, si may sa vuelh eslier. (1213-17) ([...] ich bin alt und schwach, ich kann keine Waffen mehr tragen,/ kein Rebhuhn kann ich mehr essen,/ und jetzt werde ich Krieg führen müssen, wo ich doch ausruhen müßte;/ in großem Schmerz, gerechter Herrgott,/ muß ich hier [auf Erden] leben, wenn ich noch hier bleiben will.)

Bezeichnend ist auch, daß die Wunder, die Gott für Karl auf dessen Bitten hin wirkt, nicht mehr zu Entscheidungen führen, die die bedrohte Harmonie der zwischen Christen und Heiden, Gut und Böse wohlgeordneten Welt wiederherstellen, sondern nur noch dem ordnungsgemäßen Ablauf der Trauerzeremonien dienen. Dies gilt sowohl für das Anhalten des Laufes der Sonne, was Karl in der Oxforder Version der „Chanson de Roland" die Möglichkeit zur Verfolgung der Heiden gibt, als auch für den gottgesandten Löwen, der Karl die Erfüllung seiner Pietätspflichten gegenüber seinen toten Vasallen ermöglicht. Mit dem Tod Rolands, des schwertführenden destre bras (rechten Arms, V. 134) Karls des Großen, scheint also auch der Niedergang von dessen Herrschaft besiegelt. Dies spiegelt sich symbolisch im Motiv des im Wasser versunkenen Schwertes Durendal, das einst von Karl an Roland übergegangen war und nach dessen Tod von Karl in einen See geworfen und damit zwar dem Zugriff Unwürdiger entzogen wird, aber auch in seinem Nutzen für die Menschheit verloren ist. In der besonderen Beziehimg Karls des Großen zu Roland in „Ronsasvals" ist vielleicht der Schlüssel zur Interpretation der Figur des trauernden Kaisers zu finden. Am Ende seiner Klage enthüllt Karl das nur in wenigen Quellen (z. B. in der nordischen „Karlamagnüs saga", 13. Jahrhundert) erwähnte Geheimnis seiner

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großen Sünde; es handelt sich um die inzestuöse Verbindung mit seiner Schwester, aus der Roland hervorgegangen ist: ,ßels neps, yeu vos ac per lo mieu peccat gran de ma seror e per mon falhimant, qu 'ieu soy tos payres, tos oncles eyssamant, e vos, car senher, mon nep e mon enfant. " (1624—27) („Lieber Neffe, ich habe Euch mit meiner Schwester gezeugt,/ Darin besteht meine große Sünde und meine Verfehlung/ So bin ich Dein Vater und Dein Onkel zugleich,/ Und Ihr, werter Herr, mein Neffe und mein Kind.")

Das Inzestmotiv ist u. a. bekannt aus dem irischen Sagenkreis um den Helden Cu Chulain, aus der Artussage und aus einigen christlichen Legenden, z. B. derjenigen des Gregorius. In den genannten literarischen Werken wird der Inzest unterschiedlich bewertet; im christlichen Kontext stellt er eine der schlimmsten Sünden dar, die aber durch aufrichtige Reue und Buße getilgt werden kann. In den Sagen hingegen lastet der Inzest wie ein Fluch auf der Familie und stürzt die Missetäter und ihre Angehörigen ins Verhängnis. Seine positivste Wertung erfährt das Motiv in den Fällen, in denen der Inzest zur Erhaltung eines Herrschergeschlechtes dient, wie es in historischen und mythologischen Zusammenhängen überliefert ist.21 Für einen christlichen Herrscher bedeutet der Inzest in erster Linie das Übertreten eines göttlichen Gebotes und ein widernatürliches Verhalten. Doch selbst wenn man den Inzest, wie z. B. im deutschen „Buch vom heiligen Karl", als einen unwissentlichen betrachtet, ist nunmehr einsichtig, daß das Verhängnis, das über die Franken hereingebrochen ist, unmittelbar mit der Person des Kaisers und mit seinem Schicksal zusammenhängt: „Ronsasvals" ist die Geschichte des Büßers Karl, und die Atmosphäre von Buße und Strafe bestimmt das gesamte Epos. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Gott Karl seine Gnade unwiderruflich entzogen hat, noch daß dem Text jegliche über sich hinaus weisende Perspektive fehlt. Karl verhält sich als Büßer vorbildlich, sowohl in seinen reuevollen Klagen und Bekenntnissen als auch in der Durchführung frommer Riten und der Stiftung von Gebetsstätten zum Gedenken an die für ihn gefallenen Krieger. An seiner Person wird die Tradition des Christentums exemplifiziert, das dem grundsätzlich sündhaften Menschen nach einem entsagungsvollen, demütigen und gottergebenen Leben im Jammertal der Erde zuletzt doch das Heil im Jenseits verspricht. Die Zeit des aktiven Kampfes der Christenheit, d. h. diejenige der Kreuzzüge, scheint jedoch mit dem Tod Rolands vorüber zu sein. Hierauf deutet die literarische Ausgestaltung der Sterbeszene hin, in der der ,höfische Sarazene' Falseron Roland beisteht: 21

Man denke z. B. an die Hierogamie in den Dynastien der Pharaonen und Ptolemäer im alten Ägypten sowie an die inzestuösen Götterpaare Isis und Osiris, Zeus und Hera oder an die biblische Überlieferung, derzufolge nach dem Untergang Sodoms die Töchter Lots mit ihrem Vater die Stämme der Moabiter und Ammoniter neu begründen.

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,Jiollan,fay cel, ton Dieu ti deu auzir." Anb aytant 1 'arma Ii vay del cors partir. E Falceron comensa lo a benezir: ,Jiollan,fay cel, non vos puesc aire dir. Cel Dieu que volc ton cors tant gent bastir ti salvi t'arma e ti gart de perilh. " (1415-1420) („Roland," sagt er, „dein Gott muß dich erhören"/ In diesem Augenblick verläßt die Seele seinen Körper./ Und Falseron beginnt, den Segen über ihn zu sprechen:/ „Roland", sagt er, „ich kann Euch nichts anderes sagen./ Der Gott, dem es gefiel, deinen Körper so schön zu gestalten,/ Rette deine Seele und schütze dich vor Gefahren.")

Mit der Gestalt des Falseron, der den Glauben der Christen respektiert, löst sich das starre Feindbild, wie es traditionell im Epos angelegt ist, auf. Der Kampf findet fortan vor allem im Inneren des Menschen statt, der Feind ist das Böse im Menschen selbst. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die beiden untersuchten Texte „Roland á Saragosse" und „Ronsasvals" in verschiedenen literarischen Traditionen anzusiedeln sind und auch in bezug auf das Karlsbild charakteristische Unterschiede aufweisen. In „Roland á Saragosse" führt die Neubewertung des Figurenpaares Roland und Olivier auch zu einer besonderen Ausprägung des Karlsbildes. Der Kaiser greift nicht mehr aktiv in das Geschehen ein, er tritt zugunsten der Protagonisten aus der jüngeren Generation in den Hintergrund, so daß seine Rolle insgesamt ohne Glanz bleibt. In „Ronsasvals" wird die Rolle Karls des Großen als glorreicher Anführer des Kampfes der Christenheit gegen die heidnischen Sarazenen abgelöst von seiner Darstellung als trauernder Heerführer, der seine besten Ritter verloren hat, und als büßender Sünder, der durch den Inzest eine schwere Schuld auf sich geladen hat. Dieser Aspekt der Herrscherfigur läßt sich insbesondere auch an der literarischen und ikonographischen Darstellung Karls des Großen als Heiliger, z. B. in der deutschen Literatur und am Aachener Karlsschrein, beobachten. Abschließend soll die Frage nach einer spezifisch okzitanischen Ausprägung des Karlsbildes gestellt werden. Sowohl die im vorangegangenen dargestellten inhaltlichen Varianten des Karlsbildes als auch die parodistischen Elemente in der Gattung des Epos lassen sich auch in der französischen, spanischen und deutschen Tradition nachweisen. Bemerkenswert ist allerdings, daß sich trotz des begrenzten Umfangs des überlieferten altokzitanischen Textkorpus die Spannbreite der Interpretationsmöglichkeiten der literarischen Figur Karls des Großen zeigt. So deutet sich bereits an, daß die Figur variabel in verschiedene historische Zusammenhänge eingeordnet und für jeweils unterschiedliche politische Zwecke instrumentalisiert werden konnte. Dies läßt sich noch genauer an einem Beispiel aus der altokzitanischen Lyrik zeigen. In dem Gedicht „Pois Ventadorns e Comborns ab Segur"22 des Troubadours Bertrán de Born (ca. 1140 - vor 1215) wird

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Gérard Gouiran (Hg.): L'amour et la guerre. L'oeuvre de Bertrán de Born. Aix-en-Provence 1985, S. 188ff.

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Karl der Große zum Idealbild für den französischen König Philippe II. Auguste stilisiert, der väterlicherseits aus dem Geschlecht der Kapetinger stammte und sich mütterlicherseits auf Karl den Großen zurückführen konnte: Del rei Felip sabrem ben s 'il paireia/ O s 'il segra-l bon usatge Carlon (Was den König Philipp betrifft, so werden wir bald wissen, ob er seinem Vater gleicht oder ob er den edlen Sitten Karls folgen wird, V. 41 f.). Eine ähnlich klare Einordnung in einen historischen Funktionszusammenhang kann für die hier besprochenen Texte nicht geleistet werden, da für beide eine sichere Datierung nicht möglich ist. So müssen auch die Vermutungen, die hierüber angestellt worden sind, letztlich bloße Hypothesen bleiben. Dies gilt auch für die Argumentation Elisabeth Schulze-Busackers, die darauf abzielt, „Ronsasvals" in den historischen Kontext der Albigenserkriege zu stellen.23 Sie betrachtet die in „Ronsasvals" evozierte Atmosphäre der Melancholie, des unumkehrbaren Niedergangs und der Trauer über den Tod der edelsten Fürsten als Spiegel der südfranzösischen Gesellschaft, deren kulturelle Hochblüte durch die Albigenserkriege zerstört wurde. Andererseits ist ebendiese Atmosphäre auch für die Literatur im Frankreich des 14. Jahrhunderts unter dem Eindruck des Hundertjährigen Krieges charakteristisch, so daß auch eine spätere Datierung plausibel erscheint. Hierfür spricht auch, daß „Roland ä Saragosse" von Hans-Erich Keller aufgrund sprachlicher Phänomene in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts eingeordnet wird.24 Da also keine gesicherte Datierung möglich ist und darüber hinaus literarische Traditionen und Motive sich unabhängig von den konkreten historischen Ereignissen fortsetzen, können die Ausprägungen des Karlsbildes in den behandelten Texten nicht unmittelbar in einen historisch-politischen Zusammenhang gestellt werden. In Hinblick auf diese Fragestellung könnte die Untersuchung von Gattungen, die enger in bestimmte Funktionszusammenhänge eingebunden sind, wie die eingangs erwähnten Chroniken oder die mit Bertran de Born angesprochene politische Lyrik, eventuell genauer Aufschluß geben.

23 24

Schulze-Busacker [Anm. 12]. Keller [Anm. 13],

Stefan Härtung f

Karl der Große in der italienischen und frankovenetischen Literatur des Mittelalters

1. Norditalien als ein Kernland der Karlsepik 1.1 Karl der Große in Italien Als ein generelles Kennzeichen der frühen italienischen Literatur kann die intensive Adaptation französischer Werke gelten. Geographisch vollzieht sich diese Rezeption über zwei Haupteinfallstore, einerseits Sizilien, von wo aus die Lyrik der Provenzalen - vermittelt über die sizilianische Schule - nach Norden ausstrahlt, andererseits der vom Alpenkreis geschlossene Raum von Piemont, Lombardei und Poebene, über den sich die altfranzösische Epik nach Venedig und nach Mittelitalien verbreitet. Für die Epik ist wie in Frankreich zuerst an den Rolandsliedstoff zu denken. Symptomatisch für die Rolle der italienischen Karlsepik ist es, daß die - neben der Oxforder Fassung - drei bedeutendsten Textzeugen der „Chanson de Roland" aus Norditalien stammen. Die altfranzösische „Chanson de Roland" ist mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts in Italien allgemein bekannt. Reichhaltige und sehr frühe onomastische, toponomastische und kunsthistorische Zeugnisse, die über die gesamte Halbinsel verstreut sind, belegen diese frühzeitige Bekanntheit des Rolandsliedstoffes.1 Frühester, bis heute erhaltener schriftlicher Beleg für die Kenntnis der „Chanson de Roland" ist die Inschrift einer mittelitalienischen Kathedrale: Im Juli 1131 schwören die Konsuln und Ritter von Nepi bei Viterbo einen Pakt, der jedem Verräter ihres Übereinkommens wörtlich „den ruchlosen Tod des Verräters Ganelon" verspricht.2 Belege finden sich auch in den nicht karlsepischen literarischen Texten. So kennt Dante den Karlszyklus und den Wilhelmszyklus, denn seine „Divina Commedia" zeigt Karl und Roland mit Wilhelm und Rennewart, woraus sich ableiten läßt, daß ihm die alleinige Nennung der Karlsepik geradezu banal erschienen wäre (Par. XVIII, 43). Die tragische Kernhandlung der „Chanson de Roland", die Niederlage von Roncesvalles, in Italien unter der Bezeichnung „Rotta di Roncesvalle" bekannt (so nennt sich später ein italienisches Karlsepos, s. u.), erwähnt 1

Die onomastische, toponomastische und kunsthistorische Forschung zur Rolandsliedrezeption in Italien verzeichnet Marco Villoresi: La letteratura cavalleresca. Dai cicli medievali all'Ariosto. Roma 2000 (Università 219), S. 23. Grundlegend für die Bilddarstellungen bleibt Rita Lejeune, Jacques Stiennon: Die Rolandssage in der mittelalterlichen Kunst. 2 Bde. Brüssel 1966.

2

Abbildung in: Sur les traces de Roland. Légendes et lieux carolingiens en Italie. Carcassonne 1989, S. 22.

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Dante in der Höllenfahrt seines Epos. Die Trompeten der Hölle ließen sich nur mit dem Klang von Rolands Horn vergleichen: Dopo la dolorosa rotta, quando Carlo Magno perdi la santa gesta, Non sonö si terribilmente Orlando.

(Inf. XXXI, 16)

(Nach der schmerzlichen Niederlage, als/ Karl der Große den heiligen Kampf verlor,/ hat nicht so furchtbar Rolands Horn geklungen.)

Inspiriert von der Tugend Karls des Großen und seiner Paladine zeigt sich auch Franziskus von Assisi, welcher seine Glaubensbrüder dem Vorbild „von Karl dem Kaiser, von Roland und Olivier und von allen Paladinen und starken Männern, die im Kampf fähig waren", folgen sieht.3 Neben der „Chanson de Roland" sind den Italienern auch die als historisch geltenden Quellen über Karl den Großen vertraut. So wird die Bekanntheit der Chronik des „Pseudo-Turpin" in Italien von der ersten italienischen Novellensammlung, dem „Novellino" (um 1281— 1300), bezeugt.4 1.2 Wandel der Karlsfigur und epischer Systemwandel Figuren in Texten, und dies gilt auch für die Karlsfigur, sind Elemente eines narrativen Systems. Grundsätzlich besteht der Eindruck, daß die Epenforschung zur Karlsfigur neue Impulse durch eine stärkere Berücksichtigung der Narratologie erhalten könnte. Dieser Eindruck ist darin begründet, daß in Fortwirkung von Tendenzen der älteren Epenforschung die fiktionale Welt der Karlsepen nicht selten als zutreffende Abbildung historischer Wirklichkeit aufgefaßt wurde, als bedürfte das ideologische Programm, welches ein Text realisiert, nicht einer historischen Rekonstruktion. Es kam zu Inhaltslektüren, welche, der Epenpraxis selbst folgend, in naiver Figurenauffassung kompilatorische Figurenbeschreibungen herstellen, ganz als ließe sich die Figur Karls des Großen durch Zusammensetzung des Karlswissens aus allen verfugbaren Epentexten' gewinnen, als sei die Gestalt Karls des Großen ein Kontinuum, welches sich unverändert durch alle Epen zöge, woraufhin dann Karls Charakter und Gestalt aus mehreren Epen rekonstruierend ,wieder zusammengesetzt' werden könne. 5 Diese im Grunde naive

3

Villoresi [Anm. 1], S. 19: „Carolus imperator, Orlandus et Oliverius, et omnes palatini et robusti viri qui potentes fuerunt in proelio."

4

Eine dort berichtete Anekdote, in der ein Karlspaladin, welcher überzogene Ansprüche gegen Karl erheben will, der sofortigen Höllenstrafe anheimgestellt wird, geht auf die Chronik des „Pseudo-Turpin" zurück („Novellino", Kap. XVIII: Della vendetta, che fece Iddio d'uno barone di Carlo Magno/ Von der Strafe, welche Gott an einem Paladin Karls vollzog). Vgl. Sebastiano Lo Nigro (Hg.): Novellino e Conti del Duecento. Torino 1981 (Classici Italiani), S. 91-92.

5

Symptomatisch dafür ist: Gerardo Ciarambino: Carlomagno, Gano e Orlando in alcuni romanzi italiani del XIV e XV secolo. Pisa 1976 (Collezione di Cultura 10). Vgl. S. 113 dort die aus unter-

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Figurenauffassung mag zwar historischen Publikumserwartungen entsprechen, verstellt aber den Blick auf die narrative Konzeptionierung epischer Texte und das bewußte Ausspielen epenzyklischer Konzeptionen sowie die Unterschiedlichkeit der Karlsbilder. Einer Tendenz der Ependichter zur phantasiereichen Lückenschließung selbst folgend, ließ die ältere Forschung sich dazu bewegen, Prä- und Proto-Texte zu erfinden, für welche keinerlei Belege gefunden werden können. 6 Es steht jedoch zu vermuten, daß es sich bei diesen wissenschaftlichen Hypothesenbildungen um eine ungerechtfertigte Extrapolation narrativer Strukturen solcher Epen handelt, die ein lebensweltliches Kontinuum ihrer fiktionalen Karlswelt ganz besonders erfolgreich suggerieren. Schließlich hat sich insbesondere gezeigt, daß die ursprünglichen Versuche, den Wandel der Karlsfigur mit einem unilinearen Dekadenzmodell zu erfassen, welches dann an einen soziokulturellen ,Verfall' des Feudalsystems zurückgebunden werden sollte, nicht durchzuhalten waren, weil sich herausstellte, daß in zeitlich koexistierenden Texten positive und negative Herrschergestalt nebeneinander bestehen. 7 Darüber hinaus ist grundsätzlich zu berücksichtigen, daß die Einzelfigur im Epos, ob es sich nun um Karl den Großen oder um Ganelon handelt, in einem Funktionsbezug zur gesamten Figurenkonstellation des Textes steht.8 Oftmals ist als primäre Absicht des Textes eine Positivierung des italienischen Vasallen erkennbar. Es ist dann naheliegend, daß Rinaldo als rebellischer Vasall und positiver Protagonist einen negativen Antagonisten Karl erfordert, weil es zum Muster des Empörerepos gehört, daß der Rebell zu Unrecht verfolgt wird. Komplexere Konstellationen entwickeln sich durch Rivalitäten konkurrierender Vasallengruppen, so daß in den Empörerepen Karl nicht deshalb als .willenloser Herrscher' gekennzeichnet wird, weil dies einer historischen Karlsüberlieferung schiedlichen Texten konstruierte Synthese ,der' italienischen Karlsfigur oder das Bekenntnis zur textübergreifenden Rekonstruktion von,Karlseigenschaften': „Dieser Romanzo [Li Fatti di Spagna] wird hier untersucht, um das Bild der betreffenden Figur zu vervollständigen", S. 105, Anm. 12 (Übers.: S. H.). 6

Zu einem hypothetischen frankovenetischen „Rinaldo" vgl. Florence Callu-Turiaf: Notes sur une version disparue de la chanson de .Renaud de Montauban' en franco-italien. In: Le Moyen-Âge 68 (1962), S. 125-136. Für die Annahme einer italienischen Proto-„Entrée" vor oder neben der „Chanson de Roland", gegenüber der sich die „Chanson" in eine „schweigende Polemik" gehüllt habe, tritt ein: Ruggero Maria Ruggieri: Alda la bella a Vienna e a Blaia. Dati e risultati di un raffronto tra il primo .Roland rimé' e .Fatti di Spagna'". In: Boletín de la Real Academia de Buenos Letras de Barcelona 31 (1965/66). Zu der nicht belegbaren Hypothese einer Proto-„Entrée" und eines Proto-„Girart" ebenfalls vor der „Chanson de Roland" vgl. schließlich Paul Aebischer: Deux récits épiques antérieurs au .Roland' d'Oxford: .L'Entrée d'Espagne' primitive et le .Girart de Vienne' primitif. In: Université de Lausanne, Bulletin de la faculté des lettres 1 (1968), S. 3-35.

7

Für einen Forschungsüberblick vgl. Stefan Härtung: Komplexes Spiel mit epischer Tradition und die Abwertung der Karlsfigur im .Innamoramento di Carlo Magno' ( 1481 ). In: Romanische Forschungen 103 (1991), S. 172-210, hier S. 174-186.

8

Zur Begründung der im folgenden vorgeschlagenen Neuorientierungen zur Erforschung des Figurenwandels im Epos vgl. am Beispiel des „Innamoramento di Carlo Magno" Härtung [Anm. 7],

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entspräche, sondern weil über Karl den Großen das italientypische Problem fehlender Zentralgewalt thematisiert werden kann, indem er im Solidaritätskonflikt zwischen Wilhelmssippe (um Guillaume d'Orange) und Maganzersippe (um Doon de Mayence) gezeigt wird.9 Nach der Figurenkonstellation ist der Figurenwandel der Karlsfigur im Kontext des epischen Gattungssystems zu betrachten. So kann, um ein prominentes Beispiel zu geben, die im zunehmenden Erfolg der Artusepik begründete Aufwertung der Liebesthematik für das ältere Modell der Karlsepik unterschiedliche Folgen haben: Es kann zu einer Abwertung der Karlsepik kommen, welche sich als Parodie karlsepischer Muster bemerkbar macht, indem Karl der Große in einer artusepischen Welt desorientiert erscheint (wie im „Aquilon de Bavière"). Es ist aber ebenso möglich, daß ein Eindringen der Liebesthematik in die Karlsepik erfolgt und dort einen Austausch der Handlungsziele bedingt bis hin zu der Konsequenz, daß Karl der Große selbst als liebestoller Alter präsentiert wird, der zur Staatsführung unfähig ist (wie im „Innamoramento di Carlo Magno"). Als drittes großes Arbeitsfeld neben der Figurenkonstellation und dem epischen Zyklensystem ist schließlich der schwer zu erfassende Bereich der Rekonstruktion historischer Textbedeutung und des Ideologiewandels zu nennen, welcher für den generellen Figurenwandel ebenso wie speziell für die Karlsfigur nicht außer Betracht bleiben darf. Entscheidend scheint hier die Tatsache zu sein, daß die italienischen Epen Vasallitätsprobleme in Abhängigkeit von regionalen oder nationalen Präferenzen thematisieren, genauer gesagt, daß es im Unterschied zu den französischen Epen nicht allein um einen Konflikt zwischen Zentralgewalt und Vasallen geht, sondern daß die rivalisierenden Instanzen durchgängig national oder lokal markiert werden, wobei von dieser Zuordnung ihre Wertung abhängt, so daß ein italienischer oder lombardischer Protagonist praktisch immer positiv erscheint, auch wenn es sich um einen Empörer handelt. In Texten, wo Karl der Große gleich eingangs .italienisch' konnotiert wird, ist für den weiteren Textverlauf meist ein überwiegend positives Karlsbild zu erwarten. Durch diese .nationale Aneignung' kommt es gegenüber den französischen Epen zu proitalienischen Neukonstellationen, denen die Darstellung der Karlsfigur untergeordnet wird: Beispielsweise ist es möglich, daß ein adaptierter .italienischer' Karl der Große zum Retter eines von Verrätern usurpierten Papsttums stilisiert wird (wie im „Karleto"). Es ist aber ebenso möglich, daß im Zeichen italienischer Selbstbestimmung einem als Negativgestalt stilisierten ,französischen' Karl eine christliche Allianz zwischen dem italienischen Rebellen Rinaldo und dem Papst gegenübergestellt wird („Rinaldo da Monte Albano"). Für die Karlsepik ist folglich

9

Hilfreich für die Analyse solcher epischen Figurenkonstellationen sind weiterhin die von Propp und Brémond entwickelte Morphologie des Erzählens und das von Greimas stammende Aktantenmodell, welche allerdings flexibel und textnah eingesetzt werden müssen, wie dies etwa Pasqualino für die italienischen Epen vorgeführt hat; vgl. Antonio Pasqualino: Per un'analisi morfologica della letteratura cavalleresca: ,1 Reali di Francia'. In: Uomo e Cultura 3 (1970), S. 76-194.

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überraschend früh ein italienisches oder regionales (z. B. norditalienisches) .Nationalbewußtsein' zu konstatieren, welches freilich noch dominant über das Römische Reich, über die Konzeption der translatio imperii sowie nicht selten über die Abgrenzung zu ,den' Franken und ,den' Alemannen definiert wird. Diese scheinbar moderne nationale Orientierung erscheint typisch für die italienischen Epen; es muß aber betont werden, daß vielfach regional relevante Oppositionen, z. B. zwischen Franken und Langobarden („Prise de Pampelune") oder inneritalienische Oppositionen, z. B. zwischen Papst und Karlsvasallen, das Geschehen der Epen und damit die jeweilige Karlsfigur bestimmen. In allen drei der vorgenannten Bereiche, der Figurenkonstellation, der Epenkonstellation, der Textbedeutung, erweist sich die aristotelische Überlegung als zutreffend, wonach nicht der Charakter (die Karlsfigur), sondern die organisierte Handlungsstruktur (mithin die Konstellation, in welcher die Karlsfigur steht) für die Bedeutungsherstellung vorrangig ist. 1.3 Spezifika der italienischen Epik und ihre Folgen für die Karlsfigur Karl der Große wird in unterschiedlichen Gattungen der frühen italienischen Literatur zum Thema, in erster Linie jedoch in der auf dem Gebiet des heutigen Italien entstehenden Epik in französischer, italienischer und frankovenetischer Sprache. Die folgende Darstellung wird daher drei Hauptcharakteristika der italienischen Karlsepik in den Vordergrund stellen, denn alle drei Faktoren haben Rückwirkungen auf die Art und Weise, wie Karl der Große literarisch dargestellt wurde: Zum ersten unterscheidet sich Italien von anderen Ländern, wie schon angedeutet, durch eine erstaunlich frühe Rezeption der „Chanson de Roland". Zum zweiten wird in Italien mit dem Frankovenetischen über zwei Jahrhunderte lang eine eigene Literatursprache für die karlsepischen Texte verwendet, welche die außergewöhnliche Bedeutung Karls des Großen in der Literatur Norditaliens erst ermöglicht hat (s. u.). Zum dritten ist insbesondere im Vergleich zu Frankreich zu betonen, daß eine für Italien typische Tendenz zur fiktionalen Vervollständigung vorhandener Lücken zwischen den überlieferten Stoffen und zur Kompilation großer Zyklen eine vollständig neuartige karolingische Epenwelt begründet, in deren Zentrum Karl der Große steht. Zwei große Zyklen, die unten behandelt werden, zeigen dies in besonderem Maße: Mit der „Geste Francor" (14. Jahrhundert) erhält Karl der Große eine fiktive Biographie, welche eigens auf die identifikatorischen Bedürfnisse des italienischen Publikums abgestellt ist. Bei Andrea da Barberino (15. Jahrhundert), dessen heilsgeschichtliche Neukonzeption epischer Weltgeschichte Karl den Großen in die dynastische Tradition der Kaiser von Byzanz und Rom einrückt, wird Karl der Große zum Zentrum einer dynastischen Reorganisation der Epenstoffe. Entscheidende Auswirkung auf die Gestaltung der Karlsfigur im jeweiligen konkreten Epos hat die Konstellation der Epenzyklen im Zeitraum seiner Textentstehung. In Italien sind vier epische Modelle gleichzeitig verfügbar, die im Ein-

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zeltext sehr unterschiedlich relationiert werden können. Im folgenden werden diese vier Stoffkreise der Karlsepik, Artusepik, Empörerepik und des Antikenzyklus kurz als Epenzyklen bezeichnet. Um vorerst in großen Linien die Folgen der jeweilige Zyklendominanz anzudeuten: In Texten der reinen ,Karlsepik' erscheint Karl der Große als idealer Repräsentant des christlichen Kampfes gegen die Heiden, welcher gemeinsam mit Roland Italien und Frankreich vereint. Karl der Große erhält dort aufgrund seiner vorausgesetzten heilsgeschichtlichen Teilidentität mit Gott alle Merkmale der Würde und Weisheit attribuiert. Die lang andauernde Autorität des karlsepischen Modells zeigt sich daran, daß selbst nach der Durchsetzung des mit der Karlsepik konkurrierenden und dann in Italien zeitweilig dominanten Typus des ,Empörerepos', welches einem nunmehr moralisch defizitären Zentralherrscher Karl einen italienischen Vasallen als rebellischen Helden gegenüberstellt, die zeitweilige Rückkehr zum Muster orthodox heilsgeschichtlicher Karlsepik mit ihrem uneingeschränkt positiven Karlsbild noch immer möglich ist (so in der „Chevalerie Ogier"). Als zunehmend problematischer Herrscher erscheint Karl der Große jedoch zuerst in Texten einer dominanten , Artusepik', in denen die christliche Kampfmotivation der Karlsepik beständig durch die artusepische Liebesthematik unterlaufen wird. Außerhalb seiner karlsepischen Welt greift Karls Durchsetzungskraft nicht mehr, weil seine ,artusepisch infizierten' Paladine, anstatt Heiden zu bekämpfen, orientalische Liebschaften verfolgen (so im „Aquilon de Bavière"). Als schwacher Zentralherrscher erscheint Karl dann vor allem in denjenigen Epen, die das Muster des Empörerzyklus dominant setzen. Dort begehren meist norditalienische Vasallen gegen eine ungerechte und gegen das Feudalrecht verstoßende karolingische Herrschaft auf. Nicht selten liegt im Empörerepos eine Figurenkonstellation vor, bei welcher ein italienischer Empörer gegen Karl den Großen die Sache der Kirche vertritt. Der Rebell kann dann auf päpstliche Truppen zurückgreifen oder eilt selbst dem Papst zu Hilfe. Signifikant für die ,reinen' Empörerepen ist es, daß die üblichen Attribute des ehrwürdigen Karl unproblematisch auf den Rebellen übergehen. Der Rebell erscheint als legitimer Landesherrscher und integerer Vorkämpfer der Christen gegen die Heiden, während Karl der Große alle Züge eines impulsiv-hysterischen Tyrannen erhält und als ebenso machtloser wie ungerechter Zentralherrscher dargestellt wird (so im „Rinaldo da Monte Albano"). Als vierte Möglichkeit kommt es in Italien dazu, daß die Karlsepik durch Kombination mit Grundcharakteristika des Antikenzyklus erneuert wird, indem ein aus den Epen mit antiker Thematik stammendes genealogisch-dynastisches Prinzip der Herrschaftsbegründung in karlsepische Kompilationen übernommen wird. Über diese Rekombination von Karlsepik und Antikenzyklus kann der Franke Karl der Große als legitimer Nachfolger des byzantischen Kaisers erwiesen und somit besser in eine italienzentrische Weltsicht integriert werden (wie in den „Reali di Francia"). Antik ist folglich bei Autoren wie Andrea da Barberino nicht das äußere Gewand der Karlshelden, sondern diese werden in eine dynastische Welt integriert, die in der Antike beginnt. Insgesamt eröffnet die Rekombination der vier Epenzyklen der italieni-

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sehen Epik immer neue Möglichkeiten zu einer Aneignung Karls des Großen. Karlsdarstellung und Epenzyklen wären demnach als Funktionszusammenhang zu interpretieren und im Hinblick auf spezifisch italienische Umdeutungen karolingischer Epik zu untersuchen, welche sich in Italien mit der Gestalt Karls des Großen verbinden ließen. Demzufolge wird die variable Karlsfigur der italienischen Epen erst vor dem Horizont wechselnder Rekombinationen der vier Epenzyklen verständlich, indem das Einzelepos durch eine jeweils neue Akzentuierung der Zyklen vor dem Horizont aller verfugbaren und dem Publikum bekannten epischen Möglichkeiten Bedeutung erzeugt. Meist ergibt eine sorgfaltige Analyse der im konkreten Text realisierten epischen Konstellation Aufschluß über die Frage, mit welcher Zielrichtung Karl der Große in dem betreffenden Epos in positiver oder negativer Weise dargestellt wird und warum ihm bestimmte Antagonisten (Rebell, Papst usw.) gegenübergestellt werden, denn in Italien stehen Texte, die einen Epenzyklus .orthodox' durchführen, neben anderen Texten, die zwei oder mehr Zyklen verbinden, indem sie diese parodistisch gegeneinander ausspielen oder in sonst neuartiger Weise verknüpfen.

2. Karl der Große in der frühen italienischen und frankovenetischen Epik 2.1 „Chanson de Roland" (V4 und V7) Es überrascht immer wieder, daß die Überlieferung der „Chanson de Roland" in so hohem Maße auf italienischen Manuskripten basiert. Drei Handschriften sind von herausragender Bedeutung. Die Handschrift V7 (Biblioteca Marciana, Venedig) ist eine Fassung der „Chanson de Roland", die um 1180 in korrektem Altfranzösisch in Venedig hergestellt wurde und später zum Bestand der berühmten Epenbibliothek des Adelshauses Gonzaga (Mantua) gehörte (8880 Verse). Diese Fassung muß jünger als die Oxforder sein, weil sie bereits gereimte, nicht mehr assonierende Laissen aufweist. Die Handschrift V4 (Biblioteca Marciana, Venedig) enthält eine Fassung der „Chanson de Roland" in 6012 Versen aus dem 13. Jahrhundert, die der Oxforder Fassung nahesteht, aber einige zusätzliche Passagen bietet, darunter eine Belagerung Narbonnes durch Karl den Großen, die in der Oxforder „Chanson de Roland" nicht enthalten ist. Die gleiche Handschrift enthält außerdem eine altfranzösische Fassung der „Chanson d'Aspremont", welche als Archetypus der unzähligen italienischen Redaktionen des Aspramontestoffes gelten kann, der die antiheidnischen Kampfhandlungen Karls des Großen in Süditalien thematisiert. In dieser Fassung ist mit Formen wie França dolce (vgl. afrz. dulce France, süßes Frankreich), cont (vgl. afrz. quent, Graf) eine frühe Italianisierung des Sprachstandes bereits evident. Als dritte italienische Handschrift ist schließlich das .Manuscrit de Châteauroux' (C) mit 8330 Versen zu nennen, das am Übergang zum 13. Jahrhundert in Norditalien in korrektem Alt-

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französisch hergestellt wurde und auf einen mit V7 gemeinsamen Archetyp zurückgeht. Es wird heute in Frankreich aufbewahrt. Die italienischen Fassungen der „Chanson de Roland" unterscheiden sich hinsichtlich ihres Karlsbildes noch nicht wesentlich von der Oxforder Fassung. Für die „Chanson de Roland" hat Wendt die unhinterfragte Heiligkeit des Frankenherrschers herausgearbeitet, dessen Rolle in das christliche Heilsgeschehen eingebettet und über die Teilidentität der Figur Karls des Großen zu Christus gestaltet wird.10 Wo der Herrscher bisweilen schwach erscheinen mag, läßt sich dies mit Wendt aus der religiösen Teilidentität Karls zu Christus zurückführen, der „ebenfalls um das ihm bevorstehende Schicksal weiß, es aber als Willen des Vaters auf sich nimmt."11 Wenn andere Forscher schon im Oxforder Rolandslied erste Züge einer .echten Karlsdekadenz' sehen wollen, handelt es sich vermutlich doch eher um eine Rückprojektion der Karlsfigur aus der Empörerepik in die „Chanson de Roland". Dabei ist zu betonen, daß der Konflikt zwischen Vasallen, welcher später zum Hauptthema der empörerepischen Texte werden sollte, in der Oxforder „Chanson de Roland" mit dem Konflikt zwischen Roland und Ganelon in der Tat bereits angelegt ist; doch kann Karl in der „Chanson de Roland" noch nicht herrscherliche Ungerechtigkeit verkörpern, weil sich sein Vasall Roland gegenüber Ganelon nicht schuldhaft verhält. Es liegt anders als später in der Empörerepik keine Provokation, sondern ein Mißverständnis Ganelons vor, weil Roland seinem Stiefvater nur eine gute Gelegenheit zur ritterlichen Bewährung überlassen wollte. Zutreffend ist, daß in der „Chanson de Roland" Roland als tragischer Held im Vordergrund steht, den Karl als hintergründiger Handlungsträger überlebt. Fehlerhaft, weil wie alle Menschen mit der christlichen Ursünde behaftet und wie Roland anfallig für superbia, sind in der Oxforder „Chanson de Roland" wohl alle christlichen Helden. Doch diese Phänomene machen wohl doch noch keine ,Karlsdekadenz' in den französischen oder italienischen Fassungen der „Chanson de Roland" aus, wie sie dann insbesondere für die italienische Empörerepik tatsächlich zu verzeichnen ist. Das Karlsbild von V4 weicht von demjenigen des Oxforder „Roland" nicht maßgeblich ab. Karl der Große wird mit Namensformen belegt, die eine große 10

Grundlegend für das Verständnis der „Chanson de Roland" ist Michael Wendt: Karl der Große. In: ders. : Der Oxforder Roland: Heilsgeschehen und Teilidentität im 12. Jahrhundert. München 1970, S. 139-178. Vgl. ferner Andreas Bomba: Chansons de geste und französisches Nationalbewußtsein im Mittelalter. Sprachliche Analysen der Epen des Wilhelmszyklus. Stuttgart 1987 (Text und Kontext 5). Mit der Entwicklung der Karlsfigur befassen sich die folgenden Beiträge, in denen die ursprüngliche Annahme einer unilinearen Karlsdekadenz eine zunehmende Problematisierung erfahrt: Karl-Heinz Bender: Les métamorphoses de la royauté de Charlemagne dans les premières épopées franco-italiennes. In: Cultura Neolatina 21 (1961), S. 164-174; Karl-Heinz Bender: König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de Geste des XII. Jahrhunderts. Heidelberg 1967 (Studia Romanica 13). Für flexiblere Beschreibungsmodelle plädiert Peter Wunderli: Speculatio Carolina. Variationen des Karlsbilds in der altfranzösischen Epik. In: Vox Romanica 55 (1996), S. 38-87; vgl. auch den Beitrag von Wunderli in diesem Band, S. 17-37.

11

Wendt [Anm. 10], S. 271.

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Vertrautheit zum Ausdruck bringen: Ciarlo, Carlo, Caries, Karion.12 Karl erscheint wie im Oxforder „Roland" als zweihundertjähriger Christenherrscher, dessen weißer Bart die Weisheit des Alters symbolisiert und dessen Attribute als Christus- und Gottesparallele zu lesen sind: Li cont Rollant el n 'apella Carlon: - Doné-me gaça e mantençé honon, Comofes a Gaino, quand Ii donés Ii baston Por lo messaço del roi Marsilion. Li emperer si tene Ii cevo imbrom, Tira sa barba, si blancha como flor. No po muer che ses ocles non plor. (V4, 695-701 ) (Graf Roland sprach daraufhin zu Karl dem Großen/ „Reiche mir den Handschuh und halte mir die Ehre,/ so wie du es mit Ganelon getan hast, als du ihm den Stock gabst,/ wegen der Nachricht von Heidenkönig Marsilius."/ Der Kaiser hielt sein Haupt gebeugt,/ zog an seinem Bart, der weiß war wie eine Blume./ Er kann nicht verhindern, daß seine Tränen fließen.)

Als italienischer Orlando wird Roland zu ,dem' Protagonisten der italienischen Epen avancieren. Bereits italientypisch stark betont wird Rolands große Bedeutung für Karl: Dist Ii païn: - Molt me pos meravillé. Carlo Ii rei est çanu e meslé: Men estent, doxent ans oit passé. Portant tere à son cors demené, Tanti culpi à presso e de lança et de spe, Doncha no è l récréant oimà del josté? -Noe, - ço dist Gaino - tant cum viverà son ne.

(V4, 561-567)

(Da sagt der Heide [Marsilius]: „Sehr muß ich mich wundern./ Karl der König ist alt und grau:/ Nach allem, was ich weiß, ist er mehr als zweihundert Jahre alt./ So viele Länder hat er durchmessen./ So viele Schläge von Lanze und Schwert hat er abgewehrt./ Wird er denn nie zu kämpfen aufhören?" /„Nein", sagt Ganelon, „nicht solange sein Neffe [Roland] noch lebt.)

Der von Bender vorgenommene Vergleich zwischen Oxford (O) und Marciana V7 zeigt, daß in V7 die christliche Grundtendenz der „Chanson de Roland" erhalten bleibt oder sogar noch verstärkt wird. An die Stelle der im Oxforder „Roland" noch dominant feudalrechtlichen Fragestellung, ob Ganelons Verrat rechtlich begründet sei, tritt in V7 die Judasparallele mit der Frage, ob Geld an Ganelon gezahlt worden sei.13 Die italienischen Texte sind demnach hinsichtlich ihrer heilsgeschichtlichen Interpretation und ihrer Karlsfigur anfangs nicht .dekadenter' als ihre französischen Vorlagen, vielmehr zeichnen sie sich sogar durch eine 12

Zitiert im folgenden nach der Ausgabe: Il Testo assonanzato franco-italiano della .Chanson de Roland': cod. Marciano fr. IV (= 225). Edizione interpretativa e glossario a cura di Carlo Beretta. Pavia 1995 (Testi 2). Zu den Namensformen vgl. dort den Eintrag .Carlo' im Namensglossar, S. 661.

13

Vgl. Bender, Métamorphoses [Anm. 12], S. 161-167 (Oxford 3775-78, 3769ff. und V7, cccc, 10-11; ccci, 4-6).

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noch stärkere Akzentuierung der christlich-religiösen Aspekte des Rolandsliedgeschehens aus. Insbesondere die italienische Version der „Chevalerie Ogier" paßt sich in das Erklärungsmodell einer ,Karlsdekadenz' nicht ein, weil sie die Vasallitätskonflikte zwischen Karl und Ogier aus der französischen Vorlage nicht übernimmt.14 Problematisch erscheint die Folgerung, dies sei darin begründet, daß es in Italien keine Vasallitätskonflikte gegeben habe, weshalb Karl der Große weiterhin unangetastet als oberster Glaubensherrscher dargestellt werden könne, denn diese Beobachtung ist für spätere italienische Epen (s. u.) nicht zutreffend.15 In der italienischen „Chevalerie Ogier" scheint vielmehr eine in religiöser Orthodoxie motivierte, italienspezifische Rückkehr zum älteren Modell orthodoxer Karlsepik der „Chanson de Roland" vorzuliegen, welches in der französischen Epik um diese Zeit oft schon als abgelöst gelten kann. Der italienische Epiker interpretiert den Stoff noch stark religiös in Parallele zur christlichen Heilsgeschichte. So kommt das Wunder der unmittelbaren göttlichen Traumvision in den Handschriften von Venedig nach Karl dem Großen auch weniger bedeutenden Figuren wie Aimeri (V. 4189^193) und Aude (V. 4810-4839) zu. In den wenig späteren „Enfances Ogier", einem Teil der „Geste Francor",16 dagegen weiß Karl der Große selbst mit dem Engel seiner Traumvision nichts mehr anzufangen: A le sant angle elo responde aré: „Di mo, ami, como e tu ça entré, Quando le uso è eluso e seré? E tu fantasma o spirito ençanté, Qe mon polser m'avez contrarié? " (9615-9619) (Dem heiligen Engel hat er [Karl] folgendes geantwortet:/ „Sag' mir, mein Freund, wie bist du hier hineingelangt,/ wo doch der Eingang versperrt und verriegelt ist?/ Bist du ein Wahnbild oder ein verzauberter Geist,/ daß du es wagst, meinen Schlaf zu stören?")

Dort wird eine ironische Distanz zu den Traumvisionen der „Chanson de Roland" geschaffen, welche Karl im Oxforder „Roland" noch spontan christlich auszulegen wußte. 2.2 Frankovenetische Karlsepik (14. Jahrhundert) Die zweite Etappe der Karlsepik Italiens wird dominiert durch die Entwicklung einer eigenen Sprache für karlsepische Texte. Das Frankovenetische17 ist eine 14

Bender, König [Anm. 10], S. 198.

15

Vgl. die hierzu gegenläufige Deutung bei Bender, König [Anm. 10], S. 169. Die Epen aus der „Geste Francor" werden im folgenden zitiert nach der Ausgabe: La .Geste Francor' di Venezia. Edizione integrale del Codice XIII del fondo francese della Marciana, con introduzione, note, glossario, indice dei nomi, a cura di Aldo Rosellini. Brescia 1986 (Pubblicazioni del Centro di Linguistica dell'Università Cattolica 6).

16

17

Zur frankovenetischen Sprache und Literatur vgl. Cesare Segre: La letteratura franco-veneta. In: Storia della letteratura italiana. A cura di Enrico Malato. Vol. I: Dalle origini a Dante. Roma 1995, S. 631-648; Francesco Zambón: La ,materia di Francia' nella letteratura franco-

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reine Literatursprache, die nur für Dichtung Anwendung gefunden hat, mithin keiner normalsprachlichen Verständigung diente. Der wichtigste Beleg für die frankovenetische Vortragspraxis der Karlsepik ist die Beschreibung einer Straßenszene durch den Paduaner Lovato de' Lovati, welche auf das Jahr 1287 oder 1288 datiert wird:18 [...] Karoleas acies et Gallica gesta boanem cantorem auspicio. Pendei plebecula circum auribus arrectis; illam suus allicit Orpheus. Ausculto tacitus: Francorum dedita linguae carmina barbarico passim deformat hiatu, tramite nulla suo, nulli innitentia penso ad libitum volvens. Vulgo tamen ille placebat. ([...] da erblicke ich einen Sänger, der mit lauter Stimme/ die Truppen Karls des Großen und die Heldentaten der Franzosen besingt./ Um ihn herum steht das Volk mit gespitzten Ohren. Ihr Orpheus/ bezaubert sie. Schweigend höre ich zu: Er verdirbt hier und dort, indem er/ mit barbarischem Klang den Mund öffnet, den Gesang, welcher ursprünglich der Sprache/ der Franzosen anvertraut war. Diesen entwickelt er ganz nach eigenem Geschmack,/ ohne jede Ordnung und beugt ihn ohne Sorgfalt. Dem Volk aber gefiel dieser Gesang.)

Anwendung findet das Frankovenetische in erster Linie für den mündlichen Vortrag der Epen, wobei die frankovenetische Epik dominant Karlsepik ist. Es wurden im Frankovenetischen jedoch auch Artustexte verfaßt, so der „Meliandus" (13. Jahrhundert) des Ependichters Rustichello da Pisa, welcher dann während der gemeinsamen Genueser Gefangenschaft nach dem Diktat des Marco Polo dessen Reisebericht in altfranzösischer Sprache aufschrieb („Divisament dou monde", 1298). Auch vom Vorläufer des schon erwähnten „Novellino", den „Conti dei antichi cavalieri", existiert eine frankovenetische Fassung. Der Autor eines der in der literarischen Koiné des Frankovenetischen geschriebenen Epen, Raffaele da Verona, leitet sein Prosaromanzo „Aquilon de Bavière" (1379-1407) paradoxerweise zunächst im toskanischen Italienisch, dem Vorbild des heutigen Standarditalienischen, ein, bevor er ins Frankovenetische wechselt. Raffaele begründet seine Sprachwahl der frankovenetischen Prosa damit, daß das Frankovenetische vom lateinisch gebildeten Publikum und von den Dialektsprechern gleichermaßen verstanden werden könne. Raffaele hat noch keinen eigenen Ausdruck für das Frankovenetische, welches er daher generell als lingua francesca (etwa: Sprache französischen Ursprungs) bezeichnet:19

18

19

veneta. In: Sulle orme di Orlando. Leggende e luoghi carolingi in Italia. Padova 1987, S. 5364.; Testi, cotesti e contesti del franco-italiano. Atti del primo simposio franco-italiano (Bad Homburg, 13-16 aprile 1987), a cura di Günter Holtus, Henning Krauss, Peter Wunderli. Tübingen 1989. C. Foligno: Epistole inedite di Lovato de' Lovati e d'altri a lui. In: Studi medievali 2 (1906), S. 49, hier zitiert nach Segre [Anm. 17], S. 634. Raffaele da Verona: Aquilon de Bavière, roman Franco-italien en prose (1379-1407). 2 Bde., hg. von Peter Wunderli. Tübingen 1982 (Beihefte zur ZFrPh 188/189), hier Bd. 1, S. 5; zitiert nach Villoresi [Anm. 1], S. 60.

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Stefan Härtung I lasero le rime qui da canto por che in prosa voglio comenzare, che per mie rime non me darei vanto, seguir l'istoria tanto gientiliescha; però comenzerò in lingua francesca. (Ich werde die Reime hier beiseite lassen,/ weil ich in Prosa beginnen möchte,/ zumal meine Reime nicht lobenswert genug sind,/ um eine solche anmutige Historia darzustellen./ Aus eben dem Grund beginne ich in einer Sprache französischen Ursprungs.)

Für die Karlsepik erscheint Raffaele nur ein französischer Sprachklang angemessen, noch besser wären französische Reime, die er jedoch nicht ausreichend gut beherrsche. Raffaeles Begründung liefert den entscheidenden Schlüssel zur kommunikativen Funktion und Entstehung des Frankovenetischen: Das gebildete Publikum Norditaliens verstand das Altfranzösische, es versteht folglich auch das Frankovenetische, weil es Latein kann und seit langem mit der altfranzösischen Epik vertraut ist, wie der Beginn der norditalienischen Textüberlieferung mit V4 und V7 anzeigt (s. o.). Das ungebildete norditalienische Publikum dagegen spricht das Venetische und versteht das zentralitalienische Toskanische kaum, wogegen ihm aber das Französische aufgrund der Nähe zum Piemont - und um so mehr ein mit Venetisch versetztes Französisch wie das Frankovenetische hervorragend verständlich ist. Erst später und in dem Maße, wie das Toskanische durch Dante, Petrarca und Boccaccio, die tre corone (drei Kronen) der italienischen Literatur, ebenfalls zur Literatursprache aufsteigt, wird es von den beiden Hauptgruppen, aus denen sich das norditalienische Publikum der Karlsepik zusammensetzt, so gut verstanden wie das Altfranzösische und das Frankovenetische. Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch - und d. h. bis über einen Zeitraum von mehr als zweihundert Jahren, vom 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts - fungieren Frankovenetisch und Altfranzösisch für Norditalien als die beiden dominanten, weil publikumsübergreifenden Literatursprachen. Es ist folglich die von Raffaele da Verona in der Einleitung des „Aquilon de Bavière" thematisierte diastratische Koinéfunktion der frankovenetischen Epensprache, welche ihre Existenz so lange sicherte, bis das Toskanische auch in Norditalien als Literatursprache akzeptiert werden konnte. Umgekehrt gilt, daß das Frankovenetische funktionslos wird und entfallt, sobald das Toskanische seine Aufgaben erfüllen kann. Sein Ende zeigt die Entstehung einer von allen verstandenen italienischen Literatursprache an. Dieser Ablösungsvorgang läßt sich auch literarhistorisch formulieren, denn die frankovenetische Karlsepik Norditaliens wurde, wie im folgenden noch deutlich werden wird, durch eine südlich des Appenins entstehende jüngere Karlsepik toskanischer Sprache eine Zeit lang begleitet. Inwiefern das Frankovenetische und der skizzierte sprachliche Sachverhalt für die Geschichte der Karlsfigur von großer Relevanz sind, zeigt sich an einer allgemein akzeptierten Typologie der frankovenetischen Karlsepik. Die frankovenetische Karlsepik läßt sich unterteilen in drei Gruppen: 1. Nachschriften französischer Originaltexte mit bereits partiellen Italianismen und Stofferweiterungen („Aliscans", „Aspremont", „Ansei's", „Chanson de Roland" usw.); 2. Neubearbeitungen

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französischer Stoffe („Geste Francor", „Bovo laurenziano", „Bovo udinese"); 3. Italienische Neuschöpfimgen („Entrée d'Espagne", „Prise de Pampelune", „Aquilón de Bavière", „Huon d'Auvergne", „Hector", „Pharsale", „Attila").20 Zunehmend emanzipiert sich die frankovenetische Epik von ihren altfranzösischen Vorbildern sprachlich und thematisch, um eine eigene karolingische Epenweit zu schaffen. 2.2.1 „Geste Francor" (Marciana XIII) Die Handschrift Marciana XIII enthält die erste und gleich außerordentlich groß angelegte frankovenetische Epenkompilation. Diese vereint sechs Epen („Beuve de Hanstone"; „Berta de Ii grant pié"; „Karleto"; „Berte, Milun e Rolandin"; „Milun e Rolandin"; „Ogier Ii Danois"; „Macaire").21 Von Anfang an betont die Forschung den ,Privatcharakter' der Handlungen der „Geste Francor", deren Titel in deutscher Sprache in etwa mit ,Die Heldentaten des französischen Herrscherhauses' wiederzugeben wäre. In der „Geste Francor" wird die im Kontext der „Chanson de Roland" noch dominierende und die Gemeinschaft aller Christen und Karlspaladine umfassende religiöse Kampfmotivierung aufgegeben. An ihre Stelle tritt die romanhaft-fiktive Geschichte der persönlichen Genealogie und Verwandtschaftsbindungen der karlsepischen Titelhelden Berta, Milone, Pippin, Karl und Roland. Dargestellte Konflikte betreffen kaum noch den gemeinsamen Kampf aller Christen gegen die Heiden, an dessen Stelle zunehmend innerchristliche, meist vasallitische oder familiär-dynastische Auseinandersetzungen treten. Folglich ist auch der Handlungscharakter kein heroischer, sondern ein romanesknovellistischer. Vor allem die Verwandtschaftsbeziehungen bestimmen die dargestellten Schicksalswechsel. Diese werden motiviert durch Personenvertauschungen und spätere Wiedererkennung der unterschobenen falschen oder verlorenen echten Blutsverwandten. In welchem Ausmaß Karl der Große im Mittelpunkt der „Geste Francor" steht, ergibt sich daraus, daß die Zyklenbildung wesentlich auf Karls weitgehend phantastischer privater Lebensgeschichte beruht: Die „Geste Francor" berichtet mit „Berta de Ii grant pié" von der Heirat der Mutter Karls, der Ungarnprinzessin Berta, mit König Pipin, und wie diese beiden nach vielen romanesken Peripetien, die durch einen Mordversuch und die Unterschiebung einer falschen Prinzessin anstelle Bertas entstehen, sich in einer klassischen Anagnorisis wiedererkennen. Die beiden Liebenden, so erzählen schon die französischen Vorlagen, zeugen im Wald Karl den Großen, woraufhin Berta von Pipin im Triumphzug nach Paris gefuhrt wird. Der Zyklus der „Geste Francor" fahrt fort mit dem Bericht von Karls Jugend in der „Chanson de Karleto" und gipfelt in zwei

20

21

Henning Kraus: Epica feudale e pubblico borghese. Per la storia poetica di Carlomagno in Italia. Padova 1980 (Ydioma tripharium 6), S. 2. Versangaben zu den einzelnen Epen aus der „Geste Francor" folgen der Ausgabe: La ,Geste Francor' di Venezia [Anm. 16]. Zur „Geste Francor" vgl. die Monographie von Kraus [Anm. 20],

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Epen, die Karls Alter zum Thema haben, „Ogier le Danois" und „Macaire". In jeder Hinsicht ungewohnt ist auch das Karlsbild selbst in diesen frankovenetischen Epen. Im „Karleto" werden Italien und Papsttum durch den jungen Karl den Großen von Usurpatoren befreit. Hauptgegner der Karlshelden ist die Sippe um den Erzverräter Ganelon, der die Judasrolle in der „Chanson de Roland" innehatte. Ein zu dieser Mainzersippe (,Maganza', dt. Mainz) gehörender Papst ruft ein Konzil ein, um ein Mitglied der verräterischen Ganelonfamilie zum Kaiser wählen zu lassen (V. 2275ff.). Der junge Karl zieht daraufhin nach Rom, setzt den .falschen' Maganzer-Papst ab, um stattdessen einen seiner eigenen Anhänger einzusetzen. Ein Papsttum und Kaisertum gleichermaßen bedrohender Vasallenkonflikt verdrängt somit die Thematik des christlichen Kampfes gegen außerterritoriale heidnische Feinde. Da die Maganzer Deutschland anklingen lassen, geht man wohl nicht ganz falsch, dem „Karleto" als ideologisches Programm eine fränkisch-italienische Allianz gegen Machtansprüche imaginärer alemannischer Vasallen zu unterstellen. Problemkreise wie vasallitischer Verrat und drohendes Schisma werden mit dem „Karleto" innerhalb einer epischen Konstellation thematisierbar, welche als ,karlsepische Rettung' und Auflösung des empörerepischen Epenschemas interpretiert werden kann. Karl der Große wird zum Garanten karlsepischer Ordnung in einer von Empörern bedrohten italienisch-christlichen Weltordnung.22 Ist der junge Karl aufgrund seines Eingriffs in inneritalienische Angelegenheiten im „Karleto" ein unhinterfragt positiver Held, so zeigen sich in der am Schluß des Zyklus stehenden „Chanson de Macaire" erste Zeichen der ,Karlsdekadenz'. Während selbst in der parodistischen „Voyage de Charlemagne" byzantinischer und fränkischer Herrscher gleichrangig waren, gilt dies nicht mehr für den „Macaire". Zum ersten Mal vor dem „Aspremont", wo später Girart de Fraite die Souveränität Karls des Großen anzweifeln wird, zeigt der „Macaire" Karl zwar mit allen Zeichen des christlichen Souveräns (V. 543, V. 1484), doch widerspricht die Gestaltung seines kriegerischen Konfliktes mit dem byzantischen Kaiser dieser Zuweisung (V. 1907ff). Im „Macaire" sind nicht die Franken oder italienisch-päpstliche Truppen, sondern die Griechen kampfüberlegen. Ein griechischer Hirte namens Varocher kämpft dort bedeutend besser als Roland und Olivier (V. 2670-2672). Am Ende ist es nicht der byzantinische Kaiser, sondern Karl der Große, der aus Kampfesschwäche den Frieden anbieten muß (V. 2670ff., V. 3218). Es bliebe zu untersuchen, ob der „Macaire" grundsätzlich als parodistisches Ausspielen des Antikenzyklus gegen die Karlsepik zu deuten wäre, woraus sich die von den anderen Epen abweichende Unterlegenheit der Karlshelden gegenüber den ,Griechen' erklären ließe. Wenn die wesentlich späteren „Reali di Francia" ebenfalls Antikenzyklus und Karlsepik kombinieren, so geschieht dies jedenfalls exakt entgegengesetzt, indem dort ein italienisch' kodierter Karl mittels einer aufwendigen genealogischen Rückführung auf das byzantische Herrscherhaus die Weihen byzantisch-römischer translatio imperii zugesprochen erhält (s. u.). 22

Bender, Metamorphoses [Anm. 11], S. 171.

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2.2.2 „Entrée d'Espagne" und „Prise de Pampelune" Die „Entrée d'Espagne" (um 1320/40) erweitert die „Chanson de Roland" um ihre - von dem unbekannten Paduaner Autor erfundene - Vorgeschichte jener set anz tuz pleins („Chanson de Roland", V. 2) vor dem Tod Rolands in Roncesvalles. Die „Entrée d'Espagne" beruht folglich schlicht auf der Amplifizierung eines Eingangsverses der „Chanson de Roland" zu einem neuen Epenstoff. Diese sieben Jahre werden ausgehend von „Pseudo-Turpin"-Passagen und einer verlorenen „La Prise de Nobles" Rekonstruiert' bzw. phantasiereich ausgeführt. Der erste Handlungsabschnitt der „Entrée d'Espagne" berichtet den Feldzug Karls des Großen in Spanien bis zur Eroberung von Nobles. Im zweiten Teil kommt es zu einem hitzigen Wortgefecht zwischen Roland und Karl, in dessen Folge Roland in das Heilige Land zieht, wo der frankische Recke freilich nicht als Heidenkämpfer aktiv ist, sondern dort zahlreiche artusepische ,aventiuren' übersteht: Er verliebt sich in die Tochter des persischen Sultans, kämpft mit Zwergen usw. Terminologisch hat sich für diese Art orientalischen Exkurses aus der karlsepischen Kernhandlung der Begriff,Orientepisode' eingebürgert. Auf die Prophezeiung eines Weisen, wonach er nur noch sieben Jahre zu leben habe, entscheidet sich Roland dann jedoch gegen die ihm von Karl angebotene Reichskrone und wappnet sich schließlich zum Heidenkampf. Mithin kehrt die „Entrée d'Espagne" zwar am Textende wieder in die Orthodoxie der Karlsepik zurück, hat aber durch die Orientepisode dem .problematischen' Eindringen von Artusepik und Liebesthematik in die Karlsepik gewissermaßen ,Tür und Tor geöffnet'. Die „Entrée d'Espagne" verknüpft die frankovenetische Karlstradition mit einer ,neuen' artusepischen Liebesthematik, indem sie den karolingischen Stoffbereich mit der ersten Orientepisode der italienischen Epik verbindet. Entscheidend ist, daß die Orientreise aus einem Vasallenkonflikt entsteht, bei dem Karl der Große seinen Vasallen Roland beleidigt hatte. Ab der „Entrée d'Espagne" wird ein Amor unterworfener Roland zum Protagonisten italienischer Epik und der treueste Paladin erscheint nun immer häufiger als Antagonist Karls.23 In der „Entrée d'Espagne" selbst werden die artusepischen Handlungsmöglichkeiten vorerst nur als Episode in Betracht gezogen, letztlich dominant bleibt immer noch der karlsepische Handlungsauftrag des Kampfes gegen die Heiden. Überhaupt läßt sich feststellen, daß in der Wertehierarchie der späteren Epen, insbesondere wenn in ihnen, wie noch in Ariosts „Orlando Furioso", das Artusepos mit seinem Liebeswerben die Handlungsmotivation bestimmt, die karlsepische Pflicht zur Heidenabwehr letztlich noch immer als - wenngleich von den 23

Vgl. dazu Daniela Delcorno Branca: II romanzo cavalleresco medievale. Turin 1974, S. 16: „Hier setzt nun ganz entschieden jener Wandel der Rolandsfigur ein, welcher alle nachfolgenden italienischen Epen bestimmen sollte: Der reine Heidenkämpfer und Glaubensmärtyrer öffnet sich ritterlich-höfischen Charakterzügen, wobei die Orientepisode zwischen Riesen, magischem Zauber und verliebten sarazenischen Prinzessinnen (wie z. B. die Dionesfigur der ,Entree d'Espagne') zum Paradigma, zu einer obligatorischen Etappe für nunmehr alle karlsepischen Haupthelden avanciert." Übersetzung: S. H.

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Figuren nicht mehr adäquat realisierte - Norm bestehen bleibt. Die beiden Hauptbesonderheiten der „Entrée d'Espagne" bestehen in einer Umwertung der Rolle Karls des Großen: Gegenüber dem etablierten karlsepischen Modell werden Reichsherrschaft und Heidenkampf überraschend in Opposition gebracht als zwei alternative Möglichkeiten, zwischen denen sich Roland entscheiden muß. Dies ist wohl nur so zu verstehen, daß in solchen, zunehmend dem empörerepischen Modell verhafteten Epen wie der „Entrée d'Espagne" nicht mehr die Zentralgewalt (mithin Karl der Große), sondern der Vasall (mithin Roland) als Garant des christlichen Kampfes erscheinen kann. In starker Umdeutung des Rolandsliedstoffes wird Orlando als der eigentliche Heidenkämpfer präsentiert, während Karl der Große als ungerechter Lehnsherr erscheint. Als Autor der „Prise de Pampelune" identifiziert wurde Nicolò da Verona, von dem auch eine „Passion Christi" stammt, in welcher er andere von ihm geschriebene „Werke in französischer Sprache" erwähnt, sowie die von Lukian inspirierte „Pharsale" überliefert ist, welche der Dichter 1343 dem Estefursten Nicolò I. widmete. In der monotonen Erzählung der „Prise de Pampelune" ist eine norditalienisch-padanisch orientierte regionale Ideologiebildung auffallig. Die „Prise de Pampelune" läßt sich beschreiben als handlungstechnische Fortsetzung der „Entrée d'Espagne", in welcher die Langobarden das islamische Pamplona erobern. Siegreicher Protagonist ist folglich kein Franke, sondern ein norditalienischer Langobardenkönig. König Desiderio erhält als Belohnung für die Überwindung der Heiden von Karl dem Großen einen Wunsch gewährt. Zum Erstaunen Karls wünscht sich Desiderio von Karl nichts Größeres als nur die Freiheit und Unabhängigkeit der Langobarden. Namo muß dies Karl dem Großen erklären: Andere Ländereien könnten Desiderio nicht interessieren, da er das schönste Land der Welt bereits besitze. Die „Prise de Pampelune" besagt folglich, daß die Norditaliener als gute Vasallen und gute Christen von extraterritorialen Zentralherrschern, wie sie hier durch die Karlsgestalt symbolisiert werden, Unabhängigkeit verlangen dürfen. 2.2.3 Von der „Guerra d'Attila" zum „Aquilon de Bavière" Die „Guerra d'Attila" (1358-1368) stammt von dem Bologneser Notar Giovanni da Casola und ist ein monumentales Epos von 37.000 Versen, welches - wie später Ariosts Renaissanceepos - eine enkomiastische Absicht gegenüber dem Estehaus verfolgt. Aufgrund der Historizität des Attilastoffes kann der Autor sich in der Einleitung gegenüber der von ihm abgelehnten Lügenhaftigkeit der erfundenen Tristan- und Artusstoffe auf die historische Verbürgtheit und den heilsgeschichtlichen Wahrheitsanspruch der Karlsepen berufen: Er schreibe une ystoire verables (eine wahre Historie, V. 37). Es steht allerdings zu vermuten, daß der gebildete Autor sich damit gleichzeitig gegen die zuletzt dominierenden phantastischen' Tendenzen der Karlsepik selbst stellt zugunsten einer Rückkehr zu historischen Stoffen.

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Der „Aquilon de Bavière" (1379-1407) von Raffaele da Verona gilt als Epenparodie, weil er Haupthelden der Karlsepik in artusepische Handlungskontexte versetzt und sie diese ungewohnte epische Situation selbst kommentieren läßt. Raffaele stattet Haupthelden der Karlsepik wie Orlando und Olivieri plötzlich mit allerbesten Kenntnissen des artusepischen Zyklus aus. So beklagt sich Roland in diesem Text über die artustypische Wirksamkeit schwarzer Magie oder Olivier fühlt sich lebhaft an das Gralsabenteuer erinnert.24 Das metaliterarische Figurenwissen der karlsepischen Haupthelden ist paradox, denn die Trennung der beiden Zyklen basiert sonst üblicherweise auf gerade denjenigen unwahrscheinlichen Handlungselementen, welche hier von Karlsfiguren der Artustradition zugerechnet werden. Trotz des parodistischen Kontrasts, welcher durch die Einsetzung von karlsepischen Handlungsträgern in einen fundierenden artusepischen Handlungskontext entsteht, scheint der „Aquilon de Bavière" jedoch am Ende zu einer integrativen Ebene zu tendieren, welche den beiden Stoffzyklen seit der Weiterentwicklung der Artusepen zur Gralshandlung gemeinsam ist: Roland wird als Erbe des Gralshelden Galaad präsentiert. Die beiden letztgenannten Texte repräsentieren das Ende des frankovenetischen Epos. Bei aller literarischen Bedeutung, die ihnen zukommt, läßt ihre Überlieferungssituation auf eine nur „begrenzten Verbreitung"25 schließen, denn die „Guerra d'Attila" ist nur in zwei, der „Aquilon de Bavière" nur in einer Handschrift erhalten. Die nachfolgend zu präsentierenden Texte dagegen sind nicht mehr im Frankovenetischen verfaßt, sondern in einer - mehr oder weniger reinen - toskanischen Epensprache. 2.3 Karolingische Zyklenbildung (14. und 15. Jahrhundert) 2.3.1 Vom „Fioravante" zu Andrea da Barberino Der von den Autoren der frankovenetischen Epik unternommene Versuch, die karolingischen Epenstoffe in frankovenetischer Sprache einer Literarisierung zuzuführen, konnte offenkundig erst nach einem Sprachenwechsel zum Erfolg fuhren. Die weitere Epengeschichte des 14. und 15. Jahrhunderts kann daher durch drei Haupttendenzen charakterisiert werden: Erstens kommt es zur endgültigen sprachlichen Italianisierung der ursprünglich französischen Karlsepik. Zweitens dominiert weiterhin die Tendenz zu jeweils unterschiedlich ausfallenden Kombinationen der Karlsepik mit Mustern der Artusepik, welche sehr unterschiedliche Karlsbilder zur Folge haben. Drittens kommt es lange nach der „Geste Francor" zum Versuch einer Gesamtintegration aller karlsepischen Einzelstoffe unter das Dach einer Zyklenbildung. Dabei ist für die Autoren nicht mehr der Wunsch nach Zyklenbildung als solcher, sondern der Anspruch auf historische Wahrheit oder genauer genommen auf historische Wahrheitsherstellung 24

Vgl. hierzu auch Villoresi [Anm. 1], S. 52.

25

Ebd., S. 60 („limitata circolazione").

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entscheidend: Es werden karlsepische Welten erfunden, die aufgrund ihres kritisch-diskutierenden Quellenzugriffs und ihrer Syntheseleistung Anspruch auf historische Wahrheit erheben, wobei dem heutigen Leser deutlich sein wird, daß auch hier nur vorhandenes fiktives Epenmaterial ein weiteres Mal neu geordnet wird, ohne daß es zu einer Verwendung tatsächlicher Geschichtsquellen über Karl den Großen käme. Die Wiederentdeckung Karls des Großen als historischer Gestalt beginnt in Italien erst mit dem 15. Jahrhundert und vollzieht sich außerhalb der hier genannten mittelalterlichen Epenzyklen, nämlich entweder in der authentischen Historiographie oder in Wiederaufnahme der antiken Epik (s. u.).26 Die Tendenz zur synthetisierenden Kompilation möglichst des gesamten vorhandenen Materials ist dagegen eine schon in der „Geste Francor" vorhandene Tendenz der italienischen Karlsepik seit ihrem Beginn. Während die literarische Konkurrenzfähigkeit der Artusepik in ihrer thematischen Attraktivität gesehen werden kann, die durch Liebesthematik und Abenteuercharakter bedingt ist, ließ sich die Karlsepik wohl am besten über ihren heilsgeschichtlichen Wahrheitsanspruch und ihren Beitrag zur regionalen oder feudalen Identitätsbildung sowie zur dynastisch-genealogischen Herrschaftslegitimation verteidigen. Die Tatsache, daß der „Fioravante" von Andrea da Barberino ausgiebig für sein immenses Kompilationswerk der „Reali di Francia" genutzt wurde, gilt allgemein als Bestätigung für eine Datierung in das 14. Jahrhundert. Der „Fioravante" ist ein anonymer Prosaroman in toskanischer Sprache, überliefert in zwei Mischhandschriften des 15. Jahrhunderts. Zu Frühdatierungen war es deshalb gekommen, weil der „Fioravante" sprachlich stark archaisierend ist und thematisch unmittelbar auf die altfranzösische „Chanson de Floovent" zurückgreift. Die Annahme eines unbelegten frankovenetischen Zwischenstadiums für diesen Text ist eine Folge des archaisierenden Textcharakters. Der „Fioravante" berichtet von den dynastischen Vorgängern des karolingischen Herrscherhauses. Insofern können die „Reali di Francia" als Realisation eines zuerst im „Fioravante" etablierten Prinzips der dynastischen Zyklenbildung aufgefaßt werden. Der „Fioravante" berichtet die Geschichte aller .karlsrelevanten' Herrschaftsdynastien beginnend mit dem Neffen Konstantins, Fiovo, bis zu den Kindern Fioravantes mit Drusolina. Entscheidend für die weitere Entwicklung karlsepischer Stoffpräsentation in Italien ist der „Fioravante", weil in ihm die Maganzersippe um Ganelon als Verkörperung des Bösen zur Gefahr für die karolingische Reichsdynastie stilisiert wird. Mit anderen Worten besteht spätestens ab dem „Fioravante" für die italienische Karlsepik nunmehr die Möglichkeit, Konflikte mit der Zentralgewalt bzw. mit Karl dem Großen auf Konflikte zwischen Vasallengruppen innerhalb des christlichen Lagers zurückzuführen. Dies eröffnet wiederum die Möglichkeit, durch Verschiebung der Hauptverantwortung auf die betrügerische Maganzersippe entweder die Karlsfigur zu entlasten oder Karl den Großen in seiner Schwäche 26

Unter ,Antikenzyklus' wird hier mittelalterliche Epik verstanden, die antike Helden als Handlungsträger hat oder antike Stoffe wie den Trojastoff aufnimmt, unter .antike Epik' das Epos der Antike.

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und Abhängigkeit gegenüber dem Haus der Maganzer vorzuführen. Dabei kann die Maganzersippe, ohne welche die italienische Karlsepik nun nicht mehr auskommen wird, bisweilen mit Deutschland identifiziert werden. In jedem Fall läßt die neugewonnene Konstellation die Formulierung unterschiedlichster Konfliktkonstellationen zwischen guten Vasallen, schlechten Vasallen und Zentralgewalt zu, so daß von nun an viele Epen Karl den Großen im Konflikt zwischen dem Haus der Maganzesi (mit dem Hauptvertreter Ganelon, it. Gano) und dem Haus der Chiaramonte (mit dem Hauptvertreter Roland, it. Orlando) zeigen wird. 2.3.2

„Li fatti di Spagna", „Buovo d'Antona", „Aspramonte" und „Ugone d'Alvernia"

Einen zukunftsweisenden Versuch, die in Italien verfugbaren Elemente der Karlsepik zu synthetisieren, stellen „Li fatti di Spagna" dar, welche die fiktive Vorhandlung der „Entrée d'Espagne" (in „Li fatti", Kap. 1-38) mit derjenigen der „Chanson de Roland" (in „Li fatti", Kap. 38-56) in einen Text integriert. Das Epos „Li fatti di Spagna" ist deshalb auch unter dem irreführenden Titel „Viaggio di Carlo Magno" ediert worden. Seine Fusionsleistung lebt aus dem Geist, beide Vorlagen würden gleichermaßen die historische Wahrheit über die Feldzüge Karls in Spanien berichten, als seien es historische Quellen. Wenn mit „Li fatti di Spagna" die Leistung des Verfassers der „Entrée d'Espagne" auf eine Ebene mit der „Chanson de Roland" gestellt wird, hat dies keine literarischen Gründe, sondern gilt der ,heilsgeschichtlichen Wahrheit' der Karlsgeschichte, die nicht von Vertextungsverfahren abhängig gemacht wird: Der Karlsepik wird dieser Wahrheitswert zugesprochen, weil sie einen historischen Kern hat und vom Martyrium der Christen berichtet. In anderen, durchaus als Karlsepen zu bezeichnenden Texten wie den verschiedenen jüngeren Fassungen des italienischen ,3uovo" oder des Rolandsepos „Aspramonte" tritt die Figur Karls des Großen wieder in den Hintergrund. Im „Aspramonte", einer Neubearbeitung der altfranzösischen „Chanson d'Aspremont", welche vom Feldzug Karls gegen die Sarazenen in Italien berichtet, steht Rolands Gewinnung des Olifanten und seines Zauberschwertes Durlindana im Zentrum. Die unerhörte Popularität des Aspramontestoffes in dem geographischen Gebiet seiner fiktiven Handlung führte zu zahlreichen noch heute erhaltenen Ortsnamen in Kalabrien und Sizilien. Sind die italienischen Aspramontefassungen mithin Ausdruck der thematischen Ablösung Karls des Großen durch seinen zunehmend italianisierten Vasallen Orlando, so kommt es mit dem „Ugone d'Alvernia" zu einem erneuten Vordringen empörerepischer Muster, indem Ugone d'Alvernia, der treue Vasall, von Karl Martell ungerecht behandelt wird.

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2.3.3 Die „Reali di Francia" des Andrea da Barberino Die „Reali di Francia" und die anderen, überwiegend karlsepischen Werke des Andrea da Barberino (1370-1432) werden als entscheidende kompilatorische Leistung im Bereich der italienischen Karlsepik zum sprachlichen, stilistischen und rhetorischen Modell für alle nachfolgenden Versuche der Zyklenbildung. Von Andrea stammen die „Reali di Francia" (sechs Bücher), der „Aspramonte" (drei Bücher), die „Nerbonesi" (sieben Bücher), der „Guerrin Meschino" (acht Bücher), der „Ugone d'Alvernia" (vier Bücher) und der „Aiolfo del Barbicone" (ein Buch). Die Gesamtkonzeption des Andrea da Barberino ist ebenso einfach wie ambitioniert, denn Andrea will die Geschichte der karolingischen Dynastie seit der Zeit Konstantins bis zu den letzten Karolingern nachzeichnen und verfolgt zugleich eine klare Tendenz zur artusepischen Romanzierung der sonst üblicherweise auf ihrer historischen Wahrhaftigkeit insistierenden Gestenstoffe. Es kommt daher auch bei Andrea mitunter dazu, daß sich der karlsepische Held vom tapferen miles christianus der Karlsepik zum liebesverwirrten ,Chevalier errant' des Artusepos wandelt.27 Gegenüber dem christlichen Kampf gegen die Heiden tritt die Familiengeschichte des Karlsgeschlechts mit unüberbotener Detailfülle in den Vordergrund, wobei Andrea in seinem Vollständigkeitsdrang auch die Erlebnisse unzähliger dynastisch verknüpfter Nebenfiguren berichtet. Von ebensolcher Ernsthaftigkeit getragen sind die zahlreichen Passagen, in denen der Erzähler dem Leser begründet, für welche Variante der oft konträren Überlieferung er sich entschieden habe: Die Anwendung des Kriteriums historischer Verbürgtheit auf die fiktiven karlsepischen StoffVarianten der italienischen Epik ist keineswegs parodistisch gemeint. Vielmehr ist ein grundsätzlich anderes Wahrheitsverständnis zu Grunde zu legen, wonach schon die epische Überlieferung die Verbürgtheit des über Karl den Großen Berichteten garantiere. Andrea da Barberino ist ernsthaft darum bemüht, mit dieser aus neuzeitlicher Sicht nur als ,Historisierung des Fiktiven' zu bezeichnenden quellenvergleichenden Methode seinem Karlszyklus die Dignität des Historischen zu verleihen. Diesem Verlangen entspricht die Gestaltung der Karlsfigur in den „Reali di Francia". Fundierend ist zunächst die episch-fiktive Herleitung der karolingischen Herrschaft von Fioravantes Sohn Gisberto, dem fiktiven Stammvater Karls des Großen in dieser Kompilation. Es folgt die Thronerlangung durch Agnolo Gostantino, den Vater Pippins und somit Großvater Karls des Großen. Ebenso wie schon in der „Geste Francor" wird die fiktive Vorgeschichte von Pippin und Berta, der epischen Mutter Karls, berichtet. Der junge Mainetto, wie Karl der Große bei Andrea da Barberino vor seiner Krönung heißt (also nicht mehr Karleto), muß nach der Tötung seines Vaters Pipin durch zwei von den Maganzern beeinflußte Bastarde nach Zaragoza flüchten, wo er die Tochter des Königs Galeran heiratet. Erst Jahre später gelingt es Mainetto, den fränkischen Thron zu befreien. An dieser Stelle nimmt Andrea da Barberino aus der „Geste Francor" variierend und 27

Villoresi [Anm. 1], S. 71.

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ausschmückend eine nachträgliche Erklärung für die in der „Chanson de Roland" vorausgesetzte enge Bindung zwischen Karl und Roland romanhaft wieder auf: Milone d'Anglante, der Sohn Bernardos von Chiaramonte, schleicht verkleidet zu Berta, Karls Schwester (daher der Titel dieses Teilepos: „Berta e Milone"), und schwängert sie heimlich. Karl der Große läßt Berta und Milone einsperren. Daraufhin zeigt sich der aus der „Chanson de Roland" bekannte weise Karlsberater Namo in ungewohnt .karlskritischer' Funktion: Nachdem er Berta und Milone heimlich verheiratet, verhilft er ihnen auch noch zur Flucht. Auf der Flucht wird ihr Kind in Sutri in der Nähe von Rom geboren, hinter dessen italienischem Namen Orlandino unschwer Roland, der künftige Protagonist der „Chanson de Roland", erkennbar ist. Auf seiner Reise zur Krönung nach Rom lernt der noch junge Karl der Große seinen Neffen Roland folglich noch im Kindesalter als kleinen Orlandino kennen: In der „Chanson de Roland" ist Karl bekanntlich zweihundert Jahre alt. Als Karl erfahrt, daß es sich um den Sohn seiner Schwester handelt, begnadigt er Berta und Milone, und alle vier begeben sich glücklich nach Rom. Somit wird von den italienischen Epikern eine ,Überlieferungslücke' der „Chanson de Roland" genutzt, um Rolands Geburtsort den Franzosen zu entziehen und ihn in die Nähe des antiken Rom zu verlegen, welches durch die Nähe zum Papst für ein neues Christentum steht.28 Seinen Charakter als künftiger Karlsrebell der italienischen Epik manifestiert das Kind, indem es Karl dem Großen frecherweise auf den Kopf schlägt.29 Wie Ciarambino formuliert: „Der Respekt Rolands für Karl den Großen ist in den italienischen ,romanzi' deutlich gesunken."30 Mit Barberinos „Aspramonte" kommt es zu einer Verstärkung der sogenannten ,Karlsdekadenz' .31 In den Direktkämpfen ist Karl der Große den Heiden nicht selten unterlegen. Karl verliert, obwohl er in diesem Text noch jung ist, im Kampf gegen den Heidenkönig Almonte. Karls größte Schmach ist dann auch die spätere Überwindung Almontes durch Orlando. Erneut läßt sich feststellen, daß die Karlsdekadenz nicht unabhängig von der gesamten Figurenkonstellation eines Epos und insbesondere nicht von seinen Antagonisten betrachtet werden kann: Die relative Abwertung Karls des Großen ermöglicht die gewünschte Aufwertung Rolands; die ,Karlsdekadenz' ermöglicht eine italientypische Aneignung Rolands. In dem Maße wie Roland aufgewertet wird, eignet er sich dann später allerdings auch für Komik, während Karl der Große selbst im Ritterepos der Renaissance32 noch immer weit28

Vgl. dazu Ciarambino [Anm. 7], S. 146.

29

I Reali di Francia. A cura di Guiseppe Vandelli e Giovanni Gambarin. Bari 1947 (Scrittori d'Italia 193), S. 399. Ciarambino [Anm. 5], S. 137, Anm. 7 (Übers.: S. H.).

30 31

In Barberinos „Aspramonte" zeigten sich „primi segni della decadenza di Carlomagno, come sovrano e come cavaliere", Ciarambino [Anm. 5], S. 167.

32

Zum Renaissanceepos vgl.: Ritterepik der Renaissance: Akten des deutsch-italienischen Kolloquiums Berlin 30.03.-2.4.1987, hg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 1989 (Text und Kontext 6). Zu Ariost vgl. Klaus W. Hempfer: Diskrepante Lektüren: die Orlando-FuriosoRezeption im Cinquecento. Historische Rezeptionsforschung als Heuristik der Interpretation. Stuttgart 1987 (Text und Kontext 2).

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gehend seine althergebrachter Dignität aufweist und als Garant für das karlsepische Prinzip des Heidenkampfes steht, wie zu Beginn des „Orlando Furioso": [...] sotto i gran monti Pirenei con la gente di Francia e de Lamagna re Carlo era attendato alla campagna, per far al re Marsilio e al re Agramante battersi ancor del folle ardir la guancia, d'aver condotto, l'un, d'Africa quante genti erano atte a portar spada e lancia; l'altro, d'aver spinta la Spagna inante a destruzion del bel regno di Francia. ( I,V,6-I,VI,6) ([...] unter den großen Bergen der Pyrenäen/ mit den Truppen aus Frankreich und Deutschland/ hatte König Karl sein Zeltlager auf freiem Feld errichtet,/ um die Heidenkönige Marsilius und Agramante dazu zu bewegen,/ sich für ihr hochmütiges Bestreben durch Ohrfeigen selbst zu strafen,/ den einen, weil er aus Afrika soviel Männer, wie fähig waren Schwert und Lanze zu tragen, herbeigeführt hatte,/ den anderen dafür, daß er durch Spanien vorgedrungen war,/ um das schöne Frankreich zu zerstören.)

2.3.4. Die „Spagna in rima" (um 1450) Den Feldzug Karls des Großen in Spanien behandelten bereits die frankovenetischen Texte, denn dieser Stoff wurde, wie oben geschildert, in der „Entrée d'Espagne" (um 1300) und in der „Prise de Pampelune" so weit fortgesetzt, bis der Anfang der Rolandsliedhandlung erreicht war. Die Unvollständigkeit dieser beiden Epen führte zu der nicht belegbaren Annahme anderer frankovenetischer Texte, welche die Handlungslücken gefüllt hätten (s. o.). Diese Sachlage hatte ebenfalls zur Folge, daß die „Spagna in rima" von ihrem ersten Herausgeber auf die Mitte des 14. Jahrhunderts datiert und neben die „Entrée d'Espagne" und die „Prise de Pampelune" als der bedeutendste dieser drei Texte gestellt wurde.33 Erst Dionisotti gelang es, die „Spagna in rima" in der Epoche zwischen Andrea da Barberino und Pulci, also erst um 1450 statt 1350 zu situieren.34 Es existieren zwei Fassungen der „Spagna in rima", die ältere in 34 Gesängen in einer Florentiner Handschrift und die jüngere in 40 Gesängen von einem namentlich bekannten Sostegno da Zanobi aus Florenz (Druckfassung 1488). Daneben existieren spätere Fassungen wie die „Spagna magliabechiana" in gereimten Oktaven sowie die „Spagna" der Handschrift Laurenziano Palatino 101 in Prosa. Die „Spagna in rima" in ihren beiden Fassungen ist das bedeutendste Karlsepos am Ausgang des italienischen Mittelalters. Die „Spagna in rima" ist eine neuerliche bedeutende Syntheseleistung des Karl-Stoffes in der italienischen Epik, doch liegt diesmal weder eine Kompilation 33

La Spagna. Poema cavalleresco del secolo XIV. Edito e illustrato da Michele Catalano. 3 Bde. Bologna 1939 (Collezione di opere inedite orare 111-113). Nach dieser maßgeblichen Ausgabe wird nachfolgend zitiert.

34

Carlo Dionisotti: .Entrée d'Espagne',,Spagna',,Rotta di Roncisvalle'. In: Studi in onore di Angelo Monteverdi, hg. von Giuseppina Geradi Marcuzzo. Modena 1959, S. 207-241.

Karl der Große in der italienischen undfrankovenetischen

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vieler Epen noch ein Auffüllen von Lücken vor. Vielmehr kann die dreiteilige „Spagna in rima", und dies ist eine Homogenisierungsleistung mit großen Folgen für die Renaissanceepen (Pulcis „Morgante", Boiardos „Orlando Innamorato" und Ariosts „Orlando Furioso"), die Handlung der „Entrée d'Espagne" mit derjenigen der „Chanson de Roland" in einem Werk zusammenspannen. Im ersten und zweiten Teil kommt es nach Karls Spanienfeldzug mit den Eroberungen von Pamplona und Nobile und nach der Orientepisode zur Rückkehr Rolands nach Pamplona. Der dritte Teil folgt der „Chanson de Roland", deren Geschehen bei einem Umfang von rund 4000 Versen vollständig reproduziert werden kann. Der Rolandsliedstoff wurde wesentlich in der Fassung der „Spagna in rima" an die Renaissance vermittelt. Das Karlsbild der „Spagna in rima" entspricht trotz einiger romanesker Ausschmückungen aufgrund des geschilderten Kompilationscharakters dem der „Chanson de Roland" und der „Entrée d'Espagne" insofern, als Karl als nicht zu problematisierender Garant des Christentums erscheint. Die italientypische Rollenverteilung der Protagonisten und somit die Neubestimmung der Karlsrolle wird deutlich, wenn Karl sich in der Notwendigkeit sieht, vermittelt über Roland den Papst über seinen geplanten Feldzug zu informieren: [...] apellò Carlo Orlando dolcemente dicendo: -I' vo che vadi, Sir perfetto, alla città di Roma tostamente, ali 'Apostolico, nel suo cospetto, e di' che a lui molto mi racomando [...]. Digli eh 'io voglio fare assembramento per volere in 1spagna cavalcare; [...].

(I, 1, 17,3-18,2)

([...] Karl rief Roland mit großer Sanftheit zu sich/ und sagte: „Ich möchte, daß Du, mein vollkommener Ritter,/ bald nach Rom ziehst,/ zum Papst, vor sein Angesicht,/ und ihm sagst, daß ich mich sehr seiner Huld anempfehle [...]. Sag' ihm, daß ich Truppen sammeln möchte,/ um in Spanien einzuziehen [...]".)

Entsprechend groß ist die äußere Wirkung Karls auf heidnische Boten: Nie habe man einen solch stolzen König gesehen, ihn zu besiegen sei gewiß unmöglich (II, 4,3-6). Eine Besonderheit der „Spagna in rima" liegt in der starken Verwendung der Innenperspektive für die Charakterdarstellung Karls des Großen (I, 3, 10,1-8). Karl der Große leidet mit seinen Kämpfern mit und zeigt in diesem Text eine Erregung, die kein Zeichen von Unkontrolliertheit, sondern christlicher Überzeugung ist, denn die Heiden werden in der Rolandsliedtradition mit den Truppen des Teufels identifiziert.35

35

Vgl. neben Wendt [Anm. 10] zuerst die Aufsätze Noyer-Weidners zur Heidensymbolik in der „Chanson de Roland", zuletzt abgedruckt in: Alfred Noyer-Weidner: Umgang mit Texten. Bd. I: Vom Mittelalter zur Renaissance. Wiesbaden 1986 (Text und Kontext 3), dort auf S. 1-168.

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2.4 Transformationen des Epensystems (15. Jahrhundert) 2.4.1 Karl und die artusepische Gefährdung des christlichen Kampfauftrags Die schon erwähnte NichtVereinbarkeit von Karlsepos mit artusepischer Liebesthematik wird zu einem Grundproblem der späteren Epen, in welchen es zu einem bewußt komischen Ausspielen dieser beiden Zyklen kommt, indem der christliche Kampfauftrag aus der „Chanson de Roland" durch Liebeshandlungen zum Scheitern gebracht wird. Dieser Konflikt, der entscheidende Folgen für die Karlsfigur hat, wird in den späteren Epen durchaus thematisiert. In einer vielzitierten Passage des „Orlando Innamorato" benennt Boiardo die Gründe, warum der Karlshof sich angeblich nicht mit dem Artushof messen könne. Aus dem Zitat geht hervor, daß einerseits eine zunehmende Höfisierung stattgefunden hat, welche das Modell der Artusepik privilegiert, andererseits aber die christliche Norm weiterhin Gültigkeit besitzt. Boiardo spielt ironisch mit dem Sachverhalt, daß den Karlsepen aufgrund der .Historizität' ihrer Handlungen eigentlich eine höhere literarische Dignität zugeordnet wurde als den ,erfundenen' Artusepen, letztere aber wegen ihrer Liebesthematik beim Publikum beliebter waren: 36 Perché tenne ad Amor chiuse le porte E sol se dette alle battaglie sante, Non fo di quel valore e di quella estima Qual fo quell 'altra che io contava in prima.

(II, 18, 2, 5-8)

(Weil er die Türen für Amor verschlossen hielt/ und sich allein den heiligen Schlachten widmete/ war dieser Hof [der Karlshof] nicht von gleichem Wert und gleicher Wertschätzung/ wie jener andere Hof [der Artushof], von dem ich euch zuerst berichtet habe.)

In den Epen kommt es zu einem immer stärkeren Übergreifen der Liebesthematik in den Karlszyklus, wie es sich mit der seit der „Entrée d'Espagne" obligatorischen Orientreise Rolands und der Motivik der verliebten Sarazenin, welche den christlichen Ritter aus tödlicher Gefahr befreit, bereits andeutete. Diese Entwicklung zum Ausspielen der Artusthematik gegen die Karlsepik bestimmt insbesondere den Figurenantagonismus von Karl und Roland. Karl der Große kann die karlsepischen Anforderungen christlichen Kampfes gegen die Heiden nicht mehr aufrecht erhalten, wenn Roland als desertierter Vasall im Orient heidnischen Prinzessinnen nachstellt (wie z. B. im „Rinaldo da Monte Albano"). In anderen Fällen wird Karl der Große selbst von artusepischer Liebe ergriffen, und ein treuer Vasall oder ein Rebell versucht, mit oder ohne Erfolg, demgegenüber das Gebot des Kampfes gegen die Heiden durchzusetzen. So erscheint Karl der Große im „Innamoramento di Carlo Magno" (1481) als alter Mann, der erfolglos um eine junge Heidentochter wirbt.37 Diesem Privat36

Matteo Maria Boiardo: Orlando Innamorato. A cura di Luigi Garbato. 3 Bde. Milano 1970. Bd. 3, S. 245.

37

Im folgenden zitiert nach dem mir vorliegenden Microfilm der Inkunabel: Innamoramento di

Karl der Große in der italienischen und frankovenetischen Literatur

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interesse ordnet Karl alles unter. Es kommt zu einer Ersetzung des christlich-kollektiven Heidenkampfes durch eine individuelle artusepische Abenteuerfahrt, bei der Roland im Auftrag von Karls Privatinteressen in den Orient reist, um die Heidentochter nach Frankreich zu entführen (Gesänge I-V). Die ohnehin problematische Orientepisode Rolands erfährt eine drastische Umfunktionalisierung, indem der Kreuzzug völlig den Privatwünschen eines von seinen Gefühlen besessenen verliebten Alten (amor senex) untergeordnet wird, als welcher Karl der Große im „Innamoramento di Carlo Magno" grundsätzlich erscheint. Das Eindringen der artusepischen Liebesthematik fuhrt unweigerlich dazu, daß Karl der Große seine Herrscherfunktionen vergißt oder nicht mehr adäquat ausführen kann. Wie schon im orthodoxen Karlsepos nicht anders zu erwarten, führt Rolands Abwesenheit zur militärischen Ohnmacht Karls des Großen und zu seiner vollkommenen Erpreßbarkeit durch den rebellischen Vasallen Rinaldo. Stattdessen wird der Empörer am Ende zum Garanten des Kampfes gegen die Heiden, weil Karl nicht mehr in der Lage ist, diese Rolle zu erfüllen (Gesänge IV-V). Durch seine Liebe geht der alte König jeder herrscherlichen Vorbildhaftigkeit verlustig. Anders formuliert wird etwa in der Mitte des Textes das bereits artusepisch infizierte Modell der Karlsepik endgültig durch Muster der Empörerepik abgelöst: Verantwortlich für die Überlegenheit des Empörers ist das Eindringen artusepischer Liebesthematik in das Karlsepos, wo mit diesem Text selbst die Gestalt Karls des Großen gegen die ethischen Grundnormen und Gattungskonstituenten der Karlsepik verstößt. Im Proömium des „Innamoramento di Carlo Magno" (I, 13-24) wird das traditionelle Karlsbild der Karlsepik aufgerufen, um unmittelbar darauf zerstört zu werden. Die Forderung nach einer Trennung von Liebe und Herrschaft bleibt gleichwohl als theoretische Norm erhalten und wird vom komikerzeugenden Spiel mit den Epenzyklen nicht berührt. Daß Karl seinen Herrscherpflichten in diesem Text nicht gerecht wird, stellt folglich noch nicht die ethischen Normen der Karlsepik in Frage. Empörerepen wie „Rinaldo da Monte Albano" setzen solche Tendenzen zum Ausspielen konkurrierender Normwelten fort. Am Beispiel des „Innamoramento di Carlo Magno" zeigte sich abschließend nochmals, warum eine isolierte Betrachtung der Karlsgestalt, welche etwa nach der Faktizität seiner Liebe zu Sarazeninnen fragen würde, fehl am Platz sein muß. Offenkundig geht es nicht um eine ungebrochene Spiegelung einer konkret-faktischen Herrscherrealität, sondern einerseits um ein unterhaltsames Spiel mit Epenzyklen und deren Regeln, andererseits um eine Auflösung der Idealität der Karlsepik mehr als um eine Kritik an der historischen Gestalt Karls des Großen oder eines von ihr repräsentierten realen Herrschers. Vermittelt über eine jeweils unterschiedliche Karlsfigur werden in der italienischen Karlsepik des Mittelalters religiöse, feudalrechtliche und regionale oder nationale Grundprobleme mittelalterlicher Herrschaftsgestaltung thematisch.

Carlo Magno e dei suoi Paladini. [Venedig:] Giorgio Walch, 20. Juli 1481 (Morgan Library, N.Y.).

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Stefan Härtung

2.4.2 Ernste und komische Karlsliteratur der Mediceer Gänzlich anders präsentieren sich eine Reihe von Karlstexten, welche im gleichen Jahrhundert im Kontext des Medicihofes von Florenz entstehen. Obwohl sie bereits zur Literatur der Renaissance gezählt werden, seien sie abschließend knapp charakterisiert. Die „Vita Caroli Magni" von Donato Acciaiuoli (14291478) entsteht im Auftrag der Medici und wird Ludwig XI. von einer Florentiner Delegation anläßlich seiner Krönung in einer lateinischen Fassung überreicht. Das Geschichtswerk ordnet Karl dem Großen alle aus der Gattung des Fürstenspiegels bekannten Merkmale eines Idealherrschers zu und erweist ihn lobend als Retter der Stadt Florenz und eigentlichen Begründer der florentinischen Kultur. Ebenfalls in ernsthafter Absicht schreibt Ugolino Verino (1438-1516) seine „Carlias" (1465), ein monumentales lateinisches Epos in unzähligen Hexametern, welches u. a. den Taten Karls des Großen für Florenz gewidmet ist.38 Ungefähr zeitgleich zur Abfassung der „Vita Caroli Magni" entstehen die ersten Gesänge von Luigi Pulcis „Morgante", welches nach dem Willen von Lucrezia Tornabuoni, der Mutter von Lorenzo dei Medici, als Epos zum Lobpreis Karls des Großen konzipiert wurde („Morgante" XXVIII, 2). Die Ernsthaftigkeit dieser enkomiastischen Absicht darf freilich bezweifelt werden, weil es sich um ein groteskkomisches Epos handelt. Parodistisch ist bereits der Verweis auf lateinische .Autoritäten' für das angekündigte Karlsepos in der Erstausgabe (1481-82): Questo libro tracta di Carlo Magno, traducto di latine scripture antiche degne di auctoritä e messo in rima da Luigi de' Pulici [...]. (Dieses Buch handelt von Karl dem Großen, es ist übersetzt aus ehrwürdigen lateinischen Autoritäten und gereimt von Luigi Pulci).39 Luigi Pulci spielt hier möglicherweise mit einem Seitenhieb auf die „Carlias" an. Zweifellos wurde den Ritterepen der Renaissance ein größerer Nachruhm zuteil als den Versuchen der neulateinischen Karlshistoriographie.

38

Vgl. dazu den Beitrag von Christine Ratkowitsch in diesem Band, S. 1-16.

39

Villoresi [Anm. 1], S. 101.

Victor Millet

Potentiale und Probleme der Geschichten über Karl den Großen in den iberoromanischen Literaturen des Mittelalters

1.

Die „Crónica de la población de Ávila", eine kleine, um 1255 geschriebene, volkssprachliche Chronik, berichtet aus der Zeit um 1158 von einem einheimischen Ritter namens Qorraquín Sancho, der einmal nicht weit von der Stadt einen Trupp von etwa sechzig maurischen Reitern entdeckte, welche soeben zwanzig eingefangene Schäfer fesselten, um sie zu entführen, (^orraquin fiel überraschend über die Sarazenen her, und zwar so, als ob er an der Spitze einer Ritterschar stünde, tötete einen oder zwei Mauren und schlug - auch mit Hilfe der Schäfer die Fremden in die Flucht. Als man in Avila von diesem Abenteuer erfuhr, entstand bald folgendes Lied: Cantan de Roldán, cantan de Olivero, e non de Qorraquin Sancho, que fue buen cavallero. Cantan de Olivero, cantan de Roldán, e non de Qorraquin Sancho, que fue buen barragán.1 (Man singt über Roland, man singt über Olivier/ doch nicht über Qorraquin Sancho, der ein guter Ritter war./ Man singt über Olivier, man singt über Roland,/ doch nicht über Qorraquin Sancho, der ein guter Knappe war.)

Es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, daß der Chronist hier eine lokale mündliche Tradition übernommen hat. Zwar läßt sich nicht sagen, ob diese Strophe tatsächlich kurz nach dem Ereignis komponiert wurde oder erst später; jedenfalls war sie für den Autor der Chronik etwa ein Jahrhundert danach so bekannt, daß er sie mit der dazugehörigen Geschichte in sein Werk einbaute. Die Qorraquin Sancho-Strophe nimmt Bezug auf eine Erzähltradition über Roland und Olivier, die sicher mit Geschichten um die Niederlage des fränkischen Heeres bei Roncesvalles zu identifizieren ist. Daß solche Erzählungen in Spanien bereits seit langem im Umlauf waren, belegt die „Nota Emilianense".2 1

2

Text bei Francisco Rico: Çorraquin Sancho, Roldán y Oliveros: un cantar paralelístico castellano del siglo XII. In: Homenaje a la memoria de don Antonio Rodríguez-Moñino (1910-1970). Madrid 1975, S. 537-564. Ich folge seiner Hs.-Transkription. Vgl. Dámaso Alonso: La primitiva épica francesa a la luz de una Nota Emilianense. In: Revista de Filología Española 37 (1953), S. 1-94 (= Alonso: Obras completas. Bd. II. Madrid 1973, S. 225-319). Vgl. zu diesem literatur-und forschungsgeschichtlich äußerst wichtigen Text auch Martin de Riquer: Les chansons de geste françaises. Paris 1957, bes. S. 70-73 und 82f.; Ramón Menéndez Pidal: La Chanson de Roland y el neotradicionalismo

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Unter diesem Namen kennt man einen lateinischen Füllseleintrag in einer Handschrift aus dem Kloster San Millän de la Cogolla, der wahrscheinlich noch im 11. Jahrhundert, also vor dem Entstehen der „Chanson de Roland", geschrieben wurde. Er berichtet davon, daß im Jahr 778 Carlus nach Zaragoza kam. Damals so heißt es weiter - hatte er zwölf Neffen, jeder mit 3000 bewaffneten Kriegern, die ihm je einen Monat lang dienten, darunter Rodlane, Bertlane, Oggero spata curia, Ghigelmo alcorbitanas, Olibero et episcopo domini Torpini. Nachdem er einige Zeit lang die Stadt belagert habe, sei ihm empfohlen worden, reiche Geschenke (munera multa) anzunehmen, damit sein Heer nicht verhungere, sondern zurückkehren könne, was auch geschah. Zum Schutz seiner Leute habe der König Rodlane in die Nachhut gestellt, doch dieser sei, während das Heer den Paß von Cisera bei Rozaballes überquerte, von Sarazenen getötet worden. Die Forschung ist sich weitgehend einig, daß diese Notiz die Existenz mündlicher Erzähltraditionen in Spanien über die Schlacht bei Roncesvalles belegt. Die epischen Epitheta spata curta (Kurzschwert) und alcorbitanas (=al corb nes, Krummnase), sowie die Information über die zwölf Pairs weisen auf von den Annalen weit entfernte Sagentraditionen. Die Formen der Eigennamen Carlus oder Oggero sind bestimmt romanischen, nicht lateinischen Ursprungs; Rodlane deutet zudem auf eine frühe kastilische Variante. Wie ausgeprägt und wie einheitlich diese umlaufenden Erzählungen waren und inwieweit der Autor der „Nota" sich an sie gehalten hat, können wir nicht sagen. Daß er als Kleriker auch lateinisch-chronikalische Berichte gekannt hat, ist denkbar, aber nicht zwingend. Im Vergleich zur Rolandslied-Tradition fehlt in diesem Text vor allem der Stoffkomplex des Verräters; es wird keine Unterwerfung vorgetäuscht, sondern Karl nimmt reiche Geschenke entgegen und gibt die Belagerung auf, ne affamis periret exercitum (damit das Heer nicht verhungert). Das ist eine etwas befremdliche Erklärung, denn es sind in der Literatur wie in der Wirklichkeit normalerweise nicht die Belagerer, die vom Hunger bedroht sind, sondern die Belagerten. Entweder ist also hier etwas durch Kürzung unverständlich geworden, oder es wurde gezielt eingegriffen, um die Tradition zu verändern. Jedenfalls muß hervorgehoben werden, daß die Art, in der die Schlappe von Karls Spanienfeldzug dargestellt wird, in auffalliger Weise all jener beschönigenden oder vertuschenden Elemente entbehrt, die aus der lateinischen Chronistik (Einnahme Pamplonas, Sieg über die Wasconen, Mitnahme sarazenischer Geiseln) oder der französischen literarischen Tradition (Verrat) bekannt sind. Darauf wird in anderem Kontext noch zurückzukommen sein. (origenes de la épica românica). Madrid 1959, bes. S. 353-410. Dies sind zugleich klassische Untersuchungen über karolingische Stoffe in Spanien; dazu gehören ebenfalls Jules Horrent: La Chanson de Roland dans les littératures française et espagnole au moyen âge. Paris 1951, der allerdings die „Nota" noch nicht kennen konnte; sowie Jacques Horrent: L'histoire légendaire de Charlemagne en Espagne. In: Charlemagne et l'épopée romane. Actes du VIIe Congrès International de la Société Rencesvals. 2 Bde., hg. von Madelaine Tyssens, Claude Thiry. Paris 1978 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l'Université de Liège 225/226), Bd. 1, S. 125-156.

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Die Qorraquin-Strophe und die „Nota Emilianense" repräsentieren zwei entgegengesetzte, doch in Wechselwirkung stehende Modi der Tradierung der literarischen Karlsgeschichte im hochmittelalterlichen Spanien: lateinisch-gelehrte Notizen und volkssprachlicher, poetisch geformter Gesang koexistieren nicht nur, sondern werden in kaum mehr lösbarer gegenseitiger Abhängigkeit überliefert. Die volkssprachlichen mündlichen Traditionen werden dank des klerikalen Schrifttums bewahrt und dieses wiederum nährt sich neben den gelehrten Notizen auch aus den volkssprachlich umlaufenden Geschichten mit ihren unterschiedlichen Varianten. Ein lateinisches Gedicht über Roncesvalles zu postulieren, wie es H. Salvador Martinez tat,3 ist mangels konkreter Hinweise ein müßiges Unterfangen; aber auch wenn Alan Deyermond in seinen Katalog verlorener Literatur des kastilischen Mittelalters einen „cantar de Rodlän" aufnimmt,4 so ist das zweifellos eine verfälschende, letztlich auf die Theorien von Menendez Pidal zurückgehende Reduktion der Vielfalt und Polyphonie oraler und semi-oraler Traditionen.5 Cantan sagt die (^orraquin-Strophe wiederholt und verwendet dazu eine Plural-Form, die eindeutig zu erkennen gibt, daß es so viele cantares gegeben hat, wie Rezitationen der Geschichte. Doch neben das poetische geformte Singen über Helden tritt auch das über das konkrete Lied hinausgehende , Wissen' über die besungene Geschichte, das sich allein schon durch das Hören verschiedener Varianten ergibt, das aber auch durch dem Lied beigegebene Prosainformationen oder - gerade bei einem adeligen Publikum - durch die hörende oder lesende Rezeption gelehrter Notizen oder chronikalischer Exzerpte über denselben Stoff entstehen konnte. Wenn also Francisco Rico behauptet, die Qorraquin-Strophe belege die Verbreitung der Roncesvalles-Geschichte als Lied und nicht als Prosabericht oder als gelehrte Information,6 so verkennt er dabei, daß ihm gerade das Lied aus Avila widerspricht, denn es steht ja nicht allein (als solches wäre es unverständlich), sondern am Ende eines Prosaberichts, der es kontextualisiert. Die Qorraquin Sancho-Strophe zeigt außerdem, deutlicher noch als die „Nota", daß Roland der eigentliche Held der Geschichte von der Schlacht bei Roncesvalles ist, und daß man Karl nicht zu erwähnen brauchte, um die bei Roncesvalles ausgeübten Heldentaten in Erinnerung zu rufen. So kommt es in den Texten der Zeit mehrmals vor, daß auf die in der Pyrenäenschlucht gefallenen Helden angespielt wird, ohne den fränkischen Kaiser zu erwähnen. So zum Beispiel im „Poema de Almeria", dem in lateinischen Hexametern gedichteten Schlußteil einer von König Alfonso VII. veranlaßten Chronik aus der Zeit um 1148.7 Das fragmentarisch

3

4

5

6 7

Vgl. H. Salvador Martínez: El ,Poema de Almería' y la épica románica. Madrid 1975, Kap. VII, S. 267-344. Alan Deyermond: La literatura perdida de la Edad Media Castellana. Catálogo y Estudio. I: Épica y Romances. Salamanca 1995, S. 111-113. „Stimmengewirr" nennt es Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998. Rico [Anm. 1], S. 549f. „Chronica Adefonsi Imperatoris". In: Chronica hispana saeculi XII, hg. von Emma Falque,

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erhaltene poetische Schlußstück des Geschichtswerkes zählt zuerst die Truppen auf, die zur Eroberung Almerias (1147) marschieren; dabei kommt der Dichter auf den Enkel des historisch bezeugten, vor allem aber aus dem Sagenkreis um den Cid bekannten Alvar Fáftez zu sprechen; das Lob geht sofort vom Enkel auf den Großvater über: Tempore Roldani si tertius Aluarus esset Post Oliuerum, fateor sine crimine uerum, Sub iuga Francorum fuerat gens Agarenorum Nec socii cari iacuissent morte perempti. (228-231) (Wäre zu Rolands Zeiten, neben ihm selbst und Olivier,/ Alvar der dritte gewesen - das halte ich durchaus für richtig - / wären die Agarener unter fränkische Herrschaft geraten/ und die geliebten Kampfgefährten wären nicht gefallen.)

In der „Vida de San Millán de la Cogolla"8 von Gonzalo de Berceo, einer aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts stammenden, volkssprachlichen Vita des Heiligen, dem das Kloster gewidmet ist, aus dem auch die „Nota" stammt, wird anläßlich des Berichts einer Schlacht zwischen Heiden und Gläubigen vom christlichen König Remiro gesagt, qe no /' venzrién de esfuerzo Roldán ni[n] Olivero (daß ihn an Kampfbereitschaft weder Roland noch Olivier übertreffen würden, Str. 412). Im wenige Jahre später von einem unbekannten, ebenfalls klerikalen Autor gedichteten „Poema de Fernán González"9 kann der Held seine Krieger damit zum Kampf ermutigen, daß er jene nennt, die durch ihre Taten bekannt geworden sind, darunter Carlos e Valdovinos, Roldán e don Ojero, Terrin e Gualdabuey, Arnald e Olivero, Torpin e don Rinaldos, e el Gascón Angelero Estol e Salomón, otro su compañero. (Str. 358) (Karl und Baudouin, Roland und Ogier,/ Tierry und Gondelbeuf, Ernaud und Olivier,/ Turpin und Herr Reinaut, und der Gascogner Engelier,/ Estout und Salomon, einer seiner Gefährten.)

Schließlich gehört hierher noch das „Poema de Alfonso XI",10 eine in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts geschriebene, volkssprachliche und strophische Chro-

Juan Gil und Antonio Maya. Turnhout 1990 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaeualis 71), S. 109-267, das Schlußstück S. 249-267. Vgl. dazu Martínez [Anm. 3]; Francisco Rico: Del .Cantar del Cid' a la ,Eneida'. Tradiciones épicas en torno al,Poema de Almería'. In: Boletín de la Real Academia Española 65 (1985), S. 197-211. 8

La ,Vida de San Millán de la Cogolla' de Gonzalo de Berceo. Estudio y edición crítica, hg. von Brian Dutton. London 1967.

9

Poema de Fernán González, hg. von Juan Victorio. Madrid 1984 (Letras hispánicas 151). Jules Horrent [Anm. 2], S. 459, zeigt, daß der Dichter (den die Forschung für einen Mönch des Klosters Arlanza, bei Burgos, hält), bei folgender Aufzählung letztlich auf dem „PseudoTurpin" (s. u.) aufbaut.

10

Poema de Alfonso XI, hg. von Yo Ten Cate. Madrid 1956.

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nik, die ein Lob auf den Kampfesmut eines Ritters namens Gil de Albornoz mit der Bemerkung ziert: Non fué mejor cavallero el arzobispo don Torpín, nin el cortés Olivero nin el Roldan palagin. (Str. 1742) (Der Bischof Herr Turpin/ war kein besserer Ritter/ und auch nicht der höfische Olivier/ noch der Paladin Roland.)

Auffälligerweise ist allen diesen Zitaten, einschließlich der Qorraquin-Strophe, gemeinsam, daß die lobende Erinnerung an die Helden von Roncesvalles ihren Ruhm gleichzeitig ein wenig relativiert, indem ihnen mindestens gleich gute Kämpen an die Seite gestellt werden: £orraquín, Alvar Fáfiez, König Remiro oder Gil de Albornoz. Im „Poema de Almeria" werden Roland und Olivier sogar unter den Cid gestellt; denn wurde zunächst eine Gleichwertigkeit mit Alvar Fáñez suggeriert, wird gleich darauf festgestellt: Meo Cidi primus fuit Aluarus atque secundus (Mio Cid war der beste, Alvar jedoch der zweite, V. 238), und im übrigen sei ja der Cid ab hostibus haud superatur (nie von Feinden besiegt worden) - im Gegensatz zu den fränkischen Pairs. Die Heldensage von Roncesvalles war also in Spanien nicht nur präsent, sondern sogar eine wichtige Größe, an der man andere, spätere und vor allem kastilische Helden messen konnte. Allerdings ging es bei solchen Vergleichen offenbar nur um den heroischen Aspekt, also um die Größe der Helden, nicht um die dahinterstehende Geschichte. Das könnte erklären, warum Karl der Große meist nicht in ihnen erwähnt wird. Die Rolandsche, also eminent unpolitisch-heroische Perspektive auf die Roncesvalles-Geschichte hielt sich bis weit in die Frühe Neuzeit hinein und war sicherlich ein Schlüssel für ihren Erfolg, der sich vor allem in den zahlreichen Balladen (sogenannte ,romances') des 15. und 16. Jahrhunderts niederschlägt, aber auch in der Übernahme des Stoffes in andere Gattungen.11 Auffallend ist auch hier, daß Karl der Große immer nur Nebenrollen spielt, selbst wenn er als König, um dessen Hof sich die unterschiedlichsten Geschichten ranken, wiederum zentral ist. In den zwei Balladen, die die Schlacht von Roncesvalles behandeln, taucht der Kaiser ebenfalls nicht auf.12 11

12

Zur Einführung in die Gattung: Romancero, hg. von Paloma Díaz-Mas. Barcelona 1994 (Biblioteca clásica 8), mit weiterer Literatur. Vgl. Ramón Menéndez Pidal: Romancero hispánico (Hispano-portugués, americano y sefardí). Teoría e historia. 2 Bde. Madrid 1953; Samuel G. Armistead: El romancero y la épica carolingia. In: Actas del VIII Congreso Internacional de la Asociación Hispánica de Literatura Medieval. Santander 2000, S. 3-14. Zur Übernahme von Erzählstoffen über karolingische Helden in andere Gattungen vgl. z. B. die bibliographische Zusammenstellung für die Gaiferossage in Victor Millet: Épica germánica y tradiciones épicas hispánicas: Waltharius y Gaiferos. Madrid 1998 (Biblioteca Románica Hispánica 410), S. 122-124. Es handelt sich um „Ya comienzan los franceses" (auch bekannt als „Romance del rey Marsín", Díaz-Mas [Anm. 11], Nr. 45) und eine Kurzfassung davon: „Domingo era de Ramos"

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Ob nicht nur die Roncesvalles-Geschichte, sondern konkret auch die „Chanson de Roland" auf der Iberischen Halbinsel bekannt war, läßt sich nicht sicher sagen. Auffalligerweise stammen die beiden solidesten Hinweise hierfür nicht aus Kastilien, sondern aus Gebieten, deren literarische Traditionen seit jeher viel enger an die Provence und an Frankreich gebunden waren. Es handelt sich zum einen um das wohl in den 60er Jahren des 12. Jahrhunderts gedichtete ensenhamen des katalanischen Troubadours Guerau de Cabrera „Cabra juglar", das die Unkenntnis eines Spielmanns kritisiert, indem es eine lange Reihe von literarischen Figuren und Episoden von Geschichten aus der französischen und provenzalischen Literatur nennt, Romane wie Heldenepen, darunter auch Karl und den Roncesvalles-Stoff. 13 Pauc as apres, que non sabs jes de la gran jesta de Carlon, con eu, tras portz, per son esfortz intret en Espaigna a bandon; de Ronsasvals los colps mortals que fero l -XII- compaignon can foron mort e pres a tort, trait pel trachor Guanelon al amirat per gran pechat, et al bort rei Marselion. [...] E de Rollan sabs atretan coma d 'aiso que anc non fon.

(34-56)

(Du hast so wenig gelernt,/ daß du nichts weißt/ von den großen Taten Karls,/ darüber, wie er über die Pässe/ mit großer Mühe/ in Spanien eindrang/ oder von den tödlichen Hieben,/ die in Ronsasvals/ die 12 Gefährten ausführten,/ als sie getötet/ und hinterlistig angegriffen wurden,/ verraten durch den VerTäter Guanelon/ an den Emir/ - große Sünde - / und an den

13

(in: Romancero viejo, hg. von Juan Alcina. Barcelona 1987, Nr. 2). Die unedierte Vita des Hl. Ginés de la Xara (15. Jahrhundert, keine bekannten Parallelen; vgl. Acta Sanctorum Augusti. Bd. V. Paris 1865, S. 126-129) erklärt den Kult des Heiligen in einem Kloster in Caitagena wie folgt: Ginés ist der Sohn Kaiser Rolands von Frankreich und seiner Frau Oliva, den es nach Cartagena verschlägt, wo er als Eremit lebt; seine Brüder Roland und Olivier versuchen wiederholt, ihn nach Frankreich zurückzubringen; sie nehmen auch ihr berühmtes Horn mit. Vgl. John K. Walsh: French Epic Legends in Spanish Hagiography: The ,Vida de San Ginés' and the .Chanson de Roland'. In: Hispanic Review 50 (1982), S. 1-16. Text nach Riquer [Anm. 2], S. 332-354; vgl. François Pirot: Recherches sur les connaissances littéraires des troubadours occitans et catalans des Xlle et XHIe siècle. Les sirventesensenhamens de Guerau de Cabrera, Guiraut de Calanson et Bertrand de Paris. In: Memorias de la Real Academia de Buenas Letras de Barcelona 14 (1972), S. 355-367, S. 430-434 und S. 546-562.

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guten König Marselion./ [...]/ Und von Roland/ weißt du genausoviel/ wie von dem, was noch nicht geschehen ist.)

Gewiß hat Guerau manche seiner Stoffe auch oder nur aus mündlicher Tradition gekannt; darauf weisen z. B. seine Erwähnungen von Sagen hin, die in keinem Text überliefert sind (wie eine Gefangenschaft Karls in der sarazenischen Burg Montmélian, V. 115-117), oder die erst später verschriftlicht wurden (wie die Geschichte des Sachsen Guiteclin, die nur aus der erst vierzig Jahre späteren „Chanson des Saisnes" bekannt ist). Doch da er z. B. ebenfalls den „Erec" Chrétiens de Troyes erwähnt und auch sonst in schriftliterarischen Texten bezeugte Figuren und Motive dominieren, wird deutlich, daß literarische Werke mindestens gleichermaßen im Horizont dieses Dichters standen - darunter möglicherweise auch die „Chanson de Roland". Zum anderen wurde eine Rezeption der „Chanson de Roland" durch den portugiesischen Dichter und hohen Adeligen Afonso Lopez de Baian vermutet.14 In seiner um 1250 anzusetzenden ,cantiga d'escarnho' (Scheltlied) auf einen gewissen Don Meendo, in dem großspurig auftretende Ritter als rüde, lächerliche und nur notdürftig bewaffnete Bauern entlarvt werden, finden sich eine Reihe von Elementen wieder, die auf die Kenntnis einer Fassung der „Chanson de Roland" deuten könnten. Erstens wird das Gedicht in beiden Handschriften, die es überliefern, in der vorangehenden Rubrik ausdrücklich als gesta bezeichnet; des weiteren wurde das Lied in drei ungleich langen, laissenartigen Strophen mit unregelmäßiger Metrik und jeweils demselben Reim gedichtet; und zum dritten endet jede der drei Strophen mit einem deutlich abgesetzten Eoi, das wir nur aus der Oxforder „Chanson de Roland"-Handschrift kennen.15 Mit Sicherheit war die „Chanson de Roland" dem Dichter einer im 13. Jahrhundert geschriebenen kastilischen Fassung, dem „Roncesvalles", bekannt; doch die weite Verbreitung der Geschichte von der Schlacht bei Roncesvalles kontrastiert mit dem offenbar nur mageren Erfolg dieses Werkes. Von dem Epos sind nur hundert Verse überliefert, auf zwei losen, aber zueinander gehörenden Blättern, die in einem 1366 erstellten Einwohnerregister von Navarra im Archiv von Pamplona gefunden wurden.16 Die Schrift stammt aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts; doch über die Entstehungszeit des Gedichts gehen die Meinungen weit 14

15

16

Ich folge der Ausgabe: Cantigas d'escarnho e de mal dizer dos cancioneiros medievais galego-portugueses, hg. von Manuel Rodrigues Lapa. Coimbra 1965, Nr. 57, S. 96-99. Vgl. Jules Horrent: Un écho de la Chanson de Roland au Portugal: La geste de médisance de D. Afonso Lopes de Baiam. In: Revue des Langues Vivantes 14 (1948), S. 133-141 und 193-203; vgl. auch: Cantar de Roldán, hg. von Isabel de Riquer. Madrid 1999, S. 61-77. Vgl. die kommentierten Ausgaben von Ramón Menéndez Pidal: .Roncesvalles'. Un nuevo cantar de gesta español del siglo XIII. In: Revista de Filología Española 4 (1917), S. 105-204; sowie Jules Horrent: Roncesvalles. Étude sur le fragment de cantar de gesta conservé à 1'Archivo de Navarra (Pampelune). Paris 1951. Ich folge dem Text in: Chanson de Roland. Cantar de Roldán y el Roncesvalles navarro, hg. von Martín de Riquer. Barcelona 1983, S. 397-403; einfacher zugänglich ist er in: Épica medieval española, hg. von Carlos und Manuel Alvar. Madrid 1991, S. 163-170.

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auseinander: Menéndez Pidal setzt sie im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts an, Horrent dagegen will sie auf das Ende desselben Jahrhunderts hinaufrücken. Der Dialekt ist das Kastilische von Navarra. Der Text ist in unregelmäßigen, langen (meist vierzehnsilbigen), assonant reimenden Versen geschrieben, die sich aufgrund der Assonanz zu ungleich langen Laissen gruppieren lassen. Er beginnt mitten in der Klage Karls vor der Leiche eines Erzbischofs (wohl Turpin) und geht dann über zur Entdeckung der Leiche Oliviers und der Klage über ihn. Beide Male nimmt der Kaiser die offenbar abgetrennten Köpfe der Leichen in die Hand, läßt sie sorgsam waschen und spricht sie beim Klagen an, fragt sie nach seinem Neffen Roland.17 Dieser wird nun als nächster gefunden, und die Schmerzrede des Kaisers ist hier lang und gefühlvoll, durchsetzt mit persönlichen Erinnerungen und wiederholten Hinweisen auf sein hohes Alter; am Ende fällt Karl in Ohnmacht. Die Pause wird dazu genutzt, Aymon die Leiche seines Sohnes Rynalte (Renaut de Montauban) finden zu lassen und ihn zu beklagen. Als der Dichter dann wieder auf den Kaiser zurückkommen will, bricht das Fragment ab. Der erhaltene Text ist nicht lang genug, um von ihm aus sichere Schlüsse auf Inhalt und Länge des gesamten Gedichts ziehen zu dürfen. Genaue Untersuchung aller einzelnen Aussagen, die sich im Kontext der Erinnerung an die gefallenen Krieger permanent auf andere Episoden im Leben der literarischen Figuren beziehen, vermag immer wieder zu zeigen, daß der Dichter nicht nur die „Chanson de Roland", sondern auch andere Texte (wahrscheinlich den provenzalischen „Ronsasvals") oder Traditionen gekannt hat. Aber es reicht nicht aus, um seine Erzählintention oder die spezifische Darstellung der Geschichte fassen zu können, zumal die überlieferte Episode besonders handlungsarm ist und man gerade über das konkrete Geschehen in Roncesvalles nichts erfahrt. 18 Für unseren Kontext aber ist es von Interesse, daß Karl während seiner Klage von seinen Jugendtaten in Spanien im Dienst König Galafres von Toledo spricht, bei denen er Galiana zur Frau gewann (siehe Abschnitt 4), sowie von seinen Taten in Spanien: con vuestro esfuerzo aryba entramos en Espayna, matastes los moros e las teros ganastes, adobé los caminos del apóstol Santiago. (73—75) (Mit Deinem Einsatz drangen wir in Spanien ein,/ Du hast die Mauren getötet und die Länder erobert,/ ich habe die Wege zum Apostel Sankt Jakob eingerichtet.)

Der Hinweis auf Eroberungen in Spanien könnte den ersten Versen der „Chanson de Roland" entnommen sein, doch V. 75 stammt eindeutig aus einer Tradition, die vom „Pseudo-Turpin" begründet wurde. Ihnen gemeinsam ist die Vorstellung, 17

Dieses Klage-Gespräch mit den Köpfen könnte aus der Sage von den Infanten von Lara stammen, in der dieses Motiv eine zentrale Rolle spielt. Vgl. Martin de Riquer: La leyenda del graal y temas épicos medievales. Madrid 1968, S. 205-213.

18

Zum Beispiel läßt sich aus dem Text nicht erschließen, ob das fränkische Heer am Ende die Heiden besiegt, wie in der französischen „Chanson de Roland", oder ob eine weitere Schlacht zunächst vermieden wird, wie im provenzalischen „Ronsasvals".

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daß der Heidenkampf in Spanien und die entscheidenden Territorialgewinne eine Leistung des fränkischen Kaisers war. Aus französischer Perspektive wird die Schlacht um Roncesvalles dadurch zu einem nur durch Verrat denkbaren, tragischen Rückfall, der aber dann noch einmal die gesamte Macht der christlichen Streitkräfte entfesselt und den endgültigen Sieg herbeifuhrt; die dahinterstehende Ideologie entstammt dem Kontext des Kreuzzugsgedankens.19 Daß aber in Spanien das ideologische Interesse an der Karlsgeschichte pointiert anders aussah und daß „Roncesvalles" somit sicherlich als eine Ausnahme zu werten ist, wird im folgenden genauer zu sehen sein.

2. Der soeben erwähnte „Pseudo-Turpin" ist eine lateinische Chronik über Kaiser Karls Unternehmungen in Spanien, die wahrscheinlich für den „Liber Sancti Jacobi" geschrieben wurde.20 Dieses Buch beschreibt und erklärt den Kult des Hl. Jakobus, die Symbolik des Domes und die dazugehörige Liturgie, führt eine Reihe von Berichten über die vom Heiligen bewirkten Wunder auf, erzählt dann die Überführung des im Heiligen Land hingerichteten Apostels nach Galicien, wo er vorher gepredigt hatte, läßt daraufhin die Karlschronik folgen - dessen Autor sich als der Erzbischof Turpin ausgibt, der in Roncesvalles kämpfte - und schließt mit einer längeren Beschreibung des Pilgerwegs von Roncesvalles bis Santiago. Das um 1140 entstandene Buch ist auch als „Codex Calixtinus" bekannt, weil es durch mehrere apokryphe Briefe und Vorworte und durch eine gefälschte Bulle als eine von Papst Calixtus II. angeordnete und dem Dom in Santiago geschenkte Handschrift präsentiert wird.21 Die Funktion der pseudo-turpinschen Chronik in diesem Kontext ist eindeutig, denn es werden darin nicht nur Karls Heidenkämpfe beschrieben, sondern auch erzählt (z. B. Kap. 19), daß der Kaiser in Santiago ein Konzil einberuft und den Erzbischof zum Metropoliten ganz Spaniens bestimmt, daß Turpin selbst auf Bitten des Kaisers die Basilika und den Altar weiht und daß die Kirche zum bedeutendsten apostolischen Sitz nach Rom erklärt wird. Dieser Umstand und der Papst Calixtus zugeschriebene Auftrag zur Herstellung der 19

20

21

Vgl. Carl Erdmann: Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. Stuttgart 1935 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 6). Vgl. auch die Beiträge von Bernd Schütte und Christine Ratkowitsch in diesem Band, S. 223-245 und S. 1-16. Für eine vom „Liber" unabhängige Vorfassung gibt es keine gesicherten Hinweise. Liber Sancti Jacobi. Codex Calixtinus, hg. von Klaus Herbers, Manuel Santos Noia. Santiago de Compostela 1998; der „Pseudo-Turpin" auf S. 199-229; vgl.: Historia Caroli Magni et Rotholandi. Chronique du Pseudo-Turpin, hg. von C. Meredith Jones. Paris 1936; The Pseudo-Turpin. Edited from Bibliothèque Nationale, Fonds Latin, Ms. 17656, hg. von Hamilton Martin Smyser. Cambridge (Mass.) 1937; Die Chronik von Karl dem Großen und Roland. Der lateinische ,Pseudo-Turpin' in den Handschriften aus Aachen und Andernach. Ediert, kommentiert und übersetzt von Hans-Wilhelm Klein. München 1986 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 13).

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Handschrift offenbaren das Programm der compostellanischen Kirche, sich als von Rom und dem römisch-fränkischen Kaiser eingerichteter Kultort darzustellen sowie als wichtigster Bischofssitz auf der Iberischen Halbinsel. Letzteres ist entscheidend, denn in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts begann sich das politische Zentrum der drei immer häufiger und bald definitiv vereinten Königreiche Galicien, León und Kastilien deutlich nach Südosten zu verlagern und damit eine Konkurrenz mit anderen Bistümern abzuzeichnen. Santiago suchte offensichtlich seine Position zu sichern; politisch war der Erfolg bescheiden: Schon ein Jahrhundert später erlangte Toledo das Primat, doch die Anknüpfung an das Imperium, die in der turpinschen Chronik angestrebt wurde, erreichte - wie auch die Konsolidierung des Pilgerwegs - eine sehr große und nachhaltige Wirkung. Gerade der „Pseudo-Turpin" wurde immer wieder separat abgeschrieben, fand in einer großen Anzahl von Handschriften und Übersetzungen europaweite Verbreitung und genoß unangezweifelte Glaubwürdigkeit.22 Allerdings nur außerhalb Kastiliens: Auf der Iberischen Halbinsel waren zwar einige zum Teil sehr frühe lateinische Fassungen im Umlauf,23 doch verwertet wurden sie (mit einer Ausnahme, s. u.) erst im 14. Jahrhundert durch den arragonesischen Hofchronisten Juan Fernández de Heredia in seiner „Coránica de Conquiridores";24 im 15. Jahrhundert wurde eine katalanische Übersetzung angefertigt;25 und aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts stammt die erste bekannte spanische Ausgabe der „Historia de Carlo Magno y de los doce pares de Francia" eines sonst unbekannten Nicolás de Piamonte, die teilweise ebenfalls auf den „Pseudo-Turpin" zurückgeht, aber auf dem Umweg über Mitteleuropa.26

22

Zur Hss.-Verbreitung vgl. Adalbert Hämel: Überlieferung und Bedeutung des Liber Sancti Jacobi und des Pseudo-Turpin. München 1950 (Sitzungsberichte der Bayer. Akad. der Wiss., philos.-hist. Kl. 1950/2); André de Mandach: Naissance et développement de la chanson de geste en Europe. I: La geste de Charlemagne et de Roland. Genf 1961.

23

Z. B. die Abschrift, die Arnaldo del Monte 1173 in Santiago anfertigte und die in das Kloster Ripoll kam; vgl. Hämel [Anm. 22], S. 21-28.

24

Joseph Palumbo: An Edition, Study and Glossary of the Second Part of the ,Coránica de Conquiridores' by Juan Fernández de Heredia. Madison 1976. Der Karl-Abschnitt steht schon bei Manuel Abizanda und Gaudencio Amando Melón: Carlo Magno en España según la Crónica de conquiridores de D. Juan Fernández de Heredia. In: Revista de Archivos, Bibliotecas y Museos (3a época) 31 (1914), S. 400-432. Zur Textkonstitution mit neuerer Literatur vgl. Alberto Montaner Frutos: La ,Grant coránica de los conquiridores' de Juan Fernández de Heredia: problemas codicológicos y ecdóticos. In: The Medieval Mind. Hispanic Studies in Honour of Alan Deyermond, hg. von Ian Macpherson, Ralph Penny. London 1997, S. 289-316. Zur Person Heredias vgl. jetzt Juan Manuel Cacho Blecua: El gran maestre Juan Fernández de Heredia. Zaragoza 1997.

25

Aus dem sog. „Llibre de les nobleses dels reis", der in einer einzigen Hs. aus Barcelona überliefert ist. Text: Turpi, arquebisbe de Reims: Historia de Carles Maynes e de Rotllà. Traducció catalana del segle XV, hg. von Martín de Riquer. Barcelona 1960.

26

Es handelt sich um die Übersetzung des „Fier a Bras" des Lausanner Notars Jean Baignon, von dem ein Druck von 1478 belegt ist, der aber ab 1497 unter dem Titel „Conqueste du grant roy Charlemaigne des Espaignes et les vaillances des douze pers de France" bekannt war; er enthält eine aus dem „Speculum historíale" Vinzenz' von Beauvais stammende Er-

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Selbstverständlich hat der „Pseudo-Turpin" Karls Spanienkämpfe keineswegs aus dem Nichts erfunden, denn schon die Anfangsverse der „Chanson de Roland" bezeugen, daß es in Frankreich bereits früher ähnliche, über den bloßen Feldzug nach Zaragoza hinausgehende Erzähltraditionen gab. Inwieweit diese auch in Spanien verbreitet waren, wissen wir nicht; einen möglichen Hinweis dafür liefert eine Stelle des bereits erwähnten „Poema de Almeria": Hic Adefonsus erat, nomen tenet imperatoris, Facta sequens Caroli, cui competit equiparan: Mente fuere pares, armorum ui coequales, Gloria bellorum gestorum par fuit horum. (17-20) (Das war Alfons, der den Kaisertitel führt,/ der die Taten Karls fortführt, mit dem er zu vergleichen ist/ gleichgesinnt waren sie und gleich war die Kraft ihrer Waffen,/ gleich auch der Ruhm ihrer kriegerischen Unternehmungen.)

Der spanische Kaiser wird dem fränkischen an die Seite gestellt, seine Handlungen - hier konkret die Eroberung Almenas von den Heiden - erscheinen als Fortsetzung der von jenem begonnenen Taten; ob hiermit die Feldzüge in Spanien gemeint sind, wird nicht klar. Deutlich aber wird, daß die Figur Karls eine politische Dimension besitzt, die Roland nicht kennt.27 Die angeblich von Erzbischof Turpin von Reims geschriebene Chronik in einem scheinbar päpstlich autorisierten Buch erhob plötzlich die Berichte über die Eroberungen des fränkischen Kaisers auf der Halbinsel in den Stand unbezweifelbarer historischer Wahrheit. Doch die Vorstellung, daß der Beginn der Rückeroberung Spaniens aus heidnischer Hand und die Einrichtung des wichtigsten Kult- und Wallfahrtsortes eine Leistung des fränkischen Kaisers gewesen sei, widersprach nicht nur der Wirklichkeit, sondern mußte - gerade weil sie ja von einer scheinbar so hohen geistlichen Instanz niedergeschrieben worden war - ins Herz anderer politisch-historischer Legitimationen in Spanien treffen und die politische Identität der iberischen Reiche aufs Spiel setzen, da sie ja deren eigene Zählung über Clodoveus' Konversion zum Christentum, eine Geschichte der Heldentaten der 12 Pairs, die auf einer Zusammenfassung des altfranzösischen „Fierabras" basiert, und eine stark vereinfachende Version des „Pseudo-Turpin". Die erste bekannte spanische Ausgabe ist von um 1500 (vgl. Antonio Palau y Dulcet: Manual del librero hispanoamericano. III. Barcelona 1950, S. 168 f.), aber das Buch ist Jahrhunderte lang in unzähligen billigen Ausgaben in Spanien, Frankreich, Portugal und Lateinamerika erschienen. Palau y Dulcet nennt über 50 Ausgaben, gewiß nur ein Bruchteil derer, die es wirklich gegeben hat. Francisco Márquez Villanueva: El sondable misterio de Nicolás de Piamonte (Problemas del .Fierabrás' español). In: ders.: Relecciones de literatura medieval. Sevilla 1977, S. 95-134, nennt allein 19 Ausgaben aus Paris zwischen 1846 und 1901. Vgl. auch Marcelino Menéndez y Pelayo: Antología de poetas líricos castellanos. Bd. VII. Santander 1944 (Obras completas de Menéndez Pelayo, 23), S. 247-249. Vgl. jetzt die Edition in: Historias caballerescas del siglo XVI, hg. von Nieves Baranda. Madrid 1995, Bd. I, S. 431-617. 27

Im lateinischen Epitaph auf den Bastardsohn des portugiesischen Königs Sancho I, Rodrigo Sanches (t 1245), also einer politisch nicht relevanten Figur, heißt es dann auch wieder: alter fuit hic Rotulandus (er war ein zweiter Roland).

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territoriale Expansion vorwegnahm und die örtlichen Heldentaten ausstach.28 Vor diesem Hintergrund müssen eine Reihe kritischer Darstellungen der Karlsgeschichte verstanden werden, die in lateinischen und volkssprachlichen, meist chronikalischen Texten Kastiliens aus dem 12. und 13. Jahrhundert zu finden sind.29

3. Die „Historia Seminense" ist die erste uns bekannte Chronik, die eine solche Kritik aufnimmt.30 In einem kurzen Aufriß der Geschichte Spaniens bis Alfons VI. hebt dieser im ersten oder zweiten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts geschriebene lateinische Text hervor, nur Gott und kein fremdes Land habe die Spanier in ihren Kämpfen unterstützt. Nicht einmal Karl, quem infra Pireneos montes quasdam ciuitates a manibus paganorum eripuisse Franci falso asserunt (von dem die Franken fälschlicherweise behaupten, er habe unterhalb der Pyrenäen den Heiden einige Städte abgewonnen; Kap. 18, S. 129). Und nun geht der Autor - auf Einharts „Vita Karoli" und den Reichsannalen basierend - knapp auf den Spanienfeldzug ein, berichtet davon, daß sich ihm Pamplona freiwillig ergab, daß er aber, sobald er nach Zaragoza gelangt sei, more francorum aureo corruptus, absque vilo sudore pro eripienda a barbarorum dominatione santa ecclesia (nach Sitte der Franken vom Gold verführt und ohne sich irgendwie zu bemühen, den Barbaren die heilige Kirche abzugewinnen, Kap. 18, S. 130), umgekehrt und nach Aachen zurückgezogen sei, weil er sich nach den dortigen Thermalbädern gesehnt habe. Die darauf folgende Nachricht vom Überfall auf die Nachhut bei Roncesvalles folgt der lateinischen Chronistik der Zeit,31 läßt aber jeden Hinweis auf irgendwelche Eroberungen aus und spricht sogar nur von dem Versuch, Pamplona zu zerstören (destruere conatur). Im Vergleich zur wenige Jahrzehnte früheren „Nota Emilianense" verzichtet die „Historia Seminense" auf alle sagenhaften Bezüge; doch sollte es richtig sein, daß die „Nota" - wie oben angedeutet bewußt alle beschönigenden Elemente von Karls Spanienfeldzug wegläßt (was

28

Formulierungen wie die des „Poema de Almeria", daß der kastilische Kaiser Alfons die gesta Karls fortsetze (s. o.), bleiben isoliert und wurden möglicherweise noch vor der Verbreitung des „Pseudo-Turpin" geschrieben.

29

Die Forschung spricht in diesem Kontext oft von Frankophilie und Frankophobie, doch das ist eine Vereinfachung, die die politischen Implikationen der Turpinschen Darstellung in der komplexen Auseinandersetzung zwischen Kastilien einerseits und León und Galicien andererseits verwischt. Erst während der Drucklegung erschienen: Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin, hg. von Klaus Herbers. Tübingen 2003 (Jakobus-Studien 14).

30

Historia Silense, hg. von Justo Pérez de Urbel, Atilano González Ruiz-Zorrilla. Madrid 1959. Vgl. zu einzelnen Aspekten Jules Horrent: Chroniques espagnoles et Chansons de geste. In: Le Moyen Âge 53 (1947), S. 271-302; zum literarischen Umfeld Francisco Rico: Las letras latinas del siglo XII en Galicia, León y Castilla. In: Ábaco 2 (1969), S. 9-91.

31

Übersichtliche Textsammlung bei Menéndez Pidal [Anm. 2], S. 469^t82.

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bei der Kürze der Notiz schwer zu beweisen sein dürfte), dann würden beide Texte eine vergleichbare kritische Sicht auf den Feldzug des Kaisers widerspiegeln. Weniger giftig ist die „Crónica Najerense", wohl im Kloster Santa María la Real bei Nájera ca. 1180-1190 geschrieben.32 Sie übernimmt aus ihrer Vorgängerin die Passage nur in zusammengefaßter Form, wobei sie die meisten Attacken ausläßt; es bleibt lediglich die Formulierung inde Caesaraugustam ueniens auro correptus rediit, die aber zweifellos ausreicht, um auf das gesamte Unternehmen ein fragwürdiges Licht zu werfen. Das nächste chronikalische Werk, das „Chronicon Mundi" des Lucas de Tuy, geschrieben wohl vor 1239 auf Anordnung der Königin Berenguela, der Ehefrau Fernandos III. von Kastilien, bringt einen radikal neuen Ansatz in der Darstellung der Karlsgeschichte.33 Lucas berichtet, daß in der Regierungszeit Alfons II. von León die Schwester des Königs, Xemena, mit einem gewissen Graf Sancho ein geheimes Liebesverhältnis gehabt habe, in dessen Folge sie einen Sohn zur Welt bringt. Erbost läßt der König den Vater einkerkern und schickt die Frau in ein Kloster; das Kind aber, das den Namen Bernardo erhält, wird am Hof aufgezogen, wo es zu einem der besten Ritter heranwächst. In jener Zeit - so heißt es nun - hatte Karl der Große alle Heiden aus Frankreich vertrieben, war über Roncesvalles nach Spanien gedrungen und hatte die Goten und Hispanier unterworfen, die in Katalonien, in den baskischen Bergen und in Navarra lebten (subdidit imperio suo Gotthos & Hispanos qui erant in Catalonia & in montibus Vasconiae & in Nauarra, S. 6). Dann habe er an Alfonso einen Brief geschrieben mit der Aufforderung, sich ihm zu unterwerfen. Bernardo wird darüber wütend und beschließt, die Sarazenen zu unterstützen. Karl belagert unterdessen Tudela und hätte die Stadt beinahe eingenommen, wenn er sie nicht durch den Verrat seines Höflings Galalon aufgegeben hätte und nach Nájera weitergezogen wäre (obsedito Tutelam, quam breui cepisset, nisi proditione cuiusdam Galalonis sui palatii Comitis Tutela dimissa Naiaram petiisset, S. 7). Als Karl daraufhin nach Frankreich zurückkehrt, wird die Nachhut des Heeres beim Aufstieg nach Roncesvalles vom maurischen König Marsil, sowie von Bernardo (der die Gottesfurcht beiseitelegte, postposito Dei timore, S. 10) und einigen ihm verbündeten Navarresern angegriffen und vernichtet, wobei Roland, Anselm, Egihard und andere getötet worden seien. Karl aber organisiert sein Heer von neuem und besiegt beim Gegenschlag die Mauren endgültig (offenbar hilft ihnen Bernardo nicht mehr). Dann

32

Chronica naierensis, hg. von Juan A. Estévez Sola. Turnhout 1995 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaeualis 71 /A). Über die spanische Historiographie und Geschichte von den Anfangen bis zum 14. Jahrhundert vgl. Peter Linehan: Histoiy and the Historians of Médiéval Spain. Oxford 1993.

33

Ein moderne Ausgabe steht aus; der einzige vollständige Textabdruck durch Andreas Schottus: Hispania illustrata. Bd. IV. Frankfurt 1608, S. 1-116, war mir nicht zugänglich. Die Passage über Karls Spanienfeldzüge ist abgedruckt bei Theodor Heinermann: Untersuchungen zur Entstehung der Sage von Bernardo del Carpio. Halle (Saale) 1927, S. 3-15. Lucas' „Chronicon" reicht bis zum Jahr 1236; 1239-1249 war er Bischof von Tuy, im Süden Galiciens.

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zieht der Kaiser (Christianissimus Carolus, S. 12) zu den Reliquien des Heiligen Jakobus, zerstört mit Zustimmung Alfonsos Iría, läßt den Dom in Santiago bauen und ihn zur Hauptkirche Spaniens weihen und nimmt auf dem Rückweg Bernardo mit sich nach Aachen, der sich bei Römern, Germanen und Galliern als Held ausgezeichnet habe (se gloriose gessit). Kurz darauf heißt es, König Alfonso II. habe Berta, die Schwester Karls des Großen, geheiratet, die er jedoch nie berührt habe (Alfonso II. trug den Beinamen ,el Casto', der Keusche).34 Im Abschnitt über Alfonso III. aber berichtet Lucas von einem weiteren Einmarsch fränkischer Truppen unter einem dritten Karl (Carolus Martellus), dem Christen wie Sarazenen unter Bernardo erfolgreich in den Bergpässen entgegentreten; der Kaiser habe dann mit König Alfonso Frieden geschlossen und sei nach Santiago gepilgert, für dessen Kirche er das Primat in Spanien erlangt habe (S. 25f.). An der Darstellung Lucas' von Tuy fallen besonders zwei Dinge auf: zum einen die doppelte Einarbeitung von Karls Fahrt nach Santiago und die Gründung des Domes nach dem Bericht der pseudo-turpinschen Chronik (Lucas ist der einzige, der in Kastilien den „Pseudo-Turpin" rezipiert), zum anderen die Geschichte vom Bastard-Neffen des leonesischen Königs - bekannt als Bernardo del Carpió - , der in der Schlacht von Roncesvalles den entscheidenden Beitrag zur Vernichtung der fränkischen Nachhut leistet, und der in einer späteren Schlacht das Eindringen der kaiserlichen Heere verhindert. Der Ursprung der Sage von diesem Bernardo, ihre möglichen historischen Anknüpfungspunkte sowie ihre eigentliche Struktur (die Geschichte hat später noch einen zweiten Teil, in dem Bernardo sich mit dem spanischen König verfeindet, weil dieser seinen Vater nicht befreit), sind trotz eingehender Mühen der Forschung noch weitgehend unklar.35 Bei Lucas scheint es offenbar, daß die Geschichte von Bernardos Intervention in Karls Spanienfeldzug eigens dazu geschaffen wurde, die Verratshandlung durch Ganelon zu ersetzen, die hier zwar noch erwähnt wird, aber keine weiteren Konsequenzen hat. Doch erscheint die Handlungsfolge bereits gebrochen, denn es wird nicht klar, wann und warum sich Karl und Alfons versöhnen, ob Bernardo an der zweiten Schlacht gegen Karl ebenfalls teilnimmt und warum ihn Karl so sehr bewundert oder mag, daß er ihn mit an seinen Hof nimmt. Die „Estoria de España", auf die noch näher einzugehen sein wird, enthält eine interessante Bemerkung:

34

Eine aus den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts stammende Fassung der „Estoria de España" (s. u.) erklärt dies dadurch, daß Berta trotz ihrer Ehe mit Alfonso nie nach Spanien kam, da bald nach ihrer Prokuratorenehe Streit zwischen beiden Königen aufgekommen sei und die Frau auch nicht lange gelebt habe. Vgl. Fernández-Ordóñez [Anm. 40], S. 109f.

35

Vgl. Heinermann [Anm. 33]; William J. Entwistle: The ,Cantar de gesta' of Bernardo del Carpió. In: The Modern Language Review 23 (1928), S. 307-322 und S. 432-452; Albert B. Franklin: A Study of the Origins of the Legend of Bernardo del Carpió. In: Hispanic Review 5 (1937), S. 286-303. Bernardo erscheint in den Chroniken wieder unter dem späteren König Alfonso III; offenbar sind zwei unterschiedliche Helden zu einer literarischen Figur verschmolzen worden. Die historischen Hintergründe dieser zweiten Figur sind möglicherweise konsistenter.

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Et algunos dizen en sus cantares et en sus fablas que fue este Bernaldo fijo de donna Timbor hermana de Carlos rey de Francia, et que viniendo ella en romería a Santiago, que la conuido el conde San Diaz et que la leuo pora Saldanna, et que ouo este fijo en ella [.. .].36 (Doch manche sagen in ihren Liedern und Geschichten, daß dieser Bernardo ein Sohn der Dame Timbor war, der Schwester Karls, des Königs von Frankreich, und daß der Graf San Díaz sie, als sie nach Santiago pilgerte, einlud und nach Saldaña brachte und mit ihr diesen Sohn zeugte.)

Es liegt nahe, von dieser Bemerkung aus auf ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen Bernardo und Karl in der Sagentradition zu schließen (der Hinweis auf die Ehe Alfonsos mit Berta bei Lucas könnte ein Rest davon sein), das die Versöhnung zwischen beiden erklären könnte.37 Doch gibt es keinerlei sichere Hinweise für diesen Sagenkern. Fest steht nur, daß sich in dieser Geschichte eine genuin leonesisch-kastilische Vorstellung kristallisiert, man sei schon früh in der Lage gewesen, den Heidenkampf zu führen, und habe keine äußere Hilfe nötig gehabt, ja Karl habe sogar auf eine weitere Intervention verzichtet, als er die kämpferische Kraft der spanischen Christen kennengelernt habe. Die Niederlage bei Roncesvalles würde damit in Übereinstimmung mit der ursprünglichen Tradition nicht auf die Heiden zurückzufuhren sein, aber auch nicht auf einen Verrat, sondern wäre durch einen überlegenen oder zumindest gleichwertigen christlichen Gegner zu erklären. Genau das wird bei der Wiederholung der Bergschlacht unter Alfonso III. noch einmal deutlich. Offenbar war der königliche Hof in Kastilien alles andere als zufrieden mit der Chronik Lucas' von Tuy (die Benutzung des „Pseudo-Turpin" ist sicher nur ein Hinweis dafür), denn nur wenige Jahre später (bis 1243) schrieb Rodrigo Jiménez de Rada im Auftrag des Königs eine neue lateinische Chronik, der im Gegensatz zur vorherigen breite Rezeption zuteil wurde: Es existieren mehrere Übersetzungen aus dem 13. Jahrhundert, und sie ist in zahlreichen Handschriften überliefert. Rodrigo war ein hochgebildeter, in Bologna und Paris ausgebildeter Kleriker, der gleich nach seiner Rückkehr zum Rat König Alfons VIII. ernannt wurde, wenig später auch zum Erzbischof von Toledo. Er blieb unter Enrique I. und Fernando III. einer der wichtigsten Leute am Hof, war maßgeblich an der Gründung der ersten Universitäten in Salamanca und Palencia beteiligt, pflegte spätestens seit seiner Teilnahme am Laterankonzil von 1217 hervorragende Beziehungen zum Papst und erlangte durch sie, daß das Primat der spanischen Kirche auf Toledo übertragen wurde. In seinem „De rebus Hispaniae" verwendet er gründlich die Chronik Lucas' von Tuy, greift aber an vielen Stellen korrigierend ein.38 So auch

36

37

38

Primera Crónica General de España que mandó componer Alfonso el Sabio y que se continuaba bajo Sancho IV en 1289, hg. von Ramón Menéndez Pidal. Madrid 1955, Kap. 617, S. 351a. So schon Gaston Paris: Histoire poétique de Charlemagne. Paris 1865, S. 205-208. Vgl. Jules Horrent [Anm. 2], S. 463-469. Roderici Ximenii de Rada: Historia de rebus Hispanie sive Historia gothica, hg. von Juan Fernández Valverde. Tumhout 1987 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaeualis 72).

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beim Bericht von Karls Spanienfeldzug. Die Geburt Bernardos wird noch genauso erzählt wie bei Lucas. Doch dann heißt es, der leonesische König Alfons habe heimlich Boten an Karl geschickt mit der Bitte, ihm beim Heidenkampf zu helfen; dafür würde er ihm, da er keinen Erben habe, das Reich anbieten. Der Kaiser nimmt das Angebot an, doch als die Adeligen am spanischen Hof davon erfahren, zwingen sie ihren König, die Vereinbarung zu widerrufen, denn sie würden lieber in Freiheit sterben als in fränkischer Knechtschaft zu leben. Karl zeigt sich über diese Reaktion verärgert und zieht nun erst recht gegen Spanien. Doch die spanischen Länder haben sich unter Bernardo, der der schärfste Kritiker des Königs war, zusammengeschlossen und überfallen und vernichten nun in Roncesvalles die Vorhut des nach Spanien einmarschierenden fränkischen Heeres, wobei Roland und die anderen getötet werden. Der Kaiser erkennt, daß für einen Gegenangriff die Konfusion zu groß ist, sammelt sein Heer mit Hornsignalen (buccina) und zieht wieder nach Aachen, wo er stirbt, bevor er einen Rachefeldzug unternehmen kann. Sein Grab ist auf allen Seiten mit Epitaphien über seine vergangenen Siege geschmückt, nur nicht auf jener, die nach Valcarlos schaut, von wo er mit einer schmählichen Niederlage zurückkehrte (in glorioso tumulo sepelitur, qui erat priscarum uictoriarum epitaphiis circumscriptus, ea parte uacua remanente qua Volle Caroli unidictam minitans inglorius rediit et inultus, IV/X). Ist das Bild dieses nach Spanien hin unbeschrifteten Grabmals schon bestechend genug als antifränkische Affirmation, so sind die folgenden Zeilen noch viel eindeutiger: Non nulli histrionum fabulis inherentes ferunt Carolum ciuitates plurimas, castra et oppida in Hispaniis acquisisse multaque prelia cum Arabibus strenue perpetrasse et stratam publicam a Gallis et Germania ad Sanctum Iacobum recto itinere direxisse. [...] Verum [...] non inuenio quas ciuitates, castra uel oppida in Hispaniis acquisisset [...]. (IV/X-XI) (In vielen Geschichten der Spielleute wird erzählt, Karl habe viele Ortschaften, Burgen und Städte in Spanien erobert und mutig viele Kämpfe gegen die Araber gefuhrt, sowie den Weg aus Gallien und Germanien nach Santiago ohne Umwege hergerichtet. [...] Doch [...] kann ich nicht feststellen, welche Ortschaften, Burgen oder Städte er in Spanien erobert haben sollte.)

Dem folgt nun eine lange Ausführung, welche spanischen Städte von welchen Herren erobert worden seien. Da dies erst in den letzten 200 Jahren geschehen sei, könne er sich nicht vorstellen, welche Städte Karl erobert haben solle, dessen Tod beinahe 400 Jahre zurückliege. Ob er nun von Christen oder Sarazenen besiegt worden sei: Wer bei Roncesvalles nicht durchbrechen konnte, vermochte auch nicht den Weg nach Santiago bekannt zu machen. Es sei denn - so konzediert er abschließend - er habe zu jener Zeit irgendeine Heldentat begangen, während er bei König Galafre in Toledo weilte (nisi forte aliquod insigne fecerit eo tempore quo cum rege Galafro Toleti degebat, IV/XI). Der letzte Satz spielt auf die „Mainet"-Geschichte an, die weiter unten behandelt werden wird. Hier soll zunächst hervorgehoben werden, wie Rodrigo die Einzeltat Bernardos, wie sie bei Lucas erzählt wird, auf Staatsebene hebt, indem

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er eindeutig darlegt, daß die leonesischen Landherren keinerlei Intervention des Kaisers wünschen, und er König Alfonso selbst dem fränkischen Heer entgegentreten läßt. Karls Niederlage in Spanien rührt daher, daß ihn die peninsularen Christen am Einmarsch hinderten. Und noch etwas ist bei Rodrigo bedeutend, nämlich seine ausführliche Kritik der Turpinschen Tradition. Gewiß richtet er seinen Angriff auf histriones, also Spielleute, und man könnte aufgrund dessen argumentieren, daß der Erzbischof von Toledo eine mündlich überlieferte Geschichte von Karls Taten in Spanien und der Gründung Santiagos gekannt habe. Aber insbesondere des Kaisers Fahrt zum Grab des Apostels ist nur aus dem „Pseudo-Turpin", aus dem ihn zitierenden Lucas de Tuy und aus Rodrigos Darstellung bekannt. Es ist völlig unwahrscheinlich, daß der hochbelesene Kastilier das vierte Buch des „Liber Sancti Jacobi" nicht gekannt hat, wie er auch das „Chronicon Mundi" kannte. In seiner gesamten Darstellung widerspricht Rodrigo mehrfach seinem Vorgänger Lucas, indem er die Vorgänge einfach anders darstellt und ihn stillschweigend korrigiert. Hier aber ist seine Kritik so ausführlich und historiographisch, mit pedantisch genauer Dokumentation der wichtigsten Schritte in der christlichen Landgewinnung, daß man sie nur verstehen kann als quellenkritische Diskussion einer konkurrierenden Darstellung, die ebenfalls historiographischen Charakter und hohen Wahrheitsanspruch besaß; als solche kommt jedoch - soweit wir wissen - nur die des „Pseudo-Turpin" in Frage. Warum Rodrigo diese Tradition bei Spielleuten ansiedelt und die Erwähnung des Jakobsbuches vermeidet, wäre allerdings noch zu klären. Jedenfalls zeigt sich an dieser Auseinandersetzung die unterschiedliche ideologische Ausrichtung von Lucas de Tuy und Rodrigo Jiménez de Rada. 39 Im Blick auf diese Kontroverse erklärt sich das Ausbleiben einer „Pseudo-Turpin"-Rezeption oder -Übersetzung in Kastilien. „De rebus Hispaniae" war eine der wichtigsten Grundlagen für die „Estoria de España", die große volkssprachliche Chronik, die Alfonso X. in Auftrag gab und die in einer Reihe verschiedener Versionen bis ins 16. Jahrhundert intensiv rezipiert wurde und damit die Grundlage des Verständnisses kastilischer Geschichte bildete. 40 Auch die Erzählung von Karls Spanienfeldzug übernimmt die „Estoria" 39

Rodrigo verneint daher auch explizit (Buch IV, Kap. XVI), daß es unter Alfonso III. noch einmal zu einem fränkischen Einmarsch nach Spanien gekommen sei.

40

Die neuere Forschung hat gezeigt, daß es mindestens drei Grundfassungen gab: zum einen die „versión primitiva" (um 1272), die vom König selbst autorisiert wurde, sowie die „versión concisa" (ebenfalls um 1272, aber nicht autorisiert und mit wichtigen Änderungen) zu diesen gehören die meisten überlieferten Hss.; sodann eine „versión crítica" (um 1283), die wohl noch auf ursprüngliches, vorher nicht verarbeitetes Material zurückgreift und der „versión primitiva" konzeptuell näher steht; schließlich einige aus der „versión concisa" entstandene Ableitungen. Eine vollständige kritische Ausgabe der unterschiedlichen Versionen steht noch aus. Vorläufig muß man sich für eine erste Annäherung mit der veralteten Edition von Ramón Menéndez Pidal [Anm. 36] begnügen. Gute Einführungen in die Forschungssituation bieten Fernando Gómez Redondo: Historia de la prosa medieval castellana. I: La creación del discurso prosístico: el entramado cortesano. Madrid 1998, S. 643-686, mit aktueller Literatur zu Teilausgaben und Hss.-Abdrucken; sowie Inés Fernàndez-Ordó-

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von Rodrigo und erweitert lediglich einige erzählerische Partien um den Vater Bernardos. Es gilt als sicher, daß die Alfonsinische Chronik mündliche Traditionen und heldenepisches Material übernahm; 41 doch für die Karlsgeschichte (Kap. 619 und 623) ist - mit Ausnahme des oben erwähnten Hinweises auf die Abstammung Bernardos - grundsätzlich nur die Chronik Rodrigos verwendet worden. Dennoch versucht die „Estoria" wiederholt, die abweichende Darstellung von Lucas de Tuy in ihren Bericht einzubauen. 42 Zum Beispiel erzählt sie nach Rodrigo von König Alfonsos Einladung an Karl, nach Spanien zu kommen, und vom Widerstand des Adels, der dem Kaiser entgegentritt. Dann wird aber eingefugt (S. 353a), Lucas wisse noch von einem Brief Karls an Alfonso mit einer Unterwerfungsforderung, sowie von Karls Belagerung Tudelas und Nájeras, um schließlich übergangslos vom Versuch des fränkischen Heeres zu erzählen, von Frankreich aus die Pyrenäen zu überqueren, ohne sich daran zu stoßen, daß Nájera und Tudela bereits jenseits der Berge liegen. Nachdem die „Estoria" nach Rodrigo Jiménez de Rada die Vernichtung der fränkischen Vorhut in Roncesvalles erzählt hat, kommentiert sie (S. 354a), Lucas de Tuy behaupte, Bernardo habe die Nachhut angegriffen. Doch von der so erwähnten Variante wird der Grundsatz der Darstellung, nämlich daß das eindringende Heer und nicht das sich zurückziehende angegriffen worden sei, nicht berührt. Als dann die Alfonsinische Chronik nach Rodrigo von Karls Tod und seinem Grabmal gesprochen hat (Kap. 623), zitiert sie noch einmal Lucas de Tuy, der von einem zweiten Feldzug nach Spanien berichte (Lucas erzählt jedoch, wie die „Chanson de Roland", von einem Gegenangriff ohne vorherigen Rückzug nach Aachen), bei dem der Kaiser die Unterstützung Bernardos gehabt (davon steht im „Chronicon mundi" kein Wort) und Zaragoza erobert habe. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Karls Spanienfeldzügen und die Santiago-Gründung (Kap. 623) übernimmt die „Estoria" wörtlich aus Rodrigos „De rebus Hispaniae". 43 Man erkennt an diesen Passagen das Bemühen der Alfonsinischen Werkstatt, das gesamte zur Verfügung stehende historiographische Material integrierend zu verarbeiten. Darstellungen, die der eigenen Konzeption widersprechen würden, wie die von Lucas' de Tuy Geschichte von Karls Spanienfeldzug, werden selektiv

ñez: Las ,Estorias' de Alfonso el Sabio. Madrid 1992; grundlegend ist Diego Catalán: De la silva textual al taller historiográfico alfonsí. Códices, crónicas, versiones y cuadernos de trabajo. Madrid 1997. Vgl. auch Linehan [Anm. 32], Kap. 12 und 13; sowie Georges Martin: Histoires de l'Espagne médiévale (historiographie, geste, romancero). Paris 1997. 41

Ich verweise nur auf zwei klassische Arbeiten: David G. Pattison: From Legend to Chronicle. The Treatment of Epic Material in Alphonsine Historiography. Oxford 1983 (Medium Aevum Monographs, n. s. 13); Brian Powell: Epic and Chronicle. The ,Poema de Mio Cid' and the .Crónica de veinte reyes'. London 1983.

42

Die Texte sind bei Heinermann [Anm. 33], S. 3-15, sehr bequem für den Vergleich nebeneinandergestellt.

43

Vgl. die spätere Ausmalung des Hinweises auf Karls Jugend in Spanien in der durch die Hs. Xx repräsentierten Fassung der „Estoria", die auch unter dem Namen „Crónica fragmentaria" bekannt ist, in Fernández-Ordófiez [Anm. 40], S. 108f.

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und an sicherlich genau bedachten Stellen als Varianten erwähnt, in einer Art und Weise, die sie als lediglich geringfügige Abweichungen erscheinen lassen. Inwiefern die späteren Fassungen der „Estoria de España" die Geschichte v o n Karls Spanienfeldzug verändern, müßte noch untersucht werden. Ein weiterer hoch produktiver Geistlicher jener Zeit, Juan Gil de Zamora, hat die Geschichte v o n Karls Spanienfeldzug mit deijenigen Bernardos verknüpft. 44 In seinen „De preconiis Hispaniae" schreibt er wörtlich den Bericht Rodrigos Jiménez de Rada ab, einschließlich der Diskussion um Karls Eroberungen in Spanien und der Gründung Santiagos, 45 doch am Ende der Santiago-Passage fügt er einen interessanten Absatz hinzu, der daraufhinweisen könnte, daß Gil de Zamora aus schriftlicher wie mündlicher Tradition unterschiedliche Varianten kannte, aus denen er das Grundsätzliche festzuhalten suchte: Igitur, secundum Seriem cronicorum fere omnium antiquorum, et secundum famam fere omnium nationum, et vulgares historias cantionum, sentencialiter est tenendum quod Karulus Maximus Imperator, iuxta Pireneos montes Hispanie ab hispaniis Hispanie fuit victus, et ibidem famosi Pares Francie corruerunt. Utrum autem per Galalonem comitem Karulifuerit procuratum tantum dedecus gallicorum, vel hoc acciderit eis ex inordinato processu eorum, vel ex repentino Ímpetu vasculorum, hoc relinquo sententie gallicorum. Pro constati, veruntamen, habeatur quodKarulus de Hispaniis triumphum non habuit illa vice. (S. 119)46 (Daher muß, wie es die ganze Reihe aller alten Chroniken und die Tradition aller Völker und die Lieder der volkssprachlichen Geschichten überliefern, als sicher gelten, daß Kaiser Karulus Maximus jenseits der spanischen Pyrenäen von Hispaniem aus Hispanien besiegt wurde und daß dort die berühmten Pairs Frankreichs fielen. Ob aber den Galliern eine so große Niederlage durch Galalon, einen Grafen Karls, zustieß, oder durch ihren eigenen Mangel an Ordnung oder durch den überraschenden Überfall der Basken, das überlasse ich der Entscheidung der Gallier. Fest steht aber, daß Karl keinen Triumph über die Hispanier errang.) Damit kann nun Gil de Zamora die Abschrift des Berichts von Lucas de Tuy über den später unter Karulus

Martellus

geführten Feldzug gegen A l f o n s o III. verein-

baren, der ebenfalls unter der Führung Bernardos vereitelt wird, wonach aber dieser Karulus Frieden mit dem spanischen König geschlossen habe, nach Santiago gezogen sei und beim Papst die Konzession des Primats jener Kirche über ganz Spanien erlangt habe (S. 127f.). Entscheidend ist, daß Karl der Große keine 44

Zu dem Franziskaner Juan Gil de Zamora, der in engem Kontakt zu den Höfen Alfonsos X. und Sanchos IV. stand, vgl. Georges Cirot: De operibus historiéis Iohannis Aegidii Zamorensis qui tempore Aldephonsi decimi Regis Castellae scribebat. Bordeaux 1913; Manuel C. Díaz y Díaz: Tres compiladores latinos en el ambiente de Sancho IV. In: La literatura en la época de Sancho IV, hg. von Carlos Alvar, José Manuel Lucía Megías. Alcalá 1996, S. 3552; Francisco Rico: .Aristoteles Hispanus'. En tomo a Gil de Zamora, Petrarca y Juan de Mena. In: Italia medioevale e Umanistica 19 (1967), S. 143-164 (wieder in: Mitos, folklore y literatura, hg. von Aurora Egido. Zaragoza 1987, S. 57-77).

45

Fray Juan Gil de Zamora (O. F. M.): De preconiis Hispanie, hg. von Manuel de Castro y Castro. Madrid 1955. Nicht zugänglich (weil noch unediert) war mir die Karlsvita in Gil de Zamoras Werk „Liber de illustrium personarum"; vgl. Manuel C. Díaz y Díaz: Index Scriptorum Latinorum Medii Aevi Hispanorum. II. Salamanca 1959, S. 297, Nr. 1424; Cirot [Anm. 44], S. 40-49.

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politischen oder militärischen Erfolge hatte; die Fahrt nach Santiago wird einem späteren und imbedeutenderen Karl zugeschrieben. Auch das „Poema de Fernán González" stellt die Niederlage des fränkischen Heeres als Hinderung am Einmarsch dar und nicht als hinterhältigen Überfall auf die abziehende Nachhut. 47 Interessant ist lediglich die nur in diesem Text belegte Variante, daß das kaiserliche Heer zunächst auf dem Seeweg nach Spanien zu kommen versucht und in Fuenterrabia (bei Hendaye) an Land gehen will, was Bernardo mit seinen Leuten verhindert; erst bei seinem zweiten Versuch kommt Karl über die Pyrenäen, wo Bernardo die zwölf Pairs schlägt. Der Autor ergeht sich daraufhin in einem langen Lob Hispaniens und besonders Kastiliens. Daß die Geschichte von Karls Feldzug nach Spanien noch im 15. Jahrhundert aktuell war, zeigt der „Libro de bienandanzas y fortunas" des Lope García de Salazar, einem baskischen Adeligen, der zwischen 1471 und 1476 ein Buch schrieb, das teils Historiographie ist, teils über das wechselnde Schicksal der Herrscher belehren will.48 Die Darstellung Lopes kombiniert in völlig eigener Weise die der „Estoria de España" (oder einer verwandten Quelle), die die Niederlage der fränkischen Heeres bei dessen Einmarsch nach Spanien als Folge effektiver Verteidigung durch die Spanier deutet, mit anderem, der französischen Tradition näherstehenden Material, das die in den spanischen Texten meist ausgelassene Verratshandlung wieder einführt. Der Kontext ist anfangs der der Bernardo-Geschichte: Alfonso II. schickt nach Karl, die Adeligen zwingen ihn zum Widerruf. Karl bricht unterdessen auf und schickt Gallalón (Ganelon) als Botschafter nach Zaragoza, wo er Marsil zur Unterwerfung auffordern soll; dem maurischen König gelingt es, Gallalón zu bestechen und zum Verrat zu überreden. Einzige Bedingung ist, daß im Kampf Gallalóns Sohn Dalbué (Gondelbeuf) geschont werden soll. Nun schließt sich Bernardo mit den christlichen Rittern den Sarazenen an und zusammen überfallen sie die fränkische Vorhut. Als fast alle Franzosen gefallen sind, stößt Roland auf Dalbué und schimpft ihn einen Verräter und Verrätersohn; letzteres nimmt Dalbué an, weist aber ersteres strikt von sich, worauf Roland ihn auffordert, dort mit den anderen zu sterben. Dalbué verteidigt sich, er habe nach Kräften gekämpft und getötet, doch niemand habe ihn angegriffen. Da tauschen beide Helden das Überkleid, und sofort ist Dalbué Ziel heftiger Attacken, bis er sich schwer verwundet zurückzieht, vor den Kaiser tritt, seinen Vater der Verrats anklagt, sich von seiner Verwandtschaft mit ihm lossagt und schließlich tot niederfallt. In dieser Fassung scheint die politische Brisanz von Karls Feldzug nach Spanien relativiert, denn Bernardos Verteidigung hat hier weder die patriotische Di-

47

Vgl. [Anm. 9], Str. 127-144.

48

Lope Garcia de Salazar: Las Bienandanzas e Fortunas. Códice del siglo XV, hg. von Ángel Rodríguez Herrero. 4 Bde. Bilbao 1967, Buch XIV, Kap. 1-2 (Bd. III, S. 7-10); s. auch Buch IX, Bd. 2, S. 160. Vgl. Jules Horrent: Le récit de la bataille de Roncevaux dans le .Libro de bienandanzas y fortunas' de Lope García de Salazar. In: Revue Belge de Philologie et d'Histoire 28 (1950), S. 967-992.

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mension noch das Pathos, die beide in Rodrigos „De rebus Hispaniae" oder im „Poema de Fernán González" so stark im Vordergrund stehen. Deswegen konnte auch die Verratshandlung um Ganelon (wieder) aufgenommen werden, obwohl sich Verteidigung vor einem Einmarsch und Verrat eigentlich erzählerisch als Erklärung für Karls Niederlage gegenseitig unnötig machen. Aber offenbar ging es Lope eben darum, diese zwei nebeneinander existierenden Varianten zu verknüpfen. Aus der Darstellung der Begegnung zwischen Roland und Dalbué, die lebendig und dramatisch ist, kann man schließen, daß Lope eine literarische Überlieferung gekannt hat, die die Chroniken nicht nennen.49 Ob es sich dabei um rein mündliche Traditionen handelte oder auch um schriftlich fixierte Fassungen,50 läßt sich nicht entscheiden. Die Tradition von Bernardos Angriff auf die Vorhut dürfte Lope hingegen mit Sicherheit den Chroniken entnommen haben; zwar gab es im 15. Jahrhundert eine Reihe mündlich überlieferter Balladen über Bernardo del Carpió,51 aber keine einzige von ihnen erwähnt seinen Kampf gegen Karl den Großen, der sowieso dem Verdacht unterliegt, eine historische Konstruktion zu sein. Übrigens gibt es Belege dafür, daß die Frage, ob Karl nun in Spanien große Eroberungen gemacht habe oder nicht, noch in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in gelehrten Kreisen diskutiert wurde und Anlaß französischspanischer Disputationen war;52 und im 16. Jahrhundert wurde die Tradition von Bernardos Roncesvalles-Kampf für nationalistische Schriften verwendet.53

4. Die Niederlage bei Roncesvalles und die Geschichte Bernardos del Carpió sind aber nicht die einzigen Traditionen, die in Spanien um die Figur Karls des Großen kreisen. Auch von Karls Aufenthalt in Toledo vor seiner Thronbesteigung in Frankreich hat man sich erzählt. Schon der „Pseudo-Turpin" erklärt während eines Gesprächs zwischen dem Kaiser und dem Maurenführer Aigoland, daß Karl die arabische Sprache in Toledo gelernt habe, wo er in seiner Jugend einige Zeit gelebt hätte.54 Später heißt es dann genauer: 49

50

51

52 53 54

Daß Lope für andere Geschichten mündlich überlieferte Erzähltraditionen verwendet hat, konnte die Forschung mehrfach zeigen; vgl. u. a. Samuel G. Armistead: Las .Mocedades de Rodrigo' según Lope García de Salazar. In: Romanía 94 (1973), S. 303-320; Mercedes Vaquero: Tradiciones orales en la historiografía de fines de la Edad Media. Madison 1990. Es ließe sich z. B. spekulieren, Lope habe das „Roncesvalles"-Epos gekannt - ausschließen läßt sich das jedenfalls nicht. Ramón Menéndez Pidal: Romancero tradicional de las lenguas hispánicas. I: Romanceros del rey Rodrigo y de Bernardo del Carpió. Madrid 1957, S. 141 bis Ende. Noch im 20. Jahrhundert sind einige .romances' aus mündlicher Tradition aufgezeichnet worden. Vgl. die von Ramón Menéndez Pidal [Anm. 16], S. 134, zitierten Belege. Vgl. Menéndez Pidal [Anm. 51], S. 168f. Didicerat enim Karolus linguam sarracenicam aput urbem Toletam in qua, cum esset iuvenis, per aliquot tempus commoratus est, Kap. XII, S. 208, der Ausgabe Herbers/Santos Noia [Anm. 21],

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Quemadmodum Galaffrus, admiraldus Tolete, illum in puericia exulatum adornavit habitu militari in palacio Toleti, et quomodo idem Karolus postea amore eiusdem Gallqfri occidit in bello Braimantum, magnum ac superbum regem Sarracenorum, Galaffii inimicum [...] scribere nequeo. (Ich kann nicht beschreiben, wie Galafre ihn im Palast von Toledo mit dem Kriegsgewand kleidete, als er als Jugendlicher dorthin verbannt war, und auch nicht wie Karl später aus Freundschaft zu diesem Galafre im Kampf den mächtigen und überheblichen sarazenischen König Braimant, einen Feind Galafres, erschlug, Kap. XX, S. 216).

Die sogenannte „Mainet"-Geschichte, die hier nur beiläufig erwähnt wird, war also spätestens in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Frankreich im Umlauf; daß der „Turpin"-Autor über gute Kenntnisse französischer Traditionen verfugte, steht fest. Wann die Tradition von Karls Jugendabenteuer im Heidenland auch in Spanien Verbreitung fand, wissen wir nicht genau; selbstverständlich ebenfalls spätestens mit dem „Pseudo-Turpin", doch ist davon auszugehen, daß mündliche Überlieferungen eine große Rolle spielten. Der zweite Text, der auf die „Mainet"-Geschichte anspielt, ist „De rebus Hispaniae" des Rodrigo Jiménez de Rada. Wie oben erwähnt, konzediert Rodrigo im Rahmen der Diskussion um Kaiser Karls Eroberungen auf der Iberischen Halbinsel (IV/XI) nur die Möglichkeit, der junge Karl habe während seines Aufenthalts in Toledo einige Heidenkämpfe geführt. Fertur enim in iuuentute sua a rege Pipino Galliis propulsatus, eo quod contra paternam iusticiam insolebat. Et ut patri dolorem inferret, Toletum adiit indignatus, et cum inter reges Galafrum Toleti et Marsilium Cesarauguste dissensio prouenisset, ipse sub rege Toleti functus milicia bella aliqua exercebat, post que, audita morte patris Pipini, in Gallias est reuersus ducens secum Galienam filiam regis Galafri, quam adfidem Christi conuersam duxisse dicitur in uxorem. Fama est estiam apud Burdegalam ei palacia construxisse. (Es wird nämlich erzahlt, daß er [Karl] in seiner Jugend von König Pipin aus Gallien verbannt wurde, weil er der Rechtssprechung seines Vaters nicht gehorcht hatte. Als er von der Bosheit seines Vaters erfuhr, ging er wütend nach Toledo, und als es zwischen König Galafre von Toledo und Marsil von Zaragoza zu Auseinandersetzungen kam, fiihrte er im Heer des Königs von Toledo einige Schlachten aus, wonach er, als er vom Tod seines Vaters hörte, nach Gallien zurückkehrte und Galiana, die Tochter König Galafres, mit sich führte, welche er, wie man sagt, nachdem sie sich zum christlichen Glauben bekehrt hatte, zur Ehefrau machte. Auch ist bekannt, daß er ihr in Bordeaux einen Palast bauen ließ.)

Diese knappe Zusammenfassung der Handlung ermöglicht kaum Einblicke in die im 13. Jahrhundert in Spanien umlaufende Geschichte. Sie zeigt aber zwei Eigenheiten gegenüber anderen, vor allem französischen Fassungen: zum einen ist Galafres Gegner nicht Bramante, sondern Marsil; zum anderen wird gesagt, Karl sei aus Frankreich verbannt worden, weil er sich gegen seinen Vater aufgelehnt habe.55 Beides dürften Neuerungen Rodrigos sein; dem so vehement antifränkischen Bischof ist die Änderung der Motivation von Karls Aufenthalt in Spanien zu55

Jacques Horrent: Les versions françaises et étrangères des Enfances de Charlemagne. Brüssel 1979 (Acad. Royale de Belgique. Mémoires de la Classe des Lettres LXIV,1/1979).

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zutrauen. Rodrigos Bericht übernimmt dann Juan Gil de Zamora wörtlich; er fügt lediglich hinzu, in der Legende des Hl. Nikolaus von Ledesma sei zu lesen, daß Galiana die Tochter Galafres mit der ehemaligen Frau des Grafen Julián von Toledo gewesen sei (S. 120).56 Gil de Zamora verbindet damit die Sage vom letzten Westgotenkönig mit der „Mainet"-Geschichte, was aber keinerlei Nachwirkungen hatte. Die erste ausführliche Nacherzählung der „Mainet"-Geschichte steht in der „Estoria de España". Zu den Jahren 763 und 764 (Kap. 597-599) wird dort berichtet, Karl, genannt Maynet, habe sich gegen seines Vaters Rechtsprechung aufgelehnt und sei aus Angst, er könne darüber böse werden, nach Toledo gezogen, doch eigentlich sei es ihm um seine Liebe für Galiana gegangen. Galafre nimmt die Fremden freundlich auf, und schon wenig später kommt es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Bramant, der Galiana zur Frau haben will. Die Franzosen ziehen mit den Mauren aus, doch Karl bleibt - es wird nicht erklärt, warum - schlafend im Palast zurück. Während draußen die Schlacht tobt und die Franzosen hart in Bedrängnis geraten, wacht Karl auf und glaubt sich von seinen Leuten verlassen. Galiana aber, die ihn hört, weiht ihn ein und bietet ihm die besten Waffen, das beste Roß, sowie das Schwert Joyeuse an, falls er sie mit sich nach Frankreich nehmen und zu seiner Ehefrau machen wolle. Karl verspricht es gerne, zieht auf das Schlachtfeld, kämpft gegen Bramant, der sich mit seinem Schwert Durendart zur Wehr setzt, besiegt und tötet ihn und verhilft so Galafre zum Sieg. Einige Zeit später stirbt Karls Vater Pipin, und er beschließt zurückzukehren, um das Reich zu übernehmen, wird aber davor gewarnt, daß Galafre nicht bereit sei, das zuzulassen. Also wird ein Jagdausflug vorgetäuscht und die Flucht gelingt, weil die Franken ihre Pferde zuvor mit verkehrt herum angebrachten Hufeisen beschlagen hatten. Kurz darauf nimmt der maurische Höfling Morant, wie er mit Karl verabredet hatte, Galiana mit sich und zieht mit ihr den Franken nach. Zwar wird er von den Leuten des Vaters verfolgt und muß auch gegen sie kämpfen, doch es gelingt ihm, die Frau bis Paris zu bringen, wo sie vom Kaiser empfangen, getauft und geehelicht wird. So, wie sie hier dargestellt wird, handelt es sich um eine Brautwerbungsgeschichte mit allen konstitutiven Elementen.57 Da ist die ferne Prinzessin, der Wer56

Die „Passio Sancti Nicolai, Alchamae regis filii" wurde von Gil de Zamora selbst für seinen „Liber Illustrium Personarum" [Anm. 46] geschrieben. Sie erzählt, die Ehefrau des Grafen Julián sei bei dessen Abwesenheit von Rodrigo, dem letzten Westgotenkönig, vergewaltigt worden; der Graf rächt sich nun, indem er daraufhin die Araber zur Invasion aufruft. Von der Ehefrau des Grafen heißt es: Ipsa etfiiitpostmodum uxor regis Gallafrae et mater Galianae, quae postmodum, ut vulgariter dicitur, regis Karoli uxor fuit\ zit. nach Acta Sanctorum Octobris. Bd. 13. Paris 1883, S. 850; aus einer anderen Hs. stammt der Text, den Ramón Menéndez Pidal: Reliquias de la poesía épica española. Madrid 1951, S. 16f., abdruckt.

57

Vgl. die klassische Untersuchung von Theodor Frings, Max Braun: Brautwerbung. Leipzig 1947 (Berichte über die Verhandlungen der Sächs. Akad. der Wiss., Philol.-hist. Kl. 96/2, 1944/48); neuere Forschung Peter Strohschneider: Einfache Regeln - komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum .Nibelungenlied'. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Harms, Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1997, S. 43-75.

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ber, der in den Dienst des Brautvaters tritt, das geheime Gespräch zwischen den Geliebten, die Heldentaten des Werbers, die ihn als den Besten auszeichnen, die besonderen Waffen und das besondere Pferd, die Fluchtvorkehrungen, der Werbungshelfer, die Verfolgung durch den Brautvater und die siegreiche Heimkehr. Spezifisch ist hier die Variante, daß der Held zuerst flieht und die Frau später vom Helfer Morant nach Frankreich gebracht wird. Die beiden sich gegenseitig ausschließenden Gründe für die Fahrt nach Toledo - Karls Auseinandersetzung mit dem König (nach Rodrigo Jiménez de Rada) und die Suche nach der Frau könnten darauf zurückzuführen sein, daß der Held ursprünglich der Frau wegen an Galafres Hof kam, doch ihm gegenüber den Vorwand der Verbannung nannte.58 Auch im „Roncesvalles"-Fragment spricht Karl von seinem Aufenthalt in Spanien und nennt als Grund dafür die Brautwerbung, die im feudaladeligen Bewußtsein ja auch den Erwerb eines Machtbereichs bedeutet. Quando fuy mançebo de la primera edade, quis andar ganar precio de Françia, de mi tera natural, fuime a Toledo a servir al rey Gala/re, que ganase a Durandarte large. Ganéla de moros quando maté a Braymante; [•••]

Sallíme de Françia a teras estraynas morare, por conquerir provencia e demandar linaje; acabé a Galiana, a la muger leale. (54-66) (Als ich in meiner ersten Jungend war,/ wollte ich mich um Frankreich, mein Land, verdient machen/ und ging nach Toledo, König Galafre zu dienen,/ um das lange Schwert Durandarte zu erobern./ Ich gewann es den Mauren ab, als ich Braymante tötete/ [...]/ Ich verließ Frankreich und ging in fremde Länder,/ um Länder zu erobern und adelige Verwandte zu erlangen;/ ich eroberte Galiana, die treue Frau).

Wann und wo diese Geschichte von Karls Jugendabenteuern entstand, ist nicht bekannt. Ramón Menéndez Pidal vertrat einen spanischen, genau gesagt toledanischen Ursprung der Sage, doch die Forschung ist demgegenüber wohl mit Recht skeptisch geblieben; 59 jedenfalls aber darf man aufgrund von Menéndez Pidais Hinweisen von einer recht frühen und lebhaften Rezeption der Sage in Toledo 58

59

Das könnte auch erklären, wie Rodrigo auf die Verbannung als Erklärung kam. Das Motiv des falschen Vorwands ist u. a. im mittelhochdeutschen „König Rother" sehr deutlich ausgeführt; vgl. König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein. Hg. von Ingrid Bennewitz u. a. Stuttgart 2000 (RUB 18047). Ramón Menéndez Pidal: ,Galiene la belle' y los palacios de Galiana en Toledo. In: Poesía árabe y poesía europea. Madrid. 51963, S. 79-106. Menéndez Pidal belegt mehrfach den Frauennamen Galiana zu Beginn des 13. Jahrhunderts, einen Galiana-Weg (senda Galliana) in Toledo, einen Galiana-Palast daselbst, u. a. Für ihn liegt der historische Kern der Sage im toledanische Exil König Alfonsos VI. und in seiner späteren Ehe mit der arabischen Prinzessin Zaida. Die These hatte bereits Marcelino Menéndez y Pelayo: Orígenes de la novela. Bd. I. Santander 1943 (Obras completas 13), S. 212f., vertreten, der sie von Puymaigre: Vieux Auteurs castillans. Bd. I. Paris 1861, S. 441, übernommen hatte. Kritisch dann Jacques Horrent: .Mainet' est-il né à Tolède? In: Le Moyen Âge 74 (1968), S. 439-458.

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sprechen. Daß schon früh auch auf der Iberischen Halbinsel mündliche Traditionen im Umlauf waren, ist sehr wahrscheinlich. Doch im Kontext der Alfonsinischen Werkstatt, die so viele verschiedene lateinische und volkssprachliche Texte zusammentrug, ist es durchaus auch denkbar, daß eine (französische?) schriftlich fixierte Fassung die Grundlage für die Zusammenfassung in der „Estoria" bot oder auf sie einwirkte. Allerdings besitzt der Bericht Eigenheiten, die ihn deutlich von französischen Fassungen unterscheiden und die auf eine gründliche Überarbeitung schließen lassen. Daß an den Höfen Alfonsos X. und Sanchos IV. die Geschichte von Karls Aufenthalt in Toledo über längere Zeit hinweg und unter verschiedenen Perspektiven Interesse fand, belegt gleichfalls die „Gran conquista de Ultramar", eine umfangreiche Sammlung von Erzählungen, die um die ersten Kreuzzüge und die Einnahme Jerusalems kreisen.60 Hier ist die Geschichte von Mainet mit der seiner Mutter Berta eng verwoben. Berta, die Ehefrau Pipins und Tochter der spanischen Könige Flores und Biancaflor, wird von einer ihr ähnlich sehenden Magd aus dem königlichen Bett verdrängt, als Verräterin verleumdet und soll im Wald hingerichtet werden, wird aber nicht getötet, sondern von einem Förster als Tochter aufgenommen. Als der König einmal bei diesem Förster einkehrt, schläft er mit der Frau und schwängert sie. Einige Zeit später wird der Verrat durch Bertas Mutter aufgedeckt, die richtige Berta gefunden und restituiert und ihr inzwischen sechs Jahre alter Sohn Karl als Thronfolger eingesetzt. Doch die bereits zu mächtigen Fürsten herangewachsenen Bastardsöhne bedrohen und erniedrigen den Jungen, der sich mit seinen beiden Erziehern und einer kleinen Schar zur Wehr setzt, schließlich aber fliehen muß und in sein Erbland Spanien zieht, das jedoch inzwischen von Mauren erobert wurde. Ab hier ist die Erzählung in den Grundzügen ähnlich wie in der „Estoria".61 Eindeutig verlegt die „Gran conquista" den Akzent der Erzählung auf die Konstituierung eines lignage und auf dessen Wahrung.62 Durch die Substitution der

60

Überliefert in 4 Hss., die nur Teile der vollständigen Sammlung wiedergeben, was deren Bestimmung erschwert; vollständig nur in einem Druck von 1503, auf dem die einzige Edition gründet: La gran conquista de Ultramar, hg. von Louis Cooper. 4 Bde. Bogotá 1979. Vgl. zu den textuellen Problemen Gómez Redondo [Anm. 40], S. 1029-1043, mit weiterer Literatur. Die Textbasis dieser Sammlung ist die „ H i s t o r i a rerum in partibus transmarinis" des Wilhelm von Tyrus, sowie die Erweiterungen derselben durch Ernoul und Bernard le Trésorier; die „Gran conquista" baut aber auch Prosafassungen der französischen Epen „Hélias", „Les Enfances Godefroi de Bouillon", „La Chanson d'Antioche", „Li Caitif und „La Conquête de Jerusalem" ein, sowie die Mainet- und die Berta-Geschichten. Wurden die Materialien, die in die „Estoria de España" einflössen, dem historiographischen Ziel angepaßt, so geht die Bearbeitungstendenz der „Gran conquista de Ultramar" stark ins Literarische. Vgl. Cristina González: La tercera crónica de Alfonso X: ,La gran conquista de Ultramar'. London 1992.

61

Beide Werke benutzten wohl ähnliche oder gar dieselben Quellenmaterialien. Vgl. auch Agapito Rey: Las leyendas del ciclo carolingio en la ,Gran conquista de Ultramar'. In: Romance Philology 3 (1949-50), S. 172-181.

62

Es ist zu bedenken, daß der Karlsgeschichte in der „Gran conquista" eine ausfiihrliche Er-

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rechtmäßigen Königin wird die natürliche Erbschaftsfolge in Frage gestellt; es genügt dem rechtmäßigen Erben jedoch nicht, daß der Verrat aufgedeckt wird, sondern er muß nun seine Legitimation der Herrschaft unter Beweis stellen. Das ist mit Sicherheit der Grund, weshalb auf das Anwachsen der Schar während Karls Exil so genau geachtet wird.63 Andererseits kann die Frau trotz ihres Einverständnisses nicht einfach entfuhrt werden, sondern der Held muß, während er noch in Toledo weilt, seine Abhängigkeit von ihr erkennen, wie auch sie nach seiner Flucht ganz davon abhängig ist, daß er sein Wort wahrt und sie holen läßt. Jetzt kann Karl mit seiner nun mächtigen Schar und seinen ihm treuen Fürsten zuerst sein Land zurückgewinnen und dann die Frau holen, die die weitere Erbschaftsfolge garantieren soll. Die Mainet-Geschichte der „Gran conquista de Ultramar" zeigt, wie im Umfeld des kastilischen Hofes unter Alfonso X. und Sancho IV. neben einem pointiert historiographischen Interesse zum ersten Mal in der spanischen Literatur nun auch fiktionale Erzählungen gezielt zur Darstellung adeliger Identifikation, ritterlichen Selbstverständnisses und von Modellen personaler Beziehungen genutzt werden.64 Wie wirksam diese neue Tendenz war, verdeutlicht das Beispiel der „Crónica Fragmentaria", eine vornehmlich durch die Handschrift Xx vertretene Fassung der „Estoria". Sie übernimmt die Berta- und Mainet-Geschichten aus der „Gran conquista" und erweitert sie noch durch die ausführliche Erzählung von Flores und Biancaflor, den Eltern Bertas.65 Auf diese Weise verwandelte sich das große historiographische Projekt Alfonsos und seines Umfelds allmählich in ein Quellenrepertoire, aus dem sich auch die ersten kastilischen Ritterromane entwickelten. Die Figur Karls des Großen, deren politische Dimension in den Erzählungen von den Spanienfeldzügen ideologisch belastet und dadurch Ziel bitterer Polemik war, findet in den Erzählungen seines lignage wichtige Anknüpfungspunkte für die fiktionale Darstellung von Themen und Problemen, mit denen sich das adelige Publikum Kastiliens zu Beginn des 14. Jahrhunderts identifizieren konnte. So wurde diese Geschichte in längerer oder kürze-

zählung vom Schwanritter vorausgeht, in der dieselben Themen dominieren. Vgl. Gómez Redondo [Anm. 40], S. 1043-1092. 63

Unerklärt bleibt hingegen die Arabisierung der Eigennamen in diesem Text: Galiana heißt hier Halia, Galafre heißt Haxen, der arabische Widersacher Abrahin.

64

Was aber eher nicht auf Alfonso X. zurückzufuhren ist. Vgl. Inés Fernández-Ordóñez: El tema épico-legendario de,Carlos Mainete' y la transformación de la historiografía medieval hispánica entre los siglos XIII y XIV. In: L'histoire et les nouveaux publics dans l'Europe médiévale (XIIF-XV* siècles), hg. von Jean-Philippe Genet. Paris 1997, S. 89-112; vgl. auch Gómez Redondo [Anm. 40].

65

Vgl. die Ausgabe in José Gómez Pérez: Leyendas medievales españolas del ciclo carolingio. In: Anuario de filología (Univ. de Zulia/Maracaibo) 2-3 (1963-64), S. 7-136, hier S. 35-94; sie ist allerding unzuverlässig; vgl. Peter Grieve: .Flores y Biancaflor'. Hispanic Transformations of a Romance Theme. In: La Coránica 15 (1986), S. 67-71. Den Berta-und Mainet-Text der Hs. U der „Gran conquista de Ultramar", der von der Gesamtausgabe ein wenig abweicht, hat ebenfalls herausgegeben José Gómez Pérez: Leyendas carolingias en España. In: Anuario de filología (Univ. de Zulia/Maracaibo) 4 (1965), S. 121-193, hier S. 149-188.

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rer Fassung, aber ohne grundlegende Veränderungen im Sinnangebot, bis zum Ende des 15. Jahrhunderts mehrfach neu erzählt. Zum Beispiel durch Lope Garcia de Salazar in seinem „Libro de bienandanzas y fortunas", der deutlich kürzt und die abrupten Wechsel von Glück und Unglück hervorhebt, aber am thematischen Komplex von Adel und Dynastie keine Abstriche macht;66 sowie in zwei unterschiedlichen „Sumarios de historia de Espafia" aus dem 15. Jahrhundert.67 Im Kontext dynastischer Überlegungen und adeliger Selbstidentifikation entstand auch noch ein letzter hier zu erwähnender Text, das „Cuento del enperador Carlos Maynes de Roma e de la buena enperatris Seuilla su muger". Die Erzählung ist in einer Sammelhandschrift höfischer und hagiographischer Geschichten überliefert, die im frühen 14. Jahrhundert im Umfeld des kastilischen Hofes entstand, und erschien im 16. Jahrhundert einige Male im Druck.68 Es handelt sich um eine Prosafassung einer nur bruchstückhaft erhaltenen altfranzösischen Chanson de geste, die das Thema der schon bei Einhart (Kap. 18) erwähnten verstoßenen ersten Frau des Kaisers zu einer romanhaften Erzählung ausbaut.69 Die Geschichte erzählt von der Verleumdung Sibilles, der Frau Karls des Großen, und ihrer Verstoßung und Aussetzung im Wald trotz hoher Schwangerschaft; dort nimmt sie ein armer Holzfäller auf, begleitet sie ins Exil, wo sie einen Sohn zur Welt bringt, der durch ein Mal als hoher König ausgezeichnet wird. Schließlich gelangen sie nach Konstantinopel, zu Sibilles Vater, von wo sich ein riesiges Heer nach Frankreich aufmacht, begleitet vom oströmischen Kaiser, vom Papst, von Sibille und von ihrem Sohn Loys. Nach einigen Spannungen gelingt es, Kaiser Karl dazu zu bewegen, seine Frau wieder aufzunehmen und seinen Sohn zum Thronfolger zu erklären. Auch hier geht es also um Fragen des lignage, die thematische Parallele zu den Geschichten von Berta und Isonberta (Schwanritter66

Vgl. [Anm. 48], Buch IX, S. 153-159. Vgl. Harvey L. Sharrer: The Spanish Prosifications of the Mocedades de Carlomagno. In: Hispanic Medieval Studies in Honor of Samuel G. Armistead, hg. von E. Michael Gerii, Harvey L. Sharrer. Madison 1992, S. 273-282.

67

Vgl. Gómez Pérez: Leyendas carolingias [Anm. 65], S. 188-193. Die „Mainet"-Geschichte findet sich nicht unter den spanischen .romances' des 16. Jahrhunderts; sie ist lediglich in einigen wenigen Balladen aus Gemeinden sefardischer Juden überliefert; vgl. Samuel G. Armistead u. a.: El romancero judeo-espaflol en el Archivo Menéndez Pidal. Catálogoíndice de romances y canciones. Madrid 1978, Bd. I, S. 100 f., Nr. B 1 (3 Versionen); sowie Deyermond [Anm. 4], S. 113-117. In ihnen steht wieder die Brautwerbung im Zentrum, die den Kern der Sage ausmacht.

68

Text bei Nieves Baranda [Anm. 26], Bd. I, S. 419-496, nach Drucken des 16. Jahrhunderts. Nach der Hs. h-i-13 der Bibliothek im Escorial (Madrid): Der Roman von der Königin Sibille in drei Prosafassungen des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von Hermann Tiemann. Hamburg 1977 (Veröffentlichungen aus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 10). Aus dem 16. Jahrhundert sind insgesamt vier Drucke bekannt. Palau y Dulcet [Anm. 26], Bd. 20, Barcelona 1968, s. u. ,Sebilla'.

69

Die spanische Fassung zeigt deutliche Nähe zu den altfranzösischen Fragmenten, denen sie - soweit sich heute noch beurteilen läßt - zu folgen scheint. Die Annahme eines verlorenen cantar de gesta (vgl. José Ignacio Chicoy-Dabán: Un .cantar de gesta' castillan aujourd'hui perdu sur le thème de la reine Sebile. In: Charlemagne et l'épopée romane [Anm. 2], Bd. 1, S. 251-259) scheint mir nicht notwendig.

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komplex) in der „Gran conquista" ist nicht zu übersehen; nicht zufallig entstanden die Geschichten im gleichen literatursoziologischen Umfeld.70 Allerdings zieht das „Cuento de Carlos Maynes" neben den epischen auch folkloristische und hagiographische Motive heran und legt einen viel stärkeren Akzent auf das exemplarische Moment der Geschichte: die Treue als zentrales Element der Adels- und Machtkonstitution, die Allgegenwärtigkeit der Untreuen und Verräter, die die Schwächung der königlichen Familien anstreben (das Böse residiert, anders als im Ritterroman üblich, innerhalb des Hofes), und - im Kontrast dazu - das Erscheinen eines rächenden Erlöser-Helden (Loys), dessen Geburtszeichen und Reinheit auf göttliche Vorsehung weisen, in deutlicher Annäherung an Galaad oder Esplandiän, seine entfernten Ebenbilder. Es ist wohl trotz der schwankenden mittelalterlichen Terminologie kein Zufall, daß diese Geschichte im Gegensatz zu anderen nicht estoria, sondern cuento genannt wird.71

70

71

Vgl. Fernando Gómez Redondo: Historia de la prosa medieval castellana. II: El desarrollo de los géneros. La ficción caballeresca y el orden religioso. Madrid 1999, S. 1605-1617; Thomas D. Spaccarelli: The symbolic substructure of the ,Noble cuento del enperador Carlos Maynes'. In: Hispanófila 89 (1987), S. 1-19; Reinhold Köhler: Zu der altspanischen Erzählung von Karl dem Großen und seiner Gemahlin Sibille. In: ders.: Kleinere Schriften zur erzählenden Dichtung des Mittelalters. 2 Bde., hg. von Johannes Bolte. Berlin 1900, Bd. 2, S. 273-304. Erst nach der Fahnenkorrektur wurde mir bekannt: Ludwig Vones: Zwischen Roncesvalles, Santiago und Saint-Denis. Karlsideologie in Spanien und Frankreich bis zum Ausgang des Mittelalters. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 104/105 (2002/2003), S. 577635.

Hans van Dijk

„Ende hi was de aldercloecste ende besochste ridder": Das Bild Karls des Großen in den Niederlanden

Van coninc Kareis leven ende doecht Item dese voirscreven koninc Kaerle leefde int jaer ons heren Vif ende VI. Ende hi ontfinc sijne coninclike crone tot Avinioen. Ende nae dat hi XXXIII jaer die crone van Vranckerijc gheregeert hadde, so was hi die ierste der coninghen van Vranckerijc die keyser van Romen werdt. Daer hi regneerde XIII jaer. Men hiet hem oeck Karel die Grote om grootheyt der deuchden die God doer hem wrochte. In sinen tijden leefden Tulpinus, aertschbisschop te Riemen, die vrome Roelant, die stoute Ogier ende de schone Olivier, van welcken heren grote ende schone historien bescreven sijn. Karolus was schoone van lichame mer wreet van ghesichte. Die lancheit sijns lichaems was VIII sijnre voeten lanck, die seer lanc waren. In sijn nederlijf was hij seer breet ende sinen buyc was bequaeme. Hij was grof van armen ende beerten. Ende hi was de aldercloecste ende besochste ridder ende die alderstercste in harnas ende in wapenen. Sijn aensicht was lanc een palme ende een halve. Sinen baert was lanc eenen voet. Sijn nase was lanc een halve voet. Sijn voerhoeft was lanc eenen voet. Sijn oghen als der leeuwen voncken, soe wien hi met opgeslaghen oghen aensach, die wert terstont seer vervaert. Hi was oec seer milde in gaven, rechtverdich in sijn ordeel ende verstandet in sijn woerden. Ende in sijnen tiden hadden die heydenen die heylighe Stadt van Jherusalem in ghewonnen ende den patriarcke verdreven. Doen screef die patriarch aen Constantijn, den keyser van Constantinopolen, dat hi hem te hulpe comen wilde. Als Constantijn den brief ghelesen hadde, was hi beducht dat hi hem niet weder en soude moghen bringhen int Heilighe Lant overmits groote macht der heydenen. Soe dochte hi in hem selven dat hij scriven woude aen Karel, den coninc van Vrancrijc, om hem te hulp te comen, twelc coninc Karel terstont dede. Ende reysde mit groot volc totten keysere ende verdreef die heydenen. Oeck was hi die ghene die Galissien wan ende bekeerde totten kersten gheloeve. Ende hi regneerde XL VIIjaer. Ende hi steif salichlic ende hi leyt begraven tot Aken in onzer vrouwen kercke. (Von König Karls Leben und seiner Tugendhaftigkeit./ Dieser König Karl, von dem die vorangehende Geschichte handelt, wurde im Jahre des Herrn 706 geboren. Und er wurde in Avignon zum König gekrönt. Und als er 33 Jahre über Frankreich geherrscht hatte, war er der erste der Könige von Frankreich, der Kaiser von Rom wurde. Dort regierte er 13 Jahre. Man nannte ihn auch Karl den Großen wegen der Größe der Taten, die Gott durch ihn verrichtete. Zu seiner Zeit lebten Tulpinus, Erzbischof von Reims, der tapfere Roland, der kühne Ogier sowie der hübsche Olivier, über die lange und schöne Geschichten verfaßt wurden./ Karl hatte eine schöne Gestalt und einen gestrengen Gesichtsausdruck. Seine Körpergröße betrug acht Mal die seiner Füße, die sehr groß waren. Der untere Teil seines Körpers war sehr breit und sein Bauch war entsprechend. Er hatte kräftige Arme und Beine. Und er war der allertapferste und erprobteste Ritter und der allerstärkste in Harnisch und Waffen. Sein Gesicht maß anderthalb Mal seine Hand. Sein Bart war einen Fuß lang. Seine Nase war einen halben Fuß lang. Seine Stirn maß einen Fuß. Seine Augen funkelten wie die eines Löwen, so daß deijenige, dem er offen in die Augen schaute, sich sofort sehr fürchtete. Er war auch sehr freigebig, in seinem Urteil gerecht und klug in seinen Worten./ Und zu seiner Zeit hatten die Heiden die heilige Stadt Jerusalem erobert und den Patriarchen vertrieben. Da schrieb der Patriarch an Konstantin, den Kaiser Konstantinopels, und bat ihn um Hilfe. Als Konstantin

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den Brief gelesen hatte, befürchtete dieser, daß er wegen der großen Macht der Heiden den Patriarchen im Heiligen Land nicht wieder zu Ehren bringen könne. Deshalb dachte er bei sich, daß er Karl, dem König von Frankreich, schreiben und ihn bitten wolle, ihm zu helfen, was König Karl auch sofort tat. Und der fuhr mit einem gewaltigen Heer zum Kaiser und vertrieb die Heiden. Auch war er deijenige, der Galizien eroberte und zum christlichen Glauben bekehrte./ Und er regierte 47 Jahre. Und er starb selig im Herrn und liegt in Aachen in der Marienkirche begraben.)

Diese kurze Vita Karls des Großen findet sich am Schluß des mittelniederländischen Romans von „Karel ende Elegast", der gegen Ende des 15. Jahrhunderts zu Antwerpen im Druck erschien.1 Zunächst werden in ihr abrißartig einige biographische Daten genannt: Karls Geburtsjahr (im Druck 706 statt 748!), seine Krönung zum König (nach dem Druck in Avignon, statt in Noyon), seine Krönung zum Kaiser, die Erklärung seines Beinamens und die Nennung einiger Zeitgenossen, die aus der literarischen Tradition bekannt sind. Es folgt die berühmte Beschreibung von Karls Äußerem, die über verschiedene Zwischenstufen auf Einharts „Vita Karoli" zurückzufuhren ist.2 Danach werden die beiden Kriege gegen die Heiden im Heiligen Land und in Galizien erwähnt und schließlich Karls Tod.3 Man bekommt den Eindruck, daß der Drucker mit dieser kurzen Vita die phantastische Geschichte von König Karl, der mit Elegast zum Stehlen ausreitet, in einen umfassenderen Kontext einbinden wollte. Er räumt jeden Zweifel beiseite, daß sein Buch von einem anderen als von jenem Karl dem Großen handele, der aus Romanen, Geschichtsschreibung und Heiligenlegenden bekannt war. Der Drucker rekurriert also auf ein dreischichtiges Bild des großen Kaisers, das im folgenden Beitrag für die mittelniederländische Literatur ausgearbeitet werden soll.4 1. „Grote ende schone historien": Karl der Große in der mittelniederländischen Epik Einleitung In der biographischen Skizze werden vier epische Zeitgenossen Karls des Großen genannt: Turpin, Roland, Ogier und Olivier, van -welchen heren grote ende scho1

2 3

4

„Karel ende Elegast" wurde im 15. und 16. Jahrhundert wiederholt gedruckt. Die biographische Skizze ist in kritischer Edition nach der ältesten Fassung, dem Druck B, wiedergegeben (Een schone ende ghenuechlike historie van den groten koninck karel ende den ridder Elegast. Antwerpen, Govaert Bac, 1493 bis nach 1500): Karel ende Elegast Diplomatische uitgave van de Middelnederlandse teksten en de tekst uit de Karlmeinet-compilatie bezorgd door Anton M. Duinhoven. 2 Bde. Zwolle 1969, hier Bd. 2, S. 60. Einhart: Vita Karoli Magni (MGH SS rer. Germ. [25]), Cap. 22. Diese biographische Skizze geht wahrscheinlich zurück auf die „Legende van groten Kaerle" in: Jacobus de Voragine, Het passionael. Delft, Heynrich Eckert van Homberch, 1499. F.201V,a,38-F.204V,b,15. Vor allem die gemeinsamen Fehler in Jahreszahl und Ort der Königskrönung sind starke Indizien für diese Annahme. Für die fast unüberschaubare Literatur über das Bild Karls des Großen vgl. auch die anderen Beiträge in diesem Band samt der dort angegebenen Titel.

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ne Historien bescreven sijn. Hiermit wird auf die sogenannten Karlsromane verwiesen, die mittelniederländischen Adaptationen der französischen Chansons de geste.5 Jene nicht genuin niederländische Epik hat das Bild Karls des Großen in den Niederlanden zweifellos in hohem Maße geprägt. Die ersten Spuren mittelniederländischer Karlsromane stammen aus der Zeit um 1200. Es ist zwar anzunehmen, daß es schon vor dieser Zeit Erzählungen vom großen Kaiser gab; kam seine Verwandtschaft nicht aus den benachbarten Ardennen, war seine Grabstätte nicht in Aachen? Doch diese uralten Geschichten gehörten zur mündlichen Dichtung, von der nun einmal keine greifbaren Belege mehr existieren. Die ältesten erhaltenen Zeugen sind deshalb die achtzehn Fragmente einer Handschrift, die um 1220/1240 in Limburg geschrieben wurde. Sie überliefert rund 800 Verse einer Übersetzung des altfranzösischen „Aiol".6 Da es sich um eine Abschrift mit typischen Kopistenfehlern handelt, wird man den ursprünglichen limburgischen „Aiol" um 1200 datieren dürfen. Aus derselben frühen Zeit stammen womöglich auch das „Roelantslied", der „Renout van Montalbaen", „Willem van (Dringen" und der „Floovent". Später gesellen sich hierzu noch etwa zwanzig weitere Romane.7 Obwohl die Anzahl der französischen Chansons de geste damit bei weitem nicht erreicht wird, müssen die Karlsromane doch einen wichtigen Bestandteil der mittelniederländischen Dichtung ausgemacht haben. Von diesem Reichtum ist leider nicht mehr viel übriggeblieben. Bis auf den in Drucken auf uns gekommenen „Karel ende Elegast" sind sämtliche Texte fragmentarisch überliefert. Was einmal ein mächtiges Genre ansehnlicher Karlsromane gewesen sein muß, ist heute zusammengeschrumpft auf einen ärmlichen Rest von Pergamentstreifen und einigen Papierblättern. Der fragmentarische Zustand der Überlieferung dominiert in gewisser Hinsicht zugleich die Erforschung dieser Karlsromane. Denn auch wenn die Texte selbst nicht mehr existieren, hat man doch in den meisten Fällen eine - bald mehr, bald

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Möglicherweise wird hier auf den ersten, nicht überlieferten Druck von „Den droefliken strijt van Roncevale" angespielt, in dem die vier Figuren alle begegnen. Weil jedoch der Hinweis im Plural steht, historien, ist nicht auszuschließen, daß es sich um einen mehr abstrakten Verweis auf Karlsromane im allgemeinen handelt; vgl. Hans van Dijk: Het Roelantslied. Studie over de Middelnederlandse vertaling van het Chanson de Roland, gevolgd door een diplomatische uitgave van de overgeleverde teksten. 2 Bde. Utrecht 1981, Bd. 1, S. 44-99.

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Corpus van Middelnederlandse teksten (tot en met het jaar 1300). 15 Bde, hg. von Maurits Gysseling. 's-Gravenhage 1980, hier Reihe II, Bd. I, S. 311-332.

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Die Abgrenzung des Corpus ist problematisch. Ich richte mich nach Bart Besamusca: Repertorium van de Middelnederlandse Karelepiek. Utrecht 1983. Er nennt 18 Versromane und einige nichtidentifizierte Fragmente, von denen eines mittlerweile erkannt wurde als Fragment einer Übersetzung der „Chanson d'Aspremont". Vgl. H. Kienhorst, H. Mulder: Middelnederlandse fragmenten van D. A. Stracke in de bibliotheek van het Ruusbroecgenootschap te Antwerpen. In: Spiegel der letteren 35 (1993). S. 67-74. Reiche Informationen zu einzelnen Werken, auch zu deren niederländischen Bearbeitungen in Willem P. Genitsen, Anton G. van Melle: Van Aiol tot de Zwaanridder. Personages uit de middeleeuwse verhaalkunst en hun voortleven in literatuur, theater en beeidende kunst Nijmegen 1993. (Übersetzt als: A Dictionary of Medieval Heroes. Woodbridge 1998.)

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weniger spekulative - Rekonstruktion versucht. Sie wird ermöglicht durch einen Vergleich der mittelniederländischen Fragmente mit vollständigen Fassungen der jeweiligen Geschichte, etwa mit einer späteren Prosabearbeitung (so im Fall des „Renout"), mit französischen Pendants der ursprünglichen Erzählung („Roelantslied", „Renout", „Aiol" usw.) oder mit Übertragungen (ins Deutsche) der verloren gegangenen niederländischen Romane („Madelgijs", „Renout", „Ogier"). Es zeigt sich, wie glatt das Parkett ist, auf das ein mit mittelniederländischer Karlsepik befaßter Literaturwissenschaftler sich begibt. Daraus erklärt sich auch, weshalb zahlreiche grundlegende Fragen (Wann und wo sind diese Texte entstanden? Für wen wurden sie geschrieben?) noch immer keine oder nur eine sehr mangelhafte Antwort gefunden haben. Gesicherte Fakten für eine Datierung gibt es kaum. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf Jacob van Maerlant verwiesen, der um 1285 in seinem „Spiegel historiael" einen Hinweis auf den Karl-Stoff liefert, speziell auf „Fierabras", „Renout van Montalbaen", „Van den bere Wisselau", „Willem van Olingen", „Roelantslied" und „Ogier".8 Falls Maerlant sich hier auf mittelniederländische Texte bezieht, was sehr wahrscheinlich ist, bietet diese Passage einen terminus ante quem für die genannten Werke. Den beachtenswerten Versuch einer genaueren Datierung unternahm der Sprachwissenschaftler E. van den Berg, indem er versuchte, aus dem paargereimten Versbau der mittelniederländischen Epik Datierungskriterien zu gewinnen.9 Dabei ging er davon aus, daß das Verhältnis zwischen Verszeile und Satz in der Reimdichtung allmählich komplexer geworden sei. In den ältesten Texten seien Reimpaar und Satz meistens dekkungsgleich gewesen (Roelant doen wel bekinde/ dat het naecte sine inde). Später, zu Anfang des 13. Jahrhunderts, verliefen Satz- und Versende zwar weiterhin meistens noch parallel, jedoch umfaßte ein Satz häufig zwei Verse, die sich nicht reimen (Ayoel dede af sine ghegaren/ Coucen, halsberch ende swaert). Noch später, etwa von 1250 an, wurde der Versrhythmus dynamischer und die Sätze häufig länger als ein Verspaar, wobei Satzende und Versende nicht immer parallel verliefen (Dil was op enen jaers avont,/ Dat die coninc namecont/ In dit vergier hier was comeri). Diese Entwicklung des 13. Jahrhunderts, die offenbar mit dem Übergang von mündlichem Vortrag zur Individuallektüre zusammenhängt, könne, mit äußerster Vorsicht, ein Indiz für das Alter eines epischen Textes darstellen. Für die meisten Karlsromane würde das bedeuten, daß sie während des 13. Jahrhunderts entstanden wären, einige früher - wie die obengenannten fünf Werke, die noch aus dem späten 12. Jahrhundert stammen könnten - , andere 8

Jacob van Maerlant: Spiegel historiael, hg. von Matthias de Vries, Eelco Verwijs. 3 Bde. Leiden 1859-1863, hier Bd. 3, S. 204-205 (Teil IV, Buch 1, Kap. 29).

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Evert van den Berg: Middelnederlandse versbouw en syntaxis. Ontwikkelingen in de versifikatie van verhalende poezie ca.1200-ca.1400. Utrecht 1983. Insbesondere die Karlsepik berücksichtigend: Evert van den Berg: De Karelepiek. Van voorgedragen naar individueel gelezen literatuur. In: Tussentijds. Bündel studies aangeboden aan W. P. Gerritsen ter gelegenheid van zijn vijftigste veijaardag onder redactie van Alphonsus M. J. van Buuren u. a. Utrecht 1985, S. 9-24.

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später.10 Die einzige Ausnahme scheint „Huge van Bordeeus" zu sein, der erst im 14. Jahrhundert entstand.11 Für die Lokalisierung bleibt man ebenfalls auf deduktive Schlußfolgerungen angewiesen. Van den Berg hat die bedeutendsten Fragmente der Karlsepik systematisch auf ihre Dialekte hin untersucht. 12 Es ist bekannt, daß dieses Verfahren keine absolute Sicherheit bietet, denn ein Text, der in einem bestimmten Dialekt geschrieben wurde, kann sehr wohl nach einer Vorlage aus einem anderen Dialekt bearbeitet sein. Aus diesem Grund untersucht man vorzugsweise die Reimwörter, weil die der Übertragung in einen anderen Dialekt naturgemäß den größten Widerstand entgegen setzen. Dabei zeigte sich, daß weitaus die meisten Karlsromane auf Flämisch verfaßt wurden, einige vielleicht auch auf Holländisch („Willem van Olingen", „Gheraert van Viane", „Ogier van Denemarken") und auf Brabantisch („Lorreinen", „Wisselau"), und einer offenkundig auf Limburgisch („Limburgse Aiol"). Die Tatsache, daß die Texte überwiegend flämischer Herkunft zu sein scheinen, erklärt sich möglicherweise aus dem starken Einfluß Frankreichs, dem die Grafschaft im 13. Jahrhundert unterlag. Als einzige Region in den Niederlanden gehörte Flandern zum französischen Königreich, alle anderen Regionen gehörten zum Deutschen Reich. Fungierte Flandern als Durchgangsstation, durch welche die Chanson de geste an die niederländische Küste importiert wurde? „Roelantslied" Das .Flaggschiff der Gattung, die „Chanson de Roland", wurde vielleicht schon im 12. Jahrhundert ins Flämische übersetzt.13 Es existieren vier Pergamentfragmente aus dem 14. Jahrhundert (von denen eines verschollen ist) und mehrere einzelne Papierblätter aus den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts. 14 Bruchstücke des Textes sind außerdem noch in zwei Drucken des 16. Jahrhunderts erhalten. Wenn man alle, aus verschiedenen Überlieferungsträgern stammenden, 10

Van den Berg, Karelepiek [Anm. 9], S. 13, nennt den „Vlaamse Aiol", „Aubi de Borgengoen", „Beerte metten breeden voeten", „Fierabras", „Gheraert van Viane", „Gwidekijn van Sassen", „Karel ende Elegast", „Madelghijs' kintsheit", „Loyhier ende Malaert", „Ogier van Denemarken", „Van den bere Wisselau" sowie den frühen Abschnitt des „Roman der Lorreinen".

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Van den Berg, Karelepiek [Anm. 9], S. 13, datiert außer „Huge" auch die Fortsetzung des „Roman der Lorreinen" spät. Jakob B. van der Have: Roman der Lorreinen. De fragmenten en het geheel. Schiedam 1990, kommt, nachdem er, S. 136-140, die Diskussion dieser Fortsetzung zusammengefaßt und erörtert hat, zu einer Datierung auf das letzte Viertel des dreizehnten Jahrhunderts.

12

Van den Berg, Karelepiek [Anm. 9]. Vgl. für die verwendete Methode auch ders., Versbouw [Anm. 9], S. 200-221.

13

Vgl. für diesen Abschnitt vor allem van Dijk [Anm. 5].

14

Vgl. für die späten Fragmente die kürzlich erschienene Ausgabe: Het handschrift-Borgloon. Hs. Amsterdam, Universiteitsbibliotheek (UvA), I A 24 l,m,n Diplomatische editie bezorgd door Jos Biemans u. a. Hilversum 2000; vgl. zur Datierung ebd., S. 45.

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Fragmente in die richtige Reihenfolge bringt, entsteht zwar eine höchst heterogene, gleichwohl aber fast vollständige Wiedergabe des wichtigen zweiten Abschnitts der „Chanson de Roland", in dem die eigentliche Schlacht bei Roncesvalles beschrieben wird. Von den anderen drei Abschnitten ist nichts erhalten geblieben. 15 Ist das Zufall? Oder hat es etwa auf Mittelniederländisch nie mehr als diese Kernszene gegeben? Für beide Modelle lassen sich Argumente beibringen. Die Tatsache, daß in den erhaltenen Fragmenten wiederholt auf die im Mittelniederländischen nicht überlieferten Teile der „Chanson de Roland" verwiesen wird, deutet daraufhin, daß das „Roelantslied" mehr als nur jene zweite Episode umfaßte. 16 Dagegen spricht, daß eines der erhaltenen Fragmente, und zwar eben jenes, das den Anfang der zweiten Episode überliefert, zugleich den Prolog enthält. Ein anderes Fragment überliefert die Schlußpassage des Textes, und auch hier entspricht der Inhalt des Fragments dem Ende der zweiten Episode, wie man sie aus der „Chanson de Roland" kennt. Es existierten demnach ganz sicher mittelniederländische Fassungen des „Roelantslieds", die entweder mit der zweiten Episode begannen oder damit endeten. Jüngere Arbeiten über die Funktionsweise der Karlsepik lassen die Existenz derartiger episodischer Überlieferung durchaus denkbar erscheinen, indem sie davon ausgehen, daß bei einem mündlichen Vortrag lediglich kurze Abschnitte aus umfangreicheren Epen dargeboten worden seien.17 Die Frage, ob das mittelniederländische „Roelantslied" jemals mehr als nur den zweiten der aus der „Chanson de Roland" bekannten Abschnitte umfaßt hat, kann damit jedoch nicht beantwortet werden. Daß es den zweiten Abschnitt auf Niederländisch gegeben hat, unterliegt keinem Zweifel, für die weiteren Teile steht das allerdings nicht fest. Ein Vergleich mit anderen Texten aus der „Chanson de Roland"-Tradition, insbesondere mit der berühmten Oxforder Fassung, verdeutlicht die Position des „Roelantslieds" im internationalen Kontext. Der Transmissionsprozeß geschah demnach mittels einer schriftlichen Vorlage. Das zeigt sich an einer ganzen Reihe von Detailübereinstimmungen zwischen den beiden Texten. Allerdings hat der niederländische Text nur die große Linie der Geschichte beibehalten. Der Übersetzer ist mit dem Inhalt seiner Vorlage relativ frei umgegangen; er übernahm lediglich die Zentralpassagen und unterdrückte die Details. Dadurch entstand ein

15

In der „Chanson de Roland" kann man vier Abschnitte unterscheiden: 1. Vorgeschichte (V. 1-840), 2. Roncesvalles (V. 841-2608), 3. Baligant (V. 2609-3704) und 4. die Bestrafung Ganelons (V. 3705-4002); vgl. La Chanson de Roland Publiée d'après le manuscrit d'Oxford et traduite par Joseph Bédier. Paris61937. - Deutsche Übersetzung: Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übers, und komm, von Wolf Steinsieck. Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart 1999 (RUB 2746).

16

Vgl. Jules Horrent: Roelantslied et Chanson de Roland. In: Revue des langues vivantes Tijdschrift voor levende talen 11 (1946), S. 193-207, S. 241-254; van Dijk [Anm. 5], S. 179-186. Irene Spijker: Aymijns kinderen hoog te paard. Een Studie Over Renout van Montalbaen en de Franse Renaut-traditie. Hilversum 1990, S. 228-238; Andrew Taylor: Was there a Song of Roland? In: Spéculum 76 (2001), S. 28-65.

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„Roelantslied", das sich im Vergleich zu den französischen Texten kurz gibt und eine außerordentlich schlichte Darstellung des Geschehens bietet. Wenn man das Karlsbild dieses Textes beschreiben will, macht sein fragmentarischer Erhaltungszustand erhebliche Probleme. Schließlich kennt man ausschließlich den zweiten Abschnitt (die Roncesvalles-Episode), und somit jenen Part der Geschichte, in dem der Kaiser selbst eine eher untergeordnete Rolle spielt. Der aufschlußreichere erste Abschnitt mit den Schlachtvorbereitungen sowie den diplomatischen Beratungen in den beiden Lagern fehlt, genau wie der dritte und vierte Abschnitt, in denen Karl die Hauptrolle im Erzählgeschehen von Roland übernimmt. In den überlieferten Resten18 ist Karl genau wie im französischen Text der hochbetagte (met sinen grauwen baerde, V. 136, V. 845) König von Frankreich (V. 1), Eroberer vieler Länder (V. 745-751, V. 1168, V. 1674), Feldherr seines Heeres (V. 1824f, V. 1869-1884), Führer der christlichen Welt (V. 47 und öfter) im Kampf gegen die Heiden (V. 4 und öfter), in welchem ihm Gott beisteht (V. 1828-1847). Um einen Eindruck der schlichten mittelniederländischen Erzählweise im Vergleich zur treffsicheren und sehr viel kraftvolleren französischen zu geben, soll hier die Szene angeführt werden, in der Karl und die Franken um die Toten auf dem Schlachtfeld von Roncesvalles trauern:19 Doen Kaerle in Rontsevale quam, Wert hij serich ende gram. Hi vant groet volc verscleghen Beiden aen beiden ende aen weghen. Hern en dochte ghen liede sijn Daer en lach payen noch kerstijn. Daer riep Kaerle te hant: "Waer sijde, neveRoelanl? Waer sidi, Tulpijn ende Olivier, Sampsoen, Anceus en Inghelier? Waer sijn die Xllgenoeten ghevaren? " Menich daer in ommacht viel. Die broeder vant den broeder doot, Die vader kint; dat es jamer groot! (1790-1803) 20 (Als Karl in Roncesvalles ankam,/ wurde er betrübt und traurig./ Er fand viele seiner Männer erschlagen/ auf dem Feld und an den Straßen./ Es schien, als ob es keinen einzigen Weg gab,/ wo nicht Heiden oder Christen lagen./ Da rief Karl sogleich:/ „Wo bist du, Neffe Roelant?/ Wo seid ihr, Tulpijn und Olivier,/ Sampsoen, Anceus und Inghelier?/ Wo sind die zwölf Gesellen geblieben?"/ Manch einer fiel da in Ohnmacht./ Der Bruder fand dort seinen Bruder tot,/ der Vater sein Kind; das war ein großes Wehklagen!)

18

Vgl. die synoptische Edition durch van Dijk [Anm. 5].

19

Vgl. „Chanson de Roland" [Anm. 15], V. 2397-2422. Die Verse sind hier kritisch ediert (und emendiert) nach der diplomatischen Edition in van Dijk [Anm. 5],

20

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„Renout van Montalbaen" Im „Renout van Montalbaen" begegnet uns eine ganz andere Art Karlsroman als im „Roelantslied". Letzteres gehört zum sogenannten ,Cycle du roi', in dem Karl durchweg positiv dargestellt wird. Dagegen rechnet man „Renout", zusammen mit „Madelgijs", „Ogier van Denemarken" und anderen, zu einer Gruppe von Texten, die von aufständischen Vasallen handeln. Der König hat in diesen Werken einen zweifelhaften Charakter, weil er sich von falschen Ratgebern beeinflussen läßt und die Protagonisten der Erzählung auf Grund übler Ratschläge nicht korrekt behandelt. 21 Die Geschichte der vier Söhne Aymijns (Renout, Ritsaert, Writsaert und Adelaert) und der langwährenden Fehde mit ihrem Lehnsherrn Karl war in den Niederlanden außerordentlich beliebt.22 Es sind Handschriftenfragmente aus dem 13., 14. und 15. Jahrhundert bekannt, die alle zusammen jedoch noch keine 15 Prozent des schätzungsweise 15.000 Verse umfassenden Karlsromans ausmachen. 23 Den vollständigen Inhalt kann man mit Hilfe der recht getreuen deutschen Übersetzung („Reinolt von Montelban") rekonstruieren.24 Überdies existiert eine Prosabearbeitung des Textes, die von 1490 bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vielfach gedruckt wurde. 25 Nicht nur in der Überlieferungsgeschichte zeigt sich die Beliebtheit des „Renout", sondern auch in zahllosen intertextuellen Verweisen, am Beispiel von Marionettenauffuhrungen in Brüssel, Lüttich und Antwerpen, in Umzügen und Schnee-Skulpturen, in einem Kinderspiel, auf Aushängeschildern, Druckerstempeln, Fassadensteinen, Kuchen-, Printen- sowie Spekulatiusformen und an Standbildern; ja es gibt sogar eine Briefmarke, einen Kühlschrankmagneten und noch viele weitere Rezeptionszeugnisse, die belegen, daß die Erinnerung an die vier Brüder auf ihrem berühmten Roß Beyaert zum kulturellen Erbe der Niederlande gehört.26 Die Frage, weshalb ausgerechnet in den Niederlanden „Renout" zum beliebtesten Karlsroman wurde, ist schwer zu beantworten. War das Thema der unbedingten Treue Renouts gegenüber Karl (gespiegelt in der Treue Beyaerts gegenüber Renout) so attraktiv? Oder ist das ansprechende Motiv der

21

Vgl. Karl-Heinz Bender: König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de Geste des XII. Jahrhunderts. Heidelberg 1967 (Studia Romanica 13); Irene Spijker: Koning Karel: Edele vorst of halsstarrige dwingeland. In: De epische wereld, hg. von Evert van den Berg, Bart Besamusca Muiderberg 1992, S. 24-^0.

22

Vgl. für eine Übersicht der gesamten Überlieferung Besamusca [Anm. 7], S. 86-114, S. 148, S. 150-153. Die maßgebliche Edition: Renout van Montalbaen. Uitgegeven en toegelicht door Pieter J. J. Diermanse. Leiden 1939. Reinolt von Montelban oder die Heimonskinder. Herausgegeben von Fridrich Pfaff. Tübingen 1885 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 174).

23

24

25

De historié van den vier Heemskinderea Uitgegeven naar den druk van 1508 door Gerrit S. Overdiep. Groningen, Den Haag 1931.

26

Irene Spijker: De sage van de Vier Heemskinderen en haar verspreiding. In: Een paard uit duizend, hg. von Aimé Stroobants, Irene Spijker. Dendermonde 2000, S. 9-29.

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vier Brüder auf ihrem Roß Beyaert der Grund? Oder ist es der Zauberer Madelgijs, der seine Vernunft dort benutzt, wo die Ritter bloß mit roher Gewalt ihr Ziel zu erreichen versuchen? Oder muß man die Antwort in einer Kombination all dieser Gründe suchen? 27 Durch einen minutiösen Vergleich der niederländischen (größtenteils rekonstruierten) Fassung mit der französischen „Renout"-Überlieferung hat I. Spijker eine faszinierende Hypothese zur Genese des mittelniederländischen Textes entwickelt.28 Ausgangspunkt war die ungeklärte Beziehung zwischen der niederländischen und der französischen Tradition. Denn obschon die Geschichte in den großen Erzähllinien übereinstimmt, ist es vollkommen unmöglich, einen bestimmten französischen Text als Vorlage für den niederländischen anzuführen. Bald ist es der eine, bald der andere französische Text, den man im niederländischen wiederzuerkennen meint. Im großen und ganzen kann man nicht von wörtlicher Übereinstimmung reden, doch ab und an erscheint das Niederländische als direkte Wiedergabe des Französischen. Das Ergebnis des Vergleichs bietet also ein vollkommen anderes Bild als dies beim „Roelantslied" der Fall war. Dort konnte man eine stark verkürzende Übersetzung konstatieren, die sich dicht an das Französische hielt. Spijker hat ihre Beobachtungen an der niederländischen „Renout"-Übertragung mit großer Überzeugung als Folge mündlicher Vermittlung erklärt. Ihrer Meinung nach ist der ursprüngliche niederländische Text schriftlich aufgezeichnet worden, nachdem die Geschichte bereits mündlich - über einen französischen Jongleur an einen niederländischsprachigen Erzähler - weitergegeben worden sei. Niederländische Erzähler hätten die Geschichte, die sie durch ihre französischen confrères kennen lernten, mit ihren eigenen Worten gestaltet. Diese Thesen werfen ein neues Licht auf den Zusammenhang zwischen der französischen und der niederländischen Karlsepik. Erstmals wird in einer genauen und ausführlichen Untersuchung eine mündliche Vermittlungsphase angenommen, in der die Chansons de geste in die Niederlande ausgestrahlt hätten. Damit scheint eines der Rätsel der mittelniederländischen Karlsromane, die in sehr vielen Fällen deutlich von der französischen Überlieferung abweichen, der Lösung näher gebracht. 29 „Karel ende Elegast" Der wichtigste Beitrag der mittelniederländischen Literatur zur internationalen Karlsepik ist zweifelsohne der kurze, episodische Roman von „Karel ende Ele27

Vgl. auch Irene Spijker: Die Heimonskinder in den Niederlanden. Literatur und bildliche Darstellung. In: Heimat Dortmund 15 (2000), S. 21-25.

28

Vgl. Spijker [Anm. 17], vor allem Kapitel 7. Auf einen möglichen mündlichen Zusammenhang wies zum ersten Mal hin Willem P. Gerritsen: Les relations littéraires entre la France et les Pays-Bas au Moyen Age. In: Actes du Septième Congrès National de la Société Française de Littérature Comparée. Mesnil-surl'Estrée 1967, S. 28-46; vgl. auch ders.: Vertalingen van Oudfranse littéraire werken in het Middelnederlands. In: Franse literatuur van de Middeleeuwen, hg. von René E. V. Stuip. Muiderberg 1988, S. 184-207.

29

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gast". Die Geschichte handelt vom großen König und Kaiser, der am Vorabend eines Hoftages zu Ingelheim von einem Engel dreimal aufgefordert wird, zum Stehlen auszureiten. Beim dritten Mal gehorcht Karl. Er legt die Rüstung an, sattelt sein Pferd und stiehlt sich unbemerkt aus seiner Burg davon. In einem Wald in der Nähe von Ingelheim begegnet er einem ganz in Schwarz gekleideten Ritter, der sich nach einem Zweikampf als jener Elegast, der wegen einer Kleinigkeit vom Hof verstoßen worden sei, zu erkennen gibt. Karl, der sich seinerseits als Adelbrecht ausgibt und sich hinter diesem Namen versteckt, schlägt einen gemeinsamen Diebstahl beim König vor. Entrüstet weigert sich Elegast. Zwar sei er beim Kaiser in Ungnade gefallen, Karl sei aber nach wie vor sein Lehnsherr, dem er treu sein wolle. Auf Elegasts Vorschlag beschließt man, bei Herzog Eggeric van Eggermonde einzubrechen, der mit Karls Schwester verheiratet ist. An dessen Burg angekommen, entscheidet Elegast, daß der ungeschickte Adelbrecht außerhalb der Mauer warten solle. Allein begibt er sich hinein und weiß dank seiner Zauberkunst bis ins herzogliche Schlafgemach vorzudringen. Dort hört er, wie Eggeric zu seiner Frau sagt, es sei eine Verschwörung geplant, um Karl auf dem bevorstehenden Hoftag zu stürzen. Elegast gibt diese Nachricht dem wartenden Adelbrecht weiter, der ihm verspricht, Karl zu informieren. Als Karl tags darauf seinen Hoftag hält, beschuldigt er Eggeric des Verrats. Die gerichtliche Entscheidung bringt der eilends herbeigerufene Elegast. Er überführt und tötet in einem Zweikampf den hinterlistigen Eggeric. Elegast wird wieder ehrenvoll am Hof aufgenommen. Dieser kurze, 1414 Verse umfassende Text ist seit langem als mittelniederländische Variante der weit über die Grenzen des niederländischen Sprachbereichs bekannten Wanderfabel ,Wie ein König auf Diebestour ging' erkannt.30 „Karel ende Elegast" ist ebenfalls als deutsche bzw. ripuarische Übersetzung Bestandteil der „Karlmeinet"-Kompilation, sowie als freiere Bearbeitung in einer mitteldeutschen (Zeitzer) Fassung überliefert.31 Darüber hinaus gibt es Fassungen in skandinavischen Sprachen. Die älteste enthält die „Karlamagnüs saga", eine altnordische Prosakompilation aus dem 13. Jahrhundert, deren einzelne Teile mehr oder weniger chronologisch angeordnet sind, so daß sie zusammen eine Biographie des großen Kaisers ergeben. Später wurde diese Saga ins Schwedische und Dänische übersetzt und weiter bearbeitet. Die erste Erzählung des ersten Teils der

30

Vgl. dazu Marie Ramondt: Karel ende Elegast oorspronkelijk? Proeve van toegepaste sprookjeskunde. Utrecht 1917.

31

Karlmeinet Zum ersten Mal herausgegeben durch Adelbert von Keller. Stuttgart 1858 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 45), S. 575-606; Der mitteldeutsche Karl und Elegast Nach der Zeitzer Handschrift herausgegeben von Josef Quint. Bonn 1927 (Rheinische Beiträge und Hülfsbiicher zur germanischen Philologie und Volkskunde 14). Eine neue Ausgabe des Zeitzer „Karl und Ellegast", mit deutscher Übersetzung und Kommentar, wird von Bart Besamusca, Carla Dauven-van Knippenberg und Bernd Bastert vorbereitet. Vgl. auch Carla Dauven-van Knippenberg: Karl der Große auf Diebestour. In: Max Ketner unter Mitwirkung von Heike Nelsen (Hg.): Der verschleierte Karl. Karl der Große zwischen Mythos und Wirklichkeit. Aachen 1999, S. 217-234.

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„Karlamagnüs saga" weist eine enge Verwandtschaft mit „Karel ende Elegast" auf, es gibt aber dennoch bemerkenswerte Differenzen. So lautet der Name des nächtlichen Gesellen Karls in der saga Basin. Weil die meisten Geschichten aus der saga auf französische Quellen zurückzuführen sind, kann man annehmen, daß die Basin-Geschichte dort ebenfalls bekannt war. Eine solche französische Quelle ist freilich nicht überliefert; lediglich in einigen eindeutigen Hinweisen aus anderen französischen Epen scheinen sich Spuren erhalten zu haben.32 Das macht den mittelniederländischen „Karel ende Elegast" zusammen mit der „Karlamagnüs saga" zu den wichtigsten Textzeugen dieser Erzähltradition.33 Der mittelniederländische Text ist in sechs Handschriftenfragmenten des 14. und 15. Jahrhunderts sowie in sieben Druckfassungen überliefert. Außerdem gibt es die bereits erwähnte, wortgetreue deutsche Übertragimg aus der „Karlmeinet"-Kompilation, deren Niederschrift um 1475 zu datieren ist.34 Der älteste vollständig erhaltene und deshalb wichtigste Zeuge ist die sogenannte Inkunabel A, die um 1487 in Delft erschienen ist. Dieser Druck ist damit entschieden jünger als die ursprüngliche mittelniederländische Fassung, deren Entstehung meistens um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts oder noch etwas früher angesetzt wird.35 Die exakte Textgenese bleibt allerdings im Dunkeln. In der Forschung stehen sich zwei Entstehungshypothesen gegenüber. A. M. Duinhovens Ansatz basiert auf - in historischen Quellen genannten - Verschwörungen gegen Karl in den 80er Jahren des 8. Jahrhunderts. Er sieht eine Traditionslinie von diesen Geschehnissen bis zu einem mittelniederländischen Dichter, der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts „Karel ende Elegast" verfaßt habe.36 J. D. Janssens ist dagegen der Meinung, daß die Geschichte als eine literarische, ätiologische Antwort auf Fragen zu verstehen sei, die sich aus der Rezeption der frühesten Chansons de geste ergaben - Fragen etwa über die Jugend (Enfances) des großen Königs,

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35

36

Vgl. für eine kurze Übersicht über den Zusammenhang mit den skandinavischen Fassungen: Karel ende Elegast [Catalogus van een] tentoonstelling. Utrecht 1969, S. 36-43; vgl. auch Povl Skàrup: La matière de France dans les pays du Nord. In: Charlemagne in the North. Proceedings of the Twelfth International Conference of the Société Rencesvals, hg. von Philip E. Bennet u. a. Edinburgh 1993. S. 5-20; Susanne Kramarz-Bein: Zur Erzählstraktur der Karlamagnüs saga. In: Arbeiten zur Skandinavistik. 14. Arbeitstagung der deutschsprachigen Skandinavistik, hg. von Annegret Heitmann. München 2001; vgl. auch den Beitrag von Kramarz-Bein in diesem Band S. 149-161. Siehe für einen Vergleich beider Texte Jacqueline de Ruiter: Structural devices in the Karlamagnüs saga, illustrated by the ,Basin' episode. In: Charlemagne in the North [Anm. 32], S. 81-88. Für eine synoptische, diplomatische Edition der mittelniederländischen Texte sowie des Textes aus der „Karlmeinet"-Kompilation vgl. „Karel ende Elegast", hg. von Duinhoven [Anm. 1], In der um 1240 verfaßten Chronik des Alberich von Trois-Fontaines (MGH SS 23) wird auf eine cantilene über Karl hingewiesen, der auf Geheiß eines Engels zum Stehlen ausgeritten sei, und der dadurch von einer Verschwörung erfahren habe: Et, ut in cantilena dicitur ad istam conspirationem cognoscendam Karolus Magnus monitu angeli ivit de nocte furari. Anton M. Duinhoven: Bijdragen tot reconstructie van de Karel ende Elegast 2 Bde. Assen 1975, Groningen 1981, vgl. vor allem Bd. II.

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die sehr gut Erzählungen hervorgebracht haben könnten über die Art und Weise, wie Karl seine Macht gefestigt habe, und in diesem Zusammenhang auch eine französische „*Chanson de Basin", in der Basin die Rolle von Elegast zukomme.37 Aus dieser Perspektive wäre die Textgeschichte also in hohem Maße mit jener der übrigen Karlsromane vergleichbar: Der mittelniederländische Text ginge auf irgendeine Weise auf eine französische Vorlage zurück. Duinhoven hält es hingegen für wahrscheinlich, daß die älteste Schriftfassung eine mittelniederländische ist. Es soll hier nicht näher auf die verwickelte Kontroverse eingegangen werden, es sei nur noch bemerkt, daß sich die beiden Positionen in vielen Punkten nicht unbedingt ausschließen und daß ein Kompromiß durchaus möglich erscheint. Wenn Janssens etwa den Ursprung der Erzählung in einem ätiologischen Bedürfnis sucht, könnte sich eine solche Erklärung gerade in jenen historischen Verschwörungen gefunden haben, die Duinhovens Ausgangspunkt bilden. „Karel ende Elegast" ist eine normbestätigende Erzählung. Von Beginn an wird Karl als Weltherrscher präsentiert, der die Gewalt des Königs (von Frankreich) und des Kaisers (des römisch-deutschen Reiches) in einer Hand vereinigt. Beschützt wird er von Gott selbst, mit dessen Hilfe Karl entdeckt, daß sein vermeintlich ungetreuer Lehnsmann Elegast ihm in Wirklichkeit treu ergeben ist, während sein mutmaßlich treuer Lehnsmann Eggeric gerade ein Komplott gegen ihn schmiedet. Karl stellt hier die Verkörperung des mächtigen Herrschers dar, der seine Untertanen streng aber gerecht regiert. Seine Herrschaft ist ohne jeden Makel - und falls es doch einen schwarzen Fleck geben sollte, so wird er mit Gottes Hilfe und mit der Zauberkraft und Geistesgegenwart Elegasts beseitigt.

2. „Van coninc Kareis leven" Karl der Große in der Historiographie Der Redaktor der zu Beginn dieses Beitrags zitierten biographischen Skizze läßt keinen Zweifel daran, daß Karl der Große eine Person der Geschichte ist, ein bedeutender Mann, dessen Lebensdaten bekannt sind und dessen Grabstätte man, nicht einmal so weit von Antwerpen entfernt, besuchen kann. Wer sich in der mittelniederländischen Historiographie näher mit der Geschichte Karls des Großen beschäftigen wollte, zog am besten den in den achtziger Jahren des 13. Jahrhunderts verfaßten „Spiegel historiael" zu Rate, das ,opus magnum' des flämischen Dichters Jacob van Maerlant.38 Dessen Vorbild war das „Speculum historíale" des französischen Dominikaners Vinzenz von Beauvais, eine gewaltige Weltgeschichte in lateinischer Prosa, die einige Jahrzehnte zuvor im Auftrag des französischen Königs Ludwig IX. (des Heiligen) fertiggestellt worden war. Maer37

Jozef D. Janssens: Dichter en publiek in creatief samenspei. Over interpretatie van Middelnederlandse ridderromans. Leuven, Amersfoort 1988, S. 1-88.

38

Für eine hervorragende Charakterisierung Jacobs van Maerlant und seines „Spiegel historiael" siehe Frits van Oostrom: Maerlants wereld. Amsterdam 1996, hier vor allem S. 305-375. Die maßgebliche Edition des Textes durch de Vries, Verwijs [Anm. 8].

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lant hat die etwas monotone lateinische Kompilation seiner Vorlage zu einem erzählfreudigen Geschichtswerk für seinen Auftraggeber umgearbeitet - niemand weniger als der holländische Graf Floris V. Dabei war es Maerlants Absicht, eine Geschichte der gesamten Welt zu schreiben; angefangen von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, übersichtlich eingeteilt in Kapitel, Bücher und Teile. Den roten Faden in dieser historiographischen Erzählung bildet die Schilderung der Herrscherfiguren. Vor allem bedeutende Herrscher wie David, Alexander oder Artus werden hervorgehoben und geben dem Werk den Charakter eines Fürstenspiegels. Der bedeutendste aller Herrscher ist für Maerlant Karl der Große. Gegen Ende des dritten Teils behandelt er die Geschichte bis zum Jahre 800; darauf folgt zu Beginn der vierten Teils Karls Regierungszeit als Kaiser. Gerade in diesem Teil setzt Maerlant alles daran, Karls Taten als ehrfurchtgebietend und glänzend herauszustellen. Zwei militärischen Unternehmungen widmet er hierbei, in der Nachfolge des Vinzenz von Beauvais, die größte Aufmerksamkeit: den Zügen nach Jerusalem und Spanien, die beide hochgradig apokryph sind. Karl hat nie eine Fahrt ins Heilige Land unternommen und sein Spanienabenteuer beschränkte sich in Wirklichkeit auf einen kurzen Feldzug, der nicht länger als ein paar Wochen dauerte und in einem Fiasko endete. Jene spanische Katastrophe wurde bekanntlich zum historischen Kern der „Chanson de Roland", doch Vinzenz und Maerlant folgen einer anderen Tradition. Sie verdankt der Chanson de geste zwar viel, erhebt aber einen ganz anderen Anspruch. Die Rede ist von der „Historia Karoli Magni et Rotholandi" (oder auch „Pseudo-Turpin"), einer lateinischen Prosachronik aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die im Mittelalter großes Ansehen genoß, weil der Autor sich als Bischof Turpin ausgibt. Dieser, Augenzeugenbericht' des (Pseudo-)Turpin legt auf den Kampf gegen die Heiden ein noch stärkeres Gewicht als die französische Epik. Und eben darin liegt in Maerlants Verständnis auch der Grund für Karls Größe. Durch seine Fahrt nach Jerusalem wie durch seinen Feldzug nach Spanien erscheint der große Kaiser als mustergültiger Kämpfer gegen die Heiden. Genau das ist es, was Maerlant, der am Ende seines Lebens noch ein scharfes Streitgedicht über den Fall von Akkon (1291) schreiben wird, an der Person Karls interessiert. In Karl erkennt er, zusammen mit vielen seiner Zeitgenossen, einen Kreuzfahrer avant la lettre. Unmittelbar vor und nach seiner Beschreibung der Taten Karls des Großen hat Maerlant zwei von ihm selbst stammende Passagen hinzugefügt.39 In der ersten (Teil IV, Buch 1, Kap. 2, V. 39-76) warnt er vor Lügengeschichten, die von Phantasten über Karl erzählt würden. Zu erklären seien sie dadurch, weil jene Dummköpfe, die Geschichten über Fierabras und über die vier Haymonskinder erzählen, nicht wüßten, daß es mindestens fünf verschiedene Karls gegeben habe. Wer jedoch die Wahrheit über Karl wissen wolle, müsse den „Spiegel historiael" 39

Vgl. dazu auch den entsprechenden Abschnitt meines Aufsatzes: Maerlant en de fantasten. In: Frank A. H. Berndsen, Hans van Dijk, Gert-Jan de Vries (Hg.): Poetica-onderzoek in de praktijk. Groningen 1993, S. 33-38.

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lesen. Am Ende des Karlteils greift Maerlant noch einmal die Frage nach der Wahrheit auf und widmet ihr ein ganzes Kapitel: Tsceiden jegen die borderers (Die Schelte gegen die Phantasten, IV, 1,29), das folgenden Inhalt hat: Die Phantasten, gemeint sind die Erzähler und Verfasser der Karlsromane, verfalschen mit ihren schönen Geschichtchen die Wahrheit. Sie nennen Karl den Großen auf Französisch Charlemeine, aber vertrauenswürdige Quellen wie die „Grandes chroniques de France", Einharts „Vita Karoli", die „Chronica" des Sigebert von Gembloux und vor allem die „Historia Karoli Magni et Rotholandi" des (Pseudo-) Turpin kennen diesen Namen nicht. Vielleicht habe man seinen Namen mit dem seines Bruders Karlomann verwechselt, der von 768 bis 771 zusammen mit ihm regiert habe.40 Die unzuverlässigen französischen Dichter würden in ihren Geschichten über Fierabras von Alexandrien, über Reinout von Montalbaen und den Bären Wisselau nur lügen. Es sei nicht vernünftig, daß ein so vortrefflicher Herrscher wie Karl mit Hilfe von Fabeleien gerühmt werde. Am schlimmsten seien jene Geschichten, in denen Willem van Oringen über Karl gestellt werde. Willem sei einstmals ein vortrefflicher Ritter gewesen, ganz gewiß, aber er sei doch nicht mit Karl zu vergleichen, eher mit Rollant, Olivier und Ogier. Karl aber sei der beste der karolingischen Helden, so wie Artus der beste der Tafelrunde sei, allem Lobpreis auf Lancelot und Willem van Oringen zum Trotz. Wer nach Arles komme, solle nicht meinen, daß die berühmten Grabstätten dort an Willems Schlachten gemahnten. Nein, in diesen Gräbern lägen die Helden von Roncesvalles. Wilhelm sei ein guter Ritter gewesen, der für Gott gekämpft habe und im fortgeschrittenen Alter Klausner geworden sei. Wer darüber lesen wolle, solle die „Vita Wilhelmi" lesen und nicht die schönen Geschichtchen, die Clays van Haerlem, Frau Brechts Sohn, aus dem Französischen übersetzt habe. Die Wahrheit über Karl und seine Ritter stehe im „Spiegel historiael". Soweit dieser Angriff gegen die Dichter. Gerade weil es sich hier um eine Interpolation des Bearbeiters in den Text des Vinzenz von Beauvais handelt, dürfen wir aus diesen Versen Maerlants eigene Meinung herauslesen. Es scheint so zu sein, daß er von einem Gegensatz zwischen zwei Informationsströmen über Vergangenes ausgeht: jener der Dichter und jener der Gelehrten. Die Dichter repräsentieren die ursprünglich mündliche Tradition der volkssprachigen Reimepen. Zwar sind diese Erzählungen zur Zeit Maerlants bereits schriftlich aufgezeichnet, aber ihr natürliches Umfeld ist der Vortrag und die auditive Rezeption. Den Dichtern gegenüber stehen die Gelehrten. Sie repräsentieren die Welt des Lesens und Schreibens, die von Anfang an schriftliche Tradierung der Vergangenheit, die lateinische, in Prosa verfaßte Historiographie. Maerlant geht so weit, den Gegensatz zu personifizieren. Ein solcher Dichter sei Clays van Haerlem, der Übersetzer eines Romans über Willem van Oringen. Spricht er hier zu seinem Auftraggeber, dem Grafen von Holland, mit der Botschaft, ja nicht auf diesen Haarlemer Phantasten zu hören, sondern ... auf ihn? In dieser Passage sehen wir ganz deutlich, daß Jacob von Maerlant sich 40

Vgl. van Oostrom [Anm. 38], S. 339.

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von der Epik und dem darin entworfenen Bild Karls des Großen absetzt. Er möchte eine Alternative bieten: Karl als Kreuzfahrer. Es ist die reinste Ironie, im Nachhinein konstatieren zu müssen, daß die von Maerlant so gepriesenen Informationen aus der historiographischen, lateinischen Tradition letztlich doch wieder zu einem großen Teil auf die von ihm so verabscheute Epik zurückzuführen sind. In einem früheren Abschnitt des „Spiegel historiael", in dem Karls Leben vor der Kaiserkrönung beschrieben wird, ermöglicht es uns Maerlant in einem weiteren hinzugefugten Kapitel, einen ganz spezifischen Aspekt der Karlsgeschichte kennenzulernen. Es handelt sich dabei um eine Geschichte, die die Friesen von ihm erzählen. Ihrer Meinung nach sei Karl mit großer Heeresmacht, zu der ein Kontingent Friesen gehörte, dem Papst (der hier als sein Bruder dargestellt wird) zu Hilfe geeilt, als dieser von den Einwohnern Roms mißhandelt und vertrieben worden sei. Während der darauffolgenden Belagerung gelingt es den Friesen, die Stadt zu erobern. Als Belohnung erhalten sie von Karl das Privileg, es würde nie ein Fürst zwischen ihnen und dem Kaiser stehen. Dieses Vorrecht hätten sie lange Zeit gehegt und gepflegt und immer, wenn ihre Selbständigkeit bedroht war, beriefen sie sich auf die sogenannte Friesische Freiheit. So geschah es auch zu Zeiten der Grafen Wilhelm II. und Floris V., die wiederholt mit Westfriesland, das im Norden an ihre Grafschaft grenzte, im Streit lagen. Maerlant steht in dieser Sache ganz hinter seinem Auftraggeber. Er erwähnt den Anspruch der Friesen, versucht diesen jedoch sofort zu widerlegen. Ihm zufolge habe sich irgendein ungehobelter Klotz aus Friesland diese Geschichte überlegt. Jener Mann habe keinerlei Ahnung von Geschichte, denn es gebe kein Volk auf dieser Erde, das ohne Herr sein könne, sogar die Engel im Himmel und die Dämonen gehorchten denen, die über ihnen stünden:41 Ja en spreect in dewangelie God Ende sijn raet ende sijn gebot, Datmen den keyser tsine gheve, Ende God tsine, die wile men ieve? Die dan genen here es onderdaen, Hijs jegen Gode, Willement verstaen! Nu, ghi Vriesen, laet u genoeghen, Leert u onder die heren voeghen! Uprivilegie es spot ende sceren, Voer alle princen, vor allen heren. Ic wane ghire in sijt verdullet: Soe was met botren ghebullet, Soene conste ghene zonne gedoghen, Anders haddise moghen toghen! (Denn gibt Gott nicht im Evangelium/ den Rat und das Gebot,/ daß man während des Lebens dem Kaiser geben soll, was dem Kaiser gehört/ und Gott, was Gott gehört?/ Wer denn keines Herrn Untertan ist/ lebt im Streit mit Gottes Willen. Versteht das gut!/ Nun denn, ihr Friesen, laßt es gut sein,/ lernt, euch unter Herren unterzuordnen!/ Euer Privileg ist lächerlich und Gespött/ fiir alle Fürsten und fiir alle Herren./ Ich denke, daß ihr eures Verstandes beraubt 41

„Spiegel historiael" [Anm. 8], Bd. 3, S. 165, (Teil III, Buch 8, Kap. 93).

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seid:/ Das Privileg hatte ein Siegel aus Butter,/ es ertrug keine Sonne./ Denn sonst hättet ihr es vorzeigen können.)

Jacobs van Maerlant „Spiegel historiael" ist für das Bild Karls des Großen im Mittelniederländischen bei weitem die wichtigste historiographische Quelle. Die Autorität und der Einfluß dieses Werks waren während des gesamten Mittelalters enorm. Einen deutlichen Beleg dafür liefert die umfangreiche Reimchronik des Herzogtums Brabant, die sogenannten „Brabantsche Yeesten", die Jan van Boendale in den Jahren 1316 bis 1318 in Antwerpen verfaßte. Für die frühe Geschichte stützt er sich stark auf Maerlant, die Darstellung Karls des Großen ist dabei fast wörtlich aus dem „Spiegel historiael" übernommen. 42 Aus der sehr umfangreichen historiographischen Überlieferung soll hier ansonsten nur noch „Die alder excellenste cronyke van Brabant" angeführt werden. Dabei handelt es sich um einen Druck, der 1497 in Antwerpen bei Roland van den Dorpe aufgelegt wurde. Das voluminöse Werk über die brabantische Geschichte ersetzte offenbar Boendales „Brabantse Yeesten". Auch dieser Text weist Karl dem Großen, der dort als Heiliger gezeichnet wird, einen wichtigen Platz zu.43

3. „Ende hi sterf salichlic" Karl der Große in der Hagiographie Am 29. Dezember 1165 wurde Karl der Große durch den Gegenpapst Paschalis III. heilig gesprochen. Die Heiligsprechung ist eng verbunden mit den persönlichen und politischen Ambitionen Friedrich Barbarossas. Der politische Aspekt bezieht sich vor allem auf das Verhältnis zu Frankreich, dessen Könige sich als Nachfolger Karls des Großen betrachteten. Dabei verwiesen sie auf die Bedeutung der Reliquien, die Karl vom byzantinischen Kaiser erhalten habe und die im Kloster Saint Denis aufbewahrt würden. Aus persönlicher Sicht betonte Barbarossa mit dieser Kanonisation vor allem seine Position in der Reihe deutscher Kaiser, deren erster bekanntlich Karl gewesen war. Und war Karl nicht in Aachen bestattet worden? 44 Im Umfeld dieser Kanonisation wurde die lateinische Aachener „Vita Karoli Magni" verfaßt.45 Einen zentralen Bestandteil der Aachener „Vita" bildet die nach 42

Jan de Klerk [van Boendale]: De Brabantsche yeesten, hg. von Jan F. Willems. 2 Bde. Brüssel 1839-1843, hier Buch II.

43

Vgl. für diese Chronik A. Ampe: Walter Bosch, monnik van Affligem, en zijn twee bewerkingen van Jan van Boendale's Brabantsche Yeesten. In: Bijdragen tot de geschiedenis 60 (1977), S. 3-84. Eine Dissertation über „Die alder excellenste cronyke" wird von Jaap Tigelaar vorbereitet.

4

Vgl. meinen Beitrag: Karel de Grote in het Passionael. In: Gouden legenden. Heiligenlevens en heiligenverering in de Nederlanden, hg. von Anneke B. Mulder-Bakker, Marijke CarassoKok. Hilversum 1997, S. 61-72. Die Aachener „Vita Karoli Magni" des 12. Jahrhunderts. Auf der Textgrundlage der Edition von Gerhard Rauschen unter Beifügung der Texte der Karlsliturgie in Aachen neu herausge-

45

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dem „Pseudo-Turpin" modellierte Beschreibung von Karls Kriegszügen in Spanien und die Geschichte von Karls Reise nach Jerusalem und Byzanz. Soweit wir heute wissen, wurde die „Vita" nie ins Mittelniederländische übersetzt. Die Heiligkeit Karls wird in der mittelniederländischen Epik und in der Historiographie auch nicht häufig erwähnt. Das bedeutet freilich nicht, daß das besondere Verhältnis zwischen Karl und Gott je angezweifelt worden wäre. Im Gegenteil, es wurde - wie bereits aufgezeigt - immer nachdrücklich betont; explizit als Heiliger bezeichnet wurde Karl aber nur selten. Das ändert sich allerdings gegen Ende des 15. Jahrhunderts. J. Oosterman hat gezeigt, daß das Interesse an Karls Heiligkeit im religiösen Kontext jener Zeit recht unvermittelt anwuchs.46 Eine entsprechende Zunahme konstatiert er vor allem anhand von Gebetbüchern, in denen mehrfach angemerkt wird, daß Gebete zur Verehrung Karls verfertigt und/oder von ihm selbst gebetet worden seien. Seine Ergebnisse lassen sich durch weitere Faktoren stützen. So wird etwa in der gleichfalls gegen Ende des 15. Jahrhunderts entstandenen „Alder excellenste cronyke van Brabant" Karl der Große vor allem als heiliger Vorfahr der brabantischen Herzöge präsentiert. Und daneben kennen wir noch jene biographische Skizze, mit der dieser Beitrag beginnt; sie wurde vom Drucker Govaert Bac gegen Ende des 15. Jahrhunderts an „Karel ende Elegast" angehängt. Das wichtigste Argument für Oostermans These liefert jedoch die Druckfassung der mittelniederländischen Übersetzung der „Legenda aurea" vom Jahre 1480, jener berühmtesten aller Sammlungen von Heiligenleben, die um ein Kapitel über den heiligen Karl erweitert ist. Der Druck erschien bei Gheraert Leeu in Gouda und stellt den Beginn einer erfolgreichen Druckgeschichte dar, die mit einem Antwerpener Druck von Heynrich Eckert van Hombergh aus dem Jahr 1516 zu Ende geht.47 In der noch sehr viel erfolgreicheren und reich bezeugten handschriftlichen Tradition, die für die mittelniederländische „Legenda aurea" 1358 einsetzt,48 begegnet Karl der Große allerdings nicht. Ein Kapitel über ihn wird erst 1480 hinzugefügt, also genau zu der Zeit, als das Interesse am heiligen Karl offenbar immer stärker wird. Der Inhalt jenes Kapitels ist wenig überraschend.49 Nach einem einführenden Abschnitt über Regierung, Äußeres und Gewohnheiten Karls wird besonders auf

geben, übersetzt und eingeleitet von Helmut und Ilse Deutz. Siegburg 2002 (Veröffentlichungen des Bischöflichen Diözesanarchivs Aachen 48); Die Legende Karls des Großen im 11. und 12. Jahrhundert, hg. von Gerhard Rauschen. Leipzig 1890 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 7). 46

Johan Oosterman: Heiligen, gebeden en heiligengebeden. In: Gouden legenden [Anm. 44], S. 151-163; hier vor allem S. 161-162.

47

Wemer Williams-Krapp: Die deutschen und niederländischen Legendäre des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte. Tübingen 1986 (Texte und Textgeschichte 20), vor allem S. 84 und S. 185-187. Gheraert Leeu hat ebenfalls im Jahr 1478 schon einen Druck besorgt, doch kommt Karl der Große in diesem nicht vor.

48

Williams-Krapp [Anm. 47], S. 53-187.

49

Für die Inhaltserfassung habe ich den Druck vom Jahre 1499/1500, gedruckt von Heynrich Eckert van Homberch aus Delft (Exemplar: Utrecht, U. B., Inc. H.fol.253), benutzt.

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zwei wichtige Begebenheiten näher eingegangen: seine Fahrten nach Spanien und Jerusalem. Zunächst wird erzählt, wie Karl auf Bitten des byzantinischen Kaisers Konstantin dem Patriarchen von Jerusalem im Streit gegen die Heiden zu Hilfe geeilt sei und wie er als Dank von Konstantin jene Reliquien erhalten habe, die seitdem in Aachen sowie im Kloster St. Denis bei Paris aufbewahrt würden. Nach dieser ganz und gar legendarischen Darstellung wird ausgeführt, wie Karl im Auftrag des heiligen Jacobus gegen die Heiden in Spanien gekämpft habe. Zum Schluß wird noch erwähnt, daß der große Kaiser am 28. Januar des Jahres 800 (sie!) gestorben sei und in Aachen in der Kirche, die er selbst habe bauen lassen, bestattet sei. Karls Heiligkeit wird hier mit denselben beiden Kriegszügen gegen die Heiden motiviert, die man auch schon bei Maerlant und noch früher in der Aachener „Vita Karoli Magni" antrifft. Es handelt sich mithin um Informationen aus historiographischen Schriften. Das ist an sich nicht erstaunlich. Am Beispiel des „Spiegel historiael" Jacobs van Maerlant sah man bereits, daß historiographische Texte als solche galten, die auf lateinischer und damit zugleich wissenschaftlicher Tradition basierten - im Gegensatz zu den volkssprachigen, mündlichen Erzähltraditionen. Vor dem Hintergrund einer sehr divergenten Wertschätzung dieser beiden Informationsquellen erscheint es nur zu verständlich, daß man bei der Komposition der Vita des heiligen Karl auf die Historiographie zurückgriff. In Unkenntnis über den epischen Ursprung des einen Textes (Karls Spanienfeldzug) und den legendarischen Charakter des anderen (Karls Jerusalemfahrt) fand man in diesen beiden Erzählungen augenscheinlich die überzeugendste Grundlage für Karls Heiligkeit. Sein Kampf gegen die Heiden machte ihn zu einem exemplarischen Kreuzfahrer, was auch gegen Ende des 15. Jahrhunderts noch als unanfechtbares Argument für die Heiligkeit eines Menschen angesehen wurde.

4. Schluß Informationen über das Karlsbild der mittelniederländischen Quellen vermitteln demnach zwei unterschiedliche Quellentypen: die erzählepischen und die historiographischen/hagiographischen. In den epischen Texten wird Karl vor allem als Herrscher geschildert, meistens im positiven Sinne als Fürst, der in gutem Einvernehmen mit Gott über sein Reich herrscht. In wenigen Fällen, z. B. im „Renout van Montalbaen", begegnet ein negatives Karlsbild. Auch in Historiographie und Hagiographie agiert Karl selbstverständlich als Herrscher, aber diese Texttypen handeln noch sehr viel stärker als die epischen Texte von einem Herrscher, der gegen die Heiden kämpft, wie ein Kreuzfahrer avant la lettre, wie ein Heiliger. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts scheinen diese beiden Traditionen aufeinanderzuprallen, wie sich aus der biographischen Skizze ergibt, die „Karel ende Elegast" mit einem historischen (und hagiographischen?) Rahmen versehen soll. Eine noch weitergehende Verquickung von Epik und Historiographie bietet das

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Volksbuch über „Den droefliken strijt van Roncevale", dessen ältestes bekanntes Exemplar um 1520 bei Willem Vorsterman in Antwerpen gedruckt wurde, das vermutlich jedoch schon um 1500 erstmals aufgelegt worden war.50 In diesem Buch liefert der „Pseudo-Turpin" die Stoffgrundlage für die Darstellung der Schlacht bei Roncesvalles. Beschrieben wird sie in Prosaform auf der Textgrundlage der Karlserzählung aus „Die alder excellenste cronyke van Brabant". Die Prosa wechselt jedoch mit Reimabschnitten, die aus dem „Roelantslied" stammen und Einzelheiten enthalten, die in den meisten Chroniken fehlen, so etwa detailreiche Kampfdarstellungen oder Berichte über emotionale Aspekte der Geschehnisse (beispielsweise in der Hornpassage oder in der Passage über den Tod Rolands und Oliviers). Diese Reimabschnitte nehmen sich aus wie Miniaturen in einer Chronik. Der Kompilator hat jene .Illustrationen' weitestgehend unverändert gelassen. Lediglich dort, wo der Text sich allzu offenkundig von der Prosa unterscheidet, greift er ab und zu ein. Etwa im Fall des Bischofs Turpin, der dem „Roelantslied" zufolge auf dem Schlachtfeld von Roncesvalles gefallen war, der seiner .eigenen' Chronik nach zu urteilen jedoch die Schlacht überlebte - was es ihm ermöglicht habe, das Geschehene aufzuzeichnen, während er sich von den im Kampf erlittenen Verletzungen erholte. Um diesen Widerspruch zu beheben, wird im Reimtext Bischof Turpin stets durch einen anderen Bischof ersetzt. In einem Prosaabschnitt nimmt der Kompilator zu seinem Verfahren Stellung: Dese bisscop was wel bekent met bisscop Tulpijn. Omdat hi so vrome was, so segghen eenige dat hi selve Tulpijn was, een vanden XII ghenoten. Maer dat en was niet want Tulpijn ende die hertoge van Bayvier waren met coninc Kaerle ende niet opten Roncevale, so die historie hierna verclaren sal. (558-564) (Dieser Bischof kannte Bischof Turpin gut. Weil er so tapfer war, sagen manche, daß er selbst Turpin war, einer der zwölf Pairs. Aber das war nicht der Fall, denn Turpin und der Herzog von Bayern waren bei König Karl und nicht in Roncesvalles, wie später noch deutlich werden wird.)

Durch die starke Gewichtung der historischen Fakten funktioniert diese Erzählung wie ein Geschichtsexempel. Schon im Prolog wird der Leser dazu aufgerufen, gegen die Heiden zu kämpfen, wie Roland und Olivier das mit ihren Schwertern taten. Als großer Gegenspieler jener beiden Protagonisten wird Ganelon (Guwelloen) genannt, dem immer wieder vorgeworfen wird, durch seinen Verrat die Christen bei Roncesvalles ins Verderben gestürzt zu haben. Daß der Text seiner Intention nach eine Geschichtslektion für den spätmittelalterlichen gläubigen Leser sein will, ist überdeutlich. Hochinteressant sind in diesem Zusammenhang Gebrauchsspuren im überlieferten Exemplar von „Den droefliken strijt". Dabei handelt es sich um Marginalien in lateinisch-deutscher Mischsprache an Stellen, die sich auf die christlichen Aspekte der Erzählung beziehen. R. Resoort hat diese Glossen in Zusammenhang gebracht mit seiner Entdeckung, daß das Exemplar, in dem sie sich befinden, aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem süddeutschen 50

Für Information zu „Den droefliken strijt" vgl. van Dijk [Anm. 5], vor allem Kapitel II und III.

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Kloster stammt.51 Das deutet auf einen geistlichen (monastischen?) Benutzerkreis des erhaltenen Exemplars von „Den droefliken strijt". Offen bleibt die Frage, zu welchem Zweck der Text gelesen wurde. Diente er der Predigtvorbereitung? Oder benutzten die Mönche diese Geschichte zur Meditation? Jedenfalls enthält die Erzählung genügend Stoff um zu demonstrieren, wie man sich nicht verhalten sollte (Guwelloen) und wie man sich verhalten sollte (Roland und Olivier), um in den Himmel zu kommen. Karl der Große fungiert in „Den droefliken strijt" als glänzender Bestandteil eines weitgespannten historischen Rahmens. Sein Spanienabenteuer spielt ganz und gar in einer Welt, die er als König beherrscht. Zu Anfang erhält er - als Herzog von Brabant und Lothringen, Markgraf des Heiligen Römischen Reiches, König von Frankreich, Kaiser von Rom und Deutschland und Herr über die gesamte christliche Welt - von Gott den Auftrag, die Heiden in Spanien zu besiegen; zum Schluß wird sein Tod in stereotypen Worten vermeldet, die uns wieder zu der eingangs erwähnten biographischen Skizze zurückführen, die nach „Karel ende Elegast" steht: Kaerle vanden groten Verliese sijnre ghenoten creech een siecte van ongenuechten ende trac tot Aken. Daer sterf hi als hi gheregneert hadde XL VIjaer in Vrancrijck, in Brabant ende in Lothrijck ende XIII Jaer keyser gheweest hadde. Hi sterf int jaer ons Heeren VIII.C ende XIIII, die vijfste kaiende februarii. Ende is begraven in die ronde kercke Onser Vrouwen tot Aken, die hi selve ghesticht hadde, daer hi hoochlijc verheven is. (1176-1183) (Karl wurde krank vor Kummer über den großen Verlust seiner Pairs und zog nach Aachen. Dort starb er, nachdem er 46 Jahre über Frankreich, Brabant und Lothringen geherrscht hatte und 13 Jahre Kaiser gewesen war. Er starb im Jahre des Herrn 814 am 28. Januar. Und er liegt begraben in der runden Marienkirche zu Aachen, die er selbst gestiftet hatte, und wo er sehr stark verehrt wird.)

51

Rob Resoort: Over de betekenis van gebruikssporen in prozaromans en volksboeken. In: Spektator 6 (1976/1977), S. 311-327.

Bernd Basiert

„der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott": Karl der Große in der deutschen erzählenden Literatur des Mittelalters* „Während in Frankreich die Karlsgeste, wie die zahlreichen in der zweiten Hälfte des 12. und zu Anfang des 13. Jahrhunderts entstehenden Branchen bezeugen, neben der Artusepik durchaus einen eigenständigen Platz behauptet und lebendig bleibt, findet diese Tradition in Deutschland keinen Halt"; so lautet das Fazit einer einschlägigen Studie zum Bild Karls des Großen in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts.1 Angesichts der literarischen Karlstradition in der Romania, die ein sehr polyvalentes, von absolut positiver bis zu extrem negativer Darstellung reichendes Bild des Frankenkaisers zeichnet,2 besitzt dieses Ergebnis nach wie vor eine gewisse Gültigkeit. Es bedarf allerdings der Differenzierung, denn in der Darstellung Karls des Großen existieren innerhalb der mittelalterlichen deutschen Literatur große regionale und zeitliche Unterschiede. Das wichtigste Klassifizierungskriterium ist dabei sicherlich eine Diversifizierung nach den verschiedenen Kultur- und Literaturräumen, in denen deutsche Bearbeitungen der französischen Heldenepik entstanden. Sowohl der oberdeutsche Raum, der das heutige Österreich, die deutschsprachige Schweiz sowie die Südhälfte Deutschlands bis etwa zum Main umfaßt, als auch das nördlich davon gelegene (west)mittel- und niederdeutsche Gebiet, das man - gemeinsam mit dem flandrisch-niederländischen Raum - als den großen Kultur- und Literaturraum der ,Nideren Lande' bezeichnen kann,3 brachten seit dem späten 12., frühen 13. Jahrhundert jeweils eine eigenständige Karl-Literatur hervor, die dort jeweils Der vorliegende Beitrag bietet in einigen Teilen eine überarbeitete Fassung meines Artikels „Heros und Heiliger". In: Karl der Große und das Erbe der Kulturen, hg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 2001, S. 197-200. 1

2 3

Karl-Ernst Geith: Carolus Magnus. Studien zur Darstellung Karls des Großen in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Bern, München 1977 (Bibliotheca Germanica 19), S. 255; vgl. zur Darstellung Karls des Großen in der deutschen Literatur des Mittelalters auch Rudolf Köster: Karl der Große als politische Gestalt in der Dichtung des deutschen Mittelalters. Hamburg 1939 (Hansische Forschungen 2); Gerhart Lohse: Das Nachleben Karls des Großen in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. 5 Bde., hg. von Wolfgang Braunfels. Düsseldorf 1965-1967, Bd. 4: Das Nachleben, hg. von Wolfgang Braunfels, Percy Emst Schramm, S. 337-347; Dorothea Klein: Karl in der deutschen Literatur. In: RGA 16 (2000), S. 254-264; vgl. demnächst auch meine Habilitationsschrift: Helden als Heilige. Vgl. etwa den Beitrag von Peter Wunderli in diesem Band, S. 17-37. Vgl. zum Begriff Werner Williams-Krapp: Literaturlandschaften im späten Mittelalter. In: Niederdeutsches Wort 26 (1986), S. 1-7.

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bis ins 15. Jahrhundert rezipiert wurde. Neben entsprechenden Texten aus den beiden großen deutschen Kulturregionen des Mittelalters entstand um die Mitte des 15. Jahrhunderts in einem geographisch recht eng umgrenzten Raum - an (süd)westdeutschen bzw. rheinfränkischen Adelshöfen - ein neuer, der insgesamt dritte Schub deutschsprachiger Literatur um den ersten Frankenkaiser. Alle drei Schübe zusammengenommen erreichten freilich bei weitem nicht die Quantität französischer oder auch niederländischer Karl-Literatur. Über die Gründe für die, verglichen mit der Literatur der westlichen Nachbarn, ungleich geringere Bedeutung der Figur Karls des Großen in der deutschen Literatur des Mittelalters ist seit je viel spekuliert worden, ohne daß man zu einer restlos überzeugenden Erklärung gelangt wäre. Ebenso wenig weiß man, wie - und ob überhaupt die Erinnerung an den Frankenkaiser zwischen dem Zeitpunkt seines Todes und der Mitte des 12. Jahrhunderts, als deutsche Texte über ihn erstmals greifbar werden, außerhalb der lateinischen Sprache und Kultur wach gehalten wurde. Die früher geläufige These, daß ,im Volk' die Erinnerung an den großen König und Kaiser in vielfaltiger Form lebendig geblieben sei, überträgt auf das 19. Jahrhundert zurückgehende romantische Vorstellungen einer Volkspoesie unkritisch auf das Mittelalter, hält wissenschaftlicher Nachprüfung jedoch nicht ernsthaft stand.

1. „der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott" - Karl der Große in der oberdeutschen Literatur zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert Erst mit der um 1150, vermutlich in Regensburg von einem Team (geistlich) gebildeter Autoren verfaßten „Kaiserchronik",4 die die Geschichte des - als Einheit verstandenen - römischen und deutschen imperium am Beispiel der Taten und Schicksale von Päpsten und Kaisern schildert, beginnt unser nachprüfbares Wissen über die Vorstellungen, die sich mit Karl dem Großen in der deutschen Literatur des Mittelalters verbinden. Die engen Beziehungen zwischen den deutschen Stämmen und der römischen Herrschaft einerseits, zwischen den deutschen Königen und den Päpsten andererseits, bilden dabei die übergreifende Leitvorstellung der im Detail oft uneinheitlichen „Kaiserchronik". So verdankt beispielsweise der als erster deutscher Kaiser vorgestellte Caesar seine Herrschaft v. a. den Deutschen, die das Hauptkontingent seines Heeres stellen und ihm zur Macht verhelfen. Es verwundert nicht, wenn im Rahmen dieser Konzeption Karl der Große, durch den das Kaisertum nach mittelalterlicher Vorstellung von den Römern auf die Franken bzw. auf die Deutschen überging, ein ganz besonderes Gewicht erhält. Die ausgewählte Taten Karls schildernde Partie ist dann auch der längste einem Herrscher gewidmete Einzelabschnitt im gesamten Text. 4

Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder. Hannover 1892 (MGH Deutsche Chroniken 1,1). Zur Auseinandersetzung um die Rolle Karls in der „Kaiserchronik" vgl. auch Geith [Anm. 1], S. 48-83.

Karl der Große in der deutschen erzählenden Literatur

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Der Hauptakzent liegt dabei auf der Schilderung von Karls engen Kontakten zu Gott. Bereits vor der 1165 erfolgten Kanonisation galt Karl demnach den Autoren der „Kaiserchronik" als Vermittler des göttlichen Heils auf Erden und damit als ein heiligmäßiger Herrscher. Karls besonderes Verhältnis zu Gott bestimmt etwa die Episode, in der der Kaiser, in einer Moses ähnlichen Rolle, als Gesetzgeber auftritt, dem von einem Engel der göttliche Wille kundgetan wird. Das in kontemporären französischen und lateinischen Texten dominierende Bild Karls als Sieger über die spanischen Heiden, das Bild des miles Christi also, wird in der „Kaiserchronik" hingegen nur in charakteristischer Abwandlung aufgerufen. Wohl finden Karls Zug nach Galatîam (Nordspanien) und eine dort erlittene bittere Niederlage kurze Erwähnung (V. 14915-14920), die sonst in diesem Zusammenhang stets genannten Namen der Kämpfer und Märtyrer Roland, Olivier oder Turpin fehlen hier jedoch vollständig. Statt dessen greift die „Kaiserchronik" auf ein anderes hagiographisches Muster zurück, wenn sie Karls Rache an den Heiden beschreibt. Von einem Engel erhält der nach der Niederlage tief bekümmerte Kaiser den Auftrag, ein Heer junger Mädchen auszurüsten und zu den Pyrenäen kommen zu lassen. Karl folgt den Anweisungen unverzüglich, und als heidnische Kundschafter aus einiger Entfernung die anrückenden Mädchen in ihren Rüstungen beobachten, halten sie sie falschlich für einen Verband austrainierter, junger Kämpfer, die Karl zur Vergeltung heranfuhrt. Mit den etwas doppeldeutigen Worten: sie sint grôz umbe die brüste (sie haben einen gewaltigen Brustkorb, V. 14967) warnen die heidnischen Späher ihren König vor einer Schlacht gegen die vermeintlichen Krieger. Der heidnische König ergibt sich daraufhin kampflos und bekehrt sich zum Christentum. Die Episode endet mit den Worten: alse tet in got sigehaft âne stich unt âne slach. wol rechanten dô die mägede daz, daz got von himele mit in was. ( 14895-14898) (Auf diese Art verhalf ihm Gott,/ ohne Waffen zu benutzen, zum Sieg./ Die Mädchen erkannten da,/ daß Gott im Himmel ihr Verbündeter war).

Zum wiederholten Male unterstreicht die „Kaiserchronik" mit Hilfe dieser Episode die enge Verbindung zwischen Karl und Gott. Zudem wird der Kaiser hier in einer Weise gezeichnet, die typisch fur eine bestimmte Darstellungstradition heiligmäßiger Herrscher im Mittelalter ist und gleichfalls in späteren deutschsprachigen Texten das Bild Karls des Großen, wenn auch manchmal nicht so offensichtlich, noch bestimmen wird. Karl ist in dieser Passage nach dem Muster des ,roi souffrant' 5 modelliert, des leidenden, demütigen, gottesfürchtigen, Krieg und Ge 5

Der Ausdruck wurde geprägt von André Vauchez: La sainteté en Occident aux derniers siècles du Moyen Age d'après les procès de canonisation et les documents hagiographiques. Rom 1981; vgl. zum ,roi souffrant' auch Erich Hoffmann: Die heiligen Könige bei den Angelsachsen und den skandinavischen Völkern. Königsheiliger und Königshaus. Neumün-

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walt abholden Herrschers, der ohne Blut zu vergießen mit göttlicher Hilfe Siege erringt. Ungefähr gleichzeitig mit dieser Darstellung Karls in der „Kaiserchronik" wird beispielsweise Heinrich II., der andere heiliggesprochene deutsche Kaiser, in der, wohl aus Anlaß der Kanonisation Heinrichs im Jahr 1145 verfaßten und einigen Jahrzehnte später ins Deutsche übertragenen, Legende von „Heinrich und Kunegunde" nach genau dem gleichen Modell gezeichnet.6 Die Wirkungsgeschichte der in knapp 40 Textzeugen überlieferten „Kaiserchronik" und somit natürlich auch die der einen integrativen Bestandteil des Textes bildenden Partie über Karl den Großen war offenbar beträchtlich und reicht bis ins 16. Jahrhundert. Die „Kaiserchronik" wurde nicht nur von den Verfassern deutscher und lateinischer Geschichtswerke benutzt, ihre Rezeptionsspuren lassen sich auch in der erzählenden Literatur des Mittelalters verfolgen. So kennen z. B. fast alle deutschen Texte, in denen Karl auftritt, die in der „Kaiserchronik" erstmals nachweisbare Vorstellung der Brüderschaft von Karl und Leo. Keine Berücksichtigung findet dieses verbreitete Motiv indes im vermutlich berühmtesten und der „Kaiserchronik" zeitlich nächsten mittelalterlichen deutschen Text über Karl den Großen: dem von einem clericus namens Konrad nach französischer Vorlage verfaßten „Rolandslied", das im Handlungsverlauf weitestgehend der „Chanson de Roland" entspricht.7 Daß im deutschen „Rolandslied" jeder Hinweis auf den Papst fehlt, dürfte sich also der französischen Quelle verdanken, in der die Figur des Papstes ebenfalls keine Erwähnung findet. In anderen wichtigen Details unterscheidet sich die deutsche Adaptation hingegen signifikant von der „Chanson de Roland". Anders als die „Chanson", die den üblichen heldenepischen Konventionen folgend ihre Produktionssituation verschleiert und sich als , spontaner' mündlicher Vortrag geriert, kennt das schriftliterarischen, gelehrt-rhetorischen Konventionen verpflichtete deutsche Pendant neben einem Prolog (dazu s. u.) auch einen Epilog, in dem unter anderem berichtet wird, ein herzog Hainrich habe auf Wunsch einer edelen herzoginne, aines riehen küniges ster 1975 ; Robert Folz: Les saints rois du moyen âge en occident (VI e -XIIIe siècles). Bruxelles 1984 (Subsidia Hagiographica 68); Gabor Klaniczay: L'image chevaleresque du saint roi au Xlle siècle. In: La royauté sacrée dans le monde chrétien, hg. von Alain Boureau, C. S. Ingerflom. Paris 1992, S. 53-61; ders.: The paradoxes of royal sainthood as illustrated by central european examples. In: Kings and Kingship in Médiéval Europe, hg. von Anne J. Duggan. London 1993, S. 351-374. 6

Heinrich und Kunegunde von Ebernand von Erfurt, hg. von Reinhold Bechstein. Quedlinburg, Leipzig 1860; Adalbert, Vita Heinrici regis et confessoris, hg. von Marcus Stumpf. Hannover 1999 (MGH SS rer. Germ, i.u.s. sep. ed. 69). Zu Heinrich II. vgl. jetzt: Kaiser Heinrich II. 1002-1024. Begleitband zur Bayerischen Landesausstellung 2002, hg. von Josef Kirmeier u. a. Darmstadt 2002.

7

Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck. Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart 1999 (RUB 2746); Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1993 (RUB 2745); einen ausgezeichneten Abriß der Probleme der,,Rolandslied"-Forschung bieten Kommentar und Nachwort von D. Kartschoke in der von ihm besorgten Ausgabe.

Karl der Große in der deutschen erzählenden Literatur

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barn (einer edlen Herzogin, Tochter eines mächtigen Königs; V. 9024f.) daz buoch, [...] gescriben ze den Karlingen (das in Frankreich geschriebene Buch, V. 9023f.) vortragen lassen. Nach längerer Diskussion hat man mittlerweile Konsens darüber erzielt, daß damit Herzog Heinrich der Löwe und seine Frau Mathilde, Tochter des englischen (anglonormannischen) Königs Heinrich II. und dessen Frau Eleonore von Aquitanien, gemeint sein dürften.8 Nachdem lange das im bayrischen Herzogtum Heinrichs des Löwen gelegene Regensburg als Entstehungsort des „Rolandslieds" favorisiert wurde, gilt neuerdings eher die sächsische Residenz Braunschweig als wahrscheinlicher; nicht eindeutig zu klären ist die Entstehungszeit, die zwischen 1170 und 1185 angesetzt wird.9 Umstritten sind überdies die Intentionen, die Heinrich der Löwe mit dem Auftrag einer deutschen Bearbeitung der „Chanson de Roland" verbunden haben könnte. Während früher explizite politische Absichten eines Herrschers dahinter vermutet wurden, der mit dem „Rolandslied" - das zugleich ein Karlslied ist und erst von W. Grimm im frühen 19. Jahrhundert seinen heute gebräuchlichen Titel erhielt - auf seine karolingische Abstammung und damit auf seinen königsgleichen Rang habe verweisen wollen, ist die neuere Forschung demgegenüber skeptisch. Aus dem „Rolandslied" auf ein originär politisches Interesse Heinrichs zu schließen, gibt der Wortlaut kaum her; im übrigen hieße das auch, Möglichkeiten und Bedeutung der volkssprachigen Literatur jener Zeit bei weitem zu überschätzen. Vor dem „Rolandslied" hatte deutschsprachige Dichtung fast ausschließlich geistliche Stoffe behandelt, etwa in Form von Bibel- und Legendenepik, in der Darstellung von Weltgeschichte im Rahmen der Heilsgeschichte usw. Und in dieser Tradition muß wohl auch das „Rolandslied" gesehen werden, das die bereits in der „Chanson de Roland" angelegten, geistlich-hagiographischen Valenzen noch stärker herausstreicht. Anders als die „Chanson de Roland" beginnt das „Rolandslied" etwa mit einem legendentypischen Prolog (V. 1-16). Der Erzähler bittet den Schöpfergott darin um inspirierende Hilfe für die zu erzählende Geschichte und delegiert damit zugleich die Verantwortung für deren Wahrheitsgehalt an Gott. Sehr schnell wird klar, was im Zentrum der nachfolgenden Erzählung stehen wird. Sie handelt von einem tiurlichen man,/ wie er daz gotes riche gewan./ daz ist Karl, der keiser (von einem edlen Mann,/ wie der das Himmelreich gewann./ Das ist Kaiser Karl, V. 9-11). Als Grund für die Heiligkeit Karls wird sein Kampf gegen die Heiden angeführt. Erst nach diesem Prolog werden die aus der „Chanson de Roland" bekannten Ereignisse geschildert, denen in der deutschen Fassung allerdings noch eine längere Erzählpartie vorgeschaltet ist, die an die Eingangspassage des „Pseudo-Turpin" erinnert. Demnach habe ein Bote

8

Vgl. dazu Dieter Kartschoke: Die Datierung des deutschen Rolandsliedes. Stuttgart 1965 (Germanistische Abhandlungen 9).

9

Vgl. zu diesem gesamten Problemkomplex Bernd Bastert: Wie er daz gotes riche gewan ... Das Rolandslied des Klerikers Konrad und der Hof Heinrichs des Löwen. In: Courtly Literature and Clerical Culture, hg. von Christoph Huber, Henrike Lähnemann. Tübingen 2002, S. 195-210.

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Gottes Karl während eines inständigen Gebets dazu aufgefordert, Spanien von den Heiden zu befreien (V. 47-65). Karl ruft daraufhin seine zwölf Pairs oder herren, wie sie im „Rolandslied" genannt werden, zusammen und begeistert sie für den bevorstehenden Feldzug. Diese wiederum fordern ihre Lehnsleute zur Heerfahrt nach Spanien auf, und vor dem bald zusammenströmenden Heer hält der Kaiser von einer Anhöhe herab eine Ansprache, die alle Kennzeichen zeitgenössischer Kreuzzugspredigten aufweist (V. 181-221.). In Karls Rede fehlt weder der Bezug auf einschlägige Bibelstellen wie Mt. 19,29: swer wip oder kint lät,/ Ms oder eigen,/ daz wil ich iu bescaiden,/ wie in got Ionen wil:/ er git ime zehenzec stunt sam vii,/ dar zuo sin himelriche. (wer Frau und Kinder verläßt,/ Haus und Besitz/ - ich will euch sagen,/ wie Gott den belohnen wird:/ Er wird ihm hundertfach geben/ und dazu das Paradies, V. 184—189), noch fehlt der Hinweis auf die Boshafitigkeit und Grausamkeit der heidnischen Götzendiener (V. 199-209). Nur folgerichtig erscheint es da, daß die Heeresversammlung die predigtartige Ansprache des Kaisers mit einem einstimmigen Amen beantwortet. Nachdem auch Bischof Turpin noch die von ihm als heilige pilgerime (heilige Pilger, V. 245) Angesprochenen aufgefordert hat, sich das Kreuz anzuheften, bricht das Kreuzfahrerheer auf und erobert in mehreren Schlachten das gesamte heidnische Spanien - bis auf Zaragoza. Damit ist das „Rolandslied" dann am Beginn der „Chanson de Roland" angelangt (V. 361). Die Notwendigkeit dieser relativ ausführlichen, ätiologischen Vorgeschichte erklärt sich wohl aus dem Faktum, daß das „Rolandslied", im Unterschied zur „Chanson de Roland", kaum medias in res einsetzen konnte, da der erstmals in deutsche Verse übertragene Stoff aus der französischen Heldenepik dem deutschen Publikum noch recht ungewohnt gewesen sein dürfte. Der militärisch-asketischen Kreuzzugs- und Märtyrerideologie entsprechend, die den gesamten Text bestimmt, wird auch Karl nach dem für den Feudaladel attraktiven Herrschermodell des miles oder athleta Christi gezeichnet, das ebenfalls im „Pseudo-Turpin" oder in der etwa gleichzeitigen Aachener „Vita Karoli Magni" begegnet. Doch der, wie schon aus der Bezeichnung phaffe (= clericus) hervorgeht, sicher lateinisch und geistlich gebildete Verfasser des „Rolandslieds" scheint diesem, dem kämpferischen Adelsideal so sehr entsprechenden, Beschreibungsmuster für einen heiligmäßigen Herrscher eine gewisse Skepsis entgegengebracht bzw. es zur Charakterisierung Karls für nicht ausreichend gehalten zu haben. Und so schiebt sich im „Rolandslied" unter das Modell des miles Christi der dem deutschen Bearbeiter anscheinend ebenso vertraute Entwurf eines .klerikalen' Herrschers, wie er sich etwa gleichzeitig auch im Karlsteil der „Kaiserchronik" oder in der Legende Heinrichs II. nachweisen läßt. Ausdrücklich als vorbildlich wird Karls Verhalten in einer Szene bezeichnet, die die französische Quelle in dieser Art nicht kennt (V. 2985-3019). Nachdem Roland als Anführer der Nachhut ausersehen ist, beschleichen den Kaiser furchtbare Vorahnungen und Träume. Unter Tränen betet Karl in der Nacht zu Gott um die Vergebung seiner Sündenschuld, insbesondere möchte er keiner houpthaften

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sünde (Todsünde, V. 3003) schuldig sein; als vergleichenden Beweis für Karls Büßfertigkeit erwähnt der Text in diesem Zusammenhang kurz die bereits aus der „Kaiserchronik" bekannte Geschichte von St. Ägidius, der bei Gott die Vergebung einer sculde (Schuld, Sünde, V. 3007) Karls erwirkt habe. Die Forschung hat sich besonders für die Art von Karls ungenannter Schuld interessiert, hinter der manchmal eine, in späteren Quellen behauptete, inzestuöse Verbindung zwischen Karl und seiner Schwester vermutet wird, der Roland entsprungen sein soll. Das „Rolandslied" selbst enthält keinerlei Hinweise auf eine solche Auslegungsmöglichkeit, was wohl bedeuten dürfte, daß der Autor das Motiv von Rolands inzestuöser Geburt entweder nicht kannte oder es ihn im Rahmen seines Werks nicht interessierte. In der Tat liegt der Erzählfokus hier eher auf der, schon in der „Kaiserchronik" begegnenden, Beschreibung des asketischen, demütigen, leidenden Herrschers, der stellvertretend für sein Volk die Sündenlast auf sich nimmt (vgl. V. 3049-3065). Das Karlsbild des „Rolandslieds" umfaßt also eine größere Spannbreite als nur das geläufige Muster des miles Christi. Auch das neben dem Typus des aktiven Gottesstreiters stärker als in der „Chanson de Roland" betonte Bild des leidenden Sünders fugt sich allerdings hervorragend zur Kreuzzugsthematik, da ungefähr seit Mitte des 12. Jahrhunderts das Verhältnis von Kreuzzug und daraus resultierender Tilgung der Sündenschuld kontrovers diskutiert wurde.10 Wie präsent dem clericus Konrad das ältere, bereits am Beispiel der „Kaiserchronik" beschriebene, Modell des büß- und friedfertigen Königs war und welche Schwierigkeiten ihm der Paradigmenwechsel von einem in der Furcht Gottes stehenden, friedlich gesinnten, zu einem im göttlichen Auftrag Krieg fuhrenden Herrscher bereitet haben mag, demonstriert nichts deutlicher als exkulpierende Änderungen, die jeweils eingefügt oder gegenüber der französischen Vorlage verstärkt werden, wenn Karl wirklich einmal aktiv in das Kampfgeschehen eingreift. Nur bei zwei Gelegenheiten zieht Karl überhaupt sein Schwert, und jedesmal sieht sich der deutsche Autor, stärker noch als sein französisches Pendant, zu einer Art Entschuldigung dieses Verhaltens veranlaßt. Einmal tötet Karl aus Notwehr, wenn er im letzten Augenblick Naimes zu Hilfe eilt (V. 8344—8354), im anderen Fall, im Zweikampf gegen Paligan, erhält der wankende Kaiser vom Himmel eigens eine Erlaubnis zu töten, ehe er den entscheidenden Hieb gegen den Heidenkönig ausführt:

10

Jacques Le Goff: Das Hochmittelalter. Frankfurt/M. 1965 (Fischer Weltgeschichte 11), S. 135: „Die Kreuzzüge waren zur christlichen Buße schlechthin geworden." Vgl. zur enormen Bedeutung des Kreuzzugsablasses für die Kreuzzugsbewegung vornehmlich des 12. Jahrhunderts ebenfalls Hans Eberhard Mayer: Geschichte der Kreuzzüge. Stuttgart, Berlin 81995, S. 34ff. und Carl Erdmann: Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens. Stuttgart 1935 (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte 6), S. 316f. Zu dem in Kreuzzugspredigten und -aufrufen häufig geäußerten Gedanken einer wirksamen Bußleistung durch Teilnahme am Kreuzzug vgl. auch Valmar Cramer: Die Kreuzzugspredigt zur Befreiung des Heiligen Landes 1095-1270. Studien zur Geschichte und Charakteristik der Kreuzzugspropaganda. Köln 1939.

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Bernd Basiert dö kom im an der frist ain tröst von himele. zuo im sprach diu stimme: , wes sparstü den man? diu urtaile ist über in getan, verfluochet ist al sin tail. got git dir daz hail dine viante geligent unter dinen fiiezen.' ze himele genaic er suoze. (8542-8550)

(Genau rechtzeitig erreichte ihn da/ ein Trost vom Himmel./ Ein Stimme sprach zu ihm:/ ,Warum schonst du den Mann?/ Das Urteil über ihn ist gesprochen./ Alles, was zu ihm gehört, ist verflucht./ Dir aber gewährt Gott seine Hilfe,/ deine Feinde werden unter deinen Füßen liegen.' / Fromm verneigte Karl sich vor dem Himmel.)

Erst nach dieser von Gott selbst gewährten Erlaubnis zu töten schlägt Karl dem Heidenkönig Paligan den Kopf ab, und am Himmel erscheint ein Licht. Das Karlsbild des deutschen „Rolandslieds" erweist sich demnach als ein aus unterschiedlichen, teilweise gegenläufigen hagiographischen Diskursen modelliertes. Erreicht wurde dadurch aber nicht etwa eine Diffusion oder ein Auseinanderdriften, sondern eher eine Verstärkung und Vereindeutigung der legendarischhagiographischen Tendenzen des Herrscherbildes, die sich im übrigen gut zu jener auch sonst nachweisbaren ,Vergeistlichungstendenz' fugen, die bereits mehrfach als charakteristisch für das deutsche „Rolandslied" beschrieben wurde. Die Änderungen reichen dabei vom legendentypischen Prolog, den nur der deutsche Text kennt, bis zur letzten Epilogzeile, die mit der Wendung tu autem, domine, miserere nobis (V. 9094) die Schlußformel des Stundengebets bzw. der klösterlichen Tischlesung aufnimmt und damit den legendarischen Anspruch des „Rolandslieds" an exponierter Stelle noch einmal deutlich herausstellt." Außer in der einzig vollständigen, um 1200 datierten, Heidelberger Handschrift ist das „Rolandslied" in sechs größeren oder kleineren Bruchstücken überliefert, die ebenfalls sämtlich dem späten 12. oder der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts angehören. Für einen so frühen volkssprachlichen Text ist das eine beachtliche Verbreitung. Auf die Bedeutung in den Augen der Zeitgenossen verweist überdies die Tatsache, daß das „Rolandslied" als erster volkssprachlicher Text weltlichen Inhalts überhaupt einer Illustration des Erzählgeschehens für würdig befunden wurde.12 Obwohl das „Rolandslied" zweifellos im oberdeutschen 11

Die legendarischen Valenzen des deutschen „Rolandslieds" wurden besonders herausgearbeitet von Friedrich Ohly: Zum Dichtungsschluß Tu autem, domine, miserere nobis. In: DVjs 47 (1973), S. 26-68; ders.: Die Legende von Karl und Roland. In: Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur, hg. von L. Peter Johnson u. a. Berlin 1974, S. 292-343.

12

Vgl. Norbert H. Ott: Pictura docet. Zu Gebrauchssituation, Deutungsangebot und Appellcharakter ikonographischer Zeugnisse mittelalterlicher Literatur am Beispiel der Chanson de geste. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von Gerhard Hahn, Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), S. 187-212. Reproduktionen der Federzeichnungen aus der Heidelberger „Rolandslied"-Handschrift und der prachtvollen Miniaturen aus „Karl"-Hand-

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Kulturraum bekannt war, wie etwa Anspielungen im „Willehalm" des Wolfram von Eschenbach belegen (s. u.), scheint dem Überlieferungsbefund zufolge seine Rezeption im nieder- und mitteldeutschen Raum intensiver gewesen zu sein.13 Wirklich bekannt wurde der Stoff des „Rolandslieds" und mit ihm die Figur des gegen die spanischen Heiden streitenden Karl in Oberdeutschland erst durch eine Bearbeitung, die das Werk des Pfaffen Konrad im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts von einem Autor erfuhr, der sich selbst ,Der Stricker' nennt. Der Name ist wohl eine Verdeutschung des lateinischen ,textor' und bedeutet damit soviel wie Autor oder Dichter. Wie er zu Anfang seines Textes selbst sagt, hat der Stricker daz alte maere des „Rolandslieds" erniuwet (die alte Erzählung erneuert/überarbeitet, V. 115f.), was sowohl auf formale wie inhaltliche Aspekte bezogen werden kann. Formal hat der Stricker Wortgebrauch und Reimtechnik den gerade zwischen 1170/80 und 1200/20 stark weiterentwickelten Standards der mittelhochdeutschen Literatursprache angepaßt, inhaltlich hat er - freilich ohne den aus dem „Rolandslied" bekannten Handlungskern in seiner Grundsubstanz zu verändern - Ergänzungen, Umstellungen und der Erzähllogik dienende Verbesserungen am älteren Werk vorgenommen. Die einschneidendsten Variationen lassen sich dabei zu Anfang und gegen Ende des von der Forschung schlicht als „Karl" bezeichneten Werks konstatieren.14 Bevor er sich dem aus Konrads „Rolandslied" bekannten Geschehen zuwendet, beschreibt der Stricker in einem rund 600 Verse umfassenden Zusatz Kindheit, Jugend und erste Taten Kaiser Karls. Diese Partie beginnt mit einem knappen Verweis auf die im Mittelalter sehr bekannte Erzählung über Karls Eltern, Pipin und Berta, deren zunächst durch eine falsche Braut (die sich ebenfalls Berta nennt) verhinderte Eheschließung, die Aufdeckung des Betrugs, sowie die daraus resultierende .richtige' Hochzeit, die dann schließlich zur Geburt Karls führt. Aus Pipins Verbindung mit der falschen Berta entstammen laut Stricker drei Söhne: Leo (hier variiert Stricker das aus der „Kaiserchronik" stammende Motiv der Brüderschaft von Karl und Leo) sowie Wineman und Rapote - diese Namen stimmen absolut nicht zur sonst

Schriften finden sich bei Rita Lejeune, Jacques Stiennon: Die Rolandssage in der mittelalterlichen Kunst. 2 Bde. Brüssel 1966. 13

Vgl. BarbaraGutfleisch-Ziche: Zur Überlieferung des deutschen .Rolandsliedes'. Datierung und Lokalisierung der Handschriften nach ihren paläographischen und schreibsprachlichen Eigenschaften. In: ZfdA 125 (1996), S. 142-186; Bernd Bastert: Konrads Rolandslied und Strickers Karl der Große. Unterschiede in Konzeption und Überlieferung. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität von 1200-1300. Cambridger Symposium 2001, hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst, Christopher Young. Tübingen 2003, S. 91-110.

14

Karl der Große von dem Stricker, hg. von Karl Bartsch. Mit einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke; Texte des Mittelalters). Zu Strickers „Karl" vgl. Udo von der Burg: Strickers Karl der Große als Bearbeitung des Rolandslieds. Studien zu Form und Inhalt. Göppingen 1974 (GAG 131); Rüdiger Schnell: Strickers ,Karl der Große'. Literarische Tradition und politische Wirklichkeit. In: ZfdPh 93 (1974), Sonderheft, S. 50-80; Rüdiger Brandt: ,erniuwet'. Studien zu Art, Grad und Aussagefolgen der Rolandsliedbearbeitung in Strickers 'Karl'. Göppingen 1981 (GAG 327); Dorothea Klein: Strickers ,Karl der Grosse' oder die Rückkehr zur geistlichen Verbindlichkeit. In: Wolftam-Studien XV (1998), S. 299-323.

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bekannten literarischen Tradition, sind aber bezeichnend für Strickers Verfahren einer .Rationalisierung' des „Rolandslieds". Bei Konrad erhielten Wineman und Rapote nämlich nach Rolands Märtyrertod Horn und Schwert, die zentralen Attribute des im Kampf gegen die Heiden gefallenen Protagonisten, ohne zuvor allerdings jemals in Erscheinung getreten zu sein. Wenn sie beim Stricker nach Rolands Tod ebenfalls damit ausgezeichnet werden, leitet sich die Berechtigung aus ihrer nahen Verwandtschaft zum Kaiser ab. Zunächst aber machen die Halbbrüder dem jungen Karl den Thron streitig. Der flieht daraufhin nach Spanien und findet Asyl bei König Marsilie, seinem späteren Feind - erneut eine, allerdings unausgesprochene, Verbindung zwischen Vorgeschichte und Haupthandlung. Als die attraktive Schwester des spanischen Heidenkönigs sich in den mittlerweile zum strahlenden Helden herangewachsenen Karl verliebt und ihm das auch deutlich zu verstehen gibt, flieht dieser zurück nach Frankreich, wo er alsbald die Herrschaft von seinen usurpatorischen Halbbrüdern erringen kann, sie allerdings begnadigt. Ein Engel entdeckt Karl kurz darauf sein weiteres Schicksal: die Eroberung halb Europas, die Wahl seines Halbbruders Leo zum Papst und die daraus resultierende Weihe Karls zum Kaiser, die Überwindung der spanischen Heiden - zu diesem Zweck übergibt der Gottesbote Karl ein wundertätiges Schwert und Horn (Durndart und Olifant), das er an seinen Neffen Roland weiterreichen soll - , den Märtyrertod Rolands und nicht zuletzt die Aufnahme Karls in den Himmel. So bestärkt nimmt der zukünftige Kaiser und Heilige die ihm zukommenden Aufgaben in Angriff und ruft schließlich, mit Unterstützung des Papstes, zu einem Kreuzzug gegen die Sarazenen in Spanien auf. Erst jetzt schaltet der Stricker das, inhaltlich leicht überarbeitete, „Rolandslied" ein, das gegen Ende noch einmal durch Einschübe erweitert ist, die aus der jüngeren altfranzösischen „Chanson de Roland"-Tradition stammen. Beschrieben werden in diesen, dem „Rolandslied" hinzugefügten, Passagen z. B. die mirakulöse Bestattung der Toten der Roncesvalles-Schlacht in prächtigen Marmorsärgen sowie ein gerade noch vereitelter Fluchtversuch Geneluns vor seinem Prozeß. Der „Karl" endet mit einem Ausblick auf die nächste Generation von Kämpfern, die das unendliche Ringen zwischen Christen und Heiden, den ewigen Streit zwischen Gut und Böse, fortsetzen wird: stellvertretend genannt sind Ludewic und Terramer (V. 12198). Von Erzähllogik wie Chronologie her knüpft der Stricker damit geschickt an ein berühmtes Werk mit ähnlicher Thematik an. Denn im etwas früher entstandenen „Willehalm" Wolframs von Eschenbach war beschrieben worden, wie unter der Oberherrschaft von Terramer, einem Verwandten des Heidenkönigs Paligan aus dem „Rolandslied", und Karls Sohn Ludwig (bzw. dem im königlichen Auftrag handelnden Markgraf Willehalm) erneut blutige Schlachten zwischen Christen und Heiden ausgetragen werden. Einige Handschriften haben den von Stricker avisierten Konnex zwischen „Karl" und „Willehalm" realisiert und beide Texte hintereinander geschaltet. Die letzten Zeilen von Strickers „Rolandslied"-Adaptation stehen noch einmal ganz im Zeichen der Verherrlichung Karls:

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mit also kreßiger nôt was Karl, um im der lîp erstarp: diÎ mit er vollecltche erwarp den stuol der ewigen jugent. nu helfe uns got durch sine tugent, daz wir êwecliche müezen sehen, wie sante Karle si geschehen. ( 12200-12206) (In solch furchtbarem Leid/ befand sich Karl, bis er starb./ Er erwarb sich auf diese Weise/ aber das ewige Leben./ In seiner Güte schenke uns Gott,/ daß wir immer vor Augen haben mögen,/ wie es dem heiligen Karl erging.)

Zugleich wird in diesen Versen die Intention des Textes deutlich: Die im „Rolandslied" geschilderte zentrale Episode aus Karls heiligmäßigem Leben - der Einsatz des Lebens gegen die spanischen Heiden - steht beim Stricker zwar nach wie vor im Mittelpunkt, wird jedoch, gängigen hagiographischen Erzählschemata entsprechend, zu einer regelrechten Heiligenvita ausgeweitet, die Karls gesamtes Leben - angefangen bei der Elternvorgeschichte, über Kindheit, Jugend und Reife bis zum Tod, oder besser: bis zum Sieg über den Tod - umfaßt. Anders als im „Rolandslied", wo Karl zwar wie ein Heiliger beschrieben, doch nie explizit als Heiliger bezeichnet wurde, stellt Strickers Fassung den König dann auch bereits im Prolog als heiligefnj man (V. 100) vor, der bei Gott Fürbitte fur die ihn Anrufenden einlegen könne (V. 104-114). Im weiteren Verlauf der Erzählung wird über ihn behauptet, daß im was besessen sîn muot/ mit des heiligen geistes kraft./ [...] er ist ouch heilic âne wân (seine Gesinnung wurde/ durch die Kraft des Heiligen Geistes bestimmt./ [...] Ohne jeden Zweifel ist er heilig, V. 1258-1262). Und noch der letzte Vers des Textes bezeichnet ihn als sante Karle (V. 12206), der den stuol der êwigen jugent erworben habe (V. 12203). Stärker noch als das „Rolandslied" ist der „Karl" somit ein legendenähnlicher Text, in dem sich eine ganze Reihe hagiographischer Schreibmuster ausmachen lassen.15 Auf Karl bezogen sind dies - neben dem vorherrschenden Bild des zum Martyrium bereiten Glaubensstreiters und confessors - wiederum das bereits aus der „Kaiserchronik" und dem „Rolandslied" bekannte Herrschermodell des leidenden Königs (vgl. etwa die Schlußverse), daneben aber auch das gängige Ideal des einer (erotischen) Versuchung widerstehenden Heiligen - in diesem Sinne darf wohl Karls Flucht vor der attraktiven Schwester des heidnischen Königs verstanden werden. Hagiographischen Mustern zuwiderlaufende Passagen des „Rolandslieds", wie etwa die ausführliche Beschreibung des mit allem höfischrepräsentativen Aufwand inszenierten Hoflager Karls in Spanien (vgl. „Rolandslied" V. 641-674), ändert der Stricker hingegen in bezeichnender Weise ab (vgl. V. 1199-1230). Die Strickers „Karl" charakterisierenden massiven hagiographischen Valenzen schlagen sich ebenfalls in Teilen der - mit über 40 Handschriften und Fragmenten ungewöhnlich reichen - Überlieferung des Werks nieder. Strickers Karl-Vita 15

Vgl. Ohly, Legende [Anm. 11] und Klein [Anm. 14],

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ist demnach offensichtlich als Teil der Heilsgeschichte aufgefaßt worden. Darauf deutet etwa die zweimalige Überlieferungssymbiose von „Karl" und der heilsgeschichtlich ausgerichteten „Weltchronik" des Rudolf von Ems. Daß Rudolfs „Weltchronik" und Strickers „Karl" in beiden Handschriften kostbare Buchmalereien auf einem Niveau zieren, wie sie in Deutschland ansonsten nur lateinische Codices, insbesondere solche mit geistlich-hagiographischer Thematik, aufzuweisen haben, dürfte wohl ebenfalls auf das hagiographische Potential der Texte zurückzuführen sein. In deutschsprachige Chroniken mit eher .weltlicher' Ausrichtung, z. B. die „Weltchronik" von Jans Enikel, fand der Karl/Roland-Stoff hingegen kaum einmal Eingang - und wenn, dann nur in verkürzter bzw. in abgewandelter, nicht aus der Chanson de geste-Tradition stammender, Form.16 Hier zeigt sich ein gravierender Unterschied zur französischen Historiographie, wo ein enger Bezug zwischen Chanson de geste und volkssprachiger Geschichtsschreibung existiert.17 Angefangen bei den „Grandes Chroniques" über die chronikalischen Werke eines Philippe Mousket, Jean d'Outremeuse oder David Aubert erscheint Karl dort oft als Figur eines dezidiert nationalen oder auch lokalen, in jedem Fall aber spezifisch machtpolitischen Interesses. Das verwundert kaum, wenn man bedenkt, daß die karolingische Dynastie und Geschichte, und damit zugleich natürlich auch Charlemagne, im Gebiet der Francia als identitätsstiftender Gründungsmythos fungierte18 - eine Rolle, die für das mittelalterliche imperium eher das römische Reich und dessen Geschichte einnahmen (vgl. etwa die Konzeption der „Kaiserchronik"). Aus jenem auf Rom rekurrierenden Gründungsmythos resultierte für den Kaiser und das imperium die „höchste Legitimität, die in Europa denkbar war, [da sie] durch den Christengott und das Römerreich zugleich vermittelt wurde." Für das französische Königtum blieb demzufolge nur der Griff „nach der zweitbesten im päpstlichen Europa verfügbaren Legitimierung (die der deutsche Hof vielleicht allzu unbedenklich gegenüber diesem 16

Vgl. Geith [Anm. 1], S. 193-241; Frank Shaw: Die Darstellung Karls des Großen in Jans Enikels Weltchronik und anderweit. In: Geistliche und weltliche Epik des Mittelalters in Österreich, hg. von David McLintock u. a. Göppingen 1987 (GAG 446), S. 119-128. Zur Darstellung Karls des Großen bei Jans Enikel vgl. auch Frank Fürbeth: Carolus Magus. Zur dunklen Seite des Karlsbildes im Mittelalter. In: Karl der Große und das Erbe der Kulturen, hg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 2001, S. 314-325.

17

Vgl. etwa Gabrielle M. Spiegel: The Chronicle Tradition of Saint-Denis. Brookline, Leyden 1978; dies.: Romancing the Past. The Rise of Vernacular Prose Historiography in Thirteenth-Century France. Berkeley 1993. Vgl. auch Joseph J. Duggan: Medieval Epic as Popular Historiography: Appropriation of Historical Knowledge in the Vernacular Epic. In: G R L M A X I / l . S . 285-311.

18

Aus der reichen Forschungsliteratur zu dieser Thematik seien genannt Karl Ferdinand Werner: Die Legitimität der Kapetinger und die Entstehung des „Reditus regni Francorum ad stirpem Karoli". In: Die Welt als Geschichte 12 (1952), S. 203-225; Joachim Ehlers: Kontinuität und Tradition als Grundlage mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich. In: Beiträge zur Bildung der französischen Nation im Früh- und Hochmittelalter, hg. von Helmut Beumann. Sigmaringen 1983, S. 15-47. Vgl. zum Thema des französischen Karlsmythos auch die Studie von Robert Morrissey: L'empereur á la barbe fleurie. Charlemagne dans la mythologie et l'histoire de France. Paris 1997.

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Zugriff unbehütet ließ), nach der karolingischen (für seine Dynastie) und nach der fränkischen (für sein Land)."19 Zumindest in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters wird Karl der Große dann auch häufig kommentarlos und ohne spürbare Ressentiments als Franzose bzw. als Franke, als Kerling, bezeichnet.20 Während in der volkssprachigen Tradition Frankreichs also seit den Tagen der „Chanson de Roland", in der die dulce France mehrfach hervorgehoben ist, der von Anfang an dem Karl/Roland-Stoff inhärente politisch-historische Aspekt betont wird, setzt die oberdeutsche Literatur - unbeschwert von der Vorstellung einer mythisch-nationalen Funktion des großen Frankenkaisers - den Akzent seit der „Kaiserchronik" und v. a. seit Strickers „Karl" etwas anders und stellt stattdessen die hagiographischen Valenzen im Karlsbild auf unterschiedliche Weise heraus. Die französische Chanson de geste, ursprünglich ein das fränkische ,heroic age' beschreibender heldenepischer Stoff mit hagiographischem Nebenpotential, wird jenseits des Rheins durch diese Umkodierung zur Hagiographie auf heldenepischer Grundlage. Die Vorstellung vom heiligen Karl fügt sich damit problemlos in den Gesamtzusammenhang der mittelhochdeutschen Chanson de geste-Rezeption.21 Seine extremste Ausprägung fand die oberdeutsche Tradition des heiligen Karl in einem in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Zürich entstandenen Prosatext, das von seinen Herausgebern treffend als „Buch vom Heiligen Karl" tituliert wurde.22 Dessen erster Teil beschreibt, wie in vielen Heiligenviten üblich, Vorgeschichte und Herkunft des gefeierten Heiligen. Als Karls Großeltern mütterlicherseits werden hier der zum Christentum konvertierte Sohn eines heidnischen Königs aus Spanien und eine nach Spanien verschlagene Christin genannt (die Vorlage bildet die Geschichte von „Flore und Blancheflur"). Deren Tochter Berta nimmt Karls Vater Pipin zur Frau. Karls Name leitet sich - wohl nach romanischer Vorlage - in der Zürcher Prosa übrigens aus der Auffassung ab, daß Karl auf einem Karren (frz. charette) gezeugt worden sein soll. Der zweite, mit Abstand längste Teil des „Buchs vom heiligen Karl" ist eine auf ihren Erzählkern reduzierte Bearbeitung von Strickers „Karl", die an einigen Stellen allerdings um zusätzliches Material erweitert ist. So erfahrt man beispielsweise aus dem „Buch 19

Peter Moraw: Neue Ergebnisse der deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters. In: Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, hg. von Rainer Christoph Schwinges. Sigmaringen 1995, S. 47-71, hier S. 56 und S. 58.

20

Vgl. Geith [Anm. 1], S. 261; Rüdiger Schnell: Deutsche Literatur und deutsches Nationsbewußtsein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hg. von Joachim Ehlers. Sigmaringen 1989 (Nationes 8), S. 247-319, hier 316f.

21

Vgl. dazu Bastert: Helden als Heilige [Anm. 1].

22

Das Buch vom Heiligen Karl. In: Deutsche Volksbücher. Aus einer Zürcher Handschrift des fünfzehnten Jahrhunderts, hg. von Albert Bachmann, Samuel Singer. Tübingen 1889 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 185), S. 3-114. Vgl. Urte Kletzin: Das Buch vom Heiligen Karl, eine Zürcher Prosa. In: PBB 55 (1931), S. 1-73; Edith Feistner: Zürcher Buch vom heiligen Karl. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. von Walther Killy. 15 Bde. Gütersloh, München 1988-1993, Bd. 12, S. 528f.

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vom heiligen Karl" als erstem deutschen Text, daß eine von Karls großen Sünden der (unwissentliche) Inzest mit seiner Schwester gewesen sei, der zu Rolands Geburt gefuhrt habe. Der dritte Teil des „Buchs vom heiligen Karl" setzt sich zusammen aus ausgewählten Passagen des „Pseudo-Turpin", legendarischen und sagenhaften Berichten über Karl, die alle ein gemeinsames Ziel verfolgen: Beschrieben werden, wie zum Abschluß einer schemakonformen Heiligenvita üblich, die Zeichen, durch die Gott schon zu Lebzeiten Karls auf dessen Heiligkeit hinweist sowie die Wunder, die Karl nach seinem Tod bewirkt. Beides untrügliche Indizien für Karls sanctitas, die auch in den anderen Teilen vom Redaktor des „Buchs vom heiligen Karl" durch die an den biblischen Jesus erinnernden Züge des Königs überdeutlich gemacht wird. So prophezeien z. B. Pipins Sterndeuter am Abend vor Karls Zeugung die Geburt eines Kindes, von dem die cristenheit groß nucz enpfachen wurd und von dem man wurd singen und sagen, die wil die weit stüend (das sehr nützlich für die Christenheit sein und von dem man solange hören wird, wie die Welt existiert, S. 16, Z. 23f.). Wie bei der Geburt Karls klingen auch am Ende seines Lebens christomimetische Züge an. Nachdem Roland dem König durch eine Erscheinung den Tod angekündigt hat, bekreuzigt Karl sich, leyt do syn hend crüczwiß über sin hercz und thet syne ougen zuo und fyeng ann und sang den verß: „In manus tuas, domine, commendo spiritum meum. " Und nach dem verschiede er (legte dann seine Hände gekreuzt über die Brust, schloß die Augen und sang den Bibelvers „In deine Hände, Herr, befehle ich meinen Geist" - und darauf starb er; S. 110, Z. 26-29). Der Text entstand, wie er selbst andeutet (S. 113, Z. 31 bis S. 114, Z. 3), im Zusammenhang mit dem Karl-Kult in Zürich, dem bis zur Reformation - neben Aachen - wohl wichtigsten Ort der Verehrung Karls des Großen. Karl erscheint dem Redaktor deshalb wertvoller für das Christentum als selbst die Apostel: der Cristenheyt als nücz [...] als kein czelffbott (S. 109, Z. 14). Die Wirkung des „Buchs vom heiligen Karl" scheint über Zürich allerdings kaum hinaus gereicht zu haben. Es sind lediglich zwei weitere, zum gleichen Zürcher Umfeld gehörende (Teil-)Abschriften bekannt.

2. Karlle is in der heiligen orden in deme schonen hemelrich Karl der Große in der Literatur des mittel- und niederdeutschen Raums Welche anderen erzählerischen Möglichkeiten eine Adaptation französischer Chansons de geste bot, demonstriert der zweite Rezeptionsschub von Karl-Literatur, der ungefähr seit der Mitte des 13. Jahrhunderts den deutschen Sprachraum erreichte. Ihr Publikum fanden die entsprechenden Texte, wohl über die vermittelnde Instanz der v. a. in Flandern entstandenen mittelniederländischen Literatur, im niederdeutschen und mitteldeutschen Raum - also im Rheinland, in Westfalen, Thüringen und Sachsen. Der epische Karl-Stoff gelangte damit in ein Gebiet, in dem der Frankenkaiser zum Teil bereits seit dem 9. Jahrhundert große Ver-

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Literatur

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ehrung als ,Sachsenapostel' genoß, der den ehemals heidnischen Stämmen das Christentum brachte und v o n der Kirche als Gründer der Bistümer Münster, O s nabrück, Paderborn, Minden, Verden, H i l d e s h e i m und Halberstadt verehrt wurde. 2 3 M ö g l i c h e r w e i s e hängt auch die Entstehung des „Rolandslieds", das v o n e i n e m clericus

in der U m g e b u n g des Braunschweiger H o f e s Heinrichs des L ö -

w e n verfaßt worden sein könnte und jedenfalls intensiv im nieder- und mitteldeutschen Raum rezipiert wurde (s. o.), mit der dortigen, spezifisch sächsischen Karlsverehrung zusammen. D e n n eine volkssprachliche Bearbeitung der Taten des siegreichen Heidenkämpfers dürfte i m sächsischen Klerus, der seit j e mit der Figur des als Streiter fur das Christentum gefeierten apostolus

saxonum

vertraut

war, auf großes Interesse gestoßen sein. Es erscheint durchaus vorstellbar, daß sogar entscheidende Anregungen zur deutschen Adaptation der „Chanson de Roland" aus den Reihen literarisch gebildeter clerici

kamen. Schließlich ist die

Interferenz v o n klerikalen und adligen Interessen ein Grundkonstituens der sich entwickelnden volkssprachlichen Literaturen in Europa. Interessanterweise wird im nieder- und mitteldeutschen R a u m j e d o c h nicht nur das Muster des heiligen Karl rezipiert, sondern ebenso j e n e s polyvalente Karlsbild, das in der französischen s o w i e - in der für diesen Raum besonders wichtig e n - niederländischen Tradition 24 begegnet und den König in ganz verschiedenen 23

Vgl. Helmut Beumann: Die Hagiographie „bewältigt" Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen: In: ders.: Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1966-1986. Festgabe zu seinem 75. Geb., hg. von Jürgen Petersohn, Roderich Schmidt. Sigmaringen 1987, S. 289-323; Joachim Ehlers: Die Sachsenmission als heilsgeschichtliches Ereignis. In: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift flir Kaspar Elm zum 70. Geb., hg. von Franz J. Feiten u. a. Berlin 1999 (Berliner historische Studien 31), S. 37-53. Vgl. dazu auch Robert Folz: Études sur le culte liturgique de Charlemagne dans les églises de l'empire. Paris 1951, S. 11-29, S. 54-59; vgl. ebenfalls ders.: Le souvenir et la légende de Charlemagne dans l'empire germanique médiéval. Paris 1950, S. 28-36, S. 171-186, S. 311f., S. 334-344. Zur Verehrung und kultischen Erinnerung des heiligen Karl vgl. ebenfalls Matthias Zender: Die Verehrung des hl. Karl im Gebiet des mittelalterlichen Reiches. In: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. [Anm. 1 ], Bd. 4, S. 99-112; Karin Schneider: Die deutsche Legende Karls des Großen. In: ZfdPh 86 (Sonderheft) 1967, S. 46-63; August Brecher: Die kirchliche Verehrung Karls des Großen. In: Karl der Große und sein Schrein in Aachen, hg. von Hans Müllejans. Aachen, Mönchengladbach 1988, S. 151-166; Knut Görich: Erinnerung und ihre Aktualisierung: Otto ID., Aachen und die Karlstradition. In: Empire, idée d'Empire et royauté au Moyen Age entre France et Allemagne: autour de l'oeuvre de Robert Folz (im Druck). Zur Ikonographie des Karlskultes vgl. Dietrich Kötzsche: Darstellungen Karls des Grossen in der lokalen Verehrung des Mittelalters. In: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben [Anm. 1], Bd. 4, S. 157-214; Rainer Kahsnitz: Der Wandel des Karlsbildes in der mittelalterlichen Skulptur und Goldschmiedekunst. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 104/105 (2002/2003), S. 295-345; Lieselotte E. SaurmaJeltsch: Karl der Große im Spätmittelalter: Zum Wandel einer politischen Ikone. In: ebd., S. 421-461.

24

Zum Karlsbild in der niederländischen Literatur des Mittelalters vgl. neben dem Beitrag von Hans van Dijk in diesem Band, S. 107-126, auch: De epische wereld: Middelnederlands Karelromans in wisselend perspektief, hg. von Evert van den Berg, Bart Besamusca. Muiderberg 1992; Rita Schlusemann: „Die edele conine Karel?" Zum Karlsbild in der niederländischen Renout/Reinolt-Tradition. In: Karl der Große und das Erbe der Kulturen, hg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 2001, S. 294-311.

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Rollen zeigt. So war z. B. die im oberdeutschen Raum kaum oder gar nicht bekannte Empörerepik, in der aufgrund von Karls Tyrannei gerechtfertigte Rebellionen gegen den König thematisiert werden, im mittel- und niederdeutschen Raum offenbar durchaus verbreitet.25 Dagegen präsentieren Texte wie „Karl und Galie" oder „Morant und Galie"26 Karl nicht nur als von verräterischen Usurpatoren nach Spanien vertriebener Kämpfer im Dienst des spanischen Heidenkönigs, sondern zugleich als romantischen Liebhaber der schönen Sarazenin Galie, mit der er gemeinsam Minnelieder singt und die er nach gefahrvoller gemeinsamer Flucht und Konversion der ehemaligen Heidin heiratet und zur Königin macht27 eine Konstellation, die auch in romanischen und lateinischen Texten mehrfach begegnet, in Strickers „Karl" jedoch bezeichnenderweise in Richtung einer legendenähnlichen Vita abgewandelt worden war. In „Morant und Galie" wird das aus der Romania bestens bekannte Thema des leichtfertig auf schlechte Ratgeber hörenden Karl verarbeitet, der daraufhin Galie - natürlich unberechtigterweise des Ehebruchs mit einem seiner treuesten Gefolgsleute verdächtigt. Der Irrtum läßt sich erst nach vielen Verwicklungen in einem komplizierten Rechtsgang aufklären. In „Karel ende Elegast" - einem Text, der die Figurenkonstellation der Rebellenepik insofern invertiert, als dort nicht mehr der König, sondern ein Verwandter aus dessen engster Umgebung als negative Figur erscheint - wird Karl sogar, allerdings auf Gottes Geheiß, zum Dieb, wodurch er aber gerade einen Anschlag seines verräterischen Schwagers vereiteln kann. Vereinigt sind diese und weitere Karlstexte - wie etwa ein gekürztes „Rolandslied", das an einer Stelle allerdings um das in der deutschen Literatur ansonsten unbekannte Motiv des in eine Sarazenin verliebten und daher unzurechnungsfähigen Roland erweitert ist, oder die Erzählung von Karls Nekrophilie, die hier als die große Sünde des Königs erscheint - in der sogenannten „Karlmeinet"-Kompilation, die lediglich in einer um 1470/80 in Köln geschriebenen Handschrift erhalten ist, aber bereits im 14. Jahrhundert in der Aachener Gegend entstanden sein soll.28 Gemeinsam ergeben die in der „Karlmeinet"-Kompilation vereinigten Texte (1. „Karl und Galie"; 2. „Morant und Galie"; 3. ein aus verschiedenen historiographischen Texten komponierter Teil, in dem u. a. die Kaiserkrönung und verschiedene Erobe25

26

27

28

Entsprechende Texte sind allerdings nur fragmentarisch erhalten, vgl. Gustav Roethe: Das Günser Bruchstück des mnl. Renout von Montalbaen. In: ZfdA 48 (1906), S. 129-146; der „Gerart van Rossiliun" in: Altdeutsches Prosalesebuch, hg. von Hans Naumann. Straßburg 1916, S. 147-160. Karl und Galie, Teil I. Abdruck der Handschrift A (2290) der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt und der 8 Fragmente, hg. und erläutert von Dagmar Helm. Berlin 1986 (DTM 74); Morant und Galie, hg. von Theodor Frings, Elisabeth Linke. Berlin 1976 (DTM 69). Vgl. Karl-Ernst Geith: Karl als Minneritter. Beobachtungen zu Karl und Galie. In: Chevaliers errants, demoiselles et l'Autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenia v. Ertzdorff zum 65. Geb., hg. von Trude Ehlert. Göppingen 1998 (GAG 644), S. 63-82. Karl Meinet. Zum ersten Mal herausgegeben durch Adelbert von Keller. Stuttgart 1858 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 45).

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rungen Karls beschrieben werden; 4. „Karel ende Elegast"; 5. das „Rolandslied"; 6. ein im wesentlichen aus Vinzenz' von Beauvais „Speculum historiale" stammender Bericht über Karls Tod) eine Art literarischer Biographie Karls des Großen. Dabei verzichtet auch diese ,vita poetica Karoli Magni' allerdings keineswegs auf die Auffassung vom heiligen Karl, wenn sie etwa versichert: Karlle is in der heiigen orden (536,31; Karl ist unter die Heiligen aufgenommen worden). Erneut wird in der Kompilation das Bild des leidenden Karl aufgerufen, der schließlich an der Qual stirbt, die er auf dem - von Bischof Turpin übrigens als imitatio des Leidensweges Christi bezeichneten (398,48-51) - Spanienzug erlittenen hatte (vgl. 534,52-535,3).29 Zum Schluß werden Leben und Wirken Karls des Großen sogar in eschatologische Zusammenhänge eingebunden, wenn seine überaus zahlreichen Kirchenstiftungen mit der Sorge des Königs um das Jüngste Gericht begründet werden, auf das gegen Ende der ,vita poetica Karoli Magni' ausdrücklich verwiesen wird (540,39^5). Daher ist es nur zu verständlich, wenn ein heute separat gebundener Apokalypse-Text, das sogenannte „Darmstädter Gedicht über das Weltende", einst den Abschluß der Gesamtkompilation bildete.30 In jedem Fall bleibt die „Karlmeinet"-Kompilation während des gesamten Mittelalters derjenige deutschsprachige Text, der das vielfaltigste Karlsbild präsentiert.31 Überschaut man die nieder- und mitteldeutsche Karlsepik in ihrer Gesamtheit, so erweist sich die Präsentation König Karls als Mensch, der in engstem Kontakt zu Gott steht, als ein spezifisches Kennzeichen auch dieses zweiten deutschen Chanson de geste-Schubs, obschon er ein insgesamt facettenreicheres Bild des ersten Frankenkaisers zeichnet als die oberdeutsche Literatur. Die Konzentration auf Texte, die Karl in den Mittelpunkt stellen, teilt die Literatur des nieder- und mitteldeutschen Raums demnach mit der mittelniederländischen Literatur, die Zuspitzung auf den heiligen Karl muß hingegen als Spezifikum der im deutschsprachigen Teil der ,Nideren Lande' entstandenen Karlsepik gelten. Sie dürfte wohl mit der bereits erwähnten Rolle Karls als ,Sachsenapostel' zusammenhängen.

29

Zum leidenden Karl in der „Karlmeinet"-Kompilation vgl. auch Edith Feistner: Karl und Karls Tod: Das ,Rolandslied' im Kontext des sog. ,Karlmeinet'. In: Wolfram-Studien XI (1989), S. 166-184.

30

Vgl. Erik Rooth: Zur Sprache des Karlmeinet. Ein unbeachteter Schlußabschnitt. Heidelberg 1976; ders.: Zum Darmstädter Gedicht über das Weltende (Jüngstes Gericht). Lund 1977.

31

Zum Karlsbild in einer einzelnen Partie der Kompilation vgl. jetzt auch Bob Duij vestijn: Do stoent hey under en. Karl der Große, der ideale König im Rolandslied der Karlmeinet-Kompilation. In: ,Chanson de Roland' und .Rolandslied'. Greifswald 1997 (Wodan 70), S. 51-58; vgl. auch Bernd Bastert: Heiliger, Hochzeiter, Heidenschlächter. Die KarlmeinetKompilation zwischen Oberdeutschland und den Nideren Landen. In: Schnittpunkte. Deutsch-Niederländische Literaturbeziehungen im späten Mittelalter, hg. v. Angelika Lehmann-Benz, Ulrike Zellmann, Urban Küsters. Münster 2003 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 5), S. 125-143.

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3. Karl der Große in der deutschen Literatur des 15. Jahrhunderts Ohne daß die vorwiegend oberdeutsche Tradition des heiligen Karl und das thematisch etwas reichere Karlsbild Mittel- und Niederdeutschlands zunächst untergegangen wären, kam es im 15. Jahrhundert zu einem erneuten Rezeptionsschub von Karl-Literatur. Der entscheidende Anstoß ging wohl von Frankreich und von Burgund aus, wo zu jener Zeit nach wie vor starkes Interesse an Chansons de geste bestand und sowohl neue Texte verfaßt als auch alte Vorlagen bearbeitet und z. T. in Prosaform umgesetzt wurden. 32 Jenes französisch-burgundische Interesse wurde nun offenbar zwischen ca. 1430 und 1470/80 im deutschen Südwesten übernommen - zunächst am Hof der aus dem französischsprachigen Lothringen stammenden Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, die über beste verwandtschaftliche, politische und kulturelle Kontakte nach Frankreich verfügte, 33 wenig später auch in der Umgebung der gute Beziehungen zu den Burgunderherzögen pflegenden Heidelberger Pfalzgrafen. 34 Während in Saarbrücken, mit Ausnahme der wohl noch im 13. Jahrhundert entstandenen „Sibille", mit „Herpin", „Loher und Maller" sowie „Huge Scheppel", .moderne' französische Chanson de geste-Literatur des 14. Jahrhunderts rezipiert wurde, konzentrierte man sich in der Umgebung des Heidelberger Hofs mit den deutschen Bearbeitungen des „Ogier von Dänemark", „Malagis" und „Reinolt von Montelban" ganz auf klassische Empörerepen, deren französische Vorlagen alle bereits im 13. Jahrhundert oder früher verfaßt worden waren und um 1460/80, über die Zwischenstufe niederländischer Adaptationen, ihren Weg in den Westen des deutschen Literaturraums fanden. 35 Obwohl die Heidelberger Epen erst einige Jahrzehnte nach den Saarbrücker Übersetzungen ins Deutsche übertragen wurden, sind sie damit typologisch älter, wie dies nicht zuletzt auch schon ihre äußere Form signalisiert. Denn im Unterschied zu den Saarbrücker Chanson de geste-Adaptationen, die in die moderne Prosaform gekleidet sind, 32

33

34

35

Vgl. Georges Doutrepont: Les Mises en Prose des Épopées et des Romans Chevaleresques du XTVe au XVIe siècle. Bruxelles 1939 (Académie royale de Belgique, Classes des Lettres et des Sciences Morales et Politiques, 40); François Suard: La Chanson de Geste. Paris 1993, S. 107ff. Zu Elisabeth vgl. den Tagungsband: Zwischen Deutschland und Frankreich: Elisabeth von Lothringen, Gräfin zu Nassau-Saarbrücken, hg. von Wolfgang Haubrichs u. a. St. Ingbert 2002 (Veröff. der Kommission fur Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 34); vgl. auch Ute von Bloh: Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: .Herzog Herpin', ,Loher und Maller', .Königin Sibille', ,Huge Scheppel'. Tübingen 2002 (MTU 119). Vgl. Henny Grüneisen: Die westlichen Reichsstände in der Auseinandersetzung zwischen dem Reich, Burgund und Frankreich bis 1473. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 26 (1961), S. 22-77; Meinrad Schaab: Geschichte der Kurpfalz. Bd. 1. Stuttgart 1988. Reinolt von Montelban oder Die Heimonskinder, hg. von Fridrich Pfaff. Tübingen 1885 (Bibliothek des Litterarischen Vereins 174); Der deutsche Malagis nach den Heidelberger Handschriften Cpg 340 und Cpg 315 unter Benutzung der Vorarbeiten von Gabriele Schieb und Sabine Seelbach hg. von Annegret Haase u. a. Berlin 2000 (DTM 82); Ogier von Dänemark. Nach der Heidelberger Handschrift Cpg 363 hg. von Hilkert Weddige u. a. Berlin 2002 (DTM 83).

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Literatur

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sind die in der Umgebung des Heidelberger Hofs entstandenen Epen in traditionellen Reimpaarversen gehalten.36 Karl der Große agiert in den Heidelberger Epen stets in einer zentralen Rolle, auch wenn diese, bedingt durch die ,klassische' Königsrolle in der Empörerepik, nicht als durchgehend positiv bezeichnet werden kann. Es fallt allerdings auf, daß gegenüber den französischen Fassungen entscheidende Umbesetzungen vorgenommen wurden, durch die die Autorität Karls wesentlich gestärkt wird. Deutlich verfolgen läßt sich das im „Reinolt von Montelban", wenn z. B. in einer Szene, die in der französischen „Renaut"-Tradition in dieser Art keine Entsprechung findet, der Fehde führende Protagonist weiß, daß sein Kampf gegen Karl zwecklos bleiben wird, da dieser - seinen Fehlern zum Trotz - unter Gottes Schutz stehe, wie die aus „Karel ende Elegast" bekannte Episode des auf Diebestour ausreitenden, gerade dadurch aber geretteten Königs gezeigt habe: got enwil nicht die ding er hat zu Hebe den konig, man mag ime nit geschaden, noch mit rat oder laden. Des det im got wol schyne zu Ingelheim uff deme Rine, da er ine det by nacht gan Stelen mit Elegast. (4252-4260) (Gott will das nicht,/ denn er liebt den König zu sehr./ Man kann ihm weder/ mit Rat noch mit Tat Schaden zufügen./ Gott hat ihm das/ zu Ingelheim am Rhein bewiesen,/ als er ihn des Nachts mit Elegast zum Stehlen schickte.)

Anders als im französischen „Renaut de Montauban" werden die leicht diabolisch wirkenden Gegenspieler des unter göttlichem Schutz stehenden Königs im „Reinolt von Montelban" dann auch zum Schluß ausgeschaltet: der Zauberer Malagis von Sarazenen getötet und das Wunderpferd Beyart in einer dramatischen Aktion nach zwei vergeblichen Versuchen in der Maas ertränkt. Die nicht zu erschütternde, da von Gott geschützte Macht des Königs demonstrieren auch die anderen beiden Rebellenepen. Stärker noch als im „Reinolt von Montelban" gibt der zauberkundige Malagis den König im gleichnamigen Werk der Lächerlichkeit preis und zieht sich Karls Haß zu. Der in kontextuellem Verbund mit dem „Malagis" überlieferte und somit als dessen unmittelbare Fortsetzung fungierende „Reinolt von Montelban" verdeutlicht jedoch, daß Widerstand gegen den und Feindschaft mit dem unter Gottes Schutz stehenden König zwecklos ist (s. o). Wie eine Bekräftigung dieses Grundsatzes wirkt der „Ogier von Dänemark", in dessen zweitem Teil ebenfalls vom Kampf Ogiers gegen Karl und vor allem gegen dessen Sohn Cherloet berichtet wird, der Ogiers Sohn Baldewijn getötet hat. In dem Augenblick aber, als Ogier Cherloet endlich stellen kann und Rache für den Mord an seinem Sohn nehmen will, zeigt sich, daß Karls Verbin-

36

Vgl. zur Sprache der Heidelberger Epen Ute von Bloh: Anders gefragt. Vers oder Prosa? „Reinolt von Montalban" und andere Übersetzungen aus dem Mittelniederländischen im Umkreis des Heidelberger Hofes. In: Wolfram-Studien XIV (1996), S. 265-293.

146

Bernd

Basiert

dung zu Gott alle irdische Macht übersteigt, wenn ein Engel einschreitet und Ogiers Racheplan mit folgenden Worten unterbindet: Got hat mich zue dir gesamt Und heißett dich laßen ungeschendt Cherloeten und ine nit zue erslaen. Sin vatter hat ine, sunder waen, Ab gebetten gegen unserm herren. (16149-16153) (Gott hat mich zu dir gesandt/ und befiehlt dir,/ Cherloet unangetastet zu lassen/ und ihn nicht zu töten./ Sein Vater [Karl] hat ihn wirklich/ bei unserm Herrn durch Gebete erlöst.)

Wie im „Malagis" und dem „Reinolt von Montelban" läuft also auch im „Ogier von Dänemark" ein wichtiger Erzählstrang darauf hinaus zu demonstrieren, daß Karl von Gott beschützt wird. Aus diesen Faktum könnte man schließen, daß auch in den Heidelberger Chanson de geste-Adaptationen die Heiligkeit Karls demonstriert werden solle. Ein solcher Entstehungshintergrund ist nicht ganz auszuschließen, allerdings sind keinerlei Hinweise auf eine besondere Erinnerungskultur um oder gar eine Verehrung für Karl den Großen aus der Umgebung des Heidelberger Hofes bekannt. Weniger die Erinnerung an den heiligmäßigen Karl bildet dann wohl auch die Rezeptionsbasis jener Texte als vielmehr das seinerzeit hochaktuelle Interesse am sakral aufgeladenen französischen Königtum. Eher als eine individuelle Heiligkeit Karls thematisierten „Ogier", „Malagis" und „Reinolt" dann freilich die .religion royale', die institutionelle Sakralität des französischen Königtums.37 In den Saarbrücker Prosatexten, in denen Karl als Akteur im „Herpin", in der „Sibille" und zu Beginn von „Loher und Maller" auftritt,38 stellt sich die erzählerische Situation dagegen völlig anders dar. In ihnen herrscht das aus den französischen Empörerepen bekannte ambivalente bis negative Bild des Königs vor. Analog zu den kontemporären französischen Chanson de geste-Prosifizierungen schwingt in den deutschen Prosa-Chansons die Vorstellung des durch seinen Einsatz im Glaubenskampf geheiligten Karl nur noch von ferne mit, wenn es gilt, die zuweilen gravierenden Fehler und Schwächen eines Herrschers zu entschuldigen,39 der etwa in der „Sibille" aufgrund einer Intrige seine schwangere Frau 37

Vgl. dazu Bernd Bastert: Die Autorität des Tyrannen. Zum spätmittelalterlichen Interesse am Reinolt von Montelban. In: The Growth of Authority in the Médiéval West, hg. von Martin Gosman u. a. Groningen 1999 (Mediaevalia Groningana 25), S. 193-212.

38

Der „Huge Scheppel" handelt vom Übergang der karolingischen auf die kapetingische Dynastie und spielt demzufolge nach dem Tod Karls des Großen. Die Editionslage der Saarbrücker Prosatexte ist bislang unbefriedigend. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügen lediglich: Der Roman von der Königin Sibille in drei Prosafassungen des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von Hermann Tiemann. Hamburg 1977 (Veröffentlichungen aus der Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg 10), S. 117-173, sowie d e r - a u f dem Druck von 1500 basierende - „Ilug Schapler", in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt/M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 14), S. 179-339.

39

Zu entsprechenden Tendenzen in den französischen Prosadrucken vgl. François Suard: Le

Karl der Große in der deutschen erzählenden Literatur

147

fälschlicherweise des Ehebruchs verdächtigt und für viele Jahre vom Hof verbannt, oder im „Herpin" in selbstverschuldete und langjährige Konflikte mit einem ihm ehemals treu ergebenen Adelsgeschlecht gerät. „Von einem göttlichen Ursprung königlicher Autorität ist in Elisabeths Romanen nur noch wenig zu spüren; der König genießt neben den anderen Helden keine merkliche Bevorzugung durch göttliche Zuwendung." 40 Erst in den Saarbrücker Prosa-Chansons begegnet damit auch in Deutschland ein Bild des ersten Frankenkaisers, wie es aus der Romania schon lange bekannt ist. Eben dieser literarischen Tradition einer polyvalenten, das vorhandene narrative Potential aber souverän ausschöpfenden Figur Karls des Großen sollte freilich, in Gestalt der Prosadrucke des 16. Jahrhunderts, die auch in späteren Jahrhunderten noch weitere Auflagen erlebten, die Zukunft gehören. Noch Goethe berichtet in „Dichtung und Wahrheit", wie er in seiner frühesten Jugend unter anderem auch aus jenem Traditionsstrom schöpfte: Wir Kinder hatten also das Glück, diese schätzbaren Überreste der Mittelzeit auf einem Tischchen vor der Haustüre eines Büchertrödlers täglich zu finden, und sie uns für ein paar Kreuzer zuzueignen. Der .Eulenpiegel', ,Die vier Haimonskinder', ,Die schöne Melusine', ,Der Kaiser Octavian', ,Die schöne Magelone', .Fortunatas', mit der ganzen Sippschaft bis auf den ,Ewigen Juden', alles stand uns zu Diensten, sobald uns gelüstete, nach diesen Werken anstatt nach irgend einer Näscherei zu greifen. Der größte Vorteil dabei war, daß, wenn wir eine solches Heft zerlesen oder sonst beschädigt hatten, es bald wieder angeschafft und aufs neue verschlungen werden konnte.41

Angesichts des Erfolges, den die deutschen Chanson de geste-Drucke ab dem 16. Jahrhundert mit ihrem facettenreichen Karl-Bild hatten, erscheint die eingangs aufgeworfene Frage nach der unterschiedlichen Resonanz des Karl-Stoffes in der romanischen und in weiten Teilen der deutschen mittelalterlichen Literatur in einem etwas anderen Licht. Es wäre nämlich einmal zu überlegen, ob die in vielen deutschen Chanson de geste-Adaptationen des 12. bis 15. Jahrhunderts nachweisbare Tendenz einer Fokussierung auf die Figur des heiligen Karl, die eine wichtige Differenz zum gleichzeitigen Karlsbild der Romania markiert, nicht möglicherweise mit ein Grund dafür ist, daß die aus der französischen Heroik bekannten, ebenso spannenden wie amüsanten Erzählungen um Charlemagne in Deutschland nur sehr selektiv rezipiert wurden. Denn auf ein großes Maß an narrativen Möglichkeiten, die in der Romania souverän vorgeführt, ja beinahe genüßlich ausgespielt werden, verzichten viele deutsche Texte durch ihre vereindeutigende Konzentration auf den Typus des heiligen Karl. personnage de Charlemagne dans les proses épiques imprimées. In: Charlemagne et l'Épopée Romane. Actes du VIIe Congrès International de la Société Rencesvals. 2 Bde., hg. von Madeleine Tyssens, Claude Thiry. Paris 1978 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l'Université de Liège 225/226), Bd. 1, S. 271-280. 40

41

Ulrike Gaebel: Chansons de geste in Deutschland. Tradition und Destruktion in Elisabeths von Nassau-Saarbrücken Prosaadaptationen. Diss. Berlin 2002, S. 265. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz. Bd. 9. Autobiographische Schriften I. München '1981, S. 36.

Susanne

Kramarz-Bein

Die altnordische Karlsdichtung: Das Beispiel der „Karlamagnüs saga ok kappa hans"

Der folgende Beitrag behandelt die altnordische Karlsdichtung, w o b e i hier hauptsächlich auf die altwestnordische „Karlamagnús saga ok kappa hans" 1 fokussiert wird. N e b e n der altwestnordischen (altnorwegischen und altisländischen) gibt e s auch eine altostnordische (altschwedische und altdänische) Karls-Überlieferung, auf die hier aber nicht näher e i n g e g a n g e n wird. 2 D i e ursprünglich altnorwegische „Karlamagnús saga" stellt das umfangreichste Zeugnis der altnordischen Karlsdichtung überhaupt dar. V o n Fragmenten aus d e m 13. Jahrhundert abgesehen, ist sie u n s allerdings nur in altisländischen Handschriften d e s späten 14., 15. b z w . sogar erst 17. Jahrhunderts erhalten (vgl. A n m . 3). Z u s a m m e n mit einigen Sagas aus d e m arthurischen Stofïkreis gehört die „Karlamagnús saga" in den weiteren Kontext der ursprünglich altnorwegischen ,übersetzten Riddarasögur' (Rittersagas), in diesem Fall d e s Typs ,matière de France', die um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden und die von d e m norwegischen K ö n i g Hákon IV. Hákonarson (reg. 1 2 1 7 - 1 2 6 3 ) im Rahmen v o n dessen Kultur- und Bildungspolitik g e wichtige Impulse empfingen. Im Zentrum des umfangreichen Prosatextes steht der nicht zuletzt auch literaturgeschichtlich bedeutsame K ö n i g und Kaiser Karlamagnus, Charlemagne b z w . Karl der Große.

1

Die „Karlamagnüs saga" wird in erster Präferenz nach der aktuellen kritischen Ausgabe Togeby/Halleux zitiert, die jedoch nur die Branchen I, III, VII und IX enthält: Karlamagnüs saga. Branches I, III, VII et IX. Edition bilingue projetée par Knud Togeby et Pierre Halleux. Texte norrois édité par Agnete Loth. Traduction française par Annette Patron-Godefroit. Avec une étude par Povl Skârup. Copenhague 1980. Für die nicht in dieser Ausgabe enthaltenen I>aettir (darunter die VIII. Branche über die Roncesvalles-Schlacht und die X. Branche) wird auf Ungers alte kritische Ausgabe zurückgegriffen: Karlamagnüs saga ok kappa hans. Fortaellinger om Keiser Karl Magnus og hans jaevninger. I norsk bearbeidelse fra det trettende aarhundrede, hg. von Carl Richard Unger. Christiania 1860.

2

Die altostnordische Karlsüberlieferung besteht im wesentlichen aus einer altschwedischen („Karl Magnus") und einer altdänischen („Karl Magnus Krönike") Bearbeitung der a-Version der altwestnordischen „Karlamagnüs saga". Der altschwedische „Karl Magnus" überliefert lediglich die beiden I>aettir/Branchen VII und VIII und entstand um ca. 1400. Die dänische „Karl Magnus Krönike" (Hs. von 1480, gedruckte Editionen von 1509, 1534 sowie zahlreiche Nachdrucke) bietet eine gekürzte, aber stringente Gesamtübertragung der a-Version der „Karlamagnüs saga". Ihr liegt wiederum eine ursprünglichere a-Version als die uns bekannten zugrunde. Somit bietet sich die altostnordische „Karl Magnus Krönike" als eine Kontrollmöglichkeit für die ursprünglich im verlorenen Ende der a-Version der altwestnordischen „Karlamagnüs saga" vorhandenen Episoden (u. a. über Vilhjálmr komeis/Guillaume d'Orange) an. Für Einzelheiten und Belege vgl. Susanne Kramarz-Bein: Karl in der skandinavischen Literatur. In: RGA 16 (2000), S. 264-269, hier S. 268.

150

Susanne Kramarz-Bein

Im folgenden werden nach einleitenden Ausfuhrungen über die literaturgeschichtliche Bedeutung der altnorwegischen „Karlamagnüs saga" (1.) zunächst Fragen nach ihrem Charakter als Groß-Kompilation (2.), ihrem makrostrukturellen (3.) und mikrostrukturellen (4.) Kompositionsprinzip erörtert sowie zentrale Erzählideen mit Blick auf eine dahinterstehende Erzählintention (5.) behandelt. In einem Ausblick (6.) wird die Frage nach dem ,Sitz im Leben' der während Hâkons IV. Regierungszeit und auf dessen Initiative entstandenen Großerzählungen wie u. a. der „Karlamagnüs saga", aber z. B. auch der „I>iöreks saga af Bern" gestellt.

1. Zur literaturgeschichtlichen Bedeutung der „Karlamagnüs saga" Die „Karlamagnüs saga" ist eine Übertragung und Zusammenstellung verschiedener altfranzösischer bzw. anglonormannischer Chansons de geste (und - in einem Fall - des lateinischen „Pseudo-Turpin") zu einer epischen Großform beträchtlichen Umfangs, die in der Synopse aus zehn Branchen bzw. f>aettir besteht (so z. B. auch in Ungers Ausgabe). Eine solche synoptische Zusammenschau ist allerdings eine bloße Konstruktion, da nicht jede Branche gleichermaßen in jeder Redaktion vorhanden ist, die a-Gruppe unvollständig geblieben ist und beide Handschriften-Gruppen überdies Lakunen aufweisen.3 Im Rahmen der romanisch-skandinavischen Literaturbeziehungen des Mittelalters nimmt die „Karlamagnüs saga" insofern eine wichtige Position ein, als sie Versionen von teilweise verlorenen altfranzösischen Chansons de geste bietet und damit eine wichtige Textzeugin bei deren Rekonstruktion darstellt (vgl. dazu Anm. 7). Die Saga ist in zwei verschiedenen Redaktionen, den Versionen bzw. Gruppen A und B bzw. - nach neuerer Terminologie4 - a und ß überliefert. Für die a-Version der Saga wird zumeist eine Entstehungszeit vor, um bzw. nach 12505 angenommen, d. h. eine Einordnung in die Herrschaftszeit und das höfische Umfeld Hékons IV. Hâkonarson vorgenommen, wohingegen die ß-Version auf den Zeitraum von bald nach 1286/1287 (laut Formà/iYVorrede des II. Mttrs) bzw. 1290-1320 oder gar 1330-1340 (gesamte ß-Gruppe) datiert wird. 6 Die ß-Gruppe enthält gegenüber der ursprüng 3

Zu den Handschriftenverhältnissen vgl. Agnete Loth: Les manuscrits norrois. In: Ausgabe Togeby/Halleux [Anm. 1], S. 359-378 und Povl Skârup: Contenu, sources, rédactions. In: Ebd., S. 333-355.

4

Vgl. Skârup [Anm. 3], S. 335, S. 342f.

5

Vor bzw. um 1250 datieren Unger [Anm. 1], S. III und Gustav Storm: Sagnkredsene om Karl den Store og Didrik af Bern hos de Nordiske Folk. Et Bidrag til Middelalderens Litterasre Historie. Kristiania 1874, S. 14, während Eyvind Fjeld Halvorsen: The Norse Version of the Chanson de Roland. Kabenhavn 1959 (Bibliotheca Arnamagnaeana XIX), S. 75f. und Peter G. Foote: The Pseudo-Turpin Chronicle in Iceland. A Contribution to the Study of the Karlamagnüs saga. London 1959 (London Mediasval Studies, Monograph no. 4), S. 7, S. 47, die a-Version zwischen 1250 und 1275 ansetzen.

6

Zur Datierung der ß-Version vgl. Unger [Anm. 1], S. III; Storm [Anm. 5], S. 67f.

Die altnordische Karlsdichtung

151

licheren a-Version zusätzliche î>œttir und zeichnet sich überhaupt durch eine redaktionelle Überarbeitung der älteren Version aus (vgl. hier unter 4.). Die altfranzösischen bzw. anglonormannischen Quellen7 der „Karlamagnüs saga" sind nicht in jedem Fall bekannt bzw. teilweise nur hypothetisch zu erschließen. In vielen Fällen geht die Saga-Übertragung nicht direkt auf die uns erhaltenen Texte zurück, sondern allenfalls auf ähnliche Versionen. Bei der Überlieferung der „Karlamagnüs saga" sind in einigen Fällen anglonormannische Quellen vorauszusetzen, die im 13. Jahrhundert über England als Vermittlungsstelle kontinentaler höfischer Stoffe nach Norwegen gelangten. Unter Berücksichtigung der oben angeführten Einschränkungen lassen sich folgende Quellen der „Karlamagnüs saga" annehmen: I. Mttr/Branche: (ohne Überschrift) [Um Karlamagnüs konung]. Quellen: verlorene Versionen verschiedener Chansons de geste oder erster Teil einer (postulierten) „Vie romancée de Charlemagne". Die I. Branche ist bis heute Gegenstand kontroverser Forschungsdiskussionen, die in der Frage gipfeln, ob der I. f»âttr bereits vor der Gesamt-Kompilation als unabhängige Branche existiert und auch die Vorlage fur weitere Teile der Saga abgegeben hat8 oder ob sie als eine Art Ouvertüre der gesamten Saga konzipiert war.9 Eine Entscheidung in dieser Kontroverse ist schwierig. Ein Anschluß an Aebischer und Skârup wäre folgenreich,

(1290-1320); E. F. Halvorsen [Anm. 5], S. 75f. (nach 1320) und Foote [Anm. 5], S. 7, S.24f.,S. 47 (1330-1340). 7

Zu den Quellen der „Karlamagnüs saga" vgl. z. B. Halvorsen [Anm. 5], S. 32-76; Knud Togeby: L'influence de la littérature française sur les littératures Scandinaves au moyen âge. In: GRLMA 1 (1972), S. 333-395, hier S. 356-367; Skârup [Anm. 3], S. 346-355; Susanne Kramarz-Bein: Pidreks saga und Karlamagnüs saga. In: Hansische Literaturbeziehungen. Das Beispiel der Pidreks saga und verwandter Literatur, hg. von Susanne Kramarz-Bein. Berlin, New York 1996, S. 186-211, hier S. 210f., dies. [31] 2002, S. 123-126 sowie Jonna Kjaer: Karlamagnüs saga: la saga de Charlemagne. In: Revue des Langues Romanes 102 (1998), S. 7-23, hier S. 12-20. Bei der Überlieferung der „Karlamagnüs saga" sind in einigen Fällen anglonormannische Quellen vorauszusetzen, die im 13. Jahrhundert über England als Vermittlungsstelle kontinentaler höfischer Stoffe nach Norwegen gelangten; vgl. dazu immer noch grundlegend: Henry Goddard Leach: Angevin Britain and Scandinavia. Cambridge, London 1921 (Harvard Studies in Comparative Literature VI).

8

Die erstgenannte Position mit dem Postulat einer „Vie romancée de Charlemagne" als Quelle der I. Branche wurde und wird in der Forschungsgeschichte vor allem von Paul Aebischer: Textes norrois & littérature française du moyen âge. I: Recherches sur les traditions épiques antérieures à la Chanson de Roland d'après les données de la première branche de la Karlamagnüs saga. Genève, Lille 1954 (Société de Publications Romanes et Françaises XLIV) und II: La première branche de la Karlamagnüs saga. Traduction complète du texte norrois, précédée d'une introduction et suivie d'un index des noms propres cités. Genève 1972 (Publications Romanes et Françaises CXVIII), modifiziert auch von Halvorsen [Anm. 5], besonders S. 45, S. 52, S. 60f., S. 64 und aktuell wieder von Skârup [Anm. 3], S. 346-352 vertreten.

9

Die letztgenannte Auffassung wurde in der Forschungsgeschichte besonders von Togeby [Anm. 7], S. 333-395, hier S. 359, vertreten, der sich überhaupt mit Strukturfragen der „Karlamagnüs saga" beschäftigte und für eine strukturelle Gesamtkonzeption der Saga eintrat.

152

Susanne Kramarz-Bein

denn er bedeutete die Bestätigung der Annahme, daß nicht nur die erste Branche, sondern - Skärups These zufolge - auch die letzten drei Kapitel der VIII. Branche sowie die Branchen IX. und Teile von X. bereits Bestandteil einer solchen „Vie de Charlemagne" gewesen seien.10 Dieses von Aebischer begründete und aktuell wieder von Povl Skàrup vertretene Postulat ist zwar durchaus denkbar, aber auf sichererem Boden bewegt man sich wohl mit der Einschätzung Knud Togebys, daß „L'existence d'un tel texte [die postulierte „Vie"] reste cependant fort hypothétique."11 II. Mttr/Branche: Affrü Ôlifok Landrés. Die II. Branche ist nur in der ß-Redaktion der Saga erhalten. Ihrem Formäli (Ausgabe Unger, S. 50) zufolge soll es sich um eine Übersetzung einer (verlorenen) mittelenglischen Vorlage ins Altnordische handeln, die von Bjarni Erlingsson nach 1286/1287 in Auftrag gegeben wurde. Die Quelle des mittelenglischen Textes wiederum ist verwandt mit dem vornan d'aventure' „Doon de la Roche".12 III. i>attr/Branche: Af Oddgeiri danska. Quelle: Erste Branche (Enfances) der „Chevalerie Ogier de Danemarche"; die Quelle der letzten Kapitel des altnordischen Mttrs ist unbekannt.13 IV. Mttr/Branche: Af Agulando konungi. Quelle des ersten Teils des Mttrs: „Pseudo-Turpin"14; Quelle des zweiten Teils: „Chanson d'Aspremont". 15 V. Mttr/Branche: Af Guitalin Saxa. Quelle: eine verlorene „Chanson des Saxons", die vermutlich auch die Quelle von Jean Bodels „Chanson des Saisnes" war.16 VI. Mttr/Branche: AfOtüel. Quelle: „Chanson d'Otinel". 17

10

Vgl. Skärup [Anm. 3], S. 339.

11

Togeby [Anm. 7], S. 367.

12

Zur Nachwirkung der II. Branche vgl. Jonna Louis-Jensen: Skotland - Bergen - Faeroeme. Om den feereske ballade Ôluvu kvœôi og dens forhold til Karlamagnûs saga. In: Die Aktualität der Saga. Festschrift Hans Schottmann, hg. von Stig Toftgaard Andersen. Berlin, New York 1999, S. 125-134.

13

Zu den Quellen der III. Branche vgl. z. B. Knud Togeby: Ogier le Danois dans les littératures européennes. Kjabenhavn 1969, S. 91-96 und Constance B. Hieatt: Ogier the Dane in Old Norse. In: Scandinavian Studies 45 (1973), S. 27-37.

14

Vgl. Foote [Anm. 5] sowie Constance B. Hieatt: Karlamagnûs saga and the Pseudo-Turpin Chronicle. In: Scandinavian Studies 46 (1974), S. 140-150.

15

Vgl. Povl Skàrup: Om den nomine oversaettelse i Karlamagnûs saga af den oldfranske chanson d' Aspremont. In: Opuscula VI. Copenhagen 1979 (Bibliotheca Arnamagnaeana XXXIII), S. 79-103.

16

Zur V. Branche vgl. Hélène Tétrel: L'épisode de la Guerre de Saxe dans la Chanson des Saisnes de Jean Bodel et dans la Karlamagnûs saga-, avatars de la matière épique. Diss. Paris 1999, Microfiche 2000.

17

Vgl. besonders Paul Aebischer: Études sur Otinel. De la Chanson de geste à la Saga norroise et aux Origines de la Légende. Bern 1960 (Travaux publiés sous les auspices de la Société suisse des sciences morales 2) und Togeby [Anm. 13], S. 98-101.

Die altnordische Karlsdichtung VII. Mttr/Branche: Af Jôrsalaferô. magne".18

153 Quelle: „Voyage/Pèlerinage de Charle-

VIII. I>âttr/Branche: Af Rûnzivals bardaga. Quelle: frühe Version der „Chanson de Roland", die in besonderer Nähe zum Oxford-Manuskript steht.19 IX. Mttr/Branche: Af Vilhjâlmi korneis. Quellen: Eine Version des altfranzösischen „Moniage Guillaume", wobei die Saga-Version jedoch nicht direkt auf eine der beiden erhaltenen Redaktionen, sondern möglicherweise wiederum auf eine gemeinsame Quelle zurückgeht.20 X. Mttr/Branche: Um kraptaverk og jartegnir (Von [übernatürlichen] Taten und Wundern). Quellen: Vinzenz' von Beauvais „Spéculum Historiale" und „Tveggja Postola saga Jons ok Jacobs".21

2. Die „Karlamagnüs saga" als Groß-Kompilation Während das Hauptaugenmerk der älteren Forschung über lange Zeit auf der Klärung philologischer, d. h. insbesondere text- und quellenkritischer Fragestellungen einzelner Branchen lag (hier interessierten vor allem die VII. Branche über die Jôrsalaferô und die VIII. Branche über die Roncesvalles-Schlacht), beschäftigt sich die neuere und neueste „Karlamagnüs saga"-Forschung verstärkt auch mit narrativen bzw. erzähltheoretischen Fragestellungen der gesamten GroßKompilation. Erste Impulse zu dieser neuen Betrachtungsweise gab 1972 Knud Togeby, der sich u. a. mit Strukturfragen der gesamten „Karlamagnüs saga" und in diesem Zusammenhang auch mit der - kontrovers diskutierten - Rolle der

18

Vgl. besonders Paul Aebischer: Les Versions Norroises du Voyage de Charlemagne Orient. Leurs Sources. Paris 1956 (Bibliothèque de la faculté de philosophie et lettres l'université de Liège 140); ders.: Le gab d'Olivier. In: Revue Belge de Philologie d'Histoire 34 (1956), S. 659-679 und Âlfrûn Gunnlaugsdôttir: Jôrsalaferô. Le Voyage Charlemagne en Orient. In: Gripla VII. Reykjavik 1990, S. 203-250. Dazu auch unten.

19

Vgl. (in chronologischer Reihenfolge) vor allem: Paul Aebischer: Rolandiana Borealia. La Saga af Runzivals bardaga et ses dérivés Scandinaves comparés à la Chanson de Roland. Lausanne 1954 (Université de Lausanne, Publications de la faculté des lettres 11 ) [komm. Übersetzung der VIII. Branche]; Halvorsen [Anm. 5], S. 112-136; Povl Skârup: La fin de la traduction norroise de la Chanson de Roland. In: Revue des Langues Romanes 94 (1990), S. 27-37; André de Mandach: La Chanson de Roland et le Nord: la Karlamagnüs saga: La controverse autour de Port et Pailart. In: Charlemagne in the North, hg. von Philip E. Bennett u. a. Edinburgh 1993, S. 65-75; Jonna Kjaer: La réception Scandinave de la littérature courtoise et l'exemple de la Chanson de Roland/Af Rûnzivals Bardaga. Une épopée féodale transformée en roman courtois? In: Romania 114 (1996), S. 50-69.

2

Vgl. Constance B. Hieatt: Vilhjâlm Korneis in the Karlamagnüs saga. In: Olifant 5 (1978), S. 277-284.

21

Vgl. Foote [Aran. 5], S. 21-25; Halvorsen [Anm. 5], S. 43-49 sowie Constance B. Hieatt: Charlemagne in Vincent's Mirror. The Speculum historiale as a source of the Old Norse Karlamagnüs saga. In: Florilegium. Carleton University Annual Papers on Classical Antiquity and the Middle Ages 1 (1979), S. 186-194.

en de et de

154

Susanne Kramarz-Bein

I. Branche befaßte. 22 Aus den 1980er Jahren sind insbesondere Constance B. Hieatts Arbeiten zur redaktionellen Tätigkeit der (in ihrer Terminologie) BRedaktoren der „Karlamagnüs saga" hervorzuheben (s. unter 4.). Seit den 1990er Jahren ist in der „Karlamagnüs saga"-Forschung eine verstärkte Beschäftigung mit narratologischen Fragestellungen zu verzeichnen. Die umfangreiche Saga gilt nicht länger als ein nachlässig oder gar fehlerhaft zusammengestückeltes Machwerk, also als eine Kompilation im negativen Wortsinn, sondern die Forschung ist vielmehr bemüht, die „Karlamagnüs saga" als einen Großtext zu sehen, der eine Erzählstruktur - makro- wie mikrostrukturell - aufzuweisen hat, entsprechend auch eine Erzählintention erkennen läßt und überhaupt durch sein literarisches, höfisch-kulturelles Entstehungsmilieu geprägt ist. Hier sind z. B. anzuführen Alfrün Gunnlaugsdóttirs Aufsatz über die Verständnisperspektiven der VII. Branche der „Karlamagnüs saga", in dem sie sich kritisch mit Paul Aebischers (negativer) Einschätzung der Übersetzungsqualität der „Karlamagnüs saga" auseinandersetzt, 23 Jacqueline de Ruiters Aufsatz zur Ztas/w-Episode der Saga, in der sie Beispiele für die .Entrelacement'-Technik findet,24 Hélène Tétrels Abhandlung über die Repräsentationen des .heroischen Ideals' in der „Chanson de Roland" und in der „Karlamagnüs saga"25 oder die aktuellen Arbeiten Jonna Kjasrs, in denen sie zum ersten das höfische Ideal - analog zum altfranzösischen ,roman courtois' - auch für den VIII. Mttr der „Karlamagnüs saga" voraussetzt (1996) bzw. zum zweiten mit dem Aspekt der Religion, des Höfischen und der Herrscherfigur einige zentrale Ideen bzw. Ideologien der Saga benennt (1998).26 Meine eigenen Arbeiten zur „Karlamagnüs saga" zielen in eine ähnliche Richtung, wenn ich mich zum einen mit der Makrostruktur und Komposition der Saga sowie mit zentralen, den Gesamttext beherrschenden Erzählideen, dies im Vergleich mit anderen Groß-Kompilationen desselben literarischen Entstehungsmilieus von Hâkons Hof wie z. B. der „i>iöreks saga" befasse, wobei der Blick auch auf ein diesen Texten gemeinsames Aufzeichnungsinteresse gerichtet wird, oder zum anderen auf das in der „Karlamagnüs saga" erkennbare Geschichtskonzept 22

Vgl. Togeby [Anm. 7], S. 355f., S. 359, S. 365-367. Aus den 1970er Jahren vgl. besonders auch Carol Clover: Scene in Saga Composition. In: Arkiv för Nordisk Filologi 89 (1974), S. 57-83, die eine neue Betrachtungsweise des VIII. Mttrs anregte, als sie ihn, ebd. S. 70, Anm. 26, - im Gegensatz zur älteren Forschung - „as a literary product with its peculiar design and governed by its own set of literary rules" ansah, ihn also kurzum als literarischen Text mit einer eigenen Erzählstruktur und -intention betrachtete.

23

Vgl. Gunnlaugsdóttir [Anm. 18].

24

Vgl. Jacqueline de Ruiter: Structural devices in the Karlamagnüs saga, illustrated by the Basin episode. In: Charlemagne in the North [Anm. 19], S. 81-88; vgl. ferner dies.: Karl Magnus krönike, Karlamagnüs saga and Karel ende Elegast: Genre - Form - Function. In: The Medieval Chronicle. Proceedings of the 1 st International Conference on the Medieval Chronicle. Driebergen/Utrecht 13-16 July 1996, hg. von Erik Kooper. Amsterdam, Atlanta 1999, S. 96-102.

25

Vgl. Hélène Tétrel: L'idéal héroique et ses représentations dans la Chanson de Roland et la Karlamagnüs saga. Paris 1993.

26

Vgl. Kjaer [Anm. 19] und dies. [Anm. 7], besonders S. 20f.

Die altnordische

Karlsdichtung

155

bzw. dort vermittelte Herrscherbild Karls fokussiere.27 Als epische Großform vertritt die „Karlamagnüs saga" mit ihrem strukturellen Kompositionsprinzip des Lebenszyklus eines bedeutenden Herrschers ein typisch mittelalterliches Darstellungsinteresse, wobei eine solche Neigung zur zyklischen Darstellungsweise unter Verwendung der Erzähltechnik des ,Entrelacement' als eine charakteristische Ausdrucksform mittelalterlicher Ästhetik gelten darf.28 Als ein vergleichbares Werk auf dem Kontinent sei neben dem „Prosa-Lancelot" z. B. auf die der „Karlamagnüs saga" stofflich und auch kompositioneil verwandte rheinische Karls-Kompilation „Karlmeinet" hingewiesen. Nicht von ungefähr erhielt die jüngere „Karlamagnüs saga"-Forschung neue Impulse durch die in der jüngsten romanistischen Chanson de geste-Forschung aktuelle Zyklisierungs-Diskussion29, die Povl Skärup 1994 für unseren Zusammenhang fruchtbar machte.30 In der künftigen „Karlamagnüs saga"-Forschung sollten insbesondere diese von der älteren Forschung vernachlässigten narratologischen Aspekte weiter in den Vordergrund treten, d. h. Fragestellungen der Zyklisierung bzw. allgemeiner Fragen der Komposition und Erzählstruktur von Großtexten verstärkt verfolgt werden, wohingegen Fragen der literarischen Wertung, d. h. konkret der negativen Einschätzung solcher epischer Großformen wie der „Karlamagnüs saga", als obsolet gelten sollten. Und dies betrifft nicht nur die „Karlamagnüs saga", sondern auch die erwähnten anderen Groß-Kompilationen und weitere Texte desselben interkulturell geprägten literarischen Milieus wie z. B. die „i>iöreks saga", die sich in der älteren Forschung ob ihres Charakters als epische Großform bisweilen einer negativen Wertschätzung erfreute, eine Einschätzung, die häufig auf das gesamte Genre der ,übersetzten Riddarasögur' und verwandter Texte ausgedehnt wurde.31 27

28

29

30

31

Vgl. Kramarz-Bein [Anm. 7], S. 188-209, dies.: Piöreks saga [Anm. 31], S.l 15-166, bes. S. 127-151, 161-166 sowie dies.: Geschichtsdenken in Skandinavien in der Tradition der Chansons de geste am Beispiel der Karlamagnüs saga. In: Arbeiten zur Skandinavistik. XII. Arbeitstagung der deutschsprachigen Skandinavistik, hg. von W. Baumgartner, H. Fix. Wien 1996, S. 152-165. Vgl. grundlegend zum Thema .epische Großform': Carol Clover: The medieval Saga. Ithaca, London 1982 und ferner Alois Wolf: Roland - Byrhtnod - Olafr helgi. Snorris Schriftkultur und die Entwicklung der Saga zur komplexen epischen Großform. In: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag, hg. von Hermann Reichert, Günter Zimmermann. Wien 1990 (Philologica Germanica 11), S. 483-512 sowie bes. Anm. 29. Vgl. z. B. aktuell: Cyclification. The Development of Narrative Cycles in the Chansons de Geste and the Arthurian Romances, hg. von Bart Besamusca u. a. Amsterdam u. a. 1994 (Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen. Verhandelingen, Afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks 159); Transtextualities. Of Cycles and Cyclicity in Medieval French Literature, hg. von Sara Sturm-Maddox, Donald Maddox. Binghamton, New York 1996 (Medieval & Renaissance Texts & Studies 149); Michael Heintze: König, Held und Sippe. Untersuchungen zur Chanson de geste des 13. und 14. Jahrhunderts und ihrer Zyklenbildung. Heidelberg 1991 (Studia Romanica 76). Vgl. Povl Skärup: Un cycle de traductions: Karlamagnüs saga. In: The Development of Narrative Cycles [Anm. 29], S. 74-81. Vgl. Kramarz-Bein: Einleitung. In: Hansische Literaturbeziehungen [Anm. 7], hier S. X XII, sowie meine Habilitationsschrift: Die Piöreks saga im Kontext der altnorwegischen

156

Susanne Kramarz-Bein

Überhaupt sollte der ursprünglich erzähltechnische Terminus der Kompilation wertfrei verwendet werden, ohne die pejorativen Konnotationen, die ihm im Laufe der Forschungsdiskussionen, die insbesondere mit dem Genre der Riddarasögur verknüpft waren, anhafteten. Bezeichnenderweise verwenden die Großtexte selbst mit dem Terminus at setja saman32 einen solchen wertfrei zu verstehenden Begriff für das Zusammenstellen oder -fügen größerer Erzähleinheiten, so daß grundsätzlich anzuregen ist, die pejorativ verwendete Begrifflichkeit der Kompilation durch die der Komposition zu ersetzen.

3. Makrostruktur und Komposition der „Karlamagnüs saga" Die Funktion eines Rahmens hat in der „Karlamagnüs saga" einerseits der erste Mttr, der von Karlamagnüs' Jugend und Aufstieg berichtet, aber auch einige spätere Episoden vorwegnimmt und mit der Erwählung der zwölf Pairs endet, und andererseits die X. und letzte, nur in der ß-Version erhaltene hagiographische Branche über Zeichen und Wunder, die mit Karlamagnüs' Tod endet. Makrostrukturell betrachtet, präsentiert sich uns die „Karlamagnüs saga" als eine zyklische, auf die zentrale Königsgestalt hin angelegte Prosafassung, die an dem Lebenszyklus des Herrschers von der Jugend bis zum Tod orientiert ist und in deren mittleren Passagen vom Geschick der zwölf getreuen Gefährten Karlamagnüs', den berühmten ,pairs de France', erzählt wird. Erzähltechnisch läßt sich eine Aufteilung in drei auf- und absteigende Sequenzen erkennen: 1) Jugend, 2) Erwachsenendasein und 3) Alter/Tod, oder allgemeiner: Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang. 33 Die erste Branche/der erste Mttr der „Karlamagnüs saga" berichtet von Karls Aufstieg, der Hauptteil der Saga stellt seine Erfolge dar, und die beiden letzten Branchen zeigen ihn alt, krank, politisch machtlos und schließlich tot. Auch die bedeutenden Karls-Paladine werden in diesen Lebens-Zyklus eingebunLiteratur. Tübingen, Basel 2002 (Beiträge zur nordischen Philologie 33), hier S. 1-7. Einige zentrale Thesen dieser Arbeit wurden unter gleichnamigem Titel vorab publiziert in: Sagas and the Norwegian Experience. Sagaene og Noreg. Preprints/Fortrykk. 10. Internasjonale Sagakonferanse/ lOth international Saga Conference, Trondheim, 3 - 9. August 1997, S. 357-368. Zu Fragen der literarischen Wertung und negativen Beurteilung des Genres Riddarasaga und allgemeiner der altnordischen Übersetzungsliteratur vgl. besonders auch Jürg Glauser: Isländische Märchensagas. Studien zur Prosaliteratur im spätmittelalterlichen Island. Basel, Frankfurt/ M. 1983 (Beiträge zur nordischen Philologie 12), S. 1-10, 23-26 und ders.: Textüberlieferung und Textbegriff im spätmittelalterlichen Norden: Das Beispiel der Riddarasögur. In: Sagas and the Norwegian Experience, S. 189-198 sowie Stefanie Würth: Der .Antikenroman' in der isländischen Literatur des Mittelalters. Eine Untersuchung zur Übersetzung und Rezeption lateinischer Literatur im Norden. Basel, Frankfurt/M. 1998 (Beiträge zur nordischen Philologie 26), besonders S. 2, S. 5f., S. 10-12, S. 217, S. 248-251, S.256f. 32

So der Formäli der Piöreks saga afBern (Hg. von Henrik Bertelsen. Kabenhavn 1905-1911 (Samfund til Udgivelse af Gammel Nordisk Litteratur 34,1.2), hier: 1,2: pesse sagha er sa-

mansett epter sognpydskra manna, enn sumt afpeirra kuoedum [...]. 33

Vgl. Kramarz-Bein: Piöreks saga [Anm. 31], S. 127-133.

Die altnordische Karlsdichtung

157

den. Zwar repräsentieren die Branchen II-IX eine lose Aufeinanderfolge, folgen aber insofern einem Strukturplan, als sie die verschiedenen Kriegszüge Karls gegen die Heiden in Italien, Spanien und Sachsen zum Thema haben, wobei gegenüber der Realhistorie bisweilen Verschiebungen auftreten. Ein deutliches Strukturmerkmal des Hauptteils der Saga und damit zugleich ein Indiz fiir ein zugrunde liegendes Geschichtskonzept34 ist darin ersichtlich, daß die Anordnung der Branchen III—VIII auf das historische Ereignis der Roncesvalles-Schlacht (hist. am 15. August 778) hin ausgerichtet ist. Im Saga-Text erscheint der VIII. Mttr Af Rünzivals bardaga als dramatisch inszenierter Höhepunkt, der zugleich den Beginn des Niedergangs darstellt, wenn in dieser Schlacht die zwölf Pairs - darunter vor allem Rollant, der besondere Liebling des Kaisers, - den Tod finden und von dem trauernden Karlamagnüs begraben werden. Ein Anliegen des Kompilators der „Karlamagnüs saga" bestand offenbar darin, eine Art Heldenenzyklopädie um den mythischen Karlamagnüs zu gestalten.35 Mit diesem Ziel werden die Karls-Helden in die Groß-Kompilation einbezogen, darunter neben Karls Neffen und Lieblings-Paladin Rollant (IV., V. und insbesondere VIII. Mttr) u. a. auch Oddgeirr danski/Ogier le Danois/Holger danske (III. Mttr) sowie Guillaume d'Orange/Vilhjälmr korneis (IX. Mttr), dem die Rolle des letzten überlebenden Karls-Helden zukommt. Stofflich gesehen, wird mit dem Moniage des Karls-Helden Vilhjälmr korneis in der IX. Branche eine in der romanischen Heldenepik verbreitete Tradition aufgenommen. Als für die Erzählstruktur der „Karlamagnüs saga" bedeutsam erweist sich nun aber die Eingliederung des Vilhjälmr-Moniage in die Alterssequenz der Gesamtkompilation. Einige Passagen des VilhjälmsMttrs erweisen sich als eine wehmütige laudatio temporis acti des gealterten und inzwischen auch politisch machtloser gewordenen Karlamagnüs, der in tiefem Kummer das vergangene Heldenleben seiner Gefährten Revue passieren läßt und deren Verlust sowie seine eigene Machtlosigkeit beklagt: harmar hann pat nu miok er kappar hans erv fra honum. Rollant fallinn ok peir xij iafningiar. Oddgeir danski aa brott ok Othuel. en hann sialfr afgamall. Vilhialmr horfin. pa safnaz saman ovinir hans ok cetla at hefita sin ok sinna frcenda. (Ausgabe Togeby-Halleux, S. 310). Über Vilhjälmr hinaus bleibt nur noch der gealterte Kaiser selbst übrig, dessen Tod und Begräbniszeremonien am Ende des X. Mttrs beschrieben werden. An dieser Stelle ist auf einen grundlegenden Unterschied zwischen der IX. Branche der „Karlamagnüs saga" und ihrer (wie und in welcher Version auch immer beschaffenen) Vorlage, dem „Moniage Guillaume", aufmerksam zu machen. Im „Moniage Guillaume" (I und II) ist nicht Charlemagne selbst der Herrscher, sondern sein Sohn Louis/Ludwig, als dessen Vasall Guillaume hier agiert.36 Dabei 34

Vgl. dazu Kramarz-Bein: Geschichtsdenken [Anm. 27], S. 156-161.

35

Vgl. Kramarz-Bein: Piöreks saga [Anm. 31], S. 127-133. Als Text wird die von Cloetta besorgte Ausgabe zugrunde gelegt: Les deux rédactions en vers du Moniage Guillaume. 2 Bde., hg. von Wilhelm Cloetta. Paris 1906-1911 (Soc. Anciens Textes Français), mit Einleitung, Bd. II, S. 1-282, besonders S. 101-116 zu den Text-

36

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Susanne Kramarz-Bein

darf das gleichzeitige Auftreten Charlemagnes und Guillaumes in der Tradition der Chanson de geste als eher selten gelten, zumal Guillaume auch sagengeschichtlich in die Zeit von Charlemagnes Nachfolger Louis/Ludwig gehört. In Anbetracht der Textgeschichte der IX. Branche und aus kompositioneilen Gründen ist es wahrscheinlich, daß die Konzeption Vilhjälms als Vasall Karlamagnüs' als das Werk des altnorwegischen Redaktors anzusehen ist37, und dies kann wiederum als ein weiteres Argument dafür gelten, daß der ß-Redaktor eine Art Heldenenzyklopädie um den mythischen Karlamagnüs gestalten wollte. Dabei war die bekannte Figur Guillaumes d'Orange auch sagen-chronologisch besonders geeignet, den letzten überlebenden Karls-Helden zu repräsentieren. In der IX. Branche läßt sich überhaupt die Arbeitsweise des ß-Redaktors gut veranschaulichen: Der oben zitierte Satz vom Beginn des 3. Kapitels, der uns den über den Verlust seiner Pairs klagenden alten und kranken Karlamagnüs eindringlich als Bild des Verfalls vor Augen fuhrt, stammt mit großer Wahrscheinlichkeit von dem norwegischen Redaktor der „Karlamagnüs saga" und nicht bereits von dem Verfasser des „Moniage Guillaume".38 Mit der Zuweisung an Karl selbst fugt die „Karlamagnüs saga" also die Vilhjälms-Handlung strukturell gezielt in die Episoden um Karl und seine jafningjar oder - anders gesagt - in den KarlsZyklus vom Leben, Heldentum und Alter seiner zwölf getreuen Kämpen ein. In der Perspektive der „Karlamagnüs saga" ist Vilhjälmr - nach Rollants Tod - der letzte bedeutende Karls-Kämpe, und mit seinem Tod neigt sich die Heldenzeit ihrem Ende zu.

4. Mikrostruktur Wie unter 1. ausgeführt, ist die „Karlamagnüs saga" in zwei verschiedenen Redaktionen, den Versionen bzw. Gruppen A bzw. a und B bzw. ß überliefert, wobei insbesondere die ß-Redaktion der Saga einige inhaltliche, aber auch konzeptionelle Änderungen aufweist, die den mikrostrukturellen Bereich betreffen: Die Arbeit der ß-Redaktoren ist als die Tätigkeit von Revisoren zu begreifen, denen es bei ihrer Arbeit vor allem um die Beseitigung von Widersprüchen ging und die in einigen Fällen nachweislich versuchten, der losen Reihenfolge der f»aettir der a-Version durch eingefügte Überleitungssätze mehr Konsistenz und logische Kausalität zu verleihen, 39 so daß vor allem für die ß-Redaktion von einer kompositionellen Arbeitsweise auszugehen und der Terminus Kompilation im negativen Wortsinn somit fehl am Platz ist. beziehungen von „Moniage Guillaume I", „Moniage Guillaume II" und „Karlamagnüs saga" (als den drei ältesten erhaltenen Redaktionen). 37 38 39

Vgl. hierzu auch Togeby [Anm. 7], S. 366f. Vgl. ebd. Vgl. besonders Constance B. Hieatt: The redactor as critic: An Analysis of the B-Version of Karlamagnüs saga. In: Scandinavian Studies 53 (1981), S. 302-319; Halvorsen [Anm. 5], S. 88-98 sowie Skärup [Anm. 3], S. 340-346.

Die altnordische Karlsdichtung

159

5. Zentrale Erzählideen und Erzählintention der „Karlamagnüs saga" Die gesamte „Karlamagnüs saga" ist durch ihr religiöses Kolorit geprägt und vertritt zugleich ein religiöses Anliegen.40 Beispielhaft sei hier auf die Motivation der zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen aus Anlaß der Heidenmission verwiesen, die Konvertierung Otüels (VI. Mttr), auf Karls Jerusalem-Fahrt (VII.), die religiöse Grundstimmung in den Sterbeszenen der RoncesvallesSchlacht (VIII.) sowie auf den hagiographischen Charakter des X. und letzten Mttrs. Als zentrales Thema der Saga wird die Überlegenheit des Christlichen gegenüber dem Heidnischen ersichtlich, dies z. B. im IV. Mttr, wenn das Manko eines so tapferen Heiden wie Jamundr ausschließlich mit dessen .falschem' Glauben begründet wird (Ok ef hann vceri ä himna guö truandi, pä vceri engi höföingi i kristninni hans maki, Ausgabe Unger, S. 295), oder in der VI. Branche, wenn der Sieg des bekehrten Heiden Otüel zum triumphalen Sieg des Christentums über das Heidentum stilisiert wird. Auch der VIII. Mttr lebt von dem erbitterten Konflikt von Christlichem und Heidnischem, und auch hier macht das .falsche' Bekenntnis jegliche Würdigung des heidnischen Helden unmöglich (Ausgabe Unger, S. 504). Daß mit dem religiösen Anliegen der „Karlamagnüs saga" zugleich auch ein religiöser Anspruch verbunden ist, wird ersichtlich, wenn in der Saga der Vergleich Karls mit Christus und der Pairs mit den Aposteln an mehreren Stellen (z. B. im I. und VII. Mttr) explizit hervorgehoben wird. Wie in der kontinentalen Karlsdichtung („Chanson de Roland" und „Rolandslied") wird auch in der „Karlamagnüs saga" eine typologische Anknüpfung an Christus und seine Jüngerschaft gesucht. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, daß diese ursprünglich aus der Abendmahlssituation abgeleitete religiöse Disposition vom .Christus Rex' im Kreis seiner zwölf Apostel bereits in der Spätantike als Topos der Herrscherglorifikation ausgedeutet wurde,41 wobei ein solcher Zusammenhang auch für die „Karlamagnüs saga" vorausgesetzt werden kann, was wiederum ihren religiösen Anspruch bekräftigt. Von besonderem Interesse für das Karlsbild der Saga und den daran geknüpften religiösen Anspruch ist die VII. Branche der Saga. Der Jörsalaferd-Pättr präsentiert uns ein ambivalentes Herrscherbild, das einerseits von Zügen der oben beschriebenen spätantiken Herrscherglorifikation bestimmt ist, andererseits diese Herrscherverherrlichung mit der ausgiebigen Beschreibung des unschicklichen Benehmens der fränkischen Heldenschar und ihres Kaisers am Hof von Konstantinopel in ein komisch40

Zu der religiösen Thematik der „Karlamagnüs saga" - insbesondere ihrer ß-Version - vgl. auch Hieatt [Anm. 39], S. 308, S. 317, und Kjaer [Anm. 7], S. 20f.

41

Vgl. dazu Ejnar Dyggve: Kong Theoderik og den nordiske runddysse [= Rundgrab]. En kunsthistorisk Studie over Theoderikmausoleets kuppel. Kabenhavn 1957 (Studier fra Sprog- og Oldtidsforskning 233), besonders S. 5-9, der am Beispiel des Konstantins-Mausoleums in Konstantinopel und des Theoderichs-Mausoleums in Ravenna gezeigt hat, daß diese Mausoleums-Anlagen als architektonische Ausdrucksformen spätantiker Herrscherglorifikation zu verstehen sind. Vgl. dazu mit Bezug auf die „Karlamagnüs saga": KramarzBein, Geschichtsdenken [Anm. 27], S. 156f.

160

Susanne Kramarz-Bein

parodistisches Licht rückt. Das Entscheidende an dieser parodistischen Relativierung ist aber, daß an Karls Überlegenheit gegenüber anderen irdischen Herrschern (dem Patriarchen von Jerusalem und Hügon von Miklagarör = Byzanz/Konstantinopel) letztlich kein Zweifel gelassen wird, Karls religiöse Vormachtstellung nicht ernsthaft in Frage gestellt wird.42 Die Vasallenproblematik Als von besonderer Bedeutung für das in der „Karlamagnüs saga" präsentierte Herrscherbild und damit zugleich für den religiösen Anspruch der Saga erweist sich die Darstellung der Vasallenproblematik. Diesbezüglich lassen sich u. a. für den III. Mttr der „Karlamagnüs saga" (Oddgeirs Pättr danska) bezeichnende Unterschiede zu der altfranzösischen Quelle, der „Chevalerie Ogier de Danemarche" (1200-1215) Raimberts de Paris, feststellen.43 Während sich in Raimberts „Chevalerie" eine deutliche Kritik am Herrscher Karl erkennen läßt, die ihren Grund in dessen ungerechtem und unköniglichem Verhalten seinen Vasallen gegenüber hat, - eine Herrscherkritik, die in der altfranzösischen Karlsepik charakteristisch für das Genre der Rebellenepik ist44 läßt sich eine solche und eine entsprechende Opposition des Vasallen Ogier in der altnordischen Branche kaum feststellen. Im Gegenteil: Zwar gelangt Ogier/Holger als Geisel an Karls Hof, was mit dem Wortbruch von Ogiers Vater begründet wird, und soll dort durch Folter bestraft werden, aber die außergewöhnlichen Fähigkeiten des dänischen Helden führen schnell dazu, daß er schon bald zum obersten Tischdiener (skutilsuein) an des Kaisers Tafel und zu dessen Standarten-Träger (merkissmadr, Kap. 13, 128, A) avanciert. Auch erweist sich Ogier als äußerst siegreich in Karls oberster Mission des Heidenkampfes und erwirbt sich somit größte Ehre. Im Gegensatz zu Raimberts Text wird in dem altnordischen Mttr keine profeudale Kritik am Kaiser laut, und entsprechend wird Karls Herrschaftsanspruch auch nicht durch die Vasallen untergraben. Gleiches gilt für die Überlegenheit der christlichen Mission über das Heidnische, die an keiner Stelle der Saga in Zweifel gezogen wird. Ganz ähnlich erscheint in der „Karlamagnüs saga" auch der sagenchronologisch letzte große Held des Karls-Kreises, Vilhjälmr korneis/Guillaume d'Orange, im IX. Mttr der Saga als loyaler, pro-königlich eingestellter Vasall, der nach seinem

42

Vgl. dazu ebd., S. 156-158.

43

Die „Chevalerie Ogier de Danemarche" wird nach der von Eusebi besorgten Ausgabe zitiert: La Chevalerie d'Ogier de Danemarche, hg. von Mario Eusebi. Milano/Varese 1963 (Testi e Documenti di Letteratura Moderaa 6). Der Zyklisierungstendenz entsprechend, handelt der erste Teil der „Chevalerie" (V. 1-3100) von Ogiers Jugend („Enfances Ogier"), wobei allerdings ein verlorener „Enfances"-Text (von ca. 1195) vorauszusetzen ist. Zum III. I>ättr der „Karlamagnüs saga" vgl. Togeby [Anm. 13], besonders S. 38f., S. 45-72, S. 91-96 sowie Hieatt [Anm. 13].

44

Vgl. Togeby [Anm. 13], S. 69-72 und Henning Krauß: Romanische Heldenepik. In: Europäisches Hochmittelalter, hg. von H. Krauß. Wiesbaden 1981 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 7), S. 145-180, hier S. 156-159.

Die altnordische Karlsdichtung

161

Moniage seine letzte Heldentat zur Rettung von Kaiser und Imperium vollbringt.45 Grundsätzlich läßt sich also feststellen, daß der Vasallenproblematik in der altnordischen „Karlamagnüs saga" geringere Aufmerksamkeit als in deren altfranzösischen Quellen geschenkt wird, was zugleich die Glorifizierung Karls verstärkt. In ihren I>aettir vertritt die „Karlamagnüs saga" durchgängig die prokönigliche Haltung der ,geste du roi', d. h. vollzieht keine Weiterentwicklung zu der profeudalen Sichtweise der jüngeren Chansons de geste des Typs Empörerepik.

6. Ausblick Zum Abschluß der Betrachtung stellt sich nun die Frage nach dem ,Sitz im Leben' bzw. nach dem Aufzeichnungsinteresse solcher Texte wie der „Karlamagnüs saga", aber z. B. auch der ebenso umfangreichen „I>iöreks saga af Bern", die beide zur Herrschaftszeit und in dem literarisch-kulturellen Milieu von König Häkons IV. Hof in Norwegen entstanden und aufgezeichnet wurden. Trotz einiger Unterschiede, u. a. auch der stofflichen Provenienz, steht im Zentrum der beiden epischen Großformen jeweils ein idealisierter großer Herrscher Karl/Karlamagnüs bzw. Theoderich/Mörekr im Kreis seiner auserwählten zwölf Gefährten (felagar ok iafningiar). Es bietet sich an, diese Darstellungen idealisierter Königsbünde als literarisches Identifikationsangebot an Häkon IV. Häkonarson zu interpretieren,46 wobei eine solche Annahme insbesondere für die Herrscherfigur Karls nahe liegt. Karl der Große hat in der kontinentalen mittelhochdeutschen Literatur mehrfach Anlaß zum Herrschervergleich geboten, dies z. B. im „Rolandslied", dessen Mäzen Heinrich der Löwen sich selbst als ,nepos Karoli' bezeichnen ließ und die karolingische Tradition auch für seine Politik fruchtbar machte.47 Karls Bedeutung als erster großer christlicher König und Kaiser auch in Norwegen läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß insgesamt sieben norwegische Könige das Epitheton .Magnus' in ihrem Namen führten.48 45

Hierbei läßt sich feststellen, daß sich die IX. Branche der altnordischen „Karlamagnüs saga" im Einklang mit der Wilhelmsgeste befindet, die eine vermittelnde Position zwischen der pro-königlichen Haltung der ,geste du roi' einerseits und der pro-feudalen Perspektive der Empörerepen andererseits einnimmt, in denen die Unzufriedenheit der Vasallen eindringlich zu Wort kommt: Zur altfranzösischen Überlieferung der Empörerepik vgl. Krauß [Anm. 44], besonders S. 161 und Kramarz-Bein, Geschichtsdenken [Anm. 27], S. 159-161.

46

Die Annahme eines solchen .Identifikationsangebots' an Häkon IV. darf allerdings nicht als eine einfache Gleichsetzung von Historie und Literatur, also als simple Widerspiegelung realgeschichtlicher Kontexte in der Literatur, verstanden werden, sondern sie setzt vielmehr Erich Köhlers (Einige Thesen zur Literatursoziologie. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 55 [1974], S. 257-264) Option der „homologen Strukturen" voraus. Vgl. dazu ausfuhrlicher Kramarz-Bein, Geschichtsdenken [Anm. 27], S. 161f.

47

Vgl. Karl-Ernst Geith: Carolus Magnus. Studien zur Darstellung Karls des Großen in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Bern, München 1977 (Bibliotheca Germanica 19), S. 113, S. 119-123.

48

Vgl. Leach [Anm. 7], S. 237f. und Kramarz-Bein, Geschichtsdenken [Anm. 27], S. 162.

Janet M. Cowen

Die mittelenglischen Romane um Karl den Großen

Das Textmaterial, das unter dieser Überschrift versammelt werden kann, besteht aus zehn anonymen Verstexten des 14. und 15. Jahrhunderts, zwei Prosaübertragungen von William Caxton, einem Teil einer Prosaroman-Kompilation von Sir John Bourchier (Lord Berners) und einer englischen Prosaübersetzung, die von Wynkyn de Wörde gedruckt wurde. Obwohl die beiden letztgenannten aus dem 16. Jahrhundert stammen, werden sie hier berücksichtigt, weil sie Übersetzungen von Werken des 15. Jahrhunderts darstellen, die in der Tradition des volkssprachlichen Prosaromans stehen, wie er durch Caxton in England weitergeführt wurde. Alle genannten Texte sind im Namen der ,Early English Text Society' herausgegeben worden; die entsprechenden Hinweise finden sich in den Fußnoten. Weitere, vor 1967 erschienene Editionen, die auch Anthologien umfassen, finden sich in ,A Manual of the Writings in Middle English 1050-1500'.1 Diese Texte standen nicht im Vordergrund wissenschaftlicher Aktivitäten oder kritischer Untersuchungen der mediävistischen Anglistik, und es ist bezeichnend, daß nur wenige in den letzten Jahrzehnten in Anthologien mittelenglischer Romane aufgenommen wurden.2 Charakteristischerweise behandelt auch die jüngste einschlägige Literaturgeschichte der Epoche das Textmaterial jenes Corpus nur knapp, wobei es der stark aufblühenden englischen Artusromantradition gegenübergestellt ist und überhaupt nur zwei Texte namentlich erwähnt sind.3 Aber gleichzeitig zeigen neuere Untersuchungen die Bereitschaft, auf diesem zuvor marginalisierten Feld 1

Hamilton M. Smyser: Charlemagne Legends. In: A Manual of the Writings in Middle English 1050-1500, hg. von J. Burke Severs, Albert E. Härtung. New Haven, Connecticut, 1967ff. (The Connecticut Academy of Arts and Sciences). Bd. I: Romances, hg. von J. Burke Severs, S. 80-100, 256-66; im folgenden zitiert als .Manual, I'. Entstehungsdaten sind, wenn nicht anders kenntlich gemacht, diesem Handbuch entnommen. Wenn nicht anders vermerkt, stammen Handschriftendatierungen aus Gisela Guddat-Figge: Catalogue of Manuscripts containing Middle English Romances. München 1976.

2

Six Middle English Romances, hg. von Maldwyn Mills. London 1973 enthält „The Sege of Melayne"; Longer Scottish Poems, I: 1375-1650, hg. von Priscilla Bawcutt, Felicity Riddy. Edinburgh 1987 enthält „The Taill of Rauf Coilyear"; Medieval English Romances. 2 Bde., hg. von Diane Speed. Sydney 1987 ^1989; dritte Auflage Durham 1993 [Durham Medieval Texts 8] enthält „Rauf Coilyear"; Three Middle English Charlemagne Romances, hg. von Alan Lupack. Kalamazoo 1990 (TEAMS Middle English Texts Series) enthält „The Sultan of Babylon", „The Siege of Milan", „The Tale of Ralph the Collier"; Middle English Romances, hg. von Stephen H. A. Shepherd. New York 1995 enthält „The Sege of Melayne".

3

Vgl. The Cambridge History of Medieval English Literature, hg. von David Wallace. Cambridge 1999, S. 172.

164

Janet M. Cowen

zu arbeiten, insbesondere mit Blick auf den Überlieferungskontext und die späten Prosaromane. 4 Die Identifizierung der Vorlagen dieser Texte gelang unterschiedlich überzeugend. Man geht davon aus, daß die Mehrheit mehr oder weniger eng auf französischen Originalen basiert. In zwei Fällen wird eine frühere englische Bearbeitung angenommen. Für zwei weitere Texte kann keine einzelne Vorlage ausgemacht werden; einer von ihnen stellt möglicherweise eine freie Bearbeitung der genretypischen Thematik dar, die parodistisch überformt wurde. Obwohl diese Verstexte nur ein relativ schmales Corpus bilden,5 lassen sich an ihnen sowohl einige typische Merkmale des volkssprachlichen englischen Romans jener Zeit veranschaulichen als auch manche Schwierigkeiten, die seine wissenschaftliche Untersuchung mit sich bringt. In gewisser Hinsicht ist es hilfreich, den Karl-Stoff im Mittelenglischen nicht als eigenes Corpus zu betrachten, sondern als Teil eines größeren mittelenglischen Textverbandes, dessen Hauptinteresse dem Kreuzzug und der Verehrung der Passionsreliquien gilt.6 Phillipa Hardman behauptet, daß im handschriftlichen Kontext des Codex Additional MS 31042 der British Library die von Karl dem Großen handelnden Texte durch den Prozeß einer stückweisen Kompilierung mit erzählender und geistlicher Passionsliteratur verbunden wurden. 7 Der Verfasser des alliterierenden mittelenglischen „Morte Arthure" holte ein Thema aus dem Karl-Stoff in den Artus-Stoff hinein, indem er eine Begegnung zwischen Gawain und einem Artusgegner nach einem Motiv der Fierabras-Erzählung gestaltete.8 Jeanne E. Krochalis verwies darauf, daß eine Version des lateinischen „Pseudo-Turpin" aus der British Library (Cotton MS Titus A xix), die mit dem Priorat von Kirkstall in Verbindung gebracht wird, einen inserierten Text enthält, den andere erhaltene „Pseudo-Turpin"-Handschriften nicht mitüberliefern, nämlich einen Bericht über Karls Reise in das Heilige Land und seine Rückkehr mit zahlreichen Reliquien. 9 Thorlac Turville-Petre 4

5

Vgl. vor allem: Tradition and Transformation in Medieval Romance, hg. von Rosalind Field. Cambridge 1999. Das erhaltene Corpus der mittelenglischen Versromane umfaßt rund 95 Stücke; die Festlegung der genauen Gesamtzahl hängt von den Kriterien ab, die zur Definition des .Romans' und zur Unterscheidung zwischen ,Originalromanen' und .Bearbeitungen' dienen; vgl. Derek Pearsall: The English Romance in the Fifteenth Century. In: Essays and Studies 29 (1976), S. 56-83, hier S. 57-58.

6

Vgl. vor allem „The Siege of Jerusalem" (The Siege of Jerusalem. Ed. from Ms. Laud. Misc. 656 with variants from all other extant mss. by Eugen Kölbing, Mabel Day. London 1932 [EETS OS 188]), der in der gleichen Handschrift steht wie „The Romance of Duke Rowland and Sir Otuell of Spayne" und „The Sege of Melayne", die unten besprochen werden.

7

Vgl. Phillipa Hardman: Reading the spaces: pictorial intentions in the Thornton MSS, Lincoln Cathedral MS 91, and BL MS Add. 31042. In: Medium .Evum 63 (1994), S. 250-274. Morte Arthure, a critical edition. Ed. by Mary Hamel. New York 1984 (Garland medieval texts 9), V. 2501-2716 und S. 3 9 ^ 1 .

8

9

Jeanne E. Krochalis: History and Legend at Kiikstall in the Fifteenth Century. In: Of the Making of Books: Medieval Manuscripts, their Scribes and Readers. Essays presented to M. B. Parkes, hg. von Pamela R. Robinson, Rivkah Zim. Aldeishot 1997, S. 230-256, hier S. 239.

Die mittelenglischen Romane um Karl den Großen

165

hat auf die zentrale Stellung der Kreuzzugsthematik in vielen Texten der Auchinleck-Handschrift aufmerksam gemacht, die zwei der Verstexte enthält, die im folgenden besprochen werden.10 Im Zusammenhang seiner Fragestellung, weshalb Romane, die von französischen Helden und französischen militärischen Erfolgen handeln, in England während einer Periode lang andauernder anglo-französischer Feindschaft verfaßt, in Umlauf gebracht und gelesen wurden, zeigt Robert Warm, daß diese Erzählungen das Ideal einer Vergangenheit konstruierten, in der christliche Ritter eher gegen Ungläubige als gegeneinander kämpften und damit „eine idealisierte Erzählung christlichen Erfolges" seien." Neben den englischen Bearbeitungen der Romantradition existiert eine ins späte 15. Jahrhundert datierte Handschrift - unikal überliefert in San Marino, Henry E. Huntingdon Library, MS HM 28561 - die eine unvollständige mittelenglische Übersetzung des „Pseudo-Turpin" bietet.12 Stephen Shepherd fand heraus, daß dies die einzige mittelenglische Textfassung darstellt, die aus einem lateinischen - im Gegensatz zu einem französischen - Vertreter einer der bekanntesten Handschriftenfamilien des „Pseudo-Turpin" übersetzt wurde; er hält dafür, daß der mittelenglische Text zu einer spezifisch insularen, blühenden Texttradition gehört.13 Abgesehen von den erhalten gebliebenen Textzeugen gibt es zahlreiche weitere Anzeichen für die Bekanntheit und Beliebtheit des Karl-Stoffes während dieser Epoche in England. Nach seiner Kanonisation im 12. Jahrhundert findet man Karlserzählungen in Lektionaren, aus denen an seinem Fest gelesen wurde.14 Higden bezieht sich in seinem „Polychronicon" einige Male auf den „Pseudo-Turpin".15 Im Prolog des „Cursor Mundi", einer volkssprachlichen Erzählung biblischer Geschichte von ca. 1300, bietet der Autor sein Material als Ersatz für eine Reihe populärer Versthemen, u. a. über Karl den Großen, an.16 Der Held des mittelenglischen 10

Thorlac Turville-Petre: England the Nation: Language, Literature and National Identity, 1290-1340. Oxford 1996, S. 108-141, hier S. 120.

11

Robert Wann: Identity, Narrative and Participation: defining a context for the Middle English Charlemagne romances. In: Tradition and Transformation [Anm. 4], S. 87-100, hier S. 94.

12

Vgl. Stephen H. A. Shepherd: The Middle English Pseudo-Turpin Chronicle. In: Medium jEvum 65 (1996), S. 19-34; frühere, kürzere Beschreibungen des Textes auch bei Ralph Hanna III: A Handlist of Manuscripts containing Middle English Prose in the Henry E. Huntingdon Library. The Index of Middle English English Prose: Handlist I. Cambridge 1984, S. IXf., S. 44; Edward Donald Kennedy: Chronicles, other than genealogical, that cover world history or the history of countries other than England and Scotland. In: A Manual o f the Writings in Middle English 1050-1500 [Anm. 1], Bd. VIII: Chronicles and Other Historical Writing, hg. von Albert E. Härtung (1989), S. 2672, S. 2887.

13

Shepherd [Anm. 12], S. 22, S. 24.

14

Krochalis [Anm. 9], S. 239.

15

Zitiert von Shepherd [Anm. 12], S. 29.

16

Vgl. Cursor Mundi. A Northhumbrian poem of the 16th centuiy in four versions, two of them Midland, with 7 additions, including „The Book of Penance", and „Cato's Morals". Ed. by Richard Morris. 7 Bde. London 1874-1893 (EETS OS 57, 59, 62, 66, 68, 99,101), Prolog, V. 1-26.

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Romans „Richard Coer de Lion" wird mit Karl dem Großen, neben anderen Helden, positiv verglichen, insbesondere in bezug auf die Kreuzzugsthematik. 17 Inhaltlich stellen zwei der Verstexte eine Besonderheit dar. Der eine ist die einzige überlieferte mittelenglische Fassung der „Chanson de Roland"; der andere ist die schottische Dichtung „The Taill of Rauf Coilyear", die ein volkstümliches Erzählmotiv in einen Kontext integriert, der sich aus typischen Figuren und Situationen des Corpus der Karlsepik zusammensetzt. Der Rest zerfallt in zwei Gruppen, die man als ,Otuel-Gruppe' und als ,Ferumbras-Gruppe' bezeichnet hat. Die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Gliedern dieser Gruppen sind, betrachtet man ihre Bezüge zu den vermeintlichen Quellen und die Beziehungen untereinander, interessant, aber in mancherlei Hinsicht unmöglich zu bestimmen. „The Song of Roland"18 ist ein fragmentarischer Text von 1049 Versen in unregelmäßig gereimten, alliterierenden Verspaaren mit einem nicht regelmäßigen, aber erkennbaren vierhebigen Metrum. Als Entstehungsdatum wird etwa 1400 angesetzt; überliefert wird der Text in einer um 1475-1500 datierten Handschrift, die sowohl vor als auch hinter diesem Teil schadhaft ist.19 Es ließ sich keine direkte Verwandtschaft zu irgendeiner bekannten Fassung der „Chanson de Roland" ausmachen, 20 und man geht davon aus, daß es sich um eine „PseudoTurpin"-Stoff verarbeitende Mischfassung handelt, bzw. daß der Text möglicherweise aus einer solchen hervorgegangen ist.21 Die Erzählung setzt ein mit Ganelons Rückkehr von seiner Erkundungsreise nach Zaragoza, von der er Geschenke des Sultans22 mitbringt, und endet mit Rolands Vorschlag, um Hilfe nach Karl

17

18

19 20

21

22

Vgl. Der mittelenglische Versroman über Richard Löwenherz. Krit. Ausgabe nach allen Handschriften mit Einleitung, Anmerkungen und deutscher Übersetzung von Karl Brunner. Wien, Leipzig 1913, V. 11-16, V. 6611, V. 6727, V. 7082. Zur Deutung vgl. Geraldine Bames: Counsel and Strategy in Middle English Romance. Cambridge 1993, S. 105-106. Ausgabe in: The English Charlemagne Romances, Part II: The Sege offMelayne and The Romance of Duke Rowland and Sir Otuell of Spayne, now for the first time printed from the unique ms. of R. Thornton in the Brit. Mus. ms. Addit. 31.042 together with a fragment of The Song of Roland from the unique ms. Lansd. 388. Ed. by Sidney J. Herrtage. London 1880 (EETS ES 35). British Library, Lansdowne MS 388, fol. 381r-395v; Guddat-Figge [Anm. 1], S. 209-211. Vgl. Jon Robin Russ: The Middle English Song of Roland'. A Critical Edition. Diss, (masch.) University of Wisconsin 1968; Abstract in: DAI 30 (1969), S. 291A-292A. Vgl.,Manual, I' [Anm. 1], S. 95-96; Russ [Anm. 20] kommt zu dem Schluß, daß der mittelenglische Text hauptsächlich von einer verlorenen Fassung der „Chanson de Roland" stamme, die zu jenem Zweig der Reimfassungen gehört habe, der am besten durch die Hss. von Chäteauroux und Venedig (V7) repräsentiert wird. Die hier wie in anderen Texten zu beobachtende Verwendung des Titels soudan, ,Sultan', für den Führer der Sarazenen scheint für eine umfassende Bedeutung des Terminus im Mittelenglischen zu sprechen. Er entspricht einer Reihe von Ausdrücken, darunter amirans sowie die weniger exotischen Termini roi und emperur aus den jeweiligen Quellen. Wo der mittelenglische Ausdruck amiral in den Texten erscheint, ist es nicht klar, ob dadurch ein Bewußtsein fur die historische Unterscheidung zwischen den Positionen des Emirs und des Sultans ausgedrückt wird; vgl. The Oxford English Dictionary, zweite Aufl., besorgt von J. A. Simpson, E. S. C. Weiner. Oxford 1989, (soldan); Middle English Dictionary, hg. von

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(Charles23) zu schicken, und dem Beginn von Olivers Antwort, in der er den Vorschlag zornig zurückweist. Der englische Text kopiert nicht die Wiederholungen der französischen Quelle. Olivers Aufforderung an Roland, in sein Horn zu stoßen, und Rolands Verweigerung erscheinen statt dessen als ein einziger Wortwechsel zwischen Roland, Oliver und den französischen Rittern. Die Frage der Ehre schließt hier eine pragmatische Überlegung ein: Der Schwerpunkt von Rolands Rede (V. 560ff.) liegt darauf, daß es beschämend wäre, zu diesem Zeitpunkt Furcht zu zeigen, weil sie noch unverletzt seien. Der fragmentarische Charakter des erhaltenen Textes macht es unmöglich zu entscheiden, inwiefern er es ursprünglich geschafft haben mag, englischen Lesern den zwischen Roland und Ganelon ausgetragenen Streit um Rivalität und Ehre, der im Zentrum der französischen Vorlage steht, zu vermitteln oder auch die Streitfrage, inwiefern der Verrat an Roland mit dem Verrat an Karl in Verbindung steht. Es existiert keine Entsprechung für den vor der Schlacht geführten Dialog aus der Vorlage, in dem Roland zunächst Olivers Hinweis auf Ganelons Treulosigkeit zurückweist;24 insofern ist ein Teil der Spannungen beseitigt worden. Durch Erzählerbemerkungen (V. 69, V. 134) wird Ganelon dem Leser unmittelbar als Objekt der Schande präsentiert. Details wie die Nennung von Frauen unter den Geschenken, die der Sultan Karl macht, sowie der Vorfall, daß Karls Ritter am ersten Abend des Rückzugs nach Frankreich Wein trinken und mit den Frauen schlafen, gehen auf den „Pseudo-Turpin" zurück.25 Es hat sich gezeigt, daß der Umgang der mittelenglischen Fassung mit diesen Details genau der altfranzösischen Johannes'-Übersetzung des „Pseudo-Turpin" entspricht und nicht einer der bekannten lateinischen Fassungen.26 Obwohl der englische Text diesen Vorfall nicht ausdrücklich als einen Grund der französischen Niederlage tadelt, könnte doch ein impliziter Vorwurf im Erzählerkommentar liegen, sie hätten seinerzeit so schwer gesündigt, daß viele weinten und es verfluchten (V. 75-76). Andere Eigenheiten der mittelenglischen Fassung, wie z. B. die Verwendung von Naturmotiven und Sprichwörtern, sind als Möglichkeit sowohl zur Ausweitung humaner Aspekte im gegenseitigen Verhalten der französischen Krieger interpretiert worden als auch zur Verdeutlichung von Fragen der moralischen Verantwortung, die um die Themen Rat,

23

24

25

26

Hans Kurath u. a. Ann Arbor 1954ff., (soudan n.); Diane Speed: The Saracens of King Horn. In: Speculum 65 (1990), S. 564-95, hier S. 574-77. ,Charles' ist die gebräuchliche Form des Namens im Mittelenglischen. In meinem Beitrag habe ich die Schreibweise der Namen der Hauptpersonen vereinheitlicht. Vgl. „Song of Roland" V. 310-311 und Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck. Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart 1999 (RUB 2746), V. 1017-27. Vgl. „Song of Roland", V. 28-31, V. 68-76; The English Charlemagne Romances [Anm. 18], S. XXI; Historia Karoli Magni et Rotholandi ou Chronique de Pseudo-Turpin, hg. von C. Meredith-Jones. Paris 1936, S. 180. Vgl. Stephen H. A. Shepherd: „I haue gone for Jji sak wonderfull wais": The Middle English Fragment of The Song of Roland. In: Olifant 11 (1986), S. 219-236.

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Verrat und Verschwendung von Leben kreisen.27 Ein Detail während der Schlachtschilderung verleiht der Figur Rolands etwas von jener geistlichen Erbauungsfunktion, die ihm deutlicher in den weiter unten zu behandelnden englischen Karlstexten zugeschrieben wird: Er spornt die Männer mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn nach dem Tod an (V. 623-626), dabei die Rolle übernehmend, die in der „Chanson de Roland" (V. 1124ff.) Erzbischof Turpin spielt. Der älteste Textzeuge aller hier behandelten Werke - üblicherweise als Auchinleck Handschrift bezeichnet28 - enthält „Roland and Vernagu", 29 ein kurzes Stück von 880 Versen30 in Reimstrophen. 31 Die Erzählung setzt mit Karls Antwort auf den Appell des Kaisers Constantius ein, dem vom Sarazenenkönig Ebrahim von Spanien32 belagerten Patriarchen von Jerusalem zu Hilfe zu eilen, und der von Karl selbst gewählten Belohnung mit Passionsreliquien. Darauf folgt ein Bericht über Karls Eroberungszug durch Spanien, der in einem Zweikampf zwischen Roland und dem Riesen Vernagu kulminiert, der vom Sultan von Babylon geschickt wurde, um Karl auf dem Höhepunkt seines Erfolges herauszufordern. Die Erzählung zerfallt grob in zwei Teile, die beide jeweils thematische Schwerpunkte exemplifizieren, die die mittelenglischen Karlsromane generell bestimmen: die durch Wunder erwiesene Echtheit der Passionsreliquien aus Karls Besitz und das Thema des bekehrten Sarazenen.33 In der Eingangsepisode steht das wunderbare Licht, das als göttliche Bestätigung der Reliquien auf Karls Bitte hin erscheint, so sehr im Mittelpunkt des Interesses, daß der Erzähler jegliche Darstellung oder auch nur Erwähnung der Kämpfe, denen Karl seine Belohnung verdankt, unterdrückt. In der Beschreibung von Karls Eroberungszug in Spanien scheint es, als ob die übernatürliche Kraft der Reliquien auf die Person Karls 27

Vgl. ebd., S. 226-236, und Susan E. Farrier: Das Rolandslied and the Song of Rouland as Moralising Adaptations of the Chanson de Roland. In: Olifant 16 (1991), S. 61-76.

28

National Library of Scotland, Advocates' MS 19.2.1, datiert auf 1330-1340; vgl. GuddatFigge [Anm. 1], S. 121, und das Faksimile The Auchinleck Manuscript: National Library of Scotland Advocates' MS. 19.2.1 with an Introduction by Derek Pearsall and I. C. Cunningham. London 1979, S. VII.

29

Ausgabe in: The English Charlemagne Romances, Part VI: The Taill of Rauff Coilyear with the fragments of Roland and Vernagu and Otuel. Ed. by Sidney J. H. Heritage. London 1882 (EETS ES 39). Der Anfang ist zerstört; unvollständige Versenden auf der Rückseite des vorausgehenden Blattrestes lassen auf den Verlust von 44 Versen schließen, vgl. The Auchinleck Manuscript [Anm. 28], S. XXIII.

30

31

Reimschema aabccbddbeeb; eine zwölf Verse umfassende Form der Schweifreimstrophe, die eine von zwei bevorzugten Reimformen des mittelenglischen Romans bildet, die andere ist der, meist vierhebige, Reimpaarvers.

32

Zu diesem Namen als einer Form von Abdurrahman I., dem Begründer des spanischen Umayyaden-Reichs, vgl. Dorothee Metlitzki: The Matter of Araby in Medieval England. New Haven 1977, S. 118.

33

Zur zunehmenden Bedeutung der Thematik des bekehrten Sarazenen in der mittelalterlichen Epentradition vgl. Jo Ann Hoeppner Moran Cruz: Popular Attitudes Towards Islam in Medieval Europe. In: Western Views of Islam in Medieval and Early Modern Europe, hg. von David R. Blanks, Michael Frassetto. New York 1999, S. 55-81, hier S. 59.

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selbst übergegangen sei. Wunderbare Ereignisse - zuweilen als direkte Folge von Karls Gebeten oder Verfluchungen - kennzeichnen die Stationen der Eroberung. Teilweise liest sich der Textabschnitt wie die Beschreibung einer Pilgerfahrt, in der Karl die Rolle eines umherwandelnden Heiligen übernimmt, der eher Wunder bewirkt als sie zu besichtigen. Bemerkenswert ist auch, daß Karl in diesem Text die Dornenkrone nicht nur besitzt, sondern sie trägt.34 In der zweiten Hälfte der Erzählung, in der Roland im Vordergrund steht, wird die Kampfschilderung in lebhaft ausgeführten Einzelkampf-Formeln vorgetragen, die oft komische Untertöne enthalten;35 eingeleitet wird sie durch ein dichtes und groteskes Porträt des feindlichen Riesen (V. 473^84). 3 6 Die Auseinandersetzung bildet den Rahmen für das katechetische Zentrum, in dem Vernagu die Rolle des intelligente Fragen stellenden Bewerbers einnimmt und Roland religiöse Standardunterweisung in knapper und bildlich ausgeschmückter Form gibt. Der erzählerische Auslöser für diesen im wesentlichen didaktischen Austausch ist Rolands höfisches Verhalten, das den Sarazenen so sehr beeindruckt, daß er einwilligt, im Christentum unterwiesen zu werden - bevor der Entscheidungskampf um den überlegenen Glauben fortgesetzt wird. Dadurch verbindet Vernagu, der religiöse Unterweisung zugleich einfordert und zurückweist, die Rolle des potentiellen Konvertiten mit der des Abtrünnigen; durch seine Verweigerungshaltung, und mithin durch von ihm selbst gestellte Bedingungen sowie durch seinen Tod, bewirkt er eine Rechtfertigung des bekämpften Glaubens. Die Erzählung endet mit der den Sarazenen Otuel erreichenden Nachricht von Vernagus Niederlage, wodurch der Weg für eine Fortsetzung frei wird, in der Otuel die von Vernagu verweigerte Rolle des Konvertiten einnimmt. In der gleichen Handschrift wie „Roland and Vernagu" findet sich auch „Otuel".37 Der 1738 Verse umfassende Text mit unvollständigem Schluß38 erzählt in Verspaaren mit drei oder vier Hebungen die Geschichte Otuels. Sie schließt sich „Roland and Vernagu" unmittelbar an, ist allerdings von einer anderen Hand geschrieben.39 Die Handlung ist im Kontext der Kriege zwischen Karl und Garcy, dem sarazenischen König der Lombardei, angesiedelt. In der Eingangsepisode 34 35

36

37 38 39

Das gleiche gilt für den noch vorzustellenden „Otuel and Roland". So bringt Roland zum Beispiel während einer vereinbarten Kampfpause, in der Vernagu ein Nickerchen macht, einen Stein als Kopfkissen, um sein Schnarchen zu unterbinden (V. 629-637). Im „Pseudo-Turpin" gilt diese Geste dagegen der Bequemlichkeit des anderen, ut libentius dormiref, vgl. „Historia Karoli Magni" [Anm. 25], S. 152. Zur Ansicht, daß im nördlichen Europa Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber dem Islam dazu beitrugen, phantastische Vorstellungen über die Sarazenen zu nähren, vgl. Medieval Christian Perceptions of Islam, hg. von John Victor Tolan. New York 1996, S. XIV. Ausgabe in: The English Charlemagne Romances, Part VI [Anm. 29], Vgl. The Auchinleck Manuscript [Anm. 28], S. XXIII. Fol. 268ra-277vb; auf fol. 267v, der letzten Folioseite von „Roland and Vernagu", findet sich eine Kustode, die auf den Beginn des „Otuel" verweist. Für eine - auf Schlußformeln, Überschriften und heute herausgeschnittene Miniaturen eingehende - Diskussion der Kontextualisierung dieser beiden Texte in der Auchinleck-Handschrift vgl. Murray J. Evans: Rereading Middle English Romance: Manuscript Layout, Decoration, and the Rhetoric of Composite Structure. Montreal 1995, S. 11-12.

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kommt Otuel von Garcy, um Karls Unterwerfung zu verlangen und fordert Roland zum Duell für die Ermordung seines Onkels Fernagu. Während des darauffolgenden Kampfes läßt sich, nachdem Karl und die französischen Ritter für die Bekehrung des Sarazenen gebetet haben, eine Taube auf den Kopf Otuels herab. Er unterwirft sich, wird getauft und begleitet Karl auf seinem Feldzug in die Lombardei. In den folgenden Episoden erscheint Otuel verschiedentlich neben Roland: Er hilft der Gruppe, in der Roland, als ,primus inter pares' Seite an Seite mit Oliver und Ogier dem Dänen, von vier Sarazenenkönigen gefordert wird (V. 1009ff.); er tritt gegen einen dieser Könige, Clarel, im Zweikampf an, wobei er Rolands frühere Rolle übernimmt, indem er sein bekehrtes alter ego bekehrt (V. 1134ff.); darüber hinaus spielt er eine entscheidende Rolle an Rolands Seite bei Karls schließlicher Vernichtung der Sarazenen (V. 1609ff.). „Otuel" ist eine von drei Fassungen des Otuel-Stoffes im Mittelenglischen. Obwohl die Fassung in der Auchinleck-Handschrift als Fortsetzung von „Roland and Vernagu" erscheint, gilt nicht sie, sondern eine andere als diejenige, die „Roland and Vernagu" textlich am nächsten steht. In einer Handschrift der British Library (Additional MS 37492), die als Fillingham-Handschrift bekannt ist, befindet sich ein in Schweifreimstrophen verfaßter Text, der als „Otuel and Roland" bezeichnet wird.40 Der Text enthält eine Fassung der Otuel-Erzählung (V. 1— 1691), gefolgt von einem Bericht über Karls Feldzüge in Spanien, der mit der Niederlage in Roncesvalles, Karls Rache an den Sarazenen und Ganelons Tod im Duell mit Terry schließt (V. 1692-2786). Aus verschiedenen Gründen wird angenommen, daß dieser Text mit „Roland and Vernagu" zusammengehört. So bieten die Eingangsstrophen von „Otuel and Vernagu" eine Übersicht der Ereignisse, von denen jedoch einige, darunter die Tötung Vernagus durch Roland, in Wirklichkeit in der nachfolgenden Dichtung nicht vorkommen. Die ersten vier Zeilen der defekten Eingangspassage von „Roland and Vernagu" ähneln stark den letzten vier Zeilen des „Otuel und Roland"-Prologs, und die noch sichtbaren Bruchstücke der Versenden auf dem Blattrest, der dem Eingang von „Roland and Vernagu" vorausgeht, geben allen Grund zu der Vermutung, daß eine Version des gesamten Prologs ursprünglich am Beginn von „Roland and Vernagu" stand.41 Der letzte Teil von „Otuel and Roland" (V. 1692-2786) ist in der gleichen Strophenform verfaßt wie „Roland and Vernagu". Die These, daß beide Texte auf einen, auf der französischen „Estoire de Charlemagne" gründenden, verlorenen englischen Versroman zurückgehen, in den ein englischer Redaktor Episoden aus einer französischen „Otinel"-Fassung inserierte, hat allgemeine Zustimmung gefunden. 42 Wie bereits erwähnt, kennen sowohl „Roland and Vernagu" als auch

40

Firumbras and Otuel and Roland: Ed. from Ms. Brit. Mus. Add. 37492 by Mary Isabelle O'Sullivan. London 1935 (EETS OS 198). Die Handschrift wird auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert.

41

Vgl. dazu ,Manual, I' [Anm. 1], S. 88 und The Auchinleck Manuscript [Anm. 28], S. XXIII.

42

Die Existenz eines solchen verlorenen englischen Romans wurde erwogen von Gaston Paris: Histoire Poétique de Charlemagne. Paris 1865, S. 156, und bestätigt durch Ronald N. Walpole:

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„Otuel and Roland" das ansonsten nicht begegnende Motiv des die Dornenkrone tragenden Karl im Zusammenhang einer Beschreibung der Gestalt des Kaisers („Roland and Vernagu", V. 4 3 7 ^ 4 3 ; „Otuel and Roland", V. 1991f.). Beide Texte teilen mithin gemeinsame Details, gemeinsame Quellen und dieselbe Reimform; darüber hinaus stellt die Erwähnung des Namens Otuel am Schluß von „Roland and Vernagu" eine narrative Verbindung zwischen beiden her. Weshalb dem Text von „Roland and Vernagu" in der Auchinleck-Handschrift der Reimpaar„Otuel" statt einer Fassung des Fillingham „Otuel and Roland" folgt, die eng mit ihm verbunden zu sein scheint und der zudem ein auf den Kampf zwischen Roland und Vernagu anspielender Prolog vorangestellt ist, bietet ebenso Raum für Spekulationen wie die Frage nach den Beziehungen zwischen den Vorlagen des Otuel-Stoffes in beiden Handschriften. Man nimmt an, daß beide Otuel-Texte wohl jeweils aus einem gemeinsamen Original hervorgingen und nicht voneinander abstammen.43 Erwähnenswert ist, daß im Schlußteil von „Otuel and Roland", bei der Darstellung der Niederlage von Roncesvalles, Ganelon nicht daran beteiligt ist, Roland mit der Führung der Nachhut zu betrauen, und daß Rolands zweimaliger Hornstoß (V. 2249, V. 2349) nicht auf Bitten Olivers geschieht und dem Textzusammenhang zufolge auch kein Zwist darüber zu herrschen scheint. Eine dritte Version des Otuel-Stoffs, „The Romance of Duke Rowland and Sir Otuell of Spayne",44 findet sich in der Handschrift Additional MS 31042 der British Library. Die Abfassungszeit dieser Fassung wird um 1400 angesetzt; die Handschrift, als London Thornton bekannt, stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.45 Die 1596 Verse umfassende Erzählung in Schweifreimstrophen (Reim-

Charlemagne and Roland: A Study of the Source of Two Middle English Metrical Romances, ,Roland and Vemagu' and ,Otuel and Roland'. Berkeley 1944 (University of California Publications in Modern Philology XXI, 6), der eine Redaktion der, Johannes'-Adaptation des französischen „Pseudo-Turpin" als Hauptquelle von „Roland and Vemagu" und „Otuel and Roland" ausmachte und insbesondere auf den in der British Library, Additional MS 40142, enthaltenen Text hinwies. Walpols Schlußfolgerungen, die er in: The Source MS of Charlemagne and Roland and the Auchinleck Bookshop. In: MLN 60 (1945), S. 22-26, wiederholte, werden zustimmend zitiert von: Urban T. Holmes Jr.: Rezesion von: Walpole, Charlemagne and Roland. In: Speculum 19(1944), S. 51 lf.; Hamilton M. Smyser: Charlemagne and Roland and the Auchinleck MS. In: Speculum 21 (1946), S. 275-288; .Manual, I' [Anm. 1], S. 91; Judith Weiss: The Auchinleck MS. and the Edwardes MSS. In: Notes and Queries 214 (1969), S. 444-446; The Auchinleck Manuscript [Anm. 28], S. X; W. R. J. Bairon: English Medieval Romance. London 1987, S. 92, Anm. 3. Weiss stimmt allerdings der weitergehenden Hypothese von Walpole, Source MS, und von Smyser, Charlemagne and Roland, nicht zu, derzufolge sie Stücke, die im 19. Jahrhundert mit BL Add. MS 40142 zusammengebunden wurden, mit anderen Texten aus dieser Auchinleck-Hs. zusammenbringen. 43

Vgl. Firumbras and Otuel and Roland [Anm. 40], S. LV-LX; .Manual, I' [Anm. 1], S. 90.

44

The English Charlemagne Romances, Part II [Anm. 18].

45

Diese Miszenalleen-Handschrift wurde, möglicherweise ganz von eigener Hand, durch den Adligen Robert Thornton aus Yorkshire über einen längeren Zeitraum hin angelegt, vgl. Guddat-Figge [Anm. 1], S. 159-63; John J. Thompson: Robert Thornton and the London Thornton Manuscript British Library MS Additional 31042. Cambridge 1987, bes. S. 3, S. 47-48, S. 64.

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Schema aabaabccbccb) ist deutlich auf die Figur Otuels zugeschnitten, der mit Roland kämpft und als ihm ebenbürtig präsentiert wird.46 Die zentrale Szene des Kampfes zwischen ihnen entwickelt sich knapp in einer Sequenz parallelisierter Ereignisse, die beide Kontrahenten zusammenbringt. An der Stelle, wo Otuel Roland und Oliver zu Hilfe kommt und beide für ihre Unbesonnenheit tadelt (V. 1036ff.), wird der Tadel, der ein Gegenstück in „Otuel and Roland" (V. 10551060) besitzt, durch eine ironische Frage unterstrichen: wo sie beide, so fragt Otuel, gewesen seien - etwa beim Fischen? (V. 1043f.).47 Dieser Zug zeugt von einer weiteren Vergleichbarkeit zwischen den Figuren Otuels und Rolands. Denn in der Eingangsszene um Otuels Botschaft an Karl hatte zuvor auch Roland, obschon als halsstarrig gezeichnet, die Rolle des Vermittlers gespielt, indem er versuchte, einen anderen Ritter von einer überstürzten Attacke auf den Botschafter zurückzuhalten. Der Text schließt mit der feierlichen Erhebung Otuels zum Herrn der Lombardei. Eine anfangliche Anspielung auf Ganelons Verrat an Karl und seinen Rittern (V. 19f.) ruft den weiteren Kontext der Erzähltradition auf, ohne aber inhaltliche Auswirkungen zu haben. In derselben Handschrift steht auch „The Sege off Melayne", ein gleichfalls auf ca. 1400 datierter, unvollständiger Text von 1600 Versen in Schweifreimstrophen (Reimschema aabccbddbeeb). 48 Wie die Otuel-Gruppe kennt auch dieser Text den Sultan Garcy. Andererseits scheint aber keine nähere Verbindung zum englischen Karl-Corpus zu bestehen, und obwohl zum Teil aus dem Auftauchen von Wendungen wie:,unser König',,unser Volk', .unsere Ritter',,unsere Männer', .unsere ehrenwerten Männer' die Existenz einer französischen Quelle postuliert wurde, konnte eine solche nicht ausgemacht werden.49 Phillipa Hardman hat dagegen argumentiert, daß Autoren und Kopisten von Karlsromanen im England des 14. und 15. Jahrhunderts das Material ebenso als englisches wie als französisches Erbe betrachtet haben könnten, und während des Hundertjährigen Krieges mag es als patriotisch empfunden worden sein, sich dieses anzueignen. 50 Die Erzählung handelt von Karls Feldzügen gegen den Sultan in der Lombardei, die 46

47

48

49

50

Phillipa Hardman: Fitt Divisions in Middle English Romances: A Consideration of the Evidence. In: Yearbook of English Studies 22 (1992), S. 63-80, erörtert, bes. S. 70f., die Frage, inwieweit die Verwendung von Großinitialen durch den Schreiber in dieser Fassung der Geschichte und im Auchinleck-„Otuel" die Erzählung in ungefähr gleich lange, obwohl insgesamt differierende, Leseeinheiten unterteilt. Die Bemerkung entspricht Worten, die Otinel in „Otinel" an Roland richtet (vgl.: Otinel. Chanson de geste. Publiée pour la première fois, d'après les manuscrits de Rome et de Middlehill par François Guessard et Henri Michelant. Paris 1859 [Les Anciens Poètes de la France I], V. 1108). Ausgabe in: The English Charlemagne Romances, Part II [Anm. 18]; ebenfalls in: Six Middle English Romances [Anm. 2]; Three Middle English Charlemagne Romances [Anm. 2]; Middle English Romances [Anm. 2]. Vgl. .Manual, I' [Anm. 1], S. 93; Six Middle English Romances [Anm. 2], S. XII; Barron [Anm. 42], S. 96. Phillipa Hardman: The Sege of Melayne: a fifteenth-century reading. In: Tradition and Transformation [Anm. 4], S. 71-86 (bes. S. 74f.).

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in der - vermutlich erfolgreichen - Belagerung von Mailand gipfelt. Das Ende des Textes ist verloren, die letzte erhaltene Szene schildert das Vorrücken von Karls Heer, das mit Unterstützungstruppen verstärkt wurde, gegen die Stadt. Einen Schwerpunkt der Geschichte bilden Zeichen und wunderbare Ereignisse: Der Herr von Mailand, dessen Länder überrannt worden sind, betet um Hilfe und im Traum eröffnet ihm ein Engel, sich an Karl zu wenden (V. 73ff.). Unterdessen träumt Karl, daß ein Engel ihm ein Schwert übergibt und er die Mauern von Mailand zerstört; beim Aufwachen findet er dann das Schwert neben sich (V. 109ff.). Nachdem sie Roland und drei seiner Mitstreiter beim ersten Ansturm auf die Stadt gefangen genommen haben, verbrennen die Sarazenen ein Kruzifix vor deren Augen, doch die Flammen greifen auf die Sarazenen über und die französischen Ritter entkommen (V. 385ff.). Bischof Turpin bereitet sich darauf vor, auf dem Schlachtfeld die Messe zu halten und findet Brot und Wein bereits auf dem Altar (V. 883ff.). Die Rolle des Bischofs Turpin ist in diesem Text besonders bemerkenswert. Er treibt die Handlung in außerordentlichem Maße voran, wobei sein Verhalten extrem erscheint. Als er beispielsweise von den französischen Verlusten nach dem ersten Angriff auf Mailand erfahrt, macht er, Bischofsstab und Mitra fortschleudernd, der Jungfrau Vorwürfe wegen der Verluste (V. 541 ff.); als Karl von Ganelon zeitweise überzeugt wird, sich von weiteren Attacken zurückzuhalten, verflucht Turpin Karl und greift Paris an (V. 673ff.). Turpins anscheinend rätselhafte Ähnlichkeit mit sarazenischen Anfuhrern, die (in anderen Romanen) ihre Götter nach Niederlagen verfluchen, wurde von S. H. A. Shepherd als eines jener Themen des Romans bezeichnet, die typisch für mittelalterliche Kreuzzugsliteratur seien, nämlich als Konzept eines auf Gegenseitigkeit angelegten Vertrages mit Gott, wobei es gerechtfertigt ist, Gott an die Verpflichtungen gegenüber seinen Dienstleuten zu erinnern.51 Hardman zählt dagegen von Turpin benutzte Formeln auf, die auf eine mächtige Tradition der Marienverehrung verwiesen, und liest Turpins Wutausbruch gegenüber der Jungfrau im Kontext von Marienmirakeln, in denen ein Verehrer sie wegen mangelhaften Schutzes vor Katastrophen tadelt.52 Auf dieser Folie postuliert sie ein Ende der Geschichte, das die Macht der Jungfrau besonders hervorhebe, etwa eine wunderbare Beendigung der Belagerung oder die mirakulöse Rettung des verwundeten Turpin durch die Jungfrau.53 Shepherd argumentiert auf der Basis dieses und anderer Romane dahingehend, daß die Thematik möglicherweise ursprünglich mit bestimmten Kreuzzugsunternehmen verbunden gewesen sei, die ihre Bedeutung über einen langen Zeitraum behalten hätte, und daß durch unterhaltsame Geschichten über vergangene Siege das, was einst Überzeugungsrhetorik im Dienst der Glaubensverteidigung war, in 51

52 53

Stephen H. A. Shepherd: „This grete journee": The Sege of Melayne. In: Romance in Medieval England, hg. von Maldwyn Mills, Jennifer Fellows, Carol Meale. Cambridge 1991, S. 113-31 (bes. S. 124); Middle English Romances, hg. von Shepherd [Anm. 2], S. 389. Hardman [Anm. 50], S. 79-82. Ebd., S. 83.

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eine affirmative Bestätigung des christlichen Glaubens verwandelt worden sei.54 Hardman trieb diese Argumentation noch weiter, indem sie ein solches Interesse am Überlieferungskontext von „The Sege offMelayne" festmachte; sie beobachtete nämlich, daß die Abfolge des Textmaterials der Handschrift dem Verlauf der Heilsgeschichte (Schöpfung, Erlösung, Aktivitäten christlicher Helden in der Welt) entspricht, eine Folge, die ihre Bedeutung aus einer für die Handschrift zentralen Passionserzählung (die sogenannte „Northern Passion") bezieht. Innerhalb dieser Reihung können sowohl „The Sege off Melayne" als auch „The Romance of Duke Rowland and Sir Otuell of Spayne" als Darstellungen der Rache für die Eroberung heiliger Stätten der Christenheit und die Zerstörung von Abbildungen des gekreuzigten Christus angesehen werden. Die Gedichte, die auf „The Sege offMelayne" und „The Romance of Duke Rowland and Sir Otuell of Spayne" folgen, regen zu einer andächtigen, frommen Reaktion auf diese auf die Passion ausgerichteten Erzählungen an. Der Überlieferungszusammenhang verweist demnach auf das Textpotential, Gefühle von Glaubenseifer und christlicher Verehrung auszudrücken. 55 Obwohl „The Sege offMelayne" keine unmittelbaren Verbindungen zu anderen Texten des Corpus besitzt, weisen gewisse Episoden doch eine generelle Ähnlichkeit zu Textpartien der Ferumbras-Gruppe auf, die gleichfalls die Themen einer zeitweiligen Gefangenschaft einer Gruppe französischer Ritter und eine Belagerung behandeln. Diese Gruppe besteht aus drei Texten, „Sir Ferumbras",56 „Firumbras"57 und „The Sowdane of Babylon".58 Die lange und umständliche Erzählung von „Sir Ferumbras" 59 folgt, obwohl die genaue Vorlage nicht bekannt ist, eng dem altfranzösischen Versroman von Fierabras. 60 Für einen Wechsel der Versform, die etwa ab der Mitte des Textes von siebenhebigen paargereimten Zeilen mit Mittelzäsur, die sowohl in der Mitte als auch im Versauslaut reimen, zur Schweifreimstrophe (Reimschema aabccb) wird, hat man, obwohl dies keine zwingende Annahme ist, einen Vorlagenwechsel verantwortlich gemacht.61 Der Text ist in der auf ca. 1380 datierten Handschrift 54

Shepherd, „This gretejournee" [Anm. 51], S. 117-18.

55

Hardman [Anm. 50], S. 72-74, S. 84, S. 86. The English Charlemagne Romances, Part I: Sir Ferumbras. Ed. from the unique ms. Bodleian Ms. Ashmole 33 by Sidney J. Herrtage. London 1879 (EETS ES 34).

56

57

In Firumbras and Otuel and Roland [Anm. 40].

58

The English Charlemagne Romances, Part V: The Romance of The Sowdone of Babylone and of Ferumbras his Sone who conquered Rome. Re-ed. from the unique ms. of the late Sir Thomas Phillipps with introd., notes, and glossary by Emil Hausknecht. London 1881 (EETS ES 38); Three Middle English Charlemagne Romances [Anm. 2],

59

Die Edition [Anm. 56] zählt insgesamt 6106 Verse; die Verszählung ist allerdings kompliziert durch die Integration der ersatzweise aus dem Französischen aufgenommenen Passagen in die Zählung und durch den Druck der Verspaare aus den Schweifreimstrophen als eine Verszeile.

60

Vgl. Stephen H. A. Shepherd: The Ashmole Sir Ferumbras: Translation in holograph. In: The Medieval Translator, hg. von Roger Ellis u. a. Cambridge 1989, S. 103-121, hier S. 106.

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Vgl. .Manual, I' [Anm. 1], S. 85.

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der Bodleian Library, Ashmole MS 33, überliefert, in der sich im Buchdeckel eine von gleicher Hand wie die Haupthandschrift geschriebene, aber abweichende Kopie von Teilen des Textes erhalten hat. Diese abweichende Kopie wird als Entwurf angesehen, der darauf deutet, daß es sich bei dem Manuskript um eine eigenhändige Autorhandschrift handele.62 Anfang und Ende der Handschrift sind unvollständig.63 Die verlorene Eingangspassage der Erzählung beschrieb vermutlich Karls Feldlager, wo sich die ersten Episoden des erhaltenen Textes abspielen: die Ankunft des Ferumbras von Alexandria, der Rom verwüstet und die Passionsreliquien geraubt hat (V. 64f.), dessen Herausforderung, die Oliver annimmt, und der Kampf mit Oliver, der mit der Kapitulation und Taufe des Ferumbras endet, allerdings nicht ohne daß Oliver zuvor durch einen Hinterhalt der Sarazenen, die auf Ferumbras' Rückkehr warten, in Gefangenschaft gerät. Der erzählerische Höhepunkt der verwickelten Rettungsoperation - in deren Verlauf die übrigen elf Pairs Oliver bald Gesellschaft in seinem Gefängnis leisten, die Festung des Admirals aber mit Hilfe seiner Tochter Floripas in Besitz nehmen, die die gestohlenen Reliquien verwahrt, und schließlich durch Karl befreit werden - hebt in Form zweier gegenläufiger Beispiele ebenfalls auf die Konversionsthematik ab. Der widerspenstige Admiral lehnt es ab, sich für die Taufe zu entkleiden, zertrümmert - trotz der Intervention seines Sohnes Ferumbras - das Taufbecken und wird enthauptet. Im Gegensatz dazu zieht sich Floripas voller Eifer für die Taufe aus, und der Autor ergeht sich, die Schicklichkeit beiseite lassend, in einer formvollendeten ,descriptio' sowie in einem Kommentar über die Wirkung, die ihre Gestalt auf die Zuschauer ausübt (V. 5879-5890). Obwohl Roland in einer Reihe von Schlüsselszenen keineswegs der Protagonist ist, wird er als Anführer oder Anstifter zahlreicher wichtiger Aktionen erwähnt. Die zweite mittelenglische Fassung der Ferumbras-Geschichte, „Firumbras", ebenfalls im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden, steht als erstes Stück in der Fillingham-Handschrift, wo sie „Otuel and Roland" unmittelbar vorausgeht. Der am Anfang durch Blattverlust unvollständige Text,64 der 1840 Verse in Reimpaaren umfaßt, setzt an dem Punkt der Erzählung ein, als Roland und die übrigen gefangenen Pairs (die Namen differieren nur leicht von denen des Ashmole-Textes) aus ihrem Versteck in Floripas' Zimmer herauskommen, um die Sarazenen beim Abendessen im Saal anzugreifen. Er schließt nach der Taufe von Floripas und ihrer Vermählung mit Guy von Burgund, mit Floripas' Rückgabe der Reliquien an Karl und einem Beweis ihrer Wirksamkeit durch deren freies Schweben in der Luft. Ein abschließendes Gebet bittet um einen hunderttägigen Ablaß für alle, die der Geschichte andächtig zugehört haben, wobei der Text gleichsam als Ersatz für eine Wallfahrt funktioniert. Der Fillingham-„Firumbras"

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Vgl. Sir Ferumbras [Anm. 56], S. XV;,Manual, I' [Anm. 1 ], S. 85; Guddat-Figge [Anm. 1 ], S. 245; Shepherd [Anm. 60]. Vgl. Guddat-Figge [Anm. 1], S. 245. Vgl. Firumbras and Otuel and Roland [Anm. 40], S. XXIII.

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und der Ashmole-„Sir Ferumbras" scheinen, unabhängig voneinander, auf dem gleichen französischen Textmaterial zu basieren.65 Der dritte Text dieser Gruppe, „The Sowdane of Babylon" (3274 meist vierhebige Verse, normalerweise mit dem Reimschema abab), datiert aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und wird in einer nach 1450 entstandenen Einzelhandschrift überliefert.66 Er bietet eine rascher voranschreitende Version der Erzählung, in der dem Kampf zwischen Roland und Oliver ein Abriß der sarazenischen Zerstörungen in Rom vorausgeht. Die gleiche Kombination von Textmaterial und Erzählabfolge findet sich in einem anglonormannischen Text der British Library, Egerton MS 3028, der mit „The Sowdane of Babylon" Merkmale teilt, die einer gemeinsamen Quelle zugeschrieben werden.67 Eigenheiten von „The Sowdane of Babylon", die von den Ashmole- und Fillingham-Fassungen der Ferumbras-Erzählung abweichen und wohl der mutmaßlichen Quelle zugeschrieben werden können, sind eine Ausweitung von Rolands Rolle und eine Stereotypisierung von Ganelons Rolle als Verräter. Roland wird zusammen mit Oliver gefangen genommen und teilt folglich dessen Gefangenschaft zu Beginn; und es ist Roland, nicht Guy, der sich mit einem sarazenischen Eindringling auseinandersetzt. Dieser war geschickt worden, um Floripas' Zaubergürtel zu stehlen, der die Gefangenen vor Hunger und Durst schützt. Ganelon schlägt vor, Karl während der Eroberung von Mantrible zu verlassen; am Ende der Geschichte wird er wegen Verrats gehängt. Es findet sich kein Verweis auf Roncesvalles oder auf eine besondere Spannung zwischen ihm und Roland.68 Eine weitere Besonderheit der Geschichte ist die Hinzufiigung schmückenden Beiwerks, das Chaucer und Langland nachgeahmt wurde: zwei Beschwörungen des Frühlings (V. 41-48; V. 963-978) und eine Anrufung des Mars (V. 939-962). Diese Art imitierender Ausschmückungen begegnet vielfach im mittelenglischen Roman des 15. Jahrhunderts.69

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Vgl. ebd., S. XXVIIf.; .Manual, I' [Anm. 1], S. 86. Für eine jüngere Diskussion der Vorlagenproblematik vgl. Marianne J. Ailes: A comparative study of the medieval French and middle English verse texts of the Fierabras legend. Diss, (masch.) University of Reading 1989; Abstract in: ASLIB Index to Theses: Great Britain and Ireland (CD ROM-Version), Publication No: 39-2489. Princeton University Library Garrett Collection, MS 140. Vgl. Carol M. Meale: Patrons, buyers and owners: book production and social status. In: Book Production and Publishing in Britain 1375-1475, hg. von Jeremy Griffiths, Derek Pearsall. Cambridge 1989, S. 201-238, hier S. 217. Vgl. Hamilton M. Smyser: A New Manuscript of The Destruction de Rome and Fierabras. In: Harvard Studies and Notes in Philology and Literature 14 (1932), S. 339-49; .Manual, I' [Anm. 1], S. 82. M. D. Legge: Anglo-Norman Literature and its Background. Oxford 1963, glaubt, S. 4, daß die Egerton-Handschrift auf dem Kontinent entstanden, aber in England besser bekannt gewesen sei. Ailes [Anm. 65] vertritt, S. 114, dagegen die Ansicht, daß die Egerton-Handschrift ein anglonormannischer Text sei. Für einen Vergleich der Figur Rolands in der mittelenglischen Ferumbras-Gruppe und dem altfranzösischen Verstext „Fierabras" vgl. Ailes [Anm. 65], S. 634-648. Vgl. Barry Windeatt: Chaucer and fifteenth-century romance: Partonope ofBlois. In: Chau-

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In seinem ältesten bekannten Textzeugen ist „The Taill of Rauf Coilyear"70 der letzte erhaltene der in diesem Beitrag untersuchten Versromane. Er ist in der 1572 gedruckten Ausgabe von Robert Lekpreuik of St Andrews überliefert;71 seine Existenz in älterer, handschriftlicher Form wird allerdings durch das Inhaltsverzeichnis der Asloan-Handschrift von ca. 1515 belegt, 72 das ein heute fehlendes Werk gleichen Titels anfuhrt. Die Abfassung des Textes datiert man auf das spätere 15. Jahrhundert.73 Die Versform ist eine dreizehnzeilige, stark alliterierende Strophe mit dem Reimschema ababababcddcd, eine Form, die sich in einer ganzen Anzahl schottischer Gedichte findet und die als genuin schottische Erfindung gilt. 74 Das kurze Stück von 975 Versen 75 kombiniert das folkloristische Thema des Königs, der von einem Nichtadligen unterhalten wird, mit der Szenerie eines Zweikampfes zwischen einem Christen und einem Sarazenen. Die beiden Themen fallen zusammen in der Figur des Protagonisten Ralf, einem Bergmann, der Karl unterhält, als der König vom Sturm überrascht wird, und in der Folge an den Hof eingeladen wird, um eine Belohnung zu erhalten. Nachdem er Roland zu einem Duell gefordert hat und sich aufmacht, ihn zu treffen, begegnet Ralf stattdessen zufallig dem Sarazenen Magog und kämpft gegen ihn. Roland, der auf dem Höhepunkt des Kampfes eintrifft, stellt die Bekehrung des Sarazenen durch das Versprechen einer christlichen Braut sicher, und Ralf wird schließlich zum Marschall von Frankreich ernannt. Ob der Autor einer Fassung der Ferum-

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cer Traditions. Studies in Honour of Derek Brewer, hg. von Ruth Morse, Barry Windeatt. Cambridge 1990, S. 62-80. Ausgabe in: The English Charlemagne Romances, Part VI [Anm. 29]; ebenfalls in: Longer Scottish Poems [Anm. 2]; Medieval English Romances [Anm. 2]; Three Middle English Charlemagne Romances [Anm. 2] sowie in: The Tale of Ralph the Collier: an Alliterative Romance, hg. von Elizabeth Walsh. New York 1989; Scottish Literature: an Anthology, Bd. I, hg. von David McCordick. New York 1996, S. 202-221. A Short-Title Catalogue of Books Printed in England, Scotland, & Ireland and of English Books Printed Abroad 1475-1640. First Compiled by A. W. Pollard & G. R. Redgrave, Second Edition, Revised & Enlarged. Begun by W. A. Jackson & F. S. Ferguson Completed by Katharine F. Pantzer. 3 Bde. London 1976-1991, Nr. 5487. Heute katalogisiert als MS 16500 der National Library of Scotland. Diese Signatur muß bei Anfragen an die Bibliothek verwendet werden, obwohl der entsprechende Katalogband noch nicht publiziert ist. Guddat Figge [Anm. 1] listet, S. 307-310, die Handschrift unter einer provisorischen Kennmarke auf. Scottish Literature [Anm. 70] scheint, S. 202, die Handschrift mit dem Lekpreuik-Druck zu verwechseln, wobei fälschlicherweise der Eindruck erweckt wird, daß die für den Druck verwendete handschriftliche Vorlage noch existiere. Vgl. .Manual, I' [Anm. 1], S. 96; Medieval English Romances [Anm. 2], S. 197; Barron [Anm. 42], S. 181. Vgl. Medieval English Romances [Anm. 2], S. 202. Für eine erneute Auseinandersetzung mit Versform und Phraseologie im Hinblick auf weitere alliterierende Texte der gleichen Strophenform vgl. The Tale of Ralph the Collier, hg. von Walsh [Anm. 70], S. 35-45; für eine Auseinandersetzung mit dreizehnversigen Strophen in Gedichten, die vor 1400 entstanden, vgl. Susanna Greer Fein: The Early Thirteen-Line Stanza: Style and Metrics Reconsidered. In: Parergon, New Series, Bd. 18, Nr. 1 (Special Issue), (2000), S. 97-126. Der Verszählung der EETS-Edition [Anm. 70] zufolge, die die Verse 135, 136 und 709 als Lücken mitrechnet.

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bras- oder Otuel-Geschichte aufgrund des burlesk inszenierten, stereotypen Kampfes zwischen einem Christen und einem Sarazenen besonders verpflichtet war, kann - obwohl dies nicht ganz unwahrscheinlich ist - nicht nachgewiesen werden.76 In einer spielerischen Variation des gängigen Schemas wird Ralf, dem neu in den Ritterstand erhobenen Nichtadligen, ein Anteil an Rolands Sieg über den heidnischen Widersacher zugesprochen; die Zufälligkeit des Kampfes aber wirft, da es Roland selbst war, den Ralf zum Zweikampf erwartete, ein unvermeidbar ironisches Schlaglicht auf die Situation. Auch wenn das Scharmützel zwischen Ralf und Roland funktionalisiert wird, um die Szenerie für den finalen Kampf herzustellen, trägt es zugleich eine andere Art ironischen Humors in die Erzählung hinein: die Ungleichheit zwischen nichtadligen und höfischen Konzepten richtigen Verhaltens. Im Umgang zwischen Raifund Karl wie zwischen Raifund Roland ist Courtoisie ein Schlüsselwort. Alle benutzen den Ausdruck, haben jedoch unterschiedliche Ansichten über seine Bedeutung. So wird etwa Karls Ehrerbietung seinem Wirt gegenüber, als er Ralfs Haus betritt, von dem Bergmann als Unhöflichkeit ausgelegt: In seiner Wahrnehmung verhält sich der Besucher ihm gegenüber gönnerhaft, weil er ihn als Gast in seinem eigenen Haus behandelt. Auf der anderen Seite nimmt Ralf, als er auf seinem Weg zum Hof Roland trifft - der vom König den Befehl hat, jeden, den er auf der Straße sieht, herbeizuschaffen - Anstoß an dem für ihn überzogenen Befehlston Rolands, und fordert eine höflichere Anrede. Auf diese Weise wird die Handlung bestimmt durch eine heiter-kritische Präsentation von Vorstellungen höfischer Ritterlichkeit, die vielleicht auf eine aktuelle Thematik des Textes verweist: die Frage, was einen Adligen ausmacht.77 Während acht der zehn hier besprochenen Texte im 14. Jahrhundert entstanden (mit Ausnahme von „The Sowdane of Babylon" und „The Taill of Rauf Coilyear", die ins 15. Jahrhundert datiert werden), stammen vier der sechs erhaltenen Überlieferungszeugen, dazu die erschlossene handschriftliche Fassung von „The Taill of Rauf Coilyear", erst aus dem 15. Jahrhundert. Diese Situation ist typisch für den mittelenglischen Versroman: Die meisten sind in Kopien aus dem 15. Jahrhundert überliefert, wobei jenes Jahrhundert kein Zeitraum bedeutender Neukompositionen war. Die Kopien des 15. Jahrhunderts bezeugen ein anhaltendes Inter76

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Für eine Auseinandersetzung mit Quellen und Entsprechungen des Textes vgl. The Tale of Ralph the Collier, hg. von Walsh [Anm. 70], S. 5-23; S. 47-56. Eine Diskussion der Bezüge zwischen dem Humor des Textes und seiner sozialen Thematik bei Keith Busby: The Taill of Rauf Coilyear: A Reassessment. In: VIII Congreso de la Société Rencesvalls. Pamplona 1981, S. 63-69; The Tale of Ralph the Collier, hg. von Walsh [Anm. 70], S. 54-56; Stephen H. A. Shepherd: „of thy glitterand gyde haue I na gle": The Taill of Rauf Coilyear. In: Archiv fur das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 228 (1991), S. 284-298; Margaret Kissam Morris: Generic Oxymoron in The Taill of Rauf Coilyear. In: Voices in Translation: The Authority of „Olde Bookes" in Medieval Literature. Essays in Honor of Helaine Newstead, hg. von Deborah M. Sinnreich-Levi, Gale Sigal. New York 1992, S. 137-155; Rachel Snell: The Undercover King. In: Medieval Insular Romance: Translation and Innovation, hg. von Judith Weiss, Jennifer Fellows, Morgan Dickson. Cambridge 2000, S. 133-154.

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esse am Versroman, ein Interesse, das sich nicht nur im Kopiervorgang zeigt, sondern auch, wie in einigen Fällen demonstriert werden kann, an Adaptationen.78 Aber die neu aufkommende und wichtige Romanform dieses Jahrhunderts war die Prosa; insbesondere Prosaromane mit breit angelegten Handlungssträngen, die manchmal mehr als eine Familiengeneration umfassen. Die verbleibenden vier zu besprechenden Beispiele fallen in diese Kategorie. Als William Caxton im Jahr 1476, nach seiner Rückkehr aus Brügge, seine Druckerwerkstatt in Westminster einrichtete, baute er auf die Vorliebe für den Prosaroman, die in englischen Handschriften bereits früher in diesem Jahrhundert zu beobachten ist. Caxton produzierte in seiner Druckerwerkstatt acht Romane, allesamt in Prosa, sieben von ihnen in eigenen Übersetzungen. Typisch für diese sieben sind „Charles the Grete"79 und „The Foure Sonnes of Aymon",80 die getreue Übersetzungen französisch-burgundischer Quellen darstellen. Anscheinend ging es Caxton bei seinem Unternehmen auch darum, die in England bereits bestehende Vorliebe fur die literarische Kultur Burgunds zu popularisieren.81 Die Wahl des Karl-Stoffes in zwei der sieben Romanübersetzungen Caxtons erklärt sich möglicherweise nicht allein aus der Übernahme und Adaptation des am burgundischen Hof beliebten Chanson de geste-Materials, sondern auch aus einem Wiedererstarken des Kreuzzugsgedankens in Westeuropa als Konsequenz aus der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453.82 Bei Caxton wird dies im Vorwort zu seinem „Godeffroy of Boloyne"83 am deutlichsten sichtbar, mit dem sein „Charles 78

Vgl. Pearsall [Anm. 5], S. 58.

79

The English Charlemagne Romances, Parts III, IV: The Lyf of the Noble and Crysten Prynce Charles the Grete, transl. from the French by William Caxton and printed by him 1485. Ed. now for the first time, from the unique copy in the British Museum with introd., notes, and glossary by Sidney J. H. Herrtage. London 1880, 1881 (EETS ES 36, 37).

80

The English Charlemagne Romances, Parts X, XI: The Right Plesaunt and Goodly Historie of the Foure Sonnes of Aymon. Englisht from the French by William Caxton, and printed by him about 1489. Ed. from the unique copy, now in the possession of Earl Spencer, by Octavia Richardson. London 1884,1885 (EETS ES 44,45).

81

Die Verbindungen zwischen England und Burgund waren in der Regierungszeit Edward IV. bereits eng und wurden durch die Hochzeit von Edwards Schwester Margret mit Herzog Karl dem Kühnen (1468) noch verstärkt; in der von Edward IV. zusammengetragenen Handschriftensammlung ist burgundischer Einfluß offensichtlich; vgl. Diane Bornstein: William Caxton's Chivalric Romances and the Burgundian Renaissance in England. In: English Studies 57 (1976), S. 1-10; P. A. Scanion: Pre-Elizabethan Prose Romance in English. In: Cahiers Elizabethans 12 (1977), S. 1-20, hier S. 5. Das Ausmaß, in dem der von Caxton gepflegte Geschmack in der Manuskriptkultur bereits existent war, ist betont worden durch Carol M. Meale: Caxton, de Wörde, and the Publication of Romance in Late Medieval England. In: The Library, Sixth Series, 14 (1992), S. 283-298.

82

Vgl. Scanlon [Anm. 81], S. 5, S. 8; Helen Cooper: Romance after 1400. In: The Cambridge History of Medieval English Lit. [Anm. 3], S. 690-719, hier S. 698, S. 703; Joerg Fichte: Caxton's Concept o f „ H i s t o r i c a l Romance" within the Context of the Crusades: conviction, rhetoric and sales strategy. In: Tradition and Transformation in Medieval Romance [Anm. 4], S. 101-113.

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Godeffroy of Boloyne or The Siege and conqueste of Jerusalem by William, Archbishop of Tyre. Transl. from the French by William Caxton, and printed by him in 1481. Ed. from the copy in the British Museum, with introd., notes, vocabulary, and indexes by Mary Noyes

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the Grete" im Vorwort des letztgenannten Werkes verbunden ist, so daß, zusammen mit Artus, das Trio der christlichen Helden komplettiert wird, das dem Schema der ,Neun Guten Helden' entstammt. „Capystranus", eine unvollständige Versdichtung, die in drei Drucken von 1515-ca. 1530 erhalten ist und die Beendigung der Belagerung Belgrads im Jahr 1456 feiert, wendet sich an ein Publikum, das seine Freude an Karlsromanen hatte, wobei sowohl die anhaltende Popularität des Karl-Stoffes wie auch die als solche empfundene Analogie mit Blick auf die abgewendete Bedrohung eines muslimischen Vormarsches eine Rolle spielte.84 Der im Jahr 1485 erschienene85 „Charles the Grete" erweist sich als genaue Übersetzung eines französischen Prosatextes von John Bagnyon, der 1478 publiziert worden war.86 Er erzählt das Leben Karls in drei Büchern, wobei das erste und dritte den Rahmen für eine Fassung der Fierabras-Geschichte bilden. Das erste Buch schildert die Geschichte der Könige von Frankreich vom legendären trojanischen Gründer Francus bis Karl. Das dritte erzählt von der Eroberung Spaniens durch Karl, einschließlich einer Version des Zweikampfes zwischen Roland und einem sarazenischen Riesen, der hier Ferragus genannt ist; es endet mit der Schlacht von Roncesvalles und dem Tod von Karl. Auseinandersetzungen zwischen Karl und seinen Vasallen bilden das zentrale Thema von „The Foure Sonnes of Aymon",87 das eine genaue Übersetzung des französischen Prosaromans „Les Quatre fils Aymon" darstellt.88 Obwohl das Werk durch spektakuläre Episoden (z. B. die Taten des Zauberers Maugis oder

Colvin. London 1893 (EETS ES 64). 84

Vgl. Cooper [Anm. 82], S. 712; Middle English Romances [Anm. 2], S. 390ff.

85

Short-Title Catalogue [Anm. 71], Nr. 5013.

86

Vgl. .Manual, I' [Anm. 1], S. 86f. Norman F. Blake: Caxton and his World. London 1969, vermerkt, S. 133, daß der von Caxton benutzte Text der 1483 von Garbin in Genf gedruckte sei. Das Erscheinungsdatum ist nicht angegeben, wird jedoch um 1489 vermutet, vgl. ,Manual, I' [Anm. 1], S. 98. Short-Title Catalogue [Anm. 71], Nr. 1007, datiert 1490. George D. Painter: William Caxton. London 1976, schlägt, S. 164, deshalb 1488 vor, weil der Earl of Oxford als Gönner genannt ist, während seit 1489 der König Caxtons Gönner war. Obwohl Caxton in seinen Vorworten auf königliche und adlige Gönner anspielt, nimmt die CaxtonForschung allgemein an, daß er auch auf ein größeres Publikum abzielte und daß die in der Widmung genannten Namen manchmal eher Persönlichkeiten waren, deren generelle Unterstützung Caxton gewonnen hatte, als Personen, auf deren direkten Wunsch hin er arbeitete, vgl. z. B. Blake [Anm. 86], S. 64, S. 86-88, S. 95-99, S. 151, S. 159. Im seinem Prolog zu „The Foure Sonnes of Aymoun" beklagt Caxton sich beim Earl of Oxford, daß er bislang das Buch auf seine eigenen Kosten gedruckt habe. Die einzige überlieferte Kopie von Caxtons Edition hat Lücken, die durch die Copland-Edition von 1554 ergänzt sind (Short-Title Catalogue [Anm. 71], Nr. 1010, Nr. 1011, Nr. 1011.5).

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Caxton scheint eine Edition benutzt zu haben, die um 1480 in Lyon gedruckt wurde, vgl. ,Manual, I' [Anm. 1], S. 98. Das „Otuel and Roland" vorausgehende Inhaltsverzeichnis listet die Geschichte von caytyf Emoun auf, doch es gibt nirgendwo einen Beleg fur eine englische Fassung der Geschichte vor Caxton, vgl. ,Manual, I' [Anm. 1], S. 89. Vgl. Meale [Anm. 81], S. 295, fur Hinweise auf einen Besitz des französischen Textes in England schon vor Caxton.

Die mittelenglischen Romane um Karl den Großen

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die Schilderung von Bayard, dem Wunderpferd, das in einem Rennen Karls Krone für Aymouns ältesten Sohn Reynaud gewinnt, das Objekt von Karls Rache wird und dem Tod durch Ertränken entkommt, um ein sagenhaftes Leben im Ardenner Wald zu führen) ausgezeichnet ist, kreist die Handlung um die Fehde zwischen Karl und den vier Söhnen, die durch ein komplexes System von Treueverhältnissen vorgeführt wird, nicht zuletzt durch Reynauds Verwandtschaft mit Roland. Solche Verwicklungen generieren eine Serie von wiederholten Erzählsituationen, in denen die Lösung eines festgefahrenen Konflikts um Treuebindungen gleich zu einem neuen solchen Konflikt führt. Karl ist dabei durchweg als grausam und ungerecht charakterisiert. Zum Schluß wird die Erzählung, wie man es auch aus anderen Karlsromanen kennt, auf das Interesse von Pilgerzentren ausgerichtet. Nach der schließlichen Versöhnung seiner Söhne mit Karl wird Reynaud zum Pilger, hilft unerkannt als Maurer bei der Errichtung des Kölner Domes und wird von anderen Arbeitern getötet, die neidisch auf seine Ausdauer sind. Nachdem sein Leichnam wunderbarerweise aus dem Rhein geborgen ist, beginnt er Wunder zu wirken. Caxtons Nachfolger Wynkyn de Wörde druckte viele von Caxtons Übersetzungen erneut, darunter auch „The Foure Sonnes of Aymoun", 89 und gab einige Neuübersetzungen von Prosaromanen in Auftrag. Die Veröffentlichung von „The Boke of Duke Huon of Burdeux", 90 die Übersetzung eines französischen Prosatextes durch Sir John Bourchier, Lord Berners, ist lange de Wörde zugerechnet worden,91 wird jetzt aber J. Notary zugeschrieben, wobei das Erscheinungsjahr um 1515 angesetzt wird.92 Der umfangreiche Text zerfallt in zwei Teile. Im ersten Teil wird der Held Huon, nachdem Karl ihn seiner Länder beraubt hat, mit Hilfe des Feenkönigs Oberon nach einer gefahrvollen Reise, auf der er Trophäen des Admirals von Babylon erringen soll, rehabilitiert. Der zweite besteht aus einer Serie von Fortsetzungen, einschließlich der Erzählungen der gemeinsamen Kinder und Enkelkinder Huons und der Tochter des Admirals. Die Handlung des ersten Teils setzt nach der Schlacht von Roncesvalles ein, und auf Karls Tod wird in der ersten Fortsetzung angespielt. Karl wird als launisch und maßlos charakterisiert, bis er durch Oberon ermahnt wird. Es gibt Hinweise darauf, daß die Erzählung von Huon, wie einige andere Karlstexte auch, noch während des gesamten restlichen 16. Jahrhunderts gekauft, gelesen, zitiert und dramatisiert wurde.93 89 90

91 92

93

Short-Title Catalogue [Anm. 71], Nr. 1008, Nr. 1009. The English Charlemagne Romances, Parts VII, VIII, IX, XII: The boke of Duke Huon de Burdeux, done into English by John Bourchier, Lord Berners and printed about 1534. Ed. by Sidney L. Lee. London 1882-1887 (EETS ES 40,41,43, 50). Vgl. .Manual, I' [Anm. 1], S. 98. Short-Title Catalogue [Anm. 71], Nr. 13998.5. Die zuerst 1513 gedruckte französische Vorlage wird auf 1455 datiert, vgl. .Manual, I* [Anm. 1], S. 98. Vgl. z. B. in The Works of William Shakespeare, hg. von James O. Halliwell. 16 Bde. London 1853-1865, hier Bd. 5 (1856), S. 86, die Erwähnung der Geschichte des Huon von Bordeaux in einer Bücherliste, die einem Testament von 1558 beigefugt ist; Robert Langham: A Letter, with introd., notes and commentary ed. by Rutger J. P. Kuin. Leiden 1983, gibt S. 53f. einen Hinweis

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Janet M. Cowen

Auch „Valentine and Orson", eine englische Übersetzung des französischen Prosatextes durch Henry Watson, die das Leben und die Abenteuer der Zwillingssöhne von König Pipins Schwester beschreibt, wurde von de Wörde ca. 1500-1510 gedruckt.94 Karl tritt in dieser Erzählung als Kind auf. Helen Cooper macht darauf aufmerksam, daß in jener Prosafassung die romantypische Aussicht auf ein glückliches Ende nicht erfüllt wird, aber „The Emperor and the Child", eine Versfassung des 16. Jahrhunderts, den glücklichen Ausgang nachliefert. Daneben gibt es ebenfalls verschiedene dramatische Fassungen, die jedoch nicht erhalten sind.95 Mit Sir John Haringtons Übersetzung von „Orlando Furioso" (1591) wurden englische Leser erneut - allerdings unter einem anderen Namen und aus einem differierenden kulturellen Kontext - mit dem Karl/Roland-Stoff bekannt gemacht. Möglicherweise wurde in demselben Jahr auch Greenes „Orlando Furioso" aufgeführt.96 In Shakespeares „Wie es euch gefällt" wurden die für Vater, jüngsten bzw. ältesten Sohn benutzten Namen Roland, Orlando und Oliver auf eine Erzählung über die Mißhandlung des jüngeren Sohnes durch den älteren übertragen, wobei die Übernahme der alternativen Namensform (Orlando) eine hübsche, alliterierende Paarbildung der beiden Brüder ermöglicht.97 Der junge Orlando tut sich dadurch hervor, daß er verkleidet gegen einen in der Quelle namenlosen,98 von Shakespeare aber Karl genannten Ringkämpfer des Herzogs antritt und ihn überwindet. Es erscheint verlockend darüber zu spekulieren, ob sich dahinter eine scherzhafte Anspielung auf den überkommenen Karl-Stoff verbirgt.99

auf Huon von Bordeaux und die vier Aymonssöhne als Subjekte volkstümlicher Erzählungen im Jahr 1575; Henslowe's Diary, hg. von R. A. Foalkes, R. T. Rickert. Cambridge 1961, enthält, S. 20, einen Verweis auf die Aufführung eines Spiels von Huon von Bordeaux im Jahr 1593; Charlemagne, hg. von Franck L. Schoell. Princeton 1920, ist ein anonymes Elisabethanisches Stück, in dem Karl der Große im Lauf von Ganelons mißlingenden Versuchen, Orlandos Erbrecht vom Kaiser zu erlangen, durch einen magischen Ring zu einer Liebesheirat mit Ganelons Schwester bewogen wird. 94

Valentine and Orson, transl. from the French by Henry Watson. Ed. by Arthur Dickson. London 1937 (EETS OS 204).

95

Vgl. Helen Cooper: The Strange History of Valentine and Orson. In: Tradition and Transformation in Medieval Romance [Anm. 4], S. 153-168.

96

Vgl. William Shakespeare, As You Like It. The Arden Shakespeare, hg. von Agnes Latham. London 1975, S. XXXI.

97

Ebd., S. LXVf.

98

Vgl. As You Like It. A New Variorum Edition of Shakespeare, hg. von Richard Knowles. New York 1977, S. 5.

99

Der Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung meines Artikels: The English Charlemagne Romances. In: Roland and Charlemagne in Europe: Essays on the Reception and Transformation of a Legend, hg. von Karen Pratt. London 1996 (King's College London Centre for Late Antique & Medieval Studies 12), S. 149-168.

Elisabeth Hüllender

„Und den Rabbenu Moses brachte der König Karl mit sich": Zum Bild Karls des Großen in der hebräischen Literatur des Mittelalters Wie die unterschiedlichen Traditionen der Karlsliteratur deutlich zeigen, beherrschte Karl der Große ein Vielvölkerreich, aus dem verschiedene Literaturen hervorgingen. Mit der weitgehend erfolgreichen Christianisierung der Sachsen hatte er zudem ein christliches Reich begründet, dessen wichtigste Feinde nach außen, die ,Sarazenen' genannten muslimischen Fürstentümer auf der Iberischen Halbinsel und die ,Hunnen' genannten Awaren im Osten, sich vom christlichen Frankenreich auch in der Religion unterschieden. Karl als christlicher Herrscher gehört somit zu den Topoi, die die Mystifizierung des ersten fränkischen Kaisers mit bestimmen. Deshalb ist die von Karl und seinen Nachfolgern, besonders seinem Sohn Ludwig dem Frommen, geduldete und sogar geforderte Existenz einer religiösen Minderheit im karolingischen Reich bemerkenswert.1 Zwar hatten Juden im späteren Frankenreich schon seit der römischen Zeit gelebt, allerdings war ihre Zahl seit dem Zerfall des römischen Reiches bis zur frühen karolingischen Zeit kontinuierlich gesunken. Neben der auf Christianisierung drängenden Judengesetzgebung der späten römischen Kaiser, der westgotischen Könige und einiger früher Konzilien, die den Umgang von Christen mit Juden einschränkten, ist dafür auch die dem Fernhandel ungünstige Wirtschaftssituation und das Fehlen einer Zentralmacht als Grund zu nennen. Mit dem Erstarken der karolingischen Macht und dem Bestreben, sowohl den internationalen Handel als auch die damit eng verbundene Außenpolitik des Reiches zu stärken, kam den Juden eine besondere Rolle zu.2 Durch ihre vornehmlich auf Duldung, nicht aber auf hergebrachten Rechten, beruhende Rechtslage brachten sie einen hohen Anteil an risikobereiten Händlern hervor, die als Minderheit 1

Vgl. etwa Raymund Kottje: Karl der Große und die Juden in seinem Reich. In: Unter dem Bogen des Bundes. Beiträge aus jüdischer und christlicher Existenz, hg. von Hans Hermann Henrix. Aachen 1981 (Aachener Beiträge zu Pastoral- und Bildungsfragen 11), S. 16-33, und die dort angegebene Literatur, besonders Bernhard Blumenkranz: Juifs et chrétiens dans le monde occidentale, 430-1096. Paris 1960. Vgl. auch Lioba Geis: Fremde, Verbündete, Gegner? Muslime und Juden im Verständnis Karls des Großen. In: Ex oriente. Isaak und der weiße Elefant. 3 Bde., hg. von Wolfgang Dreßen u. a. Mainz 2003, Bd. 3, S. 78-93.

2

Die Argumentation von Kottje [Anm. 1], nicht wirtschaftliche Interessen, sondern die ausfuhrliche Beschäftigung mit dem Alten Testament habe am karolingischen Hofe zur Tolerierung der Juden gefuhrt, ist nicht schlüssig. Die Vergabe von Einzelprivilegien schließt wirtschaftliche Interessen nicht aus, sondern erlaubt eine rechtliche Sonderstellung von aus verschiedenen Gründen für das Reich besonders erwünschten oder als forderlich erachteten Personen. Vgl. dazu Guido Kisch: Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters. Sigmaringen 1978, S. 47-52.

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Elisabeth Hollender

zwischen den verschiedenen Völkern lebten und auch wirtschaftliche wie politische Randgebiete zu besiedeln gewillt waren. Im karolingischen Reich waren Juden als einzige religiöse Minderheit geduldet und wurden nicht den teils gewaltsamen Christianisierungsbestrebungen, die der Einigung des Reiches dienten, unterworfen. Dies führte zum Aufbau neuer jüdischer Gemeinden und in den folgenden Jahrhunderten zu einer Blüte jüdisch-europäischer Kultur in Westeuropa.3 Sowohl im Westen des fränkischen Reiches als auch im Rheinland wird für die karolingische Zeit ein Anwachsen der jüdischen Bevölkerung in den Städten registriert. Im Rheinland ist mit Einwanderung aus Italien und Südfrankreich zu rechnen, 4 die jüdischen Gemeinden im Languedoc blickten zwar schon auf eine längere eigene Geschichte zurück, wuchsen aber unter der toleranten karolingischen Herrschaft zahlenmäßig an. In karolingischen Texten sind Juden mehrfach erwähnt. Einerseits finden sich Formulare von Schutzbriefen für einzelne Juden, die für den Schutz des Königs die Verpflichtung auf sich nahmen, dem Hof geeignete Waren, also wertvolle und nicht leicht beschaffbare Luxusgüter, anzubieten. Andererseits wurde 797 der jüdische Fernhändler Isaak gemeinsam mit den beiden fränkischen Gesandten Lantfrid und Sigimund zu Harun ar-Rashid, dem abbassidischen Kalifen von Bagdad, gesandt. 5 Dies zeigt, daß Juden dem karolingischen Hofe Dienste leisteten und ihre Möglichkeit, durch Schutz und Kontakte der verschiedenen jüdischen Gemeinden relativ sicher auch weite Strecken zu reisen, in Anspruch genommen wurde. Es hat sich im Falle von Isaak möglicherweise um einen Einzelfall gehandelt, der aus der Notwendigkeit, mit dem abbassidischen Kalifen Verhandlungen zu führen, erwuchs, aber in der späteren christlichen Karlsliteratur findet sich auch die Episode, wie Karl einen jüdischen Händler dazu veranlaßte, einem Bischof eine tote Maus als wertvolle Reliquie zu verkaufen. So ist eher davon auszugehen, daß jüdische Händler regelmäßig am karolingischen Hof verkehrten.

3

Vgl. Irving A. Agus: The Heroic Age of Franco-German Jewry. The Jews of Germany and France of the tenth and eleventh centuries, the pioneers and building of town-life, towngovernment and institutions. New York 1969.

4

Für Köln ist eine jüdische Gemeinde 321 n. Chr. belegt, auch für Trier und andere größere römische Städte am Rhein muß für die römische Zeit mit jüdischen Einwohnern gerechnet werden. Belege für eine kontinuierliche jüdische Besiedlung fehlen jedoch.

5

Von den drei namentlich genannten Teilnehmern an der Gesandtschaft kehrte nur Isaak zurück. Seine Rolle in der Gesandtschaft zu Harun ar-Rashid wird für die Chronisten vor allem deswegen interessant, weil er Harun ar-Rashids Geschenke an den fränkischen Kaiser, darunter den Elefanten Abul Abbas, über die Alpen und bis nach Aachen geleitete. Entgegen z. B. Jacques Delpierre de Bayac: Karl der Große. Leben und Zeit. Wien, Berlin 1976, S. 394, ist anzunehmen, daß seine Rolle in der Gesandtschaft nicht nur die eines Dolmetschers war, sondern daß seine Erfahrungen als Fernhandelskaufmann erwünscht waren und daß zudem seine Verbindungen zur damals im abbassidischen Kalifat hoch angesehenen jüdischen Oberschicht von Bagdad wesentlich zum Erfolg der Gesandtschaft beitrugen. Zur Rolle von jüdischen Händlern in Frankreich vgl. auch Detlev Elimers: Juden und Friesen als Hoflieferanten Karls des Großen. In: Ex Oriente [Anm. 1], Bd. 1, S. 56-65.

Zum Bild Karls des Großen in der hebräischen Literatur

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Als Minderheit im Frankenreich nahmen die Juden auch sprachlich eine Sonderstellung ein. Ihre Literatursprache war das Hebräische und das Aramäische, ihre Umgangssprachen waren die verschiedenen gesprochenen Sprachen der Umgebungskulturen, für Fernhändler, die regelmäßig in den Orient reisten, muß auch die Kenntnis der damaligen Kultursprache des Mittelmeerraumes, Arabisch, angenommen werden. Diese Situation der interkulturellen Kommunikationsfahigkeit bezieht sich weitgehend auf mündlich überlieferte Literatur. Inwieweit Juden literat in der lateinischen Schriftsprache waren, ist nicht mit Sicherheit nachzuvollziehen; soweit schriftliche Schutzbriefe ausgestellt wurden, muß allerdings angenommen werden, daß die Inhaber diese lesen konnten. Wenn auch davon auszugehen ist, daß ein wesentlicher Bestandteil der jüdischen Bevölkerung des fränkischen Reiches im Hebräischen literat war,6 kann eine Kenntnis der schriftlichen Quellen der christlichen Karlsliteratur, wie der Annalen und Regesten und der in den Klöstern verfaßten frühen Biographien, schon deshalb nicht angenommen werden, weil diese Texte in christlichen Gemeinschaften aufbewahrt wurden, zu denen Juden keinen Zugang hatten. Mündlich überlieferte Texte, Volkserzählungen und möglicherweise (volkssprachliche) Dichtung, die jüdische Händler bei ihren christlichen Handelspartnern hörten, konnten dagegen christliche literarische Traditionen an die hebräische Literatur überliefern. Da diese mündlich überlieferte christliche Tradition zu großen Teilen auf Karl den Großen als christlichen Herrscher hin orientiert ist, bot sie wenig Material, das direkt in die hebräische Literatur aufgenommen werden konnte. Das uns erhaltene Material unterstützt die Vermutung, daß Karl nur dann Erwähnung finden konnte, wenn er eine für jüdische Belange wichtige Rolle spielte. Eine weitere Eingrenzung erfahrt die hebräische Karls-Tradition durch die Tatsache, daß aus Westeuropa kaum säkulare hebräische Literatur überliefert ist. Dies liegt unter anderem daran, daß kaum hebräische Texte aus dem 8. und 9. Jahrhundert erhalten sind, die im karolingischen Reich verfaßt wurden. Belege für verstärkte literarische Tätigkeit finden sich hier erst gegen Ende des 10. Jahrhunderts, und auch in dieser Zeit finden sich keine Reflexionen über das jüdische Leben in Europa, sondern ausschließlich religiöse Texte, in denen die nicht-jüdische Gesellschaft nur in Rechtsfragen (Umgang zwischen Juden und Nichtjuden) Erwähnung findet. Es ist anzunehmen, daß die westeuropäischen Juden des Mittelalters Erzählungen und Lieder in den jeweiligen Umgebungssprachen kannten und tradierten, diese aber nicht in schriftlicher Form überliefert wurden.7 6

Siehe Moritz Güdemann: Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Frankreich und Deutschland. Bd. 1. Wien 1880, S. 50-58. Vgl. auch Ivan Marcus: Rituals of Childhood. Jewish Acculturation in Medieval Europe. New Häven, London 1996.

7

Grund für die mangelnde Überlieferung säkularer Literatur ist sicherlich neben dem Preis von Schreibmaterial und einer generellen Assoziation von geschriebenem Text mit religiösem Status auch die Überlieferungslage insgesamt, die durch häufige Vertreibungen der Juden im Hoch- und Spätmittelalter und dem Mangel an zentralen oder stabilen Bibliotheken, wie Klöster sie für christliche Texte darstellten, insgesamt sehr schlecht ist. Selbst in Zeiten, in denen Juden persönlich nicht verfolgt wurden, wurden ihre Bücher zensiert, ver-

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Elisabeth Hottender

Kontakte dieser Art haben etwa in der „Pessach-Haggada" ihre Spuren hinterlassen, an deren Ende volkstümliche Lieder eingefügt wurden, die für die Verschriftlichung gegen Ende des Mittelalters für den jüdischen Kontext bearbeitet und ins Hebräische übersetzt wurden. Karl der Große begegnet deshalb erst in späteren hebräischen Texten und hier fast ausschließlich in Chroniken oder anderen Texten, die sich bewußt auf die jüdische Geschichte eines Ortes oder einer Gemeinde beziehen. Durch diesen lokalen Bezug der Texte erscheint Karl in der hebräischen Literatur des Mittelalters in einer gänzlich anderen Funktion als in der europäischen Karlsliteratur. Statt als Einer des Reiches und als der christlicher Herrscher, der sein Reich vor den heidnischen Feinden bewahrt, wird er zum Schutzherrn der kürzlich eingewanderten oder mit neuen Ansiedlungsrechten ausgestatteten Juden. Und auch diese Funktion erhält er keineswegs im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Leben. Chroniken und Texte, die sich auf Karl den Großen beziehen, sind aus dem 13. Jahrhundert und aus dem 16. Jahrhundert überliefert. Dies stimmt teilweise mit der Verbreitung der Karlsliteratur in Europa überein, hat aber auch Gründe in der jüdischen Geschichte. Laut Grabois dient Karl der Große als Symbolfigur für eine Epoche, die in der Rückschau als goldenes Zeitalter betrachtet wurde, in dem die Ansiedlungsrechte der Juden und ihre Handelsprivilegien durch die Zentralmacht geschützt worden waren.8 In diesem Punkt ist allerdings zwischen den Juden im östlichen Frankenreich, also vor allem im Rheinland, und den Juden im späteren Frankreich, vor allem im Languedoc, zu unterscheiden. Mit dem Ende des 11. Jahrhunderts waren die Juden im Rheinland durch die Kreuzzüge und die damit verbundenen Judenverfolgungen aus der Sicherheit, die bis dahin weitgehend herrschte, herausgerissen und mußten neue Wege finden, ihre von Ansiedlungsprivilegien abhängige Existenz gegen Angriffe zu verteidigen. Die Juden des Languedoc dagegen waren nicht unmittelbar durch die Verfolgungen von 1096 und 1147 betroffen, wurden aber im Verlauf des 12. Jahrhunderts als Fernhandelskaufleute zunehmend verdrängt, weil die Kreuzzugsteilnehmer Zugang zu den östlichen Märkten gewannen und durch häufigere Reisen den schon immer auf kleine Mengen an Luxusgütern beschränkten Handel in den Westen übernahmen. Eine der durchgängigen Eigenschaften der hebräischen Literatur des Mittelalters ist es, auf eine Unterscheidung der verschiedenen fränkischen Herrscher zu verzichten und alle positiven Episoden in der Geschichte der europäischen Juden, boten und verbrannt. So wurden 1242 in Paris 40 Ochsenwagen voll hebräischer Handschriften verbrannt. Die ältesten vollständig erhaltenen datierten und lokalisierten hebräischen Handschriften aus dem deutschsprachigen Raum wurden 1290 geschrieben, hebräische Handschriften aus Westeuropa aus der Zeit vor dem ersten Kreuzzug sind nicht erhalten. 8

Vgl. hierzu vor allem Arie Grabois: Le souvenir et la légende de Charlemagne dans les textes hébraiques médiévaux. In: Le Moyen Age 72 (1966), S. 5—4-1 ; eine deutsche Übersetzung dieses Artikels findet sich in Ex oriente [Anm. 1], Bd. 3, S. 122-139. Siehe auch die hebräische Version des Artikels, Arie Grabois: Demuto ha'Aggadit schel Qarl haGadol biMqorot ha'Ivijim schel Jamej haBenajim. In: Tarbiz 36 (1967), S. 22-58.

Zum Bild Karls des Großen in der hebräischen Literatur

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die zwischen etwa 700 und 1050 stattfanden, mit Karl dem Großen, der einfach ,der König Karl' 9 genannt wird, zu verbinden. Dies geschieht ungeachtet der Tatsache, daß Karls Sohn, Ludwig der Fromme, eine deutlich judenfreundlichere Politik betrieben hat10 und daß einige Ereignisse eindeutig in die Herrschaftszeit anderer karolingischer und ottonischer Herrscher datiert werden können. 11 Daß den Juden in der karolingischen Zeit die politischen Entwicklungen bekannt sein konnten, kann an der geographischen Bezeichnung ,Lotharin' für Lothringen abgelesen werden, die im Begriff ,die Weisen Lotharins' auf eine jüdische Tradition hinweist, aus der zwar keine schriftlichen Quellen erhalten sind, die aber wesentlichen Einfluß auf das rheinische Judentum ausübte. Die jüdischen Gemeinden im Mittelalter waren besonders stolz auf ihre rabbinischen Akademien, die als Zeichen religiöser Bildung galten und von namhaften Gelehrten geleitet wurden. 12 Und so wie Karl der Große in der französischen Literatur als Gründer der Universität von Paris bezeichnet wurde, gilt er in der hebräischen Literatur des Mittelalters als Förderer der jüdischen Akademien, deren Leiter durch ihn ins Frankenreich gebracht worden sein sollen. In den diesbezüglichen Legenden wird daher vor allem die Gelehrsamkeit und die auf hohes Ansehen hinweisende lange Genealogie der von Karl in sein Reich geholten Juden betont. Entsprechende Erzählungen existieren sowohl für die rabbinische Akademie in Mainz, die als Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit im Rheinland galt, als auch für die jüdische Akademie in Narbonne, die das Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit im Languedoc war und erst im 12.-13. Jahrhundert Konkurrenz durch die rund um Paris angesiedelten nordfranzösischen Gelehrten und ihre Lehrhäuser erhielt. Die folgende Analyse der wichtigsten dieser Texte soll zeigen, wie Karl der Große in hebräischen Texten in die jeweilige Wirklichkeit der jüdischen Verfasser zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten eingebunden wird. Die Texte stammen aus dem 13. und dem 16. Jahrhundert, aus Südfrankreich, dem Rheinland, Polen, sowie dem italienischen Exil eines spanisch-stämmigen Juden.

9

Die Manuskripte weisen Schreibweisen des Namens auf, die als ,Karl',,Karls',,Karle' und .Karies' (d. i. .Charles') transkribiert werden können, die verschiedenen Aussprachen des Namens entsprechen den Namensformen in den verschiedenen Umgangssprachen.

10

Vgl. etwa die karolingischen Judenschutzbriefformulare, die in der unter Ludwig I. zusammengestellten Sammlung der Formulae Imperiales (MGH Formulae, Nr. 30, 31, 52; Julius Aronius: Regesten zur Geschichte der Juden im fränkischen und deutschen Reiche bis zum Jahre 1273. Nachdruck Hildesheim 1970, Nr. 81, 82, 83) enthalten sind, aber auch die Beispiele, die Kottje [Anm. 1] nennt.

11

So z. B. die weiter unten analysierte Episode mit Otto II. und dem Juden Qalonymos.

12

Das bedeutete zugleich, daß sie die Tradition der Autorität der rabbinischen Gelehrten, wie sie in den klassischen Texten des Judentums dargestellt wird, in ihr Wertesystem übernahmen und Machtpositionen innerhalb der jüdischen Gemeinden mit Gelehrten besetzt wurden. Bisweilen scheint auch der Anspruch durch, die Tradition der babylonischen Akademien und deren autoritative Position für alle Juden weltweit eingenommen zu haben.

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Elisabeth Hottender

In seiner nur in einem Manuskript erhaltenen Polemik „Krieg des Gebotes" beschreibt Meir b.13 Simon aus Narbonne gegen 1240 die rechtliche Situation der Juden in Narbonne14 und beruft sich dabei auf Karl den Großen, dem er die Eroberung der Stadt zuschreibt, obwohl Narbonne schon 759 von Pipin dem Kurzen erobert wurde. Vorab sei daraufhingewiesen, daß der Text die besondere Art der Verpflichtung der christlichen Herrscher den Juden gegenüber durch die Verwendung des Leitwortes .bewahren' betont:15 Zu Beginn wollen wir sagen, daß es sich aus der Art und Weise der Verpflichtung ergibt, Bündnis und Treue jedem Menschen gegenüber zu bewahren, selbst wenn er nicht der Religion des Königs angehört. Alle, die ihm [dem König] gehorchen, denen obliegt es, uns (gegenüber) das Bündnis und die Treue zu bewahren, die seine Väter unseren Vätern bewahrt haben, denn unsere Väter, die Söhne Jissraels, kamen in das ganze Land seines Königreiches wegen einer Angelegenheit, die ihn verpflichtete, uns aufzustellen mit .Versicherung', unseren Leib und unseren beweglichen und unseren unbeweglichen Besitz zu bewahren. Und es bestanden wir und unsere Väter lange Zeit in dieser .Versicherung', seit den Tagen des Königs Karl' 6 bis jetzt, welcher viele Länder eroberte und sie alle hinter sich brachte, mit der Hilfe der Jissraeliten, die bei ihm waren in Treue, mit ihrem Körper und mit ihrem Geld, welche persönlich mit vollem Einsatz in das Kriegsgeschehen eingriffen 17 und sich selbst dem Tod auslieferten, zur Rettung der Könige und der Fürsten, die bei ihnen waren. Denn eine bekannte Sache ist dies und [sie steht] geschrieben an vielen Stellen in unseren Händen" und auch im Haus der Obedienciers", daß, als der König Karl die Stadt Narbonne20

13

Abkürzung für ben oder bar, .Sohn von'.

14

Zur Geschichte der Juden in Narbonne vgl. Jean Régné: Études sur la condition des Juifs de Narbonne, V e - XIV e siècles. Narbonne 1910. Das Kapitel über die karolingische Zeit wurde auch in: Revue des études juives 55 (1908), S. 1-36, publiziert.

15

Aus satztechnischen Gründen können leider die hebräischen Quellen nicht im Original, sondern ausschließlich in deutscher Übersetzung zitiert werden. Der hebräischen Umschrift zufolge dachte der Schreiber eher an die Namensform .Charles'. Der Name wird im Text durchgehend gleich transkribiert.

16

17

Der talmudisch-gleichnishafte Ausdruck des hebräischen Originals betont einerseits die Selbstverständlichkeit jüdischer Teilnahme an kriegerischen Auseinandersetzungen, andererseits aber auch die angenommene Intensität der Teilnahme der Juden an den karolingischen Kriegen.

18

So wörtlich. Die Betonung der schriftlichen Quellen ist kennzeichnend für das 13. Jahrhundert.

19

Der Konsonantenbestand dieses altfranzösischen Lehnworts im hebräischen Text ist 'bdjjnsj's. Der Herausgeber des hebräischen Textes emendiert im Wort bj[t] ,Haus' den letzten Buchstaben und übersetzt ins Französische als ,maison d'obédience'. Da aber der talmudische Ausdruck ohne den letzten Buchstaben bj ,Haus' auch als (Lehr-)Haus im Sinne der Zugehörigkeit zu einer ,Schule' oder einem .Haushalt' verstanden wird und da das französische Lehnwort dem hebräischen Buchstabenbestand nach eher auf einen Plural (vgl. das stimmlose ,s' am Schluß) denn auf ein Abstraktem im Singular (.obédience') hindeutet, ist also eher mit dem Plural .obédienciers' (,religiöse Menschen, Mönche'), der ganze Ausdruck also mit ,Haus der Mönche' zu übersetzen. In dieser Bedeutung ist ,obédiencier' seit 1240 belegt. Da die provenzalische Version der „Gesta Karoli Magni ad Carcassonam et Narbonem", die als „Philomena" oder „Pseudo-Philomena" bekannt ist, im Kloster La Grasse entstand, das wesentlich zur Verbreitung der Karlslegende in Septimanien beitrug und zur Diözese Narbonne gehörte, könnte hier auf La Grasse hingewiesen sein. In literarischen

Zum Bild Karls des Großen in der hebräischen Literatur

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eroberte - zur Zeit seines Kämpfens 21 gegen die Jischma'eliten22, die dort waren23 - tötete man sein Pferd vor dem Tor [der Stadt] und er fiel zu Boden, und wäre er in ihre Hand [gekommen], wäre er zur Tötung überliefert worden. Und von allen Truppen, die mit ihm waren, wollte nicht einer von ihnen von seinem Pferd absteigen und ihn darauf reiten lassen, denn sie fürchteten, daß, wenn sie von ihren Pferden abstiegen, sie dort sterben müßten. Bis daß ein Jude, der mit ihnen war, ,ein tapferer Held' 24 , von seinem Pferd zu Boden stieg und ihn [den König] darauf reiten ließ; und er selbst [ver]blieb dort auf seinen Füßen25 und starb dort26 durch die Hand der Jischma'eliten. Und später, als er die Stadt erobert hatte, bewahrte27 der König Karl jene große Treue seinen Nachfahren28 und gab ihnen einen großen und geachteten Teil in der Stadt Narbonne und in ihrer Umgebung. Und die früheste2' Überlieferung [besagt], daß er ihnen ein Drittel30 an der Stadt und in ihrer Umgebung gab und daß er für alle [sie!] Juden gute und geachtete31 Satzungen32 machte mit der Zustimmung der Bischöfe und der Priester, die dort mit ihm waren.33 Und nach ihm pflegten die Könige, die statt seiner regierten, mit ihnen in dieser Treue umzugehen, bis jetzt. Und die ganze Zeit lang, in der sie ihnen ihr Bündnis und ihre Treue bewahrten,34 waren sie erfolgreich in ihren Kriegen und ihre Hand überwältigte35 ihre Feinde.

hebräischen Texten des Mittelalters wird durchweg versucht, christliche Institutionen durch Umschreibungen zu benennen und auf direkte Bezeichnungen zu verzichten. Zudem kennt die „Philomena" die Dreiteilung Narbonnes, vgl. Friedrich E. Schneegans (Hg.): Gesta KaroIi Magni ad Carcassonam et Narbonam. Lateinischer Text und provenzalische Übersetzung mit Einleitung. Halle 1898 (Romanische Bibliothek XV), S. 178-179. 20

Im Hebräischen transkribiert als Narbonah. Der Name der Stadt wird in diesem Text durchgehend gleich transkribiert.

21

Vgl. Sach 14,3.

22

.Jischma'eliten' ist die häufigste hebräische Bezeichnung fur Moslems, sie entspricht dem mittelalterlichen .Sarazenen' der westlichen Literaturen.

23

Gerade in diesem Textabschnitt werden die Stichwörter ,dort' und ,mit ihm' als Signale für die Authentizität der Erzählung eingesetzt.

24

Biblisch mehrfach belegt, das erste Mal in Ri 11,1.

25

Vgl. etwa Ri 4,15.17; 2 Sam 15,16f.; Arnos 2,15.

26

Vgl. Num 20,26, dort in Bezug auf Aaron.

27

Beachte die Verwendung des Leitwortes .bewahren'.

28

Die Übersetzung .seine Nachfahren' entspricht hier wie in den anderen Texte wörtlich .seinem Samen' und ist biblische Ausdrucksweise. Biblische Belege wie Mal 3,4; Ez 38,17 u. a. belegen die Bedeutung .sehr früh', die hebräische Wurzel wird auch mit .Urzeit' übersetzt oder ähnlich wie ein Superlativ gebraucht, so etwa im Falle des .ersten Menschen'.

29

30

Hebräisch wörtlich: ,das Drittel'.

31

Man beachte die Verwendung des gleichen Begriffes für den Teil von Narbonne, der den Juden gegeben wurde.

32

Der Herausgeber des hebräischen Textes, A. Neubauer, sowie Grabois [Anm. 8], S. 27, übersetzen mit „privilèges". Es kann hier sowohl an individuelle Schutzbriefe wie an die Genehmigung einer jüdischen Eigengerichtsbarkeit gedacht werden. Der hebräische Begriff betont die schriftliche Festsetzung der den Juden gewährten Rechte.

33

Die Anwesenheit der „Bischöfe und Priester" scheint der Beglaubigung der Erzählung zu dienen und gleichzeitig die kirchlichen Vertreter zur Zeit der Abfassung dieses polemischen Textes in die Pflicht zu nehmen. Vgl. auch Anm. 23.

34

Vgl. den Anfang des Textabschnittes.

35

Vgl. Ex 17,11, den Sieg der Jissraeliten über Amalek.

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Elisabeth Hüllender

Und er hatte in der Sache keinen anderen Grund als diesen,36 den wir aufgeschrieben haben, [nämlich] daß der König Karl aus der Hand der Jischma'eliten gerettet worden war durch den Juden, der sich selbst dem Tod überlieferte, zu seiner [des Königs] Rettung; siehe so bleibt der König sowie alle seine Nachfahren verpflichtet, auf ewig viele Wohltaten ffir alle Juden zu tun, die in seinem Herrschaftsbereich sind, und ihren Leib und ihren Besitz zu bewahren."

Das Leitwort,bewahren' dieses Textes, das nicht nur im ersten und letzten Satz vorkommt, sondern alle nicht-narrativen und auch einen Teil der narrativen Texteinheiten bestimmt, weist auf die Funktion hin, die der Autor den Königen zuweist. Als Schutzmacht sind sie für die Sicherheit ihrer Untertanen verantwortlich. „König Karl" wird darüber hinaus auch im narrativen Textteil charakterisiert. Er nimmt an der Schlacht teil, begibt sich also persönlich in Gefahr. Daß sein Pferd vor den Toren der Stadt unter ihm getötet wird, deutet daraufhin, daß er in der vordersten Schlachtreihe kämpft und sich in die Nähe des belagerten Feindes begibt.38 Karl wird dadurch als tapferer Krieger charakterisiert, der sich allerdings mit Reitern umgibt, denen das eigene Leben wichtiger zu sein scheint als das Leben ihres Herren. Ohne es explizit zu sagen, kritisiert der Text Karl für die Auswahl der ihn umgebenden Krieger. 39 Wenn man davon ausgeht, daß der Verfasser vielleicht einen Teil der in den Chansons de Geste überlieferten Karlserzählungen kannte, in denen die Karl umgebenden Paladine immer eine wichtige Rolle spielen, ist diese Kritik an der königlichen Entourage, die für den Verlauf der Erzählung unabdingbar ist, auch eine unterschwellige Kritik an der literarischen Fokussierung der Karlsepik auf die ,Nebenfiguren'. Allerdings ist die Umgebung Karls in der Schlacht nicht auf seinen christlichen Stab beschränkt. Ein Jude befindet sich nicht nur in unmittelbarer Nähe zu Karl, sondern ist „mit ihnen" 40 und wird explizit als „ein tapferer Held" eingeführt. Trotz seiner Zugehörigkeit zur einzigen Minderheit im fränkischen Reich befindet sich dieser namenlose Jude in unmittelbarer Nähe zum König. Dies ist das wichtigste Charakteristikum Karls des Großen in der hebräischen Literatur: seine Nähe zu Juden, mit denen er verkehrt wie mit anderen Untertanen auch, und die - entsprechend ihrer Bedeutung innerhalb deren eigener Gemeinschaft - auch wie Grafen oder Bischöfe behandelt werden können. Daß Karl auf dem ihm angebotenen Pferd des namenlosen Juden aus der Gefahr entkommt, während sein Retter dies mit dem Leben bezahlt, kann kaum für eine Charakterisierung Karls herangezogen wer36

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39

40

Diese Phrase kann auch mit „Wenn er in der Angelegenheit keinen anderen Grund gehabt hätte, außer diesem ..." übersetzt werden. Aus dem hebräischen Original übersetzt nach Adolf Neubauer: Documents Inédits. In: Revue des études juives 10 (1885), S. 98f. Eine französische Übersetzung findet sich ebenda, S. 99, sowie bei Grabois [Anm. 8], S. 26f. Jüdische Leser der Episode werden hier an biblische Beispiele erinnert, die die Gefahren eines Angriffs vor der belagerten Stadt betonen, so die Entsendung des Hethiters Uriah durch David, vgl. 2 Sam 11, besonders Vers 21 f. Vgl. dagegen die namentlichen genannten ,Helden' des biblischen Königs David in 2 Sam 23,8. Vgl. zu diesem Leitwort der Beglaubigung Anm. 23 und Anm. 33.

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den; die Aufopferung des Juden für seinen König und Kriegsherrn ist Grundlage für die Wohltaten, die Karl anschließend erweist. Karl der Große wird in diesem Text als dankbar beschrieben, seine Dankbarkeit seinem jüdischen Retter gegenüber wird als „Treue" zu dessen Familie aufgefaßt, die mit Besitz in der Stadt Narbonne und dem Umland belohnt werden. „Alle Juden" werden darüber hinaus mit „guten und geachteten Satzungen" ausgestattet. Karl begreift in dieser Erzählung die Juden also als eine Volksgruppe, die wie andere Volksgruppen ein eigenes Rechtssystem haben und deren Interaktion mit den anderen Volksgruppen unter den besonderen Schutz des Königs gestellt wird. Sein Charakter als christlicher Herrscher wird durch den Bezug auf die „Bischöfe und Priester, die dort mit ihm waren" angesprochen, die aber, um Karls Größe zu betonen, nur als Zeugen und Zustimmende zu seinen Handlungen auftreten. Obwohl Karl nicht ausdrücklich persönlich als literat beschrieben wird, zeigt der Verweis auf schriftliche Quellen sowohl in jüdischer als auch in christlicher Hand, daß von der Schriftlichkeit im Rahmen der Machtausübung ausgegangen wird. Anders als in den anderen zu analysierenden Quellen wird Karl hier aber zuvorderst als Krieger, nicht als der Förderer der Gelehrsamkeit, dargestellt. David Flusser hat die nicht unumstrittene Behauptung aufgestellt: „Für Karl ist die Judenfrage nicht da."41 Während diese Aussage für den historischen Karl nicht wörtlich zutrifft, behandelte der fiktionalisierte Karl der Große, wie ihn Meir b. Simon aus Narbonne 1240 beschrieb, Juden wie alle anderen Untertanen oder aufgrund des erzählten Verdienstes eines Einzelnen - gar noch besser. Er begründete damit die fiktive Rechtsgrundlage, auf der Juden auch mehr als 400 Jahre nach dem historischen Karl eine Anerkennung ihrer Rechte und der Schutzverpflichtung durch die Königsmacht forderten. Wie in christlichen Kreisen gefälschte Urkunden gerne in die karolingische Zeit datiert wurden, um Besitz- und Rechtstitel zu verteidigen, werden hier Rechte einer Minderheit auf Karl als den wichtigsten Gesetzgeber im Frankenreich zurückgeführt und seine Person wird - ganz selbstverständlich den lokalen Klerus einbeziehend - zur Beglaubigung herangezogen. Die Rechte der Juden von Narbonne werden auch in einem Einschub in das „Buch der Überlieferung" („Sefer haQabbala") des spanischen Gelehrten Abraham b. David aus Toledo thematisiert. Dieser Einschub ist allerdings in nur einem Manuskript überliefert. Die Handschrift aus dem 13. Jahrhundert enthält außer dem „Buch der Überlieferung" noch diverse andere Texte und ist in der Provence entstanden, wo auch die folgende Erzählung über die jüdische Gemeinde in Narbonne entstanden sein muß:

41

David Flusser: Die Judenfrage aus der Sicht Karls des Großen. In: Unter dem Bogen des Bundes [Anm. 1], S. 34—46, hier S. 41. Man beachte die Zusammenfassung der Diskussion nach Flussers Vortrag, S. 44-46, in der historische Argumente differenzierter zum Tragen kommen.

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Und wir haben gehört, daß es im Lande Tsarphat42 große Weise43 und Geonim44 gibt und jeder einzelne ist ein Rabban, 45 .verbreitet Torah', 46 und sie vergrößern ihre Grenzen durch [ihre] Schüler,47 um ,(die) Torah groß zu machen und sie zu preisen', 48 so wie gesagt ist [Prov 8,21]: ,Zu übereignen den mich Liebenden Habe.'49 Und es ist gesagt [Jes 42,21]: ,Der HERR begehrt um seiner Gnade willen, daß man groß mache die Torah und (sie) verherrliche.' Und jeder einzelne war ein Gaon an seinem Ort, so wie es uns zur Kenntnis gelangt ist. Und es ist uns überliefert worden, daß es unter ihnen, in Narbonne, 50 eine .große Kette' 51 gibt bezüglich Tora[-Gelehrsamkeit], [jüdisches] Fürstentum52 und Geonentum 53 : Der König Karl54 schickte zum König von Babel,55 daß er ihm einen seiner Juden schicken solle, ,vom königlichen Samen', 56 aus dem Hause Davids. Und er hörte auf ihn und schickte ihm einen [Juden] von dort, einen großen und weisen [Mann], und sein Name war Rabbi Makhir.57 Und er ließ ihn in Narbonne, der großen Stadt, wohnen und .pflanzte' ihn dort ein und gab ihm 42

Diese biblische Bezeichnung aus Ob 1,20 wird seit dem Mittelalter für Frankreich verwendet.

43

Terminus technicus für rabbinische Gelehrte.

44

Singular Gaon. Wörtlich .Hoher', Ehrentitel der Häupter der Lehrhäuser im spätantiken und frühmittelalterlichen Babylonien und nachfolgend entsprechender Leiter bedeutender Lehrhäuser in den jüdischen Gemeinden des Mittelalters. Hier verwendet, um die Gelehrsamkeit und das Ansehen der jüdischen Gelehrten in Frankreich als legitime Nachfolger der babylonischen Vorbilder in der (Lehr-)Autorität zu loben.

45

Ehrentitel (.Meister'), insbesondere für einen Gelehrten, der viele Schüler hat.

46

.Torah' steht hier im umfassenden Sinne nicht nur für den Pentateuch, sondern auch für dessen Auslegung, sowie für das Gesamt der .schriftlichen' und .mündlichen Torah'; der Ausdruck .verbreitet Torah' wird ebenfalls im Mittelalter als Ehrentitel verwendet, der wiederum die erfolgreiche Lehrtätigkeit im Lehrhaus hervorhebt, vgl. schon bMeg 29a.

47

,Seine Grenzen durch Schüler vergrößern' ist ein weiterer ehrenvoller Ausdruck für das .Aufstellen von Schülern', das seit der Antike als Aufgabe jedes Gelehrten gilt.

48

Vgl. Jes 42,21b, das auch im folgenden als Belegvers zitiert wird.

49

Der erste biblische Belegvers stammt aus Prov 8, einem Kapitel, in dem die Weisheit .spricht', die im Judentum sehr früh mit der Torah identifiziert wurde. Dies paßt gut zum terminus technicus .Weisen', mit dem dieser Textausschnitt beginnt. Ich vermute zudem, daß ein weiteres Motiv für diesen Belegvers nicht nur in der „Habe" liegt, die durch das Torah-Studium erworben wird, sondern auch in der Betonung der „guten Satzungen" in der folgenden Geschichte, wie es ähnlich im biblischen Kontext im Vorvers, Prov 8,20a, anklingt: „Auf dem Pfade des Rechts wandle ich..."

50

Vgl. Anm. 20.

51

So wörtlich, gemeint ist eine alte Tradition. Der hebräische Text verwendet den Begriff Nassi, der biblisch belegt ist und in der Antike die führenden Mitglieder oligarchischer Familien bezeichnete, die ihre Herkunft vom davidischen Königshaus ableiteten.

52

53

Zum Begriff ,Gaon' s. o. Anm. 44.

54

Hier wird der Name als krljjs transkribiert, was auf einen betonten Diphthong in der letzten Silbe von .Charles' hinweist.

55

Gemeint ist der abbassidische Kalif in Bagdad. .Babel' steht in hebräischen Texten des Mittelalters für das Zweistromland.

56

Wie im Text von Meir b. Simon aus Narbonne ist .Same' als .Stamm, Familie' zu verstehen.

57

Nach Gen 50,23, dort Sohn des Manasse, Vater Gileads, insgesamt schon biblisch poetisch für den Stamm Manasse (Ri 4,15). Dort heißt es „von Makhir zogen hinab Gesetzgeber", der Name kann hier also Programm sein für eine durch Macht und Gelehrsamkeit herausragende Persönlichkeit, im Kontext der Vergabe von Rechten an die Juden der Stadt Narbonne kommt diesem Namen somit besondere symbolische Bedeutung zu.

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Literatur

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dort großen Besitz zu der Zeit, als er sie [die Stadt] von den Jischma'eliten58 erobert hatte. Und er [Rabbi Makhir] nahm dort eine Frau von den Großen der Stadt.59 Zur Zeit der Eroberung der Stadt teilte sie der König in drei Teile. Den einen gab er dem Grafen,60 der dort in der Stadt war, sein Name war Don Aymeric.61 Und den zweiten Teil [gab er] dem Erzbischof62 der Stadt. Und den dritten Teil gab er Rabbi Makhir und machte ihn zum Freien.63 Und er machte in seiner Liebe gute Gesetze fiir alle Juden, die in der Stadt wohnen, wie es geschrieben und besiegelt ist in einer christlichen Urkunde,64 und das Siegel, das vom König [stammt], dessen Name Karl65 ist, die[se Urkunde] ist in ihren [der Juden von Narbonne] Händen ,bis auf diesen Tag'.66 Dieser Fürst,67 Rabbi Makhir, war dort [Ober-]Haupt [der Juden], er und seine Nachfahren waren dem König und allen seinen Nachfahren68 nahe,6' und jeder, der kam, ihn in Sachen des [Land-]Besitzes oder der Ehre zu bedrängen, den zwang man mit der Macht des Königs von Tsarphat,70 denn man schickte [in einem solchen Fall] sofort zum König und der König befahl,71 das Geraubte zurückzugeben, und sofort wurde sein Gebot ausgeführt und es gibt niemand, der Widerspruch wagt, denn Narbonne, sie [die Stadt] ist unter der Hand Tsarphats. Und weiter: es gehörten er [R. Makhir] und seine Nachfahren zu den Führern [ihrer] Generation, zu den Gesetzgebern72 und Richtern in allen Ländern, wie die [Ober-]Häupter des Exils,73 und sie weideten Jissrael in ihrer Treue und ihrem Verständnis so wie diese. Und dort 58 59

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Vgl. [Anm. 22], Alle anderen Belege in der mittelalterlichen hebräischen Literatur für den Begriff ,die Großen der Stadt' beziehen sich eindeutig - wenn nicht eine andere spezifizierende Kennzeichnung eingefugt ist - auf jüdische Würdenträger. Dies zeigt auch, daß es sich nicht um eine Neubesiedlung handelt, sondern um Zuwanderung in eine bestehende Gemeinde. Somit handelt es sich nicht um eine Gründungslegende der jüdischen Gemeinde von Narbonne, sondern um eine narrative Erklärung der besonderen rechtlichen Stellung der Juden in dieser Stadt. Vgl. etwa im folgenden „gute Gesetze für alle Juden, die in der Stadt wohnen". Wörtlich: .Herrscher'. Der Herausgeber verweist auf einen legendären Aymeri II., der auch in anderen Erzählungen aus dem Languedoc erwähnt wird. Hebräisch: hegemon, dieses Lehnwort aus dem Griechischen dient im mittelalterlichen Hebräisch zur Bezeichnung von kirchlichen Würdenträgern, die auch weltliche Macht ausüben. Das Hebräische Ben Chorin (wörtlich: ,Sohn von Freien') ist immer als Gegensatz zu .Sklave' zu verstehen und bezeichnet ein vollwertiges Mitglied der Kult- und Rechtsgemeinschaft. Vor allem durch die Verwendung in der „Pesach-Haggada" („Dieses Jahr als Sklaven hier, und nächstes Jahr als Freie in Jerusalem") schließt es die Selbstbestimmung sowohl des Einzelnen als auch der jüdischen Gemeinschaft mit ein. Gemeint ist wohl eine Urkunde in lateinischer Schrift und Sprache. Hier wird der Name mit auslautendem Kurzvokal (,Karle') transkribiert. Die Formulierung ,bis auf diesen Tag' findet sich allein biblisch 76 Mal und betont sowohl die Gewichtigkeit der Aussage, als auch ihre beständige Gültigkeit. Vgl. Anm. 52. Vgl. hier und im folgenden Anm. 28. ,Nähe' ist hier mit dem Herausgeber des hebräischen Textes zu verstehen als Zugang zum jeweiligen König bzw. Kaiser und seinem Hof. Vgl. hier und im folgenden Anm. 42 Der hebräische Text zeigt durch die Verwendung des Partizips an, daß die Handlungen gleichzeitig erfolgen. Vgl. Anm. 57. Wörtlich: .Häupter der Exile', dieser Plural wird nur außerhalb des Zweistromlandes verwendet.

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wurde Rab74 Todros zum Gaon,75 der Bekannte und Fürst,'6 und seine Söhne aus den Nachfahren jenes Rabbi Makhir, des Fürsten. Und nicht schied von ihnen Größe und Macht und Torah, wie jener große und bekannte Fürst, unser Herr und Meister Qalonymos der Große, der große Herrschaft ausübte und Jissrael rettete77 in seinen Tagen, und er .verlängerte Tage' in seiner Größe und es wurden seine Tage 90 Jahre bis daß er starb. Und er ließ zurück einen weisen Sohn, und sein Name (war) Todros. Und der war ein Weiser und ein Dichter, er verfaßte ein [liturgisches] Gedicht über die 613 Ge- und Verbote [der Torah].78

Schon der einleitende Paragraph zeigt deutlich, daß es in diesem Text um eine Gelehrten-Erzählung geht, in der kriegerische Aktivitäten keine Rolle spielen. Mit dem Text von Meir b. Simon aus Narbonne teilt er den Hinweis auf die Dreiteilung der Stadt durch Karl, aber der Grund für den jüdischen Anteil an Narbonne liegt diesmal in Karls Interesse an der Entwicklung der jüdischen Gelehrsamkeit, die er durch die Ansiedlung eines gelehrten und mächtigen Juden aus Bagdad, dem wichtigsten Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit der Zeit, fördern will.79 Dabei geht der Text davon aus, daß Karl den abbassidischen Kalifen um die Übersendung eines „seiner Juden" bat, „vom königlichen Samen, aus dem Hause Davids", also eines Vertreters der jüdischen Oberschicht, die in Bagdad die Belange der zahlreichen jüdischen Bevölkerung des Kalifenreiches beim Hofe vertrat. Ein „Oberhaupt des Exils" (Exilarch) genannter Vertreter der jüdischen Gemeinden trat in Bagdad mit dem Anspruch auf, aus dem Hause Davids zu stammen. Der Text setzt bei Karl nicht nur den Wunsch nach der Förderung jüdischer Positionen in seinem Reich, sondern auch ein Verständnis dieser Machtverhältnisse voraus. Indem Rabbi Makhir in eine Genealogie von Gelehrten eingebunden wird, macht der Text seinen jüdischen Lesern deutlich, daß es sich bei dem Abkömmling aus dem davidischen Königshaus nicht nur um einen potentiell konkurrierenden Machtfaktor zur nichtjüdischen Obrigkeit, sondern um einen in das mittelalterliche jüdische Wertesystem der Gelehrsamkeit gehörigen „Weisen" handelt, der dann über Generationen hinweg die rabbinische Gelehrsamkeit in Narbonne förderte. Zur Gelehrsamkeit gehört hier auch die Tatsache, daß einer seiner Nachfahren (Todros) als liturgischer Dichter auftritt, also Gelehrsamkeit

74 75 76 77

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Aramäisch für Rabbi. Vgl.Anm.44. Vgl. Anm. 52. So auch bei den folgenden Vorkommen des Titels ,Fürst'. Hier ist der hebräische Text des einzigen Manuskripts verderbt, die Übersetzung folgt der Emendation des Herausgebers. Übersetzt aus dem hebräischen Original, ediert bei Neubauer [Anm. 37], S. 100-101. Eine französische Übersetzung findet sich ebenda, S. 103-104, und teilweise bei Grabois [Anm. 8], S. 12-13. Simon Schwarzfuchs: Études sur l'origine et le développement du Rabbinat au Moyen Age. Paris 1957, S. 7-16, versucht einen historischen Kern in dieser Erzählung zu finden, indem er auf die Einwanderung als Voraussetzung fur die Gründung von rabbinischen Akademien verweist. Dieser Prozeß, den Gelehrten der Gemeinde einer bestimmten Region eine rechtsentscheidende Reputation zuzuweisen, wie er sich etwa an der Fülle angefragter Rechtsgutachten ablesen läßt, ist aber sicher komplexer.

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Literatur

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mit Sprachgewalt verbindet und traditionelles Gelehrtenwissen für den synagogalen Bereich so formuliert, daß Poesie und Belehrung sich die Waage halten. Der Text nennt keinen weiteren Grund für Karls Kontakte zum abbassidischen Kalifen. Die in der christlichen Tradition genannten Gründe wie etwa, die Pilger in Jerusalem zu schützen, aber auch der historische Wunsch, einen Elefanten zu besitzen, finden keine Erwähnung. Nur der Wunsch nach einem Mitglied der davidischen Königsfamilie im karolingischen Reich wird genannt. Entgegen der möglichen Annahme, daß Karl sich mit einem Nachfahren des biblischen Königs, nach dem er am Aachener Hof selbst David genannt wurde, schmücken und diesen an seinen Hof aufnehmen wolle, weist Karl dem aus Bagdad eintreffenden Gelehrten eine, so die ahistorische Erzählung, frisch eroberte Stadt am Rande seines Reiches als Wohnort zu. Der aus Sicht der Juden von Narbonne geschriebene Text benötigt hierfür keine Erklärung, geht es doch um die Begründung der besonderen Stellung der jüdischen Gemeinde von Narbonne. Unabhängig also von der Frage, wie viele Juden sich schon vorher dort befunden haben - von ihrer Existenz geht der Text aus - geht es darum, die Besonderheit dieses .Standorts' jüdischer Gelehrsamkeit und jüdischen Reichtums hervorzuheben. Karl handelt in diesem Text nur insofern aus den Interessen des karolingischen Königshauses heraus, als angenommen wird, daß seine Förderung eines jüdischen Gelehrten dem Wohle des Königreichs dient, eher aber im Interesse der jüdischen Gemeinde von Narbonne, deren Wertesystem er übernimmt. Er wird auf die Funktion reduziert, einen wichtigen Gelehrten, dessen Ansiedlung in Narbonne zu erklären ist, , angeworben' zu haben. Die Nennung von Namen in diesem Text deutet daraufhin, daß er sich an ein Publikum richtet, dem diese Namen und die dahinterliegende Genealogie, aber auch der Ruf der genannten Gelehrten, bekannt sind. Von den Nachfahren des Rabbi Makhir werden vor allem Qalonymos der Große und Todros genannt. Der im Languedoc sehr seltene jüdische Name Qalonymos ist für die jüdische Geschichte mit einem anderen Kaiser verbunden. So ist in einer lateinischen Quelle überliefert, daß Otto II. einen Juden namens Qalonymos aufgrund eines besonderen Ereignisses in seinen Troß aufnahm. Thietmar von Merseburg80 schreibt in seiner Chronik über die Rettung von Otto nach der verlorenen Schlacht gegen die Araber bei Kap Colonne am 13. August 982: Imperator autem cum Ottone prefato caeterisque effugiens ad mare venit, vidensque a longe navim Salandriam nomine, Calonimi equo Iudei ad eam properavit. Sed ea preteriens suscipere hunc recusavit. Ille autem littoris presidia petens invenit adhuc Iudeum stantem, seniorisque dilecti eventum sollicite exspectantem.8' (Aber als der Kaiser Otto mit den anderen vor dem Schicksal fliehend zum Meer kam, sah er von Ferne ein Schiff, das Salandria genannt wird, und er eilte auf es zu auf dem Pferd des Juden Qalonymos. Aber man weigerte sich, ihn aufzunehmen, als er es erreichte. Jener [der

80 81

Bischofvon Merseburg 1009-1018. MGH SS III, S. 765.

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Kaiser] aber, den Schutz der Küste verlangend, fand den noch immer dort stehenden und besorgt das Geschick seines geliebten Herrn erwartenden Juden.) D i e Erzählung erinnert an die von Meir b. Simon aus Narbonne erzählte Episode über Karl den Großen, der bei der Eroberung v o n Narbonne durch einen namenlosen Juden gerettet wurde. Ungewöhnlich ist die namentliche Benennung des Juden in Thietmars Chronik. Qalonymos ist ein in Italien häufig verwendeter jüdischer Name, der auch zur Bezeichnung einer der einflußreichsten jüdischen Familien des Rheinlands dient. Daß die Qalonymiden aus Italien eingewandert waren, wußte bereits R. Salomo b. Isaak (Raschi) im 11. Jahrhundert, als er schrieb: „Rabbi Qalonymos der Alte aus Rom kam nach Mainz und gründete dort eine Akademie." 8 2 Zwei hebräische Quellen überliefern die Geschichte der Einwanderung der Qalonymiden ins Rheinland im Zusammenhang mit Karl dem Großen. Sie scheinen Thietmars Erzählung nicht zu kennen und geben keinen kriegerischen Grund für die Anwerbung der jüdischen Aussiedler an. Die Erzählweise unterscheidet sich in den beiden Texten ein wenig, zumal die Episode in verschiedenen Kontexten erzählt wird. In einem in vielen Handschriften überlieferten Gebetskommentar, der El'asar b. Jehuda aus Worms (12./13. Jahrhundert) zugeschrieben wird, heißt es: Ein Gelehrter empfing vom anderen das Geheimnis der Gebetsanordnung und die anderen Geheimnisse, bis zu Abu Aaron, dem Sohn von Samuel dem Fürsten,83 der wegen einer Begebenheit aus Babylonien auswandern mußte und genötigt war, im Lande hin und her zu streifen.84 Er kam in die Lombardei, in eine Stadt namens Lucca, und dort fand er Rabbenu85 Moses, der ,Die Furcht Deiner Wundertaten'86 gedichtet hat, und überlieferte ihm alle seine Geheimnisse. Dies war Rabbenu Moses bar Qalonymos ben Rabbenu Meschullam ben Rabbenu Qalonymos ben Rabbenu Jehuda.87 Er war der erste, der aus der Lombardei auswanderte. Ihn und seine Söhne, Rabbenu Qalonymos und Rabbenu Jequti'el, und seinen Verwandten Rabbenu Iti'el und andere wichtige Menschen brachte der König Karl mit sich aus der Lombardei und siedelte sie in Mainz88 an.8'

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88 89

Übersetzt aus dem hebräischen Original nach I. Elfenbein (Hg.): Teschuvot Raschi. New York 1941, Responsum 41. Vgl. Anm. 52. Abu Aaron aus Bagdad wird auch in der süditalienischen Familienchronik „Megillat Achima'az" (Benjamin Klar: Megillat Achima'az. Hu Sefer Juchasin le-Rabbi Achima'az birabbi Palti'el. Jerusalem 21973) überliefert und wird ins frühe 9. Jahrhundert datiert. Er kam aus dem abbassidischen Bagdad zunächst nach Süditalien, später möglicherweise auch in die Lombardei, wo er esoterisches Wissen an ausgewählte jüdische Gelehrte weitergab. Wörtlich: ,unser Meister/Lehrer'. Liturgische Dichtung, die im Rheinland am Versöhnungstag, dem höchsten jüdischen Feiertag, in der Synagoge vorgetragen wurde. In diesem langen Patronym werden sowohl der aramäische Begriff bar und der hebräische Begriff ben für ,Sohn von' verwendet. Diese Vermischung findet sich in mittelalterlichen hebräischen Texten aus dem Rheinland und Nordfrankreich häufig. Der hebräische Text transkribiert als Magenza. Übersetzt aus dem hebräischen Original nach dem Wiederabdruck in Avraham Grossman:

Zum Bild Karls des Großen in der hebräischen Literatur

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Im Kontext von El'asar b. Jehudas Gebetskommentar, der auch esoterische Elemente enthält, ist die Autorisierung seiner Auslegungen durch eine möglichst lange und gelehrte Tradierungskette von Bedeutung. Daher werden die ersten Auswanderer ins Rheinland, von denen El'asar sein esoterisches Wissen ableitet, in die Nachfolge von Abu Aaron gestellt, der in den babylonischen Akademien gelernt hatte. Die vier Generationen zurückreichende Genealogie (Moses, Sohn von Qalonymos, Sohn von Meschullam, Sohn von Qalonymos, Sohn von Jehuda) weist den ersten Auswanderer als Mitglied einer angesehenen und traditionsreichen Familie aus. Gleich der erste in der genealogischen Reihe wird als Verfasser einer bedeutenden liturgischen Dichtung zum höchsten jüdischen Feiertag hervorgehoben. In einem Rechtsgutachten von Salomon Luria (Polen, 16. Jahrhundert) lautet die gleiche Erzählung: Alle diese heiligen Frommen stammen von Rabbenu Meschullam dem Großen ben Rabbenu Qalonymos ben Rabbenu Moses dem Alten ab, der Rabbi Chananel und Rabbi Qalonymos zeugte und Rabbenu Iti'el und Rabbenu Jequti'el aus Speyer. Rabbenu Moses der Alte ist es, der ,Die Furcht Deiner Wundertaten' gedichtet hat. Er ist Rabbenu Moses der Alte ben Rabbi Qalonymos ben Rabbenu Jequti'el ben Rabbenu Moses ben Rabbana90 Meschullam ben Rabbana Iti'el ben Rabbana Meschullam seligen Angedenkens. Und den Rabbenu Moses brachte der König Karl mit sich aus dem Land Lucca im Jahre 849 nach der Zerstörung des Tempels, der bald, in unseren Tagen, wiederaufgebaut werden möge.91

In beiden Texten wird „der König Karl" erwähnt, der jüdische Gelehrte aus Lucca ins Rheinland brachte, und gemäß den jüdischen Interessen wird hier die Gelehrtendynastie der Qalonymiden ausfuhrlicher beschrieben als der Akt der durch Karl initiierten Auswanderung. Die Häufung des Titels Rabbenu (unser Meister) und die Angabe der ausführlichen Genealogie - in der Version von Salomo Luria auch die Verwendung des aramäischen Titels Rabbana, der archaisch wirken soll - dienen als Beleg für die Wichtigkeit der von Karl ins Rheinland gebrachten Gelehrten, die die rheinischen Gelehrtenschulen in Mainz, Worms und Speyer begründeten. Der Verweis, daß Rabbenu Moses b. Qalonymos eine bekannte liturgische Dichtung verfaßt hat, dient zur Steigerung seines Ansehens, denn es weist seine Gelehrsamkeit und seine Vertrautheit mit alten Traditionen nach, wie sie in der liturgischen Poesie verwendet werden. Nach diesen Texten lernte Karl der Große während seines Aufenthaltes in Italien einzelne Juden kennen, die er in seinen Troß aufnahm und ins Frankenreich mitbrachte, wo er, El'asar von Worms zufolge, ihnen selbst einen Siedlungsort zuweist. Er wählt „wichtige Menschen"

90 91

The Early Sages of Ashkenaz. Their Lives, Leadership and Works (900-1096) [hebr.]. Jerusalem 1988, S. 31. Aramäisch fflr ,unser Meister/Lehrer'. Übersetzt aus dem hebräischen Original nach dem Wiederabdruck in Grossman [Anm.89], S. 31. Zu ausführlichen Diskussionen der historischen Implikationen dieser Texte, auch der Jahreszahl, die ca. 919 n. Chr. entspricht, siehe dort, S. 29-44, sowie die dort angegebenen Veröffentlichungen.

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aus, u m in seinem R e i c h gelehrte Juden anzusiedeln. Wirtschaftliche Interessen werden, dem jüdischen Wertesystem entsprechend, nicht erwähnt. Der

fiktionali-

sierte Karl, den El'asar b. Jehuda aus W o r m s beschreibt, war in der Lage, die Gelehrsamkeit der v o n ihm ausgewählten Juden zu erkennen, verfugte also nicht nur über Interesse an Gelehrsamkeit und den Wunsch, jüdische A k a d e m i e n in seinem Reich z u gründen, sondern auch über hinreichend Kenntnisse, u m G e lehrte zu erkennen und anzuerkennen, 9 2 aber ein persönlicher B e z u g zu den j ü dischen Gelehrten, w i e er in den beiden Erzählungen aus Narbonne überliefert ist, die v o n persönlichen Schutzrechten ausgehen, ist nicht erkennbar. Eine weitere Erwähnung v o n Karl d e m Großen findet sich in der Chronik „Tal des Weinens" ( „ E m e k haBakhah") des in Italien lebenden jüdischen Gelehrten spanischer A b s t a m m u n g J o s e f haKohen ( 1 4 9 6 - 1 5 7 5 ) , der in seiner Chronik der jüdischen Geschichte v o n der Zerstörung des Zweiten T e m p e l s ( 7 0 n. Chr.) bis ins 16. Jahrhundert vor allem eine Geschichte der Leiden und V e r f o l g u n g e n schrieb, in die er vereinzelt Episoden einfügte, die das j e w e i l i g e Aufblühen der verschiedenen G e m e i n d e n beschreiben oder begründen. Karl d e m Großen w i d met er einen e i g e n e n Absatz: Im Jahre 4570 (810)93 kämpften die Christen und die Mauren94 miteinander und Männer emporragenden Wuchses wurden niedergestreckt, und auch für Israel' 5 war damals eine Zeit der Noth. Es flohen nämlich zahlreiche Juden vor dem Schwerte aus Deutschland nach Spanien und England, und viele Gemeinden, die zu fliehen gezögert hatten, heiligten durch ihren Tod den Gott Israels, 96 indem sie es verschmäheten, von ihm zu weichen, und so blieb in Deutschland kaum ein Überrest oder Flüchtling97, am Tage des göttlichen Zornes. Indeß erbarmte sich der Herr des verbliebenen Restes und schickte Carl d. Großen, 9 ' Kaiser von Frankreich,99 dorthin, und es unterwarfen sich ihm die Völker. Er brachte aus Rom den aus Lucca stammenden Kalonymos mit, führte die übrig gebliebenen Israeliten nach Deutschland zurück, sammelte die Zerstreuten Jehuda's und schloß mit ihnen einen Bund. Damals wurden 92

Vgl. wiederum die in Frankreich lange verbreitete Legende, die Karl den Großen als Gründer der Pariser Universität ausweist.

93

Die christliche Zählung ist im hebräischen Text enthalten. Alle Anmerkungen zur hier wiedergegebenen Übersetzung des hebräischen Originals von M. Wiener sind von E. Hollender.

94

Der hebräische Text verwendet wiederum die Bezeichnung Jischma 'elim, vgl. Anm. 22.

95

Der hebräische Text hat Jakob als eine aus der Bibel und der Sprache der liturgischen Poesie bekannte Ersatzbezeichnung für Israel.

96

.Heiligung Gottes' oder .Heiligung des göttlichen Namens' (Qiddusch haSchem) ist eine nach 1096 üblich gewordene Bezeichnung für jüdisches Martyrium. Josef haKohen projiziert hier sprachlich und inhaltlich aus der späteren Erfahrung in die karolingische Zeit, aus der keine gewaltsamen Christianisierungsversuche oder Judenverfolgungen belegt sind. Für eine ausführliche und differenzierte Analyse der Vorstellung von .Martyrium' im mittelalterlichen Judentum und einen Vergleich mit der christlichen Auffassung vgl. Simha Goldin: The Ways of Jewish Martyrdom [hebr]. Lod 2002.

97

Vgl. Jer 42,17. In der deutschen Übersetzung fehlt die hier zudem gegebene biblische Formulierung „und eine Mutter wird über ihren Söhnen zerrissen", Zitat aus Hos 10,14.

98

Die hebräische Transkription ergibt als mögliche Aussprache Karlo Manjo, wohl entsprechend dem italienischen .Carlo Magno'. Der hebräische Text hat .den Kaiser, König von Tsarphat'. Vgl. Anm. 42.

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Zum Bild Karls des Großen in der hebräischen

Literatur

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Akademien für die Gotteslehre in Deutschland, wie sie ehedem bestanden, gegründet, und der genannte R. Kalonymos stand ihnen vor, was ihnen Gott zum Guten gedenken möge! Auch in Italien waren die Juden ihres Lebens um diese Zeit überdrüßig geworden, aber Carl der Große stand ihnen bei. Gedenke ihm dies, o Gott, zum Guten und führe auch ferner ihren Streit.'00

Der unter Verwendung vieler biblischer Begriffe - die hier nur teilweise beispielhaft an der Übersetzung von M. Wiener angemerkt wurden - verfaßte Text fügt der Rolle Karls in den hebräischen Quellen einen weiteren Aspekt hinzu: Karl schafft Sicherheit für die jüdischen Gemeinden, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, was zur Gründung oder Neugründung der Akademien führt, wie sie auch in den früheren hebräischen Quellen beschrieben wird. Sein Bild gewinnt damit in dieser späten hebräischen Erzählung101 eine Kombination aus dem kriegerischen Aspekt und der Funktion als Friedensschaffer im ganzen Reich, die das christliche Karlsbild mitbestimmt, ohne daß dabei der Bezug zur jüdischen Gelehrsamkeit verloren geht. Karl der Große ist in allen vorgestellten hebräischen Texten eher eine Nebenfigur in der Begründung von Gelehrtentraditionen an bestimmten Orten, aber in diesem Text ist sein Bezug zum Judentum enger: Er wird als mächtiger Krieger von Gott zur Rettung der Juden gesandt und verdient sich damit das besondere Gedenken Gottes und die Fürsprache der Juden. Die verwendeten biblischen Begriffe und Anspielungen stellen Karl den Großen in die sprachliche Tradition der Propheten, aus deren Reden viele der verwendeten Begriffe zusammengestellt sind, die hier die Rückführung der Juden nach Deutschland beschreiben. Bundesschlüsse sind biblisch belegt zwischen Gott und Israel, seltener zwischen einem König und seinem Volk. Eine biblische Parallele für das Verhältnis von Gott zu einem nichtjüdischen König scheint sich zu Kyros zu ergeben, dem persischen König, der von Gott dazu ausersehen wurde, das babylonische Exil zu beenden und das Volk Israel wieder in das eigene Land zu schicken, wo der Zweite Tempel unter Esra erbaut wurde (vgl. Esr 1). Wenn Karl der Große hier einen Bund mit den rheinischen Juden schließt, so ist dies einerseits ein Schutzbund, andererseits wird der ihm zugewiesene göttliche Auftrag durch diesen Ausdruck noch einmal betont. Der Zufall der Überlieferung102 stellt für einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten nur fünf hebräische Textzeugen zur Verfügung, in denen Karl der Große in der mittelalterlichen hebräischen Literatur Erwähnung findet. Die Texte unterscheiden sich zudem in ihrem Entstehungsort und ihrer Textgattung. So 100

101

102

Übersetzung von M. Wiener: Emek habacha von R. Joseph ha Cohen. Leipzig 1858, S. 8. Meine Anmerkungen im Text beziehen sich auf die hebräische Ausgabe: M. Lettens (Hg.): Emek haBakhah. Krakau 1895, S. 23. Grabois [Anm. 8], S. 36-37, möchte als Quelle für diese Erzählung jüdische Traditionen aus dem 13. Jahrhundert annehmen, die Josef haKohen entweder schriftlich vorgelegen hätten, heute aber nicht erhalten seien, oder die bis ins 16. Jahrhundert mündlich überliefert worden seien. Allgemein anerkannt ist, daß Josef haKohen für sein Werk auch aus christlichen Chroniken schöpfte, er formulierte aber auch einige Episoden unabhängig von seinen Quellen. Vgl. Anm. 7.

200

Elisabeth

Hollender

schlägt sich in den Texten aus dem Rheinland nieder, daß in ihnen die „Jischma'eliten" keine Rolle spielen, während die Texte, die im oder am Rande des muslimischen Herrschaftsbereich entstanden sind, diese als Feinde Karls einführen. Vertreten ist eine polemische Schrift, die jüdische Rechte dadurch zu verteidigen sucht, daß sie diese Rechte auf Karl den Großen zurückführt. Bei den beiden Chroniken muß berücksichtigt werden, daß es sich in dem einen Fall um den nur in einer Handschrift belegten Einschub mit lokalgeschichtlichem Interesse handelt, in dem anderen Fall um eine viele Jahrhunderte nach den Ereignissen geschriebene Chronik, deren Hauptperspektive die .Leidensgeschichte im Exil' ist. Die beiden Genealogien zeigen für zwei unterschiedliche Bereiche Interesse daran, durch die Genealogie die Autorität der jeweiligen Überlieferung zu untermauern, einerseits den teils esoterischen Kommentar zur Liturgie, andererseits ein Rechtsgutachten. Während es durchaus sein kann, daß die unterschiedlichen Textgattungen und Interessen der Autoren die Akzentuierung auf das Kriegerische oder auf die Förderung des Akademischen im Karlsbild zur Folge haben, ist es doch bemerkenswert, daß Karl der Große überhaupt aus der sonst oft anzutreffenden Anonymität hebräischer Texte, wenn sie die nichtjüdische Obrigkeit beschreiben, heraustritt. Oft wird diese Obrigkeit global als judenfeindlich gesehen und mit Antonomasien (Edom, Rom) bezeichnet. Dagegen werden Karl dem Großen Episoden, soweit sie für uns historisch faßbar sind oder zumindest ansatzweise zugeordnet werden können, zugeschrieben, die sich sowohl vor als auch nach seiner Regierungszeit abgespielt haben. Er wird zum namentlichen Vertreter der nichtjüdischen Welt in einer grundlegend positiv beurteilten Periode der jüdischen Geschichte. Wieweit sich die jüdischen Autoren dabei christlicher Quellen bedienten oder mündliche Traditionen aufgriffen, die auch in christlichen Dokumenten ihren Niederschlag gefunden haben, läßt sich aufgrund der dünnen Quellenlage nicht entscheiden. Daß es Verbindungen gegeben hat, zeigen einzelne inhaltliche Parallelen mit der christlichen Karlsliteratur des Hochmittelalters. Trotz der analogen Motive - und hier kommt die Darstellung aus dem 16. Jahrhundert dem christlichen Gesamtbild noch am nächsten - bleibt doch festzuhalten, daß die jüdischen Darstellungen Karl den Großen nachhaltig und erfolgreich ins jüdische Geschichts- und Bildungsverständnis einfügen. Karl der Große forderte diesem Bild zufolge die jüdische Gelehrsamkeit sowohl im Westen des Frankenreiches als auch am Rhein. Er hatte ein genuines Interesse am Ausbau der jüdischen Gemeinden in seinem Herrschaftsbereich. So hebt er sich von den in der hebräischen Literatur zumeist anonym auftretenden christlichen Herrschern über die Juden des Mittelalters positiv ab.103 103

Weitere Kenntnisse über Karl den Großen und ein der deutschen Literatur der Zeit ähnlicheres Karlsbild sind erst in der jüdischen Literatur der Frühen Neuzeit belegt, als Juden in Deutschland deutsche Bücher rezipierten. So erzählt Glückel von Hameln (1645-1724) in ihren jiddischen Memoiren von Karls erfolgloser Werbung um Irene, Kaiserin von Byzanz, die sie als Mission für Frieden und Einheit in der Welt darstellt. Vgl. Glückel von Hameln: Die Memoiren, aus dem Jüdisch-Deutschen von Berta Pappenheim. Nachdruck Weinheim 1994, S. 87-89.

Alexander

M.

Schilling

Karl der Große in der arabischen Historiographie: Eine Spurensuche

A u f eine ähnlich breite Resonanz, wie sie Karls Pyrenäenfeldzug des Jahres 7 7 8 oder seine Gesandtschaften der Jahre 7 9 7 - 8 0 7 zum Kalifen Harun ar-Rashid 1 in den europäischen Literaturen des Mittelalters hinterlassen haben - man denke etwa an den Legendenzyklus, der sich an die Gestalt des Markgrafen Roland geknüpft hat, oder an die Sage v o n Karl als Jerusalempilger und Beschützer des Heiligen Landes

kann die arabische Literaturgeschichte nicht verweisen. Ganz

im Gegenteil: Zeugnisse für die diplomatischen Beziehungen Karls zu Harun arRashid fehlen in den arabischen historiographischen Texten vollständig 2 und sind zur Rolle Karls während der Belagerung der Stadt Zaragoza nur spärlich vorhanden. 3 Das entgegengesetzte Verhältnis ist bei der Anzahl der selbständigen Publikationen von orientalistischer Seite festzustellen 4 - Ausdruck eines Mißverhältnisses, 1

Aus technischen Gründen verwende ich im folgenden eine vereinfachte Transkription arabischer Eigennamen und Begriffe. Nach der Reihenfolge des arabischen Alphabets ergibt sich folgendes Schema: ' b t th j h k h d d h r z s s h s d t z 'gh f q k l m n h w y . Vokalquantitäten bleiben unbezeichnet. Hinweise zur Aussprache: ' entspricht im Deutschen dem Stimmansatz (,Urahn' im Gegensatz zu ,Uran'), ' einem stimmhaften Pharyngal (ohne Entsprechung in einer europäischen Sprache), th entspricht einem harten Reibelaut (wie in Englisch ,thing'), dh einem weichen Reibelaut (wie in englisch ,the') sh entspricht Deutschem ,sch',y Deutschem ,dsch', gh einem im Gaumen gerollten, r einem mit der Zunge gerollten ,r'. Die Abkürzung AH (Anno Hegirae) soll die dem Mondkalender folgende muslimische Zeitrechnung kennzeichnen, die mit dem Jahr der „Flucht" des Propheten von Mekka nach Medina 622 AD (Anno Domini) einsetzt. Als weitere Abkürzungen verwende ich: EI2 : Encyclopedia of Islam. New édition, hg. von Hamilton A. R. Gibb u.a., 11 Bde., Leiden 1960-2002.

2

Zuletzt konstatiert von Klaus Bieberstein: Der Gesandtenaustausch zwischen Karl dem Großen und Harun ar-Rashid und seine Bedeutung für die Kirchen Jerusalems. In: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 109 (1993), S. 152-173, hier S. 152. Ersichtlich schon bei Ramón Menéndez Pidal: La Chanson de Roland et la tradition épique des Francs. Deuxième édition revue et mise à jour par l'auteur avec le concours de René Louis et traduite de l'espagnol par Irénée-Marcel Cluzel. Paris 1960, hier S. 521-532 (.Appendice historiographique"). In der hispanoarabischen Epik und Lyrik (vgl. Juan Vernet: La cultura hispanoárabe en oriente y occidente. Barcelona 1978, S. 272-341 [deutsche Übersetzung unter dem Titel: Die spanisch-arabische Kultur in Orient und Okzident. Zürich, München 1984, hier S. 290-377]) spielt Karl der Große offenbar keine Rolle.

3

4

Dieselbe Situation ist auch in den einschlägigen Lexika zu konstatieren, wenige Bemerkungen zu Karl und Harun ar-Rashid finden sich bei Bernard Lewis: Art. „Ifranj", in: EI2 [Anm. 1], Bd. 3,S. 1044-1046. Aus der Masse der Literatur über Karl und Harun ar-Rashid seien hervorgehoben (einen vollständigen Überblick gibt Bieberstein [Anm. 2], S. 152, Anm. 2): Francis W. Buckler: Harunu'l-Rashid and Charles the Great. Cambridge, Mass. 1931; Giosuè Musca: Carlo Magno ed Harun al Rashid. Bari 1963; Michael Borgolte: Der

202

Alexander M. Schilling

das es ins Lot zu bringen gilt. Dazu möchte ich wie folgt vorgehen: Zunächst werde ich alle erreichbaren, mir entweder durch Hinweise aus der Sekundärliteratur oder Quellenstudium bekannt gewordenen Zeugnisse arabischer Autoren zu Karl dem Großen in Übersetzung vorfuhren, Hilfen für das Verständnis der Texte beigeben und, soweit möglich, ihre Aussagekraft in bezug auf die Person Karls des Großen bewerten. Sodann will ich den Fragen nachgehen, in welchen literaturgeschichtlichen Kontext diese Texte einzuordnen sind und ob sich aus ihnen eine Entwicklung in der Wahrnehmung Karls des Großen bei den Arabern ableiten läßt. Der „Kitab ta'rikh al-ifranj"5 (Buch von der Geschichte der Franken) des Historikers, Arztes und Politikers Rashid ad-Din Tabib (gest. 1318 AD), 6 eigentlich ein Auszug aus seinem monumentalen Geschichtswerk „Jami" at-tawarikh" (Sammlung der Chroniken), ist nur in persischer Sprache erhalten und gehört strenggenommen nicht zur arabischen Literatur. Doch hat sein Herausgeber Karl Jahn daraufhingewiesen, daß Rashid ad-Din Tabib für eine Übersetzung ins Arabische gesorgt haben dürfte - allerdings haben sich davon keine Spuren erhalten.7 Rashid ad-Din Tabib leitet seine Frankengeschichte mit einem landeskundlichen Überblick ein und behandelt dann die Reihenfolge der Kaiser, von Augustus bis Albrecht I. von Habsburg (1298-1308), und der Päpste, von Petrus bis Benedikt XI. (1303-1304). Seinen Ausführungen liegt das Exzerpt einer lateinischen Quelle zugrunde, bei der es sich, Karl Jahn zufolge, um einen dem „Chronicon Pontificum et Imperatorum" des Martin von Troppau (gest. 1278) verwandten

Gesandtenaustausch der Karolinger mit den Abbasiden und mit den Patriarchen von Jerusalem. München 1976 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 25). Für Karls Pyrenäenfeldzug sind von orientalistischer Seite vor allem die alten Handbücher einschlägig geblieben, etwa Reinhard Dozy: Histoire des musulmans d'Espagne 711-1110. Leiden 1861,nouvelleeditionrevueet mise àjour par Évariste Lévi-Provengal. Leiden 1932 (3 Bde.), hier Bd. 1, S. 241-246; Évariste Lévi-Provenfal: Histoire de l'Espagne musulmane. Paris, Leiden 1950-1951 (3 Bde.), hier Bd. 1, S. 118-129; Roger Collins: The Arab Conquest of Spain 710-797. Oxford 1989, 2 1994, S. 175-180; zuletzt Chalmeta [Anm. 35], S. 366-380. Anders als es die Titel vielleicht vermuten lassen, sind die Arbeiten von Georg Jacob: Arabische Berichte von Gesandten an germanische Fürstenhöfe aus dem 9. und 10. Jahrhundert. Berlin, Leipzig 1927, und Heinz-Joachim Graf: Orientalische Berichte des Mittelalters über die Germanen. Eine Quellensammlung. Krefeld 1971, zu Karl dem Großen nicht ergiebig. 5

6

7

Die Frankengeschichte des Rashid ad-Din. Einleitung, vollständige Übersetzung, Kommentar und 58 Texttafeln, hg. von Karl Jahn. Wien 1977 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften 129 = Veröffentlichungen der Iranischen Kommission 4). Zur Gedankenwelt des Autors vgl. Josef van Ess: Der Wesir und seine Gelehrten. Zu Inhalt und Entstehungsgeschichte der theologischen Schriften des Rashiduddin Fazlullah (gest. 718/1318). Wiesbaden 1981 (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes 45.4). Allgemeines bei David O. Morgan: Art. „Rashid al-Din Tabib", in: EI2 [Anm. 1], Bd. 8, S. 443^144. Jahn [Anm. 5], S. 23-24. Zur persischen Wirkungsgeschichte vgl. Lewis, Mas'udi [Anm. 13], S. 10, Anm. 3.

Karl der Große in der arabischen

Historiographie

203

Text gehandelt haben muß.8 Der Karl den Großen betreffende Ausschnitt lautet bei Rashid ad-Din Tabib in der Übersetzung von Karl Jahn folgendermaßen:9 Geschichte des Kaisers Karulus (Carolus). Als Kaiser Leo [Constantinus VI.] starb, erhob der damalige Papst jenen Carolus, welcher der Rey d'Ifrans war, zum Kaiser und setzte ihn in Rom auf den Thron, weil er ihm bei der Vertreibung des Königs der Lombardei beigestanden hatte. Er regierte 14 Jahre und hielt die Muslime vom Frankenlande fern. Er brachte auch die Dornenkrone des Messias aus Jerusalem nach Rom.

Bei einem Vergleich mit der lateinischen Vorlage10 fallt auf, daß Rashid ad-Din Tabib mit dem Frankenlande (frangistan) nicht, wie man zunächst meinen könnte, das Gebiet des heutigen Frankreich mit seiner Grenze zum muslimischen Spanien, sondern offensichtlich die Kreuzfahrerstaaten im Heiligen Land vor Augen hatte - zur Bezeichnung der Kreuzfahrer verwendeten ihre muslimischen Kontrahenten gewöhnlich den Begriff ,Ifranj'." Ganz mit den Augen seines Gewährsmannes sieht Rashid ad-Din in Karl dem Großen einen Kreuzfahrer. Nicht zuletzt die Buchstabenkombination, die Rashid ad-Din Tabib zur Umschrift des Namens Karl verwendet hat (K'rlws), zeigt, daß er von einem älteren, noch vor den Kreuzzügen entstandenen Text mit Nachrichten zur Person Karls des Großen unabhängig ist: Der Geograph al-Mas'udi, einer der am vielseitigsten interessierten Männer seiner Zeit (gest. 956),12 hatte in seine „Muruj adh-dhahab"13 (Goldprärien) einen etwa drei Druckseiten umfassenden Passus zur Geschichte der 8

9 10

Jahn [Anm. 5], S. 15: „Als Arbeitshypothese empfiehlt es sich [...] von Martinus' Werk [als Quelle für die Frankengeschichte Rashid ad-Dins] auszugehen, weil es in seiner Vollständigkeit beinahe in Rashid ad-Dins Zeit hineinreicht und weil man hierin noch am ehesten seinen Angaben begegnet." Rashid ad-Din Tabib [Anm. 5], Tafel 52 Z. 32-35 (Text), S. 77 (Übersetzung). Martinus Oppavensis, Chronicon Pontificum et Imperatorum, hg. von Ludwig Weiland. Hannover 1872 (MGH SS 22), S. 397-475, hier S. 461 Z. 29-S. 462 Z. 9: Karolus I. ma-

gnus imperator [...] imperavit annis 14 mense 1. diebus 4 [...] precibuspape Adriani vocatus fuit et obsedit Longobardos in Papia, [...] veniens Romam [...]£/[...] factus est imperator. [.. ,]percipiens Terram Sanctam occupatam a Sarracenis [...] illuc usquepervenit et recuperata terra, cum per Constaninopolim rediret, [...] recepit de corona Domini partem [...].(Karl I. der Große. Als Kaiser [...] regierte er 14 Jahre, 1 Monat, 4 Tage [...]. Auf Bitten des Papstes Hadrian wurde er [zu Hilfe] gerufen und belagerte die Langobarden in Pavia [...]; dann kam er nach Rom [...], und [...] wurde zum Kaiser gemacht. [...] Als er bemerkte, daß das Heilige Land von den Sarazenen besetzt war [...], ging er dorthin, und als er, nachdem das Land wiedererlangt worden war, über Konstantinopel zurückkehrte, [...] nahm er einen Teil der [Dornen-] Krone des Herrn in Empfang [...]). 11

Lewis [Anm. 4], S. 1045.

12

Charles Pellat: Art. „al-Mas'udi", in: EI2 [Anm. 1], Bd. 6, S. 784-789.

13

Al-Mas'udi: Muruj adh-dhahab wa-ma'adin al-jauhar. Edition Barbier de Meynard et Pavet de Courteille, hg. von Charles Pellat. Beirut 1966-1974 (8 Bde.), hier Bd. 2, S. 147 Z. 14-S. 148 Z. 3 (§ 915). Vgl. dazu Bernard Lewis: The Muslim Discovery of Europe. In: Bulletin of the School for Oriental and African Studies 20 (1957), S. 409-462, hier S. 410; ders.: Mas'udi on the Kings of the Franks. In: Al-Mas'udi millenary commemoration volume, hg. von S. Maqbul Ahmad, A. Rahman. Aligarh 1960 (Published by the Indian Society for the History of Science and the Institute of Islamic Studies, Aligarh Muslim University), S. 7-10.

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Alexander M. Schilling

Franken von Chlodwig bis Ludwig IV. (regierte 936-954) aufgenommen. 14 Zu Karl (Q 'rlh) finden sich bei al-Mas'udi folgende Informationen: Nach ihm [Qarluh ibn Qarlman, d. h. Karl, dem Sohn des Karlmann] regierte sein Sohn Pipin [Bibin]; dann regierte dessen Sohn Karl [Qarluh], Seine Regierungszeit währte 26 Jahre und fällt in die Zeit von al-Hakam, dem Herrn von al-Andalus.15 Nach ihm gerieten seine Söhne aneinander; es kam zum Streit unter ihnen, bis die Franken sich ihretwegen gegenseitig vernichteten und Ludwig, der Sohn Karls [Ludhwiq ibn Qarluh], Inhaber ihres Königtums wurde. Er regierte 28 Jahre und 6 Monate und ist deijenige, der nach Tortosa zog und es belagerte.

Die Liste der fränkischen Könige nach al-Mas'udi ist unvollständig, die Dauer der Regierungszeit Karls könnte mit einiger Phantasie auf sein italienisches regnum (seit 774) bis zur Kaiserkrönung (800) bezogen werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat al-Mas'udi nur ein Exzerpt des ihm vorliegenden Textes gegeben. Immerhin nennt er dessen Verfasser, den Bischof Godmar von Gerona (Ghudmar al-usquf bi-madina Jarunda),16 der sein Werk im Jahre 939/40 1 7 alHakam II., dem Sohn des Kalifen 'Abd ar-Rahman ibn Muhammad ibn 'Abdallah (III., regierte 912-961), gewidmet habe (ahdaha [...] Ii 'l-Hakam [...]). 1 8 AlMas'udi, der nach eigenen Angaben ein Exemplar dieses Buches in Alt-Kairo (Fustat Misr) im Jahre 947/48" vorgefunden hat,20 ist also genaugenommen zur ,orientalischen' Wirkungsgeschichte einer mozarabischen Frankengeschichte des 10. Jahrhunderts zu rechnen, deren Original verlorengegangen ist. Um einen schon vom Ort der Entstehung her anzunehmenden ,okzidentalen' Zweig von deren Rezeptionsgeschichte nachzuweisen, möchte ich mich nun einigen dafür in Frage kommenden arabischen Historiographen und Geographen des muslimischen Teils der Iberischen Halbinsel (,al-Andalus') 21 zuwenden und mich dabei auf die Autoren beschränken, von denen Karl der Große namentlich erwähnt wird.22 14 15 16

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22

Übersetzung bei Lewis, Mas'udi [Anm. 13], S. 7-10. Al-Hakam I. regierte 796-822. Godmar war vom Jahre 940 an Bischof von Gerona; vgl. Collecciö diplomätica de la Seu de Girona (817-1100). Estudi i ediciö, hg. von Ramon Marti. Barcelona 1997 (Fundaciö Noguera. Diplomataris 13), hier S. 121, Anm. 2; Urkunden aus seiner Amtszeit sind für den Zeitraum vom 25. 12. 946-31.1. 950 belegt; ebd. S. 121-127 (Nr. 77-87). 328 AH = 18. 10. 939-5. 10. 940. Lewis, Mas'udi [Anm. 13], S. 7 mit Anm. 2. Zu einer anderen Auffassung über den Wert dieser Zuschreibung und die Rezeption des Textes kommt Ann Christys: Christians in alAndalus (711-1100). Richmond 2002, hier S. 141-142. 336 AH = 23. 8. 947-10. 8. 948. Al-Mas'udi [Anm. 13], Bd. 2, S. 147 Z. 5-11 (§ 914). Über die Herkunft des Namens ist viel gerätselt worden, eine plausible, jedoch nicht allgemein akzeptierte Erklärung gibt Heinz Halm: Al-Andalus und Gothica Sors. In: Der Islam 66 (1989), S. 252-263. Zur Geschichte des islamischen Spanien eröffnet einen ersten Zugang in deutscher Sprache Ludwig Vones: Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter 711-1480. Reiche - Kronen - Regionen. Sigmaringen 1993, hier S. 23-87 (Darstellung); S. 287-290 (kommentierte Bibliographie). Eine konzise Übersicht über sämtliche Quellen gibt Chalmeta [Anm. 35], S. 29-66.

Karl der Große in der arabischen

Historiographie

205

Die anonymen „Akhbar majmu'a" (Gesammelte Nachrichten)23 müssen nach dem Jahre 940 entstanden sein, wie Berührungen zum nur teilweise erhaltenen „Mukhtasar ta'rikh at-Tabari" (Epitome der Geschichte von at-Tabari) des 'Arib ibn Sa'd zeigen,24 und gehören mit zu den ältesten vollständig erhaltenen Quellen zur Geschichte von al-Andalus. Erst im Jahre 1965 sind Fragmente des andalusischen Geographen al-'Udhri (gest. 1085) publiziert worden,25 dessen Werk offenbar in zwei Rezensionen kursierte.26 Sein biographisch-historischer Teil stellt eine Fundgrube an bisher nicht bekannten Informationen dar. Der „Fath al-Andalus", also eine Geschichte von der ,Eroberung von al-Andalus', ist spätestens im 11. Jahrhundert entstanden27 und hat in der älteren Literatur nur wenig Beachtung gefunden.28 Mit dem Kitab „al-Kamil fi't-ta'rikh" (also dem Buch von der ,Vollständigkeit in der Geschichte') des Syrers Ibn al-Athir29 (gest. 1233) setzt die Reihe der großen Kompilationen ein. Ibn al-Athir hat sich insbesondere darum bemüht, seine Quellenexzerpte in eine annalistische Form zu bringen, doch haben seine dabei entstandenen Fehler das Bild bis in die älteren Handbücher zur Geschichte von al-Andalus hinein bestimmt. Der „Dhikr bilad al-Andalus" (Beschreibung des Landes al-Andalus), eine Sammlung geographischer und historischer Informationen, gehört ins 15. Jahrhundert,30 das monumentale Geschichtswerk des Maghrebiners al-Maqqari31 gar ins 17. Jahrhundert. Alle späteren Autoren sind vor allem deswegen von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weil sie ausgiebigen Gebrauch gemacht haben von den wichtigsten älteren Historikern von al-Andalus, Ahmad ibn Muhammad ibn Musa ar-Razi (gest. nach 955 oder nach 961), dessen Sohn 'Isa (gest. etwa 989), oder 'Arib ibn Sa'd (gest. 980), deren Werke verloren sind,32 sowie von Ibn Hayyan (gest. 1076), dessen Werk bis

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„Akhbar majmu'a fi fath al-Andalus wa-dhikr amruha wa'l-hurub al-waqi'a bainahum", hg. von Muhammad Z. M. 'Azb. al-Qahira 1994. Chalmeta [Anm. 35], S. 50 mit Anm. 52. Ahmad ibn 'Umar ibn Anas al-'Udhri: Fragmentos Geográfico-Históricos, hg. von 'Abdalaziz al-Ahwani. Madrid 1965. Luis Molina: Las dos versiones de la Geografía de al-'Udhri. In: al-Qantara 3 (1982), S. 249-260 (mit der älteren Literatur zu al-'Udhri). Fath al-Andalus (La conquista de al-Andalus). Estudio y edición crítica: Luis Molina. Madrid 1994 (Fuentes Arábico-Hispanas 18). Chalmeta [Anm. 35], S. 50. Ibn al-Athir: al-Kamil fi 't-ta'rikh, hg. von Carl Tornberg. 13 Bde. Leiden 1867 (Reprint Beirut 1995). Dhikr bilad al-Andalus: Una descripción anónima de al-Andalus. Editada y traducida, con introducción, notas e índices por Luis Molina. 2 Bde. Madrid 1983. Ahmad ibn Muhammad al-Maqqari al-Tilimsani: Kitab Nafh ai-tib min ghusn al-Andalus arratib (wa-dhikr waziriha Lisan ad-Din Ibn al-Khatib). hg. von Ihsan 'Abbas. 8 Bde. Beirut 1968. Altspanisch- bzw. portugiesische Adaptationen der Chronik des Ahmad ibn Muhammad ibn Musa ar-Razi haben sich erhalten: Crónica del Moro Rasis. Versión del Ajbar Muluk alAndalus de Ahmad Ibn Muhammad Ibn Musá al-Razi, 889-955; romanzada para el rey Don Dionís de Portugal hacia 1300 por Mahomad, Alarife, y Gil Pérez, clérigo de Don Perianes Portel, hg. von Diego Catalán u. a. Madrid 1975 (Fuentes Cronísticas de la Historia de

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Alexander

M.

Schilling

lang nur teilweise ediert vorliegt. 33 N e b e n quellenkritischen Fragen hat insbesondere die historiographische Einteilung der Quellen in akhbar-

(Sing,

khabar,

wörtlich , N a c h r i c h t e n ' , , K u n d e ' ) u n d tarikh (wörtlich , Datum'-Werke) s o w i e die Frage des Zeitpunkts der Verschriftlichung dieser akhbar die Forschung beschäftigt. 34 U m im f o l g e n d e n das Verständnis der arabischen Quellen zu Vorgeschichte und Verlauf v o n Karls Pyrenäenfeldzug z u erleichtern, stelle ich eine ausfuhrliche chronologische Übersicht, die der Reorganisation der einzelnen A u s s a g e n eben dieser Quellen durch Pedro Chalmeta folgt, 3 5 meiner Neuübersetzung der Zeugnisse voran: 3 6 156 AH = 2. 12. 772-20. 11. 773: Der letzte Angehörige des Umayyadenhauses, 'Abd arRahman ibn Mu'awiya (der auf der Flucht vor den neuen Kalifen aus dem Hause der 'Abbasiden nach al-Andalus gekommen war, um seine Machtansprüche zumindest dort durchzusetzen), ernennt Badr, seinen Freigelassenen und einen seiner ältesten Gefolgsleute,37 zum Gouverneur der nördlichen Grenzgebiete (ath-thaghr) von al-Andalus.38 Badr läßt den amtieren

España 3). Von 'Arib ibn Sa'd ist nur dessen Fortsetzung (sila), nicht aber seine Epitome (mukhtasar) ediert in at-Tabari: Ta'rikh at-Tabari, hg. von Muhammad Abu Fadl Ibrahim. 11 Bde. Beirut 1967, hier Bd. 11, S. 11-157. 33

Die von Lévi-Provençal [Anm. 4], Bd. 1, S. XIV, angekündigte Edition des entsprechenden Teiles des „Muqtabis" (Ibn Hayyan: Kitab al-Muktabis fi ta'rikh ridjal al-Andalus, éd. de la partie relative aux règnes d'al-Hakam Ier et de 'Abd al-Rahman II, par Evariste Lévi-Provençal et 'Abd al-Hamid Bey al-'Abbadi, Alexandrie [sous presse]) ist niemals erschienen; vgl. Chalmeta [Anm. 35], S. 350, Anm. 2. Bisherige Editionen des urspünglich zehn Teile umfassenden „Muqtabis" bzw. „Muqtabas": (II) Ibn Hayyan al-Qurtubi: al-Muqtabis, hg. von Muhammad 'A. Makki. Beirut 1973; (III) Ibn Hayyan: al Muktabis. Tome troisième. Chronique du règne du calife umaiyade 'Abd Allah à Cordoue, hg. von Melchior M. Antuña. Paris 1937; (V) Ibn Hayyan: al-Muqtabas V, hg. von Pedro Chalmeta u. a. Madrid 1979; (VI) Ibn Hayyan: al-Muqtabis fi akhbar balad al-Andalus, hg. von 'Abdurrahman 'A. alHajji. Beirut 1965.

34

Pedro Chalmeta: Historiografía medieval hispana arabica. In: al-Andalus 37 (1972), S. 353^04; ders.: Una historia discontinua e intemporal (jabar). In: Hispania 33 (1973), S. 23-75. Deutsche Zusammenfassung der Ergebnisse von Chalmeta bei Bettina Münzel: Feinde, Nachbarn, Bündnispartner. „Themen und Formen" der Darstellung christlich-muslimischer Begegnungen in ausgewählten historiographischen Quellen des islamischen Spanien. Münster 1994 (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. Zweite Reihe, 32. Band), hier S. 4-7.

35

Pedro Chalmeta: Invasion e islamización. La sumisión de Hispania y la formación de alAndalus. Madrid 1994 (Collección al-Andalus 10), S. 367-381. Vgl. daneben Dozy [Anm. 4], Bd. 1, S. 241-246 und Lévi-Provencal [Anm. 4], Bd. 1, S. 118-129 (veraltet); Vones [Anm. 21], S. 28, Anm. 7 (mit weiterer Literatur).

36

Der bibliographische Einzelnachweis der unten vollständig übersetzten Textstellen unterbleibt hier; nur zusätzliche Informationen aus anderen arabischen und den lateinischen Quellen werden vermerkt. In den Übersetzungen kennzeichne ich erklärende Zusätze ohne Vorbild im Original in eckigen Klammern [ ]. Für seine Bereitschaft, die arabischen Texte mit mir zu diskutieren, möchte ich Khaled Radhouani, Tübingen, danken.

37

Chalmeta [Anm. 35], S. 351-352. Datierung von Ibn al-Athir [Anm. 29], Bd. 6, S. 12 Z. 3-5; al-Maqqari [Anm. 31], Bd. 3, S. 41 Z. 11 (ohne Datum). Ibn al-Athir und al-Maqqari werten die Ernennung als Relegation (nafy)\ vgl. Chalmeta [Anm. 35], S. 368, Anm. 63. Al-Maqqari benützt an dieser Stelle ausdrücklich den „Mushib" (wafi'l-mushib anna [...]; al-Maqqari [Anm. 31], Bd. 3, S. 39

38

Karl der Große in der arabischen

Historiographie

207

den Gouverneur von Barcelona und Gerona, Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi, von Zaragoza nach Cordoba schaffen. Die Gründe dafür sind unklar. 157 AH = 21. 11. 773-10. 11. 774: Sulaiman ibn Yuqzan kann sich aus Cordoba absetzen und wendet sich erneut nach Zaragoza. Dort revoltiert er offen gegen 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya. Der Revolte schließt sich Husain ibn Yahya ibn al-'Ubada al-Ansari an. (158—159 AH = 11. 11. 775-18. 10. 776 AD:)39 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya beauftragt seinen Günstling Tha'laba ibn 'Ubaid (ibn an-Nazzam al-Judhami)40 damit, die Revolte niederzuschlagen. Tha'laba ibn 'Ubaid nimmt die Stadt Tarazona - die offenbar zum Einflußbereich der Aufständischen gehört - und schlägt sein Lager vor den Toren der Stadt Zaragoza auf, um die Stadt zu belagern. Bei einem Ausfall wird er von Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi gefangengenommen. 777: Abgesandte des Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi41 reisen mit dessen Gefangenen Tha'laba ibn 'Ubaid nach Paderborn.42 Die Gesandten repräsentieren die wichtigsten antiumayyadischen Kräfte in al-Andalus: für die 'abbasidische Partei verhandelt (oder läßt verhandeln) Qasim ibn Yusuf al-Fihri - sein Bruder, Abu 'l-Aswad ibn Yusuf, sitzt zu dieser Zeit in Cordoba in Haft,43 für die yemenitische Partei ein Schwiegersohn des Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi,44 vielleicht Abu Thaur ibn Qasi, der Gouverneur von Huesca.45 Die Gesandten handeln einen Friedensvertrag mit Karl aus: Sie unterwerfen ihre Territorien der fränkischen Lehnshoheit46 und fordern dafür Waffenhilfe gegen eine zu erwartende Kampagne des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya. 778: In zwei Heeressäulen marschiert das fränkische Kontingent nach Zaragoza 47 Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi trifft mit Karl auf dem Weg nach Zaragoza zusammen. Nach erfolglosen Kämpfen gegen die befestigte Stadt machen sich die Franken auf den Rückweg48 und nehmen Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi als Geisel mit. Nachdem sie das Territorium der Muslime verlassen haben, werden sie von Matruh und 'Aishun, den Söhnen des Sulaiman ibn

39 40

41

42 43

44 45 46 47 48

Z. 21), d. h. das Werk „Kitab al-mushib fi fada'il al-maghrib" von Abu Muhammad ibn Ibrahim al-Hijari as-Sanhaji (verfaßt im Jahre 530 AH = 1135; vgl. Carl Brockelmann: Geschichte der arabischen Literatur. Erster Supplementband. Leiden 1937, S. 576), auf den diese Umdeutung der Ernennung des Badr zurückgehen mag. Chalmeta [Anm. 35], S. 368-369, muß diese Daten aus der relativen Chronologie erschließen. Die vollständige Namensform gibt al-Maqqari [Anm. 31], Bd. 3, S. 45 Z. 19-20. Die bei adDabbi, Bughyat al-multamis fi ta'rikh rijal al-Andalus, hg. von Ibrahim al-Abyari. 2 Bde. alQahira, Beirut 1989 (al-Maktaba al-Andalusia 14-15), hier Bd. 1, S. 318 Z. 3-10 (§ 608), bewahrten Auszüge aus der Biographie eines Tha'laba al-Judhami nach Ibn 'Abd al-Hakam (gest. 257 AH = 870/871) - bei Chalmeta, [Anm. 35], S. 428 [Index, zu S. 64] auf Tha'laba ibn 'Ubaid al-Judhami bezogen - handeln in Wirklichkeit von Tha'laba ibn Salama (al-'AmiIi) al-Judhami. Die arabische Überlieferung nennt keine Namen der Gesandten; der lateinischen Überlieferung zufolge ist (Sulaiman) ibn (Yuqzan) al-A'rabi persönlich an der Gesandtschaft beteiligt gewesen. Datierung durch die lateinische Überlieferung. Abu 'l-Aswad ibn Yusuf al-Fihri wird in der älteren Literatur bisweilen mit dem filius de Iuzephi der lateinischen Quellen identifiziert, vgl. Chalmeta [Anm. 35], S. 369. Ergänzt aus der lateinischen Überlieferung. In dieser Eigenschaft nur aus der lateinischen Überlieferung bekannt. Ergänzt aus der lateinischen Überlieferung. Ergänzt aus der lateinischen Überlieferung. Die lateinischen Quellen motivieren den Rückzug der Franken durch Lebensmittelknappheit, Tributzahlungen von Seiten der Muslime, bzw. das Bekanntwerden des Sachsenaufstandes, vgl. Chalmeta [Anm. 35], S. 374f.

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Yuqzan al-A'rabi, überfallen. Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi wird befreit und wendet sich nach Zaragoza, wo er mit Husain ibn Yahya ibn al-'Ubada al-Ansari zusammentrifft. Husain ibn Yahya ibn al-'Ubada al-Ansari hatte jedoch mitsamt der Stadt Zaragoza die Seiten gewechselt, nachdem ihm 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya zugesagt hatte, er werde ihn zum Gouverneur von Zaragoza ernennen, wenn er Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi ermorde. 4 ' Möglicherweise war Husain ibn Yahya ibn al-'Ubada al-Ansari in die Gesandtschaft des Voijahres nicht involviert oder mit deren Ergebnissen nicht einverstanden gewesen.50 164 AH = 6. 9. 780-25. 8. 781: 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya unternimmt eine großangelegte Kampagne gegen Zaragoza. Husain ibn Yahya ibn al-'Ubada al-Ansari tötet Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi an einem Freitag in der Hauptmoschee (masjid al-jami) der Stadt; dessen Sohn 'Aishun entkommt dem Mordanschlag und flieht nach Narbonne. 3 ' Husain ibn Yahya ibn al-'Ubada al-Ansari unterwirft sich 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya. Als Sicherheit gibt er seinen Sohn Sa'id als Geisel und wird als Gouverneur von Zaragoza bestätigt.52 Von Zaragoza aus unternimmt 'Abd ar-Rahman einen Feldzug [ghazw] nach Pamplona und weiter ins Land der Basken.53 Seine Route streift die Regionen, die die fränkischen Heersäulen auf ihrem Rückzug drei Jahre zuvor berührt hatten.54 165 AH = 26. 8. 781-14. 8. 782: Friedenschluß (silm) des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya mit Karl; Tha'laba ibn 'Ubaid wird auf Vermittlung des Shuhaid (ibn 'Isa ibn Shuhaid. Freigelassener [maula] des Mu'awiya ibn Marwan ibn al-Hakam 55 [also des Vaters von 'Abd arRahman ibn Mu'awiya]) freigelassen.56 166 AH = 15. 8. 782-4. 8. 783: Husain ibn Yahya ibn al-'Ubada al-Ansari, der Mörder des Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi, empört sich erneut gegen 'Abd ar-Rahman. 'Aishun, der Sohn des Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi, schließt sich angeblich 'Abd ar-Rahman auf seinem Feldzug gegen Husain ibn Yahya ibn al-'Ubada al-Ansari nach Zaragoza an, um seinen Vater zu rächen.57 Möglicherweise erst im folgenden Jahr58 unterliegt Husain ibn Yahya ibn al-'Ubada al-Ansari und wird umgebracht.59

49

Al-Udhri [Anm. 25], S. 26 Z. Chalmeta [Anm. 35], S. 378, datiert die Aufnahme von Verhandlungen auf Initiative des 'Abd ar-Rahman ins Jahr 160 AH (= 19. 10. 776-8. 10. 777) unter Bezugnahme auf al-Maqqari, [Anm. 35], Bd. 3, S. 39 Z. 17-20, wo als Gewährsmann Ibn Hayyan genannt wird.

50

Ähnlich äußert sich auch Chalmeta [Anm. 35], S. 373-374.

51

„Akhbar majmu'a" [Anm. 23], S. 107 Z. 11-14.

52

Al-Udhri [Anm. 25], S. 26 Z. 5. Der „Dhikr bilad al-Andalus" [Anm. 30], Bd. 1, S. 116 Z. 20-S. 117 Z. 4, nennt Sulaiman als Begünstigten der Amnestie (aman)\ möglicherweise ist bei der Kompilation der Vorlage ein Satz ausgefallen.

53

„Fath al-Andalus" [Anm. 27], S. 106 Z. 1-10; Ibn al-Athir [Anm. 29], Bd. 6, S. 64 Z. 6-12; al-Maqqari [Anm. 31], Bd. 1, S. 333 Z. 1-5.

54

Chalmeta [Anm. 35], S. 379.

55

Shuhaid ibn 'Isa zählte zu den ranghöchsten Beamten des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya; vgl. al-Maqqari, [Anm. 31], Bd. 3, S. 45 Z. 16-17. Das Datum ergibt sich durch Kombination der beiden zitierten Zeugnisse aus al-Maqqari [Anm. 31], Bd. 1, S. 330 Z. 18-S. 331 Z. 1 und „Fath al-Andalus" [Anm. 27], S. 106 Z. 15-18.

56

57

58

59

.Akhbar majmu'a" [Anm. 23], S. 107 Z. 14-17: 'Aishun tötet den Mörder seines Vaters (erzählt als Aitiologie des Toponyms makhada 'Aishun, „Furt des 'Aishun"). So ist wohl die Datierung der Kampagne bei al-'Udhri [Anm. 25], S. 26 Z. 7-9, unter dem Jahr 167 AH (= 5. 8. 783-23. 7. 784) zu verstehen; Chalmeta [Anm. 35], S. 381, läßt die Frage offen. „Fath al-Andalus" [Anm. 27], S. 107 Z. 1-5; Ibn al-Athir [Anm. 29], Bd. 6, S. 67 Z. 16-S. 68 Z. 3.

Karl der Große in der arabischen Historiographie

209

191 AH = 17. 9. 806-5. 11. 807: Waffenstillstand zwischen al-Hakam ibn Hisham ar-Radi ibn 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya und Karl dem Großen.60

Soweit die Chronologie der Ereignisse. Die Anordnung der nun folgenden Zeugnisse, die in den Originalen jeweils eine in sich geschlossene Erzähleinheit bilden (khabar), ergibt sich zunächst zwanglos; die Texte, die ausfuhrlicher (oder ausschließlich) von den früheren Ereignissen berichten, stehen vorne, und diejenigen, die ausführlicher (oder ausschließlich) von den späteren Ereignissen berichten, rücken nach hinten.61 Den Anfang macht al-'Udhri. der einzige Autor, der von der Vorgeschichte der Erhebung des Sulaiman ibn Yuqzan berichtet:62 Ahmad ibn Umar [al-Udhri] sagt:63 Ahmad ibn Muhammad ibn Musa ar-Razi berichtet folgendes: Sulaiman ibn Yuqzan hatte sich in Zaragoza niedergelassen. Nachdem Badr, der Gefolgsmann [maula] des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya, Gouverneur der Grenzmark [athIhaghr] geworden war, brachte er ihn [Sulaiman ibn Yuqzan] nach Cordoba, wo ihn ein Gedicht über die Schlacht von Muyassar [waqi 'a Muyassarf* erreichte, welches Mushahhir ibn Hilal al-Quda'i 65 verfaßt hatte; darin spornte jener [Mushahhir ibn Hilal al-Quda'i] ihn an, aufzubrechen, um Rache für seine Stammesgenossen, die Yemeniten, zu üben. Da brach er [Sulaiman ibn Yuqzan] von Cordoba auf und ging nach Zaragoza. Tha'laba ibn 'Ubaid zog im Jahre 164 [AH]66 aus, um ihn zu bekämpfen und machte bei der Stadt Tarazona Halt. Er widmete sich [dem Kampf] und rückte [dann] unter den Toren von Zaragoza mit seinem Lager hin und her [um den schwachen Punkt der Stadtbefestigung zu ermitteln]. Da benutzte Sulaiman ibn Yuqzan seine Ablenkung und die Aufteilung des Heeres, überfiel ihn, nahm Tha'laba ibn 'Ubaid gefangen und sandte ihn zum König der Franken [malik al-ifranj\. Daraufhin rüstete der Imam 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya zum Kampf gegen ihn. Husain ibn Yahya empörte sich gegen Sulaiman ibn Yuqzan, tötete ihn und herrschte über Zaragoza.

Al-'Udhri - oder schon seinem Gewährsmann Ahmad ibn Muhammad ibn Musa ar-Razi - ist also der Name des Frankenkönigs, zu dem Tha'laba ibn 'Ubaid gesandt worden war, nicht geläufig. Ahmad ibn Muhammad ibn Musa ar-Razi hat bei der Datierung den Fehler gemacht, die Kampagne des Tha'laba ibn 'Ubaid mit dem Datum der späteren Kampagne des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya zu verse60

Nur durch das Regest bekannt, das Evariste Levi-Proven9al [Anm. 4], Bd. 1, S. 181-182, aus dem noch nicht edierten Teil des „Muqtabis" des Ibn Hayyan [vgl. Anm. 33] gegeben hat [das vollständige Zitat in Anm. 99], Nach der lateinischen Überlieferung ist der Waffenstillstand ins Jahr 812 zu setzen, vgl. L6vi-Proveni;al [Anm. 4], Bd. 1, S. 184.

61

Vergleicht man diese Anordnung mit der Entstehungszeit der Texte, so ergibt sich das erklärungsbedürftige Bild, daß sich das Interesse der Historiographen von al-Andalus im Verlaufe der Zeit auf die späteren Ereignisse verschoben haben muß. Möglicherweise haben die bis dahin kanonisch gewordenen, heute verlorenen Autoren weniger Informationen dazu gegeben, und die späteren Autoren haben sich bemüht, diese Lücke auszufüllen.

62

Al-'Udhri [Anm. 25], S. 25 Z. 8-17.

63

Der Autor nennt sich selbst (in der dritten Person), um das folgende Zitat bzw. Exzerpt genauer abzusetzen.

64

Von Chalmeta [Anm. 35], S. 368, mit der Schlacht am Fluß Bembezar (774) identifiziert, wo 'Abd ar-Rahman einen Aufstand der Yemeniten niederschlug. Vgl. dazu Lövi-Provenfal [Anm. 4], Bd. 1, S. 111-112; Collins [Anm. 4], S. 137.

65

Nicht ermittelt.

66

164 AH = 6. 9. 780-25. 8 781.

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Schilling

hen. In den z u al-'Udhris Gewährsmann etwa gleichzeitigen „Akhbar majmu'a" heißt es, n o c h ohne den Versuch einer Datierung: 6 7 Dann revoltierte Sulaiman [ibn Yuqzan] al-A'rabi in Zaragoza; an der Revolte war Husain ibn Yahya al-Ansari, von den Nachkommen des Sa'd ibn 'Ubada,68 beteiligt. Daraufhin sandte der Emir ['Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya] gegen ihn Tha'laba ibn 'Abd mit einem Heer. Jener belagerte die Bewohner der Stadt [Zaragoza] und bekämpfte sie einige Tage lang. Da suchte [Sulaiman ibn Yuqzan] al-A'rabi nach der Gelegenheit [einer Blöße] von Seiten des [Belagerungs-] Heeres. Als dessen Leute von sich aus den Kampf einstellten mit den Worten, „er hat vom Kampf abgelassen und die Tore der Stadt geschlossen", formierte jener [Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi] seine Reiterei, ohne daß sie es bemerkten, bis er schließlich Tha'laba [ibn 'Abd] überfiel und ihn in seinem Zelt [mizalla] festnahm. Jener blieb bei ihm als Gefangener; das [Belagerungs-] Heer ergriff die Flucht. Da sandte [Sulaiman ibn Yuqzan] al-A'rabi mit ihm zu Karl [Qarluh], Als jener bei ihm war, trachtete Karl [Qarluh] deshalb [min ajli dhalika1 danach, Zaragoza in seine Gewalt zu bekommen. Er zog aus, um die Stadt zu belagern, doch ihre Bewohner schlugen ihn zurück. Da kehrte er in sein Land zurück, und der Emir ['Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya] zog gegen Zaragoza ins Feld. Weiterhin liegt der Hauptteil des Berichts auf der Kampagne des Tha'laba ibn 'Ubaid, dessen N a m e hier Tha'laba ibn 'Abd lautet. Karls N a m e wird ohne Ethnikon (Jmalik]

al-ifranj)

angegeben, die fränkische Kampagne nach Zaragoza nur

knapp erwähnt. A l s einzige arabische Quelle nennen die „Akhbar majmu'a" die Gründe für den R ü c k z u g Karls, seinen militärischen Mißerfolg. A u s j e w e i l s unterschiedlicher Perspektive notiert Ibn al-Athir unter z w e i verschiedenen Jahren seiner Annalen die Geschichte von Karls Pyrenäenfeldzug; die erste Stelle datiert die Ereignisse v o n ihrem Anfang her, d e m B e g i n n der Revolte des Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi, die z w e i t e von ihrem Resultat her, dem Feldzug des 'Abd arRahman ibn Mu'awiya. In der ersten Fassung heißt es: 69 In diesem [Jahr]70 brachte Sulaiman ibn Yuqzan al-Kalbi [al-A'rabi] Karl [Qarluh], den König der Franken, dazu, in das Land der Muslime von al-Andalus zu ziehen. Er traf ihn auf dem Weg und ging mit ihm zusammen nach Zaragoza. Dorthin war ihm al-Husain ibn Yahya al-Ansari, ein Nachkomme des Sa'd ibn 'Ubada, vorausgeeilt und verweigerte sich mitsamt der Stadt [den beiden]. Da wurde Karl [Qarluh], der König der Franken, argwöhnisch gegen Sulaiman [ibn Yuqzan], nahm ihn fest und führte ihn mit sich in sein Land. Als er sich vom Land der Muslime entfernt hatte und sich in Sicherheit wähnte, überfielen ihn Matruh und 'Aishun, die beiden Söhne des Sulaiman [ibn Yuqzan], mit ihren Gefährten. Die beiden befreiten ihren Vater und kehrten mit ihm nach Zaragoza zurück. Sie schlössen sich al-Husain [ibn Yahya al-Ansari] an und stimmten darin überein, sich 'Abd ar-Rahman zu widersetzen.

67

„Akhbar majmu'a" [Anm. 23], S. 107 Z. 1-7.

68

Diese Genealogisierung stammt, al-'Udhri [Anm. 25], S. 26 Z. 2-3, zufolge, von (Abu 'Ali) Muhammad ibn Waddah (ibn Bazi' al-Qurtubi), einem Juristen und Traditionarier, der 199-286 AH = 814/815-899/900 in Cordoba lebte, vgl. Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums, Bd. 1: Qur'anwissenschaft, Hadith, Geschichte, Fiqh, Dogmatik, Mystik bis ca. 430 H. Leiden 1967, hier S. 474 Nr. 19.

69

Ibn al-Athir [Anm. 29], Bd. 6, S. 14 Z. 4-10.

70

157 AH = 21. 11.773-10. 11.774.

Karl der Große in der arabischen

Historiographie

211

In diesem Text begegnet erstmals die Kombination von N a m e n und Titel Karls des Großen: „Karl, der König der Franken". Weiterhin ist zu bemerken, daß er den einzigen arabischsprachigen Hinweis auf die Schlacht von Roncesvalles liefert, eine Befreiungsaktion der Geisel Sulaiman ibn Yuqzan, die außerhalb des Landes der Muslime lokalisiert wird. In der zweiten Stelle heißt es: 71 In diesem [Jahr]72 ging 'Abd ar-Rahman [ibn Mu'awiya] al-Umawi nach Zaragoza, nachdem er gegen die Stadt bereits Tha'laba ibn 'Ubaid mit einem zahlreichen Heer in Marsch gesetzt hatte: Sulaiman ibn Yuqzan [al-A'rabi] und al-Husain ibn Yahya [al-Ansari] hatten sich miteinander verbündet, um - wie erwähnt73 - 'Abd ar-Rahman den Gehorsam aufzukündigen. Beide befanden sich in der Stadt. Tha'laba [ibn 'Ubaid] bekämpfte die beiden in einem heftigen Kampf. Als er eines Tages zu seinem Zeltplatz [mukhayyam] zurückkehrte, nutzte Sulaiman [ibn Yuqzan] die Gelegenheit seiner Unaufmerksamkeit: Er trat gegen ihn an, überwältigte ihn und nahm ihn gefangen; sein Heer zerstreute sich. Sulaiman [ibn Yuqzan al-A'rabi] wandte sich an Karl [Qarluh], den König der Franken; er versprach ihm, die Stadt mitsamt Tha'laba [ibn 'Ubaid] auszuliefern. Doch als er [Karl] zu ihm kam, hatte er nichts in der Hand74 außer Tha'laba [ibn 'Ubaid]. Er nahm ihn [mit sich] und kehrte in sein Land zurück, in der Meinung, er habe ein wertvolles Pfand - doch 'Abd ar-Rahman [ibn Mu'awiya] vergaß ihn für eine Weile. Dann erst sandte er jemanden, der ihn von den Franken einfordern sollte. Schließlich ließen sie ihn frei. W i e erwähnt ist diese Fassung als Vorgeschichte zu dem eingangs datierten Feldzug des 'Abd ar-Rahman zu lesen. A n deren Ende wird zum ersten Mal auf eine Gesandtschaft des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya an Karl den Großen hingewiesen: Einige Zeit nach den Kämpfen bei Zaragoza soll Karls Geisel Tha'laba ibn 'Ubaid ausgelöst werden. Aus diesem Text ist unklar, ob mit jenen Kämpfen die Kampagne des 'Abd ar-Rahman oder diejenige Karls gemeint ist. Daß ersteres der Fall g e w e s e n sein muß, wird sich aus dem Bericht des „Fath al-Andalus" ergeben. Zunächst der Wortlaut v o n dessen erstem Teil: 75 Und im Jahre 165 [AH]76 marschierte der Imam ['Abd ar-Rahman] ibn Mu'awiya nach Zaragoza gegen einen, der dort gegen ihn revoltierte: Sulaiman ibn Yuqzan al-A'rabi; an der Revolte war Husain ibn 'Ubada al-Ansari, von den Nachkommen des Sa'd ibn 'Ubada, beteiligt. Der Imam ['Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya] sandte Tha'laba ibn 'Ubaid als Kriegsherrn gegen ihn, an der Spitze eines zahlreichen Heeres. Er nahm den Kampf gegen Zaragoza auf und blieb einige Tage in der Nähe der Stadt. Da gab sich [Sulaiman] ibn [Yuqzan] al-A'rabi Mühe, zu ihm [vorzudringen] und ihn zu ergreifen; er überfiel ihn in seinem Zelt [suradiq], nahm Tha'laba [ibn 'Ubaid] gefangen, wobei dessen Heer floh, und schickte [Gesandte] mit Tha'laba [ibn 'Ubaid] zu Karl [Qarluh], dem König der Franken, indem er sich mit ihm ver71 72 73

74

75 76

Ibn al-Athir [Anm. 29] Bd. 6, S. 63 Z. 17-S. 64 Z. 5. 164 AH = 6. 9. 780-25. 8.781. Ibn al-Athir verweist auf seine (oben übersetzte) eigene Darstellung der Revolte des Sulaiman ibn Yuqzan unter dem Jahr 157 AH [Anm. 69]. Im Text der Edition: lam yusabbih biyadihi ghair Tha iaba (wörtl. „trat nicht in den Morgen ein mit etwas anderem in der Hand außer Tha'laba". also: „hatte tags darauf nichts in der Hand außer Tha'laba"); Emilio Garcia Gömez (bei Menendez Pidal [Anm. 3] S. 521) emendiert (wie übersetzt) zu lam yasihha biyadihi ghair Tha Iaba. „Fath al-Andalus" [Anm. 27], S. 105 Z. 7-15. 165 AH = 26. 8.781-14. 8.782.

212

Alexander M. Schilling

biindete und ihn um Hilfe gegen den Angriff der Muslime bat. Als dem Imam ['Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya] zu Gehör gekommen war, was seinem Emir Tha'laba [ibn 'Ubaid] und dessen Heer zugestoßen war, geriet er in Zorn darüber und rüstete sich zum Feldzug.

Festzuhalten ist hier, daß in die historiographische Tradition vom Feldzug des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya ein neues, bisher unbekanntes Datum eingeführt wird, das Jahr 165 AH; ansonsten fallen insbesondere die Übereinstimmungen zum Bericht der „Akhbar majmu'a" ins Auge. Der zweite Teil der Notiz lautet:77 In diesem [Jahr]78 schmiedete der Imam ['Abd ar-Rahman] ibn Mu'awiya einen Plan zur Freilassung seines Gefährten und Günstlings Tha'laba ibn 'Ubaid Allah aus der Hand Karls [Qarluh], des Franken. Er schickte in dieser Sache Shuhaid. seinen Gefolgsmann [maula], der ihn zurückbrachte. Er freute sich über dessen Ankunft und dankte dem Shuhaid überschwenglich.

Aus dieser Stelle wird klar, daß die Datierung 165 AH des ersten Teils der Notiz sich auf die hier geschilderten Ereignisse beziehen muß. Die Freilassung des Tha'laba ibn 'Ubaid, der allein hier Tha'laba ibn 'Ubaid Allah genannt wird, war für 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya immerhin von so großer Bedeutung, daß er einen seiner vornehmsten Höflinge mit dem Auftrag an den fränkischen Hof gesandt hat, seine Freilassung zu erwirken. Auf diese Gesandtschaft nun will Pedro Chalmeta folgenden Passus von al-Maqqari beziehen:79 Und an 'Abd ar-Rahman [ibn Mu'awiya] wandte sich Karl [Qarluh], der König der Franken. Er war einer von den Gewaltherrschern \tusha. Sing, taghi] der Franken. Als er sich eine Zeitlang mit ihm ['Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya] kriegerisch auseinandersetzte, lernte er ihn als einen [Mann] aus hartem Holz kennen, vollendet an Männlichkeit [rajuliya]. Da wurde er [Karl] verhandlungsbereit und forderte ihn dazu auf, Verwandtschaftsbeziehungen einzugehen und Frieden [silm] zu schließen. In seiner Antwort stimmte er ['Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya] dem Frieden zu, zu Verwandtschaftsbeziehungen kam es jedoch nicht.

Zunächst fällt auf, daß Karl sich an 'Abd ar-Rahman gewandt haben soll, was zu den Aussagen des obigen Textes nicht passen will. In der Tat ist dieser Satz, und damit die ganze Stelle, bisher auch umgekehrt verstanden worden. Erwin Rosenthal, der in einer Miszelle darüber gehandelt hat, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß „[...] grammatikalisch nicht ohne weiteres ersichtlich [ist], wer Subjekt und Objekt im Satz ist."80 Zwar sind Rosenthals Argumente im Sinne einer Frie77

„Fath al-Andalus" [Anm. 27] S. 106 Z. 15-18.

78

1 65 AH = 26. 8.781-14.8. 782.

79

Al-Maqqari [Anm. 31], Bd. 1, S. 330 Z. 18-S. 331 Z. 1. Chalmeta [Anm. 35], S. 380.

80

Erwin Rosenthal: Der Plan eines Bündnisses zwischen Karl dem Grossen und Abdurrahman in der arabischen Überlieferung. In: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 48 (1930), S. 441-445 (mit der älteren Literatur), hier S. 443. Ihsan 'Abbas, der Herausgeber von al-Maqqari, folgt, was sich aus seiner Vokalisation des Konsonantentextes ergibt [Anm. 79], der Interpretation von Rosenthal; im Gegensatz dazu interpretiert die gesamte französische und spanische Forschung (zuletzt Chalmeta [Anm. 35], S. 380) den Passus in der oben übersetzten Weise.

Karl der Große in der arabischen

Historiographie

213

densinitiative des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya, die sich aus seiner Analyse der historischen Sachverhalte ergeben, nicht von der Hand zu weisen, dennoch muß gerade auch der literarische Kontext berücksichtigt werden: Der Passus ist eingerückt in eine Biographie des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya,81 in der auf dessen Männlichkeit (rajuliya) an einer anderen Stelle ebenfalls ausdrücklich hingewiesen wird.82 In einer solchen Biographie ist eine Bitte um Frieden auf Initiative des 'Abd ar-Rahman ebenso undenkbar wie für den angenommenen umgekehrten Fall - eine Bitte Karls um Frieden in einer Biographie Karls, etwa bei Einhart.83 Inhaltlich bedeutsam ist, daß sich der Autor dieser Biographie des 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya (Levi-Proven^al ist der Meinung, es handle sich dabei um Ibn Hayyan, der sich indessen auf Informationen des Ahmad ibn Muhammad ibn Musa ar-Razi gestützt haben mag) 84 gegen eine Tradition wendet, derzufolge sich Karl im Zuge dieses Abkommens mit 'Abd ar-Rahman verschwägert habe - eine Tradition, wie sie allein im „Dhikr bilad al-Andalus" ansonsten belegt ist:85 Kunde von der Regierung des Imam al-Hakam ibn Hisham ar-Radi ibn 'Abd ar-Rahman adDakhil ibn Mu'awiya ibn [Hisham] ibn 'Abd al-Malik ibn Marwan ibn al-Hakam, bekannt unter [dem Beinamen] ar-Rabdi, der dritte Umayyadenherrscher in al-Andalus." Seine Mutter war eine Umm walad namens Zukhruf, welche Karl, der Sohn des Pippin [Qarluh ibn Bibin]," der Römer, seinem Vater anläßlich seiner Versöhnung [musalamä] mit 'Abd arRahman [ibn Mu'awiya] ad-Dakhil zugeführt hatte. Seine Geburt war im Jahre 154 [AH].88

Der Autor der „Dhikr bilad al-Andalus" akzeptiert offensichtlich die Tradition von der Verschwägerung Karls mit 'Abd ar-Rahman. Dadurch ist er gezwungen, al-Hakams Mutter, die Berberin Zukhruf,89 mit der Frau zu identifizieren, die Karl der Große Hisham, dem Sohn des 'Abd ar-Rahman, noch vor dem Jahre 154 AH, 81 82

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Al-Maqqari [Anm. 31], Bd. 1, S. 327 Z. 12-S. 334 Z. 3. Al-Maqqari [Anm. 31], Bd. 1, S. 331 Z. 19-S. 332 Z. 1 (die Stelle wird dem Ibn Hayyan zugewiesen). Auch bei der Gesandtschaft des Shuhaid [Anm. 77] wird folglich der Friedensvertrag nicht erwähnt, sondern nur die Freilassung des Tha'laba ibn 'Ubaid. Levi-Provenfal [Anm. 4], Bd. 1, S. 120. Ahmad ibn Muhammad ibn Musa ibn Razi zählt immerhin zu den wichtigsten Chronisten der andalusischen Umayyaden Ende des 10. Jahrhunderts und könnte der Biographie von deren erstem Vertreter durchaus größere Bedeutung beigemessen haben. Ein Vergleich der Biographie nach al-Maqqari mit der romanischen Überlieferung zu 'Abd ar-Rahman ibn Mu'awiya nach der Crönica del moro Rasis [vgl. Anm. 32] dürfte zu mehr Klarheit fuhren. Chalmeta [Anm. 35], S. 380, Anm. 103, läßt die Frage offen, ob die Passage aus Ibn Hayyan oder Ahmad ibn Muhammad ibn Musa ar-Razi geschöpft ist.

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„Dhikr bilad al-Andalus" [Anm. 30], Bd. 1, S. 124 Z. 11-18 (Text), Bd. 2, S. 132-133 [§ 73-75] (span. Übersetzung).

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Im Original handelt es sich bis hierher um die Überschrift eines längeren Kapitels. Im Text Bly 'n, verderbt aus Bbyn. 1 54 AH = 24. 12. 770-12. 12. 771. Al-Hakam ibn Hisham ibn 'Abd ar-Rahman regierte 796—822.

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Vgl. zum Beispiel Ibn 'Idhari: al-Bayan al-mughrib fi akhbar al-maghrib. 2 Bde. Beirut 1950, hier Bd. 2, S. 102 Z. 3 (Zukhruf ist der Name der Mutter von al-Hakam).

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Alexander

M.

Schilling

also lange Zeit vor d e m Friedensvertrag v o n 165 A H und überhaupt vor der R e gierungszeit Karls, vermählt haben soll. Vielleicht m u ß d e m Urheber dieser Tradition zugute gehalten werden, daß für ihn ein Friedensvertrag nur in K o m b i n a tion mit einer Verschwägerung denkbar war. Für die Zeit nach s e i n e m Zaragoza-Feldzug fließen die arabischen Informationen zur Person Karls des Großen nur n o c h spärlich. A l l e i n z w e i weitere Zeugnisse sind bisher, s o w e i t ich sehe, bekannt geworden; die Z u w e i s u n g des ersten, das al-'Udhri bewahrt hat, m u ß zumindest als unsicher gelten. 9 0 D i e handelnden Pers o n e n s i n d ' Amrus ibn Y u s u f , einer der späteren Herren v o n Gerona und Barcelona, s o w i e 'Aishun, der, w i e oben erwähnt, seinen Vater aus der Geiselhaft Karls befreit und kurze Zeit später dessen Mörder bestraft hatte: 91 'Amrus und Shabrit waren Pagen [ghulaman, Sing, ghulam] des 'Aishun [ibn Sulaiman ibn Yuqzan] al-A'rabi und standen in seinem Dienst. 'Aishun geriet, als er bei Gerona Krieg gegen die Franken führte, in Gefangenschaft. Er wurde zu Karl [Qarluh] gebracht - denn jeder König, der über die Franken herrscht, heißt Karl [Qarluh] - und blieb bei ihm einige Jahre in Haft. 'Amrus bediente ihn und brachte ihm aus Barcelona und Gerona alles, was er wünschte. Da wurde 'Aishun von einer Augenkrankheit befallen; er befestigte vor dem [Eingang zum] Haus einen Vorhang wegen seiner Augenkrankheit und verhüllte sein Gesicht mit einem Schleier. Und bei alledem kam der Kerkermeister zu ihm und sah ihn dann Tag für Tag in diesem Zustand. Da verwandelte 'Aishun sein Äußeres, so daß er aussah wie 'Amrus,92 und sprach zu ihm: „Dieser Vorhang und das, wodurch mein Gesicht abgedunkelt wird,93 bieten eine gute Gelegenheit: Bist du bereit, mir deine Person zu verkaufen, dich auf meinen Platz zu setzen, dein Gesicht mit dem Schleier zu verhüllen und meine Gewänder anzuziehen - und ich ziehe deine Gewänder an und gehe hinaus, als ob ich Du wäre?" 'Amrus willigte ein. Als er einen Zeitpunkt [kommen] sah, zu dem sie allein waren, da die Zahl der Aufseher gering war, ging 'Aishun, nachdem 'Amrus seinen Platz eingenommen hatte, hinaus - ohne daß an ihm die Verkleidung bemerkt worden wäre, als man ihn mit seinem Tuch sah: denn es war schon vorher seine ['Amrus'] Gewohnheit gewesen, die Wickelung [kaur] seines Turbans herunterzulassen, wenn er bei ihm ['Aishun] eintrat. 'Aishun ging also ebenso [vermummt] hinaus und wanderte Tag und Nacht, bis er nach Gerona gelangte, am 15. Tag. Und der Kerkermeister pflegte [weiterhin] einzutreten und nach dem, der dort mit einem Schleier verhüllt saß, zu sehen - in der Meinung, es handle sich um 'Aishun; wegen der langen Dauer seiner Krankheit sah er sich ihn nicht genau an. Da verbreitete sich das Geschick des 'Aishun und kam auch Karl [Qarluh] zu Gehör. Er sandte nach dem Kerkermeister und eröffnete ihm [die Sache] von 'Aishun. Jener widersprach: „Er ist doch im Gefängnis!" Da befahl er ihm nachzusehen. Als er nachsah, fand er 'Amrus. Er benachrichtigte Karl [Qarluh], Der befahl ihm: „Bring ihn her." Als er ['Amrus] vor ihn trat, sagte er zu ihm: „Du wußtest, daß auf das, was

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Al-'Udhri hat die folgende Anekdote von der Flucht des 'Aishun in ein Kapitel mit biographischen Notizen zu 'Amrus ibn Yusuf eingefügt (al-'Udhri [Anm. 25], S. 27 Z. 14-S. 29 Z. 15), nachdem er mehrere sich widersprechende Daten vom Tod des 'Amrus ibn Yusuf nebeneinandergestellt hatte (al-'Udhri [Anm. 25], S. 28 Z. 3-6): Danach ist 'Amrus ibn Yusuf 198 AH (= 1. 9. 813-21. 8. 814), 193 AH (= 25. 10. 808-14. 10. 809), oder aber 188 AH (= 19. 12. 803-7. 12. 804) gestorben.

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Al-'Udhri [Anm. 25], S. 28 Z. 10-S. 29 Z. 6. Übersetzung (catalán) in: Josep M. Salrach: El procés de formació nacional de Catalunya (segles VIII-IX), Bd. 1: El domini Carolingi, Bd. 2: L'establiment de la dinastía nacional. Barcelona 1978, 2 1981, hier Bd. 1, S. 77-79.

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Wörtl. „Da verwandelte sich 'Aishun in 'Amrus" (fa-tahawwala 'Aishun ila

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Ich lese yughatta bihi wajhi; der edierte Text hat nuehatti bihi wajhi.

'Amrus).

Karl der Große in der arabischen

Historiographie

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du getan hast, nur Folter und Tod stehen können. Was hat dich dazu veranlaßt?" Er antwortete ihm: „Ich habe ihm ['Aishun] den Vorzug gegeben vor meiner Person." Als