Karl Barth und die Religion(en): Erkundungen in den Weltreligionen und der Ökumene [1 ed.] 9783737008990, 9783847108993

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Karl Barth und die Religion(en): Erkundungen in den Weltreligionen und der Ökumene [1 ed.]
 9783737008990, 9783847108993

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Kirche – Konfession – Religion

Band 74

Herausgegeben vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes unter Mitarbeit der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen von Mareile Lasogga und Reinhard Hempelmann in Verbindung mit Andreas Feldtkeller, Miriam Rose und Gury Schneider-Ludorff

Susanne Hennecke (Hg.)

Karl Barth und die Religion(en) Erkundungen in den Weltreligionen und der Ökumene

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-1507 ISBN 978-3-7370-0899-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: mosaiko / photocase.com

Inhalt

Susanne Hennecke Karl Barth und die Religion(en) – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . .

9

I Religion Jörg Dierken Karl Barths Religionstheologie. Probleme und Potentiale . . . . . . . . .

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Dietrich Korsch Christologie als kritische Religionstheorie

. . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Susanne Hennecke Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Eine Verhältnisbestimmung aus niederländischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Reinhold Bernhardt Religion als Götzendienst? Barth und die Religionstheologie . . . . . . .

89

Jan Rohls Karl Barth und die Romantik

Folkart Wittekind Christologie und Religionen bei Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

II Religionen Martin Leiner Karl Barth und die jüdische Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . 129 Muhammad Sameer Murtaza Was Karl Barth vom Islam hätte lernen können

. . . . . . . . . . . . . . 151

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Inhalt

Ruggero Vimercati Sanseverino Die Offenbarung Gottes an Muhammad als kritischer Maßstab der islamischen Theologie? –Versuch einer interreligiösen Begegnung mit Karl Barths Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Michael Pye Die Wahrnehmung des Buddhismus in der dialektischen Theologie

. . . 187

Yoshiki Terazono Die Rezeption der Theologie Karl Barths in der japanischen (Religions-)Philosophie unter besonderer Berücksichtigung von Kitaro Nishida und Katsumi Takizawa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 John N. Sheveland Existential Poverty, Christian and Hindu: Barth in Dialogue with Vedanta Desika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

III Ökumene Michael Weinrich Karl Barth und die Ökumene. Ein Prospekt

. . . . . . . . . . . . . . . . 223

Andreas Pangritz Die Rezeption Karl Barths und der dialektischen Theologie in der russischen Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Harald Matern Karl Barth und ,Amerika‘. Zur ökumenischen Produktivität des Missverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Susanne Hennecke Zur Kritik von Barths Religionskritik. Beispiele aus den Niederlanden unter besonderer Berücksichtigung des religionspluralistischen Ansatzes von Hendrik Kraemer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Dick Boer „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“. Christlich-atheistische Reflexionen zum ersten Gebot als Axiom einer radikalen Religionskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Inhalt

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Katharina Eberlein-Braun Lebenszusammenhang Ambivalenz. Ein Ausblick auf Religion als offener Umgang mit religiöser Motivik im Anschluss an Theodor W. Adorno und Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Dorothea Sattler Karl Barth und die christliche Ökumene. Gedanken aus (einer) römisch-katholischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Georg Pfleiderer Aggiornamento. Zum ökumenischen Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Susanne Hennecke Karl Barth und die Religion(en) im europäischen Vergleich. Das Beispiel Deutschland : Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Susanne Hennecke

Karl Barth und die Religion(en) – eine Einleitung

Die Theologie Karl Barths (1886–1968) kann als eine Theologie beschrieben werden, die das Durchdenken des Unterschieds zu ihrem Programm erhoben und für den Gang der Theologiegeschichte fruchtbar gemacht hat. Durchdacht wurde allererst der Unterschied zwischen Gott und Mensch, der spätestens in Barths theologischem Hauptwerk, der Kirchlichen Dogmatik, von zwischenmenschlichen Unterschieden wie etwa dem zwischen Mann und Frau1 gerade nicht getrennt, sondern mittels der Denkform der analogia relationis mit ihnen verbunden wurde. In diesem Band, Karl Barth und die Religion(en), stehen nun weitere mit der Grundunterscheidung zwischen Gott und Mensch einhergehende Unterscheidungen im Vordergrund, nämlich die vor allem im §17 der Kirchlichen Dogmatik entfaltete Unterscheidung zwischen christologischer Offenbarung und Religion(en) sowie die Unterscheidung zwischen wahrer Religion und einer religionskritisch interessierten Bestimmung von Religion als Unglaube. Nun gibt es wohl keinen Entwurf in der jüngeren Theologiegeschichte, der mit seinem ureigenenThema – nämlich dem unableitbaren Unterschied zwischen Gott und Mensch – bis in die allerjüngste Zeit hinein für derart starke und fundamentale Kontroversen und sogar für regelrechte Scheidungen der Geister gesorgt hat wie eben die Theologie Karl Barths: Als wichtiger Mitbegründer der Bewegung der sogenannten dialektischen Theologie, wegen seiner maßgeblichen Rolle bei der Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung (1934) und aufgrund seiner ab 1932 herausgegebenen monumentalen Kirchlichen Dogmatik gilt Karl Barth einerseits als Kirchenvater des 20. Jahrhunderts, wurde und wird aber andererseits gerade auch im Zusammenhang mit seinem in diesem Band thematisierten kritischen Verhältnis zur Religion gerne immer wieder als Vertreter einer durch und durch dialogunfähigen oder gar autoritären Theologie 1 Eine Übersicht zur kontroversen Diskussion dieser Verhältnisbestimmung findet sich in: Ruth Heß, Die „,A‘ and ,B‘ discussion“ – und darüber hinaus, in: Martin Leiner/Michael Trowitzsch (Hg.), Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen 2008, 348–366.

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Susanne Hennecke

angesehen, die sich dem Gespräch mit der aufgeklärten Theologie und Gesellschaft der Moderne und insbesondere auch den Bedürfnissen eines Gesprächs mit den nicht-christlichen Religionen immer wieder entziehe. Anlässlich dieser anhaltenden und zumindest die deutschsprachige theologische Landschaft immer noch prägenden Debattenlage setzte sich im September 2015 eine an der Bonner evangelisch-theologischen Fakultät durchgeführte internationale wissenschaftliche Tagung zum Ziel, gängige Bilder von Karl Barth im Hinblick auf sein Religionsverständnis zusammenzutragen und die Tragfähigkeit seiner Religionstheorie im Kontext des interreligiösen und ökumenischen Gesprächs zu überprüfen. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand die Frage, ob und gegebenenfalls wie man Karl Barths kritischen Religionsbegriff auch konstruktiv auf das Thema des religiösen und konfessionellen Pluralismus beziehen könne. Damit knüpfte die Tagung an das in den letzten Jahren zu beobachtende zunehmende Interesse an der Aufarbeitung auch der internationalen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Karl Barths an2 und verstärkte und pluralisierte die bisher weitgehend vernachlässigte interreligiöse Perspektive. Die gewünschte Verstärkung und Pluralisierung im Blick auf das interreligiöse Gespräch sowie die erneute Prüfung der Dialogfähigkeit des barthschen Religionsbegriffs sollte auf zweierlei Art und Weise erreicht werden: Zum einen wurden nicht nur christliche TheologInnen und ReligionswissenschaftlerInnen geladen, sondern auch TheologInnen und ReligionswissenschaftlerInnen, die die Perspektiven der anderen Weltreligionen vertreten haben. Und zum anderen wurde eine breite Auswahl an konfessionellen und religiösen Perspektiven mit einer ebenfalls breit angelegten Auswahl methodischer und fachspezifischer Herangehensweisen kombiniert, sodass das zentrale Thema etwa aus systematisch-theologischer, theologiegeschichtlicher, religionstheoretischer, religionstheologischer, religionswissenschaftlicher, komparativ-theologischer, rezeptionsästhetischer und auch aus einer der Theologie der Religionen verpflichteten Perspektive beleuchtet werden konnte. Darüberhinaus wurden, wenn auch nicht 2 Vgl. Michael Beintker/Christian Link/Michael Trowitzsch (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2003 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2005; Dies. (Hg.), Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935–1950). Widerstand – Bewährung – Orientierung. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2008 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2010; Michael Beintker/Georg Plasger (Hg.), Karl Barth als Lehrer der Versöhnung (1950–1968). Vertiefung – Öffnung – Hoffnung. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2014 in der Johannes a Lasco Bibilothek Emden, Zürich 2016; Leiner/Trowitzsch (Hg.), Barths Theologie als europäisches Ereignis vgl. weiterhin Michael Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016; Bruce Mc Cormack/Rinse Reeling Brouwer/Günter Thomas (Hg.), Dogmatics after Barth. Facing Challenges in Church, Society and the Academy, Leipzig 2012; Georg Pfleiderer/Harald Matern (Hg.), Theologie im Umbruch der Moderne. Karl Barths frühe Dialektische Theologie, Christentum und Kultur 15, Basel 2014.

Karl Barth und die Religion(en) – eine Einleitung

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exklusiv, vorzugsweise gerade nicht auf ,Barthianismus‘ festgelegte ReferentInnen um einen Beitrag gebeten, die sich an einer kritischen Barthlektüre oder auch Barth-Relektüre jedoch nichtsdestotrotz gerne beteiligen wollten. Das Ergebnis der Tagung liegt nun mit diesem Band der Leserin, dem Leser in überarbeiteter und ergänzter Form zur eigenen Orientierung und als Auftakt für weitere Forschungen und Auseinandersetzungen vor. Da der ursprüngliche Aufbau weitgehend beibehalten werden konnte, ergeben sich für den Band drei Teile, die um eine Einleitung und einen international vergleichenden Schlussbeitrag ergänzt wurden. Im ersten Teil wird Karl Barths Religionsbegriff zunächst systematisch-theologisch evaluiert und sowohl theologiegeschichtlich verortet als auch in Hinsicht auf die religionspluralistische Fragestellung kontrovers diskutiert. Geht es also im ersten Teil vor allem um die interne christliche Reflexion, kommen im zweiten Teil die nicht-christlichen Weltreligionen zu Wort: Vertreter aus Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus thematisieren jeweils einen Aspekt der barthschen Theologie und verdeutlichen aus ihren jeweiligen Perspektiven, inwieweit der gewählte Aspekt in Hinsicht auf einen interreligiösen Dialog hilfreich ist oder gerade nicht. Dabei ergeben sich oftmals überraschende und innovative Konstellationen: Hervorzuheben sind meines Erachtens die beiden Vorträge aus dem Bereich Islam und der (englischsprachige) Beitrag zum Hinduismus, da das diesbezügliche intertheologische Forschen und Lernen anders als beim Bereich Judentum und Buddhismus kaum auf eine längere Tradition zurückblicken kann und entsprechend mutig noch ganz in seinen vielversprechenden und zur weiteren Ausarbeitung drängenden Anfängen steht. Im dritten Teil des Bandes finden sich schließlich die Beiträge zum Themenfeld Ökumene und – keinesfalls zufällig – auch diejenigen Beiträge, die sich am häufigsten mit der Religionskritik Karl Barths auseinandersetzen. Von Zufall ist in diesem Fall schon allein darum nicht zu sprechen, weil die religionskritische Fragestellung durchaus programmatisch und – wie gezeigt werden wird – auch anschließend an Karl Barths eigene Programmatik gerade als eine in die (inter-)religiöse Fragestellung integrierte diskutiert werden sollte und diskutiert wurde.3 Als ebenfalls programmatisch kann dabei der für alle drei Teile fast durchgängig geglückte Versuch bezeichnet werden, jedes der einzelnen Unterthemen beziehungsweise jede der einzelnen fachspezifischen oder religionsperspektivischen Unterthemen möglichst jeweils doppelt zu reflektieren, nämlich sowohl aus einer Binnenperspektive als auch aus einer Außenperspektive. Insgesamt ist also so etwas wie ein schöner bunter und dabei 3 Damit unterscheidet sich die in diesem Band verfolgte Umgangsweise mit der Religionskritik Barths von anderen aktuellen Umgangsweisen; vgl. etwa Tom Greggs, Theology against Religion. Constructive Dialogues with Bonhoeffer and Barth, London 2011; Marco Hofheinz/ Thorsten Paprotny (Hg.), Religionskritik interdisziplinär. Multiperspektivische Annäherung an eine bleibend wichtige Thematik, Leipzig 2015.

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doch auch recht kunstvoll zusammengesteckter Blumenstrauß entstanden. Bevor er dem Leser, der Leserin an dieser Stelle überreicht wird, soll eine Einführung in die einzelnen Beiträge bei Bedarf eine Kurzorientierung innerhalb der Gesamtkonzeption ermöglichen.

Religion Bei den ersten beiden Beiträgen handelt es sich um zwei methodisch gesehen unterschiedliche Angebote einer Einführung in den für die Religionsthematik bei Barth zentralen §17 in der Kirchlichen Dogmatik vor dem Hintergrund der aktuell geführten Postkolonialismus-Debatte. Verfolgt die erste Einführung methodisch gesehen ein – postkolonialem Denken nicht unvertrautes – dekonstruktives Interesse, kann die Herangehensweise in der zweiten Einführung als – auch in Hinblick auf postkoloniale Denkansätze – hermeneutisch interessiert beschrieben werden. Entsprechend unterschiedlich gestalten sich die Resultate der jeweiligen Barth-Lektüren: Der von einem dekonstruktiven Leserinteresse geleitete Beitrag von Jörg Dierken, Karl Barths Religionstheologie. Probleme und Potentiale, orientiert sich an den drei Abschnitten des §17 und macht auf kritische und herausfordernde Art und Weise mit dem Paragraphen vertraut. Barths Religionstheorie sei zwar jenseits des Gegensatzes zwischen einem exklusiven Fundamentalismus und einem inklusiven Modernismus zu situieren, doch erweise sich Barths Offenbarungsbegriff aufgrund seiner Pluralismusuntauglichkeit nicht als anschlussfähig für den zeitgenössischen Postkolonialismus. Der implizite Monismus dieser Religionstheorie sei alteritätstheoretisch unbrauchbar, ihre doppelt negativen Implikationen seien religionsphänomenologisch unbegründet und auch die offenbarungstheologisch begründete Verabschiedung des modernen Fortschrittsparadigmas entspreche nicht dem Anliegen postmoderner Kulturkritik. Karl Barths Religionstheologie, so die These im zweiten Abschnitt, laufe auf eine dogmatisch konstruierte Kontingenz christlicher Absolutheit hinaus und sei sich dabei ihres eigenen Konstruktivismus nicht einmal bewusst. Die von Barth im dritten Teil des §17 thematisierten Geltungsansprüche würden zwar zu Recht erhoben, seien jedoch wesentlich stärker als bei Barth selber der Fall mit der zeitgenössisch gebotenen Anerkennung religiöser Pluralität zu kombinieren. Bei der intendierten Dekonstruktion des barthschen Paragraphen müsse es insgesamt gesehen letztlich darum gehen, die darin dominierende dialektische Denkform in ein neues Paradigma zu übersetzen und sie in ein weniger steiles und zudem pluralistisches Denken der Differenz aufzuheben. Demgegenüber gestaltet sich Dietrich Korschs stärker hermeneutisch orientiere Lektüre des Paragraphen in seinem Beitrag Christologie als kritische Religionstheorie in

Karl Barth und die Religion(en) – eine Einleitung

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seinem Urteil wesentlich milder, ist darum jedoch nicht weniger herausfordernd: Eine christologisch reflektierte christliche Religionstheorie im Anschluss an das Religionsverständnis Karl Barths in der Kirchlichen Dogmatik, so Korsch, müsse nämlich nicht zwingend als religionswissenschaftlich unbegründet und prämodern-autoritär betrachtet werden. Barths Kritik am westlich-aufgeklärten Religionsbegriff des 19. Jahrhunderts biete durchaus die Möglichkeit zu einer konstruktiven Verbindung mit den zeitgenössischen postkolonialen Diskursen. Trotz der aktuellen allseitigen Unbeliebtheit des Religionsbegriffs sei an diesem schon allein aus Ermangelung einer Alternative festzuhalten, und zwar unter Einbeziehung der ja auch von Dierken und anderen geforderten Kritik seiner universalistischen Prätentionen und in Verbindung mit einer den Umgang zwischen den je partikularen Religionen korrigierenden Hermeneutik. Entsprechend interessiert Korsch an Barths Religionstheorie vor allem der Teilaspekt der Unterscheidung zwischen wahrer Religion und Religion als Unglaube. Hier werde religiöse Selbstkritik ins religiöse Bewusstsein integriert und dieses dann mit Jesus Christus als dem einen Wort Gottes mit einer unableitbaren individuellen Gegebenheit konfrontiert. Ein derart christologisches Verfahren sei deshalb nicht als bloße Variante eines christlichen Imperialismus und autoritären, voraufklärerischen Dogmatismus einzustufen, weil die gegebene Individualität immer schon ein rezipierendes Individuum voraussetze, welches anerkennungstheoretisch gesehen ja als solches nur durch die unbedingte Anerkennung seitens einer externen Instanz begründet werden könne. Eine Christologie, die sich als Vermittlungsbewegung zwischen dem Absoluten und dem Individuellen und als orientierendes Hilfsmittel für die Reflexion des je eigenen Glaubens darbiete, diene strukturell dem Vergleich der eigenen mit den je anderen partikularen Religionen anstatt sich diesen zu entziehen. Angesichts des faktischen Nebeneinanders von Religionen in der einen gemeinsamen Welt, so Korschs abschließender Vorschlag, sei die dogmatisch-theoretische Ebene allerdings auf der ethisch-praktischen Ebene gesellschaftlich zu erweitern, wobei sich als hermeneutischer Ausgangspunkt wiederum eine Verbindung zwischen der internen Reflexion der eigenen mit der externen Reflexion der eigenen durch die jeweils andere Religion empfehle. Den systematisch-einführenden Beiträgen folgen zwei theologiegeschichtliche Übersichten, die sich beide unter anderem auch mit Karl Barths religionstheoretischem und theologiegeschichtlichem Gegenspieler Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher beschäftigen. Beide Übersichten streifen zudem gedanklich die Fragestellung, ob man die Theologie Karl Barths nicht auch als eine theologische Variante zu einer Dialektik der Aufklärung avant la lettre betrachten könne. Jan Rohls macht in seinem Beitrag Karl Barth und die Romantik deutlich, dass die ursprünglich von der Ablehnung des bürgerlichen Realismus motivierte anfängliche konstruktive Suchbewegung des jungen, noch vordia-

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lektischen Barth bei romantischen (und also potentiell intern-aufklärungskritischen) Denkern wie Schopenhauer und Novalis sich spätestens seit der Römerbrieftheologie zu einer umfassenden Kritik der Theologie des 19. Jahrhunderts überhaupt entwickelt habe und dass Barth diese Kritik wesentlich als eine Kritik am synthetischen Denken der Romantik präsentiert habe. Dabei habe Barth spätestens ab der zweiten Auflage des Römerbriefs das romantische und damit auch das schleiermachersche Religionsverständnis in den Mittelpunkt gestellt, wobei er im Rahmen einer Vorlesung zur Theologie Schleiermachers im WS 1923/24 seine Wahrnehmung der Romantik mittels der Lektüre von Schleiermachers Weihnachtsfeier, derVertrauten Briefe über die Lucinde und der Reden über die Religion komplettiert habe und das 19. Jahrhundert dann in der 1926 in Münster gehaltenen Vorlesung über die Geschichte der Theologie im 19. Jahrhundert schließlich generell als Antiprogramm zu dem von ihm selber anvisierten dialektischen Gegenentwurf betrachtet habe. Susanne Hennecke beschäftigt sich in Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Eine Verhältnisbestimmung aus niederländischer Perspektive mit einer modernitätstheoretisch gesehen alternativ gelagerten Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Barth und Schleiermacher aus der Außenperspektive des niederländischen Theologen Hendrikus Berkhof. Berkhofs depolarisierende Lektüre der theologiegeschichtlich gegebenen Spannung kann dabei vor dem Hintergrund des niederländischen Kontextes seiner Barthrezeption erklärt werden: Ab den 20er Jahren habe sich in den Niederlanden aufgrund des dortigen überaus großen Einflusses von Karl Barths Theologie eine neue theologische Strömung herausgebildet, die sich spätestens ab den 70er Jahren als reformbedürftig erwiesen habe und darum mit dem Ansatz von Schleiermachers Theologie kombiniert werden solle. Die Entschärfung des üblicherweise angenommenen theologiegeschichtlichen Gegensatzes sei unter anderem deswegen möglich, weil Barths Theologie aufgrund ihrer theologischen Verarbeitung der Säkularisierung und insbesondere dank ihrer theologischen Integration der Erfahrung der modernen Gottlosigkeit das spezifisch spätmoderne Lebensgefühl sehr ernst genommen habe. Angesichts der nur sehr verspäteten Verarbeitung der Aufklärungskultur seitens der modernen Theologie und ihres zunehmenden methodischen Rückzugs, dem erst Ernst Troeltsch wirklich wieder etwas entgegenzusetzen gehabt habe, sei Karl Barth als der erste Theologe zu betrachten, der theologisch wieder Anschluss an das zeitgenössische und mithin spezifisch spätmoderne Lebensgefühl gefunden habe. Barths Theologie stehe anders als oftmals angenommen nicht in Spannung zur modernen Theologie, sondern sei gerade auch wegen der Integration der Religionskritik als deren spätmoderne Radikalisierung zu betrachten. Bevor die Religionen im zweiten Teil des Bandes selber zu Wort kommen, nehmen die letzten beiden Beiträge des ersten Teils in Anschluss an diese systematisch-theologisch einführenden und theologiegeschichtlich erhellenden

Karl Barth und die Religion(en) – eine Einleitung

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Beiträge zur Religionsthematik bei Barth das mit Barths Christologie verbundene Problem der Pluralität der Religionen genauer in den Blick, und zwar wiederum in unterschiedlicher Art und Weise: Während der eine Beitrag deutlicher auf die Frage nach der Möglichkeit eines interreligiösen Dialog abzielt, berücksichtigt der andere zusätzlich eine innerindividuelle Ebene und zielt auf einen radikalen und radikal-modernen Pluralismus ab. Zunächst zu Reinhold Bernhardts Beitrag Religion als Götzendienst? Barth und die Religionstheologie, der auf die interreligiöse Thematik mittels einer äußerst scharfen Sichtung von Karl Barths Religionsbegriff im §17 der Kirchlichen Dogmatik fokussiert: Barth bringe in Bezug auf nicht-christliche Religionen einerseits eine radikalisierte theologische Religionskritik zum Einsatz, rede aber in Bezug auf die eigene christliche Religion andererseits positiver von einem Darstellungsraum für die Offenbarung. Wegen der nur einseitig angewandten dialektischen Denkform, so Bernhardts Diagnose, weise Barths Religionstheologie einen deutlichen Mangel an Dialoginteresse auf. Eine produktive Aufnahme von Barths Religionstheologie in den zeitgenössischen religionstheologischen Diskurs erweise sich außerdem auch darum als problematisch, weil Barths Religionsbegriff von Schleiermacher her geprägt sei und so weder die Selbstdeutung der Religionen noch ihre plurale Verfasstheit mit einbeziehe. Ein weiteres Hindernis sei Barths – wenn auch dialektisch geprägter – christlicher Exklusivitätsanspruch. Trotz dieses negativen Befundes seien jedoch auch einige positive Anknüpfungspunkte für den interreligiösen Dialog in der Theologie Karl Barths auszumachen. Zu denken sei an Barths Integration der Religionskritik (1) als Aufhebung der Gestalt des Glaubens (i. e. Jesus Christus) zum Grund des Glaubens (2) und damit verbunden die Anerkennung der partikularen (3) Universalität (4) des eigenen Glaubens, der seine Ausstrahlungskraft unter Einbezug einer pneumatologischen Ergänzung (5) sogar bis hin in die Geschichte und Religionsgeschichte entfalten könne. Folkart Wittekind beschäftigt sich demgegenüber in Christologie und Religionen bei Karl Barth detailliert mit der Frage, welche Bedeutung eine bestimmte inhaltliche Setzung (i. e. Jesus Christus) eigentlich überhaupt für die Wahrheit einer Religion haben könne. Barths wahrheitstheoretische Berufung auf den Namen Jesus Christus, so die auf den innersubjektiven Bereich abzielende These, trage zu einer reflexiven Klärung der Struktur eines individuellen hermeneutischen Aktes bei, der gerade an religiösen – etwa christologischen – Inhalten vollzogen werde. Wenn Barth also die Frage nach der christlichen Wahrheit wesentlich mit der internen Reflexionsfähigkeit verbinde, sei weiterhin nach der Bedeutung einer solchen Annahme für den Umgang mit einem faktischen religiösen Pluralismus zu fragen. Diesbezüglich entstehe bei Barth tatsächlich eine Schieflage: Während er die oberflächliche Benutzung von Inhalten nur in der eigenen Religion christologisch-reflexiv bekämpfe, fungiere diese zugleich als Platzhalter für die allgemeine Notwendigkeit religiöser und

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kultureller Binnenreflexion. Die Verwendung der christologischen Reflexionsfigur unterscheide sich dabei allerdings auf entscheidende Weise von einem abstrakten Begründungsdenken. Angesichts der Pluralität der Religionen rege sie nicht nur zu einer Partikularisierung universalistischer Konzeptionen an, sondern auch zu einer Pluralisierung der inhaltlichen Bindung an den Namen Jesus Christus.

Religionen Angesichts dieser bereits innerchristlich breitgefächerten Debatte um die Dialogfähigkeit der barthschen Theologie, ist es nun besonders interessant, sich den Wahrnehmungen anderer Religionen zuzuwenden. Martin Leiner vertritt dabei mit einem Beitrag über Karl Barth und die jüdische Religionsphilosophie einen Aspekt aus dem Bereich des Judentums. Herauszustellen sei zunächst die große disziplinäre, persönliche und auch stilistische Entfernung zwischen den jüdischen Religionsphilosophen (insbesondere des 20. Jahrhunderts) und Karl Barth. Diese werde zusätzlich von einer nur inzidentellen und oftmals auch verzerrten gegenseitigen Wahrnehmung begleitet. Demgegenüber stehe jedoch die hohe inhaltliche Bedeutung des gegenseitigen Austauschs, die an der Innovationskraft der gewählten Themen festgemacht werden könne. So sei von Barth nachweislich das Ursprungsdenken von Herrmann Cohen, das im Patmoskreis (u. a. Franz Rosenzweig, Eugen Rosenstock-Huessi, Hans Ehrenberg) diskutierte Thema der negativen Dialektik und schließlich das dialogische Denken Martin Bubers rezipiert worden. Eine besondere Bedeutung komme Franz Rosenzweig zu, bei dem sich eine große inhaltliche Nähe zu Barths Dialektik- und Alteritätsbegriff und auch eine vergleichbare Kritik des Religionsbegriffs abzeichne, dem jedoch Barths aktive Weigerung einer näheren Kenntnisnahme dieses jüdischen Denkers gegenüberstehe. Auf der Seite der jüdischen Religionsphilosophen insgesamt wurde besonders der Vorwurf eines nur negativen Paradoxes bei Barth traditionsbildend. Doch habe man auf beiden Seiten verfeinerte Dialektikauffassungen entwickelt, die auch religionstheoretisch relevant und weiterführend gewesen seien: Habe etwa der jüdische Religionsphilosoph Gershom Scholem versucht, Barths Offenbarungsverständnis in Richtung auf einen Religionspluralismus zu öffnen, so habe Barth selber durch die Integration von für die jüdische Religionsphilosophie relevanten Themen wie Verborgenheit der Offenbarung Gottes, Unverfügbarkeit der Offenbarung und Geheimnis der Offenbarung eine wesentlich komplexere Auffassung der Dialektik entwickelt. Die stärkste und durchgängigste Rezeption der jüdischen Religionsphilosophie verdanke sich allerdings zweifelsohne Barths – oftmals auch verzerrtem – Interesse für die Ich-Du-Philosophie Martin Bubers in der Kirchlichen Dogmatik.

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Der überaus erhellende Beitrag endet mit einer Erinnerung an die bei Barth und den jüdischen Religionsphilosophen wiederum sehr unterschiedliche Bedeutung des Verborgenheits-Themas – und der Erkenntnis, dass die Einsichten des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber letztlich hilfreicher für den interreligiösen Dialog seien als die exklusiv-inklusive Theologie Karl Barths. Es folgen zwei äußerst innovative Beiträge zum Islam, die gerade in ihrer Unterschiedlichkeit auch etwas von dem Phänomen der Wiederholung interner christlicher Debattenlagen im interreligiösen Gespräch zeigen: Wird Karl Barth in dem einen Beitrag als ein repräsentatives Beispiel für einen was den Islam betrifft lernunwilligen christlichen Theologen angesehen, betrachtet ihn der andere Beitrag als einen den Islam potentiell bereichernden Gesprächspartner. Orientiert sich der eine Beitrag am historischen Jesus als theologischem Maßstab, so der andere Beitrag am Begriff der Offenbarung. Muhammad Sameer Murtaza zeigt in Was Karl Barth vom Islam hätte lernen können zunächst auf, dass sich der (deutsche) Protestantismus in den letzten Jahren immer wieder vom Islam abgegrenzt hat. Als Gesprächshindernis auch in Bezug auf das Judentum habe sich das christliche trinitarische Bekenntnis und damit verbunden der Inkarnationsgedanke erwiesen. Eine genauere Analyse speziell von Barths trinitarisch begründeter pauschaler Verurteilung des Islams zeige zudem, dass diese inhaltlich gesehen auf einem Missverständnis basiere, dem auf islamischer Seite umgekehrt eine dem ursprünglichen Christentum gerade sehr nahestehende Wahrnehmung Jesu und eine einladende Einstellung zum Christentum gegenüberstehe. Als das eigentliche und unbedingt auszugleichende Defizit von Karl Barths Theologie erweise sich, so Murtaza, die auch für den christlichtheologischen Mainstream insgesamt zu beobachtende Vernachlässigung des historischen Jesus. Akzeptierte nämlich die christliche Theologie den historischen Jesus (wieder) als ihren eigentlichen Maßstab, so der im Anschluss an Hans Küng und andere formulierte Gedanke, könnten sich inspirierende Gesprächsperspektiven mit der koranischen (!) Christologie ergeben. Dies gelte gerade auch für Karl Barth, und so gesehen könne Karl Barth tatsächlich etwas vom Islam lernen, nämlich die Rückbesinnung auf den historischen Jesus. Ruggero Vimercati Sanseverino betrachtet hingegen in Die Offenbarung Gottes an Muhammad als kritischer Maßstab der Theologie? Versuch einer interreligiösen Begegnung mit Karl Barths Denken gerade die für Karl Barth ja charakteristische Betonung des Offenbarungsbegriffs als das eigentliche verbindende Thema zwischen christlicher und islamischer Theologie. Die Vorbildlichkeit und Attraktivität von Barths Offenbarungstheologie sei doppelter Natur: Pragmatisch gesehen bestehe sie darin, dass Barths Offenbarungstheologie Fragestellungen der westlichen Moderne aufgenommen und sie theologisch verarbeitet habe, und inhaltlich gesehen eröffne insbesondere Barths Rede von der Unverfügbarkeit der Offenbarung und seine Frage nach der Möglichkeit der Gottesrede

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überhaupt einschließlich der damit verbundenen Aktualisierung der Götzenkritik als theologischer Religionskritik neue komparativ-theologische Perspektiven. Im Anschluss an diese Überlegungen arbeitet Sanseverino dann in Anlehnung an Barths Vorgehensweise auf eindrucksvolle Art und Weise die sachgemäße islamische Bedeutung des Offenbarungsmaßstabes detailliert aus und kommt dabei zum Schluss noch einmal auf das pragmatische Interesse an der Theologie Karl Barths zu sprechen, nämlich die Relevanz des krisentheoretischen Anspruchs der frühen dialektischen Theologie für die derzeitige Situation des Islams. Das islamische Denken, so Sanseverinos Einschätzung, unterliege derzeit den diskursiven Einschränkungen eines sich betont liberalprogressiv gebenden Islams, die mithilfe von Barths theologischer Kritik moderner Selbstgewissheiten aufgelockert werden könnten, und zwar mit dem Ziel, einem zukünftig komplexeren Verständnis der Moderne und ihrer Umbrüche den Weg zu bereiten. Anders als im islamisch-christlichen Austausch spielt die Theologie Karl Barths in buddhistisch-christlichen Diskussionszusammenhängen schon seit längerem eine recht prominente Rolle. Dem steht allerdings eine nur unzureichende Erforschung der Wahrnehmung des Buddhismus in der dialektischen Theologie gegenüber, eine Forschungslücke, die nun vom Religionswissenschaftler Michael Pye unter besonderer Berücksichtigung von Karls Barths Wahrnehmung des Buddhismus im §17 der Kirchlichen Dogmatik geschlossen wird. Pye benennt zunächst deutlich die Hindernisse, die einem Vergleich zwischen dem Buddhismus und dem Christentum ganz allgemein im Wege stehen, nämlich der westlich-christlich-hegemoniale Begriffsrahmen und die unzureichende Quellenlage beziehungsweise deren unzureichende Interpretation. Auch die Karl Barth nur aufgrund einer Verzerrung möglich gewesene Entdeckung einer Parallele zwischen dem protestantischen Christentum und dem AmidaBuddhismus bedürfe daher der Aufklärung: Zwar könne man mit Barth die gemeinsame Ablehnung der Werkgerechtigkeit betonen, doch habe das nichts mit der Suche nach einem angeblich möglichst einfachen Heilsweg zu tun. Und da die von Barth betonte gnadenreligiöse Affinität beider Religionen wesentlich stärker sei als Barth glauben machen wolle, überzeuge auch die alleinige Qualifikation des Christentums als wahrer Religion nicht. Der religionswissenschaftlich feststellbare Unterschied zwischen Christentum und Buddhismus beziehe sich schließlich auch nicht so sehr auf die Alternative zweier Namen (Jesus Christus vs. Amida-Buddha), wie Barth behaupte, sondern sei inhaltlicher Natur : Handele es sich nämlich beim Amida-Buddha nachweislich um eine mythologische Konstruktion, werde der Name Jesus Christus mit einer konkreten historischen Gestalt verbunden. Dieser letzte Befund stößt bei dem japanischen Theologen Yoshiki Terazono durchaus auf Zustimmung. In seinem

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Beitrag zur Rezeption der Theologie Karl Barths in der japanischen (Religions-)Philosophie unter besonderer Berücksichtigung von Kitaro Nishida und Katsumi Takizawa weist er nichtsdestotrotz auf eine vom buddistisch-christlichen Grenzgänger Katsumi Takizawa entdeckte Strukturparallele zwischen Karl Barths Christologie und der buddhistischen Verhältnisbestimmung zwischen dem Absoluten und dem Relativen hin. Takizawa habe im Laufe seiner innovativen Barthlektüre eine sogenannte Immanuel-Christologie entwickeln können, mit der er dem auch bei Barth vorfindlichen westlich-christlichen Absolutheitsanspruch einen Riegel habe vorschieben wollen. Als wirklich treuer BarthSchüler habe sich Takizawa aufgrund seines praktisch-theologischen Engagements für Frieden und Versöhnung erwiesen, das im Anschluss an die sogenannte Lichterlehre in der Kirchlichen Dogmatik mit einem friedlichen Dialog zwischen den Religionen unbedingt zu verbinden wäre. In dem methodisch gesehen komparativ-theologisch orientiertem Beitrag von John N. Sheveland, Existential Poverty. Christian and Hindu: Barth in Dialogue with Vedanta Desika wird schließlich am Beispiel des Hinduismus eine um Konsonanz bemühte Integration von barthscher Innenperspektive und nicht-christlicher Außenperspektive zum Programm erhoben. Ausdrücklich geht es in dem Vergleich zwischen Karl Barths biblisch orientierter theologischer Anthropologie in der Kirchlichen Dogmatik III/2 und Vedanta Desikas spezifische Lektüre des klassischen Hindutextes Bhagavad Gita um die Suche nach strukturellen Äquivalenten, mit deren Hilfe historisch gesehen unzusammenhängende Kontexte systematisch aufeinander bezogen werden können. Die gesuchte Resonanz stelle sich in der Betonung menschlicher Verlorenheit und spiritueller Unwirksamkeit von Heilswegen und der damit einhergehenden Frustration menschlicher Willenskraft in Bezug auf das Göttliche ein. Eine Konsonanz ergebe sich auch aus der Anerkennung einer fundamentalen und dialektisch organsierten Asymmetrie im gott-menschlichen Verhältnis. Diese werde beidseitig als transitorischer Zwischenraum gedacht, in dem ein menschliches Defizit von einem vorrangigen Übermaß göttlicher Gnade, das dieses Defizit erst enthülle, beruhigt werde. Sheveland endet ähnlich wie Terazono und andere mit einem dem theoretischen Befund entsprechenden praktisch-theologischen und gesellschaftlich-ethisch relevanten Vorschlag.

Ökumene Dass Karl Barths Affinitäten mit der Ökumene sehr breit gefächert und für ihn zudem theologisch substantiell waren, ist die Ausgangsthese von Michael Weinrichs Prospekt Karl Barth und die Ökumene. Barths Kirchliche Dogmatik biete gerade in ihrer selbstkritischen Ausrichtung sowohl eine Beschäftigung mit

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Susanne Hennecke

allen für die Ekklesiologie relevanten Themen bis hin zur Theologie der Religionen als auch einen spezifischen eigenen Beitrag zur Ökumene, nämlich die ekklesiologische Einbeziehung Israels. Als wichtig erweist sich nach Weinrich auch eine betont kontextuelle Evaluierung von Karl Barths bleibender theologischer Relevanz: Sei Barths theologische Konzentration auf die Kirche und seine Umgangsweise mit der Wahrheitsfrage vor dem Hintergrund zunehmender Säkularisierung durchaus überzeugend gewesen, überzeuge in der heutigen pluralistischen Gesellschaft und in Hinsicht auf die Entwicklung einer Theologie der Religionen hingegen seine Einsicht in die menschliche Rechtfertigungsbedürftigkeit und seine Erinnerung an die Notwendigkeit eines selbstkritischen Selbstverhältnisses zu der je eigenen Religion und Wahrheit. Daran anschließend arbeitet Andreas Pangritz in seinem Beitrag Zur Rezeption Karl Barths und der dialektischen Theologie in der russischen Religionsphilosophie eine der Unterthesen Weinrichs über die Relevanz der barthschen Theologie für die protestantisch-orthodoxe Ökumene noch einmal detaillierter und unter expliziter Einbeziehung einer orthodoxen Perspektive aus. Anhand einer kurzen Einführung in das Denken des russischen Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew, der gerade nicht stellvertretend für die gesamte russische Religionsphilosophie stehen soll, wird deutlich, dass dieser vor allem die sich mit dem Aufkommen der dialektischen Theologie ankündigende Überwindung des protestantischen Liberalismus begrüßt habe, als dessen Kehrseite er jedoch eine konfessionelle Selbstbehauptung befürchte. Aufgrund ihres Transzendentismus und Antihumanismus sei die dialektische Theologie trotz ihres für das Gespräch mit der russischen Orthodoxie interessanten Potentials als die lediglich andere Seite des Immanentismus und Humanismus Schleiermachers zu betrachten. Gegenüber Berdjajews Kontrastierung von trinitarischem und alttestamentlich-islamitischcalvinistischem Monotheismus, so Pangritz’ Erwägung, gewinne Karl Barths beziehungshaftes Monotheismusverständnis in der Trinitätslehre der Kirchlichen Dogmatik für das interreligiöse Gespräch mit dem Judentum und dem Islam an Attraktivität. Etwas andere ökumenische Wege schlagen die beiden rezeptionsästhetisch interessierten Beiträge von Harald Matern und Susanne Hennecke ein, die sich unter Bezugnahme auf die Religionsthematik mit den produktiven Folgen von Karl Barths früher Theologie in den Vereinigten Staaten (Matern) und den Niederlanden (Hennecke) beschäftigen. In Karl Barth und ,Amerika‘. Zur ökumenischen Produktivität des Missverständnisses geht Matern auf die Differenz zwischen Barths Autorintention und der amerikanischen Leserperspektive ein. Während der junge Barth ab den 20er Jahren eine ökumenische Theologie entfaltet habe, in der von Amerika immer wieder kritisch wie von einem religiösen Phänomen gesprochen worden sei, habe sich bei seinen amerikanischen Rezipienten paradoxerweise gerade ein

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religiös zu nennendes Interesse an seiner Person und Theologie entwickelt, was bei Barth selber zunehmend auf Unbehagen gestoßen sei. Eine Revision dieses beidseitig negativ konnotierten Bildes der jeweils anderen Seite habe erst durch das Eingreifen des schweizerischen Ökumenikers Adolf Keller stattfinden können. Allerdings, so Materns Analyse, seien Kellers Aktivitäten nicht als Korrektur des entstandenen Missverständnisses zu bezeichnen, sondern als eine diesbezügliche Rezeptionslenkung. So habe Keller den deutschsprachigen Ländern den funktionalen amerikanischen Kirchenbegriff nahe bringen wollen und den Amerikanern die kirchenpolitische Funktionalität der Dialektischen Theologie. Rezeptionsästhetisch interessant ist Materns methodische Reflexion der Vorgänge, die deutlich macht, dass auch die missverständliche Wahrnehmung eines Textes zu dessen Gesamtbedeutung durchaus beitragen kann. Susanne Hennecke lenkt ihr rezeptionsästhetisches Interesse in dem Beitrag Zur Kritik von Karl Barths Religionskritik. Beispiele aus den Niederlanden unter besonderer Rücksicht des religionspluralistischen Ansatzes von Hendrik Kraemer hingegen noch einmal auf die Niederlande. Vor dem Hintergrund der überaus großen Bedeutung Karl Barths für die Niederlande wird deutlich, dass der niederländische Religions- und Missionswissenschaftler Hendrik Kraemer der erste war, der sich in den Niederlanden mit dem Religionsverständnis (des jungen) Karl Barth(s) beschäftigt hat. Im Gegensatz zu den meisten anderen niederländischen Rezipienten habe er Barths Religionsverständnis jedoch nicht vor dem Hintergrund der Säkularisierung, sondern – so die ausführlich belegte These des Beitrags – in Hinsicht auf eine begegnende Pluralität von Religionen rezipiert. Das Resultat, so Hennecke, sei eine von Barth herkommende, aber eigenständige Variation zu Barths §17 der Kirchlichen Dogmatik, in der die bei Barth bereits integrierte religionswissenschaftliche Perspektive methodisch sogar noch vorgeordnet und um eine theologiegeschichtliche Kontextualisierung von Barths Theologie als einer Radikalisierung der liberalen Theologie ergänzt worden sei. Nach einem Exkurs zur Kraemerrezeption bei Hans Joachim Kraus endet der Beitrag mit einer These zur Andersheit (vieler) niederländischer Barthrezeptionen im Vergleich zur deutschen Wahrnehmung. Die Blickrichtung wird noch einmal gewechselt, wenn sich die beiden folgenden Ansätze in Anschluss an den §17 der Kirchlichen Dogmatik auf eine jeweils explizit praxisbezogene Interpretation von Karl Barths Religionskritik konzentrieren. Verfolgt der eine Beitrag eine betont negative, so der andere Beitrag eine betont positive Aneignung dieser Kritik. Zunächst zu Dick Boers negativer Aneignung von Barths Religionskritik in „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Christich-atheistische Reflexionen zum ersten Gebot als Axiom einer radikalen Religionskritik, mit der er einer religionstheoretisch interessierten Lektüre des §17 eine befreiungstheologisch orientierte Lektüre gegenüberstellt. Boer zeichnet zunächst nach, inwiefern die (christliche) Religion

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für den Dogmatiker Karl Barth tatsächlich zu einem Problem geworden war, und verbindet seine Analyse in Anschluss an den niederländischen Barthrezipienten Kornelis Heiko Miskotte mit dem Vorschlag, das religionskritische Moment noch einmal stärker zu betonen und die christliche Gottesdienstpraxis als eine Antizipation dieser starken Negation zu betrachten. Eine Analyse von Barths Schrift Das erste Gebot als theologisches Axiom und die Lektüre zweier von Barth ursprünglich für die Schöpfungslehre in der Kirchlichen Dogmatik III geplanter Paragraphen unterstützen sein Plädoyer für eine betont aufgeklärte Barthlektüre: Barths biblisch motivierte, auf Befreiung hin orientierte Religionskritik sei als eine Radikalisierung der neuzeitlichen Religionskritik aufzufassen, sodass Offenbarung bei Barth ganz offensichtlich Aufklärung impliziere anstatt diese – wie oftmals behauptet – dogmatisch zu negieren. Erstaunlich sei allenfalls, dass Barth selber den neuzeitlichen Atheismus an keiner Stelle seines Gesamtwerks explizit als Bundesgenossen begrüßt habe, sondern ihn in puncto weltanschaulicher Geschlossenheit sogar mit der Religion gleichgesetzt habe. Eine aus gläubig-atheistischer Perspektive vollzogene Problematisierung der Religion erfordere allerdings zusätzlich zur transzendenten Verortung Gottes in seiner Offenbarung auch eine transzendente Verortung des Nichtigen. Die in seinem Fall christlich-religiöse Selbstkritik, so Boer in einer Nachbemerkung, sei nicht als Alternative zu einem religiös-pluralistischen Engagement zu betrachten, sondern stelle gerade ein verbindendes Element im Gespräch zwischen den Religionen dar. Katharina Eberlein-Brauns Ausgangspunkt in Lebenszusammenhang Ambivalenz. Ein Ausblick auf Religion als offener Umgang mit religiöser Motivik im Anschluss an Theodor W. Adorno und Karl Barth ist demgegenüber die Unhintergehbarkeit zeitgenössicher Ambivalenzerfahrungen. Ihre Herangehensweise zielt auf eine Verschiebung religionskritischer Diskurse hin zu religionsinterpretierenden Diskursen. Zentral müsse eine der Ambivalenz religiöser/religionskritischer Motivik angemessene offene, interpretierende und dynamische Umgangsweise mit ihr stehen. Anzuknüpfen sei an Adornos Kritik der (christlichen) Religion als eines abstrakten Religionsersatzes, auf deren Hintergrund Karl Barths Religionskritik wesentlich besser verstanden und evaluiert werden könne. So gehe etwa Barths Religionsbegriff genau wie der von Adorno von einem ursprünglich positiven Zusammenhang zwischen Religion und konkreter Erfahrung aus, eine These, die Eberlein-Braun mittels einer Zusammenführung von Barths Religionsbegriff im §17 und Barths Erfahrungsbegriff im §6 der Kirchlichen Dogmatik ausführlich belegt. Die Entdeckung der Religionskritik als offenem Umgang mit der Religion habe last but not least auch eine bildungstheoretische Dimension, die insofern an Barths aktualistisches Offenbarungsverständnis erinnere, als sie gerade nicht um eine Festlegung bestimmter Bereiche des Religiösen, sondern lediglich um momenthafte Aneignungen religiöser Motivik bemüht sei.

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Dorothea Sattler ergänzt das ökumenische Interesse des vorliegenden Bandes mit einer römisch-katholischen Sicht und einem bewusst biografisch gewählten Zugang. In Karl Barth und die christliche Ökumene. Gedanken aus einer römischkatholischen Perspektive hebt sie Karl Barths christologische Zentrierung trotz der in ökumenischen Zusammenhängen aktuell gerne diskutierten Gefahr eines christologischen Einheitsdenkens als auch noch heute wegweisend hervor. Georg Pfleiderer rundet schließlich die im dritten Teil und auch die im gesamten Band gebotene Pluralität von Einschätzungen und Zugangsweisen in dem etwas längeren Beitrag ,Aggiornamento‘. Zum Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths auf gelungene Art und Weise ab, indem er noch einmal auf den konstruktiven, modernen und ökumenischen Charakter von Barths Theologie hinweist. Die typische Modernität der Theologie Barths sei formaler Natur und setze sich aus Barths zeitkritischer Diagnostik, seiner Fähigkeit zur Selbstkorrektur und insbesondere auch aus seiner religionskritischen Reflexion des Offenbarungsgeschehens zusammen. Inhaltlich gesehen sei diese Theologie hingegen oftmals als antimodern zu bezeichnen. In Bezug auf Barths antimoderne Modernisierung seien fünf Phasen zu unterscheiden, die von der kulturkritischen Kulturtheologie des jüngeren über die Akademisierung und Verkirchlichung des mittleren bis hin zur ethischen Erschließung des theologischen Exklusivprinzips und schließlich zu dessen ideologiekritischen und ökumenischen Kontextualisierungen beim älteren Barth reichten. In Hinsicht auf das ekklesiologische Thema sei sogar eine Verdichtung von Barths religions- und selbstkritisch-reflexivem Potential zu beobachten. Barth, so schließlich Pfleiderers sich an den zeitgenössischen Modernismus/Postmodernismus-Debatten orientierende ökumenische Hauptthese, fasse die Kirche anti-substanzialistisch als eine reflexive Diskursgemeinschaft auf. Seine Einbeziehung Israels in den ökumenischen Diskurs verstärke diese antiessentialistische Deutung sogar noch und verhindere zugleich die Auflösung des Christentums in reine Diskursivität. Der Band schließt mit ab mit einem Vergleich deutscher und niederländischer Barthrezeptionen und fügt so am Schluss dem methodischen Pluralismus und der religiösen beziehungsweise ökumenischen Vielfalt noch einmal etwas hinzu, nämlich eine internationale Perspektive.

Dank An dieser Stelle angekommen, möchte ich mich als Herausgeberin noch einmal bei allen Beitragenden ganz herzlich für die Mitarbeit an der Tagung und die – oftmals ja auch sehr kniffelige – Zusammenarbeit bei der Überarbeitung der einzelnen Beiträge bedanken. Ein großes Dankeschön kommt auch dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht zu. Den Herausgeberinnen und Herausgebern der

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Susanne Hennecke

Reihe „Kirche – Konfession – Religion“ möchte ich insbesondere für die freundliche Aufnahme in die Reihe und Frau Susanne Köhler und Frau Anke Moseberg für die gute Zusammenarbeit bei der Erstellung der Druckvorlage danken. Außerdem danke ich Herrn Dr. Harald Matern für die zuverlässige Unterstützung bei den Korrekturarbeiten und Herrn Prof. Dr. Georg Pfleiderer für die Zuteilung seiner Assistenz. Mein ganz besonders großer Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Erstattung der Druckkosten und für die langjährige Förderung meines Forschungsprojekts „Die theologischen, politischen und kulturellen Rezeptionen der Theologie Karl Barths in den Niederlanden“: Einige bislang noch unveröfffentlichte Forschungsergebnisse aus diesem Projekt konnten in diesem Band der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Schließlich danke ich Herrn Prof. Dr. Andreas Pangritz für die Übernahme weiterer Unkosten.

I Religion

Jörg Dierken

Karl Barths Religionstheologie. Probleme und Potentiale

1.

Zwischen Radikalkritik und Selbstimmunisierung

Zum Markenzeichen von Karl Barths Religionstheologie gehört der scharfe Kontrast von Religion und Offenbarung. Das ist bekannt, irritiert dennoch in der Sache. Mit diesem Gegensatz scheint Barth bruchlos an das voraufklärerische Schema anzuschließen, wonach allein die göttlich autorisierte Offenbarung der Maßstab für die Welt des Religiösen sei, die es mithin in wahr und falsch einzuteilen gelte. Nur die christliche, weil von Gott geoffenbarte Religion ist danach wahr, die anderen seien indes bloßes Menschengemächte und mithin religiones falsae. Diese Unterscheidung unterscheidet sich wenig von exkludierenden Fundamentalismen, deren bedrückende Auswirkungen wir gegenwärtig erleben müssen. Zu deren Logik zeigt Barth nicht unerhebliche Parallelen. Allerdings weicht er an einem maßgeblichen Punkt davon ab. Denn auch das Christentum wird, sofern es menschlich praktizierte Religion ist, der Gottesoffenbarung gegenübergestellt. Auch es ist damit religio falsa und entspricht in solcher Negativprädikation anderen Religionen. In ihrem Gegensatz zur Offenbarung, für die theologisch der Begriff der Sünde steht, gibt es für Barth eine elementare Gleichheit der verschiedenen Religionen. Sie bedeutet freilich keine Anerkennung des jeweiligen Eigenseins. Legitime Alterität kennt Barths Religionstheologie im Feld des Menschlich-Religiösen nicht. Die Reichweite des Negativprädikats inkludiert alle Religionen gleichermaßen. Darum ist ihre tendenzielle Gleichheit keine Rehabilitation ihres jeweiligen Andersseins. Damit nähert sich Barth in einer Hinsicht dem aus der Aufklärung stammenden Bemühen, Religion als ,Angelegenheit des Menschen‘1 diesseits der Unterscheidung von religio vera und religiones falsae vergleichbar zu machen, an. Nur hat Barths Inklusivismus

1 Damit sei die Formel von Johann J. Spaldings Klassiker, Religion, eine Angelegenheit des Menschen, aufgenommen (zit. nach dem Neudruck der 3. Aufl. 1799), hg. v. W. E. Müller, Darmstadt 1997 [ursprl. Leipzig 1797].

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Jörg Dierken

die Konsequenz, dass Religion in ihrer menschlichen Allgemeinheit gerade zum Gegenstand von Negation wird. Barths Religionstheologie steht quer zu den aufklärerischen Bemühungen, das Religiöse im Zusammenhang mit der Evolution der menschlichen Kultur zu verstehen, in seiner phänomenalen Vielfalt vergleichend zu beschreiben und unter Einübung von Toleranz zur Beförderung von Humanität zu vervollkommnen. Damit scheint sie sich, gewissermaßen als theologische Variation der Dialektik der Aufklärung2, auf die Seite der Kritik einer solchen Religionsgeschichte des Fortschritts zu schlagen, freilich ohne Anerkennung des Eigenrechts des Vielfältig-Besonderen. Darum stößt sich Barth mit den um das Stichwort ,Postkolonialismus‘ gravitierenden Bestrebungen, gegen die vereinheitlichende Tendenz der faktisch vom christlichen Westen dominierten kolonialen Religionsgeschichte die Andersheit und das Eigenrecht verschiedener Religionen zu rehabilitieren.3 Alterität ist bei Barth exklusiv durch den christlichen Gott der Offenbarung besetzt. Damit sind auch der Anerkennung des Pluralen klare Grenzen gezogen. Neben pluralistischen Religionstheologien werden auch die inklusivistischen Modelle ausgeschlossen, nach denen subkutan die verschiedenen Religionen auf dem Weg zu einem ihnen unbekannten Absoluten, etwa letzte Realität genannt, unterwegs sind.4 Auf diese und weitere Abgrenzungen wird zurückzukommen sein. Barths Religionstheologie arbeitet noch mit einer weiteren Entgegensetzung, die aber nur die christliche Religion betrifft. Religion ist danach einerseits Unglaube, andererseits kann sie durch die Präsenz des offenbaren Gottes im Hl. Geist aus Gnade gerechtfertigt werden. So sehr der Religionsbegriff durch den Gegensatz zu dem der Offenbarung geprägt ist, so sehr kann von der Offenbarung her der Begriff der Religion umcodiert und geradezu gedreht werden. Offenbarung wird zur „Aufhebung der Religion“5. Religion gibt es danach nur im 2 Vgl. Max. Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, zit. nach dem Nachdruck Frankfurt a.M. 1969 [ursprl. New York 1944]. 3 Vgl. zum Stichwort ,Postkolonialismus‘: Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin, PostColonial Studies. The Key-Concepts, Abingdon/New York NY 2000; Maria do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan (Hg.), Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005; als Klassiker zu dem Problem: Edward Said, Orientalism, New York NY 1979 [ursprl. New York 1978]. 4 Vgl. exemplarisch: John Hick/Paul F. Knitter (Hg.), The Myth of Christian Uniqueness. Toward a Pluralistic Theology of Religions, Maryknoll NY 1987; John Hick, An Interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent, London u. a. 1990; Paul F. Knitter, Horizonte der Befreiung. Auf dem Weg zu einer pluralistischen Theologie der Religionen, Frankfurt a.M. 1997; Perry Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005. Vgl. zur Systematisierung der verschiedenen Positionen Christian Danz, Einführung in die Theologie der Religionen, Wien 2005, Kap. 2–4. 5 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2, Teilbd., Zollikon-Zürich 41948, 324, vgl. 337[ursprl. Zollikon 1938].

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Modus zwiefacher Negation, als Unglaube und als Aufhebung. Mit der Aufhebung durch die Offenbarung verliert der Religionsbegriff das, was ihn als Unglaube zunächst auszeichnet: die Daseinstechnik menschlicher Selbstrechtfertigung. Im Kontrast zur Offenbarung gilt Religion als „Versuch des Menschen, sich vor einem eigensinnig und eigenmächtig entworfenen Bilde Gottes selber zu rechtfertigen“6. Religion sei in diesem Sinn ein scharfer Ausdruck für das Grundproblem des Menschen und seiner Daseinstechnik.7 Daher sei sie, sofern im Gefälle der Generalhäresie der neueren Theologiegeschichte seit der Aufklärung im Ausgang vom Menschen verstanden, eben „Unglaube“ und „die Angelegenheit des gottlosen Menschen“8. Eine phänomenal gesättigte Begründung sucht man bei Barth vergebens. Die Beschreibung will denn auch dezidiert keine religionsphilosophische oder religionswissenschaftliche sein. Sie fußt vielmehr auf Barths Verständnis der Offenbarung Gottes in Christus und qualifiziert ,Religion‘ an dieser Folie als deren durchgängiges Negativ. Es ist nicht überraschend, dass der religiöse Unglaube geradezu einem menschlichen „Gegengott“9 gleicht. Religionstheologisch wird die Anthropologie zur Hamartiologie, freilich mit der Konsequenz eines dualistischen Gegenspielers Gottes. Eigentümlicherweise ist dieser Gegengott aber nichts an ihm selber, seine Konturen können nur im Gegenlicht der Offenbarung gewonnen werden. Der Selbstdarstellung Gottes und seiner Gnadengabe entsprechen im Negativ Unglaube und Selbstrechtfertigung durch Werke. Gleichwohl konzentriert sich nach Barth der religiöse Mensch auf einen gestaltlosen Innenraum. Darin zeige sich seine Schwäche, aller Gegengöttlichkeit zum Trotz. Aus diesem leeren Innenraum könne nur abstrakte Verneinung entstehen, sei es in der eher ruhigen Gestalt der mystischen Einnahme der Transzendenz, sei es in einem programmatischen Atheismus, der den Himmel dem Menschen vindiziert. Insofern diese Elemente der Bejahung aus der für Religion signifikanten Offenbarungsverneinung stammen, wird der privative Charakter der Religion nicht berührt. Religion ist für sie selbst letztlich nichts, selbst ihre Gegengöttlichkeit basiert auf der Offenbarung – freilich als Negativ. Daher gibt es neben dem Dualismus auch einen monistischen Grundzug bei Barth. Selbst die Negativität des Gott entgegenstehenden Gegenspielers ist von ihm her. Allerdings kann Gott nicht auch das Aktzentrum des durch Ausschluss Verneinten umfassen. Dieser monistische Grundzug, der keine Eigenständigkeit einer der göttlichen Offenbarung gegenüberstehenden Größe zulässt, macht sich religionstheolo6 7 8 9

Barth, KD I/2, 304. AaO., 308. 337. AaO., 327. AaO., 331.

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Jörg Dierken

gisch als „Begrenzung des religiösen Selbstbewusstseins“10 geltend. Damit ist der Übergang zur ,wahren Religion‘ gemacht. Wahr wird sie, wenn sie durch die Offenbarung aufgehoben und dadurch gerechtfertigt wird. Ihre Rechtfertigung hängt an ihrer „Negation“11 als eigenständige Größe durch Gott in Christus. Barth beschreibt dies mit den dogmatischen Begriffen der Schöpfung, Erwählung, Sündenvergebung beziehungsweise Rechtfertigung und Heiligung. Darin konkretisiere sich die die Religion rechtfertigende Gnade Gottes. Deren Pointe ist, dass die Religion nicht aus sich, sondern nur „von außen“12 wahr gemacht werden könne. Grundstruktur dafür ist, dass sie zum unselbständigen Prädikat an dem als Subjekt fungierenden Namen Jesus Christus wird. Im Blick auf die Beschreibung durch den Schöpfungsbegriff bedeutet das, dass die geschichtliche Gestalt der Religion „keine selbständige, in sich gegründete Existenz“13 hat. Erwählung meint ihre Ableitung von göttlichem Gefallen im Gegensatz zu religionsgeschichtlicher Genealogie. Sündenvergebung besagt, dass das christliche Selbstvertrauen von sich wegsieht auf die rechtfertigende Gottestatsache. Und Heiligung stellt auf eine Aussonderung der christlichen Religion aus dem Kreis der anderen Religionen ab.14 Barths positiver religionstheologischer Spitzensatz, „die christliche Religion ist die wahre Religion“15, sprengt denn auch den Religionsbegriff und löst die christliche Religion aus dem Zusammenhang mit anderen Religionen. Für diese bleibt es bei der einfachen Negation, dass sie ,Unglaube‘ und ,falsche Religion‘ sind. Das wird auch durch Barths Verdikte gegen den sog. Amida-Buddhismus, die Jodo-Shinshu-Schule des Reinen Landes, bestätigt. Obwohl von Barth selbst phänomenal als Gnadenreligion in großer Nähe zum protestantischen Christentum beschrieben, wird der Amida-Buddhismus scharf mit dem sehr formalen Argument zurückgewiesen, dass er eben nicht auf Christus bezogen ist – mag seine Hingabe- und Erlösungsfrömmigkeit noch so sehr der christlichen gleichen. Wenn die wahr gemachte christliche Religion aus dem menschlich-geschichtlichen Zusammenhang des Religiösen gelöst und ihm gegenüber gestellt wird, unterläuft Barth freilich sein eigenes Motiv, wonach Religion der Ort der Offenbarung in der menschlich-geschichtlichen Phänomenwelt sei, Offenbarung also gleichsam in, mit und unter der Religion zu ihrer subjektiven Wirklichkeit gelange. Anderenfalls verbliebe sie im Jenseits der menschlichen Wirklichkeit. Doch Barths offenbarungsanthropologische These, dass der Glaube auf eine Einordnung der menschlichen Selbstbestimmung in die Ord10 11 12 13 14 15

AaO., 363. AaO., 357. AaO., 356. AaO., 380. Vgl. aaO., 393. AaO., 357.

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nung der göttlichen Vorherbestimmung zielt, lässt fragen, ob es eine solche subjektive Wirklichkeit tatsächlich gibt. Wenn Barth betont, dass Offenbarung auf „sein (sc. dem Menschen) ihm in Jesus Christus genommenes Subjektsein“16 hinausläuft, wird mit der Negation der Religion als menschlicher Angelegenheit auch der subjektive Ort der Offenbarung doketisch verflüchtigt. Mit den beiden Urteilen ,Religion ist Unglaube‘ und ,Als gerechtfertigte ist die christliche Religion wahr‘ ist das Feld von Barths Religionstheologie abgeschritten. Als Maßstab für beide Urteile fungiert die Stellung zur göttlichen Offenbarung. Danach ist jedes widerständige Anderssein eines menschlichen Subjekts in seinem Denken und Handeln gegenüber der absoluten Subjektivität Gottes als sündhaft zu verneinen, eine Subjektqualität – sofern sie nicht als solche bereits sprachlich ausgeschlossen ist – kann dem Menschen nur als unselbständiger „Annex“17 an der göttlichen Wirklichkeit zukommen. Barth bemüht Analogien aus seiner christlogischen Vorordnung der göttlichen vor die menschliche Natur, und das Verhältnis von Offenbarung und Religion liegt ganz auf der Linie von Barths Beschreibung der Grundkonstellation von Gott und Mensch.18 Die kritische Negation von Religion überhaupt wird konsequent überführt in die Aussonderung der christlichen Religion aus dem Kosmos der übrigen Religionen, auf welche sich mit dieser Unterscheidung nunmehr allerdings die erste Verneinung bezieht. Den Zusammenhang beider Negationen stiftet allerdings nicht Gott selbst, sondern der sie abgleichende Dogmatiker. Der Gottesgedanke als solcher vermag den dualistischen Zug von Gott und Gegengott und seine monistische Korrektur im Sinne einer alleinigen Subjektqualität Gottes unter Annexion von der des Menschen nicht zu integrieren. Nur der Dogmatiker kann den dynamischen Zusammenhang zwischen beiden Urteilen und ihren begrifflich-theologischen Voraussetzungen herstellen. Diese Dynamik ist eine der Umkehrung, sie hat selbst Negationsstruktur. Ihr ontologischer Status ist mithin der eines aktualen Vollzugs. Sie ist dadurch selbst kontingent. Von solcher Kontingenz zehrt Barths Religionstheologie. Das ändert allerdings nichts daran, dass das Urteil ,Die christliche Religion ist die wahre Religion‘, mit dem diese im Sinne einer permanenten Religionskritik allen anderen gegenübergestellt wird, vom christlichen Dogmatiker gesprochen wird – wenn auch im Namen seines, des christlichen Gottes. Radikalkritik und Selbstimmunisierung gehen Hand in Hand. Es sei dahingestellt, ob das eine gute Basis für eine Verständigung zwischen verschiedenen Religionen darstellt.

16 AaO., 342. 17 AaO., 382. 18 Vgl. dazu vom Vf., Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher, Tübingen 1996, 16–112.

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2.

Jörg Dierken

Die Kontingenz christlicher Absolutheit

Blickt man hinter die Inszenierungskulissen von Barths Religionstheologie auf deren Programmlogik, so findet man an wenigstens zwei Schaltstellen Hinweise darauf, dass sie sich selbst und mithin auch ihre Urteile über die christliche Absolutheit kontingent fasst. Zum einen haftet der Übergang der ersten Negation, wonach Religion in christentumsübergreifender Universalität ,Unglaube‘ ist, zu der zweiten Negation, wonach ,Religion‘ als solche aufgehoben wird und die durch Aufhebung gerechtfertigte christliche Religion in Opposition zu allen anderen tritt, am Vollzug des dogmatischen Bewusstseins, das die Beziehung der Urteile durch Verschiebung der jeweiligen Negation stiftet. Es wird also kein Sachverhalt beschrieben, der unabhängig von seiner Beschreibung ,da‘ wäre. Barths Theologie kennt keine Zuschauerperspektive.19 Doch sie würde bestreiten, ihr Zentrum in der konstruktivistischen Tätigkeit des dogmatischen Bewusstseins zu haben – mag sein Vollzug sich auch aller Differenz, etwa von Beschriebenem und Beschreibendem, entziehen und in Ermangelung der Möglichkeit eines Abgleichs zwischen beidem als ebenso kontingent wie setzend erweisen. Diese setzende Kontingenz reflektiert sich allerdings nicht als solche. Barths Theologie inszeniert sich vielmehr als einfacher Reflex einer setzenden Kontingenz der Offenbarung Gottes. Das ist der zweite Hinweis auf die Kontingenz der christlichen Absolutheit. Gottes Offenbarung ist nach dem Gefälle von Barths diesbezüglicher Lehre letztlich ein ,Faktum‘. Allerdings soll es prinzipielle Bedeutung haben.20 Das streichen die verschiedenen Stufen des Wortes Gottes in Verkündigung, Schrift und Offenbarung heraus. Während bei Verkündigung und Schrift das jeweilige Faktum zugleich beansprucht, Prinzip zu sein, welches dann wiederum zum Faktum wird, um von einem gleichsam höheren Prinzip regiert zu werden, kommt es innerhalb der die Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes ermöglichenden Trinität und schließlich bei der Wesensbestimmung von Gottes Sein als solchem zum Zusammenfall von Prinzip und Faktum. „Gott ist, der er ist, in der Tat seiner Offenbarung“21. Seine darin wesentliche Aseität wird darin „faktisch bestätigt“, „daß er selbst, indem er ist, seine eigene Begründung ist“ – aller nachgängigen „Abgrenzung“ von dem „was er nicht ist“22 voraus. Damit wird über die Offenbarungs-, Trinitäts- und Got19 Vgl. Georg Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 2000, 29ff. 20 Vgl. zu diesem Zusammenhang Dietrich Korsch, Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, bes. 170ff.; Jörg Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus, aaO., 37ff. 49ff. 21 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II: Die Lehre von Gott, 1. Teilbd., Zollikon-Zürich 3 1948, 288 [ursprl. Zollikon 1940]. 22 Barth, KD II/1, 344.

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teslehre am Ende das Absolute in seiner Prinzipienfunktion selbst zum bloßen Faktum – und folglich kontingent gesetzt. Diese scheinbar abstrakten begrifflichen Überlegungen haben eine markante religionstheologische Pointe. Denn das Urteil über die christliche Religion ist vor diesem Hintergrund selbst kontingent. Es beschreibt keinen unabhängigen geschichtlichen oder sozialen Tatbestand, es expliziert keinen strukturellen oder logischen Sachverhalt, sondern sein Status ähnelt einer Behauptung, wenn auch mit gewisser Tarnung. Doch hinter der Tarnung zeigt Barths ereignisontologische ,Abschaffung des Zuschauers‘ an den indifferent werdenden Orten von Beschreibung wie Beschriebenem, dass diese Position nur in ihr selbst wurzelt. Sie ist eben kontingent – wie auch mögliche andere. Keine Behauptung kann als Behauptung ein grundsätzliches Primat beanspruchen, keine in ihrem Vollzug gründende Setzung hat als solche Vorang. Daher ist es gleichgültig, ob es sich bei solchen Behauptungen um dezidierte Konstrukte handelt oder ob ihre konstruktivistischen Momente von einem vermeintlich höheren Realismus verschattet werden. Darin dürfte die angesichts der herben rhetorischen Inszenierung überraschende Faszination Barths für postmoderne Denkweisen im weitesten Sinn liegen.23 Eine Klammer haben sie darin, dass klassische Narrative der Moderne verabschiedet worden sind.24 Das betrifft insbesondere das geschichtsphilosophische Narrativ des kulturellen Fortschritts von Wildheit zu Zivilisation, der insbesondere in den liberalen kapitalistischen Demokratien des Westens zum vorläufigen Ziel kommt. Dieses Narrativ hat im 20. Jahrhundert seine Plausibilität verloren. Insofern die westliche Religionskultur vom Christentum geprägt ist, gerät auch das neuzeitliche Konstrukt einer einheitlichen Religionsgeschichte, die von roher Superstition auf die moralische Frömmigkeit des Christentums zuläuft, ins Wanken. Dass der Religionsbegriff, dessen steile Karriere in der Neuzeit verlief, vom Christentum aus entworfen ist und daher 23 Diese sind alles andere als einheitlich, das Stichwort ,Postmoderne‘ fungiert als Label für höchst verschiedene Denkweisen. Allenfalls fungiert die Absetzung von der Moderne mit ihrem Bestreben vorgeblicher Vereinheitlichung als verbindende Klammer. Allerdings kann die Moderne auch im Zeichen von Differenzierung und Pluralisierung gedeutet werden, und die Postmoderne firmiert als deren Radikalisierung. Vgl. als Überblick: Philipp Stoellger, Barth und die Postmoderne. Perspektiven auf eine prekäre Konstellation, in: Martin Leiner/ Michael Trowitzsch (Hg.). Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen 2008, 397–432 (mit weiterer Literatur). Exemplarisch sei ferner genannt: Michael Welker, Dogmatische Theologie und postmoderne Metaphysik. Karl Barths Theologie, Prozeßtheologie und die Religionstheorie Whiteheads, in: NZSTh 28, 1986, 311–326 , Gary Dorrien, The „Postmodern“ Barth? The Word of God As True Myth, in: The Christian Century, April 2, 1997, 338–342; Christiaan Mostert/Geoff Thompson (Hg.), Karl Barth. A Future of Postmodern Theology?, Adelaide 22001. 24 Darauf weist Dietrich Korsch hin, vgl. ders., Theologie in der Postmoderne. Der Beitrag Karl Barths, in: Ders., Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, 74–92.

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eine Fremdbeschreibung nichtchristlicher Religionskulturen darstellt, untergräbt seine vermeintliche Neutralität, mit der er die schroffe Unterscheidung von Gottesautorität und heidnischem Lügengemächte unterlaufen wollte. Hinzu kommt, dass seine Ausbreitung im Kontext der kolonialgeschichtlichen Etappe der Globalisierung erfolgte. Deren Legitimitätsverlust betrifft auch die christliche Mission, mitsamt der in ihrem Fahrwasser verbreiteten westlichen Bildung, Medizin und Hygiene.25 Aus der Kritik dieser und weiterer Narrative der westlichen Moderne beziehen solche Denkweisen, für die das Stichwort Postmoderne herangezogen wurde, eher ihre Plausibilität als aus den ihrerseits kontingenten Positionierungen, die sich am Markt gegenüber anderen Positionierungen behaupten müssen. Mag das Stichwort ,Postmoderne‘ auch weiterer Differenzierung bedürftig sein, es kann dennoch im Rahmen einer Barth-Interpretation als Ankerpunkt für Rezeptionstypen fungieren, die auf den Grundakkord der Kritikmuster der westlichen Legitimationsnarrative gestimmt sind und dabei zugleich auf schillernde Gegennarrative zurückgreifen. Dass gerade sie, die den Konstrukt-Charakter gesellschaftlicher Narrative durchschauen, die um die subkutanen Macht-Ansprüche von kulturellen Positionen wissen und die daher mit der Reduktion von deren Geltungsansprüchen die Anerkennung von Pluralität einfordern, sich auf Barths Theologie beziehen, mag zunächst erstaunen. Das Erstaunen relativiert sich, wenn die prinzipielle Kontingenz dieser Theologie und ihrer exklusiv-christlichen Wahrheitsbehauptung wahrgenommen wird. Mit dem Eingeständnis ihrer Kontingenz macht sich Barths Religionstheologie gleichsam ehrlich. Sie reiht sich in die Reihe anderer Ansprüche und Behauptungen ein. In deren Kontext gerät sie in eine praktische Auseinandersetzung mit offenem Ausgang. Wenn sie sich auf postmodernen Religionsmärkten positioniert, ist ihr Markenzeichen ein eher ,hartes‘, scharf konturiertes Produkt, das Marktvorteile gegenüber den ,weichen‘ und häufig nicht recht erkennbaren Linien liberaler Religionspositionen zu erheischen sucht.26 Die Unterscheidung von Freund und Feind steht. Dass Barths Religionstheologie, ihrer formalen Position als eine unter anderen zum Trotz, mit einem theologischen Exklusivismus in Alleingeltung operiert, korrespondiert mit der Kombination von kontingenter Behauptung und scharfen Opposita. Eine Monopolstellung ist 25 Vgl. dazu vom Vf., Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012, bes. 128ff; Andreas Nehring, Postkoloniale Religionswissenschaft: Geschichte – Diskurse – Alteritäten, in: Julia Reuter/Alexandra Karentzos (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, 327–341. – Im Zentrum postkolonialen Denkens stehen die Identifikation und Kritik von ,Diskursmächten‘ der Legitimierung imperialer Ansprüche, vgl. aaO., 168ff. 26 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004.

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daraus nicht ableitbar. Entsprechende Bestrebungen sind schon dadurch begrenzt, dass die in Gottes Namen wahrgemachte christliche Religion die anderen als oppositionelles Gegenüber braucht, um sich von ihnen absetzen zu können. Zur Mission mit Feuer und Schwert ruft Barth – unbeschadet mancher in solche Richtung weisenden Endsieg-Metaphern27 – freilich nicht auf, schon weil er im Zeichen der Differenz von Gott und Religion auch das Christentum der religionskritischen Negation aussetzt. Auch die christliche Religion ist momentan Unglaube: Das kann zum internen Ankerpunkt für eine selbstkritische Reflexion dieser Position werden und ein relativierendes Gegengewicht zum exkludierenden theologischen Absolutismus abgeben. Insofern Barth sich jedoch in seiner Kontingenz in das Spektrum postmoderner Behauptungen einreiht, unterliegt er selbst deren Beliebigkeit. Er ist dasjenige Element einer gleichgültigen Pluralität, das sich dadurch auszeichnet, diesen Status zugunsten eines externalisierten Geltungsgrundes aus dem Fokus zu rücken.

3.

Kontingent und absolut zugleich – oder die unerledigte Geltungsfrage

Wenn die Herbheit von Barths Religionstheologie für ihre Attraktivität im postmodernen Kontext steht, rückt das Thema der Wahrheit von Religion nach vorn. Indem Barth es forciert, nimmt er ein elementares Anliegen des religiösen Bewusstseins auf – unbeschadet systematischer Probleme. Das gilt jedenfalls aus der Perspektive des Christentums als einer um ,Glauben‘, ,Gewissen‘ oder ,Überzeugung‘ gravitierenden Religion, mit Parallelen zu anderen Religionen. Das Thema der Wahrheit oder Geltung bleibt legitim, mithin die Frage nach der Absolutheit von Religion, einhergehend mit einer Prätention auf Allgemeines im Besonderen. Wenn etwas als wahr für die eigene Überzeugung gilt, käme es einem Selbstwiderspruch gleich, wenn diese Wahrheit nicht auch für andere, tendenziell alle, Geltung beanspruchen soll und sich in possesivem Für-Bezug auf dieses partikulare Subjekt erschöpft. Gleichwohl bleibt die Einsicht in die konkurrierende Pluralität von Geltungsansprüchen, und auch das Wissen um die Kontingenz solcher Ansprüche lässt sich nicht abweisen. Barths Religionstheologie mag hierfür selbst als Beleg dienen. Das macht es erforderlich, das Geltungsthema so zu justieren, dass Kontingenz und Absolutheit gleichermaßen berücksichtigt werden. Vor dem Hintergrund von Toleranz, Kosmopolitismus und Globalisierung lässt sich indes ein entspannteres Verhältnis zur religiösen Pluralität gewinnen. 27 Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 3. Teilbd., Zollikon-Zürich 1959, 303 u. ö.

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Und die Kontingenz des Religiösen kann durch die Einsicht, dass religiöses Bewusstsein geschichtlich, sozial und kulturell vermittelt ist, mithin Veränderungen bis hin zu Konversionen und Synkretismen unterliegt und nicht auf argumentativer Demonstration beruht, zugänglicher werden als durch ein letztes Faktum. Dass in christlicher Perspektive religiöses Leben selbst eine Dynamik des Anderswerdens etwa von Sünde zu Gnade, vom alten zum neuen Menschen aufweist, unterstreicht solche Kontingenz und verbindet sie mit einer gleichsam absoluten Gültigkeit für ebendieses im Anderswerden begriffene Subjekt. Wenn das Geltungsthema mit dem Bewusstsein um Pluralität und Kontingenz des Religiösen verbunden wird, sind Differenzen zu einer gleichsam postmodernen Gleichgültigkeit gegenüber Geltungsgründen markiert. Ähnliches gilt gegenüber Eingemeindungsversuchen des religiös Verschiedenen als anonymes Christentum oder wenigstens Wege zu einem identischen Absoluten sowie für Ausgriffe auf vermeintliche Invarianzen wie eine anthropologisch konstante Religionsbedürftigkeit. Tendenzen zur beliebigen Vergleichgültigung, sei es im Sinne einer historistischen Relativierung von Geltung durch den Hinweis auf Gewordensein, sei es in deren postmoderner Wiederkehr in Gestalt von bloßen Positionsbehauptungen, weichen dem Geltungsproblem aus. Und Eingemeindungsversuche, wie sie in der These der Religionsgeschichte als Propädeutik der christlichen Offenbarung vorliegen, reiben sich mit der Anerkennung von religiöser Kontingenz und Pluralität, womit eine Delegitimierung des Andersseins des Anderen nicht vereinbar ist. Die These, dass es sich dabei um ein noch anonymes Christentum oder die Verehrung einer identischen Letztrealität handelt, hintergeht das Eigenrecht des jeweiligen religiösen Bewusstseins auf Selbstartikulation. Die undifferenzierte Annahme, dass Religion zur conditio humana gehört, kommt im Blick auf Atheismen und Religionsbestreitungen zu ihrem Ende. Mögen sich in psychologischer, soziologischer oder kulturtheoretischer Hinsicht auch funktionale Äquivalente zu Elementen des Religiösen aufweisen lassen, so gehört doch die Möglichkeit der Negation zu der mit Glauben, Gewissen und Überzeugung einhergehenden subjektiven Freiheit als einer religiös bejahten untrennbar hinzu. Und dass alle Religionen auf dem Weg zur einen, letzten Realität sind, hintertreibt nicht nur die Anerkennung tatsächlicher Pluralität, sondern wirft auch die Frage auf, warum die Theoretiker der vorgeblich pluralistischen Religionstheologie mehr wissen können als die religiösen Akteure auf diesem Weg. Diese kennen in ihrer religiösen Verschiedenheit ein solch identisches Absolutes gerade nicht. Angesichts dieser Sachlage sei vorgeschlagen, das religiöse Geltungsthema mit der Anerkennung bleibender Differenz zusammenzudenken. Dazu sind die Unterschiede verschiedener Religionen und ihrer Kulturen in einer differenzhermeneutischen Perspektive zu fokussieren. Soll dies sich nicht in äußerlicher Klassifikation erschöpfen, son-

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dern das eigene Dabeisein als Wurzelgrund der Geltungsfrage einbeziehen, rücken gerade die in eigener Optik religiös interessanten Themen anderer Religionen in den Vordergrund. In diesem Sinn wird auch die jüdische Bestreitung der Messianität Jesu angesichts des Ausstands der Erlösung für Christen religiöse Saiten zum Klingen bringen, auch wenn sie gerade keines Anderen als Erlöser warten. Ähnliches mag für die muslimische mittlerlose Unmittelbarkeit Aller zum Einen Gott gelten, mitsamt dem alle gleichermaßen betreffenden Vergemeinschaftungsmodell der Umma, auch wenn man am Sinn der trinitarischen Gewaltenteilung im Absoluten und der Differenzierung von kirchlicher und politischer Gemeinschaft festhält. Und im Blick auf nichttheistische östliche Formen wird auch der die religiöse Attraktivität der antistrategischen Strategie der Sinnerwartungsabdämpfung durch Verlöschen als Umgang mit Leiden und Lebensdurst nachvollziehen können, der an der Sinnform festhält und den am Subjekt haftenden christlichen Glauben als Stärkung von Personalität versteht. Die Beispielreihe ließe sich leicht verlängern. Durch Fokussierung des in eigener Sicht religiös Attraktiven auf der durch das jeweilige Gesamtsetting bleibend anderen Seite kommt es im Idealfall zu einem gehaltvollen Verständnis von religiöser Pluralität. Dessen praktische Seite sind durchaus streitbare Religionsdiskurse als Muster für unaufhebbare Geltungsansprüche im religiös Verschiedenen. Ohne ein Gemeinsames gibt es keinen diskursiven Streit, ohne Verschiedenheit indes auch nicht. Freilich muss Streitbarkeit mit Toleranz und Gewaltfreiheit einhergehen, bis zur Intoleranz gegenüber Intoleranz, schon angesichts der destruktiven Folgen von fundamentalistischen Religionskriegen für alle. Die Pointe von Toleranz besagt, zu ertragen, was in eigenen Augen unerträglich ist. Deren stärkste Herausforderung dürfte im eigenen Herausgefordertsein durch die anderen bestehen. Auch im Dissens gibt es Gemeinsames, um das gestritten wird. Eigenes Herausgefordertsein durch Andere zeigt sich etwa, wenn aus irgendwie ähnlichen Motiven heraus andere, geradezu konträre Positionen in grundlegenden Fragen der Lebensgestaltung bezogen werden. Das mag auf der Ebene der jeweiligen Symbolik liegen, kann sich aber auch auf Ausgriffe auf andere Lebensgebiete wie Politik, Recht oder Wirtschaft erstrecken. Die Motive für solch konträre Positionen können mit Stichworten wie Sinn, Deutung, Weltanschauung benannt werden – oder eben auch: Religion. Natürlich können auch die Positionen ähnlich sein und die Motive different. Darum unterscheidet sich Toleranz von Beliebigkeit. Diesseits des Grenzwertes reiner Toleranz liegen streitbare Religionsdiskurse, und zwar aus bestimmter Religion heraus. Sie schließen die Kritik von Religion ein und die Mission nicht aus: Negation und Allgemeinheit gehören zu Religion hinzu. Und sie schärfen die Wahrnehmung eigener Positionen im Gegenlicht von anderen: Insofern reichen sie virtuell in deren Identität hinein. Darum kann letzte Gleichheit und Einheit kein Ziel von Interreligiosität und Ökumene sein.

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Wenn man im Bewusstsein von Überzeugungskraft dessen gewahr wird, dass Andere etliches anders machen, dann geht damit die Anerkennung religiös legitimer Differenzen einher – sei es unterschiedlicher Typen von Religion, sei es unterschiedlicher Muster des Christlichen. Solche Anerkennung von Differenz und Pluralität schließt keineswegs aus, Religionen nach unterschiedlichen Graden von Komplexität und möglicher innerer Reflektiertheit kritisch zu beurteilen. Fundamentalistische Simplifizierungen, für die immer nur die anderen vom Teufel sind, sind eben vom Teufel. Und das Wissen um eigene Fehlbarkeit ist eben kein Fehler. Diskurs, Streit und Toleranz setzen ein Gemeinsames voraus. Differenzverhältnisse sind relational, und Relationalität verbindet gerade das Verschiedene. Insofern ist auch für ein differenzsensibles Konzept von interreligiöser Praxis und Ökumene das Thema ,Einheit‘ nicht obsolet. Doch diese Einheit bleibt transzendent oder abstrakt, sie lässt sich nicht positivieren. Die kritische Denkform der docta ignorantia weiß darum. Dennoch bedarf es Formen, dieses Gemeinsame mitsamt seiner Offenheit für ein letztes Ganzes im Verschiedenen zu kommunizieren. Der Begriff der Religion als Angelegenheit des Menschen war ein solcher Versuch, ebenso das Bemühen, Religion als Vernunftsache im weitesten Sinn zu verstehen. Das Anliegen, als Korrelativum zum Besonderen ein Allgemeines zu fassen, bleibt aktuell, auch wenn die Begriffe Religion und Vernunft dekonstruiert werden. Man mag sich dann mit anderen Begriffen behelfen. Der Religionsbegriff kann mit Begriffen wie Sinn, Deutung, Lebensführung oder dem ,unbedingt Angehenden‘ umschrieben, der Vernunftbegriff kann transversal gefasst oder mit Intersubjektivität, Kommunikation und Übersetzbarkeit verbunden werden.28 Dagegen ist nichts zu sagen, solange das Problembewusstsein nicht kippt. In dieser Weise versteht sich auch eine Dekonstruktion von Barths Religionstheologie als eine Übersetzung, die wesentliche Motive wie Kritik, Negation, Kontingenz und Geltung in ein anderes, neues Arrangement überführt und damit eben: aufhebt.

28 Damit sind markante Stichworte von Albrecht Ritschl, Max Weber, Paul Tillich bis hin zu Ulrich Barth und Volker Gerhardt aufgenommen, ebenso wie von Wolfgang Welsch, Niklas Luhmann und Jürgen Habermas. Die Liste der Stichworte und Namen ließe sich leicht verlängern.

Dietrich Korsch

Christologie als kritische Religionstheorie

1.

Der ungeliebte Religionsbegriff

Es läßt sich nicht übersehen: Der Begriff ,Religion‘ hat einen schweren Stand. In der Theologie geht die Ablehnung des Religionsbegriffs in Deutschland vor allem auf Motive im Werk Karl Barths zurück, und stellt sich als Immunisierung des christlichen Glaubens, wie dann die Ersatzformulierung heißt, gegenüber dem neuprotestantischen Gemeingeist und damit der dominanten gesellschaftlichen Entwicklung der Moderne dar. Diese ablehnende Haltung pflanzt sich bis in die gegenwärtigen Spätbarthianismen fort. Aber nicht nur das. Sogar die Religionswissenschaft, die ihm ja ihren Namen verdankt, ziert sich inzwischen, den Religionsbegriff zu verwenden. Die begriffsgeschichtlichen Hintergründe dafür liegen in der Tat auf der Hand: Der Begriff entstammt in seiner gegenwärtigen Bedeutung den aufklärerischen Debatten des 18. Jahrhunderts. Aus diesem Kontext kommend, gilt er als ,westlich‘ und damit als kolonialistisch gefärbt, sofern er, wie man sagt, die theistischen Grundannahmen seiner Entstehungszeit auf andere Völker und Kulturen ausweite und sie damit ihres Eigenrechts beraube, ja deren wirklich historisch offene Wahrnehmung unmöglich mache. Als partikularer Begriff tauge er nicht zu universeller Anwendung. Ironischerweise verbreitet sich diese Kritik am Religionsbegriff in einer Epoche, zu deren Signatur das Erstarken von religiösen Bewegungen gehört und in der religiös artikulierte Ansprüche auf eine massive Bestimmung der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht nur erhoben, sondern auch gewaltsam durchgesetzt werden. Wie anders soll man aber diese Phänomene bezeichnen als mit Hilfe des Religionsbegriffs? Mit welchem anderen begrifflichen Material soll man die verschiedenen Erscheinungsformen des Christentums, des Judentums, des Islams, des Buddhismus, des Hinduismus und so weiter einander zuordnen? Und wovon redet eine Religionswissenschaft, wenn sie nicht nur historische und soziologische Einzelbeobachtungen aufsammeln, sondern sich als eigene Disziplin behaupten möchte? So ungeliebt der Religionsbegriff also ist, so unverzichtbar ist er. Doch erlaubt

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die Einsicht in die Unverzichtbarkeit es noch nicht, sich über die ja zutreffenden Einwände gegen eine universalistische Ausweitung des partikular entstandenen Religionsbegriffs hinwegzusetzen. Worauf man, dieser Kritik folgend, zu Recht verzichten muß, ist die Anmaßung, einen umfassenden Allgemeinbegriff von Religion aufzustellen, der als substantieller Oberbegriff über die verschiedenen religiösen Phänomene ausgegeben werden soll. Die Alternative zu diesem ungangbaren Verfahren freilich kann nur darin bestehen, im Ausgang vom je eigenen Selbstverständnis einer Religion Perspektiven auf andere Religionen zu entwerfen. Statt eines klassifikatorisch festlegenden Zugangs ist ein hermeneutischer Umgang mit den Phänomenen gefordert, die religiös zu nennen man nicht umhin kommt. Wie läßt sich nun, im Ausgang nicht nur von einer wissenschaftlich partikularen Perspektive, sondern sogar auf dem Boden einer individuellen Religion selbst, eine solche hermeneutische Sichtweise und Kompetenz erwerben? Ist das überhaupt möglich? Das ist die Frage, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegt, die von Karl Barths Äußerungen zum Begriff und Phänomen der Religion in der Kirchlichen Dogmatik ihren Ausgang nehmen.

2.

Unglaube und wahre Religion bei Karl Barth

Wie fast immer, ist der Autor Karl Barth seinen schulmäßigen Rezipienten überlegen. Das zeigt sich schon am legendären, oft zitierten, aber keineswegs immer verstandenen §17 der Kirchlichen Dogmatik. Der für unser Thema entscheidende Unterschied ist der zwischen ,Religion als Unglaube‘ und ,wahrer Religion‘, also den Abschnitten 2 und 3 des §17. Zunächst liegt es in der Logik der Prolegomena in KD I, daß die subjektive Aneignung des Wortes Gottes natürlich erörtert werden muß, wenn die grundbegriffliche Formation dieses Ausdrucks gerechtfertigt werden soll. Und völlig sachgemäß stößt Barth auf das mit dem neuzeitlichen Vernunftbegriff gegebene Grundmerkmal der Selbsttätigkeit der Vernunft, die alle ihre Gehalte aus sich hervorbringt. Es versteht sich von selbst, daß das Wort Gottes diesem Anspruch auf Produktivität des Bewußtseins nicht unterworfen werden darf, wenn anders es als Medium, ja als Vorgang der Offenbarung selbst verstanden werden soll. Es ist aber ebenso unvermeidlich, daß sich die produktive Vernunft das Wort Gottes als Gegenüber aneignet und damit unter ihre eigene Botmäßigkeit zu bringen scheint. Eben diese Aneignung der Offenbarung aber kennzeichnet nach Barth den neuzeitlichen Religionsbegriff: Die produktive Vernunft setzt sich selbst ihren Grund voraus. Wenn das zutrifft, dann ist diese Konstellation als Unglaube zu bewerten, der aus strukturellen Gründen das eigenständige freie Gegebensein der Offenbarung nicht zu respektieren vermag. Das alles ist insoweit völlig einleuchtend.

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Auffällig ist nun aber, daß Barth es mit dieser negativen Sicht nicht sein Bewenden haben läßt – und auch nicht auf den Religionsbegriff verzichtet, wenn er den christlichen Glauben im Abschnitt 3 des §17 als ,wahre Religion‘ ausarbeitet. Damit ist erstens behauptet, daß der Glaube tatsächlich die Rolle einnimmt, die der Religion zugemutet wird, nämlich als Grund des Bewußtseins zu gelten – und also nicht als eine zusätzliche, irgendwie von außen zur Vernunfttätigkeit hinzutretende Fremdbestimmung. Es soll dieser Grund des Bewußtseins aber seine umfassende Bedeutung dadurch erlangen, daß er sich als für alle denkbaren Konstellationen des Bewußtseins zuständig erweist. Das muß dadurch und so geschehen, daß er sich die Negativität des kritisch betrachteten (religiösen) Bewußtseins voraussetzt und sich durch diese Kritik hindurch faktisch begründend auf diese bezieht. Die Positivität wahrer Religion muß es also mit der Unwahrheit eines als religionsproduktiv verstandenen Bewußtseins aufnehmen, sich ihm widersetzen und es dadurch gewissermaßen umkehren. Das Verfahren, das Barth dafür wählt, ist die Bestimmung des (negativ bewerteten) Bewußtseins der Religion durch den Namen Jesus Christus. Darin ist die Erinnerung daran ausgesprochen, daß es nicht ein allgemeiner Gegenstand sein kann, der das Bewußtsein in eine neue Stellung bringt, sondern nur die Konfrontation mit einem Individuum. Allerdings muß diese Konfrontation sich auch dadurch als schlüssig erweisen, daß sich gewissermaßen ein eigener, spezifisch christlicher Kontext aufbaut, der alle Lebensbewegungen des Bewußtseins in sich unterbringt. Diesen Nachweis möchte Barth in der Weise vorlegen, daß er die Konstellationen ,Schöpfung‘, ,Erwählung‘, ,Rechtfertigung‘ und ,Heiligung‘ aufruft und korrigierend auf das religiöse Bewußtsein bezieht. Dabei geht es, begrifflich interpretiert, um die Existenz und die Würdigkeit des Subjekts, wie es sich in der Religion ausspricht (Schöpfung und Erwählung), sodann näherhin und zentral um den Umgang mit seiner eigenen kritischen Verfassung, also dem strukturellen Verfehlen der Offenbarung in der Aneignung ihres Sinns durch die produktive Vernunft (Rechtfertigung), schließlich um ein humanes Leben aus dem Überfluß göttlichen Lebens (Heiligung). Daß dabei die RechtfertigungsFigur eine Schlüsselstellung einnimmt, liegt auf der Hand. Darum kann Barth ja auch zugespitzt formulieren, die christliche Religion sei der gerechtfertigte Sünder. In diese – man könnte sagen: existentialen – Einstellungen bewußten Lebens wären dann alle anderen Bewußtseinsformationen einzuordnen. Das ist ein Verfahren, das durchaus aussichtsreich durchgeführt werden könnte. Allerdings gibt es nun einen Umstand, der die Anlage dieser von Barth vorgeschlagenen Alternative zum religiösen Bewußtsein grundlegend scheitern läßt. Dieser besteht darin, daß das umfassende – man könnte fast sagen: weltanschaulich umgreifend anmutende – Gesamtspektrum des Glaubens dem kritischen Bewußtsein nur als Setzung begegnet, als schlicht faktisches Gegenüber – auch dann, wenn der ontologische Gehalt dieses Gegenübers auf den Namen

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Jesus Christus konzentriert und beschränkt wird. Dieses Gegenüber ist nicht mehr in dem Sinne naiv, daß es sich als vorkritisches Gegebensein präsentiert; nein, es bezieht sich ja schon auf das an sich selbst seiner Problematik ansichtig gewordene religiöse Bewußtsein selbst und versucht sich als dessen Bestimmung zu erweisen. Aber der Modus des Gegebenseins ist noch keineswegs am Bewußtsein selbst durchgeführt worden. Der Anschein des Dogmatismus läßt sich in dieser Problemkonstellation nicht vermeiden. Darum reicht auch die Semantik des Wortes Gottes, sofern sie dem gesprochenen Wort und seinem Inhalt entnommen ist, nicht aus. Es muß vielmehr auf den innersten Bewegungskern dieses Ausdrucks ,Wort Gottes‘ zurückgegangen werden, der sich nur christologisch ausformulieren läßt.

3.

Das eine Wort Gottes und die Religion

Barths groß gedachte Christologie in der Versöhnungslehre der Kirchlichen Dogmatik (KD IV/1–3) besitzt – neben einer ganzen Reihe anderer Vorzüge – eine für unsere Problematik markante Pointe. So souverän die beiden ersten Teilbände von KD IV das Gegenüber von Gott und Mensch in der Person Jesu Christi durchführen und dabei die traditionellen Differenzen von Oben und Unten, von Erniedrigung und Erhöhung durcheinanderwirbeln und zu einem hochinteressanten Vermittlungsmodell ausarbeiten: Es bleibt der Nachteil auch dieser zum Teil atemberaubenden Konstruktionen, daß sie eben – Konstruktionen sind, die man sich vorführen lassen, an denen man intellektuelles und auch religiöses Vergnügen haben kann, die aber keinesfalls für die Sache selbst zu stehen vermögen. Mit den Mitteln der Dogmatik – auch dieser vermittlungslogisch eleganten Dogmatik – läßt sich kein Glaube heraufführen. Darum besteht die uns hier besonders interessierende Pointe in der – sachlich notwendigen – Hinzufügung von KD IV/3, also der Ebene der Wahrheit des Zeugnisses, die sich selbst vermittelt. Dabei ist zunächst dieser Gesichtspunkt der Selbstvermittlung überhaupt zu unterstreichen. Was die sozusagen materiale Christologie der beiden ersten Teilbände erbracht hatte, nämlich die Vermittlung von Gott und Mensch in der individuellen Person Jesu Christi, das kommt nun insbesondere auch als Selbstkundgabe zur Sprache. Das einzigartige Geschehen, das die christologische Konstruktion zu erkennen gibt, kann nur dann es selbst sein und bleiben, wenn auch die Kundgabe und die Erkenntnis desselben auf die eine Instanz zurückgehen, die diese Vermittlung selbst vollzieht. Es ist die Individualität Jesu Christi, die den Schlüssel nicht nur des sachlichen Gehaltes, sondern auch der kommunikativen Mitteilung des christlichen Glaubens in sich trägt. Dieser Gedanke steckt hinter der ansonsten noch undeutlich bleibenden Formulierung, Jesus Christus sei das eine, das einzige Wort Gottes. Man könnte

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diesen Gesichtspunkt der sich selbst mitteilenden Individualität noch näher ausführen und käme dabei auf interessante Fragestellungen hinsichtlich des Verhältnisses von historischer und religiöser Mitteilung; das soll jetzt nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen geht es mir um die mit dieser Individualität Jesu Christi gegebene Rezeptionsform. Es folgt nämlich aus der Alleinstellung Jesu Christi (als einem ausgezeichneten Merkmal von Individualität überhaupt, an dem sich der Gehalt der gottmenschlichen Vermittlung dartut) auch die Notwendigkeit, daß dieses Individuum nur von Instanzen rezipiert werden kann, die ihrerseits den Anspruch auf Individualität erheben können und müssen. Dabei ist Individualität als durchaus prekäres Selbst-Verhältnis vorzustellen. Denn ein empirisches Einzelsein, wie es uns durch unsere Existenz als Organismus mit Bewußtsein vorgegeben ist, stellt höchstens die Eingangsbedingung von Individualität dar ; es versteht sich überhaupt nicht von selbst, daß dieses Einzelsein auch einen tragfähigen, von sich selbst und von anderen anzuerkennenden Grund besitzt. Eines solchen Grundes kann sich ein individuelles Leben nur versichern, wenn es sich selbst auslegt, also auf anderes bezieht, um auf sich selbst zurückzukommen. Insofern reicht der bloß subjektive Vollzug des Selbstbewußtseins nicht aus, um sich wirklich als Individuum behaupten zu können; wir wissen, daß diese Selbstvollzüge flüchtig sind und aufgrund ihres notwendig von anderen abgrenzenden Modus immer auch anfällig für äußere Beeinträchtigungen. Nein, eine gegründete Individualität kommt erst dadurch zustande, daß sie sich als unbedingt anerkannt erfährt. Unbedingte Anerkennung aber verweist auf ein Gottesverhältnis – das sich durch Jesus Christus gerade so vermittelt, daß es selbst in Gestalt einer individuellen menschlichen Existenz vorliegt. Man kann daher sagen, daß der Glaube als das durch Jesus Christus vermittelte Gottesverhältnis den einzelnen Menschen zum gegründeten Individuum macht. Individualität ist mithin nicht eine vorgegebene, alles andere gleichförmig machende Rezeptionsform, sondern das sich einstellende Resultat des Glaubens. Damit aber nimmt der Glaube eine Rolle ein, die für die Erfüllung eines menschlichen Lebens einsteht, das nach der Wahrheit seiner selbst sucht. Man könnte dafür auch sagen: Gerade in der Form der durch die Kritik hindurchgegangenen Individualisierung erfüllt der Glaube die Funktion der Religion – und er erfüllt sie nicht als gegebenes Strukturmerkmal des eigenen Lebens, sondern als Resultat einer Lebensbegegnung mit dem, was in Barths Theologie Wort Gottes heißt, also der durch Jesus Christus vermittelten Gottesgegenwart. Barth selbst hat dann auch konsequenterweise Jesus Christus, das eine, einzige Wort Gottes, als Schlußpunkt seiner Dogmatik verstanden. Und er hat selbst noch ansatzweise die Konsequenzen aus dieser Einsicht gezogen. Daran sei wenigstens im Vorübergehen erinnert. Grundsätzlich gilt nämlich nach Maß-

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gabe der genannten Einsicht, daß das individuelle Vorkommen der (Gott und Mensch zusammenbringenden) Einheit den Inbegriff möglicher Wahrheit darstellt. Es kann, abgesehen von diesem individuellen Vorkommen des GottMensch-Verhältnisses, keine Wahrheit von gleichem Gewicht geben. Also muß jede andere Wahrheit von diesem Vorkommen der Wahrheit zehren. Dieser Grundsatz besitzt nun zwei Folgen. Einmal geht es um Symbolisierungen des Verhältnisses von Göttlichem und Menschlichem, wie sie in anderen Religionen vorgenommen werden. Es versteht sich von selbst, daß sie ihrer eigenen Logik folgen – sie sind aber aus christlicher Perspektive daraufhin zu befragen, ob und inwieweit sie der durch die Erkenntnis Jesu Christi vorgegebenen Struktur entsprechen. Das ist die Frage nach den ,wahren Worten‘, die sich im Umfeld des ,einen, einzigen Wortes Gottes‘ bewegen. Sodann geht es um Wahrheitserkenntnis im – sagen wir – nichtreligiösen Bereich. Hier ist es darum zu tun, daß das menschliche Erkennen in einen Zusammenhang von Selbstsein und gegenständlicher Welt eingespannt ist, das ein Zusammenleben Verschiedener im Kosmos erlaubt – ein Zusammenhang, der die materiellen Bedingungen dafür bereitstellt, zu einem gegründeten Individuum zu werden. Man könnte hier, kurz gesagt, so formulieren: Die Welterkenntnis ist von einem Selbstinteresse geleitet – und dieses Selbstinteresse geht gerade über das empirische Einzelsein als Organismus hinaus und orientiert sich an der Präsenz des Göttlichen in der und für die Welt. Das wird bei Barth abgehandelt in der Lehre von den ,Lichtern des Kosmos‘. Auch diesen Aspekten könnte man natürlich weitere Aufmerksamkeit zollen. Jetzt soll es aber abschließend um die Frage nach einer aus diesen Gedanken sich ergebenden christologischen Religionstheorie gehen. Sie ist in vier Überlegungsgängen zu beantworten.

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Die Christologie stellt, erstens, dem gelebten Glauben eine Reflexionsform bereit, mittels derer er sich selbst gedanklich erfassen kann. Für die vielfältigen Lebensregungen, die sich ja mit dem Glauben verbinden, ihn so oder so zur Empfindung kommen lassen, ihn aber darin auch situationsspezifisch abtönen und unterschiedlich klar zu Bewusstsein bringen, gilt auf alle Fälle, daß sie einer Orientierung bedürfen, um des zentralen Grundes inne zu werden, aus dem sie alle sich speisen. Dazu hilft die Einstellung auf Jesus Christus, wie sie mit den Mitteln der dogmatischen Christologie vorgenommen wird; freilich nicht unmittelbar, sondern nur, indem die christologischen Strukturen sich als Prägemarken der Verkündigung bewähren, die ihre logischen Konstruktionen in lebendige Kommunikation zurückübersetzen.

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Diese dogmatische Klärung der Strukturen des eigenen Glaubens erweist sich jedoch, zweitens, auch als Voraussetzung, andere religiöse Phänomene zu verstehen. Ich setze dabei voraus, was in der eingangs genannten Kritik am Religionsbegriff ebenfalls unterstellt wurde, daß die eigene Religion den Schlüssel zum Verständnis der Religion überhaupt bereitstellt. Aus der Binnenperspektive des Glaubens erschließt sich, was in seinem Umfeld als ,Religion‘ in Betracht kommen kann. Gemäß den von Barths Kirchlicher Dogmatik ausgearbeiteten Strukturen wären die elementaren Züge von ,Religion‘ eine Vermittlungsbewegung von Gott und Mensch, die nicht als allgemeiner Sachverhalt gegeben ist und in universaler Verbreitung stattfindet, sondern sich auf ein strikt individuelles Vorkommen konzentriert. Daraus folgt, daß ,Religion‘ auch immer nur individuell rezipiert und validiert werden kann. Was als ,Religion‘ soll gelten können, muß sich demnach am Ort individuellen Selbstbewußtseins bewähren – gerade indem es die Extreme des Individuellen und des Absoluten zusammenbringt. Diese Strukturformel, so könnten wir sagen, kann nun als hermeneutische Matrix verwendet werden, um ,Religionen‘ zu verstehen. Dabei ist damit zu rechnen, daß es stets eigene Variationen und Darstellungsformen gibt, in denen man die genannten Merkmale auffinden kann. Immer also, so wäre der nächste Schritt zu kennzeichnen, geht es in einer ,Religion‘ um die Beziehung eines einzelnen menschlichen Lebens (in seiner kommunikativ-sozialen Vermitteltheit, wie sich versteht) zum Allgemeinen (auch dieses in seinen empirischen Darstellungen und Repräsentanzen gedacht) – eine Beziehung, um die herum sich Riten bilden, von der Mythen erzählt werden, die das humane Ethos bestimmen. Auf diese Weise lassen sich hermeneutische Analogien beobachten, ganz unabhängig von der Semantik, die dafür benötigt wird; so ist es nicht einmal erforderlich, überall den Gottesbegriff verwendet zu finden. Allerdings läßt sich von dieser hermeneutischen Betrachtung, so sehr sie konstatierend aufschlußreich sein kann, was die Strukturen angeht, ein normatives Urteil nicht fernhalten. Denn es muß ja, wenn man das Funktionieren der eigenen Religion voraussetzt, davon ausgegangen werden, daß nur diejenige Religion als wirklich tragfähig angesehen werden kann, die die gesuchte Vermittlungsform im Modus der genauen Individualität vornimmt und sich daher auch an Individuen vermittelt, die darüber ihre eigene Individualität gewinnen. Daher gibt es, dieser normativen Betrachtung entsprechend, unterschiedliche Nähen und Distanzen zur eigenen Religion – und am meisten kommen mit ihr diejenigen Formationen überein, die erkennbar dasselbe Gravitationszentrum einer absoluten Individualität aufweisen, um es einmal so kurz auszudrücken. Diese Entfaltung des hermeneutisch-normativen Potentials einer christologischen Religionstheorie stellt nun drittens vor die ernsthafte und erstaunte Rückfrage, ob es sich bei alldem nicht um eine geradezu extreme Form des westlich-religiösen Begriffsimperialismus handelt. Das ist selbstverständlich

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nicht der Fall. Warum? Dafür gibt es zwei entscheidende Gründe. Einmal gilt in der Folge der skizzierten Überlegungen, daß es ja nicht die vermittlungslogische Struktur von Allgemeinem und Individuellem ist, die das Maß des Urteils bildet. Vielmehr besteht die Pointe der im Anschluß an Barth vorgestellten Religionstheorie im Ausgang vom Christentum darin, daß es auf die unerzwingbare individuelle Einsicht ankommt, die sich von selbst einstellt – oder gar nicht. Daher ist, wenn man die eigene Theorie ernst nimmt, damit zu rechnen, daß auch alle anderen ,Religionen‘ dieses Moment eigener intrinsischer Überzeugungsbildung besitzen. Die hermeneutische Betrachtung, die sich hinsichtlich der Geltung eigener Religion eines normativen Urteils nicht enthalten kann, sieht sich in der Pluralität der religiösen Phänomen dadurch vor ,missionarischen‘ Übergriffsversuchen bewahrt, daß es allen religiösen Überzeugungen einen eigenen Überzeugungswert zusprechen muß. Wollte man es anders handhaben, würde man dem – gelebten, aber auch reflexiv präsenten – Zentrum des christlichen Glaubens widersprechen. Der zweite Grund dafür, daß es sich hier nicht um eine Variante des westlichdominanten Religionsbegriffs handelt, ist in folgender Überlegung enthalten. Wenn die Ausgangsvoraussetzung gilt, daß sich kein Religionsbegriff fassen läßt, der vom eigenen religiösen Leben unbetroffen ist, dann gilt dieser Grundsatz auch für alle anderen Phänomene, die ,Religion‘ sein könnten. Das bedeutet nun aber, daß diese auch ihre eigene hermeneutische Matrix entwickeln, mit der sie andere Religionen in ihrer Umwelt erkennen und aufgrund derer sie mit ihnen umgehen. Das Christentum kommt dann selbst in die Rolle, von außen, etwa vom Islam, beobachtet zu werden – und das selbstverständlich nicht nach Maßgabe irgendeines ,wissenschaftlichen‘ Religionsbegriffs, sondern nach Anleitung dessen, wie der Koran und seine Auslegung das Phänomen anderer Religionen zu sehen lehren. In der Regel wird nun diese Betrachtung von außen mit der eigenen Blickrichtung, die sich selbst auf andere Religionen richtet, nicht übereinstimmen. Mit dieser Beobachtung kommen wir zum letzten, vierten Punkt unserer Argumentationsreihe. Denn es stellt sich jetzt die Frage nach der möglichen Verständigungsfähigkeit der Religionen miteinander. Damit treten wir in Betrachtungen ein, die die begriffsinterne Logik der Theologie und der Religionstheorie in einen weiteren, nämlich den gesellschaftlichen Kontext stellen. Ohne eine solche Erweiterung läßt sich das Problem einer Religionstheorie überhaupt nicht befriedigend behandeln. Es könnte ja so sein, daß sich Religionen als Kampfgemeinschaften gegen andere Religionen verstehen, so daß die Durchsetzung des eigenen Wahrheitsanspruchs mit Mitteln der Gewalt und der Unterwerfung erfolgen müßte. In der Tat sind diese dehumanisierenden Umgangsweisen nicht ausgeschlossen und auch nie völlig auszuschließen. Sie sind aber nicht notwendig. Denn in allen Religionen steckt bereits aufgrund ihrer sozialen Verfassung ein

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reflexives Potential der Deutung, das sich in wechselnden Kommunikationsvollzügen zur Darstellung bringt. Keine Religion kommt mit dem einfachen und unveränderten Zitieren und Rezitieren der Überlieferung aus, jede steht vielmehr in geschichtlichen Prozessen der aneignenden Lebensbegleitung; der Hinweis auf das Phänomen der Auslegung und Anwendung mag hier als Argument ausreichen. Wenn es aber bereits intern solche reflexiven Anteile gibt, dann strukturieren sie auch die externe Wahrnehmung von ,Religion‘ und ,Religionen‘. Sie tun das insbesondere gegenwärtig in dem Maße, in dem sich für verschiedene Religionen eine gemeinsame Welt eröffnet, deren Anforderungen standzuhalten einschließt, sich in ein nicht nur agonales Verhältnis zu anderen Religionen und Weltanschauungen zu setzen. Damit ist auf die gesellschaftlichgeschichtliche Ebene als Horizont der Religionstheorie abgehoben. Wenn es nun aber ein faktisches, weil prinzipiell nicht mehr aufzuhebendes Nebeneinander von Religionen gibt, dann ist nicht auszuschließen, daß es zu gewollten oder ungewollten Interaktionen in Verstehensprozessen kommt. Wenn man diese Dynamik einmal positiv auszeichnet, dann kann man sagen: Die Einsicht in die Unaufhebbarkeit religiöser Vielfalt nötigt zur Ausarbeitung von Erkenntnis- und Bewertungsstrategien, die einerseits an interne reflexive Potentiale der Religionen anschließen, die sich andererseits von externen Differenzen herausfordern lassen. Diese externen Herausforderungen nun können nur so bewältigt werden, daß sich das interne Differenzierungspotential in der Weise ausarbeitet, dass es durch eigene Einsicht geleitet ist. Denn auch dann, wenn für Religionen oder religiöse Vergemeinschaftungen gemeinsame Strategien des Außenverhältnisses vorgegeben werden sollen, bedarf es der (sagen wir : theologischen) ,Erfindung‘ solcher Umgangsweisen; die können aber nur erfolgreich sein, wenn sie verstanden werden können, also die Rezipienten als individuell Verstehende beteiligen und einschließen. Die reflexive Differenzierung befördert, jedenfalls grundbegrifflich, eine interreligiöse Kommunikation, ohne die strukturellen und geschichtlichen Unterschiede zu nivellieren. Damit entsteht eine Diskursformation, die dann zu Recht den Namen ,Religion‘ tragen kann. Um eine Form des Diskurses handelt es sich, weil nicht von vornherein die Regeln der Verständigung feststehen, sondern ihrerseits – durchaus streitbar – ausgehandelt werden müssen. Schon damit eine solche diskursive Aushandlung stattfinden kann, muß aber gewissermaßen vortheoretisch feststehen, um was es eigentlich in diesem umstrittenen Diskurs geht: Eben als Themenbezeichnung aber bietet sich der Religionsbegriff an und ist, soweit ich sehe, durch keinen anderen Begriff zu ersetzen. Um das Ganze zusammenzufassen: Eine christologisch begründete Religionstheorie, die sich selbst in der Geschichte der Rationalisierung des christlichen Glauben sehen muß, ist gerade darin eine auch religionswissenschaftliche Option, daß sie auf das je eigene Verstehen in den unaufhebbar verschiedenen

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Religionen setzt. Sie tut das, indem sie den christlichen Glauben selbst in der Gestalt unbedingter Selbst-Überzeugung als Antwort auf die Selbstverkündigung Jesu Christi auslegt – und diesen Charakter der Selbst-Überzeugung zugleich in einem allgemeinen und nicht christlich bestimmten Sinn als Bedingung gesellschaftlich-geschichtlicher Überzeugungsbildung überhaupt versteht und damit zur Realisierung universellen Verstehens beiträgt. In diesem Sinne stellt sich eine christliche Religionstheorie auf dem Boden der Christologie in die geschichtliche Dynamik der Aufklärung, die in der Humanisierung der Welt ihr verbindliches Ziel besitzt.

Jan Rohls

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Karl Barths Verhältnis zum 19. Jahrhundert und all dem, was es vorbereitet, ist bekanntlich ein negatives. Was den Protestantismus betrifft, so kulminiert in ihm, dem bürgerlichen Zeitalter, dessen Verfallsgeschichte. Es ist daher interessant zu beobachten, wie Barth auf jene Verfallsgeschichte des Bürgertums reagiert, die am Anfang der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts steht. Am 22. November 1908 schreibt Barth aus seinem Studienort Marburg an den Vater, dass er nach Selma Lagerlöfs Gösta Berling Thomas Manns Roman Buddenbrooks gelesen habe, dessen Realismus ihn abstößt. Zwei Tage später heißt es in einem Brief an den Studienfreund Otto Lauterburg: „Ich las gestern die ,Buddenbrooks‘ von Mann, einen Roman von einem abscheulich ins Detail gehenden Realismus mit schopenhauerscher Tendenz, den Frau Prof. Rade außerordentlich schätzt.“1 Als Gegengift habe er zu Schleiermachers Monologen gegriffen, also zur frühen Ethik des Theologen des romantischen Zeitalters. Der Untertitel der Buddenbrooks lautet Verfall einer Familie, und diese Lübecker Kaufmannsfamilie repräsentiert für Barth den Typus der Bourgeoisie überhaupt, so wie der Roman die Problematik dieser das 19. Jahrhundert charakterisierenden Klasse darstellt. Die Buddenbrooks werden als das pessimistische Gegenstück zu Gustav Freytags optimistischem Roman Soll und Haben charakterisiert. Als Grundthese des Romans hält Barth fest: „Ein Leben, das auf bloß formale Ideale gegründet ist, ist dem Tode geweiht“2. Er meint, dass es sich nicht nur um eine spezielle Kritik des Kaufmannsideals, sondern um eine absolute Kritik der Gesellschaft handle, die auch am Beispiel einer Pfarrersfamilie hätte durchgeführt werden können. Rein formal sei schon der Leitspruch der Familie Gen 22, 8 ,Deus providebit‘, dem der großväterliche Grundsatz kaufmännischer Ehrlichkeit entspreche. Denn der einzige Inhalt der Familie sei das Geld, was durch den 1 Karl Barth, Thomas Mann. Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, GA III.3, hg. v. Fr.-W. Marquardt/H.-A. Drewes, Zürich 2012, 100–104, 100. 2 AaO., 103.

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sakrosankten Begriff der Firma verhüllt werde. Das Geld, die Firma, das Geschäft sei der Götze, um das sich alles andere drehe und mit dem Religion, Moral, Lebensglück usw. stehen und fallen. Um der Firma willen opfern sich die Familienmitglieder tagtäglich auf. „Um der Firma willen sind sie verhindert, sich auf ein ganzes Chr[isten]t[um] einzulassen (wobei ihnen die Pfarrer freundlich Dienst leisten!!)“3. Zwar führt die Schopenhauerlektüre bei Thomas Buddenbrook schließlich zu einer kritischen Haltung gegen sein eigenes rein formales Ideal, ohne dass es aber zu einer Erneuerung kommt. Aber „im Verzicht auf dieses Leben hat er wenigstens einmal das Leben berührt u. erkannt“4. Es ist die lebensphilosophisch inspirierte Unterscheidung zwischen dem falschen und dem wahren Leben, mit der Barth hier operiert. Darin, dass er das formale Ideal der Buddenbrooks vollständig destruiert, liegt für ihn das Verdienst des Romans. Von den ersten Zeilen an sei das Gericht da, und durch die Ausführungen Schopenhauers über den Tod komme Thomas zur Erkenntnis des wahren Lebens. Aber – und hier meldet sich am Schluss der Theologe Barth – : „Der Schritt vom Ernst des Todes zum Ernst der Ewigkeit freilich wird nicht getan.“5 Schopenhauer, den man mit seinem bereits 1819 erschienenen Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung durchaus als einen Vertreter der philosophischen Romantik bezeichnen kann, spielt beim frühen Barth keine Rolle. Der Repräsentant der Romantik ist und bleibt für ihn vielmehr Novalis, mit dem er sich 1911 anlässlich eines Vortrags näher befasste. Der Vortrag fand statt im Rahmen eines Zyklus, den die Deutsche reformierte Gemeinde Genf fünf Dichtern von Gesangbuchliedern widmete: Paul Gerhardt, Zinzendorf, Tersteegen, Gellert und Novalis. Die Vorträge über Tersteegen und Novalis hielt der Vikar Barth, und in beiden Fällen erschienen die Vorträge anschließend im Gemeindeblatt. Für den Vortrag machte sich Barth Notizen, in denen er Novalis im Kontext der klassischen Epoche der Romantik zuordnet, die er vom Klassizismus abgrenzt. Dabei zeichnet er eine Entwicklungslinie, die vom Kampf gegen die mittelalterlichen Autoritäten in Reformation und Aufklärung zur Klassik führt. Brachte die Reformation das grundsätzliche Selbstständigwerden des Denkens, so die Aufklärung die Entgötterung der Welt durch den Menschen, gipfelnd in Kants Philosophie und der Französischen Revolution. Goethe und Schiller begannen zwar als Propheten der Alleingeltung des Individuums, aber als Klassiker wiesen sie es in seine Schranken, so dass es zu einem Ausgleich des Subjektiven und Objektiven kam. Die Generation der Romantiker hingegen „verfolgt den subjektiven Ausgangspunkt der Klassiker tumultuarisch weiter“6. Fichte radikali3 4 5 6

Ebd. AaO., 104. Ebd. Karl Barth, Novalis [Vortrag], in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1909–1914, GA III.22,

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siert den philosophischen Subjektivismus Kants, jüngere Romantiker feiern Goethe als Abgott der Poesie und finden die Wirklichkeit nur im Innern. „Das Selbstbewußtsein ist das allein Wirkliche, das ,Andere‘ […] wird ausgeschaltet. Das mußte zu einer neuen Wertschätzung der Rel. führen, die bei den Klassikern immer nur gedämpft zur Aussprache kam.“7 Barth sieht von da aus zwei Wege, von denen der eine von Friedrich und August Wilhelm Schlegel, der andere hingegen von Schleiermacher beschritten wird. Auf dem ersten Weg überlässt sich das Selbstbewusstsein der Phantasie, die es ungehindert vom Denken in die Tiefen des Ich und der Gottheit führt. Bei den Brüdern Schlegel – Barth hätte sagen müssen: nur bei Friedrich Schlegel – führe das vom Libertinismus zur Verklärung der Vergangenheit und ende im Katholizismus. „Nach dieser Seite wird die Romantik Reaktion (hl. Allianz, Erweckung, polit. u. rel. Repristination, träumer[ischer] Ausgang angesichts der mod[ernen] geist. Entwicklung“8. Auf dem zweiten Weg behaupte dagegen das Denken seine Herrschaft und setze Ich und Gott in eine bestimmte Beziehung. Das sei bei Schleiermacher der Fall, der von Barth als „der geniale Wiederentdecker der Rel. als Erlebnis d. Individ[uums]“9 gefeiert wird. Von da aus ergebe sich auch eine neue positive Bestimmung des Verhältnisses des Christentums zur Kultur. Was diese beiden Wege der Romantik betrifft, so entdeckt Barth bei Novalis Ansätze nach beiden Richtungen, und er fragt sich, ob „er als Synthese von Goethe u. Schleiermacher der Größte jener Zeit geworden wäre“10. In seinem Aufsatz im Gemeindeblatt greift Barth diese Frage auf, wenn er das fragmentarische Werk des jung verstorbenen Romantikers an der Wende zweier Zeiten lokalisiert. „Wird er uns zurückführen zu dem weltverlorenen, eisengepanzerten und doch so traumhaft unbestimmten Gott des Mittelalters oder vorwärts in eine moderne, hochgemute Welt der reinen Wissenschaft und der reinen Kunst, die von einer neuen Gottverlassenheit beständig bedroht erscheint? Oder wird er die höhere Einheit entdecken der Lebenskräfte beider Zeiten und ein Schatzmeister alter und neuer Reichtümer werden, wie es seine Zeitgenossen Goethe und Schleiermacher geworden sind?“11

Der fragmentarische Charakter des Oeuvres von Novalis lasse eine klare Antwort auf diese Fragen nicht zu, und so gleiche der Dichter einem Wanderer auf schwindelnder Höhe. Das gelte auch für seine geistlichen Lieder, die einen mit

7 8 9 10 11

in Verbindung mit H. Helms u. Fr.-W. Marquardt hg. v. H.-A. Drewes/H. Stoevesandt, Zürich 1993, 296–301, 298. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 302–309, 302.

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dem Rätsel konfrontierten, wie ein pantheistischer Philosoph wie Novalis zu einem so innigen Christusdichter habe werden können. Doch Novalis habe auch als christlicher Dichter pantheistisch gedacht. So sehe er Maria oder Christus in tausend Bildern der Welt, und wenn er von Maria oder Christus spreche, meine er stets die lebendige Gottheit. Die spezifische Religiosität Hardenbergs bringt Barth in unmittelbare Beziehung zum frühen Tod Sophie von Kühns, seiner Braut. Der Tod habe ihm die Tiefe des Lebens erschlossen, und die ewige Schönheit der Geliebten führe zu einer Verweiblichung Gottes. Wenn Novalis der Sieg Christi am Ostermorgen ein Weltverklärungsfest werde, so zeige dies, dass die Erlösung soviel bedeute wie Menschwerdung. Barth meint es durchaus positiv, wenn er den Glauben Hardenbergs in den Sätzen zusammenfasst: „Das Reich Gottes liegt nicht in den Wolken, sondern es ist die Welt, die zur Gotteswelt wird.“12 Denn diese Auffassung von Novalis zeige, „daß er bei Goethe und Schiller etwas gelernt hat, was viele Christen meinen versäumen zu dürfen. Sie ist aber eine Erneuerung von christlichen Gedanken, die schon das Johannesevangelium vertreten hat.“13 Barths Auffassung vom Reich Gottes, das nicht in einem Jenseits liegt, sondern identisch ist mit der zur Gotteswelt verwandelten diesseitigen Welt, ist hier noch ganz dem religiös-sozialen Denken verpflichtet. Das und damit auch seine positive Einstellung zu der von Novalis repräsentativ verkörperten Romantik sollte sich allerdings schon bald ändern. Am 19. Juni 1915, mitten im Ersten Weltkrieg und noch vor Beginn der Arbeit am Römerbrief, legt Barth in einem Brief an Martin Rade den Ansatz seiner eigenen Theologie dar. Er hält die Welt als Ganzes der menschlichen Lebensbedingungen für gottlos, und dieser gottlosen Welt stehe Jesus mit seinem Leben und seiner Botschaft gleichfalls als ein geschlossenes Ganzes gegenüber. Daher müsse der Christusglaube, die innere Orientierung an der Welt Jesu, bewusst Abstand nehmen von dem KompromissChristenglauben, der sich im Ethos, in der sittlichen Arbeit auf dem Boden der gottlosen Welt auslebt. „Jesus mitten drin in der ,gottlosen‘ Welt – als unser Erlöser. Mitten drin, wo die Menschen im ,Frieden‘ oder im Krieg als ,Werkzeug des Gemeinwillens‘ das Böse tun müssen – mitten drin als Erlöser.“14 Die Erlösung aber sei der reale Anbruch des Gottesreiches. Nicht auf eine sogenannte christliche Ethik komme es an, sondern auf den christlichen Glauben. Jesus heilige nicht eine Ethik auf dem Boden der gottlosen Welt durch die persönliche Sündenvergebung, um die alte Welt zu lassen, wie sie ist. Sondern Jesus ist für Barth eine neue Welt und zerbricht all unsere Ethik. Daher wendet sich Barth in 12 AaO., 309. 13 Ebd. 14 Karl Barth, Brief an Martin Rade vom 19. 6. 1915, in: Karl Barth – Martin Rade. Ein Briefwechsel, hg. v. Ch. Schwöbel, Gütersloh 1981, 132–134, 134.

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einem Brief vom 6. August 1915 an Thurneysen auch gegen Leonhard Ragaz und dessen ethische Deutung des Gottesreichs. „Warum sich gleich in die Ethik stürzen (,was sollen wir tun?‘, die alte Frage, die der Sache eigentlich ausweicht!), als ob es nichts Dringenderes gäbe! Versteht es sich denn von selbst, daß ,wir‘ das Gottesreich ,vertreten‘“15. Barth vermisst bei Ragaz ein Wort von der Erkenntnis Gottes, von der Umkehr und vom Warten auf das Gottesreich. Damit klingen bereits die Themen an, die im Römerbrief zentral sind, an dem Barth ab 1916 arbeitet. Er erscheint kurz nach Kriegsende 1919 und wird zu einem Gründungsdokument der sogenannten Dialektischen Theologie. Das Band zwischen Glaube und Ethik war zerrissen. In der ersten Fassung des Römerbriefs von 1919 taucht der Begriff der Romantik im Titel jenes Abschnittes auf, der sich der Auslegung von Röm 7,7–13 widmet. Das Kapitel Röm 7 steht unter der Überschrift Die Freiheit, während der Titel zu Röm 7,1–6 Das neue Wesen lautet, derjenige zu Röm 7,7–13 Das Gesetz und die Romantik, derjenige zu Röm 7,14–25 schließlich Das Gesetz und der Pietismus. Wenn in Christus die Sünde in ihre Schranken gewiesen ist und wir in Christus sind – so Barth –, dann wollen und können wir nicht mehr sündigen, sondern sind in der Gerechtigkeit Gottes. Darin besteht das neue Wesen und die Freiheit des Menschen unter der Gnade. „Gerade darum müssen wir uns von der gesetzlichen Frage: was soll ich tun? erlösen lassen. Diese Frage ist nur denkbar im Munde des durch die Majestät der göttlichen Forderung aus seiner naiven Zuversichtlichkeit aufgestörten Romantikers und Individualisten. Das Verkehrte, das Unmögliche, das Willkürliche und Ohnmächtige seiner subjektiven, naturalistischen Orientierung tritt im Lichte der objektiven Wahrheit des Gesetzes grell zu Tage.“16

Denn der Romantiker versucht, „sich, unter Umgehung des kategorischen Imperativs der Pflicht, eine unmittelbare Intuition, ein ,Leben‘ ohne Ethik zu erschleichen“17. Wenn wir aber in Christus sind, dann gibt es für uns gar kein vom Sein gelöstes Sollen mehr, sondern wir stehen dann im Vollzug der göttlichen Handlung, in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat. Der Romantiker hingegen, der vom Gesetz aus seinem Traum aufgeschreckt wird, ist ganz auf sich selbst bezogen, interessiert an seinem persönlichen Leben und seiner Individualität. Bezogen auf unsere Existenz als Romantiker heißt es: „Wir kannten gar nichts Wichtigeres außer unserem persönlichen Leben. Wir waren uns selber überwichtig: eben als Einzelne. Dieses naive Dasein in der Vereinzelung war 15 Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 6. 8. 1915, in: Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 1, 1913–1921, GA V.3, bearbeitet u. hg. v. E. Thurneysen, Zürich 1973, 69–71, 69. 16 Karl Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) (1919), hg. v. H. Schmidt, Zürich 21985, 264. 17 AaO., 125f.

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unser notwendiges Los in der von der Sünde beherrschten Welt des Fleisches.“18 Davon habe man zwar nichts geahnt, vielmehr habe man sich liebevoll in das eigene Ich versenkt, als ob es sich dabei um Gott handelte. Doch der romantische Individualismus als solcher ist für Barth bereits der Sündenfall. Wenn uns das Gesetz Gottes aus dieser träumerischen Selbstreflexion herausreiße, so komme es daher auch zu dem Missverständnis, dass wir als Einzelne dieses Gesetz erfüllen und so Gott gerecht werden sollen. Aber da das Gesetz Gottes gar keine individuelle, moralische oder religiöse Angelegenheit ist, die wir erfüllen sollen, macht es nur unsere Sünde offenbar, die gerade in der Vergötterung unserer eigenen Persönlichkeit besteht. „Scheinbar stehen wir, eifernd bemüht für Gott, groß da als religiös-sittliche Persönlichkeiten; in Wahrheit ist gerade damit, daß nun auch noch Gottes Wahrheit unser Dasein in der Vereinzelung beleuchtet, das Todesurteil über uns gesprochen“19. Durch die Konfrontation mit dem Gesetz wird der träumerische Zustand der romantischen Naivität aufgehoben und mir meine Sünde offenbart. „Der romantische Traum einer unmittelbaren Einheit mit Gott ist ausgeträumt. Das dunkle Verhängnis, das, bisher naiv ignoriert, über mir hing, ist hereingebrochen und hat von meinem Wissen und Wollen Besitz ergriffen; ich kann es nicht mehr leugnen, daß ich gegen Gott in Rebellion begriffen bin und daß Gott mich verwerfen muß. Und mit dem naiven Freiheitsgefühl ist nun auch jenes ,Leben‘ dahin, das ich genoß, bevor mir die Heiligkeit Gottes erschienen war.“20

Das Lebensbewusstsein erstirbt im Bewusstsein der Schuld. Wenn ich gegenüber dem Gesetz das sittliche sein wollende Individuum oder die vermeintlich religiöse Persönlichkeit ins Spiel bringe, die Gott gerecht werden zu können meint, dann ist das nur der vollendete Ausdruck des Abfalls von Gott. Dann wird der Romantiker zum Pharisäer, wie Barth mit einem Seitenblick auf Ragaz bemerkt.21 Am 13. April 1919 – der Römerbrief ist bereits abgeschlossen – kündigt Barth in einem Brief an Thurneysen an, „das totaliter aliter des Gottesreiches noch viel kräftiger ins Auge zu fassen“22. Ragaz werde ihnen wohl immer fremder werden müssen. Als er kurz darauf Rudolf Ottos Das Heilige liest, fühlt Barth sich in seiner eigenen Position bestärkt. „Ich las diese Woche mit ziemlicher Freude ,Das Heilige‘ von Otto. Die Sache ist zwar psychologisch orientiert, weist aber deutlich über die Grenze hinaus auf das Moment des ,Numinosum‘, dem rational nicht 18 19 20 21 22

AaO., 265. AaO., 266. AaO., 272. AaO., 274. Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 13. 4. 1919, in: Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 1, 324f, 325.

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beizukommen ist, weil es das ,Ganz Andre‘, das Göttliche an Gott ist.“23 Da bahne sich eine grundsätzliche Überwindung des Ritschlianismus an. In dem Vortrag Der Christ in der Gesellschaft, den Barth statt Ragaz am 25. September 1919 hält, greift er ebenso auf Ottos Terminologie zurück wie in der zweiten Fassung des Römerbriefs, zu der er sich nach dem Besuch Gogartens am 27. Oktober 1920 entschließt. Gogartens Aufsatz Zwischen den Zeiten, der kurz zuvor in der Christlichen Welt erschienen war, hatte Barth ebenso begeistert wie sein Eisenacher Vortrag Die Krisis der Kultur24. Nach Gogartens Besuch – so berichtet Barth an Thurneysen – „fing plötzlich der Römerbrief an, sich zu häuten, d. h. ich bekam die Erleuchtung, daß er so wie er jetzt ist, unmöglich einfach abgedruckt werden darf, sondern an Haupt und Gliedern reformiert werden muß“25. Die gründliche Überarbeitung bleibt nicht ohne Folgen für das Romantikthema. Denn mitten in die Überarbeitungsphase hinein platzte die Nachricht von Barths Berufung auf die neu eingerichtete reformierte Professur in Göttingen, auf die er sich mit einer Lektüre von Schleiermacher-Texten vorbereitet. „Ich knüpple an Röm. 7, 14f. herum. Daneben stecke ich aber doch schon gelegentlich die Nase in die ,Reden über die Religion‘ und in die ,Glaubenslehre‘ und finde lauter sehr zu Mißbilligendes in diesen von mir einst hochgeschätzten Büchern. Er [Schleiermacher ; JR] bekommt zunächst sofort ein kleines Denkmal in Röm. 7, und wahrscheinlich werde ich mein Lehramt gleich mit einer Kriegserklärung an diesen Kirchenvater und religiösen Virtuosen eröffnen müssen.“26

Nahm der Kommentar zu Röm 7, 7–13 bereits in der Erstfassung auf die Romantik Bezug, so tritt in der Zweitfassung bei der Kommentierung von Röm 7, 7–25 an die Stelle des Pietismus Schleiermacher, der Theologe der Romantik, als Bezugsgröße. Nicht gegen den Pietismus richtet Barth sich hier, sondern „die Mündung des Geschützes weist nun, steiler gerichtet, auf einen ganz andern [Schleiermacher!; JR] hin, der mir, sicher nicht ohne höhere Zulassung, eben jetzt in die Hände geraten ist“27. Aber nicht nur Schleiermacher, sondern auch Natorp und andere Religionstheoretiker stünden im Fokus der Kritik. Röm 7 wird jetzt von Barth als Auseinandersetzung mit der Religion konzipiert. Zwar wird die Überschrift Die Freiheit beibehalten. Aber statt vom neuen Wesen und vom Gesetz ist nunmehr von der Grenze, dem Sinn und der Wirklichkeit der Religion die Rede. 23 Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 3. 6. 1919, in: Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 1, 329–332, 330. 24 Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 16.6. 1920, in: Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 1, 399f, 399; vgl. auch Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 9. 10. 1920, aaO., 431. 25 Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 27. 10. 1920, 435f, 435. 26 Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysem vom 18. 5. 1991, 488–490, 489. 27 Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 23. 5. 1921, 491f, 492.

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Barth betrachtet in dem ersten Teil seiner Auslegung von Röm 7 die Religion als die letzte Menschenmöglichkeit, die als solche eine begrenzte Möglichkeit ist, der die Freiheit Gottes, den Menschen zu begnadigen, gegenübersteht. Das heißt, „daß die Freiheit, in der wir begnadigt sind, genau jenseits der in der Religion kulminierenden Humanität stattfindet, nicht als weitere Möglichkeit also, sondern als die Unmöglichkeit, die nur in Gott Möglichkeit ist, aber eben darum dann auch unberührt und unbeeinträchtigt von der Zweideutigkeit gerade jener letzten menschlichen Möglichkeit“28. Wenn innerhalb der religiösen Möglichkeit von Gott die Rede ist, so immer nur als ein Pol im Gegensatz zu einem Gegenpol. Doch der Gott, der noch Etwas ist im Gegensatz zu einem Andern, der nicht der völlig Freie, Alleinige und Siegreiche ist, ist Nicht-Gott, Gott dieser Welt. Innerhalb der Grenzen des Menschenmöglichen habe auch ich nur die Möglichkeit, in der einen oder anderen Form ein religiöser Mensch zu sein, sei es Franziskus, Blumhardt, Dostojewskis Großinquisitor oder Ibsens Brand. Aber auf Golgatha wird mit allen religiösen Möglichkeiten auch der religiöse Gott geopfert. Der geopferte Christus hat die Möglichkeit, ein frommer Mensch zu sein, verwirklicht und damit das Gesetz erfüllt, so dass Golgatha als Ende des Gesetzes auch die Grenze der Religion ist. Denn „mit dem ,getöteten‘ Leib des Christus sind wir, sofern ,wir‘, von dieser Tötung aus gesehen, nicht mehr leben, sondern sind, was wir nicht sind, dem Gesetz, der religiösen Möglichkeit und Notwendigkeit mit allen andern menschlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten entrafft und entrückt“29. In Christus ist somit der religiöse Mensch erledigt und sind wir kraft der Auferstehung Christi von den Toten durch Gottes Freiheit begnadigt. Gerade auch der religiöse Mensch ist im Fleische, was soviel heißt, dass all sein Denken, Wollen und Handeln rein weltlich und sündig ist, und zwar um so mehr, je stärker er den Traum der Gottähnlichkeit träumt. Barth übernimmt Feuerbachs Religionskritik, wenn er im religiösen Bewusstsein des Menschen nicht Gott, sondern nur den Menschen am Werk sieht. Das religiöse Verhältnis ist somit ein bloßes Selbstverhältnis. Dass wir unter der Gnade stehen, liegt demgegenüber jenseits der religiösen Menschenmöglichkeit, sondern gründet ausschließlich in der Freiheit Gottes. Daher kann Barth sagen: „Die Grenze der Religion ist die Todeslinie, welche scheidet zwischen dem, was bei den Menschen und dem, was bei Gott möglich ist, zwischen Fleisch und Geist, zwischen Zeit und Ewigkeit.“30 Der zweite Teil der Auslegung von Röm 7, der in der Erstfassung unter der Überschrift Das Gesetz und die Romantik stand, befasst sich nach der Grenze der Religion mit deren Sinn und Wesen. Dabei wird die Religion mit dem Gesetz 28 Karl Barth, Der Römerbrief (2. Aufl.) (1922), Zürich 131984, 213. 29 AaO., 216. 30 AaO., 220.

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identifiziert. Die Religion bringt uns an die Schwelle zweier Welten, zwischen denen der Abgrund sich öffnet, der den sündigen vom begnadigten Menschen trennt. Auf der einen Seite die selbst unanschauliche Begnadung, in der die Freiheit Gottes den Menschen ergreift, und auf der anderen Seite die anschauliche Religion, die nur scheinbar dieselbe Beziehung desselben Menschen zu demselben Objekt, in Wirklichkeit aber nur als eine Haltung des Menschen in der Welt eine Gegebenheit unter anderen ist. Von der Sünde zur Gnade führen keine Brücken. „Kein allmählicher Übergang, kein stufenmäßiger Aufstieg, keine Entwicklung etwa ist der Schritt über diese Grenze, sondern ein jäher Abbruch hier, ein unvermittelter Anfang eines ganz andern dort.“31 In der Religion wird aber gerade der Sklavenaufstand des Menschen gegen Gott, damit jedoch auch seine Sünde anschaulich, insofern er in der Religion über die ihm gesetzte Todeslinie hinausgreift nach dem unbekannten Gott. „Er bezieht sich selbst in ungeheuerlicher Verkennung der Distanzen auf den, auf den er selbst sich unmöglich beziehen kann, weil Gott Gott ist und nicht mehr Gott wäre, wenn ein solches Sichbeziehen des Menschen auf ihn stattfinden könnte. Er macht Gott zu einem Ding unter Dingen in seiner Welt.“32 Damit wird aber das ganze Dasein des Menschen durch die Religion als seine letzte Möglichkeit in die Krisis gestürzt, insofern ihm der Verlust seiner in Michelangelos Erschaffung Adams versinnbildlichten Unmittelbarkeit zu Gott und damit sein Abfall von Gott, also seine Sünde bewusst wird. Anders als in der Erstfassung des Römerbriefs reißt uns das Gesetz nicht aus der träumerischen Unmittelbarkeit des Lebens heraus, sondern das Gesetz in Gestalt der religiösen Möglichkeit zielt ab auf die Wiedergewinnung des unmittelbaren Lebens, das wir verloren haben. Aber gerade dieser Versuch „ist als Gipfel der menschlichen Möglichkeiten der Ausbruch, die Katastrophe der menschlichen Unmöglichkeit Gott gegenüber, das gerade ist’s, was, von Gott aus gesehen, hätte unterlassen werden müssen“33. Daher kann Barth sagen: „Der Sinn der Religion ist der Tod.“34 Die Religion ist gerade keine Harmonie des Menschen mit sich selbst oder gar mit dem Unendlichen, sondern als letzte menschliche Möglichkeit ist sie das vor Gott Nichtseinsollende. „Das ist der Sinn der Religion, daß sich in der Tatsächlichkeit (7, 7b) und Unvermeidlichkeit (7, 8–11) dieser höchsten Menschenmöglichkeit die Macht der Sünde als die Macht erweise, die den in sich geschlossenen Ring der Menschlichkeit beherrscht, die aber selber durch die Freiheit Gottes, Gottes selbst, Gottes allein, begrenzt ist.“35 Unter der Überschrift Die Wirklichkeit der Religion wendet sich Barth 31 32 33 34 35

AaO., 222. AaO., 226. AaO., 235. Ebd. AaO., 239.

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schließlich im dritten Teil der Auslegung von Röm 7 Schleiermachers Religionstheorie und deren Nachfolgern zu. Schleiermacher wird als Hauptvertreter der romantischen Religionspsychologie genannt, der die Religion harmonisierend als Fähigkeit des Menschen bestimmte, alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorzustellen, und sie alles Tun des Menschen wie eine heilige Musik begleiten zu lassen. Dem stellt er ein unromantisches Religionsverständnis gegenüber, das sich nicht durch Harmonie, sondern durch Dissonanz definiert und das ihm in Ps 39, bei Hiob, Luther, Kierkegaard und Paulus begegnet. Deren Religion „weiß sich selbst durchaus nicht als Krönung und Erfüllung wahrer Menschlichkeit, sondern als den bedenklichen, störenden, gefährlichen, als den schließenden und eben darum heimlich offenen Punkt im Kreise der Humanität, als das allen Begebenheiten in der Welt, allem Tun des Menschen gegenüber Unbegreifliche, Unerträgliche, Unannehmbare, als den Ort, wo nicht die Gesundheit, sondern die Krankheit des Menschen erkennbar wird, wo nicht die Harmonie, sondern die Disharmonie aller Dinge zum klingen kommt, wo Kultur nicht sowohl begründet, als vielmehr samt ihrer Partnerin Unkultur gründlichst in Frage gestellt wird.“36

Die Wirklichkeit der Religion sieht Barth dadurch charakterisiert, dass sie dem Menschen gerade keine Lösung seiner Lebensfrage bringt, sondern ihn sich vollends zum unlösbaren Rätsel macht. Sie ist „die Entdeckung seiner Unerlöstheit“ und daher ein „Unglück“37. Auch wenn Schleiermacher Religion als Anschauung und Gefühl des Universums und als Sinn und Geschmack fürs Unendliche definiert, folgt daraus nicht, dass der Mensch in der Lage ist, zu Gott zu gelangen. Mit dem Wissen von Gott ist vielmehr das Wissen vom Menschen als demjenigen gesetzt, der mit Gott nicht zusammengeht. Daher heißt es: „Ein religiöser Mensch sein heißt ein zerrissener, ein unharmonischer, ein unfriedlicher Mensch sein.“38 Aus diesem Grund hält Barth es auch für völlig verfehlt, aus romantischer Freude an ihr die Religion als wertvolle Kulturergänzung oder als Kulturersatz zu empfehlen und in Beziehung zu setzen zu Wissenschaft, Kunst, Moral, Sozialismus, Jugend, Volkstum oder Staat. Wem am schönen Gleichmaß der Humanität und an der Stetigkeit der menschlichen Kultur interessiert ist, der werde sich gegen den Einfluss der Religion in der Kultur verwahren. „Denn die Religion ist der Gegner, der als treuester Freund verkappte Gegner des Menschen, des Griechen und des Barbaren, die Krisis der Kultur und der Unkultur.“39 Sie ist für Barth das Bewusstsein, dass wir sterben müssen, das Bewusstsein des Abfalls von Gott. Daher ist für ihn die Wirklichkeit der Religion 36 37 38 39

AaO., 240. AaO., 241. AaO., 249. AaO., 250.

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auch weit entfernt von der „Triumphatorenstimmung, die an der Wiege dessen stand, was die Wortführer des 19. Jahrhunderts Religion zu nennen beliebten“40. Was Barth nicht nur am romantischen Verständnis der Religion, sondern an der Romantik überhaupt kritisiert, das ist letztlich die Unmittelbarkeit im Sinne der Identifizierung des Menschen mit Gott, die Verkennung der Distanz zwischen Gott und Mensch41. Die Sünde erscheint „als jene trunkene Verwischung der Distanzen zwischen ihm und uns, als jenes Vergessen seiner Unanschaulichkeit, als jene Vergöttlichung des Menschen und Vermenschlichung Gottes in Form der Aufrichtung der romantischen Unmittelbarkeit“42. Daher muss gesichert werden, „daß wir trotz alles romantischen Drängens dabei verharren, Gott Gott und Mensch Mensch zu nennen“43. Die zweite Fassung des Römerbriefs erschien 1922, und im Rundbrief, den Barth am 28. Februar an die Freunde schickt, bittet er um die Zusendung von Diltheys Leben Schleiermachers, weil er erwägt, über Schleiermacher zu lesen.44 Tatsächlich kündigte er für das Wintersemester 1923/24 in Göttingen eine Vorlesung Die Theologie Schleiermachers an. Dabei hat er allerdings das Gefühl, „eher in eine Sackgasse einzufahren, die ich im Frühling gerne wieder verlassen werde“45. Als er die Hälfte der Vorlesung hinter sich hat, meint er, Schleiermacher sei zwar „ein Könner, vor dem man das Hütlein lüften muß, auch wenn man ihm am liebsten an die Gurgel spränge“46. „Das Zeug ist wirklich mürbe, wo man es anrührt, ein einziger Riesenschwindel, möchte man oft zornig schreien.“47 Barth resümiert: „Die Tatsache, daß es mit dem Häuptling des 19. Jahrhunderts so steht, ist mir ein ernstes Problem a) in Bezug auf den Glauben an die göttliche Vorsehung, b) in Bezug auf den an die Wahrheit und Sendung des Protestantismus.“48 In seiner Vorlesung über die Theologie Schleiermachers wendet sich Barth zunächst den Predigten und dann der Wissenschaft zu. Bei der Behandlung der Predigten wendet er sich auch zwei Texten Schleiermachers zu, in denen sich der Geist der deutschen Frühromantik vollendet manifestiert. Zum einen handelt es sich um die Weihnachtsfeier und zum anderen um die Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels ,Lucinde‘. Die Ausführungen zur Weihnachtsfeier hat Barth dann in leicht überarbeiteter Form 1924 in Zwischen den Zeiten veröffentlicht. Für ihn ist es nicht unwichtig, dass Schleiermacher zu dem an Platons Dialogen 40 41 42 43 44 45 46 47 48

AaO., 252. Vgl. aaO., 26.32. AaO., 145. AaO., 418. Karl Barth, Rundbrief vom 28. 2. 1922, in: Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 1921–1930, GA V.4, bearbeitet u. hg. v. E. Thurneysen, Zürich 1974, 149–155, 153. AaO., 183. AaO., 207. AaO., 223. AaO., 235.

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orientierten literarischen Gespräch inspiriert wurde durch den Besuch eines Konzerts im Hallenser Ratskellersaal, bei dem der bekannte Flötist Friedrich Ludwig Dulon gastierte. In seiner Deutung des Gesprächs schließt sich Barth zwar eng an Dilthey an, aber er unterscheidet sich von ihm in der Bewertung der Gedanken Schleiermachers. Das Weihnachtlich-Christliche werde vom Autor als das „,erhöhte wahre Menschenleben‘“49 verstanden, wobei das spezifisch Weihnachtlich-Menschliche für ihn das Verhältnis von Mutter und Kind sei. „Schleiermacher kennt ein Weihnachtswunder : es ist die, in dem Verhältnis Mutter und Kind am schönsten und reinsten sich darstellende, wahre Existenz des Menschen selbst und sein in dieser Anschauung sich entzündendes festlicherhöhtes, liebend die Gemeinschaft suchendes und findendes Lebensgefühl.“50 Dabei frage es sich allerdings, ob Maria und Jesus nicht nur zufällige Paradigmen oder Symbole für das Verhältnis von Mutter und Kind als Inbegriff der erhöhten Menschlichkeit sind. Ausführlich geht Barth auf den dritten Teil der Weihnachtsfeier, das theologische Männergespräch ein, wobei er sich der Auffassung von David Friedrich Strauß anschließt, dass alle Männer bestimmte Aspekte der Meinung Schleiermachers repräsentieren. Die Position des Juristen Leonhardt, eines kritischen Rationalisten, gibt er wie folgt wieder : „Christus ist nicht der Anlaß zu dem schönen Fest, das wir [feiern], sondern das Fest ist so schön, so ,kräftig‘, daß es vielmehr ,Anlaß‘ für die historische Gestalt Christi ist. Sie ist (rein negativ ausgedrückt) keine historische Gestalt, sondern das Produkt einer ,Kultlegende‘, deren Berechtigung mit der des Kultes […] gegeben ist“51. Demnach wäre für Leonhardt die feiernde Erhöhung der reinen Menschlichkeit das Primäre, die historische Gestalt Christi hingegen das Sekundäre. Dieser Position versuche Ernst, der als glücklicher Bräutigam vorgestellt wird, zwar zu widersprechen, indem er die spezifische Weihnachtsstimmung auf die Erlösung zurückführe, die wir im göttlichen Kind anschauen. In der zweiten Auflage der Weihnachtsfeier werde das noch dahingehend spezifiziert, dass damit nicht bloß die Idee, sondern die geschichtliche Gestalt des Erlösers gemeint sei. Aber da der geschichtliche Christus nur der geschichtlich Erste in einer Reihe mit uns sei, wendet Barth gegen Ernsts Position ein: „Christus, das göttliche Kind, hat also nichts, was wir nicht grundsätzlich, abgesehen von unserer graduellen Verschiedenheit von ihm, auch schon hätten. Er ist die Idee und nach der zweiten Auflage der geschichtliche Anfang unseres eigenen ,gesteigerten Daseins‘, unseres erhöhten ,Lebens‘. Einwandfrei ist damit die Frage nach dem mehr als paradigmatischen Charakter des Kindes von Bethlehem offenbar noch nicht 49 Karl Barth, Die Theologie Schleiermachers, Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, GA II.11, hg. v. D. Ritschl, Zürich 1978, 115. 50 AaO., 116. 51 AaO., 120.

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beantwortet.“52 Auch die dritte Position, die von Eduard, einem mit Schelling sich auseinandersetzenden Schleiermacher vertreten wird, stößt auf Barths Kritik. Eduard schließe zwar von der Kirche zurück auf ihren Anfangspunkt, der nur der aus Gott geborene Menschensohn sein könne. Aber der von der Kirche aufgestellte Christus, der Menschensohn sei letztlich nichts anderes als die erhöhte Menschlichkeit. „Und wenn es auch nach Eduard so steht, was bleibt dann übrig, als auch in seinem Sinn bei einem Symbol- oder Paradigma-Christus stehen zu bleiben, wobei dann in der Tat der Feuerbachianismus’ Leonhardts unwiderlegt und das Schwanken Ernsts zwischen Idee und Erfahrung unausgeglichen bleiben mag.“53 Schleiermachers eigentliche Lösung des Problems sieht Barth denn auch gar nicht in den Reden der drei Männer, sondern in dem Wort Josefs, des vierten Mannes, „von dem sprachlosen Gegenstand und der sprachlosen Freude“54. Denn Josef verweise auf den Gesang der Frauen, dem die Frömmigkeit innewohne. Barths These lautet: „Die Musik und das Ewig-Weibliche sind in der Schleiermacherschen Weihnachtsfeier auf keinen Fall bloße Staffage. Etwas scharf zugespitzt würde ich den Satz wagen: sie sind vielmehr die eigentliche theologische Substanz des kleinen Meisterwerkes“55. Das Reich der Töne und der christlichen Musik eröffnen ein musikalisches Christentum, in dem sich die erhöhte Menschlichkeit selbst ausspricht. „Der Ton in seiner begrifflichen Qualitätslosigkeit ist der wahre Träger der Weihnachtsbotschaft, weil er der menschenmögliche Ausdruck für eine menschenmögliche Sache ist.“56 Ebenso kritisch wie zur Weihnachtsfeier fallen Barths Bemerkungen zu Schleiermachers Verteidigung von Friedrich Schlegels Lucinde aus. Schlegels Roman ist für Barth eine von allen ästhetischen Vorzügen freie „Verherrlichung des Eros Pantokrator, wenn nicht gerade der Venus multivaga“57. Daher offenbart für ihn Schleiermachers Verteidigung des Romans nicht nur einen Mangel an ästhetischem Geschmack, sondern auch eine ethisch-theologische Fehleinschätzung, die nur erklärlich sei auf dem biographischen Hintergrund, nämlich seinem Verhältnis zu Eleonore Grunow. Besonders bedenklich erscheint Barth, dass die damals eng befreundeten Autoren ihre zeitgleich erschienenen literarischen Erstlinge, die Lucinde und die Reden Über die Religion, als Zwillingserzeugnisse betrachteten, „daß der Eine in dem Werk des anderen, und zwar Schleiermacher in dem Schlegels noch mehr als umgekehrt, mit Begeisterung seinen eigenen Genius wiedererkannte, nur daß eben der Eine von den Mysterien

52 53 54 55 56 57

AaO., 125. AaO., 130. Ebd. AaO., 131. AaO., 132. AaO., 217.

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der Religion, der Andere von denen der Liebe kündete“58. Schleiermacher konnte Schlegels Liebesbotschaft religiös interpretieren und Schlegel den Plan fassen, eine mit der Botschaft der Lucinde harmonisierende neue Bibel zu schreiben. Religion und Liebe ergänzen sich somit wechselseitig. Gerade in der Lehre von der romantischen Liebe, in der Sinnliches und Geistiges untrennbar miteinander verschlungen sind, kommen Schleiermacher und Schlegel überein. Nicht nur in den Vertrauten Briefen, auch in den gleichzeitig entstandenen Monologen begegnet „die quasi-eschatologische Bedeutung, die Schleiermacher seinem Liebesideal, das doch schon gegenwärtige Wirklichkeit ist, zumißt“59. Es ist die religiöse Verklärung der romantischen Liebe, gegen die sich Barth entschieden wendet. Denn sie ist für ihn Ausdruck einer „betrüblich unkritischen Lebensbejahung, des heimlichen Quidproquos, daß wir Menschen Götter seien, das Gute eine in uns wirkende Naturkraft und das denkbar Höchste im Diesseits der Anbruch des Jenseits im Diesseits“60. Im abschließenden Teil seiner Schleiermacher-Vorlesung kommt Barth angesichts der verbleibenden Zeit nur noch kurz auf die Reden zu sprechen. Als signifikant und zugleich verstörend betrachtet er es, dass deren Autor sich statt als Theologen als einen Virtuosen der Religion bezeichnet, was eher an Paganini und Böcklin erinnere, und der die Religion selbst als das erhabenste Kunstwerk charakterisiere und von der Musik der Religion spreche. Die Rede eines solchen Religionsvirtuosen könne „nur Ausdruck eines nicht Auszudrückenden, Symbol eines Eigentlichen, das nicht erscheint, inadäquates Echo einer Stimme, die selbst tonlos ist, Schall und Rauch gegenüber dem Gefühl, von dem sie redet“61, sein, wie es in Anspielung auf Goethes Faust heißt. Barth wirft Schleiermacher eine grundlegende Verwechslung vor, insofern er die „unanschauliche Unendlichkeitsbeziehung alles Endlichen“ mit Gott verwechsle, etwas Endliches als göttlich qualifiziere, während doch „in einer sinnvollen Aussage über Gott Gott nur als Subjekt, nie und nimmer aber als Prädikat gedacht werden darf“62. Religion als Sinn und Geschmack fürs Unendliche betätige sich nach außen als Weltanschauung, nach innen als Selbstanschauung und beides verbindend als Kunstanschauung, und zwar immer als Anschauung des Einzelnen im Ganzen und des Ganzen im Einzelnen. Barth versteht Schleiermacher so, als halte er die Kunstanschauung, den „Anblick erhabener Kunstwerke“63 für den besten Zugang zum Universum, so dass er die Vereinigung der Religion mit der Kunst fordere. Daher rühre auch die Bestimmung der Religion als Geschmack des 58 59 60 61 62 63

AaO., 219. AaO., 225. AaO., 228. AaO., 401. AaO., 447. AaO., 448.

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Unendlichen, während mit dem Sinn nur ganz allgemein die Gemütsprovinz oder das Organ der Religion gemeint sei. Religion sehe den Menschen in seiner Endlichkeit als des Unendlichen teilhaftig, wobei Schleiermacher hier anders als in der späteren Definition der Religion als schlechhinniges Abhängigkeitsgefühl zwischen einer objektiven und einer subjektiven Seite, zwischen Anschauung und Gefühl unterscheide. Barth hält es nun nicht nur für einen Kardinalfehler Schleiermachers, von der Religion statt von Gott auszugehen, er betrachtet es zudem als fatal, dass bei ihm statt von Gott vom Universum die Rede ist. Schleiermachers Universum müsse man zwar „in gewaltigster Aktion“ denken, aber Barth sieht „keine Stelle, aus der sich ergeben würde, daß das Schleiermachersche Universum etwas Anderes wäre als – genau so wie das Woher? des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls – die übermächtige Kausalität“.64 Die göttliche Aktion unterscheide sich nicht von einem in die Unendlichkeit projizierten Wasserfall, der alle Turbinen auf der Erde gleichzeitig in Bewegung setze. Da unklar sei, weshalb man diese Kausalität Gott nennen solle, lege es sich auch nahe, dass Schleiermacher den Gottesbegriff als nicht konstitutiv für die Religion betrachte. Barth gelangt am Ende seiner Vorlesung zu einem erschütternden Ergebnis. Wohl sei er auf schlimme Dinge gefasst gewesen. „Aber ich war nicht gefaßt darauf, daß die Entartung der protestantischen Theologie – und von einer solchen muß man doch wohl im Blick auf die historische Bedeutung des Mannes reden – so tiefgehend, so ausgedehnt, so mit Händen zu greifen sei.“65 Zwar habe der Protestantismus seit den Reformatoren keinen größeren Theologen gehabt, doch habe er die Theologie in eine Sackgasse geführt. Wenn Schleiermachers Lehre vom schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl oder vom Universum wirklich die legitime Vollendung des Werkes Luthers und Calvins wäre, würde es Barth für richtig halten, wieder katholisch zu werden. Auch lehnt er es ab, die Vorsehung Gottes so zu interpretieren, dass man auf diesem Wege weiter gehen müsse. Doch „sieht man in Schleiermacher keineswegs den rechtmäßigen Erben und Testamentsvollstrecker der Reformatoren und in der fraglosen Herrschaft seiner Richtung nicht eine gnädige, sondern eine ungnädige Führung Gottes, ein Zorngericht über den Protestantismus, das zur Buße und Umkehr und nicht zum Weitermachen einladet, dann bleibt offenbar – und ich sehe nicht ein, wie dem auszuweichen sein wird – die Möglichkeit der theologischen Revolution, das grundsätzliche Nein! zu der ganzen Schleiermacherschen Religions- und Christentumslehre und der Versuch eines Neubaus gerade an der Stelle, an der wir ihn immer wieder mit erstaunlicher Beharrlichkeit, Kunst und Kühnheit haben vorbeieilen sehen.“66

64 AaO., 452. 65 AaO., 461. 66 AaO., 462.

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Zwar teilt Barth mit Emil Brunner die grundsätzliche Kritik an Schleiermachers Ansatz, doch zugleich hegt er starke Bedenken gegen Brunners Schleiermacherbuch Die Mystik und das Wort, das er bei seiner Vorlesung immer wieder herangezogen hatte und dem er 1924 eine Rezension widmet. Das biblischreformatorische Wort, das Gott spricht, wird von Brunner dem schleiermacherschen Gefühl entgegengesetzt, das der Mensch hat und das das Heiligtum aller Mystik sei. Brunner liefere noch zahlreiche andere Formulierungen, um diesen Gegensatz herauszustellen: „Glaube als Vernehmen des Wortes im Gegensatz zu einem antiintellektualistischen, in Wahrheit agnostitizistischen Expressionismus. Offenbarung als Mittlertum, als geschichtliche Selbstkundgebung Gottes, als Autorität, also im Gegensatz zu der romantisch-religiösen Apotheose des Individuellen“67. Barth stört an Brunners Buch nicht nur die Rolle des allwissenden Staatsanwalts, die sich der Autor anmaßt. Er hält es vor allem für verfehlt, Schleiermachers Theologie ausschließlich auf die Formel der Mystik zu bringen und den Aspekt der Apologetik und Kulturreligion zu vernachlässigen, die beide für die Wirkung Schleiermachers in der Theologie des 19. Jahrhunderts entscheidend gewesen seien. „Denn wie es Schleiermacher selbst nicht um die Identifikation des Christentums mit der Mystik ging (obwohl er diese Identifikation als Apologet in der Tat vollzogen hat), sondern um die Identifikation des Christentums mit der Kulturbewegung, so ist die an ihn anschließende Theologie des 19. Jahrhunderts zum wenigsten durch ihre Affinität zur Mystik, wohl aber durch ihre hemmungslose und geradlinige Bejahung des modernen Kulturbewußtseins bezeichnend charakterisiert.“68

Mit Schleiermacher verfällt aber für Barth wie für Brunner die gesamte Theologie des 19. Jahrhundert der Kritik, als deren Häuptling er Schleiermacher betrachtet. Daher kann er seine Geschichte der Theologie des 19. Jahrhunderts, über die er ab 1926 in Münster liest, nur als Krankheitsgeschichte schreiben.69 „Was die Deutschen im allgemeinen wollen, ist mir dieser Tage bei der Beschäftigung mit Marheineke sehr klar geworden, hinter dem Hegel steht, wie hinter Hegel zweifellos – Luther : daß Gott in uns, wie in Gott denken, jenseits dessen, was wir ,dialektisches‘ Denken nennen.“70 Allerdings veranlasst die Be67 Karl Barth, Brunners Schleiermacherbuch, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, GA III.19, hg. v. H. Finze, Zürich 1990, 401–425, 403. 68 Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 41981, 389f. 69 Vgl. Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 22. 4. 1926, in: Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 1921–1930, GA V.2, bearbeitet u. hg. v. E. Thurneysen, Zürich 1974, 408–410, 409; vgl. auch ders., Brief an Eduard Thurneysen vom 11. 6. 1926, in: Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 423f, 423. 70 Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 15. 6. 1926, in: Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 424f, 424.

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schäftigung mit Ritschl, dem er ledernen Geheimratspositivismus vorwirft, Barth zu einer Lobrede auch auf die „Romantik und eben – Schleiermacher“, der ihm „richtig ein wenig ehrwürdig geworden ist neben diesem engstirnigen Mann“71. Schleiermacher – so Barths These – habe nicht nur ein christlicher Theologe, sondern auch ein moderner Mensch sein wollen, und bereits seine Reden Über die Religion zeigten ihn als jemanden, der an dem zeitgenössischen Kulturbewusstsein aktiv beteiligt sei. „So finden wir ihn um die Jahrhundertwende unter den Romantikern, ihn, den Berliner Krankenhauspfarrer, der doch auch in den geistig avancierten Zirkeln der Hauptstadt ohne jenen etwas fatalen Geruch des geistreichen Abb8 des 18. Jahrhunderts, ehrlich und selbstverständlich dazugehörig, ein- und ausgehen konnte.“72 Schleiermachers Theologie ist daher für Barth „in ihrem innersten Heiligtum Kulturtheologie“73. Gegenstand seiner Theologie sei die Religion, der es selbst um Lebenserhöhung im umfassenden Sinn, um Veredelung des Menschen gehe, und die Kultur sei selbst das ureigenste Werk des Christentums, das Christentum mithin seinem Wesen nach Kulturreligion. Gegen Brunners Identifizierung der Theologie Schleiermachers mit der Mystik macht Barth geltend, dass Schleiermachers eigentliches theologisches Anliegen die Ethik gewesen sei. Das zeige sich darin, dass er das Christentum als teleologische Form der Religion bestimmte, die ausgerichtet sei auf die aktive Gestaltung des mit dem Kulturfortschritt identischen Reiches Gottes. Zudem sei Schleiermacher als Apologet der Religion und speziell des Christentums aufgetreten, der sich als religiöser Virtuose neben die philosophischen, künstlerischen und sittlichen Virtuosen, neben die Romantiker, Fichte und Schelling stellte. „Er ist als moderner Mensch, also als Denker, also als Ethiker, also als Religionsphilosoph, also als philosophischer Theologe, also als Apologet und also endlich als Dogmatiker entschlossen, das Christentum auf keinen Fall so zu interpretieren, daß seine interpretierten Sätze in Widerspruch zu den Prinzipien und Methoden der Philosophie, der Geschichts- und Naturforschung seiner Zeit treten können.“74 Als Apologet des Christentums sei Schleiermacher aber einerseits durch die Herrnhuter Brüdergemeine, andererseits durch die romantische Schule geprägt, damit aber auf Vermittlung ausgerichtet. Diese Vermittlung habe bei ihm zu einer Herrnhuterei nicht nur höherer, sondern höchster Ordnung geführt, theologisch zu einem Interesse an der Aufhebung von Gegensätzen, das heißt an Versöhnung und Frieden. Es sei die Vermittlung sowohl zwischen Reformierten und Lutheranern in der Union wie zwischen Wissen und 71 Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 5. 8. 1928, in: Barth – Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 595–599, 598. 72 Barth, Protestantische Theologie, 387. 73 Ebd. 74 AaO., 397.

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Tun im Gefühl, die ihm kirchenpolitisch und theologisch vorschwebe. Daher seien für ihn christliche Glaubenssätze nur in der Rede dargestellte Auffassungen der christlich frommen Gefühls- oder Gemütszustände, und „die Wahrheit im letzten entscheidenden, aber auch unaussprechlichen Sinn bleibt dem stummen, bestenfalls singenden, nur in letzter Linie und dann inadäquat redenden Gefühl vorbehalten“75. Die durch das romantische Prinzip der Mitte bedingte Scheu vor allen gegenständlichen Aussagen hält Barth für die Grundvoraussetzung der Theologie Schleiermachers. Diese Theologie sei eine anthropozentrische Bewusstseinstheologie, die sich der kopernikanischen Wende anpasst, wie sie durch die Aufklärung, durch Kant, Goethe, Hegel und die Romantik vollzogen worden sei. Angesichts dessen, dass Barth sich bereits in seiner frühen Gemeindearbeit mit ihm beschäftigt hat, ist es nicht verwunderlich, dass er in seiner Theologiegeschichte das Wesen der Romantik exemplarisch an Novalis veranschaulicht. Ist für ihn Kant die tiefste, Hegel die radikalste und Goethe die reifste Form jener Geistesbewegung, die die Aufklärung vollendet und überwunden und die Geistigkeit des 19. Jahrhunderts begründet hat, so betrachtet er die Romantik als die bezeichnendste und repräsentativste Form dieser Bewegung. Er exemplifiziert sie an Novalis, weil es „eigentlich nur ihm gelungen ist, den Sinn der Romantik in einer gewissen Eindeutigkeit und Endgültigkeit, in einer zur Entscheidung aufrufenden Schärfe herauszustellen“76. Barth stellt ihm den „jungen Schleiermacher in seiner romantischen Reinheit“77, wie er einem in den Reden entgegentritt, zur Seite. Auch Novalis gehe es um Vermittlung, und zwar um Vermittlung von Kunst und Philosophie, Natur und Geschichte, Liebe und Religion. Die vermittelnde Mitte bezeichne Novalis zwar manchmal mit Fichte als das Ich, eigentümlicher aber als das selbst unbegreifliche Leben, „als das unendliche Äußerlichwerden der unendlichen Innerlichkeit oder auch als das unendliche Innerlichwerden der unendlichen Äußerlichkeit“78. Beides bewirkten Poeten, Künstler und Philosophen, deren Wirken daher als magisch bezeichnet werden könne. Weil Philosophie Poiesis sei, müsse sie letztlich eins sein mit Poesie und Kunst. Ebenso wenig bestehe ein Gegensatz zwischen Natur und Geschichte, da die Natur eine Geschichte und damit einen Geist habe. „Was Kunst und Philosophie auf der ontologischen, Natur und Geschichte auf der ontischen, das sind Liebe und Religion auf der personalen oder ethischen Betrachtungsebene.“79 Die pantheistisch gefasste Mittlerreligion, in der alles zum Mittler werden kann und die als Werk des Menschen und Angelegenheit romantischer Kultur, als Lie75 76 77 78 79

AaO., 407. AaO., 306. AaO., 307. AaO., 313. AaO., 319.

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beslehre verstanden wird, begreift Barth als zum Ausbruch gekommene Hybris der Aufklärung und als das esoterische Geheimnis der Religionslehre des 19. Jahrhunderts. Allerdings sieht er diese Religionslehre zugleich in Frage gestellt durch Überlegungen, die Novalis in seinen mathematischen Fragmenten zu Gott anstellt. Zwar werde Gott einerseits gefasst als das sich ins Unendliche produzierende Ich oder Leben, als Gott der Tänzer, aber andererseits auch als die „Frage, die der Voraussetzung der romantischen Dialektik, jenem Sich-selbsthaben des Menschen gegenübersteht“80. Wahrer Gott kann Barth zufolge aber nur einer von beiden sein, und als ein Symptom dafür, dass für Novalis der zuletzt genannte Gott in seinem Leben und den Denken eine Rolle spielte, nennt er die Bedeutung, die er dem Tod beimisst. Damit greift Barth zurück auf seinen frühen Gemeindevortrag. Zumindest als möglich sieht er es an, dass Novalis in der Konfrontation mit dem Tod seiner Braut auf ein „Jenseits der romantischen Synthesis“, eine „positive Nicht-Bestimmung“ des Menschen, also auf etwas, das das Ich selbst nicht gesetzt hat, gestoßen ist.81 Möglich sei es immerhin, „daß hier eine radikal andersartige Erkenntnis sich angemeldet hätte, daß die romantische Synthesis in dem ganzen Glanz ihrer Selbstsicherheit letztlich doch eine große, grundsätzliche nicht wieder zu beseitigende Erschütterung, Infragestellung, ja Aufhebung in sich trüge“82. Damit verbindet Barth die Möglichkeit, dass Novalis an jener Grenze nicht Maria, sondern Christus begegnet wäre. Es könne aber auch sein, dass Novalis in den Hymnen an die Nacht und in den Geistlichen Liedern nunmehr auch die Nacht, den Tod und selbst Christus in die magische Identität des Ich mit allem Nicht-Ich integriert habe. Zumal „wenn Maria das letzte Wort ist – Maria im Sinn der katholischen Kirchenlehre, für die Novalis an dieser Stelle offen genug war – dann heißt das: das letzte Wort ist die nach oben offene, Gott erschlossene, der Teilhabe an Gott fähige Kreatur“83. Dann würde sich Novalis nach wie vor im „Rahmen der uralten und immer neuen Immanenzreligion, die vor 100 Jahren Romantik hieß“84, bewegen. Novalis interessiert Barth nun aber nicht nur als der typische Repräsentant der Romantik als einer vergangenen Epoche, sondern auch deshalb, weil er einen engen Zusammenhang sieht zwischen der Romantik und dem sogenannten modernen Menschen zwischen 1870 und 1914, an dem sich Ritschl und Troeltsch orientierten. Diesen Zusammenhang repräsentieren für Barth Gestalten wie Richard Wagner, Nietzsche, Haeckel, Tolstoi und Naumann. Zwar habe man das 19. Jahrhundert als positivistisch, sozialistisch und historistisch charakterisiert. Aber : „Es wird ja kein Zweifel sein, daß das unromantische Jahrhundert endlich 80 81 82 83 84

AaO., 325. AaO., 327. Ebd. AaO., 340. Ebd.

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und zuletzt, als es mit seinem Geist zur Reife kam, doch auch wieder seinen Eugen Diederichsverlag und seine Jugendbewegung haben und daß der letzte deutsche Kaiser, wenn nicht alles Verständnis dieses Mannes trügt, wie einst sein Großonkel Friedrich Wilhelm IV., ein ,Romantiker auf dem Throne der Cäsaren‘ sein mußte.“85 Wie von dem Jahrhundert insgesamt gelte aber auch von dessen Theologie, dass es zwar die Romantik hinter sich gelassen habe, sie aber nicht losgeworden sei. Nicht umsonst habe das Jahrhundert mit Schleiermacher geendet, mit dem es auch angefangen habe. Barth verweist auf die SchleiermacherRenaissance, auf Herrmanns Begeisterung gerade für den jungen Schleiermacher und auf Troeltsch, der, „das Schleiermachersche Programm wieder aufnehmend, eine Konzeption in die Mitte seiner Religionsphilosophie rückte, die im Grunde eben die romantische war“86. Insofern es zum Wesen der Romantik eher gehört, Programme zu entwerfen statt sie auszuführen, ist Troeltsch für Barth der letzte große Romantiker in der Theologie, und Barths Kritik der Theologie des 19. Jahrhunderts ist daher eine Kritik der romantischen Theologie.

85 AaO., 304. 86 AaO., 305.

Susanne Hennecke

Karl Barth und Friedrich Schleiermacher. Eine Verhältnisbestimmung aus niederländischer Perspektive1

1.

Einleitung

Der Streit zwischen den Barth-Befürwortern und den Barth-Kritikern, so die zusammenfassende Beobachtung des Basler Theologen Georg Pfleiderer, sei jedenfalls für die deutschsprachige Theologie der Gegenwart trotz zahlreicher Schlichtungsversuche weiterhin konstitutiv und sein Ausgang weiterhin offen. Gestritten wird dabei vor allem über den Religionsbegriff und dieser ist theologiegeschichtlich gesehen vor allem mit dem Namen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher verbunden. Erachteten die Barth-Kritiker den Religionsbegriff für den interreligiösen Dialog und das Gespräch mit einer dem Selbstverständnis nach säkularisierten Moderne gerade als zentral, so die weitere Beobachtung Pfleiderers, werde dieser von den Barth-Befürwortern eher kritisch beäugelt, da er die Fühlung zum christlichen Glauben und dessen intrinsischen Wahrheitsansprüchen lockere.2 Angesichts dieses für die deutschsprachige Theologie konstitutiven Streites und seiner Begründungen bietet es sich an, die Umgangsweise mit der mit den Namen Barth und Schleiermacher verbundenen theologiegeschichtlichen Konstellation einmal in anderen Ländern zu untersuchen. Ein im Vergleich zur deutschsprachigen Situation herausforderndes Beispiel bietet der niederländische systematische Theologe Hendrikus Berkhof (1914–1995). Um dessen spezifische Wahrnehmung, Interpretation und Weiterführung der mit den Namen 1 Dieser Beitrag ist Teil eines größeren DFG-Forschungsprojektes „Die theologische, politische und kulturelle Rezeption der Theologie Karl Barths in den Niederlanden (1919–1989)“ und bildet eine Vorversion eines Kapitels über die „Hendrikus Berkhof“. Im Rahmen dieses Forschungsprojekts habe ich bereits die folgende Studie publiziert: Susanne Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden. Teil 1: Theologische, kulturelle und politische Rezeptionen (1919–1960), FSÖTh 142, Göttingen 2014. 2 Vgl. Georg Pfleiderer, Progressive Dialektik. Zur Entwicklung von Karl Barths theologischem Denken im Zeitraum des Ersten Weltkriegs, in: Georg Pfleiderer/Harald Matern (Hg.), Theologie im Umbruch der Moderne. Karl Barths frühe Dialektische Theologie, Christentum und Kultur 15, Zürich 2014, 81–103, 82f.

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Schleiermacher und Barth gegebenen spannungsvollen Konstellation gut nachvollziehen zu können, soll Berkhof im Folgenden zunächst biographisch und damit auch im Kontext der niederländischen Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts kurz vorgestellt (1.) und vor dem Hintergrund seiner spezifischen Barthinterpretation näher beleuchtet werden (2.). Sodann soll seine Umgangsweise mit der mit dem Spannungsfeld Barth-Schleiermacher gegebenen theologiegeschichtlichen Konstellation genauer erforscht (3.) und im Kontext von Berkhofs modernitätstheoretischer Einordnung betrachtet (4.) werden. Der Beitrag schließt ab mit einem kurzen Fazit (5.). Hendrikus Berkhof (1914–1995) stammt aus einem reformierten Elternhaus im Norden Amsterdams und wuchs dort in einem aus vielfältigen Strömungen zusammengesetzten Milieu auf, zu dem außer den reformierten auch gereformierte/neocalvinistische, säkulare und sozialistische Elemente und Einflüsse gehörten.3 Während seiner Studienzeit kam er sowohl mit der an der Universität von Leiden federführenden Theologie von Ernst Troeltsch als auch mit der unter Studierenden damals populären Römerbrief-Theologie von Karl Barth in Kontakt. Obwohl Berkhof letztere anfänglich als eine zu „einseitige Reaktion auf das 19. Jahrhundert“4 empfunden hatte, entwickelte er gegen Ende seines Studiums aufgrund der Lektüre der Kirchlichen Dogmatik I/1 ein auch persönliches Interesse an Barths Theologie. Als typisch richtungsübergreifender theologischer Denker prägte Berkhof nach dem Zweiten Weltkrieg nachhaltig die traditionell sehr zerklüftete theologische niederländische Landschaft, und zwar 1950–1960 als Rektor des Predigerseminars der Niederländischen Reformierten Kirche und 1960–1981 als kirchlicher Professor für Dogmatik und Biblische Theologie an der Reichsuniversität Leiden. Genau wie bei den ebenfalls einflussreichen und wichtigen niederländischen reformierten Theologen Oepke Noordmans und Kornelis Heiko Miskotte zeichnet sich das Gesamtwerk Berkhofs durch eine kontinuierliche Wahrnehmung und Verarbeitung der für die Niederlande ja insgesamt sehr bedeutsamen5 Theologie Karl Barths aus. Dabei lässt sich der spezifische Modus dieser Rezeption genau wie bei Noordmans und Miskotte6 als kulturtheologisch engagiert und interessiert bezeichnen, was unter anderen dem Umstand zu verdanken ist, 3 Die Angaben in diesem Abschnitt stammen aus Berkhofs theologischer Autobiographie; vgl. Hendrikus Berkhof, Om de waarheid en om de kerk. Een theologische autobiografie, in: Ellen Flesseman-van Leer/Frederik Onslow van Gennep/Wessel Eliza Verdonk (Hg.), Bruggen en bruggehoofden. Een keuze uit de artikelen en voordrachten van prof. dr. H. Berkhofuit de jaren 1960–1981, Nijkerk 1981, 11–21. 4 AaO., 13. 5 Zu Karl Barths Bedeutung für die Niederlande vgl. Susanne Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden. Teil 1: Theologische, kulturelle und politische Rezeptionen (1919–1960), FSÖTh 142, Göttingen 2014. 6 Zu Noordmans und Miskotte vgl. aaO., Kap. 4 u. 9.

Karl Barth und Friedrich Schleiermacher

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dass sich die niederländischen ,Barthianer‘ beziehungsweise Barthrezipienten charakteristischerweise zwischen zwei durchaus gegensätzlichen anderen Formen der Kulturtheologie zu profilieren hatten, nämlich zwischen einer an der modernen Kultur orientierten liberalen Kulturtheologie einerseits und einer der modernen Kultur gegenübergestellten (sogenannten antirevolutionären) neocalvinistischen Kulturtheologie andererseits. Im Unterschied zu Noordmans und Miskotte ist Berkhof jedoch einer zweiten Generation von Barth inspirierter kulturtheologisch interessierter reformierter niederländischer Theologen zuzurechnen. Deren Wahrnehmung der Theologie Karl Barths richtete sich nicht nur auf dessen Texte oder Persönlichkeit selber, sondern auch auf die ungemein produktive, innerökumenisch und kirchenreformerisch höchst imposante niederländische Wirkungsgeschichte dieser Theologie.

2.

Berkhofs Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths

Berkhofs lebenslange Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths lässt sich in fünf Phasen unterteilen. In der Anfangsphase (1938–1947) entstand anlässlich eines Studienaufenthalts an der Hochschule der Bekennenden Kirche in Berlin im Jahr 1937 ein erster schriftlicher Beitrag über die von Barth wesentlich beeinflusste Barmer Theologische Erklärung, De hervatting van een confessioneel gesprek7 (Die Wiederaufnahme eines konfessionellen Gesprächs; Übers. SH). Es zeigt sich, dass es bereits dem jungen Berkhof weniger um die verwerfenden Tendenzen barthscher theologischer Einsichten, sondern vielmehr um deren integratives und ökumenisches Potential ging: Durch die Erklärung und ihrenChristozentrismus habe die innerprotestantische konfessionelle Trennung zwischen Lutheranern, Reformierten und Unierten „jegliche Bedeutung gegenüber anderen [Trennungen], welche dort quer hindurch [liefen] verloren“8. Die „Wiederherstellung“9 des (innerprotestantischen) konfessionellen Gesprächs sei möglich geworden, weil die Konzentration auf eine neue Einheit in Christus helfe, sowohl konfessionelle Indifferenz als auch konfessionellen Synkretismus abzuwehren. Gerade das integrative Interesse der Erklärung lasse sich auch gut auf die für die Niederländische Reformierte Kirche beherrschende Problematik der Überwindung des sogenannten Richtungsstreits zwischen den orthodoxen, liberalen, ethischen und konfessionellen reformierten Strömungen beziehen.10 7 Hendrikus Berkhof, De hervatting van een confessioneel gesprek, Onder eigen vaandel 13, 1938, 114–147. 8 AaO., 120. 9 AaO., 124. 10 Zum Richtungsstreit vgl. etwa Hennecke, Barth in den Niederlanden, 25–34.

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In der zweiten Phase (1947–1953) erschienen zwei weitere Beiträge, nämlich 1951 De stand van het credo in de Hervormde Kerk11 (Zur Situation des Credos in der reformierten Kirche; Übers. SH) und 1952 Crisis der middenorthodoxie12 (Krise der Mittelorthodoxie; Übers. SH). Ausgehend von der Anerkennung und Würdigung der bisherigen integrativen Leistung der Theologie Karl Barths klingen auch kritische Töne in Bezug auf deren zukünftige Leistungskraft auf: Zwar habe die Rezeption der Theologie Barths insgesamt sogar einen neuen und „moderne[n] Frömmigkeitstyp“13 in den Niederlanden produziert, so Berkhof 1951, doch könne dessen Schwäche, nämlich die Gefahr der Objektivierung des Glaubens, nicht länger übersehen werden. Diese sei in den Nachkriegsjahren durch die einseitige Betonung der göttlichen Distanz, der kollektiven, dynamischen und kosmischenAspekte der Offenbarung sowie der ethisch-politischen Zielrichtung von Barths Theologie entstanden und habe zu einem Generationenkonflikt mit der allerjüngsten Generation geführt, die ihrerseits lieber die Innerlichkeit, Mystik und Heiligung betone. Theologisch gesehen könne man das Anliegen der allerjüngsten Generation als die Frage nach dem Heiligen Geist artikulieren, weswegen sich die eigentliche Bedeutung von Barths Theologie erst mithilfe einer pneumatologischen Ergänzung ihres diastatischen und christologischen Ansatzes vollends entfalten lasse. Außer ein neuer Frömmigkeitstypus, so Berkhof in dem Beitrag aus dem Jahr 1952, habe sich durch den Einfluss der Theologie Karl Barths in den Niederlanden innerhalb der dadurch neu entstandenen sogenannten mittelorthodoxen Strömung auch ein neuer „Predigtstil“14 entwickelt, der das Lebensgefühl derjenigen anspreche, denen der Glaube an den Menschen verloren gegangen sei und die nun entdecken konnten, dass Gott gerade die Verlorenen retten wolle. Der betreffende Predigtstil überzeuge mit der Idee, dass man sich nicht religiös hocharbeiten müsse, sondern Gottes Anwesenheit und Rechtfertigung gerade auch in der modernen Gottverlassenheit, Desillusion und Gebrochenheit erfahren könne. Dem durch Barths Theologie angestoßenen neuen Predigtstil sei es in beeindruckender Weise gelungen, biblische Motive unmittelbar auf das Lebensgefühl der Hörer zu beziehen. Doch habe die menschliche Desillusionierung seitdem zugenommen und an die Stelle des entblößten und bedürftigen Lebensgefühls der Vorkriegsgeneration sei nun ein absurdes Lebensgefühl getreten. Solle die mit dieser Radikalisierung der Desillusionierung zusammenhängende Entstehung der Krise der Mittelorthodoxie überwunden werden, 11 Hendrikus Berkhof, De stand van het credo in der Hervormde Kerk, in: Hendrik van der Linde/Frans H. Thijssen (Hg.), Geloofsinhoud en geloofsbeleving. Een peiling binnen reformatie en Katholieke kerk in Nederland, Utrecht/Antwerpen 1951, 114–145. 12 Hendrikus Berkhof, Crisis der middenorthodoxie, Nijkerk 1952. 13 Berkhof, De stand, 143. 14 Berkhof, Crisis, 23.

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müsse der von Barth inspirierte moderne Predigtstil weiter modernisiert und (kritisch) auf das neue absurde Lebensgefühl abgestimmt werden. Dafür sei erstens eine stärkere Betonung von Seelsorge, Heiligung und des Horizontalen und zweitens die Revision des Verhältnisses zwischen Gesetz und Evangelium im Sinne einer stärkeren Betonung des Gesetzes notwendig. Unter dem Einfluss barthscher Theologie predige die Mittelorthodoxie nämlich „Gnade ohne Gericht, Erlösung ohne Dankbarkeit, Friede ohne Furcht, Bestimmung ohne Gebot“15. Nach Berkhofs Beobachtung entspricht diesem – wohl als zu billig oder lax empfundenen–Predigtstil auf der einen Seite im mittelorthodoxen Gemeindeleben auf der anderen Seite paradoxerweise eine zunehmende Emsigkeit und Aktivität. Diese „amerikanisch[e]“16 Betriebsamkeit zeichne sich zudem durch zwanghafte Vorbildlichkeit aus. Während also in der sonntäglichen Predigt das Evangelium vom Gesetz isoliert werde, werde im alltäglichen Gemeindeleben umgekehrt das Gesetz vom Evangelium isoliert und irre man folglich hin und her „zwischen einem Evangelium ohne Gesetz und einem Gesetz ohne Evangelium“17. In der dritten Phase (1953–1973) betonte Berkhof außer die Notwendigkeit einer pneumatologischen Ergänzung die Notwendigkeit einer eschatologische Verlängerung von Barths christologischem Ausgangspunkt. Zusammengenommen können die im Laufe der 50er und 60er Jahre publizierten Bücher sogar als eine eigene kleine Dogmatik in doppelt kritischer und Barths ursprünglicher Intentionen teilweise zuwiderlaufender Auseinandersetzung mit Barth betrachtet werden: Während Christus en de machen18 (Christus und die Mächte; Übers. SH) und Christus de zin der geschiedenis (Christus als Sinn der Geschichte; Übers. SH)19 christologische Themen behandeln, handelt es sich bei De mens onderweg (Der Mensch unterwegs; Übers. SH)20 um eine kleine Anthropologie, bei De katholiciteit der kerk21 (Die Katholizität der Kirche; Übers. SH) um eine Ekklesiologie, bei De leer van de Heilige Geest (Theologie des Heiligen Geistes; Übers. SH)22 um eine Pneumatologie und bei Gegronde verwachting23 (Begründete Erwartung; Übers. SH) schließlich um eine Eschatologie. AaO., 43. AaO., 46. AaO., 49. Hendrikus Berkhof, Christus en de machten, Nijkerk 1952. Hendrikus Berkhof, Christus. De de zin der geschiedenis, Nijkerk 1958. Hendrikus Berkhof, De mens onderweg. Een christelijke mensbeschouwing, s-Gravenhage 1960. 21 Hendrikus Berkhof, De katholiciteit der kerk, Nijkerk 1962. 22 Hendrikus Berkhof, Theologie des Heiligen Geistes. Mit einem Nachwort zur neueren Diskussion von Uwe Gerber (übers. aus d. Engl. v. H.-U. Kirchhoff), Neukirchner Studienbücher 7, Neukirchen-Vluyn 21988 [ursprl.: The Doctrine of the Holy Spirit, Atlanta 1964].

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Angesichts sich verändernder gesellschaftlicher, kultureller und theologischer Bedingungen nahm Berkhofs Interesse an der Theologie Karl Barths in den 60er Jahren allerdings schnell ab. In seiner Autobiografie beschreibt er den sich vollziehenden theologischen Paradigmenwechsel in Entsprechung zu der allgemeinen kulturellen empirischen Wende als Hinwendung zu einem induktiven Denken und als Verbreitung eines den traditionellen Theismus hinterfragenden, a-theistischen Lebensgefühls, dem Ende der 60er Jahre die Gott-ist-tot-Theologie, die Theologie der Revolution, die Befreiungstheologie und die studentische Demokratisierungsbewegung gefolgt seien.24 Dieser Umschlag wirkte sich nach Berkhof auch auf die bislang hohe Relevanz barthscher Theologie in den Niederlanden aus:25 Könne man die Zwischenkriegsgeneration kulturell gesehen als bürgerlich und ideologisch gesehen als religiös-idealistisch charakterisieren und lasse sich vor diesem Hintergrund die einschlägige herausfordernde Wirkung von Barths Römerbrief erklären, zeichne sich die Generation der 60er Jahre durch einen religiösen Agnostizismus aus. Und sei die zentrale Frage vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen, ob der christliche Glaube als spezifisch christliche Variante eines allgemeinen religiösen Bewusstseins anzusehen sei, sei in den 60er Jahren das religiöse Bewusstsein als solches zum Problem geworden und habe der Atheismus auch unter Theologen eine enorme Anziehungskraft entfaltet. Sowohl kulturwissenschaftlich als auch religionsgeschichtlich gesehen habe sich dann gezeigt, dass Atheismus und Religion immer schon zusammen aufgetreten seien – eine Erkenntnis, die gerade auch von Karl Barth und dem niederländischen Barthschüler Kornelis Heiko Miskotte26 theologisch verarbeitet und systematisch-theologisch reflektiert worden sei. Die entscheidende, über Barth und den Barthianismus in den Niederlanden hinausgehende zeitgenössische Frage sei jedoch, wie der christliche Glaube, der als solcher genau wie auch der Atheismus positiv zu einer Entsakralisierung der Wirklichkeit beigetragen habe, in einem atheistischen Zeitalter weiterhin überzeugen und wie „seine Relevanz für die erfahrene Wirklichkeit“27 aufgewiesen werden könne, nämlich am besten mit einem nicht-metaphysischen, diesseitsorientierten Gottesverständnis. Damit zeichnet sich für Berkhof die Notwendigkeit eines theologischen Neuansatzes ab, bei dem stärker als bisher das zunehmende Auseinanderklaffen zwischen horizontalen (erfah-

23 Hendrikus Berkhof, Gegronde verwachting. Schets van een christelijke toekomstleer, Nijkerk 1967. 24 Berkhof, Autobiografie, 18. 25 Hendrikus Berkhof, Theologiseren in een a-the"stisch tijdperk, in: Ders., Bruggen, 59–74. 26 Vgl. Hennecke, Barth in den Niederlanden, 333–367. 27 AaO., 70.

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rungsgerichteten) und vertikalen (offenbarungstheologischen) Ansätzen zu bearbeiten sei.28

3.

Zum Verhältnis zwischen Barth und Schleiermacher

Als Resultat dieses Neuansatzes publizierte Berkhof 1973 unter dem Titel Christelijk geloof29 (Christlicher Glaube; Kurs. im Original!, SH; Übers. SH) eine auch international vielbeachtete und bis in die heutige Zeit neuaufgelegte Dogmatik, die hier für die vierte Phase (1973–1984) von Berkhofs Auseinandersetzung mit Karl Barth steht. Zwar bleibt Karl Barth – neben Luther und Calvin – weiterhin ein wichtiger oder sogar der wichtigste theologische Referenzpunkt, doch will Berkhof dessen Erbe nun mit dem seines theologiegeschichtlichen Gegenpols, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, kombinieren und davon ausgehend seinen eigenen, kombinatorischen Ansatz auf die Ermöglichung eines Gesprächs mit dem säkularisierten zeitgenössischen Menschen und den Erfordernissen eines interreligiösen Dialogs hin ausrichten. Das Interesse, Barth und Schleiermacher beziehungsweise deren unterschiedliche Ausgangspunkte einerseits zu kombinieren und andererseits weiterzuführen, spiegelt sich bereits im Titel, der sowohl auf Schleiermachers als religionstheoretisch unterbaute Glaubenslehre konzipierte Dogmatik Der christliche Glaube als auch – nämlich durch die Kursivierung des Wortes ,christlich‘ – auf Barths Betonung der offenbarungstheologisch gegebenen unableitbaren Besonderheit des christlichen Glaubens30 in der Kirchlichen Dogmatik anspielen will. Was sich im Titel bereits programmatisch andeutet, führt Berkhof dann in den ersten Kapiteln seiner Glaubenslehre sowohl formal als auch inhaltlich gesehen anhand einer Diskussion über Status und Funktion von Prolegomena für eine Dogmatik/Glaubenslehre aus: Während Schleiermacher seine im ersten und zweiten Kapitel der Glaubenslehre ausgeführten Prolegomena als eine allgemein religionstheoretisch fundierte und methodisch insbesonders am Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls orientierte ,Hinleitung‘ zur eigentlichen Dogmatik konzipierte und (der offenbarungstheologisch orientierte) Barth sie als einen integrierten Teil der Dogmatik (vgl. KD I/1 und KD I/2) ansah, ver28 Vgl. Berkhof, Autobiografie, 19. 29 Hendrikus Berkhof, Christelijk geloof. Een inleiding tot de geloofsleer, Kampen 102013 [ursprl. Kampen 1973]. 30 Bereits auf der ersten Seite seiner Glaubenslehre wendet sich Berkhof gegen die Vorstellung, dass der christliche Glaube seinem aus dem Neuen Testament gewonnenen Selbstverständnis nach eine besondere Variante des allgemeinen Phänomens Religion sei. Vielmehr präsentiere er sich als Resultat einer besonderen Offenbarung; vgl. aaO., 1.

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bindet Berkhof beide Herangehensweisen miteinander und versieht seine Glaubenslehre sowohl – wie Schleiermacher – mit einer hinleitenden Einleitung (vgl. §1–§6) inklusive Prolegomena (vgl. §1) als auch – wie Barth – mit zur eigentlichen Glaubenslehre zugehörigen Interne[n] Prolegomena (vgl. §7), die in eine Diskussion über den Begriff der Offenbarung als erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt gebettet werden (vgl. §7–§18). Erst dann folgen die einzelnen eigentlichen Lehrstücke. Bietet Berkhofs von Schleiermachers Vorgehensweise inspirierte und sich einem modernen Wissenschaftsbegriff verpflichtet wissende Einleitung allerdings gerade eine Dynamisierung und Dialogisierung der mit den Namen Schleiermacher und Barth verbundenen gegensätzlichen religionstheoretischen beziehungsweise offenbarungstheologischen Herangehensweisen, so bieten die von Barths Vorgehensweise inspirierten Internen Prolegomena eine auch Barth gegenüber nicht unkritische, dialogisch interessierte Interpretation und Weiterführung vondessen dialektischem Offenbarungsbegriff. Zunächst in sieben Punkten zu Berkhofs Entschärfungen des theologiegeschichtlichen Gegensatzes zwischen Barth und Schleiermacher in der Einleitung, die insgesamt auf eine Bewertung von Barths Vorgehensweise als konsequente Explikation und kongeniale Weiterführung des von Schleiermacher erstmals entwickelten Problembewusstseins hinauslaufen: Schon bei Schleiermacher, so Berkhof erstens in §1, habe die Einleitung zur Glaubenslehre keinesfalls einfach die Funktion einer Begründung oder eines Beweises31 des christlichen Glaubens gehabt. Vielmehr sei Schleiermacher sich spätestens ab der zweiten Auflage seiner Glaubenslehre darüber bewusst geworden, dass es einen „Riss“32 (ndl. kloof beziehungsweise sprong; SH), zwischen seiner Einleitung und der eigentlichen Dogmatik gebe und die christliche Frömmigkeit nicht einfach aus einem allgemeinen menschlichen frommen Bewusstsein abgeleitet werden könne. Barth habe dann im 20. Jahrhundert in der Kirchlichen Dogmatik I/1 und I/2 an Schleiermachers „methodische Verlegenheit“33 anknüpfen können, die Prolegomena konsequenterweise in die eigentliche Dogmatik integriert und den ,Sprung‘ oder auch ,Riss‘ zwischen einem allgemeinen Religionsbegriff und dem an einen besonderen Offenbarungsanspruch orientierten christlichen Glauben zu seinem Programm machen können. Das Interesse an einer zunächst an Schleiermacher orientierten wissenschaftlich-methodischen Verantwortung des christlichen Glaubens spiegelt sich bei Berkhof zweitens auch in dem Bemühen, den in den 70er Jahren im Zuge der 31 Berkhof weist aaO., 2 hin auf Schleiermacher, Der christliche Glaube §1–14, bes. §11.5. 32 AaO., 2; Berkhof weist in Bezug auf die Unableitbarkeit des christlichen Glaubens auf das sogenannte Zweite Sendschreiben an Lücke aus dem Jahr 1828, welches Schleiermacher im §15 seiner Glaubenslehre zitiert. 33 AaO., 2.

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empirischen Wende entstandenen Ruf nach einer stärkeren Erfahrungsbezogenheit der Theologie zu integrieren. Auch diesbezüglich entkomme man dem von Schleiermacher entdeckten ,Riss‘ jedoch nicht, weswegen auf Seiten des spezifisch christlichen Glaubens gerade dessen wirklichkeits- und erfahrungsbezogener Anspruch zu betonen sei.34 Ebenfalls in Anknüpfung an Schleiermachers Methodik entwickelt Berkhof drittens auch einen explizit religionstheoretischen Zugang zu seiner eigentlichen Glaubenslehre, wobei er die Religion als „die Beziehung zum Absoluten“35 definiert und dieses Absolute wiederum in Anlehnung an einen offenbarungstheologischen Zugang gerade als ein unableitbarer, als ein grundloser Grund gedacht wird. Die Mitte dieses relationalen Religionsbegriffs bildet viertens sowohl das ,suchende Fragen‘ als auch die ,erfahrene Antwort‘, sodass die Problematik des modernen Zweifels beziehungsweise des modernen Atheismus in Anspielung auf und unter Einbeziehung von Barths Formulierung in §17.2 der Kirchlichen Dogmatik36und in Vorwegnahme der eigentlichen Pointe in §17.3 (Die wahre Religion) von Berkhof nicht als Gegensatz zur Religion, sondern als deren „immanente Problematik“37 betrachtet und gewürdigt wird. Fünftens greift Berkhof auch das ebenfalls von Schleiermacher inspirierte Anliegen einer religionsgeschichtlichen Herleitung der verschiedenen Religionen auf und bezieht dieses Anliegen wiederum auf den mit einem besonderen Offenbarungsanspruch verbunden christlichen Glauben. Der christliche Glaubesei nämlich als die besondere Variante einer ursprünglich abrahamitischen und sich gerade als alternative Religion präsentierenden sogenannten „Glaubensreligion“38 aufzufassen. In dieser mit dem Aufbruch des Stammvaters Abraham erstmalig auftretenden Form der Religion sei es darum gegangen, im Konflikt mit umliegenden Religionen gerade „einen entgegengesetzten Weg auf dem Feld der ,Religion‘ ein[zu]schlagen“39 : Die betreffende Glaubensreligion wird dabei gerade nicht als ein Gegenbegriff zur Offenbarung aufgefasst, sondern als Reaktion auf ein transzendentes Ereignis beziehungsweise die göttliche Offenbarung und also in einer (konstruktiven) Beziehung zum Absoluten. So gesehen lasse sie sich als die „größte Sprungvariation“40 auf dem Feld der Religionen überhaupt bezeichnen. 34 Vgl. aaO., 3f. 35 AaO., 6. 36 Vgl. den auf den Atheismus und die Mystik bezogenen Ausdruck „immanente Problematisierung der Religion“ in: Barth, KD I/1, 343. 37 Berkhof, Glaube, 8. 38 AaO., 15f. 39 AaO., 19. 40 AaO., 12; vgl auch aaO., 17.

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Soll mit dieser Profilierung des christlichen Glaubens als (Variante) einer Glaubens-Religion sechstens eine religionsphänomenologische Nivellierung41 des Unterschieds zwischen Religion und (christlichem) Glauben einerseits vermieden werden, geht es andererseits um die Bekämpfung eines diesbezüglichen Exklusivismus, wie er nach Berkhof gerade im – weniger steilen als vielmehr extrem diastatischen – Barthianismus der niederländischen „Barthschule“42 vorliege. In dieser Schulbildung werde die angestrebte Vermittlung zwischen christlichem Glauben und Religion sowohl phänomenologisch als auch theologisch strikt abgelehnt und die Religion einseitig als menschliche Selbstprojektion und Instrument zur Legitimation der herrschenden Ordnung betrachtet. Dieser extrem religionsfeindlichen und exklusivistischen Form der Barthinterpretation43 sei der dialektische Ansatz von Barth selber entgegenzuhalten, der etwa im §17 den christlichen Glauben/die christliche Religion sogar als eine wahre Religion bezeichnen konnte.44 Insgesamt gesehen kann das Vorgehen Berkhofs also als der Versuch bezeichnet werden, das religionstheoretische Anliegen Schleiermachers mitsamt der darin gefundenen methodischen Verlegenheit in Bezug auf eine Rationalisierung oder Begründung des christlichen Glaubens durch eine Kombination mit einem mehr offenbarungstheologischen Ansatz in Richtung auf eine Entschärfung des methodischen Gegensatzes zwischen Barth (offenbarungstheologisch) und Schleiermacher (religionstheoretisch) hin weiterzuführen. Dabei kommt siebtens schließlich auch ein Mangel in Bezug auf Schleiermacher zur Sprache: Schleiermacher sehe zwar letztendlich, dass man den (biblisch gegebenen) Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens weder religionstheoretisch, noch ideengeschichtlich oder religionsphänomenologisch begründen könne, doch sei es darüber hinaus erforderlich, explizit herauszustellen, dass dem christlichen Glaubens immer eine subjektive „Wahl“45 zugrunde liege. Es geht also nach Berkhof immer um einen ,nur‘ intrinsischen, auf subjektiver Entscheidung beruhenden – nicht rationalisierbaren oder objektivierbaren – Wahrheitsanspruch. 41 Vgl. AaO., 18. 42 AaO., 18f; gemeint ist diejenige niederländische Richtung der Barthinterpretation, die sich an der städtischen Universität von Amsterdam etabliert hatte und die Berkhof durch die Namen der Systematiker Ernst J. Beker und Johannes M. Hasselaar (aaO., 19) und des Exegeten Karel Deurloo (aaO., 68) repräsentiert sieht. 43 In kritischer Auseinandersetzung mit dem hier bereits von Berkhof prognostiziertem Exklusivismus an (Teilen!) der Amsterdamer Theologischen Fakultät entstand Ende der 90er Jahre auch der zudem gendertheoretisch motivierte Gesprächsversuch von: Susanne Hennecke, Der vergessene Schleier. Versuch eines theologischen Gesprächs zwischen Luce Irigaray und Karl Barth, Gütersloh 2001. 44 Vgl. aaO., 18f. 45 AaO., 25.

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Das Pendant zu Berkhofs Entschärfung des theologiegeschichtlichen Gegensatzes zwischen Barth und Schleiermacher in der Einleitung und der Versuch, beide Herangehensweise zu kombinieren und ineinander zu verschieben, ist in den darauf folgenden Internen Prolegomena eine dialogisch interessierte Interpretation und kritische Weiterführung von Barths Offenbarungsbegriff. Dabei gesteht Berkhof zu, dass der Begriff der Offenbarung für das moderne autonome Denken keine Selbstverständlichkeit mehr darstellte, weswegen es für den Dialog mit dem modernen Menschen unerlässlich geworden sei, dessen beziehungshafte Struktur zu formalisieren und erkenntnistheoretisch zu explizieren.46 In Bezug auf Berkhofs diesbezügliche Auseinandersetzung mit Barths theoretischem Ausgangspunkt lassen sich drei Gedankengänge hervorheben: Erstens geht Berkhof davon aus, dass die „die Gottesoffenbarung in Christus […] nicht exklusiv, sondern normativ“47 zu verstehen sei. Barths kritische Religionstheorie lasse sich diesbezüglich im theologiegeschichtlichen Rückblick gerade gut im Rahmen des Trends abnehmender christlicher Exklusivitätsansprüche einordnen: Gehe die Bibel davon aus, dass sich Gott auch außerhalb von Israel oder Christus offenbaren könne und offenbare, sei dieses Wissen im Laufe der Kirchengeschichte zugunsten eines christlichen Exklusivismus großenteils48 verloren gegangen. Doch habe sich Barth dann in der Barmer Theologischen Erklärung und insbesondere in deren erster These – also der Grundlage für den späteren §17 der Kirchlichen DogmatikI/1, – gerade nicht im Sinne eines traditionellen christlichen Exklusivismus engagieren wollen, sondern sich vielmehr gegen den Verlust der Normativität Christi bei den Deutschen Christen gewandt: diese hätten „in ihrer politischen Verblendung Christus als die Norm [Kurs. SH] aus dem Auge verloren“49. Entsprechend habe Barth die Religion vorwiegend negativ und als Projektion des autonomen Menschen und nicht – wie Berkhof selber – als Reaktion auf ein transzendentes Ereignis dargestellt. Gleichwohl habe Barth seine Einschätzung in der Kirchlichen Dogmatik IV50 noch einmal revidiert und den christlichen Exklusivitätsanspruch noch weiter mit der Aussage entkräftigt, dass Gott sich auch außerhalb Jesu Christi in der Welt engagieren könne. Letztlich sei jedoch anzumerken, dass auch diese Position theologiegeschichtlich überholt sei: Statt eines vorwiegend dialektisch gedachten Verhältnisses zwischen dem christlichen Glauben und anderen Religionen be-

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Vgl. aaO., 42f. AaO., 47. Als Ausnahme führt Berkhof Zwingli und Calvin an. AaO., 48f. Berkhof weist hin auf KD IV/1, 537f und auf die sogenannte Lichterlehre Barths in KD IV/3, 153–188.

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tone man inzwischen einen (dialogischen) Zusammenhang zwischen der biblischen und der nicht-biblischen Offenbarungssprache.51 Zweitens sei Barths „eindrucksvolles Durchdenken“52 der Verborgenheit der Offenbarung zu bedenken.53 Berkhofs Umgangsweise mit dieser barthschen Thematik erweist sich insofern wiederum als dialogisch, als er die göttliche Offenbarung der Verborgenheit Gottes nicht im dialektischen Gegensatz zur menschlichen (Erfahrung von) Gottesfinsternis verortet, sondern diese im Anschluss an Jes 45, 15, Hi 38–42 und beispielsweise Ps(s) 77 und 139 korrelativ, und zwar objektiv als „Spiegelung“54 und subjektiv als eine entsprechende diesbezügliche „Ahnung“55 interpretiert. Außerdem fasst er im Rahmen seines beziehungshaften Offenbarungsbegriffs die göttliche Verborgenheit im Anschluss an die göttliche Namensoffenbarung in Ex 3,14 und im Anschluss an Ex 33, 18–23 nicht als eine vollständige göttliche Abwesenheit sondern doppeldeutiger, nämlich auch als Hinweis auf Gottes zukünftige Bundestreue auf. Drittens und letztens ist Berkhofs Auseinandersetzung mit der (biblisch seines Erachtens gegebenen) Geschichtlichkeit56 der Offenbarung zu nennen, bei der jedoch Barths Abweisung einer Geschichtstheologie außen vor bleibt und statt dessen die Barthdeutung der sogenannten ,Amsterdamer Schule‘57 im Zentrum der Kritik steht. Deren rein literarische Bibelauffassung leugne zugunsten einer reinen Wortwerdung des Wortes jegliche historische Dimension der Offenbarung, und zwar bis hin zur Bestreitung der Historizität Jesu. Demgegenüber vertritt Berkhof ein heilsgeschichtlich orientiertes kumulatives Modell („Offenbarung ist ein kumulativer Prozess von Ereignissen und deren Interpretation“58), das den Zusammenhang zwischen der vertikalen sich ereignenden göttlichen Offenbarung und der horizontalen menschlichen Historie betont und sich als dreifache Abgrenzung versteht, nämlich erstens gegen Hegels Identifikation von Geschichte und Offenbarung, zweitens gegen die klassische heilsgeschichtliche Theologie des 19. Jahrhunderts und drittens gegen das aktualistische Offenbarungsverständnis der frühen dialektischen Theologie. Das 51 52 53 54 55 56

Vgl. aaO., 48f. AaO., 57. Berkhof weist hin in auf KD II/1, §27, 200–229; vgl. ebd. AaO., 57f. AaO., 58. Berkhof denkt dabei nicht nur an den Ereignischarakter der Offenbarung, sondern auch an die Historizität der Offenbarung, die er zudem nicht von einer Naturoffenbarung trennen will. 57 Außer an die Systematiker Ernst J. Beker und Johannes M. Hasselaar denkt Berkhof hier insbesondere an die (nicht historisch-kritisch, sondern konkordant und strukturalistisch vorgehende) exegetische Variante der Amsterdamer Schulbildung, für die hier stellvertretend der Name des Exegeten Karel Deurloo steht; vgl. aaO., 68. 58 AaO., 66.

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dialogische Interesse Berkhofs besteht in diesem Fall also nicht so sehr an einer anknüpfenden Weiterführung barthscher Positionen oder Positionen des niederländischen Barthianismus, sondern darin, die von Barth und Teilen des niederländischen Barthianismus vollzogene Abweisung einer Offenbarung Gottes in der Geschichte zu revidieren. Insgesamt kann für diese Phase festgestellt werden, dass Berkhofs Interesse einerseits eine (teilweise auch problematisierende) Weiterführung und andererseits eine theologiegeschichtliche Einordnung barthscher theologischer Erkenntnisse und Entscheidungen ist, wobei die theologiegeschichtliche Einordnung nicht im Gegensatz zur, sondern im Dialog mit der liberalen Theologie vorgenommen wird. Dieses doppelte Interesse spiegelt sich noch einmal in einem 1977 publizierten Beitrag59 zu Barths sogenannter Lichterlehre in §69 der Kirchlichen Dogmatik IV/3. Barths durch den Kampf gegen die natürliche Theologie motivierte Abweisung einer natürlichen Gotteserkenntnis und die Profilierung einer christozentrischen Theologie habe diesen anders als Calvin dazu gebracht, die Religion nicht bei den Lichtern der Welt einzuordnen.60 Barths Abwehr der natürlichen Theologie überzeugt Berkhof jedoch weder biographisch noch theologiegeschichtlich oder rezeptionsästhetisch gesehen:61 Denn biographisch gesehen sei Barths theologischer Neuanfang im Zeichen der Abwehr der natürlichen Theologie selber als das Resultat einer „Wechselbeziehung“62 verschiedener Lebenserfahrungen63 anzusehen. Barths Abwehr der natürlichen Theologie präsentiere sich selber zwar als ein Kampf gegen die Theologie des 19. Jahrhunderts, müsse theologiegeschichtlich gesehen aber als Erbschaft dieses Jahrhunderts und als eine Reflektion der neuzeitlichen Erfahrung der Säkularisierung verstanden werden: Denn der Kampf gegen die natürliche Theologie habe ja bereits mit Kant eingesetzt, sei dann von Hegel und Schleiermacher fortgesetzt worden und habe sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Empirismus und Determinismus bei Ritschl und Herrmann als Kampf gegen den Naturalismus von einem eigenen antimetaphysischen Ort der Theologie her fortgesetzt. Barths theologischer Subjektwechsel in der Römerbrieftheologie lasse sich angesichts des zunehmenden 59 Hendrik Berkhof, Barths Lichterlehre im Rahmen der heutigen Theologie, Kirche und Welt, in: Hendrik Berkhof/Hans-Joachim Kraus, Karl Barths Lichterlehre, ThSt 123, Zürich 1977, 30–48. 60 Vgl. aaO., 33. 61 Vgl. aaO., 39ff. 62 AaO., 38. 63 Berkhof weist aaO., 37 hin auf die Bedeutung des Kriegsausbruchs 1914, auf Barths Begegnung mit dem Sozialismus und auf seine Beeinflussung durch den Marburger Neukantianismus.

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methodischen Rückzugs der Theologie darum am besten als ein theologischer Neuanfang in Hinsicht auf ein zunehmend säkularisiertes Wirklichkeitsverständnis verstehen: Die Gottesfinsternis sei für Barth „ungleich tiefer geworden als sie vor 1914 zu sein schien“64 und diese zunehmend säkularisierte Wirklichkeitserfahrung habe Barth insbesondere anhand seines Umgangs mit der Religion dahingehend verarbeitet, dass er der Frömmigkeit der liberalen Theologie eine theologische Verarbeitung der Religionskritik entgegengesetzt habe. Barth habe als erster Theologe den neuzeitlichen Atheismus ernst genommen, er habe die Religion anders als etwa Troeltsch und Herrmann „in der Weise von Feuerbach und Freud“65 erlebt und den Begriff der Projektion sogar in seine Dogmatik (vgl. §17) aufgenommen. So gesehen sei es zwar theologisch richtig, dass Barths Christozentrismus eine natürliche Gotteserkenntnis ausschließe, biographisch und theologiegeschichtlich gesehen sei er jedoch als eine theologische Deutung oder Verarbeitung „profaner Wirklichkeiten“66 – lies: der modernen säkularen Erfahrung – zu verstehen. Auch rezeptionsästhetisch gesehen stellt sich nach Berkhof Barths rigide Abweisung der natürlichen Theologie nicht mehr als überzeugend dar : So sei auch seine Leserschaft der Meinung gewesen, dass die Römerbrieftheologie als Ausdruck eines allgemeinen, mit anderen zeitgenössischen Publikationen und philosophischen Ansätzen vergleichbaren europäischen Lebensgefühls am Anfang des 20. Jahrhunderts zu verstehen sei.67 Außerdem hätten in den Niederlanden die meisten Christen und auch die meisten Barthianer Barths Abweisung einer natürlichen Gotteserkenntnis dadurch relativiert, dass sie sich in der Kirche – nach Berkhof zu Recht – für moderne Werte wie Frauenemanzipation, Demokratie, Sozialismus und Menschenrechte eingesetzt hätten. Dies alles lasse sich nämlich keinesfalls christologisch begründen, faktisch sei man also mithilfe vernunftorientierter oder politischer Argumentationen und unter progressiven Vorzeichen zu der von Barthgerade abgewiesenen doppelten (christologischen und natürlichen)Erkenntnisquelle zurückgekehrt. Angesichts dieser biographischen, theologiegeschichtlichen und rezeptionsästhetischen Einsichten sei

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AaO., 39. AaO., 40. Ebd. Berkhof weist ebd. auf die These des niederländischen liberalen Theologen Hendrik J. Adriaanse hin, dass es eine Übereinstimmung im Denkansatz Husserls und Barths gegeben habe; vgl. Hendrik J. Adriaanse, Zu den Sachen selbst. Versuch einer Konfrontation der Theologie Karl Barths mit der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls, ’sGravenhage 1974 [Diss. Universität Leiden]. Außerdem erklärt Berkhof sich die Attraktivität Barths in den 20er Jahren in den Niederlanden damit, das man den Römerbrief als Ausdruck eines Lebensgefühls gelesen habe, welches mit dem von Rudolph Otto, Franz Rosenzeig und Eduard Spengler gerade korrespondierte; vgl. Berkhof, Glauben, 37.

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eine theologische Aufwertung der Bedeutung profaner Wirklichkeiten vorzuschlagen.68

4.

Modernitätstheoretische Einordnung

In der ab 1985 einsetzenden fünften und letzten Phase von Berkhofs Auseinandersetzung mit Barths Theologie tritt zusätzlich zu deren theologiegeschichtlicher Kontextualisierung eine noch deutlicher modernitätstheoretisch motivierte, kulturgeschichtlich orientierte Barthinterpretation hinzu, wie Berkhofs in deutscher Sprache erschienenen Theologiegeschichte der Neuzeit, 200 Jahre Theologie. Ein Reisebericht69 zeigt. Diese betrifft auch noch einmal die Verhältnisbestimmung zwischen Barth und Schleiermacher : Das übergreifende Thema des Buches ist eine Evaluation des Gegensatzes zwischen Evangelium und modernem Denken. Gehe das Evangelium von einer Dualität zwischen einem persönlichen Schöpfergott und der Welt beziehungsweise des Geschöpfes aus, und thematisiere der Glaube die Sünde als die menschliche Erfahrung der Entfremdung, profiliere das Denken der Aufklärung demgegenüber das Bild eines nicht nur mündigen und autonomen, sondern auch vernünftigen Menschen. Diese „Antithese“70, so Berkhofs anschließende theologiegeschichtliche Einschätzung, hätten die Theologen der Neuzeit nicht akzeptieren wollen und sich darum auf die Suche nach einer Synthese zwischen dem christlichen Glauben und der modernen Kultur begeben. Zu fragen sei aber, ob die von den modernen und insbesondere von den liberalen Theologen behauptete Möglichkeit einer „Koexistenz“71 zwischen Evangelium und modernem Denken allgemein kulturanalytisch gesehen wirklich „begründet“72 sei? Berkhofs theologiegeschichtliches Anliegen wird also erstens mit der Behauptung einer Grundlosigkeit oder Unmöglichkeit eines (genuinen) Zusammengehens von Evangelium und moderner Kulturkulturanalytisch mit einem negativen Vorzeichen versehen. Erst unter dem negativen Vorzeichen kommt es zweitens zu einer umfassenden Deutung der neueren Theologiegeschichte: Die vormoderne Harmonie zwischen Gottes- und Welterkenntnis sei mit dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) zunächst endgültig zerstört worden, doch habe Kant versucht, sowohl die Aufklärung als auch den Gottesgedanken zu retten: erstere durch die Betonung der Freiheit und Mündigkeit des Menschen, zweiteren durch den Glauben an einen moralischen Zweck und einen 68 69 70 71 72

Vgl. aaO., 40.43. Hendrikus Berkhof, 200 Jahre Theologie. Ein Reisebericht, Neukirchen-Vluyn 1985. AaO., 12. AaO., 11. Ebd.

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allmächtigen Zwecksetzenden. In teilweise kritischer Auseinandersetzung mit Kant habe sich daraufhin die idealistische deutsche Theologie formiert, für die theologiegeschichtlich der Name Schleiermachers stehe. Doch habe sich das deutsche Lebensgefühl auf und nach dem Höhepunkt des deutschen Idealismus ab Mitte des 19. Jahrhunderts tiefgreifend gewandelt und habe der Idealismus dem Empirismus Platz gemacht. Der Versuch deutscher konfessioneller, liberaler und auch vermittlungstheologisch orientierter Theologen des 19. Jahrhunderts, die idealistische Aufklärungskultur theologisch zu verarbeiten, sei deshalb lediglich als idealistisches „Nachspiel“73 beziehungsweise als theologischer und idealistisch-philosophischer „,Nachhutkampf‘“74 zu charakterisieren, eine Verspätung, durch die die Theologen des 19. Jahrhunderts den Kontakt mit der sie umgebenden empiristischen, naturalistischen und zunehmend auch atheistisch geprägten Kulturwelt Europas verloren hätten. Erst Ritschl sei es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder gelungen, mithilfe seines positivhistorischen Denkens Anschluss an den modernen Empirismus zu finden. Sei allerdings die Kluft zwischen dem mechanischen Weltbild der Naturwissenschaften auf der einen und der Freiheitsidee des modernen Christentums und des Idealismus auf anderen Seite für Ritschl noch keine „Anfechtung“75 gewesen, sei Wilhelm Herrmann um die Jahrhundertwende gegenüber dem naturwissenschaftlichen Denken und „der Flut von Empirismus und Determinismus, von Psychologismus und Historismus“76 immer mehr in die Defensive geraten. Erst Ernst Troeltsch sei es gelungen, den naturalistischen Determinismus in die Theologie aufzunehmen. Doch habe auch Troeltsch mit der von ihm betonten Trennung zwischen Gott und Welt gezeigt, dass die Wege des modernen Denkens und der modernen Theologie letztlich getrennte Wege seien. Zusammenfassend und auf diese Periode evangelischer Theologie seit Ritschl zurückblickend spricht Berkhof darum von einem „Rückzug“77 der modernen Theologie gegenüber dem modernen Denken, den Rudolf Bultmann am Beginn des 20. Jahrhunderts insofern noch „einen letzten, entscheidenden Schritt weiter[geführt]“78 habe, als er die Bedeutung des historischen Jesus auf ein Minimum reduziert und ein unhistorisches Kerygma profiliert habe, mit dessen Hilfe er „den Glauben gegen jeden kritischen Eingriff von Seiten der Wissenschaft“79 habe bewahren wollen. Erst vor dieser spezifischen kulturanalytischen Deutung der gesamten 73 74 75 76 77 78 79

AaO., 74. AaO., 81. AaO., 149. Ebd. AaO., 167. Ebd. Ebd.

Karl Barth und Friedrich Schleiermacher

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neueren Theologiegeschichte als einer prinzipiell in die Defensive geratenen religiösen Verlustgeschichte kann Berkhof nun drittens auch die charakteristische Bedeutung Karl Barths – und auch der Theologen nach Barth – vollständig erfassen: Zwar sei es mit dem in der zweiten Auflage des Römerbriefkommentars aus dem Jahr 1922 vollzogenen Subjektwechsel und der damit verbundenen Vertikalisierung Gottes und der entsprechenden säkularen Geschichtsauffassung tatsächlich zu einem „Bruch“80 mit der gesamten Ritschl-Schule gekommen, doch mache gerade dieser Bruch im Gegensatz zu dem in der RitschlSchule angelegten Rückzug das spezifisch Moderne von Barths Theologie aus. Der Römerbrief sei als aktuelles „Dokument der damaligen Kulturepoche und des zu ihr gehörigen Lebensgefühls“81 zu betrachten, nämlich als ein radikales Dokument des – für die Moderne beziehungsweise Spätmoderne charakteristischen – „Leiden[s] an der gottlosen Welt“82. Nach Berkhof hat also Barth als erster Theologe die Erfahrung der Abwesenheit Gottes theologisch konstruktiv verarbeitet, damit die Situation der Moderne sehr viel moderner aufgegriffen als die liberale Theologe und so als erster Theologe wieder den Anschluss an das Lebensgefühl der Spätmoderne herstellen können. Betont Berkhof so auf der einen Seite das spezifisch eigenständig Moderne in Barths Denken, nämlich den Ausgangspunkt der modernen Gottlosigkeit, und erklärt er Barths Bruch mit der liberalen Theologie gerade von seiner Modernität her, sieht er auf der anderen Seite auch die „bleibende[n] Übereinstimmungen“83 mit der Ritschl-Schule, nämlich die Abwehr von Metaphysik und natürlicher Theologie und nicht zuletzt den bei Barth erst 1930 einsetzenden Christozentrismus. Nicht die Behauptung einer Diastase zwischen Gott und Welt habe Barth von seinen Vorgängern unterschieden, so das abschließende Urteil Berkhofs, sondern „nur das Maß der Radikalität“84 mit der sie von Barth durchgeführt worden sei. Berkhofs vor dem Hintergrund der kulturanalytischen Antithese zwischen christlichem Glauben und modernem Weltbild entwickelte theologiegeschichtliche Relativierung von Barths Bruch mit der liberalen Theologie und das dazugehörige Herausstellen der spezifischen Modernität Barths resultiert schließlich viertens erneut in einerVerhältnisbestimmung zwischen Barth und Schleiermacher.85 Zwar hätten beide großen Theologen der Neuzeit bekanntermaßen gegensätzliche theologische Herangehensweisen, doch seien die Gemeinsamkeiten zu betonen: Der geteilte Ausgangspunkt bei Joh 1,14, das geteilte Interesse an der Abwehr metaphysischer und naturwissenschaftlicher Einflüsse, 80 81 82 83 84 85

AaO., 196. Ebd. AaO., 197. AaO., 199. Ebd. Vgl. aaO., 62f.

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die Objektbezogenheit des Glaubens, die anthropologische Unbegründbarkeit des Glaubens, die methodische Orientierung an der Einsicht Anselms von Canterbury (credo ut intelligam), die Christozentrik der Dogmatik/Glaubenslehre und die von beiden geteilte Erwägung, getroffene methodische Entscheidungen auch wieder zu revidieren. Erst angesichts der Gemeinsamkeiten könne man die Unterschiede richtig einordnen: Habe Schleiermacher um der Botschaft des Evangeliums willen Mühe gehabt, die Verbindung mit dem modernen Lebensgefühl aufrecht zu erhalten, habe Barth aufgrund seiner teils bewussten und teils unbewussten theologischen Verarbeitung des modernen säkularisierten Zeitgefühls – gemeint ist die Erfahrung der Gottlosigkeit der Welt – bei seiner Interpretation des Wortes Gottes diese Verbindung „nicht preisgegeben“86.

5.

Fazit

Es ist als Berkhofs Verdienst anzusehen, die Bedeutung der Theologie Karl Barths umfassend theologiegeschichtlich eingeordnet und in origineller Weise modernitätstheoretisch gedeutet zu haben. Dabei präsentiert Berkhof Karl Barth einerseits in Kontinuität zur liberalen Theologie, andererseits jedoch als eigenständigen radikal-modernen Theologen, dessen moderne Radikalität er durch die in der liberalen Theologie noch ungenügend durchgeführte theologische Verarbeitung der neuzeitlichen Religionskritik einschließlich der Erfahrung des modernen Atheismus und durch die in der liberalen Theologie bereits angelegte und von Barth vergrößerte Differenz zwischen Gott und Welt gegeben sieht. Ausgehend von Berkhofs Analysen und Kombinationsvorschlägen kann nun gesagt werden, dass der eingangs erwähnte, für Deutschland immer noch konstitutive Streit zwischen Barth-Kritikern und Barth-Befürwortern jedenfalls aus niederländischer Perspektive für einen weiteren Schlichtungsversuch in Anmerkung kommt. Berkhof hat mit seinem weiterführenden ,glaubensreligionstheoretischen‘ Ansatz zum einen einen Vorschlag unterbreitet, wie die unterschiedlichen methodischen Ansätze von Schleiermacher und Barth in einem weiterführenden Modell aufeinander aufgebaut und kombiniert werden können. Zum anderen hat Berkhof aber auch deutlich gemacht, das die von den BarthBefürwortern und den Barth-Kritikern genannten Streitgründe genauer gesehen jeweils auch von den jeweiligen Gegnern vertreten werden oder jedenfalls vertreten werden könnten und sich so gesehen im Grunde aufheben. Kann man mit und in Anknüpfung an Barth genauso gut wie mit und in Anknüpfung an Schleiermacher sowohl einen interreligiösen Dialog als auch das Gespräch mit der säkularisierten Moderne führen und fördern, so kann man jemanden, der 86 AaO., 62.

Karl Barth und Friedrich Schleiermacher

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ausgehend von Schleiermacher arbeitet genauso wenig wie jemandem, der ausgehend von Barth arbeitet, vorwerfen, die Fühlung zum christlichen Glauben und dessen intrinsischem Wahrheitsanspruch aufgegeben zu haben.

Reinhold Bernhardt

Religion als Götzendienst? Barth und die Religionstheologie

1.

Einleitung

Die erste Antwort, die Karl Barth in KD §17 auf die Frage nach dem Wesen der Religion gibt, lautet unmissverständlich: Religion ist Götzendienst. „Götzendienst und Werkgerechtigkeit ist alle Religion auch auf der vermeintlich höheren Stufe, auf der sie den Götzendienst und die Werkgerechtigkeit aus ihren eigenen Kräften und auf ihren eigenen Wegen überwinden zu wollen scheint.“1 Barth radikalisiert damit die theologische Religionskritik: Diese kann sich nicht damit begnügen, Götzendienst und Werkgerechtigkeit in der Religion zu kritisieren. Sie hat die Religion selbst und als solche als Götzendienst und Werkgerechtigkeit zu durchschauen. Damit ist die außertheologische Religionskritik theologisch rezipiert. Dieser ersten Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Religion stellt Barth eine zweite gegenüber, die er allerdings nur auf die christliche Religion bezieht. Sie lautet: Es gibt Gottes Offenbarung in Jesus Christus nicht formlos, sondern immer nur im irdenen Gefäß der Religion. Barth sieht darin einen Ausdruck der Menschlichkeit der Offenbarung. Schon im Römerbrief hatte er konstatiert, dass es „Gnade nicht ohne Gnadenerlebnis, nicht ohne um dieses Erlebnis sich kristallisierende Religion“2 gibt. Die christliche Religion ist Darstellungsraum der Offenbarung. Die eine Seite der Dialektik, die Barths theologischen Religionsbegriff kennzeichnet – Religion als Götzendienst – wird also auf alle Religionen, einschließlich der christlichen, angewendet, die andere Seite – Religion als Darstellungsraum der Offenbarung – nur auf die christliche Religion. Die nichtchristlichen Religionen (wobei das Judentum hier zunächst auszunehmen ist) werden also nur durch die erste der beiden Aussagen qualifiziert. 1 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2. Teilbd., Zollikon-Zürich 1938, 343. 2 Karl Barth, Der Römerbrief (2. Aufl.) (1922), Zürich 131984, 212.

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Im ersten Teil meiner Darstellung will ich zunächst an Barths Aussagen zum Islam zeigen, wie er den dialektischen theologischen Religionsbegriff nur einseitig – im Sinne der ersten der beiden genannten Antworten auf die Frage nach dem Wesen der Religion – auf die real existierenden Religionen anwendet. Ein kurzer Blick in Barths Beziehungsbestimmung zum Judentum und zu den östlichen Religionen zeigt, wie stark seine Interpretation von theologischen Interessen geleitet ist. Im zweiten Teil nenne ich die sich vor allem aus diesem theologischen Religionsbegriff ergebenden Gründe für die in den internationalen religionstheologischen Debatten der Gegenwart verbreitete Weigerung, die Theologie Barths konstruktiv zu rezipieren. Und im dritten Teil schlage ich dann fünf Anknüpfungspunkte vor, an denen von Barth ausgehend, aber auch über ihn hinausgehend Impulse für diese Debatten zu gewinnen sein könnten.

2.

Barths Stellungnahmen zu den außerchristlichen Religionen

2.1

Barths Äußerungen über den Islam

In seinen Gifford-Lectures über das Schottische Bekenntnis von 1560, gehalten an der Universität Aberdeen im Frühjahr 1937 und 1938 bezeichnete Barth den „Gott Mohammeds“ als einen „Götze[n] wie alle anderen Götzen“3 ; es beruhe auf einer optischen Täuschung, wenn man das Christentum mit dem Islam zusammen als eine ,monotheistische‘ Religion bezeichne. Noch schärfer fällt das Urteil in KD §31 (1940) aus. Im Zusammenhang der Entfaltung der ,Vollkommenheiten der göttlichen Freiheit‘ kommt Barth auf die Einheit, Einzigkeit und Einfachheit Gottes, zu sprechen. Er unterscheidet Gottes Einheit vom philosophischen Postulat des absolut Einen und wirft in diesem Zusammenhang einen Seitenblick auf den Monotheismus des Islams: „Was es mit der Verabsolutierung der Einzigkeit auf sich hat, zeigt in exemplarischer Weise das fanatische Geschrei des Islam von dem einen Gott, neben dem dann humorvollerweise ausgerechnet nur die barocke Gestalt seines Propheten auch noch einen Ehrenplatz einnehmen soll.“4 Mit seiner Verabsolutierung der Idee der Einzigkeit stelle der Islam eine „Potenzierung alles sonstigen Heidentums“5 dar. „Es bedeutet darum eine Gedankenlosigkeit, den Islam und das Christentum in der Weise zusammenzustellen, als ob sie wenigstens im ,Monotheismus‘ ein 3 Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre. 20 Vorlesungen (Gifford-Lectures) über das Schottische Bekenntnis von 1560 gehalten an der Universität Aberdeen im Frühjahr 1937 und 1938, Zollikon 1938, 57. 4 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II: Die Lehre von Gott, 1. Teilbd., Zollikon-Zürich 1940, 504. 5 Ebd., 505.

Religion als Götzendienst? Barth und die Religionstheologie

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Gemeinsames hätten. Nichts trennt sie vielmehr so gründlich als die Verschiedenheit, in der sie scheinbar dasselbe sagen: es ist nur ein Gott!“6 Die Trennung besteht nach Barth darin, dass der Islam menschengemachte Einheitsprinzipien der Welt- und Gottesdeutung dem realen Gott vorordnet. Demgegenüber habe christliches Gottesdenken nicht von einem allgemeinen Begriff eines ens vere unum auszugehen, sondern von der in der Trinitätslehre und Christologie konzeptualisierten Selbstkundgabe Gottes. Von dort aus habe die Theologie die Einheit Gottes zu denken. „Wir werden also wohl sagen müssen, daß Gott der absolut Eine, wir werden aber nicht etwa sagen können, daß das absolut Eine Gott ist.“7 Für den Gott des Islams gilt somit, was für alle Götter der Religionen gilt: Als menschliche Phantasiegebilde sind sie „Nichtse, bloße Fratzen Gottes“8. Auch fünfzehn Jahre später – in KD §64 – hat sich an dieser Auffassung nichts geändert: In einem Abschnitt zur Zwei-Naturen-Lehre grenzt Barth den wahren Gott, dessen Gottheit „die Höhe und Tiefe, Souveränität und Demut, Herrschaft und Knechtschaft“9 umfasst, von der einseitig betonten Hoheit der falschen Götter ab und fügt hinzu: „des Gottes Mohammeds zumal“10. Auch hier also erscheint die Gottesverehrung des Islam nicht nur als Glaube an einen falschen Gott, sondern sogar als Steigerungsform eines solchen Glaubens. Die Falschheit dieser Gottesvorstellung besteht in der übermäßigen Betonung der Unveränderlichkeit Gottes, die nach Barth dazu führt, Gott die Möglichkeit abzusprechen, sich erniedrigen zu können. Noch in KD IV/3 (1959) wird der Islam im Kontext der Überlegungen Barths zum Missionsverständnis als eine Form des falschen Glaubens an die falschen Götter bezeichnet, die religionsgeschichtlich betrachtet durchaus als imposantes Gebilde erscheine: „Es handelt sich bei dem falschen Glauben an die falschen Götter, bei den sogenannten Religionen, aus deren Bereich die Völker heraus und in das Licht Jesu Christi, der göttlichen Gnadenwahl, des göttlichen Gnadenbundes zu rufen sind, durchwegs – auch in deren ,primitiven‘ Gestalten, um von den ,höheren‘ und insbesondere vom Islam nicht zu reden – um in ihrer Weise psychologisch, soziologisch, ästhetisch, auch ethisch, überhaupt menschlich nicht nur interessante, sondern imposante Gebilde.“11

6 7 8 9

Ebd., 505. Ebd., 504. Ebd., 504. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 2. Teilbd., Zollikon-Zürich 1955, 92. 10 Ebd. 11 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 3. Teilbd., Zollikon-Zürich 1959, 1003f.

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Doch dürfe man sich davon nicht imponieren lassen. Mission sei gleichzeitig in aufrichtigem Respekt wie in ebenso aufrichtiger Respektlosigkeit gegenüber der sogenannten Religion zu betreiben. Barth versteht also den Islam als Potenzierung der Religion und damit als verschärften Götzendienst. Der grundlegende Vorwurf lautet: es handele sich hier um die Verehrung einer menschengemachten Absolutheitsvorstellung unter Absehung von der konkreten Selbstkundgabe Gottes in der freien Tat seiner Gnadenereignung in der Geschichte. Eine von diesem Befund abweichende Bewertung des Islam findet sich andeutungsweise im Rahmen der Überlegungen Barths zur Konfessionskunde in KD §23, die er im Kontext seiner Reflexion auf die Norm der Dogmatik entfaltet. Diese Norm besteht in Bezug auf die Bibel, die Konfession und die Kirche. Dogmatik soll in der ,Haltung‘ der biblischen Zeugen, in Treue zu den Vätern der Kirche und zu ihren Bekenntnissen sowie in Orientierung an der konkreten Situation der heutigen kirchlichen Verkündigung betrieben werden. Der Konfessionskunde kommt dabei nach Barth die Funktion zu, nicht nur das Wesen der verschiedenen Konfessionen zu untersuchen und darzustellen, sondern auch nach ihrem Verhältnis zueinander zu fragen. Als theologische Disziplin steht sie nicht über der evangelischen Dogmatik in der Weise, dass sie diese neben anderen konfessionellen Dogmatiken anspruchslos referiert, sondern unter ihr und in ihrem Dienst. Sie hat von der evangelischen Dogmatik auszugehen und ist somit positionell und standortgebunden. Sie beansprucht, „das Bekenntnis der Kirche zusammenfassend zur Darstellung zu bringen und dann und von da aus hinüber zu blicken“ auf andere lehrhafte Ausprägungen des evangelischen Christentums (wie dem „Reden und Gehaben des Neuprotestantismus“), auf andere christliche Konfessionen (wie vor allem auf den römischen Katholizismus und die Kirchen des Ostens) und schließlich auch über das Christentum hinaus auf nichtchristliche Religionen, „wobei dem Islam wegen seines besonderen geschichtlichen Verhältnisses zum Alten und Neuen Testament noch einmal eine Sonderbehandlung zuteil werden müsste, während im Übrigen in diesem äußersten Kreis nichts aufzuheben und aufzuarbeiten, sondern das christliche Bekenntnis in seiner evangelischen Bestimmtheit als das Bekenntnis der Wahrheit allen anderen als den Bekenntnissen des Irrtums und der Lüge in der ganzen Schlichtheit der nur noch missionarisch zu verstehenden Botschaft gegenüberzustellen wäre“.12

An dieser Zuordnung ist zum einen bemerkenswert, dass das Judentum aus den Beziehungsbestimmungen der evangelischen Dogmatik herausgenommen ist und zum anderen, dass der Islam nicht zu den „Bekenntnissen des Irrtums und der Lüge“ gerechnet wird. Barth gibt nicht an, worin die von ihm geforderte 12 Barth, KD I/2, 925f.

Religion als Götzendienst? Barth und die Religionstheologie

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Sonderbehandlung des Islam bestehen soll. Auch in keiner anderen Stelle in seinen Schriften lässt sich ein Hinweis darauf entdecken.

2.2

Barths Sicht des Judentums

Barths Stellungnahme zum nachbiblischen Judentum im Rahmen seiner Israeltheologie ist bekanntlich von einer ausgeprägten Dialektik durchzogen, die man als Dreischritt zusammenfassen kann. Erstens: Die Juden sind in Christus erwählt. Zweitens: Sie haben diese Erwählung aber nicht angenommen und sich damit selbst verworfen. Drittens: In seiner Treue hält Gott jedoch an seiner Erwählung fest – als Erwählung von Christus her und auf ihn hin. Diesen Dreischritt kann man auch als drei Perspektiven auffassen. Im Blick auf das Volk Israel kann Barth dessen Bundesbruch und die Verwerfung betonen, die das Volk sich damit selbst zugezogen hat. Es ist der Inbegriff des sündigen Menschen. Im Blick auf Gott aber gilt, dass er an der Treue zu seinem Volk festgehalten und seinen Bund nicht gekündigt hat. Im Blick auf Christus schließlich spricht Barth von der erfüllenden Bestätigung des Bundes mit Israel. Um Christi willen behält die Verwerfung nicht das letzte Wort, in ihm ist sie aufgehoben. „Es bleibt ja das Wort und es bleibt der Bund Jahves, oft gebrochen und geschändet, beständig, und so bleibt Israel das Volk und es bleibt seine Religion die Religion der Offenbarung.“13 In diesem Zusammenhang ordnet Barth das nachbiblische Judentum zum einen in den Kreis der Religionen ein: Im Jahre 1938 schreibt er, mit der Verwerfung Jesu Christi habe Israel den Bund in seiner Substanz preisgegeben. Und so sei das Judentum jetzt nur noch „eine menschliche Religion, einst die von Gott geforderte und geordnete menschliche Antwort auf seine Offenbarung, in ihrem Vollzug als Unglaube verklagt und verurteilt und doch immer wieder in Gnaden angenommen, jetzt aber – auch dieses Exempel musste statuiert werden – eine verworfene, eine entleerte, weil ihres Grundes und Gegenstandes beraubte Religion, jetzt die jüdische Religion, von der Gott sein Angesicht abgewendet hat, eine unter vielen anderen und nicht mehr als sie! Nur gerade Eines hat sie vor ihnen voraus, und das ist etwas Furchtbares: daß sie einst mehr als sie gewesen, aber eben endgültig gewesen ist.“14

13 AaO., 360. Zur Israeltheologie Barths siehe Eberhard Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes. Karl Barth und die Juden 1933–1945, Neukirchen-Vluyn 1996; Mark R. Lindsay, Barth, Israel, and Jesus. Karl Barth’s Theology of Israel, Aldershot 2007. 14 Barth, KD I/2, 360f.

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Israel ist die Gestalt und Darstellung des Gerichts, die Kirche die Gestalt und Darstellung des göttlichen Erbarmens. Israel hört, die Kirche glaubt an die ergangene Verheißung.15 Das Hören muss und wird aber zum Glauben kommen. Andererseits aber protestiert Barth gegen die in Nostra Aetate, der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der (römisch-katholischen) Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, vorgenommene Einbeziehung des Judentums in diese Verhältnisbestimmung. Dass dabei die besondere Beziehung des christlichen Glaubens zum Judentum durchaus mit Nachdruck gewürdigt wurde und dass der vierte Abschnitt, der sich mit dem Judentum auseinandersetzt, so umfangreich ist wie die anderen Abschnitte des Dokuments zusammen, stellt er in seinem Urteil über die Erklärung nicht in Rechnung. Er bringt dieses Urteil als kritische Rückfrage zum Ausdruck: „Wie kommt die Deklaration dazu, im Blick auf Israels Geschichte und Gegenwart – in einem Atemzug mit Hinduismus, Buddhismus, Moslemismus – von einer ,nichtchristlichen Religion‘ zu reden, wo es sich doch a) im Alten Testament keineswegs um eine ,Religion‘, sondern um die Urgestalt der einen Gottesoffenbarung b) in der Existenz des späteren und heutigen (gläubigen oder ungläubigen) Judentums um den einen einzigen natürlichen (weltgeschichtlichen) Gottesbeweis handelt?“16

Bei seinem Besuch in Rom im Jahre 1966 hatte Barth vor den Mitgliedern des Vatikanischen Sekretariats zur Förderung der Einheit der Christen gemahnt: „[W]ir sollen nicht vergessen, dass es schließlich nur eine tatsächliche große ökumenische Frage gibt: unsere Beziehung zum Judentum.“17 Ähnlich hatte vorher auf römisch-katholischer Seite Erich Przywara die Trennung zwischen Judentum und Christentum als „Ur-Riss“18 bezeichnet, der die Ganzheit der Catholica zerrissen habe. Der Überzeugung, dass es sich bei dieser Trennung um das erste Schisma in der Geschichte des Gottesvolkes handele, aus dem dann die weiteren Schismen hervorgegangen seien, haben sich viele evangelische Theologen dieser Zeit angeschlossen. Barth trat mit klaren Worten dem Antisemitismus entgegen: „Was wären, was sind wir denn ohne Israel? Wer den Juden verwirft und verfolgt, der verwirft und verfolgt doch den, der für die Sünden der Juden und dann und damit erst auch für unsere Sünden gestorben ist. Wer ein prinzipieller Judenfeind ist, der gibt sich als solcher, und wenn er im übrigen ein Engel des Lichts wäre, als prinzipieller Feind 15 Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II: Die Lehre von Gott, 2. Teilbd., ZollikonZürich 1942, 215 (Leitsatz zu §34). 16 Karl Barth, Ad Limina Apostolorum, Zürich 1967, 39f. 17 Zit. nach Hans Hermann Henrix, Schweigen im Angesicht Israels? Zum Ort des Jüdischen in der ökumenischen Theologie, in: Gerhard Langer/Gregor Maria Hoff (Hg.), Der Ort des Jüdischen in der katholischen Theologie, Göttingen 2009, 264–298, 273. 18 Erich Przywara, Römische Katholizität – All-christliche Ökumenizität, in: Johann B. Metz u. a. (Hg.), Gott in Welt, FS K. Rahner, Freiburg i. Br. 1964, 524–528, 526.

Religion als Götzendienst? Barth und die Religionstheologie

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Jesu Christi zu erkennen. Antisemitismus ist Sünde gegen den Heiligen Geist. Denn Antisemitismus heißt Verwerfung der Gnade Gottes.“19

Andererseits konnte er aber auch seine persönliche Abneigung gegenüber Juden nicht verheimlichen. So bekannte er in einem Brief an Friedrich Wilhelm Marquardt: „Ich bin insofern entschieden kein ,Philosemit‘, als ich in der persönlichen Begegnung mit dem lebendigen Juden (auch Judenchristen!), solange ich denken kann, immer so etwas wie eine völlig irrationale Aversion herunterzuschlucken hatte.“20 Barth betrachtet Israel primär in theologischer, erst sekundär in religionsgeschichtlicher Hinsicht. An einer tieferen Auseinandersetzung mit dem nachbiblischen Judentum und dem Judentum seiner Zeit zeigt er wenig Interesse. Er hat zwar wichtige Impulse für den jüdisch-christlichen Dialog gegeben, sich aber selbst nicht daran beteiligt.

2.3

Barths Blick auf die östlichen Religionen

In KD §17 nimmt Barth nebenbei auf zwei Erscheinungsformen des Buddhismus Bezug: auf die Jo¯do-Shinshu¯ (die ,Wahre Schule des Reinen Landes‘) und den Amida-Buddhismus. Er konstatiert frappierende Ähnlichkeiten dieser Religionsformen mit der christlichen Gnadenreligion. Doch der alles entscheidende Unterschied bleibt für ihn bestehen: Diese Religionen tragen nicht den Namen Jesu Christi. Es sind eben Gnadenreligionen, die von der Wirklichkeit der in Christus ereigneten Gnade Gottes getrennt sind.21 Der Name ,Jesus Christus‘ bildet den Lackmustest für die Wahrheit der Religion. So dient auch diese Bezugnahme auf die buddhistischen Religionsformen allein der Einschärfung der Differenz. Ein Dialoginteresse ist nicht erkennbar. Barths Denken verbleibt ganz im hermeneutischen Zirkel der christlichen Theologie.

19 Karl Barth, Die Kirche und die politische Frage von heute, in: Ders., Eine Schweizer Stimme (1938–1945), Zollikon-Zürich 1945, 90 (Kurs. KB). 20 Karl Barth, Brief an Friedrich-Wilhelm Marquardt vom 5. 9. 1967, in: Karl Barth, Briefe 1961–1968, GA V.6, hg. v. J. Fangmeier/H. Stoevesandt, Zürich 1975, 419–423, 420f. 21 Siehe dazu Stefan S. Jäger, Glaube und religiöse Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus. Eine religionshermeneutische Studie, Tillich Research 2, Berlin 2011, 459–463; Shojun Bando, Jesus Christus und Amida. Zu Karl Barths Verständnis des Buddhismus vom Reinen Land, in: Yagi Seiichi (Hg.), Gott in Japan. Anstöße zum Gespräch mit japanischen Philosophen, Theologen, Schriftstellern, München 1973.

96

3.

Reinhold Bernhardt

Barth und die gegenwärtigen religionstheologischen Debatten

Fragt man, worin die Schwierigkeiten liegen, Barths Position in die gegenwärtigen religionstheologischen Debatten einzuspeisen, so ist mit dem Hinweis auf die theologische Abstinenz gegenüber den real existierenden Religionen bereits eine erste Antwort gegeben. Barths Religionsbegriff ist ganz und gar anthropologisch und nicht religionsgeschichtlich und religionsphänomenologisch geprägt. Es geht ihm nicht um die Religionen als Geschichtswirklichkeiten, es geht ihm nicht um die Beziehung des christlichen Glaubens zum Islam, zum Hinduismus und Buddhismus, sondern um menschliche Religiosität als „stille[n] religiöse[n] Besitz“22, als im Menschen liegendes potentielles Sensorium für die Wirklichkeit Gottes. „Aber wenn ich von Religion rede, dann denke ich vor allem an Schleiermacher […] Vom Hinduismus und Buddhismus weiß ich doch gar nichts oder nur wenig“23, gibt er noch im Jahre 1964 zu Protokoll. An der Eigenbedeutung der Religionen und ihrem Selbstverständnis hatte Barth kein Interesse. Wolf Krötke konstatiert zu Recht: Die Religionen treten bei Barth „als Ausdruck jener menschlichen Fähigkeit in den Blick, für Gott oder das Göttliche empfänglich zu sein und in der Verehrung Gottes oder des Göttlichen zu leben. Sie werden nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen Erfahrung einer Offenbarung Gottes gewürdigt“24. In den gegenwärtigen religionstheologischen Debatten wird demgegenüber nicht mit einem theologischen, sondern mit einem religionsphänomenologischen, religionswissenschaftlichen oder schlicht alltagssprachlichen Religionsbegriff operiert, nicht mit ,Religion‘ im Singular, sondern mit ,Religionen‘ im Plural. Auch wenn es eine ungerechtfertigte Einseitigkeit ist, die Religionstheologie Barths dem Modell des religionstheologischen Exklusivismus zuzuordnen, weil damit die Dialektik dieses Ansatzes unterschlagen wird, so scheint er doch für eine respektvoll-würdigende Beziehungsbestimmung zu außerchristlichen Religionen kaum hilfreich zu sein. Vor allem die Aussagen über den Islam lassen kaum eine dialogische Verhältnisbestimmung zu dieser Religion zu. Selbst in der sogenannten Lichterlehre25, die gelegentlich als religionstheologisch bedeutsame Öffnung Barths angesehen wird, weil Barth hier zugesteht, dass die Universalität der Prophetie Christi auch extra muros ecclesiae wahre Worte hervorzubringen 22 Barth, KD I/2, 354. 23 Hans A. Fischer-Barnicol, Interview mit Karl Barth, in: Karl Barth, Gespräche 1964–1968, GA IV.28, hg. v. E. Busch, Zürich 1997, 131–166, 145. 24 Wolf Krötke, Impulse für eine Theologie der Religionen im Denken Barths, in: ZThK 104, 2007, 320–335, 320f. 25 Hendrikus Berkhof/Hans-Joachim Kraus, Karl Barths Lichterlehre, ThSt 123, Zürich 1978.

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vermag,26 werden die Religionen nicht zu den geschöpflichen Lichtern gerechnet. An der Christozentrik wird kein Abstrich gemacht. Jesus Christus ist exklusiv „das eine, das einzige Licht des Lebens“27; „es gibt kein Licht des Lebens außer und neben dem seinigen, außer und neben dem Licht, das Er ist“28. Die von dieser Sonne beschienene Erde reflektiert das eine Licht, ohne selber ein eigenes hervorzubringen. Barth betont nun aber stärker als früher die Universalität dieser Lichtreflexionen in der ganzen Schöpfung. Außer und neben dem einen Wort Gottes (in seinen drei Gestalten) herrscht nicht mehr bloß reine Unwahrheit,29 auch hier finden sich vielmehr „Worte, Wahrheiten, ja ,Offenbarungen‘“30, die „Lichtungen und Erleuchtungen“31 bewirken. Barth entdeckt sie in zwei Bereichen: als verbale in der profanen Menschenwelt und als kreatürliche im Kosmos der Schöpfung. An der grundlegenden Ausrichtung seiner Religionstheologie ändert diese Betonung der universalen Leuchtkraft des Christuslichts allerdings nichts. Sie bleibt von der qualitativen Unterscheidung zwischen Menschen- und Gotteswort bestimmt. Als Menschenworte können die Religionen durchaus gewürdigt werden. Dem Gotteswort gegenüber sind sie Unwahrheit, sofern sie nicht – wie das Christentum – von Gott in Anspruch genommen werden, um dieses Wort zu proklamieren. „Man lasse die ganze Geschichte der Religionen, der Dichtungen und Mythen, der Philosophien und Weltanschauungen zu sich reden! Sicher, daß man da auf nicht wenige Aussagen stoßen wird, die man als Elemente des in Jesus Christus gesprochenen Wortes ansprechen möchte. Aber eben: welches Meer von Rudimenten und Fragmenten, die dann in ihrer Vereinzelung und Verabsolutierung doch etwas ganz Anderes sagen als dieses Wort! Welcher Hader und Widerstreit zwischen allen diesen Ergebnissen einseitig vollzogener Analysen und kurzschlüssig vollzogener Synthesen! Ist es nun nicht doch eine allzu flüchtige und oberflächliche Betrachtung, die das Wort Jesu Christi und seinen Geltungsanspruch mit all den anderen Worten und ihren Ansprüchen auf Geltung in eine Linie stellen zu können meint, um angesichts von deren Fülle irgendein anderes unter ihnen für maßgeblich zu halten, oder auch halb betrübt und halb erfreut festzustellen, maßgeblich möchte keines von allen, es möchte der echte Ring vermutlich verloren gegangen sein? Ginge es um das Wort des Christentums unter den Weltreligionen oder um das Wort der christlichen Kirche in dieser oder jener Gestalt oder auch um die Worte der Bibel an sich und als solche, dann möchte solche Betrachtung allenfalls möglich sein. Sie als solche stehen ja in der Tat in der Reihe mit

26 27 28 29 30 31

Vgl. Barth, KD IV/3, 153. Ebd., 95 [Kurs. KB]; vgl. ebd., 108f. Ebd. Vgl. aaO., 108. AaO., 154. AaO., 159.

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vielen anderen Worten. Wir reden aber von dem Licht, dem Wort des Lebens Jesu Christi.“32

Bei diesem Wort handelt es sich um das „eine, einzige Wort Gottes, […] das keiner Ergänzung bedürftige, keiner Konkurrenz ausgesetzte, keiner Kombination mit anderen zugängliche, keiner Überbietung durch andere fähige Wort“33. In seinem Vortrag Das Christentum und die Religion von 1963 – gehalten vor 300 zum großen Teil nichtchristlichen Studierenden – knüpfte Barth bruchlos an KD §17 an: „Das Christentum ist keine Religion […] Einsam inmitten aller Religionen (stehend, geht) es hier im Unterschied, ja Gegensatz zu allen Religionen nicht um einen Aufbruch des Menschen zu Gott, sondern um einen Aufbruch Gottes zum Menschen hin.“34 Bemerkenswert an dieser Aussage ist, dass sie sich nicht auf den christlichen Glauben, sondern auf das Christentum als Religion bezieht. Dieses wird den Religionen mit exklusivem theologischen Wahrheitsanspruch entgegengestellt. Barths theologischem Religionsbegriff zufolge ist Religion Götzendienst. Im Kampf dagegen können ihm sogar Bilderstürmerei und Tempelzerstörung gerechtfertigt erscheinen: „Es hatte und hat freilich seine Notwendigkeit und seinen guten Sinn, wenn in Zeiten eines wachen christlichen Empfindens zum Schmerz aller Ästheten heidnische Tempel dem Erdboden gleichgemacht, Götter und Heiligenbilder zerstört, Glasmalereien entzweigeschlagen, Orgeln ausgeräumt wurden.“35 Man kann die offensichtliche Inkompatibilität zwischen Barths Religionstheologie und den gegenwärtigen religionstheologischen Debatten auf die beiden Auslegungsmöglichkeiten der Formel ,Theologie der Religionen‘ zurückführen: ,Theologie der Religionen‘ (im Plural) wird von Barth – soweit sie überhaupt in den Blick kommt – im Sinne des genitivus objectivus aufgefasst und betrieben, während sie heute weitgehend im Sinne des genitivus subjectivus verstanden wird. Das Verständnis im Sinne eines genitivus objectivus macht die Religionen zum Objekt der Theologie, das heißt zum stummen Gegenstand theologischer Selbstexplikation. Die Bedeutung des christlichen Glaubens wird in Differenz zu ihnen entfaltet. Das Verständnis im Sinne eines genitivus subjectivus bezieht demgegenüber das Selbstverständnis der jeweils anderen Religion in die theologische Reflexion mit ein, legt diese Reflexion selbst also religionsdialogisch an. Es übt sich in der Kunst der Übernahme anderer religiöser Perspektiven, ohne dabei der Sachmitte des christlichen Glaubens untreu zu 32 33 34 35

Ebd., 120. Ebd., 121. Karl Barth, Das Christentum und die Religion, in: JK 24,1963, 436–438, 437. Barth, KD I/2, 328.

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werden. So verstanden versucht ,Theologie der Religionen‘ dem hermeneutischen Grundsatz zu folgen, dass die in ihr zur Sprache kommenden anderen Religionen in ihrer Eigen- und Andersheit gewürdigt werden sollen. Bildhaft gesprochen: Es wird ihnen Gastrecht in der eigenen Theologie gewährt.

4.

Anschlussmöglichkeiten der Theologie Barths für die gegenwärtigen religionstheologischen Debatten

Im nächsten Teil meiner Überlegungen möchte ich fünf Punkte benennen, an denen sich konstruktive Anschlussmöglichkeiten aus der Theologie Barths für die gegenwärtigen religionstheologischen Debatten ergeben könnten. In allen diesen Punkten werde ich allerdings über Barth hinausgehen und die bei ihm ausfindig gemachten Ansätze extrapolieren.36 Die ersten beiden Punkte enthalten eher fundamentaltheologische Überlegungen, die drei weiteren materialdogmatische. Diese drei Punkte folgen einem trinitätstheologischen Schema, also dem Strukturschema der Theologie Barths, wie er sie in der Kirchlichen Dogmatik entfaltet hat.

4.1

Theologische Religionskritik als Dimension der Religionstheologie

Barth betreibt Religionskritik nicht als Kritik des christlichen Glaubens an nichtchristlichen Religionen, sondern als Kritik an aller Religion, einschließlich und sogar vorzugsweise der christlichen. Auf die von der Zeitschrift Christianity Today gestellte Rundfrage, welches die einflußreichsten falschen Götter unserer Zeit seien und wie die Befragten deren Bedeutung einschätzten, antwortete Barth 1961: „Der Ort, wo die falschen Götter stehen und verehrt werden, ist heute wie zu allen Zeiten zuerst die Kirche selbst. […] Die Kirche hat zu beweisen, dass sie selbst an den Gott glaubt der die Menschen von allen falschen Göttern befreit hat“37. Schon im Leitsatz zu KD §17 wird die Kirche nicht mit der wahren Religion identifiziert, sondern als „Stätte der wahren Religion“38 bezeichnet. Diese

36 Vgl. Wolf Krötke, Impulse für eine Theologie der Religionen im Denken Karl Barths, in: ZThK 104, 2007, 320–335. 37 Karl Barth, Brief an das Magazin Christianity Today (Washington) vom 12. 12. 1961, in: Karl Barth, Offene Briefe 1945–1968, GA V.15, hg. v. D. Koch, Zürich 1984, 501. Siehe dazu auch Hendrik M. Vroom, Karl Barth and the nature of false and true religion, in: Studies in Interreligious Dialogue 22, 2012, 74–86. 38 Barth, KD I/2, 304.

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Ortsanweisung kommt ihr nur insofern zu „als sie durch Gnade von Gnade lebt“39. Die Unterscheidung zwischen Gotteswahrheit und Religionswahrheit ist ein entscheidender Fundamentalismusblocker. Sie verhindert die Identifikation der eigenen religiösen Wahrheitsgewissheit mit der immer vorausliegenden Wahrheit Gottes, die diesem Anspruch nicht nur Grund gibt, sondern immer auch deren kritische Prüfinstanz darstellt. Eine solche aus der Mitte der Theologie heraus vorgenommene Unterscheidung zwischen dem ihr uneinholbar vorausliegenden (und sich in ihr selbstmächtig manifestiert habenden) Grund und der historisch und kulturell bedingten und somit kontingenten Gestalt der Religion, ist als religionskritisches Prinzip im Christentum wie in allen Offenbarungsreligionen am Werk, auch wenn es von diesen immer wieder zurückgedrängt wird, weil es ihren Wahrheitsanspruch theologisch relativiert. Zu Recht schreibt Michael Weinrich: „Eine Theologie der Religionen ist essenziell auf dieses von der theologischen Religionskritik geforderte Selbstunterscheidungsvermögen zwischen dem unverfügbaren Grund und der historisch zu verantwortenden und als solcher prinzipiell unvollkommenen und somit stets verbesserungsbedürftigen Gestalt angewiesen.“40 Barths Unterscheidung von Offenbarung und Religion, hinter der die Unterscheidung von Gott und Mensch steht, wobei Religion ganz auf die Seite des Menschen verrechnet wird, kann dazu verhelfen, dieses Prinzip – die Unterscheidung von göttlichem Grund und religiöser Gestalt des Glaubens – aus christlicher Sicht zu formulieren und andere Religionstraditionen damit zu stimulieren, es ebenfalls aus ihrer Mitte heraus zu benennen und zu profilieren.41

4.2

Die konsequente Standortgebundenheit:

Nach einer prägnanten Formulierung von Sven Ensminger argumentiert Barth „from the perspective of the Christian faith, from within the Christian church, for the Christian Church, about the Christian faith“42. Hält man sich diese konsequente Standortgebundenheit als ständig mitgeführtes hermeneutisches Vor39 Ebd. 40 Michael Weinrich, Theologische Religionskritik als Brücke zu einer Theologie der Religionen, in: Marco Hofheinz (Hg.), Theologische Religionskritik. Provokationen für Kirche und Gesellschaft, Forschungen zur Reformierten Theologie, Neukirchen-Vluyn, 2014, 16–33, 28; Siehe auch ders., Von der Humanität der Religion. Karl Barths Religionsverständnis und der interreligiöse Dialog, in: ZDT 19, 2003, 25–44. 41 Siehe dazu auch Christoph Dahling-Sander/Georg Plasger, Hören und Bezeugen. Karl Barths Religionskritik als Hilfestellung im Gespräch mit den Religionen, Waltrop 1997. 42 Sven Ensminger, Karl Barth’s Theology as a Resource for a Christian Theology of Religions, T& T Clark Studies in Systematic Theology 28, London 2014, 2f.

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zeichen vor der großen Klammer der Theologie Karl Barths bewusst, versteht man diese als bekenntnishaften Ausdruck des christlichen Glaubens – einschließlich der damit verbundenen Exklusivaussagen und des Anspruchs, dass das in ihm zur Sprache kommende Geschehen der Versöhnung der Welt mit Gott universal gültig und wahr ist –, dann wird es möglich, daneben andere Glaubensperspektiven zuzulassen und in ihrem eigenen Wahrheitsanspruch ernst zu nehmen. Es braucht dann aber eine Theorie des religiösen Pluralismus, die es erlaubt, diese Vielfalt in den Blick zu nehmen und theologisch zu würdigen. Ein Teil der gegenwärtigen religionstheologischen Debatten kreist um die Konstruktion solcher Theorien. Im 2015 veröffentlichten Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland wird die theologische Anerkennung des religiösen Pluralismus mit dem Wesen des christlichen Glaubens als einer je eigenen individuellen Gewissheit begründet. Als solcher könne er nicht verantwortlich vertreten werden, „ohne das Recht divergierender religiöser Überzeugungen […] zu stärken“43. Eine solche Pluralismustheorie ist im Verständnis der Theologie als Glaubenslehre verankert – und damit in gewisser Weise dem Erbe Schleiermachers verpflichtet. Sie geht nach meiner Interpretation davon aus, dass Glaubensgewissheiten dann pluralismusfähig sind, wenn sie sich erstens in Gottes freimachendem Handeln gegründet wissen und sich damit ihres Verdanktheitcharakters bewusst sind, wenn sie zweitens ihre Standortgebundenheit und ihre unhintergehbare Perspektivität in Rechnung stellen und sich damit ihrer Relativität bewusst sind und wenn sie drittens auf die Bedingungen ihres Gewordenseins, auf ihre Gebundenheit an Prägungen und Erfahrungen rekurrieren und sich damit ihrer Historizität bewusst sind. Nicht ein Überstieg über die eigene partikulare Glaubensgewissheit, sondern deren reflexive Vertiefung führt in die offene Begegnung mit anderen partikularen Glaubensgewissheiten.

4.3

Die Betonung der Souveränität beziehungsweise Freiheit beziehungsweise Alterität Gottes

Mit großem Nachdruck hat Barth stets die Unverfügbarkeit der Selbstvergegenwärtigung Gottes betont. Diese kann sich nach der bekannten Aussage aus KD §3 auch „durch den russischen Kommunismus, durch ein Flötenkonzert,

43 Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015, 21.

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durch einen blühenden Strauch oder durch einen toten Hund“44 ereignen. Und dann heißt es: „Gott kann durch einen Heiden oder Atheisten zu uns reden und uns damit zu verstehen geben, daß die Grenze zwischen Kirche und Profanität immer noch und immer wieder ganz anders läuft, als wir bisher zu sehen meinten.“45 Eine ähnliche Aussage über die Ungläubigen, die von Gott ebenso erwählt sein können, wie die Christen, findet sich schon in Barths Römerbrief: „Sie jagen der Gerechtigkeit darum nicht nach, weil sie sie schon ergriffen haben. Sie lassen sich darum nicht belehren, weil sie schon belehrt sind. Sie haben darum kein religiöses Interesse, weil sich Gott längst für sie interessiert hat. Sie stehen unserm ,Wort Gottes‘ so teilnahmslos gegenüber, weil sie es längst ohne uns gehört haben, weil sie es längst selber verkündigen. Die Weltkinder, die Unheiligen, die Ungläubigen in ihrem ganzen nackten Jammer, vielleicht auch in ihrer ganzen freien Heiterkeit keine Objekte unserer Predigt und Seelsorge, unserer Evangelisation, Mission, Apologetik und Rettungstätigkeit, keine Objekte unserer ,Liebe‘, weil gesucht und gefunden von Gottes Erbarmen, längst bevor wir aufstanden, uns ihrer zu erbarmen, schon im Lichte der Gerechtigkeit Gottes stehend, schon der Vergebung teilhaftig, schon teilnehmend an der Kraft der Auferstehung und an der Kraft des Gehorsams, schon erschrocken vor der Ewigkeit und schon hoffend auf sie, schon existenziell auf Gott geworfen.“46

Diese Aussagen beziehen sich zwar nicht auf Religionen, auch nicht auf deren Anhänger, sondern auf areligiöse Personen. Barths ganze Theologie stellt eher eine Auseinandersetzung mit Säkularität und Profanität (einschließlich der pseudoreligiösen politischen Ideologien) als mit der Welt der Religionen dar. In der zitierten Aussage aus dem Römerbrief knüpft Barth an die bei Zwingli und vor Zwingli in der mittelalterlichen Theologie gebrauchte Rede von den ,heiligen Heiden‘ an. Diese Aussagen lassen sich jedoch – und darin besteht die Extrapolation der Aussageabsicht Barths – auch auf die Anhänger anderer Religionen beziehen. Mit seiner in KD IV/2 und 3 ansatzweise entwickelten Lehre vom „ontologische(n) Zusammenhang zwischen dem Menschen Jesus einerseits und allen anderen Menschen andererseits – und wiederum zwischen den aktiven Christen hier und den virtuellen und prospektiven dort“47 begibt sich Barth in überra-

44 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 1. Teilbd., Zürich 1932, 55. 45 Ebd., 56. 46 Barth, Der Römerbrief (1922), 348. 47 Barth, KD IV/2, 305. Vgl. Barth, KD IV/3, 927:Die Gemeinde hat es „in jedem Menschen […] gewiß noch nicht aktuell, wohl aber schon virtuell, potentiell mit einem Christen, mit einem christianus designatus, einem christianus in spe zu tun“[Kurs. KB]. Siehe dazu auch aaO., ,409–411. Vgl. dazu Eberhard Jüngel, Extra Christum nulla salus – als Grundsatz natürlicher Theologie? Evangelische Erwägungen zur „Anonymität“ des Christenmenschen, in: Ders.,

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schende Nähe zur ungefähr zeitgleich entwickelten Lehre Karl Rahners vom ,anonymen Christsein‘, auch wenn deren theologische Herleitung von der Anthropologie in Spannung zu Barths offenbarungstheologischem Ansatz steht.48 Rahner ging allerdings einen entscheidenden Schritt weiter, als Barth es zu tun bereit war. Er postulierte, dass sich verborgene Gottesbeziehungen auch in religiösen Sozialgestalten manifestierten und stieß damit über die theologische Würdigung der individuellen Nichtchristen hinaus zu einer Anerkennung der nicht-christlichen Religionen vor. Diese spielen nach Rahner eine Rolle in Gottes souveränem Geschichtshandeln; und zwar nicht nur die Rolle der negativen praeparatio auf das Evangelium – wie Barth es im Römerbrief andeutet, wenn er Religion vom Begriff des Gesetzes in der Polarität zum Evangelium interpretiert –, sondern auch die Rolle von relativ eigenständigen Vergegenwärtigungen des in Christus Ereignis gewordenen Wortes Gottes.

4.4

Christozentrischer Universalismus

Besonders in KD IV hat Barth mit Nachdruck die universale Heilsbedeutung Jesu Christi betont, die weit über die Christengemeinde hinaus „nach den anderen Menschen und der ganzen Welt“49 ausgreift. Von dieser kosmischen Christologie beziehungsweise diesem christozentrischem Universalismus aus ist es durchaus möglich und sogar nahe liegend, wahre Worte Gottes nicht nur in der Profanität zu erwarten (wie er es in der ,Lichterlehre‘ formuliert hat), sondern auch in den Quellen und Traditionen anderer Religionen. Barth hat diese Konsequenz aus der von ihm so stark betonten Gnadenuniversalität Gottes nicht mehr gezogen. Im Gegenteil: in der (oben bereits erwähnten) in dieser Hinsicht oft überschätzten Lichterlehre in KD §69.2 spricht er lediglich von der Schöpfung „eigene[n] Offenbarungen“50, welche nicht den Schöpfer, sondern die Geschöpflichkeit der Schöpfung offenbaren.51Sie offenbaren weltliche, nicht ewige Wahrheiten. Lesbar werden sie erst im Lichtschein Christi und als in dieser Weise Gelesene

48 49 50 51

Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen II, Tübingen 32002, 178–192. Siehe dazu Ekkehard Wohlleben, Die Kirchen und die Religionen. Perspektiven einer ökumenischen Religionstheologie, Kirche – Konfession – Religion 48, Göttingen 2004, 188–190. Barth, KD IV/2, 304. Barth, KD IV/3, 158. Hier bleibt Barth hinter Calvin zurück, der davon ausgeht, dass die geschöpflichen Lichter sehr wohl Gott als die Quelle des Lichts zu erkennen geben, dass der Mensch aber von sich aus nicht zu dieser Erkenntnis fähig sei, sondern der Erleuchtung durch Gottes innere Offenbarung bedarf. Siehe Jean Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, hg, v. O. Weber/M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 22009, I/5,14.

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können sie dann auch in die Selbstoffenbarung Gottes in Christus integriert werden. Aber auch im Blick auf diesen Gedanken wird man mit Barth über Barth hinausgehen dürfen, indem man den bei ihm angelegten Universalismus der Christusoffenbarung auch auf die Religionen bezieht. Verbindet man die von ihm am Ende seines Lebens dreimal wiederholte Aussage, dass er sich intensiver mit den Religionen beschäftigen möchte, mit der Aussage, dass er in einer Neukonzeption seiner Theologie der Pneumatologie sehr viel mehr Raum geben würde, so kann man vermuten, dass er vielleicht sogar selbst in die angezeigte Richtung weitergedacht hätte. Sicher hätte er nach wie vor auf den einen geschichtlich-konkreten Ereignungsort der Gnade Gottes verwiesen, andererseits aber vielleicht noch stärker hervorgehoben, dass diese Gnade die gesamte Geschichte und damit auch die gesamte Religionsgeschichte um- und übergreift. Christian Link ist diesen Schritt mit Barth über ihn hinaus gegangen. Er zieht aus der Lichterlehre die Konsequenz, „dass auch die außerchristlichen Religionen zum Darstellungsraum der Offenbarung werden“52 können. Damit würden diese Religionen – mit Melchior Cano gesprochen – zu loci alieni (fremden Erkenntnisorten) der Offenbarung Gottes. Im Hören auf deren eigenes Offenbarungszeugnis können Christinnen und Christen den Inhalt der Christusbotschaft – die Proklamation des Bundes Gottes mit den Menschen – auch dort (und sei es nur ansatzweise) vernehmen. Es handelt sich bei einer solchen Erschließung nicht um einen theologischen Imperialismus, der das Selbstverständnis nichtchristlicher Religionstraditionen missachtet, sondern um eine bewusst perspektivische Betrachtung im Lichte des christlichen Glaubens, neben der es andere Betrachtungsweisen gibt. Auch die Erscheinungsformen und Inhalte des christlichen Glaubens stehen fremden Interpretationsperspektiven offen und können durch solche Fremdwahrnehmungen zu vertieften Selbstwahrnehmungen angeregt werden.

4.5

Die vernachlässigte Pneumatologie

Zu Recht bezeichnet Christofer Frey die Pneumatologie als „Stiefkind der Dogmatik“53 Barths. Nach der Theologie der qualitativen Unterschiedenheit von Gott und Mensch beziehungsweise Welt in seiner Frühzeit und der Betonung der Vermittlung von Gott und Welt beziehungsweise Welt in einem Punkt der Geschichte – in Christus – in der Kirchlichen Dogmatik, hätte die stärkere Akzen52 Christian Link, Das menschliche Gesicht der Offenbarung. Bemerkungen zum Religionsverständnis Karl Barths, in: KuD 26, 1980, 277–302, 295. 53 Christofer Frey, Die Theologie Karl Barths. Eine Einführung, Waltrop 1994, 263.

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tuierung der Pneumatologie die Allgegenwart Gottes in der Kraft seines Geistes in der gesamten Schöpfung und damit auch in den Religionen entfalten können. Sicher hätte Barth dabei auch weiterhin klar die Unterscheidung von Gott und Welt, beziehungsweise Gottes-Geist und Menschen-Geist betont, sicher hätte er den Geist strikt an Christus gebunden und ihn deutlich von einer dem Menschen eingegossenen Gnadenqualität unterschieden, aber als unverfügbare Leihgabe aufgefasst hätte kein Wirklichkeitsbereich prinzipiell von seiner alldurchdringenden Kraft ausgenommen sein können. Im Gespräch mit Jürgen Fangmeier hat sich Barth mehrfach zur Notwendigkeit eines Dialogs mit den Religionen bekannt: „Als ich im September 1968 das letzte Mal bei Karl Barth sein konnte, sprach er davon, womit er sich beschäftigen würde, wenn er noch Jahre theologischen Schaffens vor sich hätte. Und er nannte nach dem römischen Katholizismus die Ostkirchen und dann die nicht-christlichen Religionen; aber, fügte er hinzu, ganz anders, als man in der Regel darangehe: nicht so [sei der Dialog mit den Religionen zu führen], dass das Allgemeine die Basis sei, auf der sich dann vielleicht Jesus Christus als der Gipfel höchster erheben soll, sondern so, dass Jesus Christus der Grund sei, von dem her mit den Religionen vielleicht ein auch ganz neues Gespräch zu eröffnen wäre.“54

Markus Barth hatte im Jahre 1992 berichtet, sein Vater habe sich stärker der Religionsgeschichte zuwenden wollen. So wie das Verhältnis zwischen Positiven und Liberalen innerhalb der reformierten Kirche, zwischen Reformierten und Lutheranern, zwischen reformatorischen Kirchen und dem Katholizismus, zwischen den West- und Ostkirchen nicht als Gegensatz von Licht und Finsternis, sondern zu einer Abwägung von Licht und Dunkelheit auf jeder der beiden Seiten zu bestimmen sei, so müsse auch das Verhältnis zwischen dem Christentum und den Religionen im Sinne einer relativen Entscheidung bestimmt werden.55 Theologische Grundlage dafür hätte die Pneumatologie sein können: die bereits erfolgte Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch. Und so bezeichnet Eberhard Busch Barths nicht mehr in Angriff genommenes Projekt – nach Klapperts Wiedergabe – als ein „Dialogmodell der Nachbarschaft mit den Religionen im Rahmen einer ökumenischen Theologie des Heiligen Geistes, die auf der axiomatischen Korrelation zwischen der messianischen Prophetie Jesu Christi und der ganzen messianischen Israelgeschichte basiert und darin ihre Voraussetzung hat“.56

54 Barth, Briefe 1961–1968, 505. 55 Bertold Klappert, Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, 48f. 56 Eberhard Busch, Brief an Bertold Klappert, zit. aaO., 49, Anm. 202.

106

5.

Reinhold Bernhardt

Fazit

Ich habe im letzten Teil meines Darstellungsganges Anknüpfungspunkte angezeigt, von denen aus meines Erachtens ein Weiterdenken der Religionstheologie Barths lohnend erscheint. Diese Punkte folgen in gewisser Weise der Dialektik, derer sich Karl Barth in der Bearbeitung des Religionsthemas bedient hat: Zunächst wird die ,Aufhebung‘ der Religion als Gestalt des Glaubens zum Grund des Glaubens hin religionstheologisch fruchtbar gemacht. Dann wird daran erinnert, dass es den Grund nur in religiöser Gestalt gibt, dass er eine bestimmte religiöse Perspektive formiert, neben der es andere gibt, und dass Barths Theologie aus dieser Perspektivität heraus entfaltet ist. Und schließlich ist davon auszugehen, dass die partikulare Perspektive der christlichen Theologie einen universalen Inhalt hat: die auf die gesamte Schöpfung bezogene Offenbarung Gottes, die sich in Christus ereignet hat und von ihm her erkennbar ist, aber in der Kraft des Geistes über diese Erkenntnisquelle hinaus in die ganze Geschichte und damit auch in die Religionsgeschichte hinein ausstrahlt.

Folkart Wittekind

Christologie und Religionen bei Karl Barth

1.

Der hermeneutische Sinn des Themas

Im Kontext des Paragraphen 17 in KD I/2 untersucht Barth das Verhältnis von (reformatorischem) Christentum und anderen Religionen am Beispiel des Amida-Buddhismus. Dieser wird dabei als Sprungbrett für die Frage behandelt, wie überhaupt Inhalte der Religion (Dogmen, Vorstellungen, Gehalte) über die Wahrheit der Religion entscheiden können. Dass der Amida-Buddhismus als eine alternative Form für den Inhalt der protestantischen Rechtfertigungslehre gesehen werden kann, oder dass zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, dass andere Religionen sich (auch) zu dieser hin entwickeln und damit die wesentlichen gedanklichen Inhalte der christlichen Lehre auf ihrem Gebiet reproduzieren, wird zur generellen Anfrage: Welche Bedeutung haben Inhalte überhaupt für das, was die Religion zur Religion macht? Barth beruft sich in seiner christlichen Antwort schließlich auf den Namen Jesus Christus. Die entscheidende Frage der theologischen Barth-Interpretation dürfte nun darin bestehen, wie man deutend mit einer solchen Auskunft umgeht. Was meint Barth mit dieser Setzung? Ist damit doch wieder so etwas wie ein wahrheitsfähiger Inhalt gemeint, an dem für sich die richtige Religion von der falschen unterschieden werden kann? Diese Auskunft ist nach dem von Barth aufgebauten Reflexionsmuster aber ganz unwahrscheinlich. Denn sie würde zurückfallen hinter die vorherige Auskunft, dass auf der Ebene der Inhalte zwischen Religionen möglicherweise keine wahrheitsfähigen Differenzen feststellbar sind. Auch die Anreicherung des Namens mit Offenbarungs- oder anderen religiösen Autoritätsfiguren nützt an dieser Stelle theologisch nicht viel. Es bliebe bei einer wenig allgemeinheitsfähigen Behauptung. Ich möchte Barths Berufung auf Jesus Christus deshalb lesen als Hinweis auf die Struktur des hermeneutischen Akts, den der Mensch an religiösen Inhalten vollzieht und in welchem sowohl das religiöse Subjekt als auch die religiöse Geltung der Inhalte erst hergestellt wird. Dieser hermeneutische Akt ist eine bestimmte Weise des Umgangs mit überlieferten religiösen Bildern, nämlich eine solche, in der die eigentliche religiöse

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Folkart Wittekind

Bedeutung der tradierten Vorstellungen erst hergestellt wird. Barths Benutzung des Namens Jesus Christus zur Klärung der Wahrheitsfrage ist ein theologischer Beitrag zur Klärung der Struktur dieses hermeneutischen Akts an den Inhalten von Religion. Dabei ist die Klärung dieser Struktur in Barths Theologie immer schon reflexiv angelegt. Denn religiöse Sprache beruft sich auf Gott und seine Wirklichkeit. Und so kann auch das Ereignis, in dem der religiöse hermeneutische Akt an dem religiösen Gottesbild entsteht, mit dem Wirklichwerden Gottes beschrieben werden. Die in ,Jesus Christus als Name beziehungsweise Ereignis‘ begriffene Wahrheit des Christentums liegt also in seiner (des Christentums) Fähigkeit, den ursprünglichen hermeneutischen Akt – in welchem jede Religion wahr wird, indem ihre Inhalte einer religiösen Anwendung unterzogen werden – in sich selbst zu reflektieren. Dass es „mitten in der Welt menschlicher Religion wahre Religion, will sagen: eine Erkenntnis und Verehrung Gottes“1 gibt, ist Barths theologische Redeweise davon, dass nicht der Inhalt über die Wahrheit entscheidet, sondern erst das religiöse Gemeintsein dieses Inhalt, und dass die Theologie die Aufgabe hat, die Struktur dieses hermeneutischen Gemeintseins, also die Verwendungsweise von Bildern, als den eigentlichen Inhalt der Religion darzustellen. Barths Hinweis darauf, dass die Wirklichkeit Jesu Christi an seiner Offenbarung in der Kirche hängt, macht dabei auf eine der Voraussetzungsbedingungen für die Existenz von Religion aufmerksam: Dass nämlich die Weitergabe nicht der Inhalte selbst und für sich, wohl aber des religiösen Verständnisses dieser Inhalte daran hängt, dass der Mensch in der Kirche in einem religiösen Zusammenhang angesprochen wird und so in das eigentliche ,Funktionieren‘ der religiösen Sprachwelt eingeführt wird. Religion ist demnach ein eigenes Sinnfeld menschlicher Deutungskultur, dessen Funktionieren und Einleuchten überliefert wird und dann je individuell angeeignet werden muss. Sein Funktionieren beruht darauf, dass in ihm seine Gegenstände und Inhalte zum Erscheinen gebracht werden und so religiösen Sinn vermitteln. Dieser Sinn hängt gleichsam an dem sprachfeldbezogenen Zum-Erscheinen-Bringen der Inhalte. Die Wirklichkeit Gottes ist im Blick auf den hermeneutischen Akt also die religiöse Aussageform für das Funktionieren religiöser Sinnvermittlung im religiösen Sprachfeld. Im Folgenden wird Barths Theologie gedeutet als eine Theorie darüber, wie die Reflexion auf das Funktionieren des hermeneutischen Aktes an der Religion mit dem notwendigen Betätigen von Religion auf der Ebene der Inhalte zusammenhängt. Es ist dies eine Fragestellung, die Barth anhand der ethischen Frage nach dem richtigen Handeln in den politischen Wirren des Ersten Weltkriegs entwickelt hat.

1 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2, Teilbd., Zollikon-Zürich 31945, 377 [ursprl. Zollikon 1938].

Christologie und Religionen bei Karl Barth

2.

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Hermeneutik, Reflexion und Gehalt: Zur Durchsichtigkeit des Funktionierens religiöser Rede

Die Frage nach dem Verhältnis von christologischer Offenbarung und den Religionen wird hier also gedeutet als Frage nach dem Verhältnis von religiösem Inhalt und religiösem Verstehen im Kontext des religiösen Sprachfelds. Dabei benutzt Barth die Begriffe Offenbarung und Religionen im umgekehrten Sinne, als man zuerst meinen könnte. ,Die Religionen‘ stehen nicht für das allgemeine Sinnfeld Religion, dem dann die wahre Offenbarung oder die Wirklichkeit Gottes als möglicher Inhalt von ,Religion‘ (nämlich im Christentum) gegenübergestellt wird. Sondern mit den Religionen sind alle möglichen menschlichen Ausgestaltungen und Inhalte von Religion gemeint, die kulturell-historisch kontingent, ableitbar und erklärbar sind. Diesen möglichen geschichtlichen Ausgestaltungen steht dann die Christologie gegenüber als theologische Frage nach dem, was die Religionen eigentlich zu Religion macht oder machen könnte, also nach dem, was Religion als ein eigenes Sprach- und Deutungsfeld konstituiert. Und zwar in einer besonderen barthschen Variante des Konstitutionsproblems, die von vornherein auf die Reflexivität von inhaltlichen Aussagen und allgemeiner Grundlegung abstellt. Denn es ist offensichtlich, dass die Christologie selbst ein möglicher, historisch erklärbarer und kulturell ableitbarer Inhalt der Religion ist. Es entspricht nicht dem barthschen Denken, hier auf ein ,reales‘ Ereignis oder die Wirklichkeit Christi auszuweichen. Vielmehr hat Barth selbst immer wieder erklärt, dass alle möglichen Inhalte (und auch geschichtliche Ereignisse) selbstverständlich zunächst einmal nichts weiter sind als eben dies: Menschlich erzeugter und kontingenter Inhalt, in welchem wahre Religion zur Darstellung kommt beziehungsweise kommen kann. Doch wird die Christologie in einer weiteren Funktion gelesen, nämlich als Bewusstsein der konstituierenden Normativität des Sinnfelds Religion für die Inhalte selbst. Damit bringt Barth gegenüber den anderen bewusstseinstheoretisch argumentierenden Gottes- und Religionstheorien seiner Zeit etwas Neues ein. Es geht nicht um Konstitution, sondern um reflexives Bewusstsein des Konstituiertseins im Sprachspiel, und zwar auf eine Weise, die zugleich auf der Ebene der Inhalte als Norm in Anschlag gebracht werden kann. Deshalb ist die Theologie nicht nur Transzendentalphilosophie oder vermögenstheoretische Grundlegung einer Religionsphilosophie, sondern sie steht direkt in Verbindung mit dem aktualen religiösen Bewusstsein. Die Christologie ist eine theologische Theorie, die die christliche Frömmigkeit aufnimmt und als Durchsichtigkeit von möglichem Inhalt auf die Sinnfeldgrundlegung hin zur Darstellung bringt. Damit wird die Religionsphilosophie, die durch eine solche Theologie implizit aufgestellt wird, hermeneutisch, vollzugsgebunden und reflexiv weiterentwickelt. Christologie ist eine Bewusstheit

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Folkart Wittekind

über die Unableitbarkeit von Religion als eigener Deutungssprache, die jenseits der Kontingenz möglicher Gehalte besteht. Zugleich sind in einem solchen kontingenten Sinnfeld die Gehalte durch das Funktionieren des Sinnfelds untergründig bestimmt und normiert, und zwar in einer doppelten Hinsicht, einerseits als kritische Verbesserung auf der Ebene der Inhalte selbst, und andererseits als eine gleichsam absolutheitstheoretische Normierung durch die Idee einer Selbstdarstellung dieses Funktionierens in Form einer reflexiven Besetzung der äußeren Gehalte. Das gilt dann entsprechend für die Frage nach der Wahrheit der Religion. Das Christentum wird mittels der Christologie als ein sich selbst in seinem Funktionieren reflektierendes System gedeutet. Damit gibt es also eine vorauszusetzende Normativität des Funktionierens, die auf der Ebene der Inhalte selbst zur Darstellung gebracht wird. Das bedeutet dann, dass der Gegensatz von Christentum und Religionen nicht auf der Ebene der Inhalte (wahre Religion vs. falsche Religionen) angesiedelt ist, sondern auf der Ebene der Reflexivität des Funktionierens religiöser Aussagen. Die Christologie ist selbst eine Hermeneutik des Funktionierens religiöser Rede als eines in sich selbst begründeten und nicht ableitbaren, also keine Voraussetzungen akzeptierenden und insofern in seiner Existenz und seiner Benutzung strikt kontingenten Sprach- und Deutungsfeldes. Und die Normativität der Christologie im Kontext der Religionen ergibt sich gerade daraus, dass sie die Reflexivität von religiösen Inhalten auf dieses Funktionieren der religiösen Rede hin zur Darstellung bringt. Das Christentum wird dadurch theologisch als eine Religion gedeutet, die in sich um die Differenz von Sinnfeld und Inhalten weiß und diese Differenz zugleich als eigentliche Bedeutung der Inhalte in ihnen zum Bewusstsein bringt. Deshalb ist das Christusbekenntnis nicht nur kontingent, sondern zugleich Wahrheit und Norm einer wahren Religion.

3.

Barths theologische Entwicklung der Idee der Reflexivität der Religion im ethischen Kontext

Die damit vorgeschlagene Deutung bedarf der werktheoretischen Erhellung.2 Die Grundbedeutung der Christologie liegt in der Aussage, dass Jesus auferstanden ist und lebt – eine Aussage, die Barth in ethischen Zusammenhängen ab 1916 verwendet. Was ist damit gemeint? Vor dem Krieg war Barth ein politisch linksstehender Herrmannschüler : Glaube, Persönlichkeitsvorstellung und ethische Anwendung des kategorischen Imperativs bilden für ihn eine Einheit der religiösen Vorstellung. Er war überzeugt, dass eine sozialistische Position 2 Vgl. dazu Georg Pfleiderer/Harald Matern (Hg.), Theologie im Umbruch der Moderne. Karl Barths frühe Dialektische Theologie, Christentum und Kultur 15, Zürich 2014.

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das ist, was das Gewissen und der Glaube gebieten, und dass eine solche Position ethisch gerechtfertigt werden kann, wenn man nicht in falscher eudämonistischer Weise durch Umstände, Vorlieben und Abhängigkeiten geblendet ist. Die Vorgänge bei Kriegsausbruch zwingen ihn jedoch, die einfache Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs im Leben in Frage zu stellen, und zwar, weil man anscheinend mit gutem Gewissen auch zu anderen inhaltlichen Ergebnissen kommen kann. Politisch hat Barth diese Konsequenz bereits 1915 formuliert. Es gibt keine Position, die besser wäre als die andere, die Menschen können von sich aus keinen Frieden herstellen, es hilft nur Besinnung auf Gott.3 Diese Besinnung auf Gott ist aber nicht als Herausziehen des Menschen aus den weltlichen Zusammenhängen gedacht, vielmehr ist sie gemeint als Eingeständnis der bleibenden Notwendigkeit, eine bestimmte ethische Position einzunehmen. Gottesglaube ist nicht Weltflucht, sondern das von Gott aus geschehene Einnehmen einer inhaltlichen Position im weltlichen Kampf. Die bekämpfte gegenüberstehende Position sieht Barth in dem ethischen Berufen auf die Naturordnung, also die geltungsbezogene Verklärung von Seins- und Geschichtszufälligkeiten. Wenn man es abstrakt formulieren wollte, könnte man vielleicht sagen, dass Barth die Anwendung des kategorischen Imperativs zum Ort seines Geltens macht und dass deshalb der kategorische Imperativ (bzw. das absolute Sollen) keine inhaltlichen Entscheidungsgründe (mehr) vermittelt, sondern dass die geforderte Universalisierbarkeit sich auf den Vorgang der Anwendung selbst bezieht. Damit kann diese Anerkennung jeder Position eine inhaltliche Berechtigung verschaffen, der unter irdischen Bedingungen kaum letztgültig widersprochen werden kann. Damit wird das Entscheidungsmoment als unhintergehbare Größe anerkannt. Gleichwohl bleibt eine kritische Instanz, nämlich Gott als höchste Notwendigkeit. „Er hat keinen Standpunkt, und er will nicht recht behalten. Obwohl er doch das alles auch hat, und in ganz anderer Fülle als wir Menschlein, [er hat] das, dem wir unsern Unfrieden schuld geben: Eigenart, Einsicht, Willen und Kraft. Gott liebt nur“4. Religiöse Ethik besteht nicht (mehr) in der Identifizierung einer bestimmten inhaltlichen Stellung mit dem von Gott Gebotenen, sondern in der Differenzierung von Inhalt und Anwendung in diesem Inhalt. Anwendung muss sein, aber jede konkrete Anwendung ist nur menschlich. Anwendung drängt nicht nur auf eine Position, sondern noch mehr auf die Reflexion des Ermöglichtseins der Position. Die Inkarnation Gottes in Jesus Christus wird zum religiösen Bild dieses strukturellen Problems. Die „höchste Notwendigkeit wartet eigentlich in einem Jeden von uns, wartet seit

3 Karl Barth, Friede (1915), in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, GA III.48, hg. v. Fr.-W. Marquardt/H.-A. Drewes, Zürich 2012, 147–151. 4 AaO., 150.

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2000 Jahren im Evangelium Jesu auf Anerkennung“5. Hier identifiziert Barth noch die neue Position mit einer vertieften Einsicht des Gewissens, die die Anwendung des Gebots in einer neuen, radikal antieudämonistischen Weise trägt. Dass Gott wartet, ist bereits hier ein eschatologisches Bild für die Notwendigkeit einer aktiven ethischen Positionsgenerierung durch den Menschen.6 Diese wird aber so gedacht, dass sie ihren Geltungsaspekt nicht im Inhalt selbst, sondern im Prozess ihrer Bestimmung hat. Gottes Warten beschreibt diesen Prozess der Bestimmung einer Position, auf den es sich zu besinnen gilt. Das Modell dieses Wartens Gottes wird von Barth dann sehr schnell auf die Religion7 selbst, auf die Ethik, die Politik und die Geschichtsphilosophie angewendet sowie schließlich auf die biblische Hermeneutik.8 Dass Gott Gott ist und Welt Welt, dass Gott als dieser Gott nur Glaube und Gehorsam fordert und nicht sofort das Einnehmen einer bestimmten ethischen Position, ist die sich herausschälende Grundformel für die neue Theologie. Es geht nicht um das Einnehmen eines richtigen Standpunkts in Politik, Ethik, Religion, Ökonomie und Recht, sondern um eine Reflexion auf die Ermöglichung dieser Standpunkteinnahme. Barth setzt diese Grundlagenreflexion von allem inhaltlichen Agieren ab. Es ist ersichtlich, dass diese Grundlagenreflexion gleichwohl nicht das Einnehmen des Standpunkts ersetzt, sondern dass eine Forderung zur Reflexion aufgerichtet wird, die nur als implizites Element im Akt der Standpunktnahme überhaupt sinnvoll ausgeführt und gedacht werden kann. Insofern setzt aber die Reflexion auf die Ermöglichung der Standpunktnahme die Realität des jeweiligen Entscheidungsfeldes immer auch bereits voraus, auch wenn diese Realität nur im Vollzug menschlicher Akte in ihm gegeben ist. Deshalb enthält die Reflexion auf das Funktionieren von Handlungs-, Entscheidungs-, Sprach- beziehungsweise Sinnfeldern immer bereits subjektive und objektive Elemente, so dass es hier nicht um rein subjektivitäts- und bewusstseinstheoretische Grundlegung geht, sondern um eine sprachfeldbezogene oder (wie Barth stattdessen formuliert) sachbezogene. Barths Suche nach dem Geltungsaspekt einer inhaltlichen Bestimmung führt ihn zu einer Grundlagenreflexion auf das Funktionieren des Sprachfelds überhaupt. Diese Grundlagenreflexion ist aber 5 Ebd. 6 Vgl. ebd.: „Gott wartet auf uns – und wir müssen wohl auch warten – nicht auf den ,Frieden‘ […] – aber darauf, dass jene höchste Lebensnotwendigkeit in uns allen ganz anders drängend und klar werde […]“. 7 Vgl. Karl Barth, Antrag betr. Abschaffung des Synodalgottesdienstes (November 1915), in: Ders., VuklA 1914–1921, 168–176, 174: „Die Reden, die wir hier halten u. anhören, sind Reden […] bes. auch von Pfarrern […], aber nicht von Christen, denen es sich um ihre heiligste u. höchste Sache handelt u. die sich an der Sache orientiert haben.“ 8 Vgl. Barths entscheidende Vorträge von 1915–1917 in VuklA 1914–1921: Kriegszeit und Gottesreich (186–210), Religion und Sozialismus (212–224), Die Gerechtigkeit Gottes (228–245), Die neue Welt in der Bibel (318–343).

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nicht ein philosophisches Modell, oder eine spekulative Tat, sondern sie ist ein sich erschließendes Wissen im Tätigsein innerhalb der Deutungsräume. Das Stillewerden vor Gott, das Glauben und Gehorchen ist mit dem Tun wohl noch verbunden, aber eben nicht direkt. Es ist ein prinzipielles Bewusstsein, mit dem jede Positionseinnahme innerhalb der kulturellen menschlichen Tätigkeitsfelder verbunden werden soll. Die Sache der Religion ist das Wort Gottes, also das Funktionieren religiöser Rede als Voraussetzung dafür, dass jeder einzelne Glaubende sich innerhalb der Religion verorten kann, dass er an einen bestimmten Inhalt als ,seine‘ Religion glaubt.

4.

Der Modellcharakter religiöser Reflexivität im Kontext der Kultur

Versteht man Barths Christologie als Ausdruck der Reflexivität des religiösen Sprachspiels im christlichen Kontext, dann geht es bei der Bindung der christlichen Religion an die Christologie gar nicht um die Überlegenheit des Christentums gegenüber anderen Religionen, sondern um die interne Reflexionsfähigkeit, mit der die Frage nach dem, was die Wahrheit bestimmter Inhalte innerhalb der einzelnen Sinnfelder ausmacht, überhaupt erst erreicht werden kann. Eine oberflächliche Benutzung der Inhalte (auch) im Christentum steht damit gegen eine Tiefenreflexion, die ihr Augenmerk auf den hermeneutischen Akt legt, mit dem die Inhalte erst ihren spezifisch religiösen, sprachfeldbezogenen Sinn zugelegt bekommen. Dies bleibt das Modell auch für den Religionsvergleich. Damit entsteht allerdings die Schwierigkeit, dass Barth um der Einhaltung des Modells willen anderen Religionen von vornherein immer eine solche oberflächliche Benutzung der Inhalte zuschreiben muss, die er innerhalb des Christentums christologisch-reflexiv bekämpft. Dadurch gerät seine Rede von der wahren Religion in eine Schieflage. Allerdings ist auch diese Schieflage durch die modellhafte Verwendung der christologischen Reflexionsidee gegenüber anderen menschlichen Deutungsund Sinnfeldern in der Entwicklung Barths hervorgerufen. Denn die reflexive Durchsichtigkeit der Positionsgenerierung innerhalb eines Sprachfeldes wird von Barth einseitig der Religion zugeschoben. Darin zeigt sich bei ihm der theologische Grundlegungsanspruch, den andere Autoren inhaltlich einlösen wollen durch die Konstruktion eines Gesamtbild menschlichen Seins, indem sie Religion als Konstitutions- und Letztbegründungsinstanz innerhalb der Vermögen des Bewusstseins begreifen. Barth gibt einen solchen Anspruch der Religion völlig auf, sieht sich aber im Gegenzug genötigt, die Bedeutung der Religion dadurch zu sichern, dass sie als eigentlicher Ort der reflexiven Durch-

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sichtigkeit von Inhaltsanwendung gedeutet wird. Deshalb sind hier Überlegungen zur Pluralismusfähigkeit von Barths neuer theo-logischer (auf Gottes Offenbarung bezogener) Grundlegung des Lebens notwendig. Barth geht davon aus, dass die eigentliche, christologisch reflektierte Religion für die notwendige Grundlagenreflexion in allen Gebieten der menschlichen Sprache, Deutung, Gestaltung und Kultur steht. Gott ist diese Grundlage, von der her alles funktioniert und von der her der Mensch in den jeweiligen Gebieten tätig wird.9 Gleichwohl schafft sich Barth damit die Möglichkeit, die theologische Sprechweise von dem Funktionieren der Systeme von der Religion selbst, der religiösen Deutung innerhalb ihrer abzusetzen. Denn die Rede von der Sache selbst, die von Gott her dem Menschen bereitgestellt wird, macht das Funktionieren unabhängig von der jeweiligen Bewusstheit. Der Gottesgedanke wird übertragbar als Hinweis auf die vorauszusetzende Funktionsweise von Sinnfeldern, die nicht als solche in ihnen ausgesagt werden muss, weil das Sinnfeld nicht durch eine notwendige grundlegende Tat des Bewusstseins konstituiert wird (es ist ja kontingent), sondern nur als diese kontingente Vollzugsweise bewusster Deutung existiert. Dass Christus auch den Staat trägt, wie Barth zum Beispiel später in Christengemeinde und Bürgergemeinde formuliert, ist dann nicht unbedingt ein Hinweis auf eine theologische Usurpation des Staates, sondern im Gegenteil eine Formulierung für die Autonomie der Politik, die unabhängig ist von der christlichen Gesinnung der Bürger (beziehungsweise theologisch als solche gedacht wird).10 Christus oder Gott sind dann nur gleichsam stellvertretende Ausdrucksweisen für die (Allgemeingültigkeit der) Notwendigkeit der Binnenreflexion auf die eigenen Grundlagen. Wo sie in der Tat geschieht, werden dann eigene Grundlagenbegriffe an die Stelle der theologischen Platzhalter treten. Barth hat diese Autonomie der Sinnfelder durch eine Veränderung seiner Rede von der Naturkraft erreicht, die zu einer allgemeinen Ausweitung der ethischen Kritik führt und zum Aufgeben der Gesinnungsrede, die er ja zunächst in seiner Neuorientierung noch mitführt. Zunächst ist der Gegensatz der zwischen der Naturkraft und dem neuen Leben aus Gott.11Naturkraft steht hier für 9 Karl Barth, Die Gerechtigkeit Gottes (1916), in: Ders., VuklA 1914–1921, 228–245, 244: „Wirkliche Liebe, wirkliche Wahrhaftigkeit, wirklicher Fortschritt werden möglich, ja Moral und Kultur, Staat und Vaterland, sogar Religion und Kirche werden jetzt möglich, jetzt, erst jetzt!“ 10 Zu dieser Deutung vgl. Folkart Wittekind, Kulturtheologische Überlegungen im Anschluss an Falk Wagner, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.), Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne, Tübingen 2015, 251–277, 256. 11 Karl Barth, Kriegszeit und Gottesreich (1915), in: Ders., VuklA 1914–1921, 186–210, 187: „Und wie die Ethik, so steht auch unser Staats- und Vaterlandsgedanke einfach im Dienst der von Gott gelösten Naturkraft.“ Vgl. aaO., 189: „So steht die Himmelsleiter [sc. die Stufen

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die inhaltlichen Versuche des Menschen, sein Leben zu bestimmen. Alle Inhalte stehen unter der Verfügung des Menschen und sind insofern natürlich – innerhalb der Natur – erreichbar. Das neue Leben von Gott aus ist die Grundlagenreflexion auf die Möglichkeit dieser Bestimmung. Diese Grundlagenreflexion erfordert eine grundsätzliche Abwendung von dieser bestimmbaren Natur12, eine Umorientierung hin zur Einsicht in die von Gott bereits gegebene Möglichkeit der Bestimmung durch die ethische Forderung selbst. Aber in dem Aufsatz Religion und Leben (Oktober 1917) wird Natur und Leben in einer neuen Weise der theologischen Grundlegung verstanden, die zu einer dreigliedrigen Anlage führt. Der falschen ethischen Naturorientierung wird hier nämlich die göttliche Schöpfungsordnung vorgeschaltet, die das ganze Leben zum eigentlichen Ort der eigentlichen Religion macht. Gegen die vermeintliche Innerlichkeit eines anthropologischen Religionsbegriffs wird hier ein strikt allgemeiner, objektiver Natur- und Lebensbegriff formuliert und zwar inkarnationstheologisch: „Das Leben ist lauter äußerlich gewordene Innerlichkeit, schöpferischer Geist, erzeugende Seele, Tat und Ereignis gewordenes und werdendes Gefühl, oder nach dem gewaltigen Zeugnis der Bibel von Christus: Wort, das Fleisch geworden ist. Leben ist das Wandeln der Gestirne, der Aufbau des Jura und der Alpen, das Werden der Bergkristalle – das ist reines Leben aus dem Schöpfergeist Gottes.“13 Dieser reinen Schöpfung wird die gefallene Schöpfung, die aus der Tat des Menschen resultiert, gegenübergestellt. „Leben ist das Schleichen und Nagen und Zehren der Krankheiten und der Kampf, den der Arzt dagegen führt, ist der […] ganze Weltkrieg – das ist gestörtes und zerstörtes und mit sich selber ringendes Leben aus dem vom Geist Gottes abgefallenen Geiste des Menschen. Aber auch es ist Leben.“14 Damit kann die Schöpfungs- und Gotteslehre und die Christologie als Form einer neuen Kultur- oder Systemtheorie als theologisches Pendant zu einer Philosophie der symbolischen Formen des menschlichen Lebens gelesen werden. Religion und Geschichte, Staat und Gesellschaft, Politik und Ethik sind Varianten und Felder des menschlichen Handelns, und zwar zunächst eines solchen Handelns, das sich innerhalb der Sprachspiele und auf der Ebene der Inhalte vollzieht. Solches Handeln ist notwendig und unhintergehbar. Aber die notwendige Binnenlogik der Gehalte, ihr Für und Wider vereiner innerweltlichen Entwicklungsmöglichkeit der Gesellschaft] auch hier auf der Grundlage einer von Gott gelösten Wirklichkeit.“ So auch aaO., 193: „Wenn alle Kirchen Europas nachher dem Programm folgen werden, das Martin Rade […] aufstellt, […] dann ist das Christentum dieser Kirchen […] keine Überwindung der Welt der Naturkraft. Dann bleibt es auch in Bezug auf das Christentum [sc. in Bezug auf die Religion neben Ethik, Staat etc.] bei dem Sätzlein: Welt ist Welt.“ 12 Barth nennt dies auch einfach den jetzigen Lebenszusammenhang, innerhalb dessen die Nöte und Aufgaben bearbeitet werden müssen, vgl. ders., Kriegszeit und Gottesreich, 208. 13 Karl Barth, Religion und Leben (1917) in: Ders., VuklA 1914–1921, 412–434, 423f. 14 AaO., 424.

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deckt die grundsätzliche Tatsache, dass das Bestehen des jeweiligen Sprachgebietes selbst nicht durch inhaltliche Wahl konstituiert werden kann. Zwar besteht es auch nicht vorher, ohne eine solche Wahl, es existiert niemals unabhängig oder ,vor‘ seiner Aufrichtung und Betätigung, vor seiner Aktualisierung in einer bestimmten Tat. Aber die wahre religiöse Gesinnung hat die Aufgabe, diese Grundlegung in jeder inhaltlichen Bestimmung durchsichtig zu machen. Die Religionstheorie interpretiert die christliche Religion als hermeneutische Bewusstheit des Funktionierens von Tätigkeiten innerhalb der Sinnfelder im Kontext des Gegebenseins der jeweiligen Sprache als Ganzes. Weil Barth aber auch den Religionsbegriff selbst in gleicher Weise inhaltlich-kritisch auffasst, wird von vornherein das Christentum der Ort der wahren Bewusstheit. Und auch hier kann die wahre Bewusstheit nicht gesinnungsbezogen formuliert werden, sondern nur objektiv-voraussetzungshaft: Christus ist als Inkarnation das Setzen der Möglichkeit religiös-hermeneutischer Sprachdurchsichtigkeit, einfach dadurch, dass es Religion gibt, er ist als Auferstehung die Forderung der Verbindung dieser Durchsichtigkeit mit der jeweiligen religiösen Gesinnung des einzelnen.

5.

Christologie als Reflexivität der Religion

Wie es dazu kommt, dass für Barth die Christologie zur entscheidenden religiösen Figur der Reflexivität der Religion wird, ist im Kontext der Werkgeschichte zu erläutern. Die Christologie ist zu deuten als hermeneutische Reflexivität der christlichen Religion, als Begründungsfigur, die das unableitbare, kontingente und zugleich für sich absolute Bestehen religiöser Rede in dieser selbst klärt. Diese Klärung geschieht, indem das notwendige Überzeugtsein von bestimmten religiösen Inhalten darauf zurückgeführt wird, dass religiöse Rede bereits gegeben ist, dass also Religion als sprachliche Möglichkeit bereits existiert. Damit ist nicht etwas Anderes und Neues neben Religion gemeint, sondern ein Erschlossensein der christlichen Religion in ihr selbst. Dieses Erschlossensein für sich selbst ist überall möglich, es hängt nicht an einem bestimmten Gehalt, es hängt nur daran, dass es überhaupt mit einem Gehalt verbunden wird. Deshalb ergibt sich, wie im ersten Abschnitt gezeigt, dass auf der Ebene der Inhalte eine wahre Religion wie das Christentum nicht von einer rein menschlichen Religion (wie das geschichtliche Christentum oder der beispielhaft herangezogene Amida-Buddhismus) zu unterscheiden ist. In jeder menschlichen Religion werden Inhalte besetzt und verteidigt, zum Beispiel wegen ihrer Traditionalität oder gerade umgekehrt wegen ihrer Modernität, zum Beispiel wegen ihrer Lebensdienlichkeit oder gerade umgekehrt wegen ihrer funktionslosen Eigenständigkeit, zum Beispiel wegen ihrer religionsgeschichtlichen Zusam-

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menhangslogik oder gerade umgekehrt wegen ihrer Neuheit. Die ,wahre‘ Religion dagegen macht diese inhaltlichen Vorlieben durchsichtig auf ihre Möglichkeit hin, die in dem Gegebensein religiöser Sprache als solcher liegt. Barth spricht15 diese normative, die Wahrheit der Religion erschließende Durchsichtigkeit der Religion zunächst mit dem Gottesbegriff aus. Aber die Verbindung der Grundlegung mit einem bestimmten Inhalt, also die Anerkennung der Notwendigkeit, dass der Mensch dem Religiössein und Religionhaben auf einer inhaltlichen Ebene nicht entkommt, wenn er Gott in seinem Gottsein selbst anerkennen will, führt ihn darüber hinaus zu dem eschatologischen Moment des Wartens Gottes, eines aktiven, in dem Bestehen der religiösen Sprache selbst gegebenen unruhigen Moments. Es bezeichnet die bedrängende Reflexionsneigung, die durch die dauernde Neubestimmung auf inhaltlicher Ebene immer schon gegeben ist. Neubestimmung, also die Reformierung und Entwicklung von Religion in der Geschichte, die Ablösung einer Religion durch die andere oder auch die Entwicklung innerhalb einer Religion, die durch die immanente Religionskritik und Korrektur der Leitvorstellungen gegeben ist, wird zum Ausdruck dafür, dass jede Religion in sich auf der Suche ist nach der sie eigentlich tragenden Durchsichtigkeit auf ihr Funktionieren als Religion hin. Indem der Mensch die Religion verbessert und kritisiert, wartet darin der eigentliche Gott auf sein Entdecktwerden, das genau dann erreicht wird, wenn die Durchsichtigkeit der Religion mit diesem ,Gott‘ bzw. der jeweiligen Gottesvorstellung verbunden wird. Dieses Moment unterscheidet Barths ,Gott ist Gott‘ von dem spekulativen, abstrakten Begründungsdenken z. B. der Tillichschen, kritischen Gotteslehre und dessen Idee eines ,Gott über Gott‘. Bei Barth geht es nicht um ein überall vorliegendes allgemeines Begründetsein des religiösen Aktes im menschlichen Bewusstsein, nicht um eine letztbegründungsfähige philosophische Setzungstheorie. Sondern es geht um das autonome Gegebensein menschlicher Deutungssprachen für sich selbst, welches in ihnen reflexiv zum übergeordneten normativen Organisationsprinzip für die Bestimmung der Gehalte gemacht werden soll. Die Differenz des menschlichen Gottes, also des in der üblichen Religion benutzten Gottesbildes von dem eigentlichen Gott, in welchem die Religion sich funktionsbezogen selbst erschließt, verbindet Barth mit der christologischen Selbstoffenbarung Gottes. Gott in Jesus Christus ist für ihn der Ort, an dem sich das Christentum als wahre Religion von sich selbst als ,nur‘ Religion, als oberflächliche, menschlich-kulturell bestimmte Religion unterscheidet. Die Christologie ist Barths Versuch, das an der Ethik erkannte Problem 15 Vgl. zum Folgenden Georg Pfleiderer, Progressive Dialektik. Zur Entwicklung von Karl Barths theologischem Denken im Zeitraum des Ersten Weltkriegs, in: Pfleiderer/Matern (Hg.), Theologie im Umbruch, 81–103, bes. 87–99.

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der Verbindung von unterschiedlichen Gehalten mit reflexiver Besinnung auf das Funktionieren der Gehalte in den jeweiligen Deutungssprachen zu lösen. Christologie ist die Weise, wie der Gottesbegriff in der christlichen Religion mit innersystemischem Gehalt verbunden ist. Barth hat zunächst Kutters Rede vom Ursprung und dem Unmittelbaren aufgenommen, um auf das Gemeinte hinzuweisen. (Allerdings sind in der Idee des Ursprungs die eschatologischen Motive mitzulesen: Es handelt sich um einen Ursprung, der von sich aus zu seiner Realisierung im Begründeten drängt.) Dass Gott die Sache selbst ist, die in der Religion gemeint ist, ist ebenfalls eine der Redeformen, mit der Barth auf die Reflexivität an religiösen Gehalten aufmerksam macht. Diese Objektivität der Sache, die erkennbar über die persönliche Gesinnung hinausgeht, wird dann schnell mit der Entdeckung von Gottes Wort als dem eigentlichen Element der Grundlagenreflexivität christlich-religiöser Rede verbunden. Gottes Wort wird der Gegenbegriff zum Glauben und Gehorsam, mit welchem die Ebene der inhaltlichen, wechselnden Bestimmungen und Ideale von Religion durchbrochen wird und ein solches Stillewerden geschieht, das Barth die Hoffnung auf Gottes Reich nennt, und zwar so, dass diese Hoffnung auf Gottes Reich nicht selbst nur ein inhaltliches religiöses Symbol ist, sondern auch wirklich die Hauptsache der Religion (neben der Nebensache, welchen Inhalt sie hat) offenlegt.16 Der Hinweis auf Gottes Wort führt dann zu hermeneutischen Grundlagenreflexionen, die sich auf die Bibel beziehen.17 Und die hermeneutische Deutung der Redeweise Barths als einer Selbstreflexion auf das Funktionieren der Gehalte im Kontext religiöser Rede erklärt, wieso Barth auf der einen Seite freizügig zugeben kann, dass alle Inhalte der Bibel selbstverständlich nur historisch, kulturell und religionsgeschichtlich gelesen werden können, dass aber auf der anderen Seite ein Geist, ein Strom des Verstehens in der Bibel geboten wird, der das Verständnis der Inhalte als im eigentlichen Sinn religiös prägen will. Barth räumt ein, dass es viele Christentümer gibt, und eine einfache Wahrheitsbeanspruchung für den Protestantismus deshalb unglaubwürdig ist. Damit ist das Modell von Durchsichtigkeit und Pluralität der Gehalte auch auf Christentumsebene anzuwenden. „Den Inhalt der Bibel bilden eben gar nicht die rechten Menschengedanken über Gott, sondern die rechten Gottesgedanken über den Menschen. Nicht wie wir mit Gott reden sollen, steht in der Bibel, […] sondern der Bund, den er mit allen, die im Glauben Abrahams Kinder sind, geschlossen und in Jesus Christus ein für allemal besiegelt hat. Das steht in der 16 Barth, Kriegszeit und Gottesreich, 207. 17 Vgl. die Beschäftigung mit Blumhardt 1916: Karl Barth, Auf das Reich Gottes warten (1916), in: Ders., VuklA 1914–1921, 288–302, sowie ders., Die neue Welt in der Bibel (1917), aaO., 318–343.

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Bibel. Das Wort Gottes steht in der Bibel.“18 Mit dem Offenbarungsgedanken wird die hermeneutische Qualität biblischer Aussagen beschrieben, als Reflexionsbilder für ihr eigenes Funktionieren als religiöse Rede zu fungieren. Diese Grundlagenreflexion weist auf eine Ebene des Bestehens von Religion als religiöser Rede hin, die allen inhaltlich-historischen Varianten des Christentums vorausliegt.

6.

Die Einbindung der Ethik in die christologische Reflexivität der Religion

Barths Grundlegung der Ethik im Tambacher Vortrag ergibt sich aus der Anwendung der christologischen Reflexionsfigur auf die Gebiete des ethischen Lebens. Die Anwendung wiederum wird dadurch möglich, dass die Voraussetzungshaftigkeit der Religion für ihre Reflexivität nicht nur negativ gesehen wird, sondern positiv in das Weltverständnis eingebaut wird. Barth erreicht dies über die oben genannte positive Wendung des Reichs der Natur im Schöpfungsgedanken. Durchgeführt wird diese Idee in ihrer bleibenden Grundform in dem programmatischen Vortrag Christliches Leben von 1919, der nicht nur die Vorlage des Tambacher Vortrags ist, sondern zugleich ein Gesamtentwurf der erarbeiteten theologischen Sicht. Sein Thema lautet in Barths Zusammenfassung: „Das Verhältnis des in Jesus nahe herbeigekommenen Reichs Gottes zu den Gebilden des natürlichen Gemeinschaftslebens: Ehe, Familie, Beruf, Wirtschaftsleben, Staat, Beziehung der Völker untereinander. Es steckt darin die Frage nach dem göttlichen Sinn des Lebens überhaupt.“19 Das Verhältnis wird jetzt in einem Dreischritt entwickelt, den Barth theologisch mit Schöpfung, Erlösung und Vollendung bezeichnet. Mitgedacht ist die christologische Trias von Inkarnation, Kreuz und Auferstehung. Zunächst der erste Schritt, die Bestätigung der Autonomie der Sprachspiele: „Was in sich selber ruht und vollendet und gesund ist, und wenn es eine gesunde Bosheit wäre, ein gutgehendes Geschäft, eine wohlüberlegte wissenschaftliche Leitung, ein reines Kunstwerk,

18 Barth, Die neue Welt in der Bibel, 335. Das Zitat zeigt, wie Barth bestimmte Inhalte der Religion isoliert, um an ihnen (mit ihnen) die Reflexivität der Religion auszusagen. Diese Inhalte können wechseln, sie sind nur funktionale Platzhalter. Hier ist es der Bundesbegriff. Denn es gibt keinen einzelnen Begriff, der diese Reflexivität bestimmt bezeichnen würde. Auch der Offenbarungsbegriff kann immer wieder religionsgeschichtlich gelesen und inhaltlich verstanden werden. Dann belegt er nicht, was in der gehobenen Ausdrucksweise Barths damit gemeint ist. Vgl. dazu das Gespräch zwischen Harnack und Barth, insbesondere den 1. Punkt über die Offenbarung, in welchem Harnack ,völlige Verständnislosigkeit‘ signalisiert. 19 Karl Barth, Christliches Leben (1919), in: Ders., VuklA 1914–1921, 503–512, 503.

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eine bismarckische Staatsaktion, das solide Produkt eines Handwerks, das hat eine Verheißung, das trägt in sich eine Analogie, ein Gleichnis des Gottesreichs. Das ist keine Weltweisheit. Das ist Wahrheit in Christus.“ Damit wird die ,Normalebene‘ des ethischen Handelns, dass in bestimmten kulturellen Deutungszusammenhängen verläuft, nicht mehr nur als negativer Ausgangspunkt für die Reflexionsnotwendigkeit gesehen, sondern es wird in seiner grundlegenden, konstitutiven Funktion für die Reflexion positiv bezeichnet. Diese positive Art des Weltlebens zeigt sich besonders da, wo die Anforderungen des jeweiligen Handlungsgebietes einfach und konzentriert erfüllt werden. Diese Konzentration auf das jeweils Gebotene trägt die religiöse Grundlegung in sich. Gleiches gilt für das Feld der Religion. Sie muss auf einer inhaltlichen Ebene gegeben und ernstgemeint sein, damit die Frage nach dem, was diese Religion im eigentlichen Sinn zur Religion macht, in ihr verhandelt werden kann. Damit wird das ,Warten‘ Gottes in seine Schöpfungstätigkeit hineingestellt. Oder umgekehrt: Im Schöpfungsgedanken wird das Ausgerichtetsein jedes Sprachfelds auf seine innere Durchsichtigkeit für sich selbst hin ausgesagt. In einem zweiten Schritt wird dieses Insichruhen der Systeme dann in Frage gestellt, es kommt zur großen, doppelten Erschütterung des Sündenfalls einerseits und der beunruhigenden Zukunftserwartung andererseits. Der Mensch muss sich einerseits „als Sklaven der Sünde erkennen kraft der Verhältnisse, u. wenn wir die ausgezeichnetsten Christen wären“20, er achtet also innerhalb der autonomen Sinnfelder nur auf die einzelnen Inhalte, die jederzeit kritisch in Frage gestellt werden und die aufgrund eigener Logik verbesserbar sind. Daneben gibt es eine geheime Norm, die das Infragestellen jedes einzelnen Inhalts mit der Erwartung Gottes und der Weltverbesserung verbindet. „Es ist offenbar ein großes Vorwärts in dieser Wahrheit Christi.“21 „Um dieses Drängens und Sehnens nach Unvergänglichkeit willen muß Gericht sein und Gnade.“22 Gericht und Gnade ergibt sich aus der Einsicht in die Unlösbarkeit der Aufgabe auf der Ebene der Inhalte, aus den bleibenden menschlichen Notwendigkeiten, das Leben zu gestalten und immer weiter zu gestalten und jeweils die gerade notwendige Entscheidung für richtig zu halten. Die Inhalte, für die sich der Mensch bei seiner Benutzung der ,Gebilde des natürlichen Gemeinschaftslebens‘ entscheidet, wechseln beständig. Damit liegt ihre Kritik bereits in ihnen, aber auch ihre normative Bindung. Denn die Suche nach der richtigen Entscheidung wäre nicht möglich, wenn darin nicht bereits unterschwellig die Idee zum Ausdruck käme, dass überhaupt Normativität auf der Ebene der Inhalte zum Ausdruck kommt. Diese Normativität ist aber nicht durch Anwendung einer inhaltlichen 20 AaO., 508. 21 Ebd. 22 AaO., 509.

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Idee (die selbst wieder überwindbar wäre) erreichbar, sondern nur durch die Aufrichtung von Reflexivität auf das jeweilige Funktionieren von ethischer, politischer etc. Entscheidung. Dass dies möglich ist und worin dieser Schritt besteht, wodurch die Erschütterung auf Dauer gestellt wird und zugleich mit der Suche nach rechter Evidenz verbunden wird, zeigt der dritte Schritt, nämlich die Auferstehung. In ihr wird das Funktionieren des Sinnfelds als normative Reflexivität auf der Ebene der Inhalte empfunden. Denn es geht nicht um das Anderssein eines neuen Inhalts gegenüber den alten Inhalten, sondern es geht um das Anderssein des Gottesreichs. „Die Auferstehung Jesu ist darum die weltbewegende Kraft, von der wir alle getragen sind, weil sie die erste Erscheinung einer neuen totaliter aliter geordneten Leiblichkeit und Welt ist.“23 In dieser Welt werden die Menschen nicht nur von Inhalt zu Inhalt getrieben, sondern sie durchschauen die Funktion des Sprachspiels (indem sie bei der Reflexion stehenbleiben und nicht sofort „ausweichen oder davonlaufen zu einer inhaltlichen Anwendung“24), und sie beziehen diese Funktion als Bestätigung auf den jeweiligen Inhalt. Damit kann erklärt werden, wieso Barth dies als weltbewegende Kraft, von der wir alle getragen sind, auf alle Deutungs- und Sinnfelder des Lebens anwendet. Das Warten Gottes wird nicht als kommende Größe, sondern als eine Struktur der Selbstdurchsichtigkeit und Selbstanwendung innerhalb der Gestaltungsfelder des Lebens durchsichtig. Die Christologie in ihrer dreifachen Gestalt (Reich der Natur, der Gnade und der Herrlichkeit) wird dadurch zur Strukturtheorie des reflexiven, hermeneutisch an ihren Inhalten (und damit in ihnen) durchzuführenden Durchsichtigseins des Handelns in den jeweiligen Sinnbezügen. Glaube ist, wie Barth formuliert, die Einsicht, dass das Reich Gottes „[a]lles zugleich ist und eins im Andern: regnum naturae, regnum gratiae und regnum gloriae“.25

7.

Zusammenfassung

Christologie ist eine Strukturtheorie der Durchsichtigkeit menschlicher Deutungs- und Sinnfelder. Entscheidend ist, dass es nicht um eine Begründungsoder Konstitutionstheorie geht, vielmehr setzt Barth das Konstituiertsein der jeweiligen Sprachgebiete bereits voraus. Die Christologie beschreibt auf dieser Grundlage die Notwendigkeit einer reflexiven Bewusstheit des jeweiligen Funktionierens, damit das Arbeiten und Gestalten innerhalb des Gebietes einen Sinn bekommt. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Struktur des jeweiligen 23 AaO., 510. 24 AaO., 509. 25 AaO., 512.

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Feldes selbst eine innere Norm für das bestimmte inhaltliche Handeln aufrichtet, die zugleich der Unruhefaktor ist, der das Handeln weitertreibt und inhaltliche Neubestimmung fordert. Damit wird Barths Deutung des ethischen Versagens der Christen im Krieg aufgenommen und seine neue Rede von Gottes Gottheit darauf bezogen. Erst die Normativität des Funktionierens der religiösen Rede, die im Bild vom Wort Gottes ausgedrückt ist und die sich in der religiösen Rede als Religionskritik an den (bloß oberflächlich verstandenen) Inhalten der Religion vermittelt, garantiert die wahre Autonomie der Religion gegenüber anderen Sinnfeldern und einem übergeordneten Begriff des Geistes. Der Gottesbegriff in Barths Denken ersetzt die Absolutheit des Geistes durch die Absolutheit der Reflexivität der religiösen Rede für sich selbst. Für die weitere Entwicklung der Theologie Barths ist es wichtig, dass nicht nur die ethische Entscheidungsfähigkeit theoretisch in Frage gestellt wird, sondern dass Barth zugleich dieselbe Struktur für die Religion annimmt. Inhalte der Religion und der Religionen sind auf inhaltlicher Ebene nicht prinzipiell unterscheidbar, sie sind alle gleich wert und begründet, sie sind historisch einsichtig, kulturell ableitbar und religionsgeschichtlich entwicklungsfähig. Deshalb entwirft Barth die Christologie zugleich als eine Strukturtheorie der Religion, also ihrer Selbstkritik und ihrer inhaltlich sich als Reflexionsforderung zeigenden Normativität. Das Christentum ist die Religion, in der das Funktionieren religiöser Rede in dieser für diese selbst durchsichtig wird, und zwar so, dass damit die jeweiligen Gehalte der Religion in ihrer Bedeutung besetzt und wahrheitsfähig gemacht werden. Das ist die doppelte Verwendung der Christologie als christlich-traditioneller Gehalt sowie als Aufweis der Wahrheit des Christentums. Die entscheidende Schwierigkeit besteht darin, die jeweilige Verwendung von Inhalten (wie hier des Bundes, der Offenbarung, des Reichs der Hoffnung, der Christologie, der Eschatologie oder anderer Gehalte) zu unterscheiden: Es gibt immer eine oberflächliche inhaltliche Verwendung, die Barth der christlichen Theologie im 19. Jahrhundert vorwirft, und es gibt eine auf das Vorliegen des Sprachspiels ,Religion‘ selbst bezogene reflexive Verwendung. Der Unterschied liegt allein in der Einstellung der Person, welche die Inhalte verwendet, wie Barth in diesen Jahren gerade in den bibelhermeneutischen Ausführungen immer wieder bemerkt.

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8.

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Christologie und Religionen: Anerkennung von radikaler Pluralität

Was bedeutet das Konzept einer reflexiven Durchsichtigkeit der Autonomie des christlich-religiösen Redens in der Christologie für das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen? Zunächst ist deutlich, dass das Christentum selbst auch eine Religion wie alle anderen ist. Nichts zeichnet inhaltlich die christlichen Gehalte aus. Ihre Erklärungs- und Rechtfertigungsversuche auf der Basis einer vermögenstheoretischen Religionsphilosophie sind überholt. Die christlichen Gehalte sind nicht mehr und nicht weniger Bilder für die Religiosität des Bewusstseins als die anderer möglicher Religionen auch. Die Theologie, die als verlängerter Arm einer solchen klassischen ausdrucksbezogenen Religionstheorie arbeitet, ist selbst nicht wahrheitsfähig, sie macht vielmehr die eigentliche Reflexivität der Religion in sich selbst unmöglich. Dagegen gilt es theologisch, nicht auf Begründung von Religion in einer Voraussetzung, sondern auf ihre Durchsichtigkeit im Vollzug hinzudenken. Theologie ist nicht das Beziehen von Religion auf ein Gegebenes, sei es Gott oder das religiöse Bewusstsein, sondern das Aufweisen reflexiver Strukturen im religiösen Vollzug selbst. Die wissenschaftliche Theologie, die nicht selbst auf der Ebene religiöser Aussagen verläuft, sondern alle religiösen Inhalte funktional aufklärt, konstruiert das Geschehen religiöser Rede als umfassenden Bezugspunkt der Unableitbarkeit und Absolutheit der Religion. Diese Durchsichtigkeit überträgt die Theologie auf das Christentum und versucht es als eine solche Religion zu beschreiben, die in sich ihr eigenes Religionsein durchschaut und auf der Ebene der christlichen Gehalte zur Anschauung bringt. Barth hat dabei sein Hauptaugenmerk auf die Differenz der Verwendung gelegt, die theologisch evoziert werden muss, damit die Reflexivität der Religion hinsichtlich ihres Funktionierens als ihr eigentlicher Sinn erkannt werden kann. Deshalb ist für ihn die Christologie und die Offenbarung der einzige Ort einer solchen systemreflexiven Besetzung der Verwendung der Gehalte. An dieser Stelle nun kann man sich fragen, wie damit heute umzugehen ist. Denn die Bindung von sprachspielbezogener Selbstdurchsichtigkeit an den Inhalt Jesus Christus kann nicht allgemeingültig sein, auch nicht die damit immer beschworene Bindung Gottes an das Auftreten Jesu Christi. Hierdurch wird das Bestehen einer selbstdurchsichtigen Deutungssprache auf das Christentum beschränkt. Das wird man sowohl im Hinblick auf die kulturellen Tätigkeits- und Deutungsfelder als auch im Hinblick auf die Religionen bestreiten müssen, oder besser, in den Kontext einer radikal pluralen globalen Kultur der Gegenwart stellen. Andere Religionen können in sich äquivalente Figuren und Inhalte für das entwickeln, was Barth mit der Christologie macht. Und im Hinblick auf die

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Tätigkeitsfelder, also Ethik, Politik, Kunst, Recht etc. ist das Beharren auf einer theologischen oder religiösen inhaltlichen Kritikfunktion heute auch obsolet. Die Kritik in diesen Feldern ergibt sich allein aus ihnen selbst und im Hinblick auf ihre Funktionen. Damit ist es klar, dass die Behauptung der Wahrheit des Namens Jesus Christus als letzter Rest einer christlichen kolonialen Überfremdung der Welt der Religionen verstanden werden kann, wie die Kritik seit den 70er Jahren immer wieder ausgeführt hat. Gleichwohl liegt diese Schwierigkeit so auf der Hand, dass zu überlegen ist, ob nicht die theologische Besetzung der Christologie noch mit einem anderen Sinn versehen werden kann. Dazu ist das von Barth konstruierte interne Verhältnis von Christuswirklichkeit und Christusbekenntnis aufschlussreich. Denn mit der Behauptung des Namens als einer unhintergehbaren Wirklichkeit für den Glauben wird die Kontingenz der Religion, ihre geist- und bewusstseinsbezogene Nichtnotwendigkeit anerkannt. Die Berufung auf den Namen, von dem die Kirche ausgeht, schließt die Möglichkeit einer vernünftigen Begründung der Allgemeingültigkeit der religiösen christlichen Rede aus. Zugleich weist aber die Setzung dieses Namens auf die Absolutheit und Voraussetzungshaftigkeit des Bestehens der christlich-religiösen Rede für das Bekenntnis in ihr hin. Das heißt: Das inhaltliche Funktionieren der religiösen Rede, die Suche nach neuen, gegenwartsbezogenen und zugleich identitätsverhafteten Symbolen, die immer stärker die Religionskritik in sich integrieren, ist immer schon bezogen auf das Funktionieren der religiösen Rede überhaupt. Insofern ist dieses, also das Einbezogensein jeder einzelnen religiösen Überzeugung in einen Traditionsstrom religiöser Rede (der sich auf ihr Funktionieren als religiöse Rede und nicht auf bestimmte Inhalte bezieht) für die Möglichkeit dieser einzelnen Überzeugungen entscheidend. Diese Voraussetzungsstruktur des Bestehens autonomer Sinnfelder für die Betätigung in ihnen, die dann in der Reflexion erst durchsichtig wird, wird mit der Berufung auf den Namen Jesus Christus anschaulich. Die Übertragung wäre dann so zu leisten, dass mit der Berufung auf die Offenbarung eine starke Autonomie und zugleich eine starke Kontingenz des Sinnfelds Religion in der christlichen Rede benannt würde. Insofern die vorausgesetzte Christologie (in der Wirklichkeit des Namens Jesus Christus, auf den die Kirche sich beruft) dann im Christusbekenntnis realisiert werden kann, wird zugleich die reflexive Absolutheit der religiösen Rede ermöglicht. Damit kann die Christologie so gelesen werden, dass sie in Bezug auf das Sinnfeld Religion in seiner christlichen Ausprägung die Autonomie und Kontingenz dieses Sinnfelds behauptet und zugleich als Norm ihrer inhaltlichen Verwendung, als Ermöglichung ihrer auf sich selbst bezogenen Absolutheit in der Durchsichtigkeit ihres (hermeneutischen) Funktionierens auf sich anwendet. Radikale Pluralität in einer Theologie der Religionen anzuerkennen, muss zugleich bedeuten, die Nichtnotwendigkeit der Religion und in-

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sofern die Berechtigung für irreligiöse Weisen der Lebensführung anzuerkennen und sie nicht durch hintergründige Vereinnahmungen wieder zu konterkarieren. Das bedeutet dann sowohl den Verzicht auf einen anthropologischen Religionsbegriff im starken Sinne als auch den Verzicht auf einen Ausgang bei der Wirklichkeit Gottes oberhalb der Religionen. Die Struktur kontingenter reflexiver Absolutheit kann damit im Kontext der Theologie, nämlich der religiösen Rede im Christentum, christlich bestimmt werden. Die Christologie ist die theologische Redeweise von dieser Struktur. Die Notwendigkeit der Behauptung Jesus Christus als Voraussetzung macht dann gerade auf die Bindung dieser Behauptung an das Christentum (und die Theologie) aufmerksam. Der Name Jesus Christus wird damit im eigentlichen Sinn zu einem Platzhalter für die Autonomie, Kontingenz, Absolutheit und Reflexivität anderer Sinnfelder, über deren inhaltliche Absolutheit von der Religion aus kein Urteil bestehen kann. Gerade weil Jesus Christus nicht als notwendiger Gedanke, nicht als Ausdruck des religiösen Bewusstseins und nicht als Gegenstand religiöser Erfahrung benannt wird, sondern in der Kontingenz der Berufung stehen gelassen wird, kann die Christologie als Modell starker Autonomie der einzelnen Deutungsfelder menschlicher Kultur verwendet werden. Die Berufung auf Jesus Christus kann aber im Kontext der Religionen damit in einem weiteren, die Religionstheologie der Gegenwart überholenden Sinn verschärft werden. Denn die Pluralität bezieht sich auch auf die Frage, was überhaupt Religion ist und wer sie bestimmt. Denn auch hier könnte die aus Barths Christologie gewonnene Weise wahrheitsfähiger Durchsichtigkeit religiöser Rede auf ihr Funktionieren hin ein viel zu christlich gedachtes Kriterium sein. Oder umgekehrt: Die Berufung Barths auf Christus weist auf eine spezifische Reflexivität und eine Form inhaltlicher Sinnautonomie hin, die möglicherweise nur der christlich-religiösen Rede eignet. Nicht nur, dass im Hinblick auf die Religionen die Frage nach dem, was eigentlich Religion ist, zu eng sein könnte. Vielleicht haben andere Religionen ein Verständnis von dem, was sie zur Religion macht, das mit dem christlichen, auf Wahrheit von Gehalten bezogenen, individualistisch-personalen Selbst- und Gottesbild gar nicht kompatibel ist. Gerade weil andere Religionen als in sich freie und absolute Varianten von funktionierender Lebensdeutung und sprachlicher Selbstverständigung anzuerkennen sind, ist der Verdacht nicht abzuweisen, dass sie vielleicht in sich ganz anders funktionieren und so ein anderer Fall von selbständiger, in sich funktionierender und kontingenter Deutungssprache für das Leben der Menschen in der Welt sind. Damit wird das in der empirischen Religionsforschung sowieso virulente Problem der Identifizierung von Religion im kulturellen Kontext verallgemeinert und zugleich die Möglichkeit absolut-reflexiver Selbsterschlossenheit der eigenen Kontingenz auf andere Formen kultureller menschlicher Selbstdeutung und Sprachen von Sinnerfahrung (seien sie nun Religion oder auch nicht) ausge-

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dehnt. Damit sind die klassischen Marker wie Transzendenzbezug und Differenz von Gott und Welt als für einen strikt allgemeinen Religionsbegriff untauglich und als christliche Entwicklungen bezeichnet. Gleichwohl hängt die Wahrheit der Religionen bzw. der entsprechenden symbolischen Erzählungswelten vom Sinn des Lebens nicht an Gott oder Transzendenz, sondern allein an der in sich selbst überzeugenden Form der Sinnvermittlung, an der die jeweiligen Menschen teilhaben. Ein Dialog der Religionen über Wahrheit und Gott wäre dann nur eine Ablenkung, ein möglicherweise von christlicher Seite aus in kolonialisierender Absicht übergestülptes Ansinnen. Selbst die sogenannte Theologie der Religionen wäre dann ein theologisches Konstrukt zur Absicherung der eigenen Deutungshoheit. Darauf scheint die inklusivistische Konstruktion des Gottesgedankens zu deuten, der als inhaltliche Verallgemeinerungsformel dieser Religionstheologie funktioniert. Möglicherweise ist sowohl das gemeinsame Beten der Religionen, die Herausbildung einer eigenen ökumenischen Theologie, aber auch die ,pluralistische‘ Religionstheologie der Gegenwart nicht wirklich etwas die bestehenden Religionen Verbindendes, sondern nur ein weiterer Fall von eigenständiger, anhand eigener Probleme und Fragen funktionierender Religions- und Reflexionsstiftung. Dagegen gilt es die radikal pluralistische Frage zu stellen, ob nicht eine christologische Anerkennung der Verschiedenheit (die als christologische die Anerkennung der Autonomie und inneren Wahrheit des Verschiedenen bedeutete) der richtige Weg wäre. Wichtiger wären dann die pragmatischen Anerkennungen von Recht und Politik als gemeinsamen Leitlinien des Zusammenlebens in einer pluralistischen Welt, die von jeder der Religionen eingefordert werden könnte, unbeschadet ihrer internen Überzeugungen. Karl Barth hat auch diese Notwendigkeit (der Anerkennung der Systemdifferenzen), wie seine politische Ethik zeigt, mit dem Namen Jesus Christus verschlüsseln können. Denn dass es Christus ist, der den Staat trägt, hieße dann gerade, dass es eben nicht die Christen und das christliche Bekenntnis sind, die den Staat tragen, sondern dass es Aufgabe der Christen (vom religiösen Standpunkt aus gesehen) nur sein kann, den Staat in seiner andersartigen Autonomie als vorausgesetzt zu akzeptieren. Dieses Modell radikaler Anerkennung von möglicher Autonomie (die zugleich die Möglichkeit ließe, dass in dem fremden Sprachspiel ein eigener Diskurs über die jeweilige ,Wahrheit‘ als innere Norm seines Funktionierens stattfindet) wäre dann auch auf andere Religionen zu übertragen – und zwar gerade so, dass die Frage, ob es sich hier überhaupt um Religionen im christlichen Sinn handelt, in der reinen Anerkennung (,in Christus‘) ihres Funktionierens für ihre Partizipanten zurückgestellt wird.

II Religionen

Martin Leiner

Karl Barth und die jüdische Religionsphilosophie

1.

Zwei getrennte Diskurse

1.1 Der vorliegende Aufsatz hat das Ziel, einen Überblick über Karl Barths Verhältnis zur jüdischen Philosophie des 20. Jahrhunderts zu geben.1 Zunächst ist dabei die Getrenntheit der Diskurse in den Blick zu nehmen. Sie betrifft zunächst den Umstand, dass Barth als Theologe schreibt und die jüdischen Religionsphilosophen als Philosophen. Obwohl das Verhältnis von Theologie und Philosophie von allen Autoren unterschiedlich bestimmt werden, bemühte sich Barth genauso wie die jüdischen Philosophen um eine klare Unterscheidung von Philosophie und Theologie.

1.2 Franz Rosenzweig möge als Beispiel angeführt werden: „Viel Predigen macht den Leib müde“2, diese Bibelstelle aus Kohelet 12, 12 stellt Franz Rosenzweig seiner Besprechung eines Buches des Bonner Rabbiners Emil Cohn voran. Das 1923 von Rosenzweig rezensierte Werk trägt den Titel Judentum. Ein Aufruf an die Zeit3. Rosenzweigs Vorwurf lautet: der Autor predigt. Predigen ist nach 1 Barth wurde nicht nur beeinflusst von jüdischen Philosophen, sondern auch von Vertretern der Wissenschaft des Judentums, Professoren für Judaistik oder auch von jüdischen Schriftstellern und Forschern. Der vorliegende Aufsatz konzentriert sich auf jüdische Philosophen des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts, die auf Barth eine Wirkung ausgeübt haben. Autoren wie Spinoza, Baeck, Freud oder Taubes müssten eigens untersucht werden. 2 Der Text ist abgedruckt in: Franz Rosenzweig, Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie, hg. v. G. Berlin, Wien 2011, 74–80, 74. 3 Emil Ludwig Cohn, Judentum. Ein Aufruf an die Zeit, München 1923.

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Rosenzweig eine „schwere Gefahr“4, „ein Laster“5, die „schlimmste Verführung“6, der gerade Rabbiner besonders leicht anheimfallen. Einige Passagen findet Rosenzweig „grauenhaft“7, gleich zu Anfang häufe Cohn „so unbeschreiblich viel Widerwärtiges an“8. Emil Cohn hat, wie Rosenzweig eingesteht, viel Wahres und Richtiges geschrieben, aber seiner Meinung nach in einem ganz unangemessenen Predigtstil. Was findet Rosenzweig am Predigen so schlimm? Seine Antwort lautet: ihm fehlt der dialogische Austausch mit dem anderen. Er schreibt: „Predigen ist nicht Sprechen. Es fehlt der andre, der Mitunterredner. Es fehlt […] die Veranlaßtheit und Unmittelbarkeit des Worts. […] Der Prediger tut so, als ob man ihn gefragt hätte. Aber es hat niemand gefragt. Und so wird auch von inhaltswegen alles, was er sagt, hohl.“9 Das Rosenzweig-Zitat macht uns die Größe der Entfernung zwischen der jüdischen Religionsphilosophie und Karl Barth deutlich, der wie kaum ein anderer großer Theologe im 20. Jahrhundert, die Aufgabe der Theologie mit der Aufgabe der Predigt zusammengesehen, ja gelegentlich identifiziert hat. Die jüdischen Religionsphilosophen und Barth trennen unterschiedliche Disziplinen und entgegengesetzte Bewertungen der Predigt, oder wenn man Martin Buber hinzunimmt: der Lehre. „Unter Theologie läßt sich doch wohl nur eine Lehre von Gott verstehen, sei es auch nur eine ,negative‘, die dann etwa, statt als Lehre vom Wesen Gottes, als Lehre vom Worte Gottes, dem Logos, auftritt. Ich aber bin durchaus nicht befähigt noch auch befugt, so oder so von Gott zu lehren.“10 „Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.“11

1.3 Die jüdischen Religionsphilosophen und Barth gehören zu getrennten Milieus, die sich selten getroffen haben. Es gab fast keine persönlichen Begegnungen zwischen den jüdischen Religionsphilosophen und Barth. Keine Gespräche, keine Einladungen, mal der Besuch bei einem Vortrag, mal ein Brief, aber keine längeren Briefwechsel. Wenn Barth einen jüdischen Religionsphilosophen gelesen hat, so wie er dies nachweislich mit Martin Bubers Ich und Du getan hat, 4 5 6 7 8 9 10

Rosenzweig, Zweistromland, 74. Ebd. AaO., 75. AaO., 79. AaO., 76. AaO., 75. Martin Buber, Aus einer philosophischen Rechenschaft, in: Ders., Martin Buber Werke, Bd. I: Schriften zur Philosophie, München/Heidelberg 1962, 1109–1122, 1112 [ursprl.: Die Neue Rundschau 72, 1961, H.3]. 11 AaO., 1114.

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dann ist seine Lektüre so ungenau, dass man, wie der dänische Theologe Hans Vium Mikkelsen in seinem 2010 publizierten Buch Reconciled Humanity12 festgestellt hat, kaum von einem Verstehen sprechen kann. Auch die jüdischen Religionsphilosophen haben Barth zumeist nur in seinen Publikationen unmittelbar vor und nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in etwa bis zur zweiten Auflage des Römerbriefs wahrgenommen und ihr Bild von Barth auf diese frühe dialektische Theologie aufgebaut, ohne Barths Weiterentwicklungen hinreichend zur Kenntnis zu nehmen. Dies hat der Bonner Systematische Theologe Andreas Pangritz in einem Aufsatz für Walter Benjamin und Scholem nachgewiesen;13 es gilt auch für Adorno und selbst für Buber.

1.4 Barth schreibt als christlicher, genauer als reformierter evangelischer Theologe, während die jüdischen Religionsphilosophen nicht einfach Religionsphilosophen waren, die ,nebenbei‘ auch Juden waren, sondern von ihrer Lesart des Judentums tief geprägte Philosophen. Selbst bei Hermann Cohen wird man im Gegensatz zu Franz Rosenzweigs einflussreicher Deutung aber mit Helmut Holzhey und der neuen Konzeption der Kritischen Cohen-Werkausgabe davon ausgehen können, dass das Judentum für seine gesamte philosophische Entwicklung eine Rolle spielte, nicht erst für seine im Alter verfassten Schriften. Auch liberale, am Dialog mit anderen Religionen interessiert jüdische Religionsphilosophen waren Juden und keine Christen. Martin Buber etwa sammelte offensichtlich amüsiert und kopfschüttelnd Postkarten, in denen Christen ihm frohe Weihnachten wünschten. Er fand es offenbar im unmittelbaren Wortsinne merkwürdig, dass einige Menschen sein Judesein nicht wahrnahmen. Barth gehört nicht zu diesen Christen. Er nahm die jüdischen Religionsphilosophen, die ihm begegneten, als Juden wahr. Diese Wahrnehmung war aber zuerst und vor allem eine Differenzwahrnehmung.

1.5 Die Rezeption jüdischer Religionsphilosophen erfolgte bei Barth vor allem durch Lektüre und das Gespräch mit Freunden und Mitarbeitern, die sich mit diesen 12 Hans Vium Mikkelsen, Reconciled Humanity. Karl Barth in Dialogue, Grand Rapids 2010. 13 Vgl. Andreas Pangritz, Musste „die Opposition fast durchgehend“ sein? Zu Walter Benjamins und Gershom Scholems Wahrnehmung Karl Barths und der ,dialektischen Theologie‘, in: Daniel Weidner (Hg.), Profanes Leben, Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung, Frankfurt a.M. 2010, 301–324.

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Denkern näher beschäftigt hatten. An Schriften zeitgenössischer jüdischer Religionsphilosophen gelesen hat Karl Barth zumindest: (a) mehrere Schriften von Hermann Cohen. In Eberhard Buschs Biographie steht der sich auf den Sommer 1910 beziehende Satz: „Anschließend verbrachte Karl mit seiner Großmutter die Ferien, in denen er ausgiebig Cohen las.“14 (b) Martin Bubers Ich und Du (1923), von dem ein starke Anstreichungen aufweisendes Exemplar im Barth-Archiv in Basel vorhanden ist, andere, vor allem exegetische Schriften von Buber, die Barth in der Kirchlichen Dogmatik zitiert, sowie (c) Hans-Joachim Schoeps’ Jüdischer Glaube in dieser Zeit (1932). Dieses Buch steht mehr am Rande unserer Thematik, weil es ausdrücklich eine systematische Theologie des Judentums zu sein beansprucht.

1.6 Weitere Lektüren zeitgenössischer jüdischer Philosophen kann man meines Wissens nicht sicher nachweisen. Anspielungen, die es durchaus auch auf andere jüdische Autoren gibt, könnten auf Hinweisen in Gesprächen oder auf der Zuarbeit von Charlotte von Kirschbaum beruhen. Dies ist vor allem für Franz Rosenzweig bemerkenswert und erstaunlich. Die Lektüre Franz Rosenzweigs wurde Barth eindringlich von dem niederländischen Theologen und Freund Kornelis Heiko Miskotte ans Herz gelegt. Rinse Reeling Brouwer stellte 2012 in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Dialektische Theologie15 die zahlreichen Versuche Miskottes zusammen, in denen er Barth aufforderte nun endlich den Stern der Erlösung zu lesen. Die erste briefliche Aufforderung stammt vom 16. Mai 1936, die letzte datiert auf 1957, als Miskotte Barth sogar eine Zitatensammlung mit Rosenzweigzitaten schickt. 1956 schreibt Miskotte etwa: „Jetzt […] noch eine alte Frage (welche schon via Merz und später via Wilhelm Vischer an dich weitergegeben ist) worauf ich jetzt zurück zu kommen wage, nämlich warum weigert Karl Barth sich Rosenzweigs Stern der Erlösung zu lesen? Von 1928 an hämmere ich darauf! Wenn du jetzt eine Art Ferien oder Pause machst, vertiefe dich, bitte, einmal in dieses ganz große Buch.“16 Der so gedrängte Barth erbat sich zunächst eine Zitatensammlung, konnte damit aber auch nicht viel 14 Eberhardt Busch, Karl Barths Lebenslauf nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1978, 68. 15 Rinse Reeling Brouwer, „Glauben Sie denn im Ernst, die Juden müssten uns lehren, die Bibel zu verstehen?“ – Eine systematische Analyse von Miskottes Versuch einer Antwort an Barth, in: ZDT 28, 2012, 60–85. 16 Kornelis Heiko Miskotte, Brief an Karl Barth vom 9. 6. 1956, in: Briefwechsel Karl Barth–Kornelis H. Miskotte 1924–1968, hg. v. H. Stoevesandt, Zürich 1991, 76–80. 79 [Hervorhebungen im Original; ML].

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anfangen und antwortet auf diese, dass er mit Rosenzweigs Sprache seine Schwierigkeiten habe und es ihm lieber wäre, wenn Miskotte ihm in eigener Sprache mitteilen würde, was er von dem jüdischen Religionsphilosophen lernen solle. Dies wiederum unterlies der wohl erschöpfte Miskotte. Den Stern der Erlösung hat Barth offenbar nie gelesen.

1.7 Die Trennung zwischen Barth und den jüdischen Religionsphilosophen von Barths Seite betrachtet, betraf noch mehr die direkten Kontakte. Karl Barth begegnete jüdischen Religionsphilosophen selten unmittelbar. Es waren zumeist Menschen in Barths Nähe, die den jüdischen Denkern näherstanden als er. Miskotte stand Rosenzweig näher. Cohen näher als Karl Barth stand sein jüngerer Bruder Heinrich Barth (1890–1965; Professor für Philosophie in Basel von 1928–1960). Heinrich Barth studierte in Marburg bei den Neukantianern Natorp und Cohen und kann geradezu als ein Schüler Hermann Cohens angesehen werden. Martin Buber stand bereits früh in engerem brieflichen Kontakt mit Eduard Thurneysen. Charlotte von Kirschbaum war von einem Vortrag Bubers, den sie besucht hatte, begeistert. Vergeblich bemühte sich Fritz Lieb, der Karl Barths Vikar und in Bonn sein Kollege gewesen war, ein Treffen zwischen Barth und Walter Benjamin zu arrangieren.17 Auch mit Hans Joachim Schoeps kam es nur zu kurzen und zufälligen Begegnungen.

1.8 Der alte Karl Barth gesteht in dem berühmten Brief an Friedrich-Wilhelm Marquardt vom 5. September 1967: „Das biblische Israel als solches gab mir soviel zu denken und zu verkraften, dass ich einfach die Zeit und auch das geistige Fassungsvermögen nicht fand, mich auch noch mit Baeck, Buber, Rosenzweig usw. näher zu beschäftigen. […] Ich bin insofern entschieden kein ,Philosemit‘, als ich in der persönlichen Begegnung mit dem lebendigen Juden (auch Judenchristen!), solange ich denken kann, immer so etwas wie eine völlig irrationale Aversion herunterzuschlucken hatte – (die ich) natürlich von all meinen Voraussetzungen her sofort herunterzuschlucken und gänzlich zu verdecken wusste, aber eben doch herunterzuschlucken und zu verdecken hatte. Pfui! Kann ich zu diesem

17 Vgl. Chryssoula Kambas, Fritz Lieb und Walter Benjamin, in: Manfred Karnetzki/KarlJohann Rese (Hg.), Fritz Lieb. Ein europäischer Christ und Sozialist, Berlin 1992, 69–85.

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meinem gewissermaßen allergischen Reagieren nur sagen. Aber es war und ist nun einmal so.“18

Betrachtet man diese sehr eingeschränkte Rezeption der jüdischen Religionsphilosophie durch Barth und die nicht minder begrenzte Rezeption Barths durch jüdische Religionsphilosophen, dann wird man sich wundern, warum in diesem Thema für viele christliche wie jüdische Theologen, Philosophen, Kulturwissenschaftler ein so großer Reiz steckt. Warum werden bis heute immer wieder neue akademische Arbeiten zu Barth und Buber, Barth und Cohen, Barth und Rosenzweig, Derrida oder L8vinas verfasst? Meine These wird sein: Die Antwort ergibt sich aus der inhaltlichen Bedeutung des Austausches, der obgleich auf wenige Themen beschränkt, sehr Grundsätzliches und Wichtiges betraf.

2.

Zum Austausch zwischen Barth und jüdischen Religionsphilosophen

2.1 Drei konkrete Begegnungen zwischen Karl Barth und der zeitgenössischen jüdischen Religionsphilosophie waren von größerer Intensität und längerer Wirkung: (a) Eine Leseerfahrung, nämlich Barths Rezeption von Hermann Cohen und des Gedankes des Ursprungs; (b) Barths persönliche Begegnung und Vergegnung mit dem Patmoskreis und das Verständnis von negativer Dialektik und (c) eine zweite Leseerfahrung, nämlich Martin Bubers dialogisches Denken. Die Begegnungen haben im Wesentlichen mit drei innovativen Themen zu tun, die für Theologie und Philosophie im 20. Jahrhundert gleichermaßen von Bedeutung sind: Ursprungsdenken, negative Dialektik und Dialogisch-relationales Denken.

2.2 Ursprungsdenken. Der Marburger Student Karl Barth suchte seine eigene Theologie in der Zeit 1908/9 auf Gedanken von Wilhelm Hermann aufzubauen und diese mit Einsichten Hermann Cohens und Ernst Troeltschs weiterzuentwickeln. Deshalb besuchte er im Wintersemester 1908/9 Cohens Vorlesung ,Psychologie als Enzyklopädie der Philosophie‘. 1910 folgte der bereits erwähnte 18 Karl Barth, Brief an Friedrich-Wilhelm Marquardt vom 5. 9. 1967, in: Ders., Briefe 1961– 1968, GAV.6, hg. v. J. Fangmeier/H. Stoevesandt, Zürich 1979, 420f [Klammern im Original; ML].

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Sommer mit intensiver Cohenlektüre. Nach einer gewissen bis 1918 reichenden Latenzphase erscheint im Durchbruch zur dialektischen Theologie in den Römerbriefen einer der zentralen Begriffe Cohens: Ursprung. Er findet sich etwa an der berühmten Stelle im Vorwort zur zweiten Auflage des Römerbriefs: „,Gott ist im Himmel und Du auf Erden‘ [vgl. Pred 5, 1]. Die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in Einem. Die Philosophen nennen diese Krisis des menschlichen Erkennens den Ursprung. Die Bibel sieht an diesem Kreuzweg Jesus Christus.“19 Die Barthforschung – Spiekermann, Anzinger, Korsch und Lohmann20 – sehen die massive Bedeutung des Ursprungsdenkens bei Karl Barth durch den Cohenschüler und jüngeren Bruder Heinrich Barth vermittelt. Dieser hatte 1919 in Aarau auf einer Studentenkonferenz im Beisein seines Bruders Karl einen geradezu enthusiastischen Vortrag mit dem Titel Gotteserkenntnis gehalten, der im Ursprungsdenken nicht weniger als die Erlösung aus den Problemen des gegenwärtigen Denkens findet. Das gegenwärtige Denken sieht er gefangen in historischem Relativismus und durchgehendem physischen Entwicklungsdenken, welches auch das Jenseits zu einem Stück Welt macht. Nicht nur der auf mechanischer Grundlage ruhende, siegreiche Kapitalismus, wie Max Weber in seinem berühmten Diktum vom „stahlharte[n] Gehäuse“21 gesagt hat, auch die auf weitgehend auf Mechanik aufgebaute Wissenschaft hat das 19. Jahrhundert zu einer Art Gefängnis der Immanenz gemacht. Alles schien als durchgängiger Zusammenhang von Kausalitäten, Dependenzen und Entwicklungen erklärbar geworden zu sein. Heinrich Barth schreibt: „Adäquate Deutung des Geisteslebens verlangt das Zurückgehen an einen Ort, der allen Weltsphären und Seinszusammenhängen physischer und psychischer Art prinzipiell enthoben ist, diese zentrale Wahrheit bringen wir dahin zum Ausdruck, dass Erkenntnis als ursprünglich anerkannt wird; sie findet ihre Begründung in der einzig legitimen, echten und wahren Transzendenz des Ursprungs. Ohne Autonomie, ohne Begründung im Ursprung der Idee, wird der Geist zu einer Kraft unter Kräften in der reichbelebten Welt physischer, metaphysischer, religiöser, romantischer Mächte und Gewalten. Man mag sich des Gewimmels freuen. Allein der Geist geht seiner selbst verlustig: denn er ist beraubt des Gedankens, beraubt des eigenen, weltüberlegenen Gesetzes, beraubt seiner göttlichen Selbstherrlichkeit. Im Ursprung ist der archime19 Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) (1922), in: Ders., GA II.47, hg. v. C. van der Kooi/K. Tolstaja, Zürich 2010, 17 [ursprl. München 1922 [eigentl. 1921]]. 20 Vgl. Johann Friedrich Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im ,Römerbrief‘ und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths, Berlin/New York 1995. 21 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Religion und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Frankfurt a.M., o. J., 11–290, 180 [ursprl. Tübingen 1920, 1–206].

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dische Punkt gefunden, von dem aus das Schwergewicht der Physis prinzipiell überwunden wird; an ihm wird sich ein neues Denken, eine neue Philosophie in jedem Schritte, den sie unternimmt, zu orientieren haben.“22

Heinrich Barth geht wie Hermann Cohen davon aus, dass Ursprung zunächst ein logisches Prinzip sei. Dieses Prinzip wird aber seine Fruchtbarkeit in Ethik, gelebter Existenz, Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie zeigen. Freiheit als Fähigkeit alles zu negieren und radikal neu anzufangen ist die Wirklichkeit, an der in der Philosophie der Ursprung erfahren wird. „Dem Ursprung wird die Logik und die Wissenschaft gerecht, indem sie die Gegebenheit der Inhalte einer radikalen Negation unterwirft, um sie eigengesetzlich neu aufzubauen. Er wird so zum unumgänglichen Durchgangspunkt einer zunächst negativen und dann umso unbedingter positiv gerichteten Geistesbewegung. Einen scheinbaren Nullpunkt müssen wir erreichen, um die letzte Voraussetzung aller aufbauenden Arbeit zu gewinnen. […] Das gesamte soziale Leben wird prinzipiell unter den Gesichtspunkt der Revolution gestellt; denn geschichtliches Geschiebe hat kein Eigenrecht und erwartet nicht mehr, als in den Schmelztiegel geworfen zu werden.“23

Die eigentliche logisch-mathematische Argumentation für den Ursprungsgedanken findet man nur, wenn man zu Hermann Cohen zurückgeht von der Lektüre der Barthbrüder und der anderen Dialektischen Theologen, von denen Gogarten und Brunner sich ebenfalls den Ursprungsgedanken zu eigen gemacht haben. 1883 hat Hermann Cohen eine Studie veröffentlicht mit dem Titel Prinzip der Infinitesimalmethode.24 In dieser Schrift legt Cohen dar, dass die klassische, von Leibniz entwickelte Mathematik Funktionen kennt, die den Übergang eines Wertes Null zu positiven Werten erlaubt und die sogar die Unendlichkeit mit einschließen. Es ist die Infinitesimalrechnung mit ihren Grenzwertbildungen gegen 0 oder gegen unendlich. Was hier gesagt wird, gilt im Grunde für alles Rechnen mit Funktionen im Koordinatensystem. Die Funktion F(x)= sin x hat beispielsweise im Ursprung des Koordinatensystems sowohl auf der x wie auch auf der y-Achse den Wert 0. Es ergeben sich aber positive Werte sowohl auf der xwie auf der y-Achse, wenn die Funktion weiter verfolgt wird. Dies widerspricht dem entwicklungstheoretischen Denken mit seinem Grunddogma: ex nihilo nihil fit – aus Nichts wird nichts. Die Infinitesimalmethode erlaubt es, mathematisch den Übergang von etwas nicht Fassbarem zu etwas Quantifizierbarem zu beschreiben. In der 2013 erschienenen Neuausgabe dieser Schrift hebt Astrid 22 Heinrich Barth, Gotteserkenntnis, in: Jürgen Moltmann (Hg.), Die Anfänge der dialektischen Theologie, Bd. I, München 1977, 221–255, 238 [ursprl. Vortrag auf der Aarauer Studentenkonferenz 1919, Basel 1919]. 23 AaO., 238f. 24 Hermann Cohen, Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik, Wien 2013.

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Deuber-Mankowsky in ihrer Einleitung25 hervor, dass Cohens Gedanken über die Infinitesimalmethode dazu geeignet sein können, menschliche Freiheit und Gehirnforschung zu verbinden. Etwas, was physikalisch nicht messbar ist, kann Ursprung einer Funktion sein, die sich im Physikalischen zum Ausdruck bringt. Die Infinitesimalmethode erlaubt es, das Entstehen von Etwas aus dem (auf physischer Ebene) Nichts, die creatio ex nihilo zu denken. Die jüdisch-christliche Lehre von der Weltschöpfung, die Möglichkeit des radikal Neuen, der Umkehr, der Offenbarung und Neuschöpfung wird von Cohen durch eine mathematische Analogie plausibel gemacht, ohne dass auf eine verdinglichende Sicht einer metaphysischen Über- oder Hinterwelt zurückgegriffen wird. Hierin liegt das Befreiende und Rettende des Ursprungsgedankens. Entgegen neurologischphysischer-kausaler Determinierung hält er die Möglichkeit der Freiheit als radikaler Negation fest, entgegen der Allmacht historischer Korrelation und Dependenz hält er fest, dass es eben doch unter dem Himmel etwas radikal Neues geben kann, den Einbruch einer anderen Dimension, den Geist, den ganz Anderen wirkend in der Welt, wenn man so will: das Wunder. In gewisser Weise ist die Theologie, die Karl Barth, insbesondere in der zweiten Auflage des Römerbriefs entwirft, die christlich-theologische Entsprechung zu Hermann Cohen.26 Der Vortrag Gotteserkenntnis hat Karl Barth die Erkenntnis eröffnet, dass das Gottesreich totaliter aliter, ganz anders ist.27 Ist für Cohen die aus den Quellen des Judentums gebildete Religion der Vernunft das Absolute, das jenseits des historischen Relativismus den Menschen unbedingt zu binden vermag, so ist es für Karl Barth die Offenbarung als Präsenz des Absoluten im Endlichen, das als Begrenzung und als Infragestellung wirkt. Noch in seinen in Münster 1928 gehaltenen und 1930 in Bonn wiederholten Vorlesungen zur Ethik äußert sich Barth zu den Grenzen der Mathematik in der Rede vom Ursprung: „Alles Sein aber ist – keine noch so klare und gewisse Feststellung kann von dieser Bedingtheit freisprechen, bei der Mathematik als der scheinbar klarsten und gewissesten aller Wissenschaften wird das gerade am deutlichsten – als wahres Sein […] nicht in sich selbst begründet, sondern in der Hypothesis, in der Voraussetzung des Seins, die selber – wenn nicht dieselbe Frage ins Unendliche sich wiederholen soll – nicht wieder als seiend, sondern nur als nicht-seiend, nicht als Anfang, nicht als Quelle, nicht als mütterlicher Urgrund des Seins, sondern nur als seine Negation und Position, als sein reiner, in keiner Kontinuität als der des Schöpfers zu Geschöpf mit ihm ste25 AaO., 7–70. 26 So auch Dietrich Korsch, Hermann Cohen und die protestantische Theologie seiner Zeit, in: Ders., Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996,41–73, 71 [ursprl. in: ZNThG 1, 1994, 66–96]. 27 Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 31978, 121.

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hende Ursprung des Seins gedacht werden kann, den auf der allgemeinen und theoretischen, der mathematischen und physikalischen, historischen und psychologischen, aber auch der metaphysischen oder metapsychologischen Wahrheiten, den auf empirischem oder spekulativem Weg aufzusuchen unmöglich ist.“28

2.3 Negative Dialektik: Hermann Cohen war der erste Jude, der in Deutschland einen philosophischen Lehrstuhl innehatte. Er hat darum alle jüdischen Denker in gewisser Weise geprägt, gerade auch dann, wenn sie sich von ihm abzusetzen suchten. Bei Franz Rosenzweig und Walter Benjamin kann man diese Absetzung besonders gut beschreiben. Eine Veränderung, die Rosenzweig gegenüber Cohen kritisch vornahm, war die Betonung von Gottes Offenbarung als Ereignis des Ursprungs in der Zeit, darin stand er Barth nahe. Zusammen mit der Verbindung von Zeit und Ursprung erhielt auch die negative Seite der Dialektik eine größere Bedeutung als sie unmittelbar aus Cohens Ursprungsdenken hätte abgeleitet werden können. In der Zeit ist der Ursprung vor allem das Hereinbrechende, Fremde, ganz Andere. Die jüdischen Religionsphilosophen sind deshalb ein Gesprächspartner neben anderen für Barths Dialektik. Rosenzweig sah schon sehr früh, wie später Barth, im Gebrauch des Religionsbegriffs mit seinen subjektivistischen Implikationen eine tödliche Gefahr für Glaube und Theologie. Rosenzweigs Essay Atheistische Theologie29 von 1914 klingt fast wie eine Antizipation von Barths Denken. Rosenzweig war auch Mitglied des Patmoskreises, zwischen dem und Karl Barth es im Anschluss an den Tambacher Vortrag 1919 zu einer intensiven Annäherung und wenig später zu einer ebenso intensiven Trennung kam. Weitere Mitglieder des 1919 gegründeten Patmoskreises waren Eugen Rosenstock-Huessi und Hans Ehrenberg. Der Patmoskreis gewann Barths Tambacher Vortrag als Band 1 in seinem Publikationsorgan Bücher vom Kreuzweg, wo Der Christ in der Gesellschaft mit einer Einleitung von Hans Ehrenberg erschien. Man kann vermuten, dass die Mitglieder des Patmoskreises Barth über die Schrift Atheistische Theologie von Rosenzweig erzählt haben. Für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich, boten die Mitglieder des Patmoskreises Barth das ,Du‘ an. Barth hatte freilich bald das Gefühl, der mit prophetischem Selbstbewusstsein auftretende Kreis überschütte ihn mit seiner ,Gnosis‘. Es kam zu einem schmerzlichen Zusammenstoß mit 28 Karl Barth, Ethik I. Vorlesung Münster Sommersemester 1928, wiederholt in Bonn, Sommersemester 1930., GA II.2, hg. v. D. Braun, Zürich 1973, 106. 29 Franz Rosenzweig, Atheistische Theologie, in: Ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. III: Zweistromland. Glauben und Denken, hg. v. R. Mayer/A. Mayer, Dordrecht 1984, 687–697.

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Eugen Rosenstock-Huessi, der Barth vorhielt, er übersehe, was die Offenbarung an Natürlichem stehenließe. In Briefen kommt es geradezu zu Beschimpfungen.30 Rosenstock-Huessi nennt Barth den „Scheinpfarrer von Safenwil“, der nur „Studierstubenweisheit“31 predige. Barth sei für den Patmoskreis nicht interessant, da, wie Rosenstock-Huessi schreibt, „wir Deine Position in der unsrigen enthalten und überwunden finden“32. Hans Ehrenberg wagt gar das Bild: Barths Theologie sei wie die Sintflut, der Patmoskreis sei wie der Regenbogen am Ararat, wo die Mitglieder des Kreises auf Barth warten.33 Nach solchen Worten kam es zwischen Barth und dem Patmoskreis zu dem, was man in der Konfliktforschung einen frozen conflict nennt. Kontakte wurden eingestellt, keiner revidierte mehr sein Bild des anderen, sondern blieb bei seiner negativen Sicht. Auch Rosenzweig hat seine grundlegende Haltung zu Barth mehr oder weniger von Rosenstock-Huessi übernommen. Er versucht sich immerhin noch selbst eine Meinung zu bilden. Nach der Lektüre in der zweiten Auflage des Römerbriefs schreibt Rosenzweig an Martin Buber im Dezember 1922: „Zwischen Jehuda Halevi hinein lese ich Barths zweite Auflage des Römerbriefs oder eigentlich ich lese drin. Aber doch mit Bewunderung für diese Fähigkeit, aus einer reinen Negation so viel zu machen, dass das Buch an keiner Stelle […] gleichgültig wird. Aber verstehen Sie, warum er nun eigentlich Christus und überhaupt die Offenbarung noch anerkennt? […] Hinter jedem Paradoxon Kierkegaards spürt man biographische Absurda – und deshalb muß man ihm credere. Während man hinter den Barthschen Kolossalnegationen nichts spürt als die Wand auf der sie gemalt sind, und diese Wand ist tüncheweiß – ein sehr tadelloses und wohlgeordnetes Leben.“34

In diesem Zusammenhang fällt auch die Aussage, Rosenzweig sei zehn Jahre lang Barthianer gewesen – er war es also bevor er Atheistische Theologie schrieb und somit Barthianer avant la lettre, sogar avant Barth selbst! Rosenstock-Huessi habe ihm aber seinen Barthianismus herausoperiert. Dieses Urteil, Barth betreibe allein negative Kritik des Endlichen wird traditionsbildend für jüdische Philosophen, ebenso wie für Paul Tillich, der 1923 Karl Barth vorhält allein ein kritisches, aber kein positives Paradox zu vertreten.35 Kierkegaardnachfolge, 30 Vgl. Franz Rosenzweig, Brief an Martin Buber vom 20. 12. 1922, in: Ders., Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. I/2: Briefe und Tagebücher 1918–1929, hg. v. R. Rosenzweig/E. Rosenzweig-Scheinmann, Den Haag 1979. 31 Die Zitate sind aus: Eugen Rosenstock, Brief an Karl Barth vom 18. 1. 1919 (im Bartharchiv); zit. nach Eberhard Busch, Barth – ein Portrait in Dialogen, in: Ders., Von Luther bis Benedikt XVI, Zürich 2015, 162. 32 Eugen Rosenstock, Brief an Karl Barth vom 18. 3. 1920; zit. ebd. 33 Vgl. Hans Ehrenberg, Brief an Karl Barth vom 26.8.19 20; zit. ebd. 34 Franz Rosenzweig, Brief an Martin Buber vom Dezember 1992; zit. ebd. 35 Vgl. Paul Tillich, Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten, in: Ders., Gesammelte Werke , Bd. VII: Schriften zur Theologie 1, hg. v. R, Albrecht, Stuttgart 1962, 216–225; auch abgedruckt in Jürgen Moltmann (Hg.),

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reine Negativität und ein gewisser existentialistischer Protestantismus, das sind Kritiken, die Rosenzweig, Gershom Scholem oder auch Walter Benjamin über Barth äußern. Noch in den 1960er Jahren ist Adorno schnell fertig mit Barth, indem er 1966 in der Beilage zur Neuauflage seiner Kierkegaarddissertation Kierkegaard noch einmal schreibt: „Die gesamte dialektische Theologie war Kierkegaard-Nachfolge; in Karl Barth auch die seiner Unbeirrbarkeit.“36

2.4 Als bleibend wertvoll und wichtig kann man ansehen, dass auf beiden Seiten Formulierungen dialektischen Verständnisses von Offenbarung gefunden wurden, die es erlauben philosophisch und theologisch präziser zu sprechen. Auf Seiten der jüdischen Philosophen ist an Adornos Negative Dialektik zu denken, besonders aber auch an die von Walter Benjamin und Adorno37 geschätzte Formulierung Scholems, dass das absolut Konkrete das Unvollziehbare schlechthin ist. In seiner Antwort auf die von Karl Barth beeinflusste Schrift Jüdischer Glaube in dieser Zeit des jüdischen Gelehrten Hans-Joachim Schoeps hatte Gershom Scholem in einem offenen Brief formuliert: „Nichts nämlich […] ist, auf historische Zeit bezogen, mehr einer Konkretisation bedürftig als eben die (um Ihre [sc. Schoeps’] Worte zu benutzen) ,absolute Konkretheit‘ des Offenbarungswortes. Ist doch das Absolut-Konkrete das Unvollziehbare schlechthin. […] Die Stimme, die wir vernehmen, das ist das Medium, in dem wir leben.“38 Dazwischen erläutert Scholem: „Ist doch das absolut Konkrete das Unvollziehbare schlechthin, dessen Absolutheit eben seine unendliche Spiegelung in den Kontingenzen des Vollzugs bedingt.“39 Dieser Ansatz ist eine Möglichkeit für die Theologe eine absolut konkrete Offenbarung – im Christentum ist sie Jesus Christus – mit dem Pluralismus unendlicher Auslegungen als seinem notwendigen Korrelat zusammenzudenken, was auch religionstheologisch zu weiteren Öffnungen führt als sie in aller Regel mit einer Offenbarungstheologie barthscher Provenienz verbunden werden.

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Anfänge der dialektischen Theologie, Bd. 2, München 1962, 165–174 [ursprl. Theologische Blätter 2, 1923, Sp. 264–269]. Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, in: Gesammelte Schriften, Bd. II, Frankfurt a.M., 2003, 242 [ursprl. Tübingen 1933]. Vgl. Theodor W. Adorno, Brief an Gershom Scholem vom 13. 11. 1961, in: Theodor W. Adorno, Gershom Scholem, Der liebe Gott wohnt im Detail. Briefe 1939–1969, hg. v. A. Angermann, Frankfurt a.M., 2015, 255–258; Adorno spricht dort „die großartige Formulierung über das Konkrete“ (aaO., 257) an. Gerschom Scholem, Offener Brief an Hans-Joachim Schoeps vom 15. 8. 1937, in: Ders., Briefe I (1914–1947), hg. v. I. Shedletzky, München 1994, 466–471, 469f. Ebd.

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Auf der Seite Karl Barths entwickelt sich die Dialektik so weiter, dass Theologie in der Verbindung von bislang als Gegensätze gesehenen Aussagen wie Gnade und Gericht, Erwählung und Verwerfung, Gesetz und Evangelium ein höheres Komplexitätsniveau gewinnt als dies in der liberalen Theologie möglich war. Dadurch entstehen neue Aussagemöglichkeiten, die die Realität präziser erfassen. Ein Thema steht dabei in besonderem Bezug zu jüdischen Philosophen seiner Zeit: Die Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung. Sie wird von Barth im Laufe seines Schreibens vielfältig zur Sprache gebracht. Neben der Rede vom Ursprung bei Barth um 1922, die ja auch bereits vom Geheimnis zu sprechen erlaubte, tritt zunächst eine dialektische Fassung in KD I/1 §5.4 hervor. Der Abschnitt ist überschrieben Die Rede Gottes als Geheimnis Gottes. „Das eine Mal enthüllt sich uns Gott in seinem Wort, aber eben damit er sich verhüllt. Das andere Mal verhüllt er sich, aber eben damit enthüllt er sich auch. […] Im Glauben und im Denken des Glaubens geht es nicht um das Denken dieser Synthese. Glauben heißt vielmehr : diese Synthese als unvollziehbar anerkennen, sie Gott anbefehlen und bei Gott suchen und finden.“40 Zweifellos ist Barths Rede von Gottes Verborgenheit in seiner Offenbarung mit starken kreativen Anteilen von ihm selbst entwickelt, zweifellos beruht sie auch auf der Auslegung biblischer Passagen wie 1Kor 1, 18–2, 10, die er in §5.4 der Kirchlichen Dogmatik zitiert oder von Ex 33, den er in KD II/1 auslegt.41 Ohne jeden Zweifel hat auch Luthers Rede im Galaterbriefkommentar vom Deus revelatus und seine Ablehnung jeder Spekulation über Gottes Majestät, die er ausführlich in §5.4 zitiert, auf Barths Lehre von Gottes Verborgenheit in seiner Offenbarung eingewirkt. Es scheint aber dennoch, dass man bei aller Reserviertheit Barths gegenüber philosophischen Kategorien, immer wieder auch die Stimme jüdischer Religionsphilosophen deutlich wiedererkennt, wenn Barth von der Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung spricht. Das war bereits bei Cohens Rede vom Ursprung der Fall. Sie verwies auf ein Geheimnis im göttlichen Ursprung der Offenbarung. Die Dialektik zeigt das Unvollziehbare im konkreten Medium der Offenbarung, während, wie wir noch sehen werden, die Dialogik Bubers in wörtlicher und sachlicher Übereinstimmung aufgenommen werden wird, um auf das Unverfügbare in der Offenbarung hinzuweisen. Beim Thema Dialektik teilt Barth mit Scholem, Benjamin, Adorno und anderen die Rede vom ,Unvollziehbaren‘, die sich so nicht allzu häufig bei anderen Dialektikern findet. Bevor wir uns Buber zuwenden, soll uns noch ein Seitenblick auf Leo Baeck die

40 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 1. Halbbd., München 1932, 182. 41 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II: Die Lehre von Gott, 1. Teilbd., Zollikon 1940, 18–21.

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Bedeutung des Themas Geheimnis im Judentum der Weimarer Zeit vor Augen stellen.

2.5 Wie wichtig das Thema der Verborgenheit Gottes bereits im deutschen Judentum der 1920er Jahre und nicht erst nach Auschwitz war, zeigt Leo Baecks Aufsatz Geheimnis und Gebot. 1933 veröffentlichte Leo Baeck im Schocken-Verlag einen Band mit Aufsätzen und Reden, die zentrale Elemente jüdischen Glaubens zusammenfassten. Der zweite Text in diesem Band trägt den Titel Geheimnis und Glaube42. Baeck spricht in diesem Aufsatz von einer zwiefachen seelischen Erfahrung43, in der dem Menschen der Sinn seines Lebens deutlich wird: im Geheimnis und im Gebot. Die zentrale Stelle lautet: „Jüdische Frömmigkeit, jüdische Weisheit ist da allein, wo die Seele die Einheit des Verborgenen und des Deutlichen, der Tiefe und der Aufgabe, die Einheit von Andacht und Tat besitzt. Um die seelische Einheit, um die Einheit aus einer Wirklichkeit hervor und zu einer Wahrheit hin, handelt es sich hier, nicht um eine bloße Synthese. […] In der Einheit dagegen ist nicht bloß eine Verbindung, sondern eine Offenbarung gegeben, das eine wird durch das andere erfaßt und erlebt, das eine gewinnt erst durch das andere seinen Sinn. Geheimnis und Gebot verbinden und verweben sich hier nicht nur miteinander, sondern sie tun einander kund, gewähren einander ihr Wesentliches und Eigentliches. Das Gebot ist hier wahres Gebot, nur weil es aus dem Geheimnis aufsteigt, und das Geheimnis ist wahres Geheimnis, weil aus ihm immer das Gebot spricht.“44

Ähnlich wie bei Barth, haben wir bei Baeck hier ein Denken, das Gottes Offenbarung, das Geheimnis und das Gebot verbindet.

2.6 Der intensivste Austausch zwischen Karl Barth und einem jüdischen Religionsphilosophen fand mit Martin Buber statt. Ein frühes Zeugnis ist Eduard Thurneysens Bemerkung in einem 1923 verfassten Brief an Barth: Buber „versteht […] unser Anliegen, sieht uns voll Sympathie zu“45. 1923 in Ich und Du 42 Vgl. den Wiederabdruck in: Leo Baeck, Geheimnis und Gebot, in: Ders., Leo Baeck Werke, Bd. III: Wege im Judentum. Aufsätze und Reden, hg. v. W. Licharz, Gütersloh 2006, 45–54 [ursprl. in: Der Leuchter 3, 1921–1922, 137–153]. 43 Vgl. aaO., 45. 44 AaO., 50. 45 Eduard Thurneysen, Brief an Karl Barth vom 7. 12. 1923, in: Briefwechsel Karl Barth–Eduard Thurneysen, Bd. 2: 1921–1930, GA V.4, hg. v. E. Thurneysen, Zürich 1974, 202–204, 204. Die

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übernimmt Buber zustimmend Barths Bezeichnung Gottes als des ganz anderen. Ähnlich spielt auch Barth in dem in der Bonner Zeit verfassten Band I/1 der Kirchlichen Dogmatik auf Buber an, wenn er als Leitsatz zu § 9 aufstellt: „Der Gott, der sich nach der Schrift offenbart, ist Einer in drei eigentümlichen, in ihren Beziehungen untereinander bestehenden Seinsweisen: Vater, Sohn und Heiliger Geist. So ist der Herr, d. h. das Du, das dem menschlichen Ich entgegentritt und sich verbindet als das unauflösliche Subjekt und das ihm ebenso und darin als sein Gott offenbar wird.“46 Barth ist – und das ist keine geringe Übereinstimmung! – mit Buber darin einig, dass die Beziehung zwischen Gott und Mensch als eine Ich-Du-Beziehung verstanden werden muss. Dies hat dann auch in Barths Anthropologie ihre Konsequenzen. In KD III/2 schreibt Barth 1948, dass die Grundform der Menschlichkeit darin besteht, dass der Mensch gerne mit dem Mitmenschen zusammen sei. Menschlichkeit besteht „in der Freiheit seines Herzens für den Anderen“47. Barth betont, als christlicher Theologe sei er auf eigenen Denkwegen zur Bezogenheit des Menschen auf den Mitmenschen gelangt, nennt aber doch ausdrücklich Buber : „Es ist wohl wahr, dass die theologische Anthropologie hier auf ihrem eigenen Weg und indem sie diesen entschlossen zu Ende geht, zu Sätzen kommt, die denen ähnlich sind, in denen die Humanität auch schon von ganz anderer Seite (z. B. dem Heiden Konfuzius, von dem Atheisten L. Feuerbach, von dem Juden M. Buber) beschrieben worden ist.“48 Barth lehnt im weiteren extreme Formen des Ich-DuDenkens, wie sie gelegentlich bei Gogarten anklingen, ab. Eine Setzung des menschlichen Ich durch ein anderes menschliches Du führt zu autoritären und unrealistischen Fassungen der Dialogik. Barth findet dann die Formel: „Ich bin indem Du bist.“49

46 47 48 49

ganze Stelle zeigt, dass Buber Barth aus der anderen Richtung als Tillich kritisiert. Sie lautet: „Oder reden wir wirklich bereits wieder zu ,voll‘? Dies behauptet Martin Buber – nicht von dir zwar und Gogarten selber, aber von deinen, von unsern Schülern. Ich hatte ein paar sehr gute Stunden mit ihm. Buber ist ein gutes, aufrichtiges Weltkind mit einer weit offenen Türe nach Jerusalem, unter die er sich nun geradezu stellt, um von dort aus zu andern Weltkindern zu reden. Er versteht also unser Anliegen, sieht uns voll Sympathie zu, hat allerlei einsichtige und ernste Fragen an uns zu richten wegen letzter Dinge, und hat doch zugleich etwas – eben weltlich-Naives, Unbewußtes, Untheologisches. So daß an ihm wie an einem guten Instrument allerlei abzulesen ist, was die Allzubewußten bereits nicht mehr wissen. Er reagiert sehr ungünstig auf die Neuwerk-Leute, nicht minder auf Ragaz, traf sich dafür mit Schädelin, argwöhnt bei aller Sympathie etwas bei Freund Gogarten und ist selber ein durchaus bewegter Mensch, der schon allerlei Wege hinter sich hat. Wenn du ihn einmal treffen kannst, so weich’ ihm jedenfalls nicht aus. Es lohnt sich ein Gespräch mit ihm, wenn es schließlich eben auch am Punkte Offenbarung auseinandergehen wird“ (vgl. aaO., 203f). Barth, KD I/1, 367. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III: Die Lehre von der Schöpfung, 2. Teilbd., Zollikon-Zürich 1948, 334. AaO., 333. AaO., 296.

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2.7 Buber antwortet auf Barths angeblich eigene Entdeckung des Ich-Du-Denkens in seinem Nachwort zu Das dialogische Prinzip (1954): „Für seine Darlegungen der ,Grundform der Menschlichkeit‘ nimmt Barth, bei aller Fülle und Eigenkraft seines theologischen Denkens, doch den spezifischen Erwerb jener Geistesbewegung in Anspruch, die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert von einem unkirchlich gläubigen Idealisten [gemeint ist Fichte; ML] und einem ungläubigen Sensualisten [gemeint ist Feuerbach; ML] angebahnt worden war und im zwanzigsten Jahrhundert, unter nicht unbeträchtlichem Anteil einiger Juden einen einigermaßen zulänglichen Ausdruck gefunden hatte. Nicht dass Barth sie, wiees einst mit fast naiver Gebärde Gogarten tat, für den reformatorischen Protestantismus annektierte […] andererseits aber kann auch er [sc Barth; ML] nicht recht zugeben, dass solch eine Fassung der Menschlichkeit auf anderem Boden als dem christologischen (Jesus Christus als ,der Mensch für den Mitmenschen und also das Bild Gottes‘) gewachsen sein könnte.“50

Buber geht also davon aus, dass Karl Barth eben nicht ganz zufällig dieselben Entdeckungen gemacht hat, sondern, dass es einen Austausch, einen Einfluss seines Denkens auf Barth gab. Buber macht die chassidischen Quellen seiner IchDu-Philosophie deutlich: „Bei den Chassidim – in einer Glaubenswelt, deren wichtigste Lehren der Kommentar zu einem gelebten Leben sind – ist das ,gern‘ der Herzensfreiheit zwar nicht Konsequenz, wohl aber innerste Voraussetzung, Grund des Grundes. Man höre nur, wie da gesprochen wird: „,Klugheit ohne Herz‘ ist gar nichts. Fromm ist falsch. Denn ,die wahre Gottesliebe fängt mit der Menschenliebe an‘.“51

2.8 Karl Barth hatte ursprünglich sogar viel längere Ausführungen zu Buber in KD III/ 2 vorgesehen. Die entsprechenden Texte wurden in der Vorlesung vorgetragen und sind nun im 1. Supplementband zur Kirchlichen Dogmatik zugänglich. Barth war klug genug sie nicht zu veröffentlichen. Sie beginnen mit einer sehr würdigenden Einleitung: Bubers „Gedanken haben eine Tiefe und einen Reichtum, die zur Beachtung und zur Achtung nötigen“52, dann folgt eine 13-seitige Paraphrase von 50 Martin Buber, Zur Geschichte des dialogischen Prinzips, in: Ders., Martin Buber Werke, Bd. I: Schriften zur Philosophie, München/Heidelberg 1962, 291–305, 304 [ursprl. als Nachwort in: Martin Buber : Schriften über das dialogische Prinzip, Heidelberg 1954]. 51 AaO., 305. 52 Karl Barth, Unveröffentlichte Texte zur Kirchlichen Dogmatik, Supplemente zur Karl Barth Gesamtausgabe, Bd. 1, hg. v. H. Stoevesandt/M. Trowitzsch, Zürich 2014, 1084.

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Ich und Du um fünf Punkte der Kritik vorzubringen, aus denen deutlich wird, dass Barth Buber nicht genau genug gelesen und ihn zutiefst falsch verstanden hat. Hier kurz die Liste der Missverständnisse: (a) Barth versteht nicht, dass die Ich-Du-Beziehung aus der Begegnung entsteht und nicht vom Ich aus gesetzt wird wie er meint feststellen zu müssen. (b) Obwohl Buber ausdrücklich sagt, dass die Ich-Es-Beziehung nicht von Übel, sondern notwendiger Bestandteil unserer Erfahrung ist, behauptet Barth, Buber wäre der Auffassung der Mensch müsse aus der Ich-Es-Beziehung erlöst werden. (c)Barth kritisiert an Buber, der an so vielen Stellen seines Werkes von Verantwortung spricht: „Der Begriff Verantwortung kommt aber in seinem Wortschatz nicht vor.“53 (d) Falsch ist auch, dass Barth schreibt, dass „von einer ursprünglichen und durchhaltenden Gegenwart Gottes zugunsten des Menschen […] bei Buber keine Rede“54 sein könne. Genau diese Nähe behauptete doch Buber, wenn er schreibt, dass Gottes Gegenwart immer da sei, nur dass wir nicht immer da seien: „Wohl kennt, wer Gott kennt, die Gottesferne [….] aber die Präsenzlosigkeit nicht. Nur wir sind nicht immer da.“55 Aus all diesen Missverständnissen zieht Barth den Schluss: Buber sei „leider ,liberal‘ bis auf die Knochen“56. Er sehe die Gottesbeziehung als menschliche Möglichkeit. Gnade und Gottes zuvorkommendes Heil kämen bei ihm nicht vor. Selbst das mittelalterliche facere quod in se est holt Barth aus der häresiologischen Mottenkiste hervor und behauptet, es wäre Bubers „letztes Wort“57. (e) Abschließend lobt Barth einige Aussagen Bubers als von Christus her gerechtfertigt, fügt aber hinzu, dass Buber das Beste, was von Gott her zu sagen wäre, als Jude nicht sagen könne. Barth entging der Blamage und war wohl beraten, diese seine Hefte nicht zu publizieren. Er wollte sie wohl auch vernichtet sehen.

2.9 Abschließend soll noch einmal ausdrücklich festgehalten werden, worin der Wert des Ich-Du-Denkens besteht, um eine überraschende Übereinstimmung mit Barth zur Geltung zu bringen. Die Ich-Du-Philosophie Bubers bezieht sich nicht allein auf das Zwischenmenschliche und auf Mensch und Gott. Es gibt IchDu-Beziehungen auch mit Gegenständen wie dem Mond, mit Tieren, mit Bäumen, mit schlechthin allem. Die Ich-Du-Begegnungen finden oft im Schweigen 53 AaO., 1101. 54 AaO., 1102. 55 Martin Buber, Ich und Du, in: Ders., Martin Buber Werke, Bd. I: Schriften zur Philosophie, 77–170, 145 [ursprl. Leipzig 1923]; vgl. auch aaO., 146. 56 Barth, Unveröffentlichte Texte, 1104. 57 AaO., 1105.

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statt. Buber spricht von zwei grundlegenden Beziehungsarten des Menschen zur Welt: Ich-Du und Ich-Es. Beide sind selten klar getrennt, sondern gehen häufig ineinander über. Die Ich-Du-Beziehung meint Gegenwart, die Ich-Es-Beziehung Vergegenständlichung. „Gegenwart, nicht die punkthafte, die nur den jeweiligen im Gedanken gesetzten Schluß der ,abgelaufenen‘ Zeit, den Schein des festgehaltenen Ablaufs bezeichnet, sondern die wirkliche und erfüllte, gibt es nur insofern, als es Gegenwärtigkeit, Begegnung, Beziehung gibt. Nur dadurch, dass das Du gegenwärtig wird, entsteht Gegenwart. Das Ich des Grundwortes Ich-Es, das Ich also, dem nicht ein Du gegenüber leibt, sondern das von einer Vielheit von ,Inhalten‘ umstanden ist, hat nur Vergangenheit, keine Gegenwart. Mit anderem Wort: insofern der Mensch sich an den Dingen genügen lässt, die er erfährt und gebraucht, lebt er in der Vergangenheit, und sein Augenblick ist ohne Präsenz. Er hat nichts als Gegenstände; Gegenstände aber bestehen im Gewesensein. Gegenwart ist nicht das Flüchtige und Vorübergleitende. Sondern das Gegenwartende und Gegenwährende. Gegenstand ist nicht die Dauer, sondern der Stillstand, das Innehalten, das Abbrechen, das Sichversteifen, die Abgehobenheit, die Beziehungslosigkeit, die Präsenzlosigkeit. Wesenheiten werden in der Gegenwart gelebt, Gegenständlichkeiten in der Vergangenheit.“58

Alle Wissenschaften sind insofern historisch, als sie auf der Vergegenständlichung, der Objektivierung beruhen. Am Anfang ist freilich die Ich-Du-Beziehung. Sie steht menschheitsgeschichtlich am Anfang der Wahrnehmung der Wirklichkeit als beseelt, lebensgeschichtlich am Anfang als Wahrnehmung von Kindern und situativ am Anfang jeder Begegnung mit der Welt. Buber geht in Ich und Du Kants Kategorien und Anschauungsformen durch und ordnet sie der Ich-Du und der Ich-Es-Beziehung zu. Sie entfaltet eine umfassende Theorie menschlichen Erkennens im kritischen Gespräch mit Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Ich-Du-Philosophie geht von einer allem menschlichen Konstruieren und Verdinglichen vorausliegenden Begegnung mit der Wirklichkeit aus. Diese Begegnung äußert sich in der Überzeugung mit einem wirklichen anderen, einem Wesen zu tun zu haben, ohne dass dieses Wesen adäquat erfasst und sprachlich ausgedrückt werden könnte. Sie ist gleichermaßen die Antwort auf den subjektiven Idealismus und radikalen Konstruktivismus einerseits und auf den materialistischen Objektivismus andererseits. Bubers Rede von der Ich-Du-Begegnung, die nicht vollständig adäquat in Sprache gefasst werden kann, ist ein weiteres Angebot, Offenbarung als wirklich den Menschen zutiefst treffend und betreffend zu beschreiben und dennoch Momente des Geheimnisses, des zwar Gegenüberseins, der „Objektivität“59, aber gleichzeitig des Nicht-Objektivierbaren festzuhalten. 58 Buber, Ich und Du, 86. 59 Vgl. bes. Barth, KD II/1, 18–21 u. ö.

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Bei Barth liest sich das so: Im Leitsatz zu §9 heißt es: „So ist der Herr, d. h. das Du, das dem menschlichen Ich entgegentritt und sich verbindet als das unauflösliche Subjekt und das ihm ebenso und darin als sein Gott offenbar wird.“60 In seinen – kurzen – Erläuterungen zu diesem Leitsatz und seiner Rede von Gott als Du beschreibt Barth zunächst das Gegenübersein und die wirkliche Verbindung Gottes mit den Menschen: Gemeinschaft mit dem, der sich da offenbart, bedeutet für den Menschen auf alle Fälle und unter allen Umständen, daß jener ihm gegenübertritt wie ein Du einem Ich gegenübertritt und sich mit ihm verbindet, wie sich ein Du mit einem Ich verbindet. Nicht anders!“61 Dann kommt er auf die Unverfügbarkeit Gottes in Worten zu sprechen, die sachlich und in der Formulierung mit Buber übereinstimmen: „Abgeschnitten ist alle Gemeinschaft mit diesem Gott, die von der Art wäre, wie wir mit Kreaturen Gemeinschaft haben können, von der Art nämlich, daß das Du durch ein Ich in ein Es oder Er verwandelt werden kann, über das oder über den das Ich eben damit Verfügung bekommt.“62 In Bubers Ich und Du (1923) steht alles genauso, nur, dass die Rede vom Herrn und das Ausrufungszeichen ersetzt wird durch eine gelassenere Beschreibung:63 „Das ewige Du kann seinem Wesen nach nicht zum Es werden; weil es seinem Wesen nach nicht in Maß und Grenze, auch nicht in das Maß des Unermeßlichen und die Grenze des Unbegrenztsein gesetzt werden kann […] Und doch machen wir das ewige Du immer wieder zum Es, zum Etwas, machen Gott zum Ding – unserem Wesen nach. Nicht aus Willkür. Die dingliche Geschichte Gottes, der Gang des Gott-Dings durch die Religion und ihre Randgebilde, durch ihre Erleuchtungen und Verfinsterungen, ihre Lebenserhöhungen und -zerstörungen, der Gang vom lebendigen Gott weg und wieder zu ihm hin, die Wandlungen von Gegenwart, Eingestaltung, Vergegenständlichung, Verbegrifflichung, Auflösung, Erneuerung sind ein Weg, sind der Weg.“64

3.

Fazit

3.1 Der Einfluss der jüdischen Philosophie auf Barth besteht in zwei Inhalten, die Barth ohne die jüdische Philosophie nicht oder nicht in dieser Weise hätte be60 61 62 63

Barth, KD I/1, 367. AaO., 402. AaO., 401. Beide Unterschiede sind im Blick auf das gesamte Denken Bubers und Barths gering. Auch Buber sieht Gott als Allumfassendes und Ewiges Du und somit als dem Menschen übergeordnet an und auch für ihn ist die Ich-Du-Begegnung mit Gott die einzig authentische und anzustrebende. 64 Buber, Ich und Du, 154f.

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handeln können: (a) die dialogische Grundform der Menschlichkeit65 und (b) die Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung. Die Rede von der Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung kann dabei dreifach, mit einem Ursprungsdenken, darauf aufbauend dialektisch und dialogisch begründet werden. Die Begründungsfiguren beziehen sich auf die Quelle der Offenbarung, ihre konkrete Erfassung und den Umgang mit ihrer Mitteilung. Alle drei Formen klingen bei Barth an jüdische Religionsphilosophen an: an Cohen, an Scholem und zuletzt an Buber. Sie sind aber nicht einfach Übernahmen, sondern eigene Rede, die sich weigert Gottes Geheimnis mit philosophischen Kategorien adäquat begreifen zu können. Die Rede von der Verborgenheit in der Offenbarung erlebt nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Auschwitz eine besondere Wendung. Im Leiden und in der Gottverlassenheit wird Gott erfahren. Dies gilt sowohl für das Kreuz als auch für das Leiden in Konzentrationslagern und viele andere menschliche Leiderfahrungen. Die Abwesenheit Gottes wird dabei vielfach als Privatio, als Mangel an etwas wesentlich Zugehörigem erfahren. Bei Barth ist und bleibt der Ton noch anders: Wenn Gott verborgen ist in seiner Offenbarung, dann rücken das Verbundensein Gottes mit den Menschen, sein ,Ja‘ zu uns, seine Zusagen viel stärker in den Vordergrund. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg betont Barth nicht mehr so sehr die Verborgenheit Gottes, sondern sein Ja zu uns.

3.2 Er unterscheidet sich damit mehrfach von seinen Zeitgenossen und Schülern. Anders als Barth, bekennen christliche Theologen der Generation nach ihm sich zu dem, was sie von jüdischen Religionsphilosophen gelernt haben. Jürgen Moltmann schreibt etwa in seiner Autobiographie Weiter Raum: „Jüdische Philosophen“ haben ihn „mehr geprägt als andere Zeitgenossen. Ich wurde von Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Abraham Heschel und Gershom Scholem auf neue Gedanken in meiner theologischen Arbeit gebracht. Das neue jüdischen Denken von Emil Fackenheim, Elie Wiesel, Richard Rubinstein und anderen hat mich auf meiner Suche nach einer Post-Holocaust-Theologie tief beeinflusst. Ich habe darum Begegnungen mit Emil Fackenheim, Schalom Ben-Chorin und Pinchas Lapide gern wahrgenommen.“66

65 Zu Barths Buberrezeption in anthropologischen Fragen vgl. auch meinen Aufsatz: Martin Leiner, Buber und Barth, in: ZDT 17, 2001,188–191. Im vorliegenden Aufsatz konzentriere ich mich auf Gottes Verborgenheit in seiner Offenbarung. 66 Jürgen Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006, 255.

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Bei jüdischen Philosophen erscheinen Formulierungen, die an Barth erinnern. Jacques Derridas Rede vom impossible, dem Unmöglichen und von der unmöglichen Möglichkeit scheint geradezu Karl Barth entliehen zu sein. Emmanuel L8vinas Betonung der Alterität verbindet sich nicht nur mit Rosenzweig, sondern auch und manchmal noch besser mit dem Rosenzweig in so vielem ähnlichen Barth.

3.3 Karl Barth hat, das sollte jedenfalls nicht unerwähnt bleiben, das bleibende Verdienst, die christlichen Kirchen in ihrem Verständnis Israels und des immer bestehenden Bundes Gottes mit Israel belehrt und weitergebracht zu haben. Dass er in seiner Erwählungslehre die christliche Kirche mit der Erwählung und die Synagoge mit der Verwerfung zusammenbringt, kann man auch positiv so verstehen, dass die Synagoge Gott näher steht, weil auch Gott in Jesus Christus für sich die Verwerfung gewählt hat. Karl Barth wollte mit seiner Theologie immer nur hinweisen auf Gott und seine Offenbarung. Die Theologie konnte von ihm viel gewinnen, vieles ist noch längst nicht hinreichend integriert in die Theologie der Gegenwart. Dennoch gibt es auch andere Theologien, die der Gegenwart und der Zukunft viel zu sagen haben. In der Tat hat Barth viel gepredigt. Seine Homiletik zeigt, dass er das Gegenüber mehr eingeschlossen („predigen als mit der Gemeinde beten“67) als differenziert in den Blick bekommen hat.

3.4 Für das Thema der nichtchristlichen Religionen ist Martin Buber darin hilfreicher als Barth, weil er diese Dialoge betrieben und auch durch Schwierigkeiten hindurch an ihnen festgehalten hat. Das letzte Wort soll deshalb Martin Buber gehören. Ähnlich wie Walter Benjamin und Ernst Bloch vertritt er eine messianische Deutung der Säkularität, verknüpft diese aber pointiert mit dem Religionsgespräch und bietet dies als Lösung der Aporien des interreligiösen Dialogs an. Unter dem Titel Religionsgespräche setzt Buber sich mit dem Einwand auseinander, dass wirklich Glaubende keine Kompromisse machen können. Buber paraphrasiert diesen Einwand wie folgt: „Wer zu seinem Glauben so steht, dass er für ihn zu sterben oder für ihn zu töten vermag, dem kann es kein Reich geben, wo das Gesetz des Glaubens nicht mehr gilt. 67 Karl Barth, Homiletik. Wesen und Vorbereitung der Predigt, Zürich1966, 69.

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Martin Leiner

Ihm liegt ob, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen, von Sentiments läßt er sich nicht betören. Der Anders-, das heißt der Irrgläubige muß bekehrt oder zumindest belehrt werden, eine unmittelbare Berührung mit ihm vermag nur außerhalb der Glaubensvertretung, nicht von ihr aus zu erfolgen.“68

Buber antwortet auf diese Position mit einem Bekenntnis. Anders als Luther oder Calvin könne er nicht mehr mit Gewissheit in Glaubensfragen urteilen, dies sei richtig und jenes sei falsch. „Das Wort Gottes fährt vor meinen Augen nieder wie ein fallender Stern, von dessen Feuer der Meteorstein zeugen wird […], und ich selber kann nur das Licht bezeugen, nicht aber den Stein hervorholen und sagen: Das ist es. Aber diese Glaubensverschiedenheit ist […] nicht darin begründet, dass wir heute Lebenden glaubensschwach sind, und sie wird bleiben, wenn unser Glauben noch so sehr erstarkt. […] Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch hat sich geändert. Und diese Änderung wird durchaus nicht in ihrem Wesen erfaßt, wenn man nur an die uns so vertraute Verfinsterung des höchsten Lichts, an die offenbarungslose Nacht unseres Daseins denkt. Es ist die Nacht eines Harrens – nicht einer vagen Hoffnung, sondern eines Harrens. Wir harren einer Theophanie, von der wir nichts wissen als den Ort, und der Ort heißt Gemeinschaft“69.

Im Religionsgespräch braucht „keiner […] seine Ansicht aufzugeben, nur eben betreten“ beide Partner „indem sie unversehens etwas tun und ihnen unversehens etwas widerfährt, das Bund heißt, ein Reich, in dem das Gesetz der Ansicht nicht mehr gilt“70. Von diesem Bund, den alle Religionen unterschiedlich ausdrücken, der aber dennoch gültig mit allen Menschen geschlossen ist, hat Barth nicht geredet; aber ich hoffe, dass diese Ausführungen zeigen konnten, dass eine solche Rede von Barths Rede von Gottes Verborgenheit in seiner Offenbarung, möglich und konsequent wäre.

68 Martin Buber, Zwiesprache, in: Ders., Martin Buber Werke, Bd. I: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1898–1924, hg. v. M. Treml, Gütersloh 2001, 171–214, 179. 69 AaO., 179f. 70 AaO., 178.

Muhammad Sameer Murtaza

Was Karl Barth vom Islam hätte lernen können

„Weil Gott neugierig war, was er noch alles über sich erfahren würde, hat er Karl Barth so lange leben lassen. Schließlich starb der gelehrte Theologe aber doch und klopfte an die berühmte Pforte. Petrus heißt den berühmten Neuankömmling freudig willkommen und führt der Ordnung halber die übliche Prüfung durch. Die muss jeder bestehen, der ins Himmelreich will. Karl Barth greift alle Glaubensfragen sofort auf, stellt Gegenfragen und verwickelt Petrus in einen Disput. Petrus ist entnervt und ruft den Erzengel Michael zu Hilfe; er möge den Neuankömmling doch gleich zum Heiligen Geist führen. Petrus wundert sich, warum der Erzengel gar nicht wiederkommt. Dafür hört er hinter der Wolke einen immer heftiger werdenden Streit. Plötzlich stürzt der Erzengel hervor. Petrus erschrickt: Was ist? Barth ist doch nicht etwa durchgefallen? – Nein, Barth nicht, aber der Heilige Geist.“1

1.

Einleitung

Seit Jahren bemüht sich der Protestantismus um eine klare Abgrenzung gegenüber dem Islam. Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, beharrte in seiner Amtszeit darauf, der Islam habe ein anderes Gottesbild als das Christentum.2 Hierauf bauend äußerte der Vorsitzende der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung in der evangelischen Kirche, Pastor Henning Dobers, Muslime und Christen seien keine Geschwister. Christen würden dem dreieinigen Gott dienen. Christen würden in Jesus Gott und Mensch in einer Person sehen. Christen würden in Jesus den allein seligmachenden Erlöser für alle Menschen, zu allen Zeiten, an allen Orten sehen. Wären Muslime Geschwister, so Dobers, bräuchten sie nicht die christliche Botschaft, die Umkehr zu Jesus und die Taufe.3 Manche Protestanten scheinen dies nun als einen 1 Willy Brandt, Lachen hilft. Politische Witze, München 2001, 14. 2 Nikolaus Schneider, Die Ehe ist eine enorme Anstrengung, aus: http://www.welt.de/politik/ deutschland/article113675002/Die-Ehe-ist-eine-enorme-Anstrengung.html (15. 10. 2013). 3 Vgl. Henning Dobers, Interreligiöser Dialog. Muslime sind für Christen keine „Geschwister“, in: Pressedienst 211, 2014, 2.

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Steigbügel zu einer Festungsstrategie gegenüber Muslimen zu betrachten, wenn beispielsweise evangelikale Kreise jeden Dialog und jede konstruktive gesellschaftliche Zusammenarbeit von Christen und Muslimen von vornherein ablehnen.4 Ganz anders klingt da auf katholischer Seite die Erklärung Nostra Aetate des Zweiten Vaticanums (1965), in der es heißt: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat. Sie mühen sich, auch seinen verborgenen Ratschlüssen sich mit ganzer Seele zu unterwerfen, so wie Abraham sich Gott unterworfen hat […]. Jesus, den sie allerdings nicht als Gott anerkennen, verehren sie doch als Propheten, und sie ehren seine jungfräuliche Mutter Maria, die sie bisweilen auch in Frömmigkeit anrufen. Überdies erwarten sie den Tag des Gerichtes, an dem Gott alle Menschen auferweckt und ihnen vergilt.“5

In Wahrhaftigkeit zu sprechen bedeutet auch zu erwähnen, dass die Aussagen Schneiders und Dobers ebenso auf Juden zutreffen. Doch nicht der Islam und nicht das Judentum erscheinen dann in einem fragwürdigen Licht, sondern abermals das Christentum, dem es theologisch so nicht gelingt, an das Bekenntnis Abrahams anzuschließen. Der Jude wird dem Christen das Schma Jisrael zitieren: „Höre Jisrael! Der Ewige, unser Gott, ist ein einziges, ewiges Wesen. Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen. Die Worte, die ich dir jetzt befehle, sollen dir stets im Herzen bleiben. Du sollst sie deinen Kindern einschärfen und immer davon reden, wenn du zu Hause sitzt oder auf Reisen bist, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst. Binde sie zum Zeichen an deine Hand. Trage sie als Stirnband zwischen deinen Augen und schreibe sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore.“ (Dtn 6, 4–9)

˘

Während der Muslim dem Christen die 112. Sure rezitieren wird, die ein Drittel der Botschaft des Qur a¯n ausmacht: Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen! Sprich: „Er ist der Eine Gott, Gott der Absolute. Er zeugt nicht und ist nicht gezeugt, und es gibt keinen, der Ihm gleicht.“ (Sure 112: 1–4) Aufgrund des Bekenntnisses zu dem einen Gott gelten die Muslime den Juden als Noachiden, während die Juden für Muslime ahl al-kita¯b (Anhänger früherer Offenbarungen) sind, mit denen eine Tischgemeinschaft zu pflegen ist und mit denen eine Ehegemeinschaft eingegangen werden darf (siehe Sure 5: 5). Juden 4 Vgl. Claudia Keller, Evangelikale gegen christliche „Islamversteher“, aus: http://www.tages spiegel.de/politik/streit-unter-deutschen-christen-evangelikale-gegen-christliche-islamver steher/12180412.html (16. 08. 2015). 5 Erklärung Nostra Aetate über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, aus: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_ 19651028_nostra-aetate_ge.html (29. 08. 2015).

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und Muslime sind Geschwister, die ihrerseits gemeinsam an Christen die Frage stellen dürfen: Wenn ihr nicht an den einen und einzigen Gott glaubt, an was glaubt ihr dann?

2.

Der wahre Gott – nach Karl Barth

Eine mögliche Antwort auf diese Frage findet sich in der Theologie Karl Barths, für den sich der wahre Gott nicht durch seine Zahl auszeichnet, sondern durch sein Sein.6 Barth verweist hierzuauf den 1. Korintherbrief: „Und wiewohl solche sind, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele Götter und viele Herren gibt, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn.“7 (1Kor 8, 5–6) Hierauf aufbauend kann Barth nun in der Kirchlichen Dogmatik eine scharfe Abgrenzung zum islamischen (und zum jüdischen) Bekenntnis zu Gott vornehmen.8 Bereits zuvor in Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre machte er unmissverständlich deutlich, dass der eine Gott, dem der Muslim vertraut, liebt und dient, nur ein sogenannter Gott, aber nicht der wahre Gott sei.9 Der einzige Gott zeichnet sich für Barth gerade durch sein trinitarisches Sein aus,10 das bekanntlich von Muslimen und Juden abgelehnt wird. Allerdings beeinträchtigt nach Barth die Trinität gerade nicht Gottes Einzigkeit und Einheit, da hier keine drei Persönlichkeiten, also keine drei Ich-Zentren proklamiert werden, sondern das Wesen Gottes als aus drei Seinsweisen in der Einheit bestehend beschrieben wird. Gott sei ein Einziger und in seiner Art einzigartig und konkurrenzlos. Einzigkeit hat für Barth gerade nichts mit Unteilbarkeit und Einfachheit zu tun.11 Ähnlich spricht nach Ataullah Siddiqui deshalb auch der katholische Theologe Karl Rahner von einer Radikalisierung des Monotheismus.12 Unerkenntlich bleibe der wahre dreieinige Gott für die Menschen, so Barth, solange Gott sich ihnen nicht offenbart: 6 Vgl. Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, ZollikonZürich 1938, 51. 7 AaO., 53. 8 Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II: Die Lehre vom Wort Gottes, 1. Teilbd, Zollikon 1940, 504ff. 9 Vgl. Barth, Gotteserkenntnis, 53.57. 10 Es sei angemerkt, dass die Trinität in 1Kor 8, 5–6 nicht erwähnt wird. 11 Vgl. Jon Hoover, Islamic Monotheism and the Trinity, aus: https://uwaterloo.ca/grebel/sites/ ca.grebel/files/uploads/files/IslamicMonotheismandtheTrinity.pdf (15. 08. 2015). 12 Vgl. Ataullah Siddiqui, The Changing Perception of Islam. Christian Theology and Theologians, aus: http://www.mihe.org.uk/changing-perception-of-islam; Siddiqui bezieht sich auf: Karl Rahner, Theological Investigations, Bd. 18, London 1984, 116.

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„Er ist auch darin der Einzige und erweist sich in seiner Offenbarung auch darin als solcher, dass er, im Unterschied zu Allem in der Welt, nur durch sich selbst ist und, ebenfalls im Unterschied zu Allem in der Welt, nur durch sich selbst erkannt werden kann. Ein Gott, der anders als durch sich selbst, d. h. anders als durch seine Offenbarung zu erkennen wäre, würde schon dadurch verraten, daß er nicht der Einzige und also nicht Gott, sondern eines von jenen Prinzipien menschlicher Systeme und letztlich mit dem Menschen selbst identisch wäre.“13

Der wahre Gott habe sich schließlich in Jesus als dem ewigen Sohn durch seine Menschwerdung zu erkennen gegeben: „Gottes Sohn hat menschliche Natur angenommen; der wahrhaftige Gott ist, ohne aufzuhören, der wahrhaftige Gott zu sein, wahrhaftiger Mensch geworden. Man würde dieses Zeugnis mißverstehen, wenn man nach der einen oder anderen Seite weniger sagen wollte als dies. So tief hat sich Gott erniedrigt, dass er es sich gefallen ließ, in Jesus Christus selber zu sein, was wir sind.“14 Folglich mögen Muslime zwar die Einheit Gottes bekennen, doch bleibe dieser Gott ein Götze. Somit ist der Islam nach Barth kein wahrer monotheistischer Glaube,15 sondern eine von Menschenhand geschaffene Religion, ein Konstrukt, ein sinnloser Versuch des erkenntnisbegrenzten Menschen, nach Gott zu greifen. Doch dieses Greifen gehe fehl, da es keinen anderen Erkenntnisweg als die Selbstoffenbarung Gottes gebe. Folglich sind diese Konstrukte ein konzentrierter Ausdruck des Unglaubens; der Islam ist ein Unglaube. Und der Ruf der Muslime nach dem einen Gott, so ist in der Kirchlichen Dogmatik II/1 zu lesen, sei nichts weiter als „fanatische[s] Geschrei“16 – eine Feststellung, die Barth, wenn auch abgemildert, auf das Judentum überträgt.17

3.

Abrahamischer Monotheismus vs. trinitarischer Monotheismus

Karl Barths scharfe Abwehr des jüdischen und islamischen Verständnisses von der Einheit und Einzigkeit Gottes verdeutlicht meines Erachtens, dass das von ihm entwickelte Modell des trinitarischen Monotheismus verteidigungs- und rechtfertigungsbedürftig ist. Barth wirft dem Islam wie auch dem Judentum eine religiöse Verklärung und Verabsolutierung der Zahl Eins vor, und diese mit Gott

13 14 15 16 17

(15. 08. 2015). Barth, Gotteserkenntnis, 56. AaO., 91. Vgl. aaO., 57. Barth, KD II/1, 504. Vgl. aaO., 510.

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zu verwechseln: „So wenig hat die Idee des Einzigen, zu der sich Israel nun in der Tat auch durchgerungen hatte, mit der Einzigkeit Gottes zu tun […].“18 Doch worauf stützt sich diese pauschale Verurteilung jüdischen und muslimischen Denkens von Gott? Oder erfüllt es als Steigbügelhalterargument lediglich die Funktion, der christlichen Klientel die Richtigkeit und Überlegenheit der eigenen Gottesvorstellung zu versichern und es vor jüdischer und muslimischer Kritik zu impfen? Schließlich hat die Einzigkeit und Einheit Gottes, sowohl im Judentum als auch im Islam, nichts mit dem mythologischen Zauber der Zahl Eins zu tun oder der Faszination der Einheit an sich. Denn der Unterschied zwischen dem Monotheismus Abrahams und dem Polytheismus, Henotheismus, Dualismus und auch dem trinitarischen Monotheismus liegt nicht in der Zahl. Es handelt sich nicht um eine rechnerische Abgrenzung, sondern um eine inhaltliche. Würde der Mensch nur einen einzigen Götzen anbeten, bliebe dieser dennoch Götze und wäre nicht der Gott Abrahams. Der Gott Abrahams ist nicht der eine Gott, nur weil er alles zusammentut, was in den anderen Glaubensvorstellungen auf das Tun vieler Götter verteilt ist, sondern weil er gänzlich anders ist als sie, nämlich existent, lebendig und handlungsfähig. Juden und Muslimen geht es in ihrer Kritik an der Trinität gleichermaßen um eine wahrhaftige Wesensbestimmung Gottes wie sie Karl Barth für seine Theologie in Anspruch nahm. Gerade das besondere Wesen Gottes, Seine Einheit und Einzigkeit, die Juden und Muslime bekennen, kann eben den Unterschied ums Ganze ausmachen. Die christliche Zuflucht zum mysterium trinitatis, die auch Barth vornimmt, wonach der Mensch den rationalen Widerspruch zwischen der Dreieinigkeit und dem Monotheismus als ein Rätsel hinnehmen soll, stellt eine Unkenntnis über den Ursprung des Rätsels dar. Das berühmteste Beispiel hierfür stellt im griechischen Mythos die Sphinx dar. Diese konfrontiert die Thebaner mit dem Rätsel der drei Lebensalter des Menschen. Nur wenn es richtig gelöst wird, können die Thebaner ihre Stadt und ihr Leben retten. Das Rätsel stellt also eine Grausamkeit dar, das den Tod bringt. Erst Ödipus fällt der Sieg zu und die Sphinx stürzt in den Abgrund.19 In der ältesten Textstelle, in der das Wort ,Rätsel‘ auftaucht, ein Fragment Pindars, heißt es: „Das Rätsel, das aus dem grausamen Schlund der Jungfrau ertönt.“20 Abermals haben wir hier die Verbindung zwischen Rätsel und Grausamkeit. Und ebenso ist das Mysterium von der Dreifaltigkeit aus Sicht des jüdischen Urbodens ein grausamer Widerspruch, der bereits früh nicht nur eine innere Zerrissenheit der Christenheit, sondern auch den Zusammenbruch des Christentums in seinen Stammländern in Vorderasien und Afrika herbeigeführt 18 Vgl. ebd. 19 Giogio Colli, Die Geburt der Philosophie. Frankfurt a.M. 1981, 48f. 20 AaO., 49.

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hat.21 Hätte Karl Barth sich ernsthaft sowohl mit der Leben-Jesu-Forschung als auch mit dem Islam im Rahmen seiner theologischen Reflexionen auseinandergesetzt, to think outside the box, wie man im Englischen sagt, so hätte er wohlmöglich den Protestantismus wirklich vollenden können. Doch was ist damit gemeint?

Die Bedeutung des Qur a¯n als Korrektiv für die christliche Theologie und besonders für Karl Barth ˘

4.

˘

Statt die Konfrontation mit dem Islam zu suchen, müsste eigentlich jeder christliche Theologe zunächst erstaunt aufhorchen, da der Islam als einzige nichtchristliche Religion Jesus (und Maria) anerkennt und würdigt. Nicht als Gottes Sohn, jedoch als einen besonderen Menschen und herausragenden Propheten.22 Auch etwa bereits der Theologe Schlatter würdigt, dass der Islam nicht der jüdischen Polemik gegenüber Jesus und seiner Mutter folge, sondern den Mann aus Nazareth zwischen Moses und Muhammad, das Evangelium zwischen die Tora und den Qur a¯n stelle.23 Seit jeher lehrt die muslimische Gelehrsamkeit, dass der Titel Messias (hebr. für : der Gesalbte, griech.: Christus) zu Arabisch al-ması¯h eine an einer Person ˙ mit Öl vorgenommene Salbung beschreibt, wie sie die jüdischen Könige und Führer erhielten (vgl. Jes 45, 1). Unter der römischen Okkupation verstärkte sich unter Juden die Naherwartung eines Messias im Sinne eines politischen Führers, der sie von der Fremdherrschaft befreien sollte. Jesus setzte jedoch als Prophet und Messias nicht auf eine Konfrontation mit der militärischen Macht Roms, sondern war bestrebt, das Judentum zu reformieren und die Spiritualität und den Glauben zu erneuern. In diesem Kontext ist auch die friedfertige Botschaft Jesu zu verstehen. Da Jesus demnach nicht der Erwartungshaltung verschiedener jüdischer Gruppierungen entsprach, wurde er seitens der Mehrheit des jüdischen Volkes mit Missachtung gestraft und zog sich dann die Feindschaft militanterer Gruppen zu. Auch im Kreise seiner Jünger verstanden nicht alle, wer dieser Jesus war. Auch hier herrschten unterschiedliche Erwartungen vor. Der

21 Vgl. Hans Küng/Josef van Ess, Christentum und Weltreligionen: Islam, München 1994, 170. 22 Vgl. Eberhard Simons, Ende des alten Europas – Ende des alten Kirchentums. Christentum als europäische und weltweite Bewegung. Machtdisposition – Dispositive der Freiheit, in: Beatrix Vogel, Von der Unmöglichkeit oder Möglichkeit, ein Christ zu sein. Symposion 1996 des Nietzsche-Kreises München. Vorträge aus den Jahren 1996–2001, München 2001, 69–83, 70. 23 Vgl. Adolf Schlatter, Gesunde Lehre. Reden und Aufsätze, Velbert i. Rheinl. 1929, 226.

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Verrat des mehr zelotisch geprägten Judas war indessen auch Folge einer solchen Enttäuschung.24 Wir finden somit im Qur a¯n eine „prophetisch-theozentrisch akzentuierte Christologie“25 vor. Und bereits Hermann Samuel Reimarus verstand Jesus im Rahmen seiner Leben-Jesu-Forschungen gleichermaßen als eine „jüdisch prophetisch-apokalyptische Gestalt, das sich vom Judentum lösende Christentum dagegen als eine Neuschöpfung der Apostel“26, denn so unterschiedlich die jüdischen Vorstellungen über den Messias waren, der da kommen sollte, in einem, so der Religionswissenschaftler Reza Aslan, waren sich alle Juden einig: der Messias ist ein Mensch, kein göttliches Wesen.27 Bettet man den Titel Gottessohn wieder in seinen jüdischen Kontext, also vorösterlich, und nicht im Sinne einer nachösterlichen Erhöhungstheologie in der Bedeutung einer Thronbesteigung wie es die Jünger Jesu nach der Kreuzigung taten, wonach Jesus zur Rechten neben Gott eingesetzt wird (angelehnt an Ps110,1), und auch nicht hellenistisch im Sinne einer Abkunftstheologie, die Jesus in eine Wesensgemeinschaft mit Gott setzt, wie es im Zuge der Integration der Kirche in die hellenistische Sprache und ihre Begrifflichkeiten geschah, so beschreibt der Ausdruck ,Gottessohn‘ gut jüdisch gedacht zunächst die Verhaltensweise eines Gottgläubigen (vgl. Matt 5, 9). Folglich ist die Gottessohnschaft kein besonderes und ausschließliches Charakteristikum Jesu.28 Sodann verdeutlicht 1Chr22, 10, dass es sich bei dem Titel um eine göttliche Erwählung und Bevollmächtigung der israelischen Könige handelte, die nun auf Jesus übertragen wird. Bei dem Titel ,Gottessohn‘ geht es demnach inhaltlich nicht um eine Aussage über das Wesen Jesu, sondern um eine Verhaltensweise, sowie um eine Rechts- und Machtstellung. Die christliche Inkarnationslehre wäre dem Juden Jesus also fremd gewesen, er hätte weder sich noch seine Botschaft darin wiedererkannt. Jesus hielt nämlich durchaus an dem monotheistischen Glauben seiner Vorväter fest (vgl. Mk 12, 29). Hans Küng hat als einer der ganz wenigen christlichen Theologen die Christologie des Qur a¯n ernstgenommen und zu der judenchristlichen Gemeinde Jesus und den Aussagen der islamischen Offenbarung zu Jesus geforscht. Er weist daraufhin, dass der spätantike Theologe und Geschichtsschreiber Eusebios von Caesarea erwähnte, dass die judenchristliche Jerusalemer Urgemeinde nach Hinrichtung ihres Oberhauptes Jakobus vor dem Ausbruch des jüdisch-römischen Krieges im Jahre 62 Jerusalem gen Pella im Ostjordanland verlassen hätte.29 Nach Küng sind die Judenchristen eine unverzichtbare Quelle, 24 25 26 27 28 29

Vgl. Ahmad von Denffer, Der Islam und Jesus. München 1999, 4–10. Hans Küng, Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München 2007, 589. Gerd Theißen/Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997, 23. Vgl. Reza Aslan, Zealot. The Life and Times of Jesus of Nazareth, New York 2013, 32. Vgl. Von Denffer, Islam, 11. Vgl. Küng, Islam, 70.

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wenn man in Erfahrung bringen will, was Jesus wirklich glaubte, wirklich lehrte und wie er wirklich lebte. Kurioserweise werde aber Jesus Urgemeinde seitens der Kirchenhistoriker kaum wahrgenommen.30 Bereits bei Paulus (vgl. 2Kor 5, 16) heißt es, dass es für seine Theologie nicht notwendig sei, den historischen Jesus zu kennen. Aber was will Kirche ohne den historischen Jesus sein? Kirche muss doch an Jesus Christus orientierte Kirche bedeuten. Nichts anderes kann Treue zu Jesus Christus und seiner überbrachten Botschaft bedeuten. Christliche Theologie muss sich also messen lassen am zentralen Maßstab des Christentums, dem historischen Jesus und seiner Botschaft. Wir wissen aus der Apostelgeschichte und aus Anspielungen in den Briefen des Paulus’, dass es zu heftigen Auseinandersetzungen aufgrund seiner theologischen Ansichten zwischen ihm und der Urgemeinde in Jerusalem gekommen ist, denn die Urjünger erkannten in Paulus’ Ansichten ihren Meister nicht wieder.31 Beachtet man nur folgende Textstelle aus der Apostelgeschichte, „Israeliten, hört diese Worte: Jesus, den Nazoräer, den Gott vor euch beglaubigt hat durch machtvolle Taten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wißt“ (Apg 2, 22), so fällt auf, dass nicht Jesus, sondern Gott die Wunder durch ihn getan hat. Jesus ist hier ganz und gar Mensch.32 Das sich schließlich die Sicht Paulus’ gegenüber der Urgemeinde durchsetzen konnte, so Aslan, sei der Zerstörung des Tempels bei der Eroberung Jerusalems 70 n. Chr. durch die Römer geschuldet. Hierdurch verlor nicht nur das Judentum sein religiöses und kulturelles Zentrum, zugleich wurden die Beziehungen zwischen der Jerusalemer Gemeinde Jesu und den christlichen Diaspora-Gemeinden abgeschnitten.33 Die Urgemeinde Jesu, so Küng, befolgte weiterhin die Halacha und sah in Jesus einen Propheten. Damit unterschieden sie sich deutlich vom Christentum des Paulus, der die Wende weg von Jesus hin zu einem griechisch-hellenistischen Christentum angestoßen hatte.34 Weiter findet Küng Belege, die das Bestehen einer kleinen judenchristlichen Gemeinde bis zur Wende des 4./5. Jahrhunderts in Beröa (Aleppo/Syrien) bezeugen, die aus einem hebräisches Matthäusevangelium las.35 Die Identifizierung des Evangeliums als das Matthäusevangelium ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Treffender ist es wohl vom Nazoräerevangelium zu sprechen, ein Ausdruck mit dem die Forschung heute eine aramäische Evangelienschrift im Gebrauch der judenchristlichen Gemeinde bezeichnet.36 Der Kirchenvater Hieronymus (gest. 420) bezeichnete 30 31 32 33 34 35 36

Vgl. aaO., 70f. Vgl. Schalom Ben-Chorin, Paulus. Der Völkerapostel in jüdischer Sicht, München 1992, 41f. Vgl. Erich Fromm, Das Christusdogma und andere Essays, München 1948, 42. Vgl. Aslan, Zealot, 212. Vgl. Küng, Islam, 71. Vgl. aaO., 72. Vgl. Jörg Frey, Art. Nazoräerevangelium, aus: http://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-

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diese Gemeinde als Gemeinde von Nazaraei; Küng fragt hierauf: „Ist es nun nicht eigenartig, daß ,nasa¯ra¯‘, dieses Wort syrischen Ursprungs der Name der ˙ Christen auch im Koran ist?“37 Die Schlussfolgerung kann nur lauten, dass der Islam die Judenchristen und ihr hebräisches oder aramäisches Evangelium als legitime Erben der Urgemeinde Jesus betrachtet und lediglich im Disput zu Paulus, zum Heidenchristentum und Teilen des Neuen Testaments steht.38 Es sei auch daran erinnert, dass in der islamischen Offenbarungsschrift lediglich vom Evangelium (ing˘¯ıl), Singular, die Rede ist. Ergänzend soll auch Küng zitiert werden, um den Zusammenhang zwischen Heidenchristen und dem Neuen Testament zu verdeutlichen, was die Kritik des Qur a¯n am Neuen Testament in einem neuen Licht erscheinen lässt:„Heutige Forschung sieht jedenfalls die Kontinuität des Judenchristentums mit den Anfängen der frühen Christenheit und weniger dessen häretische Verzerrung. Die Judenchristen gelten so als legitime Erben der frühen Christenheit, während das übrige Neue Testament größtenteils die Sicht des Heidenchristentums widerspiegelt […].“39 In der Folgezeit verstreuten sich die Judenchristen immer weiter. Spuren konnte Küng in Äthiopien finden, weiter lassen sich Belege für Judenchristen finden, die von Syrien oder Mesopotamien in das indische Kerala ausgewandert sind.40 Zuvor war schon der Apostel Bartholomäus, laut Küng ein Judenchrist, nach Indien gewandert, um die christliche Botschaft aus einem hebräischen – heute nirgendwo mehr auffindbaren – Matthäusevangelium zu verkünden.41 Auch in Südbabylonien existierte nachweislich eine judenchristliche Gemeinde.42 Nach einem Text des Gelehrten Abd Al-Dschabbar (gest. 1025) soll eine christliche Gemeinde, die Jesus nicht vergöttlichte und sich strikt an das mosaische Gesetz hielt im palästinisch-syrischen, wie auch arabischen und babylonischen Raum bis in das 7. Jahrhundert hinein bestanden haben.43 Küng schreibt, dass die „inhaltlichen Analogien zwischen dem koranischen Jesusbild und einer judenchristlich geprägten Christologie“44 verblüffend seien. An anderer Stelle schreibt der Theologe: „Der Islam erinnert die Christen an ihre eigene Vergangenheit.“45 Der muslimische Denker Murad Hofmann hingegen

37 38 39 40 41 42 43 44 45

bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/nazoraeerevangelium/ch/9e3ad254518568e 988bbcc36e3cc1e0d/ (22. 12. 2014). Küng, Islam, 72. Vgl. ebd. AaO., 597. Vgl. aaO., 73. Vgl. aaO., 74. Vgl. ebd. Vgl. aaO., 77. AaO., 78. Küng/Van Ess, Christentum, 181.

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benennt aufgrund dieser Kontinuität Muslime als die besseren, im Sinne von wahrhaftigeren, Christen.46 Dies macht deutlich: Hätte Karl Barth mehr Mut zum Protestantismus gehabt, hätte er hinter den Vorhang der paulinischen Theologie und das Heidenchristentum geblickt, wäre er am historischen Jesus interessiert gewesen, dann hätte der Qur a¯n – gleichgültig ob man nun Muhammad als Propheten oder den Qur a¯n als Offenbarung akzeptiert – eine bereichernde Quelle für das Nachdenken des Theologen samt Korrekturfunktion darstellen können.47 Küng schreibt ähnlich: „Das koranische Jesusverständnis ist christlich nicht mehr länger als muslimische Häresie zu verstehen, sondern als eine urchristlich gefärbte Christologie auf arabischem Boden!“48 Doch bei dem Theologen Barth bleibt das Gottesverständnis in Abhängigkeit des paulinisch-hellenistischen Christentums. Diese Prämisse macht den Gott des Theologen Barth. Dies steht in Kontinuität zu Schlatter. Christliche Identität, so Schlatter, „muss Paulus kennen“49. So versperrte sich die protestantische Theologie, die Verbindung des Judenchristentums und des Islam konstruktiv wahrzunehmen, stattdessen heißt es bei Schlatter, der Islam habe das Paulusvergessene und daher kraftlose Christentum geerbt.50 Das Gegenteil ist der Fall: Trotz seines hehren Ziels ist der Protestantismus unvollendet geblieben, wirklich bei dem Mann aus Nazareth anzukommen. Küng sieht allein in einer radikalen Rückkehr zu Jesus von Nazareth, dem „wahren, wirklichen, geschichtlichen Christus“51, den einzigen Weg zu einer Erneuerung des Christentums. Auch er kommt zu dem Schluss, dass von „einer Menschwerdung Gottes selbst […] im Neuen Testament nirgendwo die Rede [ist]. Deutlich werden erst im Johannesevangelium im Ausruf des ungläubigen Thomas ,Mein Herr und mein Gott‘, diese beiden gewichtigsten Prädikationen zusammen auf Jesus übertragen. Außerhalb des Johannesevangeliums wird Jesus nur in wenigen, durchwegs späten, hellenistisch beeinflussten Ausnahmefällen direkt als ,Gott‘ bezeichnet.“52 Küng kommt in seinen Forschungen somit zu dem Schluss: erst die spätere hellenistisch durchsetzte Theologie setzte Jesus identisch mit Gott.53 Rückkehr zum historischen Jesus bedeutet, so der Religionswissenschaftler Ben-Chorin (gest. 1999), 46 Vgl. Murad Hofmann, Der Islam als Alternative, München 1999, 47. 47 Siehe auch Mahmut Aydin, Contemporary Christian Evaluations of the Prophethood of Muhammad (peace be on him), in: Quarterly Insights 1, 2009, 105–137. ˙ Islam, 602. 48 Küng, 49 Schlatter, Gesunde Lehre, 242. 50 Vgl. Schlatter, Gesunde Lehre, 242. 51 Hans Küng, Christ sein, München 1978, 180f. 52 AaO., 536. 53 Vgl. ebd.

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„die Züge des jüdischen Mannes aus Nazareth von der Übermalung der christlichen Ikonologie [zu reinigen] […]. Schicht um Schicht, die die Kirchengeschichte hier hinterlassen hat, muss abgehoben werden, damit man zum ursprünglichen Antlitz Jesu vordringt. Dieses Antlitz und diese Gestalt stehen aber dann nicht in einem leeren Raum, sondern müssen eingefügt erkannt werden in das ihnen zeitgenössische palästinensische Judentum. Jede andere Sicht muss dem Wesen Jesu fremd bleiben.“54

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Hierzu kann eine christliche Betrachtung der qur a¯nischen Christologie dienen, so Küng, um „die Botschaft der Bibel von späteren Übermalungen und Übersteigerungen durch das Ernstnehmen der Mahnungen des Korans“55 zu befreien. Küng kommt für sich zu dem Ergebnis, dass Jesus sich nur als Mensch gesehen hat, der dazu einlud mit ihm zu glauben, aber nicht an ihn. Es lasse sich keine Identifizierung Jesu mit Gott ausmachen (vgl. Mk 10, 17f; Joh 7, 16–18; Joh 17, 1–3). Ganz im Gegenteil, lehnte Jesus doch alle Erhöhungsversuche ab (vgl. Joh 7, 16–18; Joh 20, 17). Diese exemplarischen Textstellen sollen verdeutlichen, dass es jeweils nicht um den Willen Jesu, sondern um den Willen Gottes geht und dass dieser oberste Priorität hat. Nach Willi Bühler und Andreas Kessler zielte Jesus auf eine Reform des Judentums, dabei verließ er jedoch nie den jüdischen Glauben.56 Über den Heiligen Geist urteilt Küng schließlich: „Die meisten Missverständnisse über den Heiligen Geist stammen von daher, dass man ihn wie eine mythologische Gestalt von Gott losgetrennt und verselbständigt hat.“57 Der Heilige Geist ist demnach nicht als eine Hypostase Gottes zu verstehen, sondern als Seine Macht und Kraft in der Welt, die sich von jeglicher irdischen Macht unterscheidet. Wenn sich demnach beim historischen Jesus keine heilige Trinität finden lässt und wenn man theologische Winkelzüge wie jene von Rudolf Bultmann unterlässt, wonach die nachösterliche Christologie im vorösterlichen Jesus bereits angelegt sei,58 dann fällt die Prämisse der gesamten Theologie Barths in sich zusammen, die davon ausgeht, dass der wahre Gott sich in Jesus als dem ewigen Sohn durch seine Menschwerdung zu erkennen gegeben hat.

54 Schalom Ben-Chorin, Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht, München 1983, 12. 55 Küng/Van Ess, Christentum, 176f. 56 Vgl. Willi Bühler/Andreas Kessler, Christentum, in: Willi Bühler/Benno Bühlmann/Andreas Kessler, Sachbuch Religionen. Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, Horw 2009, 180–235, 186. 57 Hans Küng, Credo. Das Apostolische Glaubensbekenntnis – Zeitgenossen erklärt. München 2008, 167. 58 Theißen/Merz, Jesus, 26.

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5.

Muhammad Sameer Murtaza

Juden, Christen und Muslime – gemeinsam statt einsam

Die theologische Konsequenz für das Christentum würde in Bezug auf Gott nun bedeuten, die Drei-Naturen-Lehre Gottes aufzugeben und zum jüdischen EinGott-Glauben zurückzukehren, der auch der Glaube Jesus und seiner Anhänger war. Das heißt aber nicht, die Tradition des christlichen Nachdenkens von Gott in Bausch und Bogen zu verwerfen, sondern das nachösterliche Erinnern an den vorösterlichen Jesus in seinem Wahrheitsmoment neu zu bestimmen und dort, wo die Erinnerung zu einem Bild von Gott geworden ist, da braucht es im Grunde eine radikale Bilderkritik. Den Monotheismus Jesus in christlicher Sprache auszudrücken, hieße dann konkret: An Gott, den Vater, glauben heißt demnach an den einen Gott zu glauben. Diesen Glauben an den einen Gott haben das Judentum, das Christentum und der Islam gemeinsam.59 An den Sohn Gottes glauben, heißt, an die Offenbarung Gottes die dem Gesandten Jesus von Nazareth zuteilwurde, zu glauben. Aber nicht der Bote ist heilbringend, sondern seine theozentrische Botschaft (soteriologische Prophetie). An den Heiligen Geist glauben, bedeutet, an Gottes wirksame Macht und Kraft in Mensch und Welt zu glauben. „Das Kriterium für das Christsein ist somit nicht die später herausgebildete kirchliche Trinitätslehre, sondern ist der Glaube an den einen und einzigen Gott, ist die praktische Nachfolge Jesu im Vertrauen auf die Kraft des Geistes Gottes, jenes Geistes, der auch im Dialog mit den Nichtchristen wirkt, wo er will, und uns führen wird, wohin er will“60, so Küng. Das Bekenntnis des Islam, des Propheten Muhammad und seiner Gemeinde zu Jesus ist ein Bekenntnis zum historischen Jesus wie ihn die ersten Jünger kannten und verstanden. Dieses Bekenntnis sollte auf christlicher Seite nicht als wertlos erachtet werden und das Wertvolle hieran nicht verneint werden. Es kann der christlichen Theologie wieder dazu verhelfen, angemessen von Gott zu sprechen. Wenn die Dompredigerin Cornelia Götz im interreligiösen Dialog berichtet, dass ihr Theologie-Professor die Lehre vom wahren Gott und wahren Menschen anhand einer Analogie zu James Bond veranschaulichte, „gerührt und nicht geschüttelt. Unvermischte Naturen und trotzdem eins“61, dann bewirkt ein solches Sprechen von Gott bei Muslimen Kopfschütteln und 59 Vgl. Küng/Van Ess, Christenum 1994, 177f. 60 AaO., 178f. 61 Cornelia Götz/Mohamed Ibrahim, Jesus – Gottes Sohn oder Gottes Bote?, in: Braunschweiger Zeitung vom 04.04 2015, 25.

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bestätigt sie darin, in welcher Krise die christliche Theologie sein muss, wenn sie es nicht schafft, in einer würdevollen Sprache die Trinitätslehre darzulegen. Wenn es in Sure 29: 46 an Juden und Christen gerichtet heißt: ,Unser Gott und euer Gott ist ein und derselbe‘, dann handelt es sich nach der reformistischen Schule von Jamal Al-Din Al-Afghani (gest. 1897) und Muhammad Abduh (gest. 1905) faktisch um ein Glaubensbekenntnis.62 Judentum, Christentum und Islam sind demnach jeweils ein Teil einer größeren, nämlich der abrahamischen Gemeinschaft und so wird es Christen, trotz Trinitätslehre nirgendwo im Qur a¯n abgestritten, Abrahams Kinder zu sein. Durch das Hinzuziehen der Religion Zarathustras (siehe Sure 22: 17) weitet der Islam den Kreis sogar noch aus, indem er die abrahamischen Religionen als Teil der allgemeinen monotheistischen Weltbewegung betrachtet. Trotz der muslimischen Kritik hinsichtlich der Defizite im Gottesverständnis der christlichen Theologie, kann nicht abgestritten werden, dass Juden, Christen und Muslime die gleiche einzige Wirklichkeit, den gleichen Urgrund, den gleichen Urhalt, das gleiche Urziel und die gleiche Urhoffnung anvisieren: den einen und einzigen Gott.63 „Es ist die geheime Klammer im Himmel. Gerade das, was uns trennt, eint uns auch. Das Absolute nämlich“64, so der Theologe Ulrich Schoen. Ergänzend schreibt der Theologe Clemens Thoma: „[…] denn Judentum, Christentum und Islam gehen – unter der Führung des Einen Gottes – auf getrennten Wegen dem Reich Gottes entgegen“65. Und im Einklang mit Sure 5: 5, die zur Tischgemeinschaft, nicht nur zwischen Muslimen und Juden, sondern auch mit Christen aufruft, möchte ich ergänzen, sie gehen dem Reich Gottes gemeinsam als Geschwister entgegen.

62 Vgl. Muhammad Sameer Murtaza, Islam. Eine philosophische Einführung und mehr, Norderstedt 2014, 183–188. 63 Vgl. Reinhold Bernhardt, Glauben Juden, Christen und Muslime an den gleichen Gott? aus: http://pfarrerverband.medio.de/pfarrerblatt/index.php?a=show& id=2986 (30. 08. 2015). 64 Ulrich Schoen, Lose Teile und die geheime Klammer – oder : Zur Mystik gezwungen, in: Reinhard Kirste/Paul Schwarzenau/Udo Tworuschka (Hg.), Die dialogische Kraft des Mystischen, Balve 1998, 400–406, 405. 65 Hildegard Becker, Juden, Christen und Muslime im Lernprozess „Dialog“, in: Kirste u. a., Die dialogische Kraft, 527–539, 528.

Ruggero Vimercati Sanseverino

Die Offenbarung Gottes an Muhammad als kritischer Maßstab der islamischen Theologie? –Versuch einer interreligiösen Begegnung mit Karl Barths Denken1

1.

Einleitung

Karl Barth und der Islam, ein Zusammenhang, der nicht selbstverständlich ist. Ein Theologe und eine Religion, die ihm eher befremdlich zu sein schien – das jedenfalls legt das fehlende Interesse für den Islam nahe, das aus seinem Werk hervorscheint. Warum auch hätte er sich, in der Zeit und im Milieu, in denen er sein Denken entfaltete, für den Islam interessieren sollen? Die Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte, war offenbar eine andere. Sie war groß genug, um seine ganze Aufmerksamkeit und sein ganzes Leben in Anspruch zu nehmen. So ist es denn ein merkwürdiges Vorhaben, diesen Zusammenhang, auf welche Weise auch immer, herstellen zu wollen. Auch in Zeiten, in welchen der Islam in aller Munde ist, meistens mit einer schlechten Presse, und in welcher eine vorurteilsfreie Beschäftigung mit dieser fremden, aber doch vertrauten Religion so unumgänglich geworden ist. Aber ist diese Merkwürdigkeit, dieses Fragezeichen, dem sogleich ein entschiedenes Ausrufezeichen folgt, denn nicht der vielversprechendste Hinweis auf eine dunkle Stelle, auf die ein wenig farbiges Licht zu werfen wäre? In diesem Sinne ist dieser Beitrag zunächst als Ergebnis einer ersten Begegnung eines muslimischen Theologen mit dem Denken von Karl Barth zu verstehen. Das Ziel dieser Begegnung besteht darin, die Möglichkeiten eines intertheologischen Dialogs zwischen einer noch jungen universitären Disziplin, der islamischen Theologie in Deutschland, mit einem der einflussreichsten Vertreter des theologischen Diskurses im modernen Westen auszuloten. Es handelt sich hier also nicht darum, die Rezeptionsgeschichte Barths im zeitgenössischen muslimischen Denken zurückzuverfolgen, denn es gibt eine solche nicht. Ebenso wenig ist hier eine Kritik der barthschen Theologie aus islamischer Sicht zu erwarten. Vielmehr soll es darum gehen, Anknüpfungspunkte zu 1 Dieser Beitrag wurde von dem Interreg V Oberrhein Projekt Inter-Religio gefördert, das aus dem europäischen Fonds FEDER finanziert wird.

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Ruggero Vimercati Sanseverino

identifizieren, die sich aus Barths Denken für die zeitgenössische islamische Theologie ergeben könnten. Der Autor dieser Zeilen erhofft sich in erster Linie mögliche Impulse für die islamische Theologie ausmachen zu können. Ob sich daraus Möglichkeiten eines reellen intertheologischen Austauschs zwischen der dialektischen Offenbarungstheologie und dem islamischen Offenbarungsbegriff ergeben, wäre in einem weiteren Schritt zu erörtern. Beides setzt voraus, dass Karl Barths Denken weniger in seiner konfessionellen Bestimmung als in seiner Universalität betrachtet wird. Der Karl Barth, der uns hier interessieren soll, ist der Karl Barth, der etwas über Offenbarung und Theologie zu sagen hat, was für alle Offenbarungsreligionen relevant sein kann.2 Relevant bedeutet hier in erster Linie, dass man sich aus dieser Begegnung eine neue, oder zumindest eine erneuerte Blickweise auf Offenbarung und die Konsequenz, die sich daraus für die Theologie ergeben könnte, versprechen kann; eine Art und Weise von Gottes Offenbarung zu reden, die die Fragestellungen der westlichen Moderne aufnimmt und die theologische Tätigkeit grundsätzlich überdenkt. Diese transkonfessionelle Betrachtungsweise kann natürlich nicht bedeuten, dass die Ausgangslage, die Struktur, die Sprache und der Zweck der barthschen Theologie, die allesamt christlich-evangelisch geprägt sind,3 ausgeblendet werden. Ganz im Gegenteil: Erst wenn man sich der konfessionellen Substanz seines Denkens vollends bewusst wird, ist es möglich, auf das intertheologische Potenzial desselbigen einzugehen.

2.

Barths Offenbarungstheologie und die islamische Theologie

Zunächst stellt sich die Frage, was sich die islamische Theologie von einer Beschäftigung mit der Theologie Karl Barths erhoffen und versprechen darf. Die Dringlichkeit dieser Frage zeigt sich schon alleine durch die Tatsache, dass sie bisher noch nicht gestellt wurde. Dem Autor dieses Beitrags ist tatsächlich kein islamischer Theologe oder Denker bekannt, der sich ausgiebig mit Karl Barth beschäftigt hat, oder sich von ihm auf eine erkennbare Weise hat beeinflussen lassen. Hier scheint, nebenbei bemerkt, Karl Barth jedoch kein Einzelfall; in der 2 Interessanterweise bemerkt J. Augustine Di Noia diesbezüglich: „In fact, Barth has relatively little to say about particular religions, but a very great deal to say about religion“; vgl. J. Augustine Di Noia, Religion and the Religions, in: John Webster (Hg.), The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge 2000, 244. 3 Für John Webster handelt es sich bei der Priorität von religiöser Subjektivität und Erfahrung, der Identifikation von Gott mit ethischem Wert und der Darstellung von Jesus als archetypische Verkörperung religiösen und moralischen Bewusstseins um die drei theologischen Prämissen, die Barth grundsätzlich in Frage stellt. Es ist offensichtlich, dass diese für die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts charakteristisch sind; vgl. John Webster, Introducing Barth, in: Ders. (Hg.) Companion Barth, 1–16, 11.

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Tat haben sich moderne muslimische Denker, ganz zu schweigen von den traditionellen Gelehrten, vor allem mit den Philosophen des Westens auseinandergesetzt, weniger mit den Theologen. Der algerische Intellektuelle Mohammed Arkoun beklagte dieses Situation in den frühen 80er Jahren,4 doch seitdem, so scheint mir, hat sich in dieser Hinsicht nicht sehr viel geändert. Die christologische und trinitarische Prägung von Barths Theologie mögen hierfür eine Erklärung sein. Interessanterweise sind entsprechende Impulse zwar nicht von den Muslimen selbst, aber von einem Vertreter des Orientalismus, das heißt sozusagen aus einer beobachtenden Außenperspektive heraus formuliert worden. Der neo-thomistische Islamwissenschaftler Louis Gardet (1904-- 1986) ist meines Wissens der einzige, der auf mögliche Parallelen zwischen der barthschen Offenbarungstheologie und der ash’aritischen Kalam-Theologie aufmerksam gemacht hat:5 „Der Islam würde ohne Vorbehalt von seiner Schrift sagen, wie Barth es von der Bibel sagt, dass es sich um eine freie Tat (libre action) Gottes handelt, die jedoch außerhalb der Zeit geschieht und trotzdem, für jeden von uns, immer ein aktuelles Ereignis ist.“6 Die absolute Freiheit Gottes bildet in der Tat das Grundmotiv der ash’aritischen Theologie, die damit im 10. Jahrhundert einen Gegenentwurf zum rationalistisierenden Mu’tazilismus lieferte. Gott ist demnach von jeder Verpflichtung frei, auch der Verpflichtung sich um Seine Geschöpfe zu kümmern.7 Wenn Er dies tut, dann nur, weil Er sich selbst dazu aus freier Barmherzigkeit verpflichtet hat. Offenbarung stellt demnach laut ash’aritischer Lehre keine Notwendigkeit (wuju¯b) dar, sondern sie ist lediglich ,möglich‘ (ja¯ iz). Damit bringt der Ash’arismus zum Ausdruck, dass das Offenbarungshandeln Gottes keiner Bedingung oder Voraussetzung unterliegt; es ist gänzlich von Gottes Heilswillen bestimmt und dieser ist unergründlich-- „auf den göttliche Willen stützt sich alles, dieser aber stützt sich auf nichts anderes“8. Gardet macht aber ebenso auf die Unterschiede zwischen der Perspektive des Kala¯m und der Theologie Barths aufmerksam. So qualifiziert er zwar beide als fideistisch, aber im Unterschied zum Kala¯m verweigere sich Barths Theologie

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4 Mohammed Arkoun, Quelques t.ches de l’intellectuel musulman aujourd’hui, in: Intellectuels et militants dans le monde islamique. Cahiers de la M8diterran8e, 37, 1988, 1, 1–34. 5 Louis Gardet/Georges C. Anawati, Introduction / la th8ologie musulmane, Paris 32013 [ursprl. Paris 1948]. 6 AaO., 316. 7 So heißt es z. B. bei al-Ghaza¯lı¯ in seinem Qawa¯ id al- aqa¯ id: „Gott tut an Seinen Geschöpfen, was auch immer Seinem Willen entspricht und die Fürsorge für Seine Geschöpfe stellt keine Verpflichtung für Ihn dar“; vgl. Abu¯ Ha¯mid Muhammad al-Ghaza¯lı¯, Qawa¯ id al- aqa¯ id, Bd. 1, Beirut 2015, 157 [Edition der Maktabat al- Asriyya]. 8 Ibn Ata¯ Alla¯h al-Iskandarı¯, Bedrängnisse sind Teppiche voller Gnaden, übers. v. A. Schimmel, Freiburg i.Br. 1987, 74.

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ausdrücklich einer apologetischen Funktionalisierung,9 der Glaube hätte sich bei Barth nicht gegen den Unglauben zu rechtfertigen, sondern nur gegen sich selbst. Interessant ist hier Gardets Bemerkung, dass die Sufis10 dem zwar eventuell zustimmen könnten, jedoch auf keinen Fall die Kala¯m-Theologen. Den entscheidenden Unterschied zwischen dem Kala¯m und der Theologie Barths sieht Gardet ganz richtig in der Tatsache, dass der Kala¯m sich nicht wie eine „Funktion der Kirche, die sich ihrer Verantwortung bewusst wird“11 definiert, sondern als „einen organisierten Wissens- und Belegbestand sowie einer Analyse und Verteidigung eines dogmatischen Sachverhalts“12. Wir werden später noch auf diesen Aspekt von Barths Theologiebegriff zurückkommen und sehen, dass hier durchaus analoge Momente auszumachen sind. Gardet schlussfolgert schließlich, dass „bestimmte Begriffe der protestantischen Theologie einige entsprechende Begriffe der muslimischen Theologie erhellen [können]“13. Ob dies für ihn in einem größeren Maß gilt, als dies für die katholische Theologie der Fall sei, bleibt unklar. Den Grund dafür sieht Gardet jedenfalls in dem „Zurückweichen zur göttlichen Transzendenz“14, das sowohl für die protestantische als auch für die muslimische Theologie charakteristisch sei. Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, in welchem Zusammenhang die Theologie Karl Barths für die islamische Theologie von Interesse sein könnte, so scheint mir, dass hier sinnvollerweise zwischen einem pragmatischen und einem inhaltlichen Interesse unterschieden werden kann. Das pragmatische Interesse begründet sich hauptsächlich darin, dass Barth unbestritten einer der bedeutendsten westlichen Theologen des 20. Jahrhunderts ist. Ich sage hier an dieser Stelle bewusst ,westlicher‘ und nicht ,christlicher‘ Theologe, denn was uns in diesem Zusammenhang an Barth interessieren soll, ist weniger der christliche Inhalt seiner Theologie, als die Tatsache, dass sie Fragestellungen entwickelt, die das Reden von Gott, vor dem Hintergrund der modernen und westlichen Religionskritik, in den Mittelpunkt der theologischen Tätigkeit zu stellen weiß. Karl Barths Theologie soll hier also als eine Inspiration für ein theologisches Fragen, Denken und Reden betrachtet werden, das sich im Problemhorizont der (Post-)Moderne zu bewegen fähig ist. Gerade der bei Barth so zentrale Offenbarungsbegriff bedarf zweifellos einer verstärkten Aufmerksamkeit. Wie Klaus 9 Gardet/Anawati, Introduction, 317. 10 Der Ausdruck ,Sufismus‘ ist eine verdeutsche Form des arabischen al-tasawwuf bzw. alsu¯fiyya. Er bezeichnet die spirituelle Tradition im sunnitischen Islam und ˙wird gemeinhin ˙mit ,islamische Mystik‘ übersetzt. 11 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik, 1. Halbbd., München 1932, 77. 12 Gardet/Anawati, Introduction, 317. 13 AaO., 317. 14 Ebd.

Die Offenbarung Gottes an Muhammad als kritischer Maßstab

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von Stosch bemerkt, ist Offenbarung „in der gegenwärtigen Theologie eine Schlüsselkategorie geworden, die für Legitimation und Glaubensverantwortung unverzichtbar ist und systembildende Funktion hat“15. Damit kommen wir sogleich zum inhaltlichen Interesse, auf das ja bereits schon der Titel des Beitrags hinweist: Die Offenbarung Gottes an Muhammad als kritischer Maßstab der islamischen Theologie. Tatsächlich scheinen einige Grundaussagen der barthschen Theologie, sofern man sie sozusagen im Rohzustand und ohne historische Perspektivierung betrachtet, einem islamischen Theologen überraschend bekannt, so zum Beispiele das Konzept der Unverfügbarkeit der Offenbarung, auf das wir später noch zurückkommen werden. Neben dem Feststellen von Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkten bietet die Beschäftigung mit einer anderen Theologie darüber hinaus immer die Möglichkeit, die eigenen Offenbarungszeugnisse unter einem neuen Licht zu betrachten und damit bisher unterbelichtete Aspekte neu zu erschließen. Hier liegt meiner Ansicht nach auch der eigentliche Sinn einer komparativen Theologie, wie sie zum Beispiel der vorhin schon erwähnte Louis Gardet und sein Kollege Georges Anawati betrieben haben.16 Die Frage, die in den nachkommenden Ausführungen zu beantworten versucht werden soll, lautet daher folgendermaßen: Was kann die islamische Theologie in Deutschland von Karl Barth lernen? Um diese Fragen zu erörtern, möchte ich einige wenige Elemente oder Motive der Theologie Karl Barths aufgreifen und versuchen aufzuzeigen, wie hieraus Ansätze für bestimmte Problemfelder der zeitgenössischen islamischen Theologie angedacht werden könnten.

3.

Voraussetzungen der theologischen Tätigkeit: Die Frage nach der Möglichkeit der Rede von Gott und die Notwendigkeit eines kritischen Maßstabs

Karl Barths Frage nach der Möglichkeit der Gottesrede, und damit nach der Möglichkeit von Theologie, erscheint im 20. Jahrhundert wie ein Weckruf an ein Denken und Sprechen über Gott, das sich vordergründig mit sich selbst be15 Klaus von Stosch, Offenbarung, Paderborn 2010, 7. 16 Siehe dazu auch die Ausführungen von: Klaus von Stosch, Komparative Theologie als Alternative zu Inklusivismus und Pluralismus, in: Ders., Offenbarung, 89–93. Hier heißt es ganz programmatisch: „Es geht ihr [der komparativen Theologie] darum, im Gespräch mit dem konkreten Anderen das Eigene neu und anders zu verstehen und so auch neue Perspektiven auf den anderen zu ermöglichen […]. Komparative Theologie will also dazu ermutigen, ausgewählte, spannende und herausfordernde Interpretationen von Religion und ihren Offenbarungsansprüchen miteinander ins Gespräch zu bringen, um in der eigenen Wahrheitssuche weiterzukommen“; vgl. aaO., 92f.

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schäftigt und an den eigenen Konstruktionen ergötzt. Wie kein anderer macht uns Barth darauf aufmerksam, dass der Theologe Gefahr läuft, sich die Offenbarung Gottes anzueignen, sie sich wie ein Götzenbild zurecht zu machen – und letztendlich ,verstummen‘ zu lassen. Der narzisstische Hang, sich Gott nach dem eigenen Bild zu gestalten, den Barth uns ins Bewusstsein ruft, ist dem Menschen jeglicher Epoche und Kultur eigen; das Geschöpf, so hatte schon Ludwig Feuerbach festgestellt, neigt dazu, sich seinen eigenen Schöpfer zu schaffen. Die Ebenbildlichkeit des Menschen, eigentlich Grundlage seiner Würde und Freiheit,17 wird so, in diabolischer Umkehrung, zum Anlass seines Verhängnisses. Barth deckt die Eigenmächtigkeit der modernen Theologie als Bestreben, ,sich selbst‘ – das heißt durch eigene Kraft –,heiligen zu wollen‘ auf. Die Wucht, mit der dieser Weckruf auf die Gedankengebäude der modernen westlichen Theologie prallte, zeigt, wie gerechtfertigt er war und noch immer ist. In seiner berühmten Formulierung hat Karl Barth das Problem der Möglichkeit von Theologiefolgendermaßen aufgeworfen: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden.“18 Karl Barth schlussfolgert: „Von Gott [kann] nur Gott selber reden […].“19 Diese Problemstellung hat Barth bekanntlich als Reaktion auf die sogenannte ,liberale Theologie‘ formuliert, die das Klima des protestantischen Diskurses in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts prägte. Die Erkenntnis Gottes kann im Sinne dieser Kritik nur von Gott Selbst ausgehen, nicht vom Menschen, denn das hieße, die Radikalität der Sündensituation des Menschen zu verkennen.20 Nur Gott Selbst kann den unüberbrückbaren Unterschied zwischen Gott und Mensch überbrücken und genau darin besteht Offenbarung. Der Theologe, also derjenige, der seiner Bezeichnung nach von Gott reden soll, „soll Beides“, sein „Sollen“ und sein „Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre

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17 Das Konzept der Ebenbildlichkeit wird übrigens im Islam durchaus thematisiert und teilweise auch kontrovers diskutiert; vgl. Manuela Pagani, L’ Imago dei e interdizione di ucciderenel l’ Islam. Il capitol su Gionadei Fusus al-hikam di Ibn ’Arabi, in: Alberto Melloni/ Riccardo Saccenti (Hg.), In the Image of God. Foundations and Objections within the Discourse on Human Dignity. Proceedings of the Colloquium Bologna and Rossena (July 2009) – in Honour of Pier Cesare Bori, Berlin 2010, 227–261. Vom Propheten Muhammad wird folgender Hadith überliefert: „Gott schuf Adam nach seinem Ebenbild ( ala¯ su¯ratihi)“; vgl. Ala¯ al-Dı¯n al-Muttaqı¯ al-Hindı¯, Kanz al- umma¯l fı¯ sunan al-aqwa¯l wa al-af a¯˙l, Beirut 1981, Nr. 1142.1145. 1147. 1150); oder laut einer anderen Überlieferung „nach dem Ebenbild des Allbarmherzigen“ ( ala¯ su¯rat al-Rahma¯n); vgl. aaO., Nr. 1146. 1148. 1149. Aus der theo˙ ˙ der Prophet die Untersagung her, einer Person ins morphen Identität der Menschen leitet Gesicht zu schlagen. 18 Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten (1922–1925), GA III.19, hg. v. H. Finze-Michaelsen, Zürich 1990, 144–175, 151. 19 AaO., 173. 20 AaO., 168.

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geben“.21 Die Feststellung des inkommensurablen Unterschieds zwischen Gott und Mensch wird damit paradoxalerweise zur Bedingung von Gotteserkenntnis, denn nur wenn der Mensch seine Unfähigkeit von Gott zu sprechen anerkennt, ist er in der Lage, Gottes Rede von Sich-Selbst zu empfangen. Die Problematik, die sich daraus ergibt, dass der Mensch sich auf einen Gott beziehen soll, der ihm grundsätzlich entzogen ist, ist allen Offenbarungsreligionen22 gemeinsam. Sie findet ihren Ausdruck in dem Thema der Götzenanbetung. Der Koran warnt seinerseits eindringlich davor, „Anderes als Gott anzubeten“, das heißt sich vor anderem als Gott heiligen zu wollen, und ohne Ermächtigung durch eine Offenbarung über Gott zu sprechen.23 Die Heilige Schrift des Islams insistiert geradezu auf den Zusammenhang, der zwischen der Idolatrie und der unangemessenen Gottesrede besteht, wie in dem Vers „Sprich: Mein Herr hat verboten […] dass ihr neben Gott Anderes stellt wozu Er keine Ermächtigung herabgesandt und dass ihr über Gott sagt, was ihr nicht wisst.“ (Qur. 7:33) Karl Barth wirft diese grundlegende und allen Offenbarungsreligionen gemeinsame Problematik nur neu auf, indem er die moderne Religionskritik theologisch interpretiert und auf die Theologie seiner Zeit anwendet. Doch anders als die Theologen vor ihm, stellt er die Frage nach der Möglichkeit der Gottesrede in das Zentrum der theologischen Tätigkeit. Er macht deutlich, dass die Möglichkeit eines angemessenen Redens von Gott nicht vorausgesetzt werden kann; ein theologisches Reden von Gott muss sich aus der Frage ,wie kann der Mensch von Gott reden?‘ heraus vollziehen. Das theologische Denken hat diese Frage wie eine reinigende Katharsis zu durchlaufen, um die eigene Unfähigkeit, von Gott reden zu können, zu erfahren und zur Erkenntnis, „von Gott [kann] nur Gott selber reden“, vordringen zu können. Barth erinnert die Theologen ganz gleich welcher Konfession und Religion, dass nur aus dieser Erkenntnis eine ihrer Sache angemessene Theologie hervortreten kann. Damit steht er wohl wie kein anderer in der modernen Theologie für die Kompromisslosigkeit, mit der er aufgezeigt hat, dass eine Theologie sich dieser Frage nicht (mehr) entziehen kann, ohne Gefahr zu laufen, sich, gerade im Kontext des modernen Homozentrismus, von ihrem eigentlichen Gegenstand zu entfremden. Anstatt von Gott zu reden, redet der Mensch nur über sich selbst. Feuerbachs Projektionstheorie, wonach das Gottesbild eine Projektionsfläche 21 AaO., 151. 22 Zu Karl Barths Religionsbegriff später mehr. 23 Karl Barth bemerkt „daß Alles, was auf Grund freier Wahl als ,Gott‘ bezeichnet wird, gerade nicht Gott sein und daß Alles, was sich aufgrund dieser Voraussetzung als Gotteserkenntnis ausgibt, als Gotteserkenntnis weder wirklich noch möglich sein kann. […] Wahre Gotteserkenntnis ist unangegriffen und unangreifbar […]; solche wahre Gotteserkenntnis ist aber die und nur die, die sich in der Bindung an Gottes Wort vollzieht.“; vgl. Barth, KD I/1, 5.

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menschlicher Sehnsüchte sei, droht die Theologie einzuholen und sie als eine verkappte Anthropologie zu entlarven, wenn die Frage nach der Möglichkeit von Gottesrede nicht zum Ausgangspunkt des theologischen Denkens und Redens wird. Die islamische Theologie ist hier keine Ausnahme. Wer sich darauf einlässt, Barth interreligiös zu lesen, der kann nicht umhin, sich von seinem Weckruf bedrängt – oder, wie von einer erfrischenden Brise, neu inspiriert – zu fühlen. Auch der Islam ist ganz und gar eine Religion der Offenbarung, sofern man unter Offenbarung auch eine göttliche Kommunikation24 an einen Menschen versteht, der dadurch zum Propheten wird. Die islamische Semantik von Offenbarung hebt einerseits den kommunikativen und inspirierten (wahy) Charakter der ˙ Offenbarung hervor und andererseits die Tatsache, dass Offenbarung etwas ist, das auf den Menschen ,herabkommt‘ (tanzı¯l)25 und von ihm empfangen wird. Letzteres trifft insbesondere auf den Koran zu, wobei zu bedenken ist, dass im Islam das Phänomen der Offenbarung nicht vom Koran erschöpft wird. Der Sunna26, der prophetischen Verkündigung und Praxis, wird ebenfalls ein Offenbarungscharakter zugesprochen. In der Tat ist die Offenbarung des Korans nur im Zusammenhang mit der geoffenbarten Verkündigung des Propheten zu verstehen, eine Tatsache, die im nächsten Kapitel noch weiter auszuführen sein wird. Ohne an dieser Stelle in die Details des islamischen Offenbarungsbegriffs und dessen vielfältige Interpretationsmöglichkeiten gehen zu wollen, bleibt festzustellen, dass die Offenbarung des Einen Gottes an Muhammad die Grundtatsache, oder um Barths Terminologie aufzugreifen, der kritische Maßstab jeglicher islamischen Theologie bildet. In der Tat ist der Offenbarungsbegriff im Islam nicht ohne den Zusammenhang zwischen der Einheit Gottes, al-tawh¯ıd, der ˙ Herabsendung des Korans, al-tanzı¯l, und der prophetischen Bezeugung und Verkündigung, al-risa¯la, zu denken: Gott gibt sich in der Offenbarung des Korans als der Eine dem Propheten Muhammad zu erkennen. Die prophetische 24 Die islamische Tradition spricht von khita¯b, einem Diskurs und einer sprachlichen Äußerung, die einen Adressaten implizieren. ˙Im Fall des Korans handelt es sich dabei um den Propheten und, durch seine Vermittlung, um die gesamte Menschheit. 25 Indem der Koran die Wortwurzel NZL in verschiedenen Zusammenhängen benutzt, wird das semantische Feld des Offenbarungsbegriffs erweitert. Der Regen, der die Erde ,belebt‘ und Pflanzen wachsen lässt, durch die sich der Mensch und alle Geschöpfe ernähren, wird ebenfalls von Gott ,herabgesandt‘. Wie der Regen, ,belebt‘ Offenbarung den Menschen, indem sie Glauben in ihm erzeugt. 26 Al-sunna wird übersetzt mit Sitte, Brauch, Handlungsweise, Praxis und Tradition. Im vorislamischen Arabisch bezeichnet Sunna eine Tradition oder eine Handlungsweise, die von einer bestimmten Persönlichkeit in eine Gemeinschaft eingeführt wurde und seitdem nachgeahmt wird. Die Sunna des Propheten wurde hauptsächlich in Form von Berichten von oder über den Propheten, den Hadithen, überliefert.

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Bezeugung und Verkündigung ist auf das Offenbarungsereignis ausgerichtet; indem sie das Prophetentum Muhammads begründet, macht sich die Offenbarung geschichtlich und die Einheit der göttlichen Wirklichkeit für die Menschheit erfahrbar. Gotteserkenntnis wird durch das Aufeinanderbeziehen dieser drei Elemente erst denkbar gemacht; sie ist insofern möglich, als Gott sich in seiner Offenbarung dem Menschen Muhammad zu erkennen gegeben hat. Der Zugang zu dieser Gotteserkenntnis besteht für den Menschen in der Teilhabe an Muhammads Offenbarungserfahrung. Diese Teilhabe wird durch die Nachfolge des Propheten beziehungsweise die Konformität mit seiner Sunna und ihrer Verinnerlichung möglich gemacht: „Sprich: Wenn ihr Gott liebt, dann folget mir und lieben wird euch Gott!“ (Qur. 3:31) und „Wahrlich, ihr habt im Gesandten Gottes ein Vorbild, ein schönes, für denjenigen der hofft auf Gott und den Letzten Tag und Gottes viel gedenkt.“(Qur. 33:21) Der koranische Text insistiert darauf, dass der Mensch ohne die Offenbarung, die Muhammad zuteilwurde, „nichts [über Gott] weiß“: „Wie Wir auch unter euch einen Gesandten aus eurer Mitte erstehen ließen, der euch Unsere Verse verliest und euch läutert und euch die Schrift und die Weisheit27 lehrt und euch lehrt, was ihr nicht wusstet, so gedenkt also Meiner, damit Ich euer gedenke; und seid Mir dankbar und verleugnet Mich nicht.“ (Qur. 2:151f) Verleiht die zeitgenössische islamische Theologie dem Weckruf Karl Barths ihr Gehör, dann muss sie sich an den kritischen Maßstab ihres Gegenstandes messen und sich die Frage nach der Möglichkeit der Gottesrede stellen lassen – und zwar bevor sie jegliches Nachdenken und Reden über und von Gott vornimmt. Die Frage „wollt ihr wider Gott behaupten, was ihr nicht wisset?“ (Qur. 10:68), die der Koran an diejenigen stellt, die Gott etwas zuschreiben, was Er sich nicht selbst in der Offenbarung zugeschrieben hat, muss sich der islamische Theologe auch an sich selbst stellen lassen. Steht das Reden des Theologen in einer Entsprechung zu Gottes Offenbarung als des Einen an Muhammad? Ohne die Therapie des Hinterfragens läuft die zeitgenössische islamische Theologie Gefahr, ein autistischer Monolog des Menschen mit und von sich selbst zu werden. Anstatt einer Rede von Gott, redet eine solche Theologie nur noch von allzu menschlichen Belangen. Offenbarung verkommt zu einem Spiegel des Zeitgeistes, zu einer Projektionsfläche gesellschaftlicher Problematiken, zu einer in religiöser Sprache verpackten Aufarbeitung von Sozialisierungsprozessen. Kein seriöser Theologe würde verneinen, dass eine Erneuerung des islamischen Denkens und Redens notwendig ist, zumal das Konzept der Erneuerung ˘

27 Die ,Weisheit‘, al-hikma, wird in der sunnitischen Tradition seit al-Sha¯fi ¯ı (767–820) als die ˙ gedeutet, womit ihr Offenbarungscharakter unterstrichen wird; vgl. prophetische Sunna Joseph E. Lowry, Al-Sha¯fi ¯ı. The Epistle on Legal Theory, New York 2013, 64f.

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(tajdı¯d) und der Wiederbelebung (ihya¯ ) in der islamischen Tradition ja sogar ˙ explizit in der prophetischen Lehre28 verankert ist. Die Frage ist also nicht das ob, sondern das wie. Die Herausforderung der islamischen Theologie besteht zweifellos darin, den Islam als religiöse und spirituelle Orientierung der Gegenwart intelligibel zu machen. Nur so können unrechtmäßige Funktionalisierungen, ganz zu schweigen von Instrumentalisierungen, entlarvt werden. Obwohl diese Herausforderung heute dringlicher denn je erscheint, handelt es sich dabei keineswegs um eine neue oder unbekannte Problematik. Der Islam hat im Laufe seiner Geschichte – zumindest bis zur Epoche der Kolonisation und der traumatischen Konfrontation mit dem westlichen Technizismus – gezeigt, dass er fähig ist, in den verschiedensten kulturellen Situationen, von Andalusien über Schwarzafrika oder Zentralasien bis Indonesien, seine spirituelle Kraft zu entfalten und einzigartige Synergien zu schaffen. Die Moderne stellt jedoch eine neuartige und in gewisser Weise auch fremdartige Herausforderung dar, schließlich stellt sie nicht nur den göttlichen Ursprung der islamischen Offenbarung in Frage, wie etwa in vormoderner Zeit durch andere Religionen und Kulturen geschehen, sondern überhaupt die Möglichkeit von Offenbarung und von einem wissenschaftlichen Reden von Offenbarung.29 Damit stellt die Moderne das Existenzrecht der Theologie als akademische Tätigkeit grundlegend in Frage. Diese Herausforderung, so erinnert uns Karl Barth, kann aber von der Theologie nicht bewältigt werden, wenn sie nicht ausgehend von der Frage nach der Möglichkeit der Gottesrede angegangen wird. Für die islamische Theologie bedeutet das konkret, dass die Herausforderung der Intelligibilität des Islams als gegenwartsrelevante spirituelle Orientierung in einem Zusammenhang mit dem Offenbarwerden von Gottes Rede gedacht werden muss. Wenn wir uns also von Barth inspirieren lassen und nach der Sachgemäßheit der theologischen Rede im Islam fragen würden, dann würden wir zu dem Schluss kommen, dass diese Sachgemäßheit immerzu an dem Maßstab der Offenbarung Gottes an Muhammad zu prüfen ist.30 Diese Feststellung kommt in ihrer Einfachheit und Offensichtlichkeit etwas trivial daher, insbesondere für einen islamischen Theologen, der sich sogleich denken mag: Ja, was denn sonst?! Doch nimmt man diesen Maßstab ernst, dann ergeben sich daraus folgen28 Vgl. u. a. Ella Landau-Tasseron, The ,Cyclical Reform‘. A Study of the mujaddid Tradition, Studia Islamica, 70, Paris 1989, 79–117. 29 „Das nachmetaphysische Denken bestreitet keine bestimmten theologischen Behauptungen, es behauptet vielmehr deren Sinnlosigkeit“; vgl. Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M. 1971, 27. 30 In diesem Sinn könnte man auch das traditionelle sunnitische Credo kita¯bwasunna, ,Schrift und prophetische Praxis/Verkündigung‘, deuten, das in der Tat im sunnitischen Diskurs als Maßstab für die Entsprechung einer theologischen Aussage mit den Offenbarungswahrheiten herangezogen wird und damit die unverhandelbare Bedingung für die Islamität jeglicher Theologie und Gottesrede im Islam bildet.

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schwere Konsequenzen für das Selbstverständnis der islamischen Theologie und für die Bedingungen einer islamischen Gottesrede. Diese Konsequenzen auszuloten und anzudenken soll jetzt für die weiteren Ausführungen dieses Beitrags unser Anliegen sein. Der Grundgedanke, dass die Offenbarung Gottes an Muhammad den kritischen Maßstab der islamischen Theologie bildet, da nur von daher Gotteserkenntnis möglich wird, soll uns nun durch die Begegnung mit einigen wenigen Aspekten von Barths Denken lotsen. Der nächste Begegnungsort lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Bedingung dieser Erkenntnis: die Offenbarung in ihrer Unverfügbarkeit anzuerkennen und zuzulassen.

4.

Über die Bedingungen der Gotteserkenntnis: Das Anerkennen der Unverfügbarkeit der Offenbarung und die Vergegenwärtigung von Gottes Wort durch die prophetische Verkündigung

Betrachtet man die großen Entwürfe des zeitgenössischen islamischen Denkens, so wird deutlich, dass der freien Unverfügbarkeit der Offenbarung in der Tat nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird; man vertraut der menschlichen Erkenntnisleistung mehr als der Offenbarungskraft des Korans. In modernen islamischen Hermeneutiken ist es doch immerzu der Mensch, der zur koranischen Offenbarung vordringt, der sie kontextualisierend auf eindeutige Weise zu erschließen vermag, der von seiner vom Zeitgeist bestimmten Situation ausgehend die Botschaft des Korans herauskristallisieren soll. Anstatt ein Hörbarmachen des Sprechens Gottes zu ermöglichen, wird der Mensch, durch den Koran, über sich selbst zum Sprechen gebracht. Die eigentliche Aufgabe der Theologie, das Reden von Gott, verschwimmt in der Beschäftigung des Menschen mit sich selbst und den Problemen seiner Zeit. Karl Barths Kritik an der liberalen Theologie, die Offenbarung dem Menschen verfügbar machen zu wollen, indem die Offenbarung vom Menschen her gedacht wird, anstatt die Offenbarung von sich selbst her zu denken, ist meines Erachtens eine Kritik, die vom zeitgenössischen islamischen Denken aufgenommen werden sollte, nicht zuletzt, um sich von dem enormen Rechtfertigungsdruck, dem die islamische Theologie gegenwärtig ausgesetzt ist, nicht vereinnahmen zu lassen. Die von Barth thematisierte Verharmlosung der Sündhaftigkeit des Menschen und damit seiner Unfähigkeit, aus sich selbst heraus Gott zu erkennen, die er der liberalen Theologie seiner Zeit vorwarf,31 ist durchaus auch für die islamische

31 Vgl. Christine Axt-Piscalar, Was ist Theologie? Klassische Entwürfe von Paulus bis zur Gegenwart, Tübingen 2013, 279f.

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Theologie relevant, wenn auch nur in analoger, nicht in identischer Weise. Die Spannung zwischen dem Sollen und dem Nicht-Können des Redens von Gott, die Barth unmissverständlich problematisiert, ist kein Alleinstellungsmerkmal des Christentums, sondern eine universelle Problematik der Offenbarungstheologie. Obwohl der Islam keine prinzipielle Sündhaftigkeit des Menschen kennt, sieht er diesen doch in einer existenziellen Situation, die sich durch eine grundlegende Orientierungsbedürftigkeit auszeichnet und aus der er letztendlich nur von einer göttlichen Offenbarung erlöst werden kann.32 Bedarf der Mensch nach islamischer Lehre der göttlichen Rechtleitung, um zum Glauben an die Offenbarung zu finden, dann bedeutet dies in letzter Konsequenz, dass er nicht aus eigener Kraft Gott erkennen kann. Gotteserkenntnis ist dem Menschen nur insoweit möglich, als dass Gott Sich ihm im Offenbarungsakt preisgibt. Nach Barth, erklärt Christine Axt-Piscalar, „[knüpft] die Offenbarung indes an nichts ihr Vorgegebenes an, sondern schafft selbst von sich her auch noch die Bedingung ihres Erkanntwerdenkönnens im Menschen“33. In der Tat sind im Islam Rechtleitung, Glaube und Offenbarung zusammenhängend zu denken. Die göttliche Rechtleitung, die den Menschen in den Glauben führt,34 ist zu einen die Voraussetzung dafür, dass der Mensch Gotteserkenntnis durch die Offenbarung erlangen kann. Der Koran insistiert geradezu darauf, dass er nur Befremden auslöst, wenn er nicht im Glauben erfahren wird: „Wahrlich, Gott verschmäht es nicht, ein Gleichnis zu prägen, mit einer Mücke oder auch etwas Höherem. Die da glauben, wissen, dass es die Wahrheit von ihrem Herrn ist, derweil diejenigen, die leugnen, sprechen: ,Was meint Gott mit einem Gleichnis?‘ Er leitet irre damit viele, und Er leitet recht damit viele, aber nur die Frevler führt Er irre damit, die den Bund Gottes brechen, nachdem dieser geschlossen, und zerreißen, was nach Gottes Gebot soll zusammengehalten werden und Unheil auf der Erde stiften.“ (Qur. 2:26f)

Zum anderen bewirkt Offenbarung Rechtleitung und erzeugt den Glauben im Menschen. Letztendlich ist es daher immer der Offenbarungsakt Gottes, Gottes Reden von sich selbst, der Gotteserkenntnis im Menschen möglich macht. Gott allein vermag sein Wort im Menschen als Rede von Gott erkannt werden zu 32 Diese Rechtleitungsbedürftigkeit wird im Koran als Folge der Vertreibung Adams aus dem Paradies thematisiert: „Wir sprachen: Geht hinab von hier allesamt! Und kommt zu euch Meine Rechtleitung, die dann Meiner Rechtleitung folgen, befällt keine Furcht, noch werden sie traurig sein. Die aber, die leugnen und Unsere Zeichen verleugnen, sind Gefährten des Feuers und werden endlos darin verweilen“ (Qur. 2:38–39). 33 Axt-Piscalar, Theologie, 285. 34 Der Koran stellt an vielfacher Stelle den Glauben, al-ı¯ma¯n, als göttliche Gabe dar (siehe Qur. 49:17). Der Glaubensakt entspringt zwar der menschlichen Entscheidung, entspricht aber letztendlich einem Annehmen der göttlichen Gnade. Doch sogar dieses Annehmen wird aktiv von Gott begünstigt: „Gott hat euch den Glauben lieb und euren Herzen zur Zierde gemacht hat“ (Qur. 49:7).

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lassen. Er schafft die Voraussetzungen, nämlich den Glauben, dafür, dass der Mensch die Offenbarung als Gottes Sich-zu-Erkennen-geben einzusehen vermag. An dieser Stelle muss näher auf den Zusammenhang eingegangen werden, der von Barth zwischen dem Bewusstsein von der menschlichen Unfähigkeit angemessen von Gott zu sprechen und der Möglichkeit von Gotteserkenntnis hergestellt wird. In seiner Offenbarungstheologie wird dieser Zusammenhang durch den Begriff der Unverfügbarkeit der Offenbarung hergestellt. Gotteserkenntnis ist möglich, wenn der Mensch sich der Unangemessenheit seiner eigenen Gottesrede bewusst wird und dies kann er nur, wenn ihm die Unverfügbarkeit der Offenbarung aufgegangen ist. Die islamische Tradition hat ihrerseits ein Konzept erarbeitet, dass das Verhältnis des Menschen zur Offenbarung beschreibt: den i ja¯z al-Qur a¯n35. Der Begriff des i ja¯z bezeichnet das Herbeiführen eines Zustands der Unfähigkeit etwas zu vollführen und wird in Bezug auf den Koran theologisch interpretiert als wundersamer Charakter des koranischen Textes, welchem die Unfähigkeit des Menschen gegenübergestellt wird, einen auch nur annähernd vergleichbaren Text zu produzieren.36 Nun ist es nach islamischer Auffassung dem Menschen nicht nur unmöglich, einen Koran zu produzieren, sondern ebenfalls ihn zu verändern. Der Koran postuliert, dass Gott selbst die Bewahrung der Offenbarung vor Veränderung beziehungsweise Verfälschung, dem tahrı¯f37, garantiert: „Wahrlich, herabgesandt haben Wir die ˙ Erinnerung [das heißt den Koran] und gewiss sind Wir ihr Hüter.“ (Qur. 15:10) Obwohl das i ja¯z al-Qur a¯n in erster Linie dazu verwendet wurde, die Unnachahmlichkeit des Korans als Text und seine ungeheure Wirkung auf die Zeitgenossen des Propheten zu verdeutlichen, impliziert es dennoch auch die Auffassung, dass es dem Menschen unmöglich ist, angemessen von Gott zu reden. Wenn es nicht in des Menschen Macht steht, einen Koran zu produzieren, dann weil der Koran Gottes Rede von sich selbst ist und nur Gott angemessen von Gott reden kann. In letzter Konsequenz bringt das i ja¯z-Konzept zum Ausdruck, dass

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35 Der i ja¯z al-Qur a¯n bzw. die ,Unnachahmlichkeit des Korans‘ wurde offenbar erst im 4. Jhdt. als Fachterminus eingeführt, aber das Unterfangen, die Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit des Korans zu belegen, begann schon im 2. Jhdt. nach der Hijra, so dass das i ja¯z als theologisches Konzept in die Frühzeit der islamischen Theologie anzusiedeln ist. In deutscher Übersetzung liegt ein Abschnitt aus al-Qa¯d¯ı Iya¯ds Buch der Heilung vor (Qa¯d¯ı Iya¯d, Al˙ des Auserwählten, übers. ˙v. Abd ˙ al˙ Schifa, Die Heilung durch Bestimmung der Rechte HafidhWentzel, Hellenthal 2013, 354–384). Siehe auch Claude-France Audebert, Al-Hattabi et l’inimitabilit8 du Coran. Traduction et introduction au Baya-n i‘gˇ a- z al-Qur’a-n, Damas 1982. 36 Der Koran fordert die Gegner des Propheten explizit dazu auf, einen Koran (52:33f) oder auch nur eine einzige Surat (2:23, 10:38) zu produzieren. Diese Aufforderung wird in der Kala¯m-Theologie als tahaddı¯ bezeichnet. ˙ 37 Der Begriff des tahrı¯f bezeichnet in der islamischen Theologie die Schriftverfälschung, die insbesondere den ˙Juden bezüglich der Thora und den Christen bezüglich des Evangeliums vorgeworfen wird. Siehe dazu Qur. 4:46.

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sich die koranische Offenbarung, sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrer Form, der menschlichen Verfügbarkeit entzieht. Interessanterweise wird dabei anhand des tahrı¯f-Begriffs ganz eindeutig bestimmt, dass Gott Selbst es ist, der sich für die Unverfügbarkeit der Offenbarung verbürgt. In der Tat geht das Offenbarungsverständnis, das sich hinter dem i ja¯z-Konzept verbirgt, noch weiter, denn der Mensch ist nicht nur unfähig, eine Schrift wie den Koran zu produzieren oder diesen zu verändern, er ist gleichermaßen nicht in der Lage, ihn zu bestimmen und die Grenzen seiner Bedeutungen festzulegen. Der schier unerschöpfliche Bedeutungsreichtumkoranischer Begriffe und Aussagen wird von den klassischen Exegeten explizit als ,gottgewollt‘ anerkannt und als ein Aspekt des i ja¯z betrachtet. Ganz entscheidend ist an dieser Stelle, dass Offenbarung die Trennung zwischen Gott und Mensch überwindet, indem Gott sein Wort dem Menschen auf eine Art und Weise kommuniziert, die diesem zugänglich ist. Um sich dem Menschen erkennbar zu machen, setzt Gott sich in seiner Barmherzigkeit gewissermaßen auf die menschliche Ausdrucksweise herab, gibt sich selbst Namen und schreibt sich Handlungsmotive und-weisen zu, die eigentlich, nimmt man sie denn wörtlich, der Transzendenz und Wirklichkeit Gottes unangemessen sind beziehungsweise ihnen nicht gerecht werden. Der koranische Anthropomorphismus, der in der Frühzeit des Islams Auslöser für wichtige theologische Auseinandersetzungen war,38 ist vor diesem Hintergrund als Ausdruck der göttlichen Barmherzigkeit und Heilswillens zu verstehen. Dieses Zugänglichund Verständlichmachen von Gottes ewigem Wort, dem tatsächlich ein ,Herabkommen‘ (nuzu¯l) entspricht, kann aber nur von Gott Selbst geleistet werden, denn nur Gott kann sich selbst Namen geben und sich etwas zuschreiben. Daher der koranische Vorwurf an diejenigen, die der göttlichen Wirklichkeit Namen geben, ohne eine Offenbarung erhalten zu haben: „Es sind Namen, die ihr ihnen [den altarabischen Gottheiten; RVS] gegeben habt, ihr und eure Vorväter ; Gott hat euch dafür keine Vollmacht herabgesandt. Wahrlich, sie folgen nur einer Meinung und dem, wonach ihre Seelen verlangen, doch die Rechtleitung ist ihnen ja schon gekommen von ihrem Herrn.“ (Qur. 53:23) Der Idolatrie wirft der Koran vor, sich die Gottheit nach den eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten zu bilden: „Hast du nicht gesehen denjenigen, der seine Begierde zur Gottheit nimmt?“ (Qur. 45:23) Hier haben wir tatsächlich eine Art der Projektionstheorie, die gegen jenen Gottesglauben gerichtet wird, der nicht auf Offenbarung beruht und nicht aus einer göttlichen Selbstmitteilung hervorgeht.

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38 Es ist die Rede von Gottes Händen und seinem Angesicht, davon, dass Gott lacht, sich erzürnt u. Ä. Gleiches gilt übrigens für die prophetische Verkündigung; vgl. dazu Daniel Gimaret, Dieu / l’image de I’homme. Les anthropomorphismes de la sunna et leur interpr8tation par les th8ologiens, Paris 1997.

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Der Koran insistiert zum einen darauf, dass er in einer „offenkundigen/klaren arabischen Sprache“39 offenbart wurde und bringt damit zum Ausdruck, dass die Verständlichkeit und Klarheit der koranischen Botschaft der göttlichen Gnade entsprechen. Zum anderen macht er deutlich, dass der Bedeutungsreichtum des Korans dem Menschen in seiner Tragweite und Tiefe unzugänglich ist beziehungsweise nur soweit zugänglich, wie Gott es ihm zugänglich macht. Gott offenbart nicht nur den eigentlichen Text des Korans, Er offenbart und enthüllt auch die Bedeutungen des Korans. „Uns [Gott; RVS] obliegt ihn [den Koran; RVS] zusammenzustellen und vorzutragen; wenn Wir ihn [dir, oh Muhammad; RVS] vorgetragen, folge seiner Vortragung; dann obliegt es Uns, ihn offenkundig zu machen (baya¯nahu).“ (Qur. 75:17–19) Diese Ambiguität, die sich aus der Spannung zwischen dem offenkundigen und dem gänzlich entzogenen Wesen des Korans ergibt, wird vom Koran selbst thematisiert: „Er [Gott] ist es, der herabgesandt auf dich die Schrift, in ihr sind eindeutig klare Zeichen (muhka˙ ma¯t) – sie sind die Mutter der Schrift – und andere, mehrdeutige (mutasha¯biha¯t). Diejenigen [unter den Menschen], die abweichen in ihren Herzen, folgen dem, was in ihr mehrdeutig, im Streben der Zwietracht und nach Deutung, doch die Deutung weiß keiner außer Gott und diejenigen, die im Wissen tief gegründet, sagen: Wir glauben daran! Alles hat seinen Ursprung bei unserem Herrn […].“ (Qur. 3:7) Ein klassischer Koranexeget wie al-Baghawı¯ (1044–1122) definiert muhkama¯t als „offenkundig und detailliert dargelegte Verse“ und erklärt, dass „Gott die Menschen daran hindert, über diese Verse zu verfügen (al-tasar˙ ruffı¯ha¯), aufgrund der Klarheit und Eindeutigkeit, mit der sich ihre Bedeutungen offenkundig tun“40. Der muhkam Vers, ist, so al-Baghawı¯, „derjenige Vers, dessen ˙ Bedeutung dem Menschen von Gott festgelegt ist (awqafa Alla¯h al-khalq ala¯ ma na¯hu)“, während der mutasha¯bih Vers „derjenige Vers ist, den Gott sich Seinem Wissen vorbehält (ista thara Alla¯h bi- ilmihi)“41. In beiden Fällen ist es immer Gott der offenbart oder verbirgt. Wenn nun ein Verstehen von Gottes Wort nur durch Gott Selbst möglich ist, wie oder durch was geschieht dies? Ein islamischer Theologe würde hier wahrscheinlich mit dem Koranvers „und herabgesandt haben Wir zu dir [oh Muhammad; RVS] die Ermahnung, damit du den Menschen erklärest (li-tubayyina), was ihnen herabgesandt wird“ (Qur. 16:44) antworten. Das baya¯n, das Er-klären, Verdeutlichen und Verständlich-machen der Offenbarung obliegt nach islami-

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39 Siehe Qur. 43:3: „Bei der Schrift der offenkundigen, wahrlich gemacht haben Wir sie zu einem Koran, zu einem arabischen, damit ihr vielleicht versteht!“ und Qur. 26:192–196 „Und wahrlich, er ist die Herabsendung vom Herrn der Welten. Herabgesandt mit dem Geist, den vertrauenswürdigen, auf dein Herz, damit du bist einer der Warner, in arabischer Sprache, in offenkundiger (lisa¯n arabiy mubı¯n)“. 40 Abu¯ Muhammad al-Husain al-Baghawı¯ (Hg.), Tafsı¯r al-Baghawı¯ 1, Beirut 1999, 409. 41 Al-Baghawı¯, Tafsı¯r, 410.

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schen Verständnis dem Propheten in Wort und Tat; das Verstehen der Offenbarung, das jedoch nicht statisch-endgültig sondern fortlaufend-dynamisch zu denken ist,42 wird von Gott durch die prophetische Verkündigung bewirkt. Wie Gott von sich selbst redet, kann nur ein Prophet hören. Der Prophet ist derjenige, der in der Lage ist, Gottes Rede von sich selbst zu hören und für die Menschheit hörbar werden zu lassen: „Und es steht keinem Menschen zu, dass Gott zu ihm spricht, außer durch Offenbarung, oder hinter einem Vorhang oder indem Er sendet einen Gesandten, dem offenbart wird mit Seiner Erlaubnis, was Er will. Er ist der unübertrefflich Hohe, der Weise. Und so haben Wir dir offenbart einen Geist von Unserer Bestimmung; nicht wusstest du, was die Schrift ist und was der Glaube, doch Wir haben ihn zu einem Licht gemacht, durch das Wir rechtleiten wen Wir wollen von Unseren Dienern und wahrlich, du leitest recht auf dem Weg, den geraden, dem Weg Gottes […].“ (Qur. 51–53)

Durch den Empfang von Gottes Wort wird der Prophet selbst Teil der Offenbarung und damit zum Instrument der göttlichen Rechtleitung. Der Offenbarungscharakter der prophetischen Verkündigung wird klassisch mit dem Koranvers „und nicht spricht er [der Prophet Muhammad] aus Begehr, wahrlich, die ihm geoffenbarte Offenbarung ist es nur“ (Qur. 53:3f) begründet. Offenbarung wird im sunnitischen Islam, wie bereits angedeutet, als kita¯b wa sunna, Schrift und Verkündigung43 gedacht, die sich beide gegenseitig bedingen. Der göttliche Aspekt der Offenbarung als Gottes geoffenbartes Wort, und der menschliche Aspekt der Offenbarung als inspirierte Bezeugung und Verkündi-

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42 Abd-al-Halı¯m Mahmu¯d (1910–1978), seiner Zeit Rektor der al-Azhar Universität, erklärt ˙ ˙ Verhältnis folgendermaßen: „Der Gesandte Gottes war in all seinen Zudieses dynamische ständen, in Bewegung und im Ruhen, in seinen Gesten und Äußerungen, mit seinem Herzen wie mit seinem Körper, ein Sinnbild und eine Umsetzung des Korans und zwar in der Weise, dass er äußerlich und innerlich vom Koran durchdrungen war – er war tatsächlich ein lebendiger Koran (ka¯na qur a¯nan). Wenn wir also ein klares Bild vom Gesandten Gottes erhalten möchten, so müssen wir den Koran in seiner Gänze begreifen (al-iha¯ta bi-l-Qur a¯n). Doch den Koran derart zu begreifen ist nicht nur schwierig, sondern unm˙ ö˙glich, denn der Koran eröffnet sich der Menschheit, aber auch der einzelnen Person, durch immerzu neue Bedeutungen. Diese neuen Bedeutungen, ganz gleich ob sie die Menschheit in ihrer Gesamtheit betreffen oder nur eine einzelne Person, entsprechen einer Offenbarmachung und einer Erklärung der Erscheinungsform des Propheten (al-su¯rat al-nabawiyya). Und das Gegenteil ist ebenfalls richtig: Wer die Erscheinungsform des˙Propheten betrachtet und über sie meditiert anhand der Darstellungen seines Lebens und der Hadithe, der wird immerzu etwas Neues vom Gesandten verstehen und dieses immerzu erneuerte Verstehen ist gleichsam auch ein Offenbarmachen und eine Erklärung des Korans“; Abd-al-Halı¯m Mahmu¯d, Al˙ ˙ Rasu¯l, Kairo/Beirut 1990, 9. 43 Der Begriff der Sunna könnte auch mit ,Tradition‘ übersetzt werden, denn die Sunna ist als Schnittstelle zwischen Gottes Wort und der Welt auch Schnittstelle zwischen Offenbarung und Geschichte und damit auch geschichtlich wirkend. Die Sunna ist daher nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen als Verkündigung, die eine geschichtliche ,Tradition‘ begründet.

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gung dieses Wortes, entsprechen jeweils einer koranischen und einer prophetischen Offenbarung. Interessanterweise nimmt damit im Islam der Prophet, als menschliches Medium der Vergegenwärtigung von Gottes Wort, eine ähnliche Stellung ein wie in der barthschenTheologie die Hl. Schrift. Er schreibt: „Warum und worin hat der biblische Zeuge Autorität? Eben darum und darin, dass er gar keine Autorität für sich selbst in Anspruch nimmt, dass sein Bezeugen darin aufgeht, jenes Andere selbst und durch sich selbst Autorität sein zu lassen.“44 Treffender könnte man das koranische Verständnis der Prophetie nicht erklären. In der Tat findet die Auffassung vom Propheten als Medium der Vergegenwärtigung von Gottes Wort in der islamischen Überlieferung ihren Ausdruck, so zum Beispiel wenn ¯ isha überliefert wird, dass sie auf die Frage „wie von der Ehefrau des Propheten A war der Prophet?“ antwortete: „Seine Wesensart war der Koran“ (ka¯na khuluquhu al-Qur a¯n).45 In anderen Worten: Sein innerstes Wesen war durchdrungen und durchprägt von der Offenbarung und Herabsendungvon Gottes Wort. Der Offenbarungscharakter der Sunna steht damit in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Vergegenwärtigung von Gottes Wort. Um im Rahmen der islamischen Terminologie zu sprechen: Die Sunna ist wahy, das ˙ heißt Offenbarung, wie der Koran auch, nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass es sich bei dem Koran um Gottes ewiges Wort handelt. Die islamische Theologie spricht gewohnt praxisorientiert von wahy matlu , ,im Gebet zum ˙ ˙ Zweck der Gottesanbetung rezitierte Offenbarung‘. Die Sunna, als wah ghayr ˙ matlu , ,nicht im Gebet rezitierte Offenbarung‘, ist nur insoweit Offenbarung, als ˙ sie das Medium für die Vergegenwärtigung von Gottes Wort im Raum der Verkündigung ist. Wenn wir nun zu Karl Barth schauen, dann hat er die Aufgabe der Theologie darin bestimmt, zu prüfen, ob die kirchliche Verkündigung diese Selbstvergegenwärtigung tatsächlich leistet, ob sie Gottes Wort sich offenbaren lässt, oder ob sie diese Vergegenwärtigung sozusagen behindert durch den Versuch des Theologen, über die Offenbarung zu verfügen und sie sich seinen Bedürfnissen und Vorstellungen entsprechend zurechtzumachen. Was Karl Barth hier mit kirchlicher Verkündigung meint, kommt im Islam dem Auftrag des Zeugnisses der islamischen Gemeinde über die Menschheit wohl am Nächsten. Der Koran bestimmt die islamische Umma, oder Gemeinschaft der Gläubigen, als „Ge-

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44 Barth, KD I/1, 115. Barths Verständnis der Prophetie weist in die gleiche Richtung: „Das geoffenbarte Wort Gottes: Bezeugen heißt: in einer bestimmten Richtung über sich selbst hinaus und auf ein anderes hinweisen. Bezeugung ist also der Dienst an diesem Anderen, in welchem der Zeuge für die Wahrheit des Anderen einsteht, der Dienst, der eben im Hinweis aus dieses Andere besteht. Und eben dieser Dienst ist konstitutiv für den Begriff ,Prophet‘ ebensowohl für den Begriff ,Apostel‘ […]“; Barth, KD I/1, 114. 45 Ahmad ibn Hanbal, Al-Musnad, Vaduz 2008, Nr. 246, 45. ˙ ˙

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meinschaft der Mitte“46, die der Menschheit Zeugnis über Gottes Offenbarung geben soll (sha¯hid ala al-na¯s). Ohne jetzt dieses Thema zu vertiefen, darf ich jedoch hinzufügen, dass es nach Barths Ansatz Aufgabe der islamischen Theologie wäre, zu prüfen, ob das Zeugnis der Umma mit der Vergegenwärtigung von Gottes Wort in der Sunna übereinstimmt. Anders gesagt: die Theologie hätte zur Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das Zeugnis der islamischen Gemeinde einem Selbstoffenbarwerden von Gottes Wort entspricht und da dieses Selbstoffenbarwerden von Gottes Wort, das heißt des Korans, sich in der prophetischen Verkündigung vollzieht, muss eine islamische Theologie die Rückbindung der Umma an die prophetische Verkündigung gewährleisten.

5.

Fazit: Eine islamische Theologie der Krise?

Das mehr oder minder erfolgreiche Experiment, Motive der Theologie Karl Barths für einige Problemfelder der zeitgenössischen islamischen Universitätstheologie fruchtbar machen zu wollen, ist nun zu seinem vorläufigen Ende angelangt. Tatsächlich handelt es sich jedoch um einen Anfang. Die Tiefe, in die das Denken Barths vordringt, die Wucht seiner Sprache und die Vielfalt seiner Gedankengänge, ja allein das Volumen seines Nachlasses, konnten hier nur vorsichtig an ihrer Oberfläche berührt werden. Barth-Spezialisten mögen einwerfen, dass dies eine recht eigentümliche Lesart von Barths Theologie gewesen sei und ich würde mir nicht anmaßen, dem zu wiedersprechen. Das Vorgehen, das in diesem Beitrag gewählt wurde, dem Denken Barths durch einen knappen thematischen Abriss zu begegnen, wäre durch eine ausführliche Auseinandersetzung mit einzelnen Texten und Werken Barths zu vertiefen. Die Punkte, die hier angesprochen wurden, müssten jeweils gesondert erörtert und in ihrer Komplexität berücksichtigt werden, um wirklich einen effektiven Dialog herstellen zu können. Tatsächlich war dies auch nicht der Anspruch dieses Beitrags. Vielmehr wurde versucht, der islamischen Theologie einige erste Impulse für eine Beschäftigung mit Karl Barths Offenbarungstheologie zu setzen und mögliche Anknüpfungspunkte zu erarbeiten. Jenseits der Interpretationsproblematik stellt die Kompromisslosigkeit, mit der Karl Barth in aller Konsequenz eine Offenbarungstheologie zu denken versucht, sicherlich eine willkommene Inspirationsquelle für moderne islamische Theologen dar oder könnte dies zumindest tun. Eine wertvolle Orientierung für die Selbstreflexion der islamischen Theologie sollte meines Erachtens Barths Neuinterpretation des kritischen Potenzials der Theologie als Glaubenswissen46 „Und so machten Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte, auf dass ihr Zeugen seid für die Menschen, und der Gesandte Zeuge für euch […]“ (Qur. 2:143).

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schaft liefern. Sich in der Theologie mit der Religionsgeschichte als Betätigungsfeld der Kritik zu begnügen und das kritische Element der Theologie auf die historische Kritik zu reduzieren, entlarvt sich als akademische Selbstrechtfertigungs-maßnahme und damit als zu kurz gegriffen. Barth zeigt, dass Kritik auch ein genuin theologischer und von Offenbarung ausgehender Vorgang sein kann und sollte. Die selbstkritische Aufgabe, die für eine Theologie wie die islamische unabdingbar ist, könnte, wenn die Ausführungen dieses Beitrags ernst zu nehmen sind, als ersten grundlegenden Maßstab nichts Anderes haben als Gottes Offenbarung an Muhammad. Diese selbstkritische Haltung ist erst die Voraussetzung dafür, dass die islamische Theologie kritisch mit den Aufforderungen und Anforderungen umgehen kann, die von außen an sie herangetragen werden. In der Tat zeigt Barth die theologische Notwendigkeit auf, die Moderne und ihre Gewissheiten kritisch zu hinterfragen. Dabei ist Barths Verhältnis zur Moderne komplex und lässt sich keinesfalls mit dem Etikett ,reaktionär‘ abtun.47 Doch gerade aus diesem Grund, weil er das kritische Potenzial der Moderne theologisch zu Ende gedacht und in voller Konsequenz umgesetzt hat, kann er ein Vorbild für das zeitgenössische islamische Denken sein. Letzteres liegt noch zu sehr unter dem Bann eines eindimensional rezipierten Modernismus. Es neigt noch zu sehr dazu, dem politischen und diskursiven Druck nachzugeben und sich von ihm die Beschaffenheit eines ,progressiven‘ Islam – was auch immer damit gemeint sein soll – vordiktieren zu lassen. Der Islamwissenschaftler Wael Hallaq stellt diesbezüglich in einem Interview – zugegebenermaßen etwas polemisch, aber auch nicht ohne Grund –über den fehlenden Dialog zwischen westlich-säkularen und muslimischen Intellektuellen fest: „The Muslim intellectual side has equally miserably failed to find its own voice and identity in the world […]. Today’s Muslim thinkers (and non-thinkers) who violently attack Islamic history and tradition as lacking in reason and rational creativity are little aware of how much taqlidic mimicry they have allowed themselves. I find it ironic that they should criticise ,medieval reason‘ or rather ,lack thereof‘ when they could do no better than imitate, among countless others, Foucault, Derrida, or that which has become fashionable in the West at any point of time. But worst of all is when they mimic liberalism without any evidence of critical and deeply scrutinizing thought on their part.“48

47 Vgl. Webster, Introducing, 11. Christoph Schwöbel fast Barths Verhältnis zur Moderne sicherlich treffend zusammen, wenn er bemerkt: „Perhaps one must have drunk as deeply as Barth at the wells of modernity in order to reject it as fiercely as he did“; Schwöbel, Theology, 19. 48 „Muslims and the path of intellectual slavery : An Interview with Wael Hallaq“, Jadaliyya, Interview geführt von Hasan Azad, 4. Juni 2014, www.jadaliyya.com/pages/index/18036/ muslims-and-the-path-to-intellectual-slavery_an-in, zuletzt am 04. 09. 2016. Der international renommierte Spezialist für islamisches Recht und islamische Ideengeschichte wirft

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Ruggero Vimercati Sanseverino

Um sich als Glaubenswissenschaft, deren Gegenstand die Offenbarung Gottes an Muhammad ist, behaupten zu können, bedarf die islamische Theologie des Mutes, sich von all jenen diskursiven Einschränkungen zu befreien, die ihrer Sache nicht entsprechen. Es ist dieser Mut, der Aufgabe der Theologie, dem wilden Strom des Zeitgeschehens zum Trotz, verhaftet zu bleiben, der Karl Barths Denken auszeichnet und ihm eine Kraft verleiht, die heute noch das theologische Denken antreibt.49 Sein Vortrag Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie spricht deshalb noch heute zu uns, ganz gleich welcher Konfession wir angehören, weil er auf unwiderstehliche Weise veranschaulicht, dass die Universitätstheologie als Rede von Gott und damit als ,Ausnahme‘ ihre eigentliche Daseinsberechtigung besitzt. Auch die islamische Theologie, will sie denn im theologischen Diskurs der Moderne ihre Stimme hörbar machen, ohne das Wort zu verlieren, für dessen Vergegenwärtigung sie den Raum zu schaffen hat, hat sich bewusst zu werden, dass „das theologische Problem an den Grenzen der Humanität aufgeworfen [ist]“50. Nun ist Barths Theologie unverkennbar eine Theologie der Krise – nicht nur der Krise zwischen Welt und Gott, sondern auch der Welt mit sich selbst. Seine radikale Infragestellung und der Neubeginn, der davon ausgehen soll, stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Barths Erfahrung des Ersten Weltkrieges und des damit zusammenhängenden Zusammenbruchs der europäischen Friedensordnung sowie der Indienstnahme von Theologie für die wilhelminische Kriegspolitik.51 Die Intensität und Radikalität, die Barths Denken und seine Sprache ausmachen, sind auch ein Ausdruck des schmerzhaften Erlebnisses der Selbstzerstörung Europas und der offenbar gewordenen Machtlosigkeit der christlichen Werteordnung. Der Islam und die islamische Kultur durchleben gegenwärtig die wohl schwerwiegendste und verworrenste Krise ihrer Geschichte. Die sozialen und kulturellen Strukturen, die es dem Islam erlaubt haben, seine kreative Dynamik, seine spirituelle Vitalität und nicht zuletzt seine Krisenresistenz zu entfalten, sind im Zuge einer aggressiven, unbedachten und von außen aufgezwängten Modernisierung untauglich gemacht muslimischen Intellektuellen vor, die Veränderung des Verhältnisses zwischen Wissen und Macht in der Moderne nicht zu berücksichtigen. 49 Vgl. Schwöbel, Theology, 22: „Much of the attraction of Barth’s approach to theology consists in the fact that he does not submit the theological task to criteria derived from its academic context. He seeks a theological understanding of theology“. 50 Barth, Aufgabe, 152. 51 Christoph Schwöbel bemerkt diesbezüglich: „It is hard to exaggerate the effect the outbreak of the war had on Barth. For him the collapse of German academic theology into an instrument for legitimizing German war policies did not mean that a particular way of doing theology, the ,modern‘ theology of religious individualism and historical relativism, had been compromised; it meant that the possibility of doing theology at all had become questionable“; Schwöbel, Theology, 19.

Die Offenbarung Gottes an Muhammad als kritischer Maßstab

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worden. Es gibt bis dato keinen Ersatz, der das Aufkommen einer Monstrosität wie der Ideologie des Jihadismus hätte verhindern können. Unter diesen Umständen ist die Möglichkeit eines islamischen Diskurses, der sich aus einem genuin theologischen Anliegen speist und dem dennoch Gehör geschenkt wird, heute auf bedrängende Weise fraglich geworden. Eine unsägliche Konfusion, sowohl im islamischen als auch im westlichen öffentlichen Diskurs, über die Bedeutung grundlegender Begriffe wie ,Scharia‘, ,Prophetie‘, ,Koran‘, ,Islam‘ist zu tiefst bestürzend und macht jede Hoffnung auf eine genuin theologische Verständnisfähigkeit beschwerlich. Doch gerade Karl Barths Leben und Theologie zeigen vor allem eines: dass erst eine schmerzliche und schwierige Krise wie wir sie gegenwärtig als Muslime durchleben, jene Dringlichkeit, Intensität und Energie erzeugt, die für eine Rückbesinnung der Theologie auf sich selbst – zur Freiheit, Gottes Reden von sich selbst hörbar werden zu lassen– notwendig ist. „Unsere Bedrängnis ist auch unsere Verheißung“52.

52 Barth, Aufgabe, 174.

Michael Pye

Die Wahrnehmung des Buddhismus in der dialektischen Theologie

1.

Einführung

Karl Barth (1886–1968) hat sich bekanntlich nicht besonders ausführlich mit dem Buddhismus auseinandergesetzt. Er lebte zwar zu einer Zeit, in der diese überwiegend indisch-ostasiatische Religion zunehmend im Westen bekannt geworden war und in gewissen Kreisen auf großes Interesse stieß. Die Voraussetzungen der systematischen oder dogmatischen christlichen Theologie waren jedoch damals noch so angelegt, dass eine Beschäftigung mit ,anderen‘ Religionen normalerweise höchstens als ein gedanklicher Anhang in Betracht kam.1 Kein Wunder daher, dass auch Karl Barth in seinem Hauptwerk, Die Kirchliche Dogmatik2, das Thema nur ganz kurz streifte. Merkwürdig ist es an sich auch nicht, dass der Buddhismus in seiner frühen Schrift Der Römerbrief3 keine Erwähnung fand. Dieser für die dialektische Theologie bahnbrechende Kommentar ist exegetisch angelegt und wächst grundsätzlich aus dem Denken des Paulus hervor, der den Buddhismus selbstverständlich nicht kannte. Der Römerbrief ist zugleich ein klares Beispiel für die konsequente Geschlossenheit, um nicht zu sagen die Zirkularität, die Barths theologisches Denken überhaupt prägt. Diese Zirkularität kennzeichnet grundsätzlich auch die Kirchliche Dogmatik, und gerade deswegen entsteht ein Problem. Dies ist an erster Stelle ein Problem für das allgemeine Verständnis nichtchristlicher Religionen, weil diese damit in der christlichen Dogmatik nur eine negative Rolle spielen dürfen und daher nicht wirklich ernst genommen werden. Letztendlich entsteht aber ein Problem für die dialektische Theologie im Sinne Karl Barths überhaupt, da die 1 Dieser Punkt wurde von dem Religionsphilosophen Ninian Smart in seinem Beitrag zu einem damals als zukunftsweisend betrachteten Sammelwerk der britischen Theologie unterstrichen; vgl. Alec Vidler (Hg.), Soundings. Essays Concerning Christian Understanding, Cambridge 1962, 121. 2 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik I/1–IV/4, 1932ff. 3 Karl Barth, Der Römerbrief, Zürich 1919. 21922; vgl. auch Karl Barth, Kurze Erklärung des Römerbriefs, München 1956.

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Michael Pye

Einzigartigkeit der christlichen Botschaft nicht auf diese Weise aufrechterhalten werden kann. Dies wird an einer ganz bestimmten Stelle in der Kirchlichen Dogmatik sichtbar.4 Hier geht Barth auf eine besondere Form des Buddhismus ein, den Shin-Buddhismus Japans, in dem gerade ,Glaube‘ eine wichtige Rolle spielt. Die häufig bemerkte Parallelität ist für Barth problematisch, auch wenn er versucht, sie in einem kleingedruckten Exkurs zu relativieren und abzuhaken. Seine Argumentation an dieser Stelle soll unten weiter untersucht werden. Verglichen mit Barths Herangehensweise haben sich neuere Theologen sowohl der evangelischen als auch der katholischen Richtung des christlichen Glaubens sehr wohl die Zeit genommen, um auf die verschiedenste Weise die eigentlich unausweichliche Begegnung mit dem Buddhismus zu erforschen, zu fördern und zu vertiefen. Die Literatur ist immens und kann hier nicht dokumentiert werden. Groß angelegte Übersichten, die zugleich mehr als nur Übersichtscharakter aufweisen, wurden einerseits von Perry Schmidt-Leukel und andererseits von Michael von Brück und Whalen Lai verfasst.5 In den letzten Jahren kamen eine Reihe von Begegnungen zwischen evangelischen Theologen ¯ tani-Universität in aus Marburg und Kollegen der buddhistisch orientierten O Kyo¯to zustande. Diese Begegnungen, zum Teil durch die Rudolf-Otto-Symposien in Marburg unter der Führung von Hans-Martin Barth mitgetragen, fokussierten insbesondere den Vergleich und die Begegnung zwischen dem Shin-Buddhismus (Jo¯do Shinshu¯) und evangelischer Theologie.6 Die Beschäftigung mit dem Buddhismus von katholischer Seite ist breit angelegt, auch wenn sie mit Vorliebe den Zen-Buddhismus und die Philosophie der sogenannten Kyoto-Schule einbezieht.7 Auf eine sehr aktuelle, ökumenisch angelegte Ausgabe der Zeitschrift The Eastern Buddhist darf auch hingewiesen werden, die dokumentierte Dialoge und einschlägige Rezensionen enthält.8 Abgesehen von diesen neueren Entwicklungen hätten die Ausgangspositionen und die Denkweise von Ernst Troeltsch (1865–1923), schon lange vor den 4 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2. Teilbd., Zollikon 1938, 372–377. 5 Perry Schmidt-Leukel, „Den Löwen brüllen hören“. Zur Hermeneutik eines christlichen Verständnisses der buddhistischen Heilsbotschaft, Beiträge zur ökumenischen Theologie 23, Paderborn 1992; Michael von Brück/Whalen Lai, Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog, München 1997. 6 Hans-Martin Barth/Eryo¯ Minoura/Michael Pye (Hg.), Buddhismus und Christentum. Jodo Shinshu und Evangelische Theologie, III. Internationales Rudolf-Otto Symposion am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg in Zusammenarbeit mit der Otani-Universität Kyoto, Hamburg 2000; Hans-Martin Barth/Ken Kadowaki/Eryo¯ Minoura/ Michael Pye (Hg.), Buddhismus und Christentum vor der Herausforderung der Säkularisierung, Hamburg 2004. 7 Für einen übersichtlichen und einsichtsvollen Beitrag siehe Hans Waldenfels, Faszination des Buddhismus. Zum christlich-buddhistischen Dialog, Mainz 1982. 8 The Eastern Buddhist 46, 2016, 1 (Erscheinungsjahr 2017).

Die Wahrnehmung des Buddhismus in der dialektischen Theologie

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Zeiten Karl Barths, eine völlig andere Auswirkung haben können, wenn Troeltsch selber seine eigenen Grundsätze in Richtung einer Kenntnisnahme der Pluralität der Religionen weiter entwickelt hätte. Wenn man den Implikationen seiner historisierenden Denkweise folgen würde, so entfiele radikal das traditionelle Problem, dass es ,andere‘ Religionen gibt, mit denen man sich sozusagen ,nach‘ der Grundlegung der eigenen Dogmatik zu beschäftigen hat. Demnach müsste sich eine christliche Theologie nicht erst am Ende der systematischen Arbeit diesem Problem widmen, sondern sie müßte von vornherein im Kontext der wahrgenommenen Vielfalt der Religionen entfaltet werden.9 Hier beschäftigen wir uns jedoch speziell mit dem Werk von Karl Barth, in dem eine ganz besondere Form des ,Buddhismus‘ tatsächlich behandelt wird. Es handelt sich um den Buddhismus des Reinen Landes, der sonst wegen der Heilsfunktion der zentralen Buddha-Figur allgemein als Amida-Buddhismus bekannt ist. Innerhalb dieser Lehrtradition ist der japanische Shin-Buddhismus, das heißt Jo¯do Shinshu¯, eine bestimmte Variante, die eine kompromisslose Lehre über die Zentralität des Glaubens beziehungsweise die Abhängigkeit des Glaubenden von einer äußeren rettenden Kraft vertritt. Für Barth war daher gerade der Shin-Buddhismus wegen der deutlichen Parallele zum evangelischen Glaubensverständnis eine klare Herausforderung. Er interessierte sich nicht für diejenigen Formen des Buddhismus, bei denen es um den Versuch des Menschen geht, sich mit eigener Kraft aus dem Kreis der Wiedergeburten zu befreien, um damit, erleuchtet, den Zustand des Nirvana zu erlangen. Im Gegenteil, was ihn beschäftigte und beschäftigen musste, war eben diese weitverbreitete, wenn auch gewissermaßen sekundäre Form des Buddhismus, bei der eine transzendente, ,andere Kraft‘ (so wörtlich aus dem Japanischen tariki) dem sich grundsätzlich als hilflos verstehenden Menschen aus seiner Verzweiflung zu helfen und ihn in das sogenannte Reine Land zu führen vermag. Dieser Buddhismus des Reinen Landes weist beim ersten Blick – und auch beim zweiten – eine durchgreifende Ähnlichkeit mit der protestantischen Glaubensstruktur auf. In beiden Fällen gilt der Mensch als unfähig, am eigenen Heil entscheidend mitzuwirken. In beiden Fällen ist man allein auf eine transzendente, andere Kraft angewiesen, sei es auf die Gnade Gottes, sei es auf die Barmherzigkeit eines großen Bodhisattva, der inzwischen längst zum Buddha Amida geworden sein soll. Diese Ähnlichkeit ist von verschiedenen Theologen und Religionswissenschaftlern aufgegriffen und 9 Hierzu siehe zwei Aufsätze, in denen ich hierzu aufrief: Michael Pye, Ernst Troeltsch and the End of the Problem about other Religions, in: John Clayton (Hg.), Ernst Troeltsch and the Future of Theology, Cambridge 1976, 172–195; Ders., Theologie im Kontext des religiösen Pluralismus, in: Klaus Kremkau (Hg.), Christus allein – allein das Christentum? Vorträge der vierten theologischen Konferenz zwischen Vertretern der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Kirche von England, Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 36, Frankfurt a.M.1979, 11–25.

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diskutiert worden. Die Herangehensweise ist je nach Orientierung unterschiedlich. Aber wie versuchte gerade Karl Barth mit dieser Parallele zurechtzukommen? Kam er überhaupt damit zurecht? Obwohl mancherorts aufgegriffen, ist diese Frage meines Erachtens eigentlich bisher nicht hinreichend geklärt worden. Es muss wohl kaum gesagt werden, dass eine zufriedenstellende christlichtheologische Bezugnahme auf Elemente andersartiger religiösen Erfahrungen ein exaktes und zuverlässiges Verständnis dieser Elemente voraussetzt. Dafür stellt man Religionsgeschichtler beziehungsweise Religionswissenschaftler an Universitäten ein. Barths Ausführungen lagen zwar bestimmte an sich respektable religionsgeschichtliche Darstellungen zugrunde, jedoch hatten diese lediglich Übersichtscharakter.10 Eine etwa zeitgenössische Arbeit von Horst Butschkus war detaillierter und in der Sache gut.11 Sie basierte auf japanischen Quellen, jedoch erschien sie leider erst im Jahr 1940, zwei Jahre nach dem relevanten Band der Kirchlichen Dogmatik. Barth standen also keine unmittelbaren Quellentexte, geschweige denn fundierte Beobachtungen, Erhebungen oder Darstellungen aus der Feldforschung zur Verfügung.12 In aller Kürze werde ich unten auf einige Aspekte des Amida-Buddhismus hinweisen, die für den Vergleich beziehungsweise für eine jedwede christlichtheologische Bezugnahme bedeutsam sind. Vielleicht dient dies Einigen auch als eine Mini-Einführung in den Stoff.13 Diese Ausführungen münden dann unmittelbar in eine Auseinandersetzung mit Karl Barths Stellungnahme zum Buddhismus des Reinen Landes, die ich, wie sich zeigen wird, für unzulänglich halte. Noch vorab sollte der von Barth stark beeinflusste niederländische Theologe Hendrik Kraemer Erwähnung finden, der sich viel ausgiebiger mit der Vielfalt der Religionen der Welt beschäftigte, zum Beispiel in seinem Buch World Cul10 Barth, KD I/2, 372. Er nennt den Beitrag von Karl Florenz über „die Japaner“; vgl. Karl Florenz, Die Japaner, in: Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye, Lehrbuch der Religionsgeschichte, Bd. 1, Tübingen 1925, 382ff. sowie Cornelis Petrus Tiele/Nathan Söderblom, Kompendium der Religionsgeschichte, Breslow 1903, 187ff. 11 Horst Butschkus, Luthers Religion und ihre Entsprechung im japanischen Amida-Buddhismus, Emsdetten 1940. 12 Für eine allgemeine Perspektive der westlichen Rezeption des Shin-Buddhismus siehe: Galen Amstutz, Interpreting Amida: History and Orientalism in the Study of Pure Land Buddhism, Albany 1997. 13 Für mehr Informationen in deutscher Sprache siehe die sorgfältige Studie von Christiane Langer-Kaneko, Das Reine Land. Zur Begegnung von Amida-Buddhismus und Christentum, Leiden 1986. Für Quellen s. Christian Steineck, Quellentexte des japanischen Amida-Buddhismus, Studies in Oriental Religions, 39, Wiesbaden 1997. Für moderne Darstellungen überwiegend durch japanische Verfasser siehe: Michael Pye (Hg.). Beyond Meditation. Expressions of Japanese Shin Buddhist Spirituality, Eastern Buddhist Voices, Bd. 1, London 2011.

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tures and World Religions. The Coming Dialogue14, das weite Verbreitung fand. Speziell zum Thema Amida-Buddhismus hat er jedoch nichts Ausschlaggebendes hinzugefügt. In seinem an sich breit angelegten Werk hielt er als allgemeines Fazit fest, dass die große Herausforderung durch die Religionen Asiens einschließlich des Buddhismus in ihrem Anthropozentrismus liege.15 Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass das Vertrauen in die transzendente Kraft des Amida Buddha nur schwer als ,anthropozentrisch‘ bezeichnet werden könnte. Somit liegt die Vermutung nahe, dass Kraemer diese in Japan relativ stark vertretene Form des Buddhismus als wenig hilfreich für seine Argumentation einfach außer Acht ließ. Nichts sollte den sicheren Zirkel der christlichen Offenbarung des Wortes Gottes stören, das allein wirklich von außen kommt. In dieser Hinsicht sehen wir eine starke Anlehnung an Karl Barths Theologie, obwohl Kraemer den Anschein erweckt, sich viel detaillierter mit den Weltreligionen auseinandergesetzt zu haben. Überhaupt kann schon die Wahl von Themen oder Aspekten eines andersartigen religiösen Systems eine gedankliche Falle vorbereiten. Man denke zum Beispiel an Rzepkowskis Schrift Das Menschenbild bei Daisetz Teitaro Suzuki. Gedanken zur Anthropologie des Zen-Buddhismus16. Hier suggeriert ,Anthropologie‘ eine Lehre des Menschen im dogmatisch-theologischen Sinne. Dass der Zen-Buddhist Suzuki Daisetsu über ein gewisses Bild vom Menschen verfügte, mag schon sein, jedoch war dieses Menschenbild nicht durch Theologie und Soteriologie flankiert. Oder man denke an Helmut von Glasenapps Bezeichnung des Buddhismus als a-theistisch: Atheismus in dem Sinne, wie ein westlicher Leser diesen Begriff vor dem Hintergrund der westlichen Theismus-AtheismusDebatte normalerweise verstehen würde, ist aber auf keinen Fall ein zentrales Anliegen des Buddhismus. Nach welchem Raster sollte man dann vermutliche Parallelen ordnen? Sollte man nicht dogmatische Kategorien der christlichen Dogmatik wie Theologie, Anthropologie, Soteriologie oder Eschatologie eher vermeiden? Schließlich könnte man von buddhistischer Seite genauso gut mit anderen Kategorien kommen, wie etwa ,Buddha-natur‘, ,Daseinsanalyse‘ und ,Befreiung‘. Zugespitzt formuliert, wie sähe zum Beispiel ,Buddha-natur‘ im Christentum aus?

14 Hendrik Kraemer, World Cultures and World Religions. The Coming Dialogue, London 1960. 15 AaO., 368. 16 Horst Rzepkowski, Das Menschenbild bei Daisetz Teitaro Suzuki. Gedanken zur Anthropologie des Zen-Buddhismus, St. Augustin 1971.

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2.

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Amida Buddha und die Lehre Ho¯nens und Shinrans

An dieser Stelle wird es vermutlich hilfreich sein, ein paar einführende Informationen über den Amida-Glauben zu bringen (die von Experten auf dem Gebiet überflogen werden können). Der Kult um den Buddha Amida (Skt. Amita¯bha, ¯ m&tujfj) ist in Ostasien weit verbreitet. Es handelt sich um einen kosmiCh. A schen ,Buddha‘, der, wie der historische Buddha S´a¯kyamuni berichtet haben soll, noch als Bodhisattva vielversprechende Gelübde abgelegt hat. Diesen Gelübden zufolge, insbesondere dem achtzehnten von achtundvierzig,17 würden Alle, die sich auf ihn berufen, in das Reine Land im kosmologisch verstandenen Westen wiedergeboren werden, das als eine Vorstufe zum Zustand des Nirvana gilt. Die Texte, in denen man darüber zu lesen bekommt, stammen allerdings nicht tatsächlich von dem historischen Buddha, und auch nicht aus seinem näheren Umfeld, sondern stellen einen Ausdruck der späteren Bewegung des Maha¯ya¯naBuddhismus dar. Amida ist einer von mehreren, sogar zahlreichen Buddhas, die sich in allen Himmelsrichtungen und früheren, längst vergangenen Zeitaltern ausgebreitet haben und in ihren jeweiligen Buddha-Ländern verweilen. Von dort aus strahlen sie auf vielfache Weise ihre Barmherzigkeit aus, um den Menschen und allen anderen Lebewesen zu helfen und sie aus ihrer Misere zu retten, so dass sie nicht aufgrund ihres schlechten Karmas in zukünftige Höllen fallen. Obwohl diese Buddhas als übernatürliche Mächte verstanden werden, ist es irreführend, sie als ,Gott‘ zu bezeichnen, wie Barth es im Falle Amidas ohne weiteres tut.18 Während Amida Buddha an erster Stelle als einer von vielen Buddhas betrachtet und angebetet wird, entwickelte sich ihm gegenüber schon in China eine besondere Vorliebe, die durch eine Kette von Auslegern zu der weitgehend selbständigen Form des Buddhismus entwickelt wurde, um die es sich hier handelt. Auf den Schultern indischer und chinesischer Meister wurde die Lehre insbesondere von den Japanern Genshin (942–1017), Ho¯nen (1133–1212) und Shinran (1173–1263) immer weiter zugespitzt und radikaler interpretiert. Grundsätzlich hieß es, dass das Aussprechen des Gedenkens an den Buddha Amida das Heilsversprechen einlösen würde. Die notwendigen Worte lauten auf Japanisch formell ,Namu Amida Butsu‘, in der Nutzung phonetisch leicht gekürzt auf Namu Amida Bu, eine Formel, die als das nenbutsu bekannt ist.19 Die einzige notwendige Praxis wurde damit zu nichts mehr als dem Rezitieren des Namens von Amida Buddha. Gelübde Nummer 18, das dieses Heilversprechen beinhaltet, wurde daher das Grundgelübde (hongan) genannt. Allein durch ,ei17 Die Gesamtzahl der Gelübde variiert bei einigen Überlieferungen. 18 Vgl. Barth, KD I/2, 375. 19 Die gelegentlich gesehene abweichende Schreibweise nembutsu, die auch gefunden wird, kommt der üblichen Aussprache etwas näher.

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gene Kraft‘ (wörtlich aus dem Japanischen jiriki, vgl. oben zu tariki), durch eigene Werke, durch eigene Praxis konnte man nichts erreichen. Unterschiedlich waren die Meinungen darüber, wie häufig man das Nenbutsu sagen sollte. Ho¯nen empfahl möglichst häufiges Rezitieren. Hauptsache war aber, dass man die richtige Einstellung hatte, eine Einstellung des vollen aufrichtigen Vertrauens (shinjin). Und deswegen konnte Shinran, einer der führenden Schüler Ho¯nens, sogar zu dem Schluss kommen, dass man das nenbutsu keineswegs 10.000-mal, sondern im Grunde nur einmal oder gar überhaupt nicht mehr physisch aussprechen muss. Es käme allein auf die Einstellung des Glaubens an, auf das Sich-Verlassen, auf die Barmherzigkeit von Amida Buddha, der versprochen hat, alle in welchen Sünden auch immer verstrickte Lebewesen mit in das Reine Land zu nehmen, wo nur noch ein angenehmes, beruhigendes Dasein genossen wird, im Wartesaal des endgültigen Nirvana. Es ist kein Wunder, dass Karl Barth (und andere protestantische Denker) an dieser Form des Buddhismus nicht einfach vorbeischauen können. Barth erwähnt Genku¯ (ein alternativer Name für Ho¯nen) und Shinran, der die Lehre der absoluten Abhängigkeit von der Barmherzigkeit Amidas am radikalsten vertrat. Die Lehre des Ho¯nen wird in der Jo¯do-Schule (Jo¯do-shu¯) weiter vermittelt und die des Shinran in der Jo¯do-Shin-Schule (Jo¯do Shinshu¯). In beiden Lehrrichtungen gibt es weitere Unterteilungen, die uns jetzt nicht aufzuhalten brauchen. Zusammen übertrifft die Zahl der Anhänger bei weitem diejenige der anderen Lehrrichtungen des japanischen Buddhismus. Der Haupttempel einer der Unterteilungen, der Higashi Honganji, ist im Übrigen vermutlich das größte Holzgebäude der Welt. Aber es geht hier nicht um Gebäude und Zahlen, sondern um den Glauben, und um die Frage, wieso der christliche Glaube laut Karl Barth anders strukturiert ist als der Amida-Glaube, und ob Barths Position in dieser Hinsicht haltbar ist.

3.

Amida Buddha und die letzte Wirklichkeit

Die unumstrittene Zentralität von Amida Buddha für den Glauben im ShinBuddhismus bedeutet nicht, dass dieser Buddha in einem kosmischen Sinne das ganze Universum dominiert oder in anderer Hinsicht dafür allein verantwortlich wäre. Insofern sind Vergleiche mit theistischen Gottesbegriffen abwegig. Andererseits ist ein Vergleich zwischen Amida und Christus als Heilsgestalten auch nur beschränkt vertretbar, da bei Amida die Verankerung in der menschlichen Geschichte fehlt. Es handelt sich eindeutig um eine mythologische Projektion, was von modernen Vertretern des Shin-Buddhismus nicht bestritten wird. Amida Buddha hat trotzdem durchaus eine Beziehung zur letzten Wirklichkeit, wie diese im Maha¯ya¯na-Buddhismus verstanden wird. Dabei geht es nicht

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um die Definition einer abschließenden ontologischen Instanz, sondern vielmehr um einen Verzicht auf ontologische Behauptungen überhaupt. Auch das Denken Shinrans, obwohl dieser vor allem als Verfechter einer Glaubenseinstellung bekannt ist, ist in den grundlegenden Gedanken des Maha¯ya¯na verankert. In seinem Sho¯shinge, einem regelmäßig von den Anhängern rezitierten Text, preist er den berühmten indischen buddhistischen Philosophen Na¯ga¯rjuna als einen, der „Ansichten über Sein und Nichtsein komplett zerreißt“20. Das bedeutet weniger, dass es weder Sein noch Nichtsein ,gibt‘, als dass man weder an „Sein“ noch „Nichtsein“ haftet/haften soll. Diese Einstellung ist bezüglich Amida Buddha (Amida Nyorai) anzuwenden. Das heißt, ob Amida Nyorai existiert oder nicht existiert, ist eine Frage, die nicht zu stellen ist. Amida Buddha, obwohl häufig durch eindrucksvolle Statuen sichtbar gemacht, kann mit dem DharmaKörper (Sanskrit: Dharmaka¯ya) des Buddha gleichgestellt werden, der ohne Charakteristika, ohne Merkmale ist. „Sein“ ist aber ein Daseinsmerkmal wie „Nichtsein“; und Amida Buddha ist weder, noch ist er nicht. Es geht jedoch nicht um Spekulationen, sondern um das Heil. Wie kann ein Dharmaka¯ya ohne Merkmale zugleich eine Heilsfigur sein? Der japanische Begriff für Dharma-Körper ist wörtlich hosshin.21 Man unterscheidet weiter zwischen dem Dharma-Körper unter dem Aspekt des Dharmas (hosso¯hosshin) und dem Dharma-Körper unter dem Aspekt der Anpassung oder der geschickten Mittel (ho¯benhosshin). Diese Differenzierung geht auf den chinesischen Patriarchen T#nlu#n (476–542 J. Donran) zurück und wurde von Shinran in seinem Kyo¯gyo¯shinsho¯ aufgegriffen. Die Gestalt Amida Buddhas, die uns zugänglich ist, ist naturgemäß ,nur‘ der Anpassungskörper, und alles, was davon abhängig ist, funktioniert als Hilfestellung für die Menschen und dient deren Heil. Zum Begriff der geschickten Mittel gehört jedoch auch, dass sie im Vollzug ihrer Anwendung aufgehoben werden, denn sie haben, so nötig sie sein mögen, lediglich provisorischen Charakter. Sie sollen keine ontische Fixierung herbeiführen, denn sonst würden die Lebewesen nur daran haften. Die Lehrmittel sollen also keinen Unterschied zum Beispiel zwischen Sein und Nichtsein aufstellen, sondern uns Menschen helfen, gerade von solchen Differenzierungen geistig Abschied zu nehmen. Die Frage, ob ein derartiges Verständnis letztendlicher Wirklichkeit mit einem christlichen Gottesbegriff vereinbar ist (etwa unter Einbeziehung der Idee des Deus absconditus, wie bei Butschkus), braucht keine Antwort an dieser Stelle. Sie hat mit der Position Karl Barths bezüglich der für seine Theologie anschei20 Vgl. (completely rends the views of being and non-being [Übers. MP]); Vgl. The Sho¯shin Ge, Ryukoku Translation Series, Bd. 1, Kyoto 1961, 28. 21 Dies ist die korrekte Lesart für , obwohl bei anderen Verfassern von den Schriftzeichen ausgehend verständlicherweise, aber irrtümlich, ho¯shin gefunden wird.

Die Wahrnehmung des Buddhismus in der dialektischen Theologie

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nend durchaus bedrohlichen Parallele nicht viel zu tun. Wir sollten aber schon wissen, dass dies den Hintergrund für Shinrans Verständnis seiner Abhängigkeit von Amida Buddha bildet, beziehungsweise seiner Aneignung des Heils durch Amidas 18. Bodhisattva-Gelübde.

4.

Der bedürftige Mensch

Die Analyse der Situation des Menschen bei Shinran (seine ,Anthropologie‘, wenn man will) und überhaupt im Maha¯ya¯na-Buddhismus, entspricht im Wesentlichen den Voraussetzungen des Frühbuddhismus. Demnach ist unsere Existenz durch Unwissen und Leid bedingt. Wir werden überhaupt als Menschen geboren aufgrund der Fortwirkung von relativ schlechtem Karma; es gibt ja auch schlimmere Wiedergeburtsmöglichkeiten. Wir benehmen uns überwiegend eigensinnig und lassen uns durch die 108 Begierden leiten. Einige heilige Menschen konnten zwar ihr Bestes geben, so heißt es, über lange Zeiten hinweg, durch viele Existenzen fortschreitend, bis sie endlich als Würdige (Arhats) zur Erleuchtung gelangten und aus dem sich fortsetzenden Kreis der leidvollen Wiedergeburten herauskamen. In letzter Zeit wurde es aber zunehmend schwieriger, sogar die seriösesten Mönche schafften es nicht mehr, und der Weg zur Erleuchtung und zum Nirvana ist praktisch ausgetrocknet. Beim besten Willen kommt man einfach nicht weiter. Diese verzweifelte Situation entstand, so sahen es viele mittelalterlichen Mönche in China, Korea und Japan, aufgrund des Verfalls des Dharma. Zu lange her war es, seitdem S´a¯kyamuni Buddha seine Schüler mit seinem Dharma direkt heranführen konnte, um sie in ein Stadium zu bringen, wo sie nicht mehr zurückfallen würden. Nach dieser Eschatologie war es weder das Zeitalter des ,wahren‘ Dharma (sho¯bo¯) noch des ,nachgemachten‘ Dharma (zo¯bo¯), sondern schon das Zeitalter des allerletzten Dharma (mappo¯), in dem die Menschen nur noch fade Erinnerungen an den geschichtlichen Buddha hatten und nichts Sinnvolles mehr anstreben konnten. Für Ho¯nen schien es daher dringend, den schwierigen Pfad der Weisen zu verlassen und den leichten Pfad der Annahme von Hilfe durch Amida Buddha vorzuziehen. Schließlich könnten dann Alle, auch Menschen in der tiefsten Verzweiflung, diese Hilfe mit der Formel Namu Amida Bu(tsu) annehmen. Und wie Shinran es pointierter formulierte: „Sogar ein guter Mensch kann gerettet werden, wieviel mehr ein schlechter.“22

22 Vgl. Masuyama Kenju/Tanni Sho¯ (Hg.), Ryukoku Translation Series, Bd. 2, Kyoto 1963, 22: „Even a good person is born in the Pure Land, how much more so is an evil person.“

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5.

Michael Pye

Karl Barths Fazit

Die Darstellung des Jo¯do-shu¯ beziehungsweise des Jo¯do Shinshu¯ bei Karl Barth ist in einiger Hinsicht treffend und in anderer Hinsicht irreführend. Es handelt sich auf diesen Seiten um einen längeren Exkurs,23 in dem Barth versucht, dieser Form des Buddhismus einen Charakter zuzuschreiben, den sie so nicht hat. Dies geschieht vor dem Hintergrund seiner Ablehnung der ,Werkgerechtigkeit‘, die er hier wiederfand. Es ist höchst interessant zu sehen, dass er aus den ihm zugänglichen Quellen entnahm, wie deutlich in diesen Lehrrichtungen diesseitsbezogene Wünsche und entsprechende Praktiken oder Werke abgelehnt werden. Vor allem der Jo¯do Shinshu¯ kennt „keine Bittgebete, keine magische Formeln und Zauberhandlungen, keine Amulette, Wallfahrten, Bußen, Fasten oder sonstige Arten von Askese“24. In der Tat ist Shinrans Jo¯do Shinshu¯, jedenfalls heutzutage, deutlich strikter in dieser Hinsicht als der direkt von Ho¯nen stammende Jo¯do-shu¯. In beiden Richtungen ist jedoch das Sich-Verlassen auf die andere Kraft des Amida Buddha ausschlaggebend. In seiner Schlussfolgerung zählt Barth vier Punkte auf, von denen die drei letzten auf dem ersten basieren. Dieser erste lautet, „daß der Ausgangspunkt der Jodo-Bewegung notorisch die populäre Frage nach einem leichteren und einfacheren Heilsweg gewesen ist; man wird aber weder von Luther noch von Calvin sagen können, daß auch sie gerade von daher gekommen seien“25. Wir haben es hier mit einer Halbwahrheit zu tun. Die spirituelle Anstrengung sowohl Ho¯nens als auch Shinrans wird offenbar unterschätzt. Beide wurden sehr jung im großen Kloster auf dem für den japanischen Buddhismus bedeutsamen Berg Hiei aufgenommen, wo sie als Mönche äußerst ernsthaft verschiedene Meditationsformen praktizierten. Trotzdem fanden sie, dass sie nicht die erwünschten Fortschritte erzielen konnten. Die Praxis des nenbutsu war ursprünglich eine Meditationsform unter anderen, und nicht vordergründig eine „populäre“ Praxis, auch wenn sie dies später wurde. Besonders Shinran hatte einen schwierigen spirituellen Weg, und seine Erfahrungen sind vergleichbar mit denjenigen Martin Luthers. Barths weitere Punkte können eher als eine Sache des unterschiedlichen religiösen Wortschatzes und der unterschiedlichen mythologischen Vorstellungen gesehen werden. Da es den Zorn ,Gottes‘ in der buddhistischen Welt so nicht gibt, ist es kein Wunder, dass diese Idee in der entsprechenden religiösen Erfahrung so nicht zum Ausdruck kommt (Barths zweiter Punkt). Andererseits warten normalerweise ganz schlimme Höllen auf diejenigen, die nicht bedeutende Fort23 Barth, KD I/2, 372–377. 24 AaO., 374. 25 AaO., 375.

Die Wahrnehmung des Buddhismus in der dialektischen Theologie

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schritte in ihrer Karma-Bilanz erzielen können. Kommt man in dieser Hinsicht nicht durch Askese voran, so eröffnet sich eine Perspektive immer tieferwerdender Verzweiflung. Da diese Erfahrung anders konzipiert ist, hat Barth dann gewissermaßen wieder recht, wenn er schreibt (sein dritter Punkt), dass der „Akzent eines Kampfes für die Ehre Gottes gegen die menschliche Eigenwilligkeit und Überheblichkeit“26 fehle. Andererseits kommen diese Gedanken nur aufgrund einer irreführenden Übertragung der Kategorien zustande. Schließlich ist der vierte Punkt bei Barths Fazit völlig verfehlt. Er schreibt: „Es steht und fällt nämlich […] der Jodoismus mit dem übrigen Buddhismus mit der inneren Kraft und Berechtigung des stürmischen menschlichen Wunsches nach einer Erlösung durch Auflösung, nach dem Eingang ins Nirwana [sic], zu dem ja das allein durch den Glauben zu erreichende ,reine Land‘ nur die Vorhalle bildet, nach der Buddhaschaft, zu deren Vollkommenheit auch der Gott Amida erst unterwegs ist. Dieses menschliche Wunschziel, und nicht Amida oder der Glaube an ihn, ist in der Jodo-Religion die eigentlich regierende und bestimmende Macht […].“27

Wir sehen hier, wie Barth versucht, den Glauben im Jo¯do- beziehungsweise im Jo¯do-Shin-Buddhismus zu einem menschlichen Wunsch, einem menschlichen Anliegen, praktisch zu einem menschlichen religiösen Werk zu machen. Dabei sind es letztendlich nicht wir Menschen, die das nenbutsu als Werk aussprechen, sondern es kann sogar heißen, dass wir das nenbutsu ,hören‘, dessen Stärke von Amida-Buddhas ,anderer Kraft‘ herrührt. Eigentlich ist es so, dass Barth einfach nicht wissen will, dass die Parallele in der Glaubensstruktur so deutlich ist. Denn dies stört seine Theologie. Wie verzweifelt klingen seine Versuche, eine Kluft aufzuzeichnen zwischen „Wahrheit und Lüge“28 ! Das ist eine harte, gar sehr verletzende Formulierung. Hier könnte man logischerweise den Spieß umdrehen, aber es wäre wirklich zutiefst un-dialogisch, das zu tun. Oder er will die Situation dadurch retten, dass er einfach den Namen von Jesus Christus zu einem, gar zu dem letztendlich allein gültigen Wahrheitskriterium erklärt. Dabei übersieht er, dass man genauso gut einen beliebigen anderen Namen als den einzig effektiven erklären könnte, solange es nicht mehr um Inhalte geht. Allerdings gibt es schon Alternativlösungen. Christiane Langer-Kaneko kontert mit der Position von Hans Küng über einen positiven Umgang mit den Religionen im Umfeld des Christentums und lehnt den Barthianismus damit wenigstens implizit ab.29 Stefan Jäger dagegen will Barths Ausführungen über den Buddhismus des Reinen Landes in einen größeren Zusammenhang stellen und damit relativieren, indem er auf die ideengeschichtliche Situation (Barmer 26 27 28 29

Ebd. Ebd. Barth, KD I/2, 376. Kaneko, Land, 130.

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Michael Pye

Theologische Erklärung im Hintergrund) mit deutlich christologischem Zentrum oder auf spätere Gedanken aus Karl Barths ,Lichterlehre‘ hinwies.30 Dies könnte jedoch eher Verlegenheitslösungen oder -vorschläge darstellen. Mir selber scheint ein wesentlicher Unterschied zwischen den zwei Botschaften darin zu liegen, dass der Bezug zu Jesus Christus nicht nur einen Bezug zu einem ,Namen‘, sondern zugleich einen Bezug zu tatsächlicher Geschichte darstellt, das heißt zu einer Situation in einer Vergangenheit, die ihre Ursachen und Konsequenzen hatte und noch hat. Jesus war mitten in der Geschichte und Teil dieser Geschichte, die unserer aller Geschichte ist, ob vor, nach oder neben dem Geschehen um ihn herum. Wie schon gesagt, ist Amida Buddha eine mythologische, oder psychologische Konstruktion, für viele sowohl notwendig als auch wirksam, aber eben anders. Dies allein entscheidet nicht über die Wahrheitsfrage, ob relativer oder absoluter Art, geschweige denn über „Wahrheit oder Lüge“, wie Barth es mehrmals formulierte. Jedoch ist bei Christus der konkrete Bezug zur Geschichte eine Besonderheit, vielleicht ein Stein des Anstoßes oder vielleicht der Eckstein. Mehr kann man als vergleichender Religionswissenschaftler nicht behaupten.

30 Stefan S. Jäger, Glaube und religiöse Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus. Eine religionshermeneutische Studie, Berlin 2011, 462.

Yoshiki Terazono

Die Rezeption der Theologie Karl Barths in der japanischen (Religions-)Philosophie unter besonderer Berücksichtigung von Kitaro Nishida und Katsumi Takizawa1

1.

Einleitung

Japan hat nach der Meiji Restauration(1868) für seine Modernisierung politisch, wissenschaftlich, militärisch und in vielen anderen Bereichen von Deutschland seit der preußischen Zeit sehr viel gelernt. Das wurde eine gute Tradition. Das Christentun und die christliche Theologie bildeten dabei keine Ausnahme. Anfang der 1930er Jahre wurde die Theologie Karl Barths mit der von anderen Theologen wie zum Beispiel Friedrich Gogarten und Emil Brunner in Japan eingeführt. Vor dieser Zeit überwog hingegen in der Kirche und der Theologie Japans der praktische Pietismus aus den USA. Die Leser der neu eingeführten Theologie waren nicht nur die christliche Theologen sondern auch die buddhistischen Philosophen, unter ihnen auch der bekannte buddhistische Philosoph Kitaro Nishida. Dieser hatte, wie einem Eintrag in seinem Tagebuch zu entnehmen ist, am 2. 5. 1931 angefangen, Karl Barths Römerbrief zu lesen. Als dem noch jungen Philosophiestudenten und Schüler Nishidas, Katsumi Takizawa, durch die Humboldt-Stiftung im Jahr 1933 ermöglicht wurde, seine Studien in Deutschland weiterzuführen, hatte sein Lehrer Nishida ihm empfohlen, „lieber bei einem Theologen als bei einem Philosophen wie Martin Heidegger zu studieren“2. Er sagte zu Takizawa, „daß Karl Barth auch unter berühmten Theologen unvergleichlich ,fest‘ sei“3.

1 Für die sprachliche Überarbeitung meines Textes danke ich meinen langjährigen Freund Prof. em. Dr. Bertold Klappert, ehemals Kirchliche Hochschule Wuppertal-Bethel. 2 Katsumi Takizawa, Reflexion über die universale Grundlage von Buddhismus und Christentum, Frankfurt a.M.1980, 159. 3 Ebd.

200

2.

Yoshiki Terazono

Takizawas Rezeption der Theologie Barths

Katsumi Takizawa (1909–1984) hörte daraufhin im Wintersemester 1934/1935 in Bonn Karl Barths Vorlesung über die Christologie. Obwohl Takizawa keine Kenntnis von der Theologie hatte, konnte er sie nach seinem Eindruck sehr gut verstehen: „So war mir die Vorlesung Karl Barths über die Jungfrauengeburt von der ersten Stunde an nicht ganz fremd. Vielmehr war es mir eine unaussprechliche Freude, daß durch seine Darstellung mir jeden Tag ein bißchen klarer wurde, was für herrliche, von mir selber gar nicht erwartete Wunder in dem einen Faktum, das mir in Anonymität vor einem Jahre begegnete, an sich selbst und für mich selber enthalten waren und sind.“4 Seitdem hatte Takizawa dann nicht nur Kitaro Nishida, sondern auch Karl Barth als seinen Lehrer bezeichnet und ist somit auch der erste japanische Schüler Karl Barths geworden. Nach Takizawa ist das Zentrum der Theologie Barths mit dem Faktum identisch, das Takizawa als die Grundbestimmung des menschlichen Seins in Anonymität bei Nishida gefunden hat. So hatte Takizawa lebenslänglich zwei Lehrer, deren Denkansätze er auch aufeinander bezog und miteinander verband, nämlich den zen-buddhistischen Philosophen Nishida und den christlichen Theologen Barth. Was Takizawa in der Christologie-Vorlesung Barths gelernt hat, ist das Faktum des Immanuel (,Gott mit uns‘). In Jesus Christus sind Gott und Mensch absolut untrennbar eins und zwar in der unumkehrbaren Reihenfolge, jedoch zugleich absolut unvermischbar voneinander unterschieden. Das ,Faktum des Immanuel‘ als die Grundbestimmung des Menschenliegt jedem menschlichen Sein zugrunde. Nach seiner glücklichen Begegnung mit Karl Barth ist darum der Name Jesus Christus für Katsumi Takizawa etwas geworden, von dem er sich nicht mehr losreißen konnte. Dieser Name bezeichnet das lebendige Faktum ,Gott mit uns‘, oder, wie Takizawa sich ausdrückt: „Gott selbst mit mir! Das und nur das ist die Stütze meiner Existenz, außer der ich mit allem Guten und Schönen in der Welt nur ins Leere fallen kann. Das allein ist mir der reale Boden, der erste Grund und das letzte Ziel des Lebens, hinter die ich nie zurück zu kommen vermag noch brauche, von dem her und zu dem hin ich als Ich, und zwar ganz ungeachtet meiner eigenen Persönlichkeit – also als ein Mensch als Mensch überhaupt – wirklich sein und wirken kann. […] Hier ist tatsächlich das konkreteste Faktum eo ipso die universal herrschende ewige Wahrheit, die von Gott selbst bestimmte entschiedene, allen Menschen gemeinsame Grundbestimmung der menschlichen Existenz, durch deren Offenbarung allein ich erst zur wahren Erkenntnis dessen gelangen kann, was

4 Katsumi Takizwa, Das Heil im Heute, Texte einer japanischen Theologie, hg. v. Th. Sundermeier, Theologie der Ökumene 21, Göttingen 1987, 34.

Rezeption der Theologie Karl Barths in der japanischen (Religions-)Philosophie

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,Gott und Mensch‘, folglich ,Existenz und Essenz‘ […] usw. im Grunde eigentlich heißen sollen.“5

So tief und so breit ist die Christologie Barths. Nach Takizawa behauptet Barth aber logisch notwendig die Absolutheit des Christentums und verkennt deshalb den universalen Charakter der Christologie. Denn Barth vertrete die Auffassung, dass das ,Faktum des Immanuel‘ erst durch die Geburt Jesu Christi entstanden sei. In diesem Sinne kritisierte Takizawa Barth und entwickelte daraufhin seine eigene Immanuel-Christologie, nach der Jesus nur das ,Zeichen‘ des Immanuel ist, währenddie ,Sache‘ des Immanuel selbst ohne das Zeichen schon von Anfang der Welt und bis zum Ende existiert, und zwar wirklich existiert. Jesus Christus als Mensch ist nach Takizawa also nicht die Sache selbst, sondern das Zeichen, das heisst das Vorbild des wirklichen Menschen. Die Geburt Jesu Christi bedeutet die Entstehung des Zeichens, aber nicht die Sache selbst. Der Mensch Jesus unterscheidet sich jedoch von anderen Menschen dadurch, dass er als Zeichen das perfekte Zeichen ist, während die Zeichen aller anderen Menschen nicht perfekt sondern unvollständig sind. Nichtsdestotrotz trägt nach Takizawa aber nicht nur Jesus, sondern jeder Mensch die Möglichkeit des Perfektseins und Vollkommenseins in sich. Unterscheidet man wie Takizwa zwischen dem Zeichen und der Sache selbst, hat dies hamartiologische Implikationen: Die Vergebung der Sünde beziehungsweise die Möglichkeit des Zusammenseins von Gott und Mensch geschieht nicht erst am und durch das Kreuz, sondern der Mensch ist auch ohne die Geschichte Jesu Christi mit Gott zusammen, allerdings ohne sich dessen bewusst zu sein. So gesehen ist der Kreuzestod Jesu für den Menschen sogar nicht nur ein, sondern das größte Zeichen. Es macht deutlich, dass auch durch den Tod als die stärkste Gewalt in dieser Welt die Grundtatsache des Immanuel nicht vernichtet werden kann. So gesehen offenbart das Kreuz gerade die Stärke des Immanuel. Die Auferstehung Jesu bedeutet hingegen die direkte Selbst-Mitteilung der Sache des Immanuel, die ja auch ohne Zeichen, also ohne Jesus Christus, bereits wirklich existiert. Bedeutet das Kreuz also die Stärke des Immanuels, so bedeutet die Auferstehung seinen Sieg.6 Takizawa unterscheidet also den universalen Grund der Religion und ihre geschichtlichen Gestalten. Er meint, „daß die Religion, sofern sie eine spezifische Gestalt innerhalb der Geschichte – wie hoch und vollkommen sie auch immer sein mag – ist, etwas ganz anderes ist als das Urbild, dessen Abbild, oder als der 5 AaO., 26. 6 Vgl. zu diesem Absatz Yoshiki Terazono, Zur Wirkung von Karl Barth in Japan, in: ZDT 2, 1986, 2, 229f; Ders., Die Christologie Karl Barths und Katsumi Takizawas. Ein Vergleich, Bonn 1976 [Diss. Universität Bonn].

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Yoshiki Terazono

Urton, dessen Echo sie nur ist.“7 Nach der Lehre von Takizawa ist der universale Grund der Religion die Sache des Immanuel (Immanuel I) und die spezifische Gestalt innerhalb der Geschichte ist das Zeichen des Immanuel (Immanuel II). Deshalb ist nach Takizawa die christliche Religion nur eine Gestalt (Immanuel II) des eigentlichen Immanuel (Immanuel I). Als Immanuel II jedoch, so der Gedankengang Takizawas, könne man die christliche Religion nicht als die wahre und ausschließliche Religion verabsolutieren, wie Barth das in KD I/2im §17 tue.8 Zu fragen wäre dann, woher Takizawas Kritik an Barth oder genauer gesagt seine Unterscheidung zwischen der Sache und dem Zeichen des Immanuel genau herkommt. Und die Antwort auf diese Frage wäre dann, dass Takizawa grundsätzlich die buddhistisch-ontologische Philosophie seines Lehrers Nishida übernommen hat und darin auch verblieb. Deshalb soll in einem nächsten Abschnitt genauer auf die Philosophie Nishidas eingegangen werden, und zwar insbesondere auf deren ursprüngliche Entwicklung wie sie sich vor der in ihr später stattfindenen Rezeption der Theologie Karl Barths ergeben hatte.

3.

Nishidas Zen-Buddhistische Philosophie

Kitaro Nishida (1870–1945) kann als der Begründer der modernen japanischen Philosophie bezeichnet werden. Außerdem handelt es sich bei seiner Philosophie um eine Religionsphilosophie, die auf den Zen-Buddhismus gegründet ist. Nach dem Studium der Philosophie an der Universität Tokyo hatte Nishida als Gymnasiallehrer von 1896 bis 1909 zunächst Ethik, Logik, Psychologie und Deutsch unterrichtet. Von den Schülern, die mit ihm vertraut waren, wurde er auch gerne ,DENKEN-sensei‘ (dt.: „Herr (Lehrer) Denken“) genannt. Während dieser Zeit hatte Nishida aufgrund der Empfehlung seines Schulfreundes Daisetsu Suzuki auch 12 Jahre lang den Zen-Tempel besucht, eifrig Zen-Buddhismus gelernt und die Zen (Yoga)-Meditationen im Sitzen geübt. Schon nach vier Jahren nach Beginn der Zen-Übungen wurde ihm der Ehrentitel (,koji‘) von seinem alten Zen-Meister verliehen. So wurde Nishida oft mit dem buddhistischen Namen ,Sunshin-koji‘ (dt. etwa: buddhistischer Privatgelehrter) angesprochen. Im Jahr 1910 wurde Nishida dann als außerordentlicher Professor an die Universität Kyoto berufen und im darauf folgenden Jahr 1911 veröffentlichte er sein erstes, 7 Katsumi Takizawa, Reflexion über die universale Grundlage von Buddhismus und Christentum, Frankfurt a.M.1980, 28. 8 Katsumi Takizawa, [auf Jap.] Religion und Religionskritik bei Karl Barth, in: [auf Jap.] Barth und Marx – die neue Welt, Tokyo 1981, 137–170; vgl. auch: Ders., Religion/Religionskritik bei Karl Barth unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen und ökumenischen Dimension, in: Karl Barth – Katsumi Takizawa, Briefwechsel 1934–1968, hg. v. S. Hennecke/A. Venemans, FSÖTh 154, Göttingen 2015, 97–136.

Rezeption der Theologie Karl Barths in der japanischen (Religions-)Philosophie

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hoch geschätztes Buch Über das Gute (Zen no Kenkyu). Und so wurde Nishida unter den Studenten und Akademikern inganz Japan bekannt und 1913 als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl der Religionswissenschaft und im Jahr darauf auf den Lehrstuhl der Philosophie an der Universität Kyoto berufen In Über das Gute schreibt Nishida: „Man kann das Gute auf vielfache Weise akademisch erklären, in praxi gibt es jedoch nur ein wahrhaft Gutes. Es lautet: die Erkenntnis des wahren Selbst. […] Die Erkenntnis des wahren Selbst schließt uns nicht nur mit dem allgemeinen Guten der Menschheit zusammen, sondern vereint uns mit der Substanz des Universums und dem Willen Gottes. […] Das Gesetz der Erkenntnis des wahren Selbst und der Vereinigung mit Gott liegt nur im Erfassen der Kraftder Einheit von Subjekt und Objekt. Um diese Kraft zu erlangen, müssen wir das falsche Ich töten, einmal den Begierden dieser Welt sterben und wieder auferstehen. […] Nur so können wir in den Bereich der Einheit von Subjekt und Objekt eintreten. Hier wohnt der höchste Sinn von Religion, Moral und Kunst. Das Christentum nennt es Wiederauferstehung, der Buddhismus Wesensschau, Erleuchtung.“9

Nach Nishida geht es also beim praktischen Guten um die Erkenntnis beziehungsweise die Erfahrung der Einheit von Subjekt und Objekt. Dementsprechend liegt das gute Verhalten in derErfahrung der Einheit von Subjekt und Objekt: „In einem wirklichen guten Verhalten folgt weder das Subjekt dem Objekt noch das Objekt dem Subjekt. Erst wenn Subjekt und Objekt ineinander untergegangen sind, Ich und Ding sich gegenseitig vergessen haben und Himmel und Erde zu einer einzigen, dynamischen Realität verschmelzen, erreicht das gute Verhalten den Punkt seiner Vollendung, an dem es keinen Unterschied mehr macht, ob das Ich die Dinge bewegt oder die Dinge das Ich bewegen.“10 Nach Nishida hat Paulus diesen Sachverhalt der Einheit von Subjekt und Objekt in Gal 2, 2 beschrieben: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ Dabei macht die Einheit von Subjekt und Objekt nicht nur das Wesen der Ethik aus, sondern auch das Wesen der Religion. Die Idee von einem transzendenten Gott, der von außen die Welt regiert, widerspricht seines Erachtens der menschlichen Vernunft und eine entsprechende Religion kann „keine tiefe Religion genannt werden“11. Vielmehr kann sich nach Nishida „die tiefste Religion [nur] auf der substantiellen Einheit von Gott und Mensch aufbauen. Und die wahre Bedeutung der Religion liegt im Ergreifen dessen, was den Sinn einer Verschmelzung von Gott und Mensch hat“12. Die Tiefe einer Religion liegt mit 9 Kitaro Nishida, Über das Gute. Eine Philosophie der Reinen Erfahrung, aus dem Jap. übers. u. eingel. v. P. Pörtner, Insel Verlag, Frankfurt a. M. [1989] 21993, 187f. [ursprl.: Zen no kenkyu, Tokyo 1911]. 10 AaO., 176f. 11 AaO., 197. 12 AaO., 198.

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anderen Worten darin, „daß wir am Ursprung des Bewußtseins den majestätischen Geist des Universums, der an der Zerstörung des Bewußtseins des Selbst wirkt, in voller Gegenwart erleben“13. Wer und was ist Gott, nach Nishida? Er antwortet: „Gott ist der Ursprung des Universums.“14 Gott ist kein transzendenter Schöpfer außerhalb des Universums, sondern der unmittelbare Grund der Realität. Nishida sagt: „Die Beziehung zwischen Gott und Universum ist eine andere als die zwischen einem Künstler und seinem Werke, denn sie ist die Beziehung zwischen Noumenon und Phainomenon. Das Universum ist nicht das Werk Gottes, sondern seine Manifestation. Alles, vom Laufe der Sonne, des Mondes und der Sterne bis zu den innersten Regungen der Menschenseele, ist Manifestation Gottes. Im Ursprung jedes einzelnen Dinges können wir das geistige Licht Gottes anbeten.“15

Auch Nishidas letzte Arbeit, Ortlogik und religiöse Weltanschauung16 (1945), beinhaltet seine Lehre von der Religion. In dieser Arbeit bleibt sein Grundgedanke prinzipiell unverändert. Über die Religion sagt er negativ, „daß man religiöse Phänomene nichtvom Standpunkt der Gegenstandslogik ausgehend erörtern kann“17. Dagegen behauptet er positiv : „Wenn uns der tiefe Selbstwiderspruch, der im Grunde unseres Selbst liegt, bewußt wird und wir ein Selbstbewußtsein unserer eigenen selbstwidersprüchlichen Existenz erlangen“18, wird die Religion uns zur Frage. Deshalb besteht nach Nishida der fundamentale Selbstwiderspruch unserer eigenen Existenz „im Wissen um unseren eigenen Tod“19. Was also ist der Tod? Nishida sagt: „Tod bedeutet:ein Relatives steht dem Absoluten gegenüber. Stehen wir selbst Gott gegenüber, so ist das unser Tod.“20 Nishida zitiert das Wort Jesajas, das er sprach, als er Gott schaute: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mensch mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volk mit unreinen Lippen. Und ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.“ (Jes 6, 5). Nach Nishida kann das Relative dem Absoluten nicht gegenüberstehen:„Steht also das Relative dem Absoluten gegenüber, so muß dies den Tod für das Relative bedeuten. […] Wir selbst berühren Gott allein durch den Tod in widerspre-

13 14 15 16 17 18 19 20

AaO., 199 Ebd. AaO., 200. Kitaro Nishida, Ortlogik und religiöse Weltanschauung, in: Ders., Logik des Ortes. Der Anfang der modernen Philosophie in Japan, übers. u. hg. v. R. Elberfeld, Darmstadt, 1999, 204–284. AaO., 206. AaO., 223. Ebd. AaO., 225.

Rezeption der Theologie Karl Barths in der japanischen (Religions-)Philosophie

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chender Entsprechung. Nur durch den Tod hindurch können wir selbst mit Gott verbunden werden.“21 Das Absolute, das dem Gegenständlichen gegenübersteht, ist nicht das Absolute, sondern ein Relatives. Das Absolute kann nicht mit etwas verglichen werden. Denn ein Absolutes, das dem Relativen gegenüberstünde, wäre kein Absolutes, sondern selber wieder ein Relatives. In welchem Sinne ist aber das Absolute das wahre Absolute? Darauf antwortet Nishida: „Das Absolute ist das wahre Absolute, indem es dem Nichts (mu) gegenübersteht.“22 Und dem Nichts gegenüberzustehen, bedeutet, „daß es [das Absolute; YT] selbst in selbstwidersprüchlicher Weise sich selbst gegenübersteht“23. Er formuliert: „Das Absolute muß in sich selbst absolute Selbstnegation enthalten.“24 Diesen Sachverhalt nennt Nishida auch „widersprüchliche Selbstidentität“25. Deshalb sagt er : „Das wahre Absolute muß in diesem Sinne absolut widersprüchlich selbstidentisch sein.“26 Nach Nishida enthält Gott in sich selber die absolute Selbstnegation, das heißt, dass Gott sich selbst selber widersprechend-entsprechend gegenüber steht. Darum existiert Gott durch sich selber. Nishida sagt: „Weil er [Gott; YT] absolutes Nichts ist, ist er absolutes Sein.“27 Das bedeutet nach Nishida, dass Gott durchaus immanent ist:„Gott ist nirgends in dieser Welt und zugleich ist er überall.“28 Über die Beziehung zwischen Gott und Welt redet Nishida mit den Wortenvon Daito Kokushi (1282–1338), demgroßen japanischen Zen-Meister :„Für ewig voneinander geschieden, doch keinen Moment getrennt; den ganzen Tag gegenüber und doch in [jedem] Augenblick ohne Gegensatz.“29 Nishida nennt seine Philosophie der Religion „die Theologie der Ortlogik“30. Nach Nishida wird die Religion weder im Gefühl der Abhängigkeit noch in der Ethik noch in der Vernunft begründet, sondern in der Ontologie des menschlichen Seins. Die Religion fragt:Was liegt im Grunde des menschlichen Seins? Darauf antwortet Nishida nicht mit dem Begriff des Theismus, dem zufolge Gott transzendent ist, noch mit dem Begriff des Pantheismus, dem zufolge Gott immanent ist, sondern mit dem Begriff des „Panentheismus“31, dem zufolge die Welt in Gott existiert und in Gott umfasst ist. Was im Grunde des menschlichen 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Ebd. Ebd. AaO., 226. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 227. AaO., 228. AaO., 234. AaO., 228.

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Seins liegt, das ist das wahre Absolute, das als die absolut widersprüchliche Selbstidentität in sich selbst die absolute Negation enthält. Nach Nishida ist das Absolute nicht persönlich, es hat keinen Namen. Deshalb ist es das absolute Nichts. Es ist jedoch unendlich schöpferisch, das heißt, es drückt sich aus und gestaltet so die Geschichte als das Zeichen von sich selbst. Für Nishida ist das Thema seiner Theologie der Ortlogik nichts anderes als die Struktur der Beziehung zwischen dem Absoluten und dem Zeichen des Absoluten als Geschichte in der Welt, nämlich die Beziehung zwischen dem Universalen und dem Einzelnen. Jenes ist ewig und hat keine Form und Gestalt, diese jedoch ist geschichtlich. Nishida hat einerseits die christlich-theologischen Begriffe Barths benutzt, sofern sie seinen Gedanken entsprechen und angepasst sind. Er hat jedoch das Wesentliche der Theologie Barths damit nicht rezipiert. Anderseits hat Takizawa verstanden, dass Nishidas Ortlogik der Beziehung zwischen dem Absoluten und dem Einzelnen einerseits und Barths Christologie des Immanuels andererseits sich strukturell entsprechen.

4.

Die Theologische Existenz Takizawas im Licht der universalen Prophetie Jesu Christi Karl Barths

Trotz der Verschiedenheit der Christologie kann man Takizawa aufgrund seiner theologischen und lebensgeschichtlichen Entscheidungen als einen guten „Schüler Barths“ betrachten: Zum einen ließ sich Takizawa Weihnachten 1958 nach einem langjährigen innerlichen Ringen taufen, worüber Karl Barth sich sehr gefreut hatte: In seinem Weihnachtsgottesdienst im Gefängnis predigte Barth folgendes. „Ich denke in diesem Augenblick an einen lieben Freund in Japan, der eben in diesen Tagen getauft wurde, nachdem er sich 25 Jahre lang besonnen hat, ob er es tun sollte. Jetzt hat er es getan, und Andere, weit, weit weg von hier, tun dasselbe.“32 Außerdem ist das Schuldbekenntnis Takizawas zu beachten. Nach den Zweiten Weltkrieg schrieb Takizawa an Barth: „Ich schäme mich auch, daß ich praktisch nichts tun konnte, um den verrückten Krieg zu verhindern.“33 Dazu schrieb Barth an ihn: „Ich glaube Ihnen gerne, daß Sie gerne Alles getan hätten,

32 Karl Barth, Der es mit uns hält. Predigt über Lk. 2, 7, gehalten zu Weihnachten 1958 in der Strafanstalt Basel, in: Ders., Predigten 1954–1967, GA I.2, hg. v. H. Stoevesandt, Zürich 1979, 130–137; vgl. weiterhin: Karl Barth, Brief an Katsumi Takizawa vom 12. 12. 1958, in: Barth – Takizawa, Briefwechsel, 247–249. 33 Katsumi Takizawa, Brief an Karl Barth vom 13. 4. 1949, in: Briefwechsel Barth–Takizawa, Brief Nr. 30, 199–201, 200.

Rezeption der Theologie Karl Barths in der japanischen (Religions-)Philosophie

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um ,den verrückten Krieg‘ zu verhindern.“34 Drittens ist Takizawas Engagement für die Friedensbewegung zu nennen: In der Zeit des Koreakriegs(1950–1953) war die Stadt Fukuoka, in der Takizawa wohnte, die Startbasis der amerikanischen Kampfflugzeuge. Gegen die Militärpolitik der Regierung hat Takizawa jedoch die christliche Gesellschaft des Friedens mitgestaltet. So schreib er etwa an Barth:„Ich bete nur,[…] daß ich diesmal doch, als Ihr Schüler, wenn auch nur eine Mißgeburt, Ihnen im Glauben nicht nachstehe.“35 Und in den 60er Jahren der Studenten-Bewegung hat Takizawa auf der Seite der gegen den VietnamKrieg demonstrierenden Studenten gestanden. Vergleicht man Karl Barths universale Prophetie Jesu Christi in der Lichterlehre von KD IV/336 mit der negativen Stellungnahme gegen die Religionen im §17 aus KD I/2, bedeutet das jedoch keinen Rückschritt in die ,natürliche Theologie‘. Bertold Klappert macht diesbezüglich eine gute begriffliche Unterscheidung zwischen den ,Lichtern‘ der Prophetie Jesu Christi in der Schöpfung (vgl. KD IV/3) und den ,Lichtungen der Schöpfung‘ im Sinne des der Schöpfung eigenen Leuchtens und Lichtens.37 Jesus Christus ist das wahre schrankenlose Licht, das die ganze Welt erleuchtet(vgl. Joh. 1, 9; Barmen I) und zugleich die Lichtquelle, durch deren Leuchten die „Lichter in der Schöpfung“ zum Beispiel in den Rhythmen der Schöpfung oder in der Musik Mozarts gefunden werden können.38 Von der universalen Prophetie Jesu Christi her kann man auch Barths DialogModell mit den Religionen verstehen.39 Er plante nach Markus Barth in den letzten Lebensjahren eine ,ökumenische Theologie des Heiligen Geistes‘. Dabei geht es um „eine relative Entscheidung über die Lichtverhältnisse innerhalb der Religionen selbst: zwischen Christentum und Judentum; zwischen Judentum und Islam; zwischen Buddhismus und Hinduismus“40. Hier wird die Bereitschaft des Dialogs mit den Religionen bei Barth deutlich. Als ein japanischer BarthSchüler, Keiji Ogawa, bei seinem letzten Besuch 1963 an Barth die Frage stellte: „Hindert Ihre theologische Grundeinstellung mich daran, mit den Religionen in 34 Karl Barth, Brief an Katsumi Takizawa vom 28. 5. 1949, in: Briefwechsel Barth–Takizawa, Brief Nr. 31, 201–204, 201. 35 Katsumi Takizawa, Brief an Karl Barth vom 19. 12. 1950, in: Briefwechsel Barth–Takizawa, Brief Nr. 34, 207–209; vgl. weiterhin: Katsumi Takizawa, Brief an Karl Barthvom 19. 8. 1954, in: Briefwechsel Barth – Takizawa, Brief. Nr. 35, 210–216. 36 Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 3. Teilbd., 1. Hälfte, Zollikon-Zürich 1959, 40–187. 37 Vgl. Bertold Klappert, Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, Neukirchen-Vluyn 1994, 42. 38 Zu Klapperts Entwurf eines Dialoges mit den Religionen auf der Grundlage einer ,Ökumenischen Theologie des Heiligen Geistes‘ vgl. Bertold Klappert, Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, Neukirchen-Vluyn 1994, 41ff. 39 Vgl. aaO., 47f. 40 Zit. nach Klappert, aaO., 47f.

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Yoshiki Terazono

Japan den Dialog zu führen? “, lautete Barths Antwort: „Dieser Dialog ist Ihre Aufgabe.“41

5.

Schluss

Zum Schluss möchte ich sagen, dass die universale Prophetie Jesu Christi bei Barth uns Christen in Japan zu einem konkreten ,Schritt zum Frieden‘ ermutigt hat. Zum 70jährigen Gedenken an Hiroshima, Nagasaki und die Niederlage Japans haben die Professoren meiner christlichen Seinan Gakuin Universität am 16. 7. 2015 ein kritisches Votum gegen die Regierung zum Sicherheitspakt abgegeben, da dieser die uneingeschränkte Ausübung der kollektiven ,Verteidigung‘ möglich machte. Dieselbe Universität bereitet nach meinem Vorschlag ein Schuldbekenntnis vor, weil sie in der Zeit des Zweiten Weltkrieges an dem Schulmotto ,Seinan, sei dem Herrn Jesu Christus getreu!‘ nicht festhalten konnte und die Studenten mit den Worten ,Kämpft mutig und entschlossen zur Ehre des Kaisers!‘ in den Krieg geschickt hat. Das Schuldbekenntnis soll zum 100. Jahrestag der Universität im kommenden Mai bekanntgegeben werden. Indem ich also die Religionsfrage mit der Friedensfrage im japanischen Kontext verbinde, möchte ich mich abschließend auf Hans Küng beziehen: „Alle Religionen der Welt haben heute die Aufgabe, ihre Mitverantwortung für den Weltfrieden zu erkennen. Und deshalb kann ich nicht genügend die These wiederholen: ,Kein Friede unter den Nationen ohne einen Frieden unter den Religionen, kurz: Kein Weltfriede ohne Religionsfriede‘“!42

41 Zit. nach Klappert, aaO., 52. 42 Hans Küng, Projekt Weltethos, Zürich 1992, 102; desweiteren ist hinzuweisen auf: Bertold Klappert, Versöhnung, 41ff.

John N. Sheveland

Existential Poverty, Christian and Hindu: Barth in Dialogue with Vedanta Desika

1.

Introduction

Karl Barth’s critique of religion would seem to preclude the possibility of discovering theological consonance between Barth’s theology and Hinduism. Because the critique rested upon an abstract a priori method, it is now recognized as relatively weak by scholars engaged in theologies of religious pluralism, comparative theology, and interreligious dialogue. Yet, properly understood, the critique of religion remains a meaningful contribution. The critique was less concerned with the theological status of other religions than with the persistent human tendency to lack confidence in the promises of God (Unglaube) and to engage in what he called later in the life the “nostrification”1 of God, wherein Christians equate their cause with God’s and God’s cause with their own. This clarification of intention in Barth’s critique clears out space for comparisons of the substance of Barth’s theological program with that of other religions even if he was unable to anticipate the fruit of doing so.2 While some consider him to be an advocate of what came to be known as the ‘exclusive’ or ‘replacement’ theology of religions, this linkage obfuscates his principle concern with the critique in Church Dogmatics I/1, namely, to isolate and interrogate the human phenomenon of religion as a scene of chronic human vulnerability and sin.3 The 1 Eberhard Busch, The Great Passion. An Introduction to Karl Barth’s Theology, transl. by G. W. Bromiley, Grand Rapids and Cambridge 2004, 218. 2 Joseph Di Noia observes that Barth’s critique of religion pre-dated the development in the midand late- twentieth century of the Christian theology of religions captured in the somewhat forced typology of Pluralism-Inclusivism-Exclusivism; see Joseph A. Di Noia, Religion and the religions, in: John Webster (ed.), The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge 2000, 243–244. For a statement on the developments within and rehabilitation of the typology, see Kristin Beise Kiblinger, Relating theology of Religions and Comparative Theology, in: Francis X. Clooney S.J.(ed.), The New Comparative Theology. Interreligious Insights from the Next Generation, London, 2010, 21–42. 3 For treatments of Barth’s critique which liken it to the exclusive or replacement theology of religion, see Paul F. Knitter, Introducing Theology of Religions, Maryknoll 2001, 19–32; David

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critique of religion poses no challenge to a contemporary reader’s ability to utilize Barth’s work in the context of the new comparative theology.4 Indeed, material theological substance disclosed in acts of comparison pose a much more powerful warrant for comparative work than does an a priori method discourage it. For example, my study shows that Vedanta Desika has a rather similar view of existential poverty, the same principle on which Barth’s critique of religion rests, even as such consonance of voice is spread across time and place.5 I argue that we encounter consonance of voice in Barth’s eloquent theological anthropology in Church Dogmatics III/2 and its culmination in a theology of reconciliation in Church Dogmatics IV/1, together with Vedanta Desika’s exposition of the classic Hindu text, the Bhagavad Gita. Consonance implies difference as a foundation, yet perceives overlap and unity of voices.6 This presentation faces the theologians toward each other for a comparison of the existential poverty of the human situation before God and the graciousness of the God who re-determines this same situation through uniquely divine action.7 I close by organizing a set of pastoral insights gleaned from the comparison.

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Brockman/Ruben L.F. Habito (eds.), The Gospel among Religions. Christian Ministry, Theology, and Spirituality in a Multifaith World, Maryknoll, 2010, 86–90. For a discussion of the new comparative theology in contrast with the old, see Hugh Nicholson, The Reunification of Theology and Comparison in the New Comparative Theology, in: Journal of the American Academy of Religion 77, 2009, 1–38; Francis X. Clooney (ed.), The New Comparative Theology : Interreligious Insights from the Next Generation, London, 2010, esp. chap. 3. Three significant comparative studies of Desika have been produced in recent years: Francis X. Clooney S.J., Beyond Compare. St. Francis De Sales and Sri Vedanta Desika on Loving Surrender to God, Washington D.C., 2008; Francis X. Clooney S.J., The Truth, the Way, the Life. Christian Commentary on the Three Holy Mantras of the Srivaisnava Hindus. Christian Commentaries on Non-Christian Sacred Texts, Leuven, 2008; John N. Sheveland, Piety and Responsibility. Patterns of Unity in Karl Rahner, Karl Barth, and Vedanta Desika, Burlington/ Farnham 2011. Elsewhere I have argued on behalf of an appropriation of Renaissance polyphony as a comparative theological heuristic available to the comparative theologian to imagine and think through comparison not merely of ideas discovered in comparison but the voices for whom the ideas matter and whose inviolable difference does not preclude – indeed, requires – a framework of unity. See Sheveland, Piety ; John N. Sheveland, Solidarity through Polyphony, in: Clooney (ed.), The New Comparative Theology, 171–190; and John N. Sheveland, What does Theological Method have to learn from Musical Polyphony?, in: Peter C. Phan/Jonathan S. Ray (eds.), Understanding Religious Pluralism: Perspectives from Religious Studies and Theology, Eugene 2014, 264–276. In his commentary on the Caramasloka, Clooney too suggests that the verse is “consonant” with Christian frameworks of divine action and human transformation in, for example, Matt 19, Gal 5, Joh 15–16; see Clooney, The Truth, 169. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III: Die Lehre von der Schöpfung, 2. Teilband, Zollikon-Zürich 1948, 254–255. With few exceptions pertaining to gender inclusion, I follow the English translation: Karl Barth, Church Dogmatics, Vol. 3: The Doctrine of Creation, part 2, eds. G.W. Bromiley/T.F. Torrance, Edinburgh, 1960, 213–214.

Barth in Dialogue with Vedanta Desika

2.

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Existential Poverty and its Redetermination

We can begin with Desika’s reading of the important verse from the Bhagavad Gita in which Lord Krishna therapeutically addresses the warrior Arjuna – and the reader – saying, “Having completely given up all dharmas, to me alone come for refuge. From all sins I will make you free. Do not grieve” (18:66). This verse comprises the caramasloka, the third of three holy mantras revered in Srivaisnava Hindu tradition. The first mantra, the Tiru mantra, reads: “Aum, obeisance to Narayana.” It signals the human dynamism toward the one true God identified as Narayana – ‘resting place’ or ‘abode’ – and the corresponding appropriateness of praise. Despite its brevity, Desika holds this mantra to encapsulate the second and third mantras, as their kernel. The second mantra, Dvaya mantra, reads: “I approach the feet of Narayana with Sri. Obeisance to Narayana with Sri.” This mantra expresses the act of faith in which one surrenders or takes refuge in the one true God who, in this tradition, is understood as the divine couple, as Narayana and the goddess Sri, each with their mutually referring and conditioning divine attributes. Chief among these attributes may be counted the divine readiness to save by granting release or moksa from the painful cycles of existence as well as the divine experience of enjoyment of the company of the surrendered. In the third mantra – the Caramasloka – the divine word of address takes shape as summons and promise: “Having completely given up all dharmas, to me alone come for refuge. From all sins I will make you free. Do not grieve.” This third mantra is a direct quotation of Bhagavad Gita 18:66, the context of which is Krishna’s specific divine word of address to the warrior Arjuna, as love. “Here from me now, the supreme word, the greatest secret of them all: you are indeed my beloved, so I will speak for your well-being.”8 (18:64) As Clooney has noted, Srivaisnava Hindus for many centuries have understood these mantras as descriptive and effective psychological enactments of devotion.9 Desika develops key teachings pertaining both to the divine and human in his exegesis of the Carama-sloka. He communicates a range of attributes that make the seeking of refuge in God alone, through surrender, the most fitting and appropriate human vocation for achieving release (moksa) from cyclic existence (samsara). Desika imaginatively expresses the divine readiness to save:“When shall I take back (and wear) (these jivas) like jewels from which the dirt (prakriti) 8 Gavin Flood (ed.), The Bhagavad Gita. Norton Critical Edition, New York/London 2015, 88. See also Michael von Bruck (ed.), Bhagavad Gita. Mit einem spirituellen Kommentar von Bede Griffiths, München 1993, 393. 9 Clooney, The Truth, 16.

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has been removed?”10 Captured here in lovely speculative language is the divine desire to be sought for refuge, to give refuge, and enjoyment of the intimate presence of those returned. The remark on the eagerness of the divine to save those surrendering and seeking refuge in God alone comments, equally, on the anthropological situation as Desika understands it. In the verse below, he explains this divine-human relationship with special attention to the action of the divine couple on behalf of those incapable: “I am the means as well as the ends to be attained. The aspirant (to mukti) should become subject to me and seek my protection. Seek me as your refuge and be free from all anxiety. So says the Lord and surrounds me on all sides.”11 Ontologically, the divine couple are the inner self of all persons and their intended telosorend, in the moksa of participation in the divine life. They are also the means or efficient causality because of whom the release of beings from samsara is possible. Desika’s depiction of the divine couple’s innate compassion raises the question of what, exactly, does their existential poverty consist?12 Despite its preferred status in the Bhagavad Gita, throughout Desika’s writings the path to the divine consisting of loving devotion (bhakti) is superseded, if not abrogated, by prapatti or surrender. Likewise, the path to the divine consisting of karma yoga is simply so exhausting and time consuming as to be impractical. Desika brings a rather sober analysis of karma yoga as the path of action and achievement and especially of bhakti yoga as the path of devotion and love for God. Against the relative endorsement of these spiritual paths in the Bhagavad Gita – where bhakti, in particular, is celebrated – Desika discloses both to be burdensome and even ineffectual. Tacitly, karmic effort and achievement are never in vain; its effects are permanent or, in Desika’s words, “built up, as it were, with stone”13. Yet, in a poetic work exploring the supremacy of the spiritual value of surrender, Desika offers and analogy that leave little doubt: “Lord meditated upon by Yogis! Like a man of dwarfish stature desirous of getting at a fruit (beyond his reach) who, giving up the attempt to gather it with his uplifted hands, fervently begs of a tall person to secure it for him, in the same way, a clever person gives up the groups of upayas (means) which are too arduous to be adopted by him, and in their place relies on thee.”14 The timing of when the fruit of moksais attained through the means of karma yoga, is a totally open question, one that in Desika’s construal gives the person no 10 Vedanta Desika, Srimad Rahsyatrayasara, transl. into English by M.R. Rajagopala Ayyangar, Kumbakonam 1956, 501. 11 Desika, SrimadRahasyatrayasara, ch. 29, 528. 12 Loc. cit., ch. 29, 529. 13 Loc. cit. ch. 4, 46. 14 Vedanta Desika, Saranagati Deepika, ed. D. Ramaswamy Ayyangar, Madras1990, v. 23, 87–88.

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immediate hope or expectation of relief, since negative karmic impressions from the past may be conditioning the foreseeable future toward more of the same. Similarly, those who pursue the path of bhakti, Desika later confesses, do not “attain even a millionth part”15 of what is obtained by those who have surrendered to the divine couple through prapatti and who have uttered the mantras. Theoretically, karma yoga represents forward motion toward moksa however delayed;pastorally it provides little hope. Soberly, Desika notes that “one act of disobedience leads to further acts of sin. Sin committed again and again destroys wisdom and the man without wisdom begins further acts of a sinful nature”16. For such ones – namely, for all – the difficulty of loving God becomes exponential, unmanageable, and grounds for the same grief that the Caramasloka recognizes as unnecessary and preventable through more effective cooperation of surrender to the divine will. Indeed, conscious reflection upon one’s own vast heap of sin committed throughout one’s immeasurable karmic prehistory – likened to walking upon the “hot sands of samsara”– can be a helpful exercise, Desika writes, to provoke the urgent desire “to hasten toward the path leading to bliss [prapatti]”17. Two poetic texts express the urgency in the key of pastoral urgency : “If, before the sprouts of sin issuing from a mass of bad acts grow without control, you do not approach with your bow Sarnga, even you will not be able to stop their growth, or Lord of the Hill of Elephants.”18 Accentuating the felt sense of helplessness so far as to urge the feminine principle of the divine pair to act, Desika resonates with a Pauline tone of impotence in the face of duty, a confusion owing to a karmic history which confuses the present moment: “Swamin! Every moment I do prohibited acts as if they were acts ordained to be done. I give up doing ordained acts as if they are prohibited ones. Like these, the hosts of my other transgressions are numerable. Thy Mercy (Daya) the Supreme Empress should be there to help me attain my desire (Purushartha).”19

Because of such frustrated volition, Desika turns to the human person’s shining ability to renounce his or her own responsibility for accomplishing moksa, to surrender to the divine couple.20 The Caramasloka necessitates surrender, as one of Desika’s closing remarks in his summa suggests: 15 16 17 18 19

Desika, SaranagatiDeepika, v.28. 95. Desika, SrimadRahasyatrayasara, ch.4, 44. Loc. cit., ch. 4, 46–47. Vedanta Desika, Varadarajapancasat, ed. P.-S. Filliozat, Bombay 1990, v. 31, 39. Desika, SaranagatiDeepika, v.48, 114–115. For a lengthier treatment of the human condition that leads to surrender, in conversation with yet further textual examples from Desika, see Sheveland, Piety, 134–146. 20 For a brief survey of prapatti and its rough equivalents, see Sheveland, Piety 140–141.

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“Your knowledge is limited; your ability is insignificant; your life is short and you are also impatient of delay. Therefore do not go about seekingother [means] which you cannot fully understand, which you cannot easily adopt and which can bear fruit only after much delay. Realize that I who am easy of access to all, who am the Savior of all the worlds, and who am endowed with all the attributes essential for a Saviour, am the only [means] and perform the surrender of the responsibility of protecting yourself to me with its five limbs.”21

It is helpful to recall that this theological anthropology develops in connection with the Caramasloka of Bhagavad Gita 18:66, the third holy mantra of Srivaisnava Hinduism, with its assurance of specific divine action (i. e., freedom from sin) in the presence of specific human liabilities (i. e., inability to achieve release), with specific pastoral consequences (liberation from grief). In this sense the Caramasloka undoubtedly operates in the presence of human weakness and helplessness, and the grief these produce, namely, that grief which comes through experience of futility and frustration, that specific grief which results from wrong views and actions stemming from helplessness unrecognized. Equally prevalent is the gratitude for the divine action which redetermines helplessness and for the Caramasloka’s precious words of encouragement, ma sucah – “do not grieve”22. Like Desika, Barth treats the brokenness of the human condition not on its own terms but theologically from the vantage point of what the divine Word of address discloses about brokenness and about the divine determination to reconcile.23This theme can be easily overlooked in Barth’s theological anthropology where he can be prone to lengthy descriptions of sin and the personal loss it signals, which of course need to be interpreted according to the asymmetrical relationship of sin to grace in which grace occupies primary and sin secondary

21 Desika, SrimadRahasyatrayasara, ch. 29, 563–564. The five limbs, attributes, or critical dispositions attending the surrender of the burden of responsibility over to Narayana with Sri include, first, cultivation of a will congruent with the Lord’s own will and no longer hostile to it. The second cultivates action pleasing to the Lord. The third cultivates a felt sense of helplessness (karpanya) or impotence in bearing one’s own burden of responsibility for release, strongly reflected in the poetic verses above. The fourth, correlatively, is great faith – as confidence, trust – in the Lord’s desire, ability, and indeed eagerness to take on this burden. The fifth seeks this same protection through performance of a tangible, demonstrable action – such as asking for protection – so as to correspond in one’s own freedom both to one’s inner nature and to the divine determination to save. 22 Bhagavad Gita (ed. Flood), verse 18:66, 146. German edition: Bhagavad Gita, ed. by M. von Bruck, v. 18:66, 394. 23 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 1. Teilbd., Zollikon-Zürich 1953, 149, 151–152. With few exceptions I follow the English translation: Karl Barth, Church Dogmatics IV: The Doctrine of Reconciliation, part 1, eds. G.E. Bromiley/ T.F. Torrance, Edinburgh 1956, 136, 138–139.

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significance.24 Because sin is disclosed in reconciliation, we encounter in Barth something of a resonance or analogy back to Desika in whose reflection the divine couple stand eager and ready to save, and who in the Caramasloka pledge such release. The significance of helplessness, for Desika, comes into full picture only in the light of the divine determination to address it and nullify its effects. So too, analogously, for Karl Barth. As the man Jesus is Himself the revealing Word of God, He is the source of our knowledge of the nature of the man created by God. The attitude of God in which the faithfulness of the Creator and therefore the unchanging relationships of the human being created by Him are revealed and knowable, is quite simply His attitude and relation to the one man, Jesus: His election of this man; His becoming and remaining one with Him; His self-revelation, action, and glorification in Him and through Him; His love addressed to Him and through Him to those who believe in Him and to the whole of creation; His freedom and sovereignty which in this man find their creaturely dwelling and form, their Bearer and Representative. This is God’s attitude towards sinful man. He answers or reacts to the sin of man by this relation to the man Jesus.25 That the power of sin is secondary does not diminish sinfulness and its devastating effects, but rather locatesthese effects inthe grace of God disclosed in Jesus Christ. “We are forbidden to take sin more seriously than grace.”26 The divine word of address – even as verdict – contains an inner therapeutic or pastoral logic. With Desika’s recommendation of prapatti (of surrender to what God wills to do and does do) one learns how to correspond tothe divine intention to accomplish for persons what they themselves cannot accomplish or even anticipate. Likewise, for Barth: “At this point it may be seen how God sees man [den Menschen] in spite of and through his sin, and therefore how we ourselves are incapable of seeing him. What is impossible with man but possible with God emerges at this point, namely, the vision of nature and essence which can be distorted by sin but not destroyed or transmuted into something different, because even in its sinful distortion it is held in the hand of God, and in spite of its corruption is not allowed to fall.”27

The (ontic) divine determination which characterizes persons before God renders all the more grave and tragic theirnoetic, pervasive tendency to find

24 Barth, KD III/2, 48 (English trans.: Barth, CD III/2, 41); Barth, KD IV/1, 151–152 (English trans. CD IV/1, 138–139. 25 Barth, KD III/2, 47 (English trans. CD III/2, 41). 26 Barth, KD III/2, 47 (English trans. CD III/2, 41). 27 Barth, KD III/2, 48 (English trans. CD III/2, 42).

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themselves covered over (bedeckt)in self-contradiction.28 This raises the question, for Barth, of who is the “real man” (wirklicheMensch): “[T]he real man [der wirchliche Mensch] is the sinner who participates in the grace of God. As he rebels against this and against God, trying to live, not in dependence on divine grace, but in the power of his own freedom and merits, he entangles himself in self-contradiction.”29 As the humanity of Jesus Christ discloses the real humanity of fallen sinners who nonetheless participate in the grace of God, their identity and vocation is to become images of the humanity of Jesus, who alone is the image of God. In other words, persons are called to be with and for each other not as objects but as IThou covenantal relationships, as human persons, in correspondence to the basic form of humanity revealed in Jesus himself. To be covenant partners with God and with each other, and therefore to be human, is both an ontic identity grounded in the free creation of God and, because of sin, also a summons to realize this identity through the disorienting mist of brokenness. “[Humanity]”30 in this sense functions as a vocational rather than descriptive category. Analogous to Barth’s emphasis on sin as secondary and grace primary, Vedanta Desika articulates the paradox experienced in, on the one hand, having a destiny divinely determined but which is, on the other, lived in self-contradiction, resulting in confusion and grief. Personal initiatives and disciplines employed to overcome both the grief and its causes are formally possible and build up real effects, but in practice these founder. The realization triggers a spiritual insight of receptivity necessary for the divine action to take hold and become subjectively transformative. For both theologians, a picture is developing of the divine life in that intermediary space between, one the one hand, a person’s state of active and pervasive sinfulness and, on the other, the conscious recognition of one’s status as recipient, still and always held in being. In that intermediary space, the divine determination is immutable, indestructible, and is expressed by both authors in intimate language. In that transitive space between a ‘frontier’ separating humanity from God and the redemption of the human subject as a ‘friend’ and indeed ‘child’, God is found waiting in patience. In patience, the reconciliation that has already been achieved is offered anew, here and now. The divine awaits in human persons their 28 Barth, KD III/2, 31, 33, 245–246 (English trans. CD III/2, 28, 30, 206). 29 Barth, KD III/2, 36 (English trans. CD III/2, 32). 30 Barth, KD III/2, 271 (English trans. CD III/2, 227): “No, even as he denies it, his creaturely nature stands in the light of the humanity of Jesus, and it is bright in this light, accusing him of sinning in his inhumanity not only against God and his neighbor but also and primarily and finally against himself, and yet not ceasing to bind himself to his Saviour and Deliverer. To sin is to wander from a path which does not cease to be the definite and exclusive path of man even though he leaves it.”

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dawning realization of what has been made permanently theirs. The indestructible divine determination for covenant relationship leads Barth, in comparison, to minimize sin as a “lie, an absurd self-deception, a shadow moving on the wall [einfliehenderSchatten an der Wand]”31. What fills that space or frontier? Barth writes: “It is this pure divine mercy which fills the abyss, the mercy which we have to recognize and adore in this act of God, the mercy which we have to seek afresh every morning, the mercy for which we can only reach out and ask as beggars, the mercy in relation to which we can only be recipients.”32 Despite the various iterations of a broken human condition, Barth unwaveringly witnesses to the indicative reality circumscribing, enfolding, summoning persons to full realization. “Jesus Christ is God’s mighty command to open our eyes and to realize that this place is all round us, that we are already in this kingdom, that we have no alternative but to adjust ourselves to it, that we have our being and continuance here and nowhere else.”33 We have come full circle back to the summons contained in the Caramasloka – “do not grieve” – accomplished already in the divine life and given as permanent offer to the broken and grieved.

3.

Pastoral Gleanings

The resources for wise pastoral care can be organized into a set of threebrief remarks. Responsible authors and poor victims of sin. This comparison discloses a shared purpose in Barth and Desika to understand human persons not only as responsible authorsbut poor victims of sin and an array of personal and socially received conditions that impede them from self-recognition as subjects of divine purpose and determination.34 Persons in community recognizing the dialectic in themselves stand more ready to refrain from judgment and condemnation of others. When presupposed, brokenness can be addressed therapeutically instead of through narratives of cleanliness and uncleanliness, acceptability and unacceptability, in ways that are themselves broken and symptomatic of nostrification. This trajectory of human possibility privileges rehabilitative and inclusive responses to sin and self-loss over punitive and exclusive responses. In other words, the principle of solidarity begins in the recognition of the equality

31 32 33 34

Barth, KD IV/1, 95 (English trans. CD IV/1, 89). Barth, KD IV/1, 95–96 (English trans. CD IV/1, 89–90). Barth, KD IV/1, 107 (English trans. CD IV/1, 99). Barth, KD IV/1, 152 (English trans. CD IV/1, 138).

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of all as broken, and deepens in the related recognition of the divine purpose to redeem and reconcile as the deeper and immutable truth circumscribing all. Accepting acceptance. This comparison discloses shared purpose in Barth and Desika to communicate the redemptive divine action for – and over against – human persons even when they have difficulty accepting acceptance or anticipating their own acceptability. Even in the presence of the divine word of address, in which for Desika and Barth alike the divine unconditionally values and accepts the beloved, persons nonetheless struggle to accept acceptance. The lie appears more real than the truth. The priority assigned to grace in Desika and Barth’s anthropologies gives rise to the pastoral corollary of persons’ acceptance in ways that cannot be predicted, anticipated, or even understood, but which are final, decisive, and transforming of the same persons in their concrete spheres of human living and dying. The perceived need to prove or validate oneself, or to earn favor through behaviors apart from the acceptance of the divine word of address, is itself the broken human condition both authors underscore. So too, because the redeeming of persons comes from outside of them – from the divine – the redeeming itself cannot be anticipated or understood in the terms of the broken humanity redeemed. Both authors clear away space for genuinely new and unpredictable divine work. Patient hope for the world. This comparison discloses shared purpose in Barth and Desika to highlight a tacit recognition of the process or development through which persons can, in their freedom, apprehend and seize for themselves the promises of God offered to them, however gradually and haltingly. We are dealing with the powerful distinction Barth drew between the ascription of what God has done in Jesus Christ, objectively, if not always persons’ subjective “appropriation”35 of what God has done for them in their respective contexts of living and dying. For Desika, the debilitating experience of spiritual exertion and its subsequent grief coupled with the divine promise to free persons from it, functions to encourage in oneself the transition from a notional appreciation of being the one to whom the promises of God apply in some abstract manner, to the subjective appropriation of the promise as personal and indicative. In Barth, emphasis is placed not simply on the depth and pervasiveness of sinfulness but on the enfolding divine determination to address and treat the human person always as “a new subject”36. This divine determination is the truth which overcomes the lie. The implications of such patiencefor life together in community might appear as follows. The truth of solidarity in sinfulness overcomes the lie that some are pure and others are impure in a static, fixed sense. The truth of the immutable 35 Barth, KD IV/1, 162 (English trans. CD IV/1, 147). 36 Barth, KD IV/1, 160 (English trans. CD IV/1, 145–146).

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divine determination to be lord and savior overcomes the lie that some are fated to experience redemption and reconciliation while others are lost to these causes and have no meaningful reason to hope for anew future. The truth of reconciliation as permanent offer overcomes the lie that current patterns of dysfunctional relating in community are a matter of course or too habituated to change, nullifying effort before it begins. For the community of persons dealt with in the divine presence as “new subject[s]” is a community summoned together likewise to deal with each other as “new subject[s],” as open futures. While not to be minimized, personal and social dysfunction must be recognized as potentially transitive rather than permanent states of human living. Rather than essentializing the dysfunctional as lost, patient hope will perceive and even create opportunities to relate in redemptive rather than dysfunctional ways, and in so doing recalibrate expectations concerning what is possible.

III Ökumene

Michael Weinrich

Karl Barth und die Ökumene. Ein Prospekt

1.

Vorbereitung

Die Formulierung des Themas wurde bewusst so offen gewählt. Da ich mich zu verschiedenen Aspekten des Themas bereits geäußert habe,1 möchte ich mich jetzt darauf konzentrieren, die sachliche Reichweite und die verschiedenen systematischen Dimensionen des Themas möglichst klar zu abzustecken. Dabei kann es nur um einen Prospekt der verschiedenen Facetten von Barths Zugängen zur Ökumene gehen und nicht um eine eingehende Präsentation seinesökumenischen Profils. Doch bevor die verschiedenen Dimensionen von Barths Ökumeneverständnis zur Sprache kommen sollen, möchte ich zwei grundlegende Vorbemerkungen machen, deren Berücksichtigung zur Vermeidung von Missverständnissen von weitreichender Bedeutung ist. Wenn es erstens zutrifft, dass Barths Theologie immer im Zusammenhang mit ihrem zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen ist, bleibt für uns heute zu beachten, dass sich dieser Kontext inzwischen deutlich verändert hat. Während sich Barth im Horizont der sich ausbreitenden Säkularisierung des neuzeitlichen Menschen orientierte, bewegt uns als Kontext heute vor allem die Frage nach einem qualifizierten Umgang mit der fortschreitenden Pluralisierung und der damit verbundenen Fragmentarisierung der Gesellschaft. Ein nicht nur nebensächlicher Aspekt von Barths strikter Konzentration auf die Kirche als dem gesellschaftlichen Subjekt der Theologie hängt mit seiner bereits weit vor der Säkularisierungsdebatte in den 1950er und 1960er Jahren realisierten Wahrnehmung zusammen, dass sich das Leben des neuzeitlichen Menschen weithin nicht mehr im Horizont der überkommenen Glaubensorientierungen vollzieht, wie sie etwa noch für die Reformatoren und im Konfes-

1 Auf die verschiedenen Publikationen von mir wird im Folgenden im jeweils passenden sachlichen Zusammenhang hingewiesen.

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Michael Weinrich

sionalismus des 17. Jahrhunderts allgemein vorausgesetzt werden können.2 Gewiss mag sich auch der säkulare Mensch noch hier und da der Religion bedienen, und möglicherweise sitzt er auch in seinen weltanschaulichen Optionen Bindungen auf, die am deutlichsten dadurch dekuvriert werden könnten, wenn sie einer religionskritischen Betrachtung unterzogen würden, aber Gott im Sinne des christlichen Glaubensbekenntnisses spielt für die allgemeine Weltwahrnehmung und deren öffentliche Einschätzung keine relevante Rolle mehr. Das hat weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis des Menschen und seinen Umgang mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Leben, die es nüchtern zu registrieren gilt. Für die Kirche folgt aus der Wahrnehmung der weithin vollzogenen Säkularisierung, dass sie im Blick auf ihr Selbstverständnis nicht damit auskommen kann, möglichst viele Resonanzen mit der zeitgenössischen Gesellschaft zu suchen. Wenn sie sich nicht selbst aufgeben will, wird sie ihrem Grund und ihrer Bestimmung nach nicht auf die Rede von Gott im Sinne des christlichen Glaubensbekenntnisses verzichten können und die Bedingungen zu bedenken haben, unter denen diese in gegenwärtig verantwortlicher Weise artikuliert werden kann. Barth verstand seine Theologie entschieden nicht als einen Feldzug gegen die Säkularisierung, für den er lediglich die bisher prägende Apologetik der letzten einhundert Jahre durch eine andersartige Strategie ersetzen wollte, sondern als denausdrücklich an die Kirche adressierten sachlichen Einspruch gegen die sich auch in ihr längst ausbreitende Selbstsäkularisierung in Anpassung an die säkulare Welt. Eine spezifische sich gegenüber dem Forum der Allgemeingültigkeit zurücknehmende Bescheidenheit geht zusammen mit einer besonderenauf die Kirche konzentrierten sachlichen Nachdrücklichkeit, wie ich es an anderer Stelle mit der Wendung einer kompromisslosen Bescheidenheit zu charakterisieren versucht habe.3Es ging ihm darum, die Kirche an ihre besondere Existenzfrage zu erinnern, wenn er ihre fundamentale Aufmerksamkeit vor allem auf die „ihr eigentümliche[n] Rede von Gott“4 zu lenken versucht. 2 Auch für diese Zeit hat Barth immer wieder eine eher nüchterne Einschätzung angemahnt – schon im Blick auf Calvin geht Barth davon aus, dass dieser der Vorstellung eines ,corpus christianum‘ den Rücken gekehrt habe –, aber die Vorstellung, dass sich das Leben im Angesicht Gottes und seiner besonderen Obhut vollzieht, kann wohl noch als allgemein prägend angesehen werden. Es ist die Barth auch Blick auf die Vergangenheit bestimmende Nüchternheit, die ihn von einem Einstimmen in die meist vordergründige kirchliche Klage über den Traditionsverlust stets abgehalten hat. 3 Vgl. dazu bes. Michael Weinrich, Barths theologischer Kampf gegen die religiöse Versuchung des Nationalsozialismus. Von der bescheidenen Kompromisslosigkeit der Theologie, in: Ders., Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths. Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie, FSÖTh 139, Göttingen 2013, 396–417. 4 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 1. Halbbd., München 1932, 1.

Karl Barth und die Ökumene. Ein Prospekt

225

Gewiss hat dieser von Barth wahrgenommene Kontext der Säkularisierung auch heute noch Bedeutung, aber er ist doch deutlich gegenüber der höchst unterschiedlichen Realisierung des die Gesellschaft durchdringenden und zugleich irritierenden Pluralismus in den Hintergrund getreten. Auch wenn wir uns hier noch nicht auf einem verlässlich ausgemessenen Feld bewegen, bezeichnet der Pluralismus, der weit über die Vielfalt der Religionen hinausgeht, eine aktuelle und durchaus fundamentale Irritation, die beinahe alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft betrifft. In dem Kontext der Pluralisierung verändert sich in vielen Bereichen die Frage nach allgemeinen Geltungsansprüchen und der für diese in Anspruch zu nehmenden Begründungsressourcen. Ob und unter welchen Voraussetzungen es noch sinnvoll ist, nach Wahrheit zu fragen, kann nicht einfach als ausgemacht gelten. Die Debatte hat in den unterschiedlichen Wissenschaften und eben auch in der Theologie gerade erst begonnen. Diese Veränderung des Kontextes erschwert uns heute die Beschäftigung mit Barth – übrigens ebenso wie mit Tillich oder Bultmann, aber auch mit Troeltsch, Schleiermacher oder gar Luther –, aber es bleibt allemal lohnend, sich auch den erhöhten Anforderungen zu stellen, um die nach wie vor erwägenswerten und vorwärtsweisenden Überlegungen Barths auch für die veränderte Problemlage freizulegen. Meine zweite Vorbemerkung zielt auf Barth als einem ökumenischen Ereignis per se, das sich nicht erst durch eine ausdrückliche Zuwendung zu einem der von der Ökumene beackerten Felder ausweist. Wenn es darum geht, die Kirche an ihr Fundament zu erinnern und sie damit erneut zu sich selbst zu ermutigen, so impliziert ein solcher Impuls zur kritischen Selbstrechenschaft nicht nur bei Karl Barth, sondern bei allen ernst zu nehmenden Umkehrimpulsen in der Kirchengeschichte immer auch eine fundamentale ökumenische Dimension, selbst dann, wenn dieser Impuls zu heftigen Auseinandersetzungen oder gar – wie in der Reformation – zu einer Kirchenspaltung führen kann.5 Kritische Selbstrechenschaft über die Berufung, Erhaltung und Sendung der Kirche in der Ausrichtung auf eine bestimmungsgemäße Umkehr und Neujustierung ist ihrem Wesen nach ein grundlegendes ökumenisches Engagement.6 Barths Rückkehr zu der Frage nach der Lehre der Kirche und damit seine 5 So unbestritten Kirchenspaltung einen Angriff auf die Ökumene bedeutet, so sehr gilt zugleich, dass sie nur aus ökumenischen Gründen legitim sein kann; zur Reformation vgl. Michael Weinrich, Die reformatorische Herausforderung zur Einheit. Protestantische Aspekte einer ökumenischen Ekklesiologie, in: Ders., Kirche glauben. Evangelische Annäherungen an eine ökumenische Ekklesiologie, Wuppertal 1998, 66–98. 6 In diesem Sinne hat sich Barth schon in Göttingen in seinem Vorhaben, 1924 eine reguläre Dogmatikvorlesung zu halten, ausdrücklich nicht von der Fakultät auf den reformierten Horizont beschränken lassen; vgl. dazu Matthias Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie, Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen 8, NeukirchenVluyn 1996, 61–64.

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Michael Weinrich

Abkehr von der Fixierung auf die Sorge um die Stimmigkeit des christlichen Glaubens mit dem für maßgeblich ausgegebenen zeitgenössischen Selbstbewusstsein hat ihn auch insofern zu einem ökumenischen Ereignis gemacht, als er wie kein anderer Theologe der reformatorischen Tradition des 20. Jahrhunderts sowohl von der römisch-katholischen als auch von der orthodoxen Theologie und Kirche wahrgenommen und diskutiert worden ist und wird. Es ist eine Theologie, die sich nicht nur in synchronischer, sondern auch in diachronischer Hinsicht um eine substanzielle Katholizität bemüht hat, ohne dass ihm der Vorwurf gemacht werden könnte, dass er sich vor allem um die Bewahrung der Tradition und nicht auch um die zeitgenössische Bewährung des Glaubens bemüht habe. Sein ausdrückliches Verständnis der systematischen Theologie als kirchliche Dogmatik impliziert gerade in ihrer selbstkritischen Ausrichtung eine fundamentale Ökumenizität, ohne welche ökumenische Anstrengungen unversehens von Orientierungslosigkeit eingeholt werden, wie es ja auch tatsächlich immer wieder geschieht. Die andauernde Wiederholung all der gerade auf den Feldern der Ökumene oder Religionen bekannten Fehleinschätzungen Barths greift zu kurz – auch wenn sie als solche nicht zu bestreiten und deshalb auch nicht zu leugnen sind –, denn sie geht in den meisten Fällen an den zu diskutierenden systematischen Problemen vorbei, weil sie nur auf sachlich problematische Weise zeitbedingte und keineswegs immer gründlich abgewogene Statements Barths kontextlos in ein meist allzu enges Fenster stellt, das nicht dazu geeignet ist, den Blick auf die systematisch belastbareren und bisher weithin ungenutzten ökumenischen Potenziale seiner Theologie freizugeben.7

2.

Ökumenische Dimensionen der Theologie Barths

Im Folgenden soll versucht werden, die wichtigsten Fragestellungen auszuweisen, die im Blick auf ein umfassendes Bild von Barths substanzieller Verbundenheit mit einer Ökumene in Betracht zu ziehen sind, die immer noch auf dem Wege ist, sich selbst zu finden. Es scheinen mir zumindest acht Dimensionen zu sein, deren nähere Betrachtung mir besonders ergiebig erscheint.8

7 Vgl. dazu auch den Beitrag von Reinhold Bernhardt in diesem Band. 8 Als neunte Dimension könnte noch die hier nicht eigens thematisierte Problematik der Interkulturalität thematisiert werden. Es würde sich um eine spezifische Erweiterung von 2.6 handeln, in der u. a. das Spannungsverhältnis von Kontextualität und Katholizität bedacht wird.

Karl Barth und die Ökumene. Ein Prospekt

2.1

227

Exodus-Theologie

Barths letztes schriftlich hinterlassenes Fragment ist ausdrücklich der Ökumene gewidmet und zwar der Verbundenheit zwischen der – wie er formuliert – „petrinisch-katholischen“ und der „evangelisch-katholischen“9 Kirche. Das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche hat ihn in seinen letzten Lebensjahren besonders beschäftigt, wie nicht zuletzt aus den recht umfänglichen Protokollen der 1966 und 1967 abgehaltenen Sozietäten über die Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils hervorgeht.10 Die drei nominalisierten Verben, welche den Titel dieses letzten Fragments – das Konzept für einen in Zürich geplanten Vortrag – bilden, können als programmatisch für seinen Zugang zur Ökumene wie eben auch zur Ekklesiologie überhaupt angesehen werden: Aufbrechen – Umkehren – Bekennen. Der Aufbruch Israels aus Ägypten steht für das immer wieder zu bedenkende Modell für den Aufbruch der noch gefangenen und zugleich auch schon befreiten Kirche, die in ihrer gemeinsamen Ausrichtung auf die Zukunft der Vergangenheit den Rücken zukehren soll, um eben die Kirche zu werden, die sie recht verstanden immer schon ist.11Hier zeigt sich die Bewegung, welche die Kirche ausmacht und um derer willen sich Barthzeitlebens auf Distanz zu den immer wieder auftauchenden sogenannten Bewegungen gehalten hat – eben auch zu der ökumenischen Bewegung. Der Exodus verdeutlicht, dass es nicht um eine Initiative der Kirche geht, sondern dass sie sich aus ihrer Gefangenschaft herausrufen lassen muss, und zugleich bedeutet er, dass sie nicht einfach in das gelobte Land versetzt wird, sondern nach Gottes Einschreiten gegen die versklavende Macht des Pharaos dem Ruf und der Weisung in die Freiheit zu folgen hat. Die Katholizität, um die es Barth dabei gegangen ist, wäre missverstanden, wenn sie als eine von der Kirche zu verwaltende eigene Errungenschaft angesehen würde. Sie bleibt eine Gabe Gottes, um deren geschichtliche Sichtbarkeit beziehungsweise genauer gesagt um deren spezifischen Charakter ihrer Sichtbarkeit insbesondere mit der römisch-katholischen Kirche weiter zu ringen bleibt. Wenn Barth in dem intensiv von ihm verfolgten Zweiten Vatikanischen Konzil verheißungsvolle ,Aufbrüche‘ ausdrücklich begrüßt hat, so hat ihn dies nicht daran gehindert, zugleich auch weitreichende kritische Fragen zu stellen, nicht nur im vertrauten Raum der eigenen konfessionellen Konventionen, sondern eben auch im Vatikan.12 9 Karl Barth, Aufbrechen – Umkehren – Bekennen, in: Ders., Letzte Zeugnisse, Zürich 21970, 61–71, 62. 10 Vgl. dazu die Protokolle in Eberhard Busch, Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, 112–177, 190–248, 489–511, 518f, 520f., 526–530. 11 Barth, Aufbrechen, 64f. 12 Vgl. dazu Karl Barth, Ad Limina Apostolorum, Zürich 21967 u. in diesem Band den Beitrag von Georg Pfleiderer.

228 2.2

Michael Weinrich

Die tatsächlich große ökumenische Frage

Es ist charakteristisch für Barth und seinen Umgang mit der Ökumene, dass er genau an der Stelle, wo sich der Anschein ausbreiten könnte, im entscheidenden Zentrum der ökumenischen Herausforderung zu stehen, in diesem Fall 1966 im Vatikan, nicht nur die Gelegenheit ergreift, Wasser in den feierlich erhobenen Wein zu gießen, sondern auch einen fundamentalen Perspektivenwechsel ins Spiel zu bringen, der jedem möglichen Pathos einer sich selbst feiernden Ökumene gründlich den Boden entzieht.13 Genau an der Stelle, wo die Ökumene an ihrem sensiblen Nabel angekommen zu sein scheint, warnt Barth vor der Nabelschau und wartetmit der fundamentalen Ernüchterung auf, dass wir uns bisher im Grunde nur im Vorfeld des ökumenischen Problems bewegen, weil die „tatsächlich große ökumenische Frage“14 in der Beziehung der Kirche zum Judentum liege. In der Rede vom Volk Gottes kann Israel nicht übergangen werden. Die Universalität der Kirche bleibt angesichts des Umstandes, dass Israel immer ein Teil des Gottesvolkes bleibt, eine partikulare Angelegenheit. Damit werden nun allerdings alle Kriterien, die bisher für die Bestimmung der Einheit der Kirche als maßgeblich zu gelten beanspruchten, gründlich durcheinandergebracht. Die Anerkennung der ekklesiologischen Bedeutung Israels, wie sie inzwischen von vielen Kirchen nicht nur in Deutschland anerkannt wird,15 hat weitreichende Konsequenzen für das Ökumeneverständnis, was aber bisher von der real existierenden Ökumene noch nicht wirklich wahrgenommen worden ist.

13 Es ist diese Neigung der Selbstfeier, der Barth, wo immer sie sich der Szene zu bemächtigen versucht, ernüchternd entgegengetreten ist, nicht etwa, weil er dem Feiern abgeneigt war, sondern weil es allemal ausreichend Grund gibt, etwas anderes zu feiern als ausgerechnet sich selbst. In dem von ihm immer wieder attackierten Klerikalismus sah er allerdings nur die Spitze des Eisberges, die verdeutlicht, wie sehr auch in der Kirche die selbstgefälligen Regeln der Welt gelten. 14 Freiburger Rundbrief, Folge XXVIII (1976), 27. Klaus Alois Baier zeigt in seiner Dissertation auf, dass das Israelthema schon in Barths frühen ekklesiologischen Überlegungen immer wieder an sachlich zentralen Stellen auftaucht: Klaus Alois Baier, Unitas ex auditu. Die Einheit im Rahmen der Theologie Karl Barths, Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas 1978. Besonders zentral taucht es in der von Barth ganz neu perspektivierten Erwählungslehre auf, vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II: Die Lehre von Gott, 2. Teilbd., ZollikonZürich 1942, 215ff, vgl. dazu Eberhardt Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes. Karl Barth und die Juden 1933–1945, Neukirchen-Vluyn 1996. 15 Vgl. insbesondere die Studie der Leuenberger Kirchengemeinschaft, Kirche und Israel. Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden, Leuenberger Texte 6, Frankfurt a.M 2001.

Karl Barth und die Ökumene. Ein Prospekt

2.3

229

Die ökumenische Bewegung

Barth hatte schon in den 1950er Jahren in der Vorbereitung auf die zweite Vollversammlung des ÖRK in Evanston versucht, diesen israeltheologischen Aspekt in die Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen einzubringen,16 womit er ebenso gescheitert ist wie mit anderen Anregungen insbesondere zur Zeit des sogenannten Kirchenkampfes. Es ist insgesamt ein deutlich ambivalentes Verhältnis zur Genfer Ökumene in den Blick zu nehmen. Auch die positive Annoncierung der Ökumene in seinem viel beachteten kirchengeschichtlichen Neuzeitexkurs in KD IV/3 bleibt relativ im Vergleich etwa mit dem Völkerbund und der UNO und verschweigt keineswegs die gebliebenen Vorbehalte.17 Als sich abzeichnete, dass die Nazis dafür sorgen werden, Barth aus Deutschland auszuweisen, hat es auch ernsthafte Verhandlungen darüber gegeben, Barth nach Genf zu holen und für die Ökumene zu gewinnen. Nach seiner Entscheidung für Basel hat Barth im Juli 1935 gleichsam als eine Art kompensatorische Trostgeste in Genf vier Vorlesungen im Rahmen des Ökumenischen Seminars gehalten, die dann unter dem Titel Die Kirche und die Kirchen im Heft 27 der Theologischen Existenz heute erschienen sind. Diese Vorlesungen bestätigenzwar einerseits sein deutliches ökumenisches Engagement und verdeutlichen aber andererseitseinen ganz spezifischen Zugang zur Ökumene, der in einer pointierten Spannung zu den in Genf vertretenen Optionen stand. Barth problematisiert die ausdrückliche Unverbindlichkeit und Theologieabstinenz der Genfer Ökumene, deren Gipfel er darin empfand, dass sich der ÖRK ausdrücklich nicht als Kirche verstehen wollte.18 Während Barth die Bedrängnisse der Zeit insbesondere im deutschen Kirchenkampf vor Augen hatte, befürchtete Willem A. Visser ’t Hooft als der verantwortliche Koordinator (Sekretär) zur Vorbereitung der Gründung eines ökumenischen Weltrates der Kirchen mit ebenfalls guten Gründen eine Selbstgefährdung der überaus sensiblen und fragilen ökumenischen Unternehmung, wenn darauf gedrängt werde,

16 Vgl. Thomas Herwig, Karl Barth und die ökumenische Bewegung. Das Gespräch zwischen Karl Barth und Willem Adolf Visser ’t Hooft auf der Grundlage ihres Briefwechsels 1930–1968, Neukirchen-Vluyn 1998, 219ff. 17 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 3. Teilbd., Zollikon-Zürich 1959, 37–39. 18 Vgl. dazu Michael Weinrich, Calvins Ökumeneverständnis und die ökumenische Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Marco Hofheinz u. a. (Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, Reformed Historical Theology 9, Göttingen 2011, 76–99, bes. 91–99; Georg Plasger, Kirche als ökumenisches Ereignis. Die Einheit der Kirchen in der einen Kirche Jesu Christi, in: Michael Beintker u. a. (Hg.), Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935–1950). Widerstand – Bewährung –Orientierung, Zürich 2010, 471–483.

230

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den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun.19 Hier wird eine Spannung erkennbar, die für das Verhältnis Barths zum ÖRK charakteristisch bleiben sollte. Zehn Jahre später beklagt er im Rückblick auf die Stellung der Kirchen zu der von Deutschland ausgehenden Bedrohung ausdrücklich, dass er sich gezwungen sah, als Einzelperson – als ,eine Schweizer Stimme‘ – handeln zu müssen und sich eben nicht – wie es aus seiner Sicht angemessen gewesen wäre – an der Seite einer in die gleiche Richtung entschiedenen Ökumene wissen oder wenigstens auf ein von der Ökumene gegebenes Mandat berufen konnte.20 Bis heute laviert der ÖRK mit seiner ekklesiologischen Unterbestimmung herum,21 und es ist keineswegs eindeutig zu entscheiden, ob er deshalb angesichts der Gesamtentwicklung des weltweiten Christentums gegenwärtig in so unübersehbaren Schwierigkeiten steckt oder ob umgekehrt festgestellt werden muss, dass er genau deshalb überhaupt noch existiert. Ganz gewiss wird er sich die Frage zu stellen haben, ob die Grundentscheidungen, die in den ersten drei Generationen seiner Existenz gefällt wurden, weiterhin ausreichen werden, um nachhaltig noch eine bedeutsame Rolle für den Zusammenhalt der Kirchen spielen zu können. Für Barth waren es vor allem die teilweise dramatischen Erfahrungen in den 1930er und 1940er Jahren, die ihm einen eigenen Zugang zu einer anders verstandenen Ökumene bahnten, der durch die folgenden Aspekte weiter profiliert werden soll.

2.4

Theologie der Freiheit

Wenn Barth die Kirchen zu einem entschlossenen und kompromisslosen Widerstand gegen die vom nationalsozialistischen Faschismus ausgehende Bedrohung aufrief, hat er wiederholt betont auf die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu Christi hingewiesen.22 In ihrem Licht kann die nationalsozialistische ,Revolution des Nihilismus‘ (Rauschning) nicht nur als ein kategorischer Gegensatz zum Willen Gottes verstanden werden, sondern sie ist deutlich konsequenter als ein zum Scheitern verurteilter Aufstand gegen den zur Rechten Gottes sitzenden Auferstandenen zu verstehen.23 Es ist die Wirklichkeit der Auferstehung Christi 19 Vgl. dazu Karl Barth–Willem A. Visser ’t Hooft, Briefwechsel 1930–1968, GA V.43, hg. v. Th. Herwig, Zürich 2006; Herwig, Ökumenische Bewegung. 20 Vgl. Karl Barth, Eine Schweizer Stimme 1939–1945, Zürich 31985, 6f. 21 Vgl. dazu die aktuelle Studie der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung: Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision, Gütersloh/Paderborn 2014. 22 Vgl. dazu Michael Weinrich, Christus als Zeitgenosse. Von der Gegenwart der Parusie Jesu Christi, in: Ders., Die bescheidene Kompromisslosigkeit, 102–137. 23 Vgl. Karl Barth, Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien (1941), in: Ders., Eine Schweizer Stimme, 179–200, 184–186.

Karl Barth und die Ökumene. Ein Prospekt

231

und somit die konkrete Reichweite des Osterglaubens, welche die spezifische Freiheit des Christenmenschen begründen, in welcher die zeitgenössischen Erfahrungswidersprüche nicht als Wirklichkeitswidersprüche, sondern nur als Wahrnehmungswidersprüche verstanden werden sollten. Es geht um die in der Auferstehung wahrnehmbare Wirklichkeit, welche auch den Raum konstituiert, in dem sich die Freiheit des Glaubens entfaltet. Der Realismus der von der Wirklichkeit der Auferstehung orientierten Freiheit wird sich nicht von den zeitgenössischen weltanschaulichen Gesinnungen vereinnahmen lassen dürfen, sondern sich als ein Versuch verstehen, der vom Glauben erkannten Wirklichkeit möglichst konsequent zu entsprechen. Indem die Wirklichkeit konsequent in das Licht der Auferstehung und damit in das Licht des zur Rechten Gottes sitzenden Christus gerückt wird, wird erkennbar, dass die anhaltenden Usurpationsversuche der Macht des Todes längst einen anachronistischen Charakter bekommen haben. Barth bleibt konsequent bei seinem theologischen Zugang zur Wirklichkeit, wenn er feststellt, dass die Macht des Todes zwar noch nicht abgestellt sei, aber sie habe angesichts der Überlegenheit Gottes über den Tod keine realistische Aussicht auf einen tatsächlich nachhaltigen Erfolg. Es geht Barth um den Wirklichkeitsgehalt des für alle Kirchen grundlegenden Osterbekenntnisses, das als solches jenseits seiner gewiss einzuräumenden unterschiedlichen Wahrnehmungen als ein ökumenisches Fundament der Kirche in Anspruch genommen werden kann, auf das nach unvoreingenommenem Ermessen alle Kirchen ansprechbar seinsollten. Die hier konstituierte Freiheit mag sehr unterschiedlich wahrgenommen werden, aber eines wird sie nicht können ohne sich selbst aufzugeben, nämlich sich durch irgendwelche Kompromisse in eine Komplizenschaft mit dem zerstörerischen Angriff der Macht des Todes zu begeben, die eben bereits da beginnt, wo man meint, sich in dieser Situation neutral verhalten zu können.

2.5

Der politische Gottesdienst

Um jeden Zweifel auszuräumen, dass es für den Glauben so etwas wie ein doppeltes Weltverhältnis geben könnte, konkretisiert Barth den Vollzug der christlichen Freiheit unter anderem mit dem merkwürdigen Begriff des ,politischen Gottesdienstes‘24. Er steht für den unter den jeweils konkreten Umständen und mit den jeweils zur Verfügung stehenden konkreten Handlungsoptionen zu vollziehenden Einsatz für ziviles Recht, äußeren Frieden und gesellschaftliche Freiheit. Er vollzieht sich als eine ganz und gar politische und somit lebens24 Vgl. bes. Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon 1938, 203–216.

232

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praktische Entsprechung zu der Wirklichkeitserkenntnis des Glaubens, indem er sich in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen dort engagiert, wo den das menschliche Leben instrumentalisierenden und versklavenden Mächten entgegengetreten wird. Etwas pathetisch formuliert steht der politische Gottesdienst für die wohl unablässig zu vollziehende Umkehr des gesellschaftlichen Lebens aus der Todesrichtung in die Lebensrichtung, auch wenn es sich dabei – wie im Zweiten Weltkrieg – um einen Kampf um Leben und Tod handeln kann. Die Verweigerung dieses Engagements kommt insofern einer Verleugnung der Auferstehung Jesu Christi gleich, als sie die Welt genau den zerstörerischen „Koboldsgeistern“25 überlässt, die mit der Macht des Todes die Welt in Angst und Schrecken und sich damit zur Verfügung halten. Wenn Barth in diesem Zusammenhang geradezu von einer Widerstandsverpflichtung gegen zerstörerische menschenverachtende Gewaltausübung sprechen kann, die möglicherweise auch selbst nicht darum herumkommen wird, Gewalt auszuüben,26hat er den expansiven nationalsozialistischen Totalitarismus vor Augen, der nun, nachdem man ihn so lange in seinem offenkundigen Unrechtsgebaren hat gewähren lassen, nur noch mit einer entschlossenen Gegenwehr zurückgedrängt werden kann. Die spezifische Freiheit der Kirche, die ihr Fundament in der Auferstehung Jesu Christi hat, bringt zwar per se eine grundsätzliche Distanz gegenüber den miteinander rivalisierenden politischen Parteien und ihren programmatischen Festlegungen mit sich, aber gerade deshalb bleibt ihr eine eigene politische Positionierung nicht erspart, die sie im Horizont der Konstitutionsmomente ihrer Freiheit zu benennen und dann auch praktisch zu vertreten hat. In der Haushalterschaft Gottes in dieser Welt kommt der Kirche durchaus eine eigene Rolle zu, die in Analogie zur Haushalterschaft Gottes grundsätzlich in einem doppelten Sinnenur ökumenisch ausgerichtet sein kann, nämlich gemeinschaftlich hinsichtlich ihrer Initiative und zugleich ebenso gemeinschaftlich hinsichtlich ihrer Optionen. Pointiert gesagt: Unter den tatsächlichen Gegebenheiten der real existierenden Ökumene wäre Barth gewiss eher bei ,Life and Work‘ als in ,Faith and Order‘ zu finden gewesen. Eine Einheit nur für sich selbst ohne eine Einigkeit in der praktischen Lebensrichtung kann sich Barth wohl kaum vorstellen. Allerdings wird die Frage gründlich zu bedenken sein, wie diese Einigkeit in der praktischen Lebensrichtung belastbar zustande kommen kann.

25 Barth, Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien, 186. 26 Vgl. Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst, 214f.

Karl Barth und die Ökumene. Ein Prospekt

2.6

233

Bekennen

Für Barth ist es für das Verständnis der Kirche von grundsätzlicher Bedeutung, dass sie sich von ihrer Beschäftigung mit der von ihr zu wahrenden Tradition und der Verteidigung der von ihr hervorgebrachten Bekenntnisse nicht so sehr okkupieren lässt, dass sie ihr konkretes zeitgenössisches Bekennen versäumt. Wenn die Bekenntnisse der Kirche das aktuelle Bekennen der Kirche nicht befördern, sondern eher behindern, ist das als ein sicheres Alarmzeichen dafür zu bewerten, dass die Kirche ihre Gottesbeziehung vor allem mit Hilfe ihrer Selbstbeziehung als auskömmlich gestaltet empfindet, anstatt davon bewegt zu bleiben, sich immer wieder neu auf die konkrete aktuelle Anrede Gottes auszurichten. Das ,Wunder‘ der Barmer Theologischen Erklärung,27 der Barth ausdrücklich einen „echt ökumenischen Charakter“28 bescheinigt, besteht vor allem darin, dass konfessionell getrennte Kirchen dazu in der Lage waren, über ihre unterschiedlichen Bekenntnisstände und konfessionellen Grenzen hinweg in einer für ihre theologische Existenz relevanten Entscheidungssituation einen konkreten Akt gemeinsamen Bekennens zu vollziehen und damit in einer konkreten Situation die Einheit der Kirche sichtbar zu machen. Die Kirche ist nicht dadurch lebensfähig, dass sie sich auf das Fundament ihrer Bekenntnisse verlässt, sondern dadurch, dass sie sich im ebenso befreienden wie orientierenden Horizont des ersten Gebots zu dem lebendigen Christus hält.29 Die Wahrheit ihres aktuellen Bekennens kann durchaus die Wahrheit der von ihr gehüteten Bekenntnisse transzendieren, vor allem im Blick auf die erforderliche Deutlichkeit und Konkretheit. Der von ihr zu vollziehende Akt despünktlichen Bekennens kann in aller Regel nicht durch die Rezitation eines Bekenntnisses bestanden werden. Die überkommenen Bekenntnisse können gewiss eine Hilfestellung zum eigenen Bekennen sein, dürfen aber nicht an seine Stelle treten. Es entspricht Barths freiem Umgang mit den durchaus wertgeschätzten Bekenntnissen der Kirchen, wenn er betont, dass die Kirche allen Grund habe, auch bei ihnen immer wieder in die Schule zu gehen, aber eben nicht wie entmündigte Hörige, sondern wie gute Schüler, die ihren Meister nicht zu kopieren versuchen, sondern sich von ihm bestenfalls in eine Richtung weisen lassen, in der sie dann unter den sich stets wandelnden Bedingungen selber weiterzugehen haben, das heißt, sie ehren ihren Meister am Ende nur in der

27 Vgl. dazu Michael Weinrich, God’s Free Grace and the Freedom of the Church. Theological Aspects of the Barmen Declaration, in: Ders., Die kompromisslose Bescheidenheit, 138–152. 28 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 3. Teilbd., Zollikon-Zürich 1959, 38. 29 Vgl. Karl Barth, Das erste Gebot als theologisches Axiom, in: Ders., Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge, Bd. 3, Zollikon 1957, 127–143.

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verantwortlich wahrgenommenen eigenen Meisterschaft.30 Die hier weiter zu untersuchende Fragestellung ist die Frage nach dem differenzierten Zusammenhang zwischen dem konkreten Bekennen der Kirche und ihrer Ökumenizität. Traditionell, aber damit keineswegs weniger ambitioniert ausgedrückt, geht es um den fundamentalen Zusammenhang von Kontextualität und Katholizität der Kirche, durch den zu verdeutlichen wäre, dass einerseits die Herausforderung einer Kirche an ihrem konkreten geschichtlichen Ort immer auch die ganze Kirche angeht (wo ein Glied leidet, leiden auch alle anderen mit; 1Kor 12, 26) und andererseits die Antwort auf die konkrete Herausforderung immer so abgefasst sein muss, dass sie unter Berücksichtigung der fraglichen besonderen Umstände auch von jeder anderen Kirche und somit eben von der ganzen Kirche in vergleichbarer Weise ergangen wäre.31 Barth verstand den status confessionis, wie er in Barmen zweifellos mit besonderer Brisanz gegeben war, nicht als eine extreme Ausnahmesituation, in welche sich die Kirche nur in den eher seltenen Situationen äußerster Bedrängnis versetzt sieht, sondern indem die Kirche angesichts der von ihr zu fällenden Entscheidungen wenn nicht andauernd so doch durchaus regelmäßig mit der Frage konfrontiert wird, sich tatsächlich als Kirche zu erweisen oder sich eben als Kirche zu verleugnen,32 bleibt sie insofern in gewisser Weise kontinuierlich im status confessionis gehalten als sich in ihrem Leben unablässig die Frage nach dem rechten und pünktlichen Bekennen neu stellt, der gegenüber sie sich aber in der dem Menschen eignenden Trägheit nur allzu gern schwerhörig oder gar taub verhält. Damit ist nicht gemeint, dass sich die Kirche, wie es gerade in der Ökumene bisweilen zu beklagen ist, nun unablässig mit mehr oder weniger entschlossenen Äußerungen zu allen relevanten Themen zu Worte melden soll und sich gleichsamin Dauerprophetie übt. Dieses meist folgenlose und somit schließlich kostenlose Geschäft hehrerund flächendeckender Deklarationen und Resolutionen, in dem noch und noch bestätigt wird, dass die christliche Gemeinde immer auf der richtigen Seite steht, bezeichnet eher die versuchliche Seite des zu bedenkenden Problems. Das Bekennen ist hier nicht mehr wie in Barmen der Ausdruck der Sorge um den Verlust der Substanz des Kircheseins, sondern wird zu einer plakativen Gesinnungsäußerung, mit der sie meint, an30 Vgl. dazu Georg Plasger, Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, NeukirchenVluyn 2000; Michael Weinrich, Karl Barth – ein reformierter Reformierter, in: Ders., Die bescheidene Kompromisslosigkeit, 153–171. 31 Vgl. dazu Michael Weinrich, Die Weltlichkeit der Kirche zwischen Kontextualität und Katholizität. Das Zeugnis vom Wort Gottes in der Geschichte, in: Wilhelm Damberg u. a. (Hg.), Gottes Wort in der Geschichte. Reformation und Reform in der Kirche, Freiburg i.Br./Basel/ Wien 2015, 266–277. 32 Vgl. dazu Karl Barth, Die politische Entscheidung in der Einheit des Glaubens, TEH NF 34, München 1952.

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dere vor eine Entscheidung stellen zu können, die für sie bereits klar entscheiden sei. Dagegen käme es darauf an, genau die Elemente auszumachen und klar zu benennen, die über die Selbstgefährdung der Kirche, ihre Selbstverleugnung, ihr Wegducken oder ihre Trägheit in der jeweiligen konkreten Situation hinwegzuhelfen verheißen. Gewiss sind in der Barmer Theologischen Erklärung die Verwerfungen nicht das Zentrale, aber sie verhelfen diesem Bekenntnis zweifellos zu der besonderen Deutlichkeit, für die es steht. In jedem Fall ist aber klar, dass es darum geht, die Kirche zu sich selbst zu ermutigen angesichts der flagranten Gefahr, sich in einem komatösen Stand-by-Modus durch die Zeiten hindurch schadlos halten zu können. Das rechte Bekennen der Kirche bleibt auf die eigene Umkehr und Berufung ausgerichtet und enthält eben darin eine genuin ökumenische Dimension.

2.7

Theologie des Wortes Gottes

Ein spezifischer Schlüssel zu dem Beitrag Barths zur Ökumene scheint mir in seiner angemessen in den Blick zu nehmenden Wort-Gottes-Theologie gegeben zu sein.33 Entscheidend wird es darauf ankommen, konsequent zu realisieren, dass das Wort Gottes nicht einfach die berühmt berüchtigte ,Sache‘ der Theologie oder der Kirche ist, nicht ihr eigenes Thema, das sie in der Welt zu vertreten habe. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, dass das Wort Gottes nicht der Verfügung der Kirche unterstellt werden darf, sondern auch gerade ihr gegenüber das Wort Gottes bleiben muss. Wenn Barth betont, dass Gott nur dann angemessen erkannt werden kann, wenn er selbst das Subjekt seiner Erkenntnis bleibt, liegt der Ton darauf, dass es nicht die Aufgabe der Kirche ist, Gott zu vergegenwärtigen, indem sie die Aktualität irgendwelcher Ereignisse der Vergangenheit zu annoncieren versucht. Gott ist und bleibt vielmehr der auf uns und somit auch die Kirche zukommende, der nicht nur in der Vergangenheit gesprochen hat, sondern eben auch heute spricht, so dass es gilt, auf sein auf uns zukommendes gegenwärtiges Wort zu hören. Gewiss ist die Bibel das Zeugnis des Wortes Gottes, aber eben des Wortes Gottes, das sich selbst immer wieder neu vergegenwärtigt, weil es das Wort des lebendigen Gottes und nicht ein bestimmter Bestand einer bestimmten Überlieferung ist. Hinsichtlich des Wortes Gottes befindet sich die Kirche, auch wenn sie es hier und da bereits vernommen hat, in der durchaus verheißungsvollen Verlegenheit, dass sie es immer wieder neu zu hören hat, weil es in ihm ja nicht um eine theologische Lehre, einen bestimmten Traditionsbestand oder gar eine christ33 Vgl. dazu Michael Weinrich, Das Wort Gottes und die Ökumene. Ein Rekonstruktionsversuch der Theologie Karl Barths in weiterführender Absicht, in: EvTh 75, 2015, 420–434.

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liche Weltanschauung geht, sondern um die je neu wahrzunehmende lebendige Beziehung zum lebendigen Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Das Wort Gottes ist keine der Kirche zur Verfügung stehende Möglichkeit, sondern benennt eine von ihr bewusst zu wahrende Unmöglichkeit, was sie auch daran hindern sollte, mit allzu ausgefeilten theologischen Konzeptionen oder gar Programmen aufzuwarten und sich damit selbst zu fixieren.34 Das entscheidende Kennzeichen einer Theologie sollte ihre bleibende Offenheit gegenüber dem Wort Gottes sein.35 In der Berufung auf das Wort Gottes wird die Kirche in ihrer jeweiligen Verfassung grundsätzlich über sich selbst hinausgewiesen, so dass das Wort Gottes als die entscheidende ökumenische Substanz der Kirche anzusehen wäre, durch welche in besonderer Weise die von der Ökumene immer wieder hervorgehobene, dann allerdings im Blick auf ihre Konsequenzen kaum weiter bedachte Einsicht bekräftigt würde, dass die Kirche ihre Einheit nicht herstellen, sondern nur empfangen kann; weil die Gabe der Einheit ihr immer schon vorgegeben sei, könne es in der Ökumene nur darum gehen, diese von Gott gegebene Einheit nicht weiter und immer wieder neu zu behindern und eben dadurch dann auch sichtbarer werden zu lassen. In dem Maße, in dem es den Kirchen tatsächlich gelingt, überzeugend zu verdeutlichen, dass sich ihre Vielfalt allein auf ihre unterschiedlichen irdisch-geschichtlichen Entwicklungen bezieht, die im Übrigen von einer gemeinsamen Treue zu dem einen Wort Gottes zusammengehalten werden, könnte die erfragte Einheit wohl als sichtbar gelten. Jede darüber hinausgehende Erwartung an die Sichtbarkeit der Einheit der Kirche, wie sie vor allem von den nichtreformatorischen Traditionen eingefordert wird, gründet in dem aus reformatorischer Sicht allzu kühnen Argument, dass Gott sich mit einer bestimmten geschichtlichen Gestalt der Kirche identifiziert habe, was die konsequenzenreiche Unterstellung voraussetzen würde, dass sich das Handeln Gottes in bestimmten historischen Ereignissen verlässlich ausmachen lasse. Eine der problematischen Konsequenzen einer solchen Unterstellung wäre die, dass Gott nicht nur sich und seine lebendige Beziehung zur Welt offenbart, sondern eben auch die Art und Weise, wie der Mensch darauf zu reagieren habe. Gott wäre dann nicht nur in seiner Selbstmitteilung, das heißt in seiner Offenbarung wie sie sich in seinem Wort annonciert, erkennbar, sondern auch in den Konsequenzen, die Menschen daraus für die Gestaltung ihrer Got-

34 Und weil sie nicht dazu berufen ist, das Reich Gottes zu verwirklichen, sondern dieses schließlich von Gottes Selbstdurchsetzung erwartet, gilt es, diese programmatische Zurückhaltung auch in der Ethik zu wahren. 35 Vgl. dazu Michael Weinrich, Theologischer Ansatz und Perspektive der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth. Trinitarische Hermeneutik und die Reichweite der Theologie, in: Ders., Die bescheidene Kompromisslosigkeit, 36–63, bes. 54ff.

Karl Barth und die Ökumene. Ein Prospekt

237

tesverehrung und ihres Lebens, also für die Gestaltung ihrer Religion daraus gezogen haben. Barths charakteristische Unterscheidung von Offenbarung und Religion versucht dagegen eine deutliche Grenze zu ziehen, ohne damit der Religion eine Absage zu erteilen, wie ihm bis heute von verschiedenen Seiten immer wieder entgegengehalten wird. Vielmehr spiegelt sich in der fundamentalen Unterscheidung von Offenbarung und Religion die ebenso fundamentale Unterscheidung von Gott und Mensch. Und so wie Gott den Menschen mit seiner Offenbarung nicht eliminiert, sondern auf die Beine stellt und zu seinem Bundespartner erhebt, so ist auch die Religion nicht grundsätzlich für die Pflege der Gottesbeziehung ungeeigneter als der Mensch für den von Gott geschlossenen Bund, auch wenn sie zweifellos das vorzügliche Instrument des Menschen sein kann, sich mit einem eigenen selbstgemachten Gott sein Leben einzurichten. Ekklesiologisch gewendet heißt das, dass auch die Kirchen nicht per se gerechtfertigt sind, sondern auf die Rechtfertigung durch Gott angewiesen bleiben und sich somit auch nicht unter Berufung auf Gott eine besondere Autorität in der Welt zumessen können.

2.8

Theologie der Religionen

Barths fundamentale Unterscheidung von Offenbarung und Religion bietet meines Erachtensauch einen besonders geeigneten Zugang zu dem für die Ökumene aktuell immer wichtiger gewordenen Problem einer Theologie der Religionen, welche eine unumgängliche Voraussetzung für den Umgang mit dem religiösen Pluralismus und den zu führenden bilateralen und multilateralen Dialogen darstellt.36 Über eine Gottesoffenbarung oder die erhellende beziehungsweise inspirierende Begegnung mit dem Geheimnis der Wahrheit sind kaum sinnvolle und praxisrelevante Debatten vorstellbar, weil sie vor allem den überaus problematischen Umstand in Szene setzen würden, dass die Wahrheit ein vom Menschen handhabbarer Gegenstand sei. Keine ernst zu nehmende Religion wird die Veranlassung ihres ,Bekenntnisses‘ für verhandelbar halten, weil sie nicht oberhalb der erkannten Wahrheit steht und diese nach Belieben oder Bedarf in diese oder jene Richtung verändern könnte, sondern sie gestaltet sich im Ho36 Vgl. dazu Michael Weinrich, Von der Humanität der Religion. Karl Barths Religionsverständnis und der interreligiöse Dialog, in: Ders., Die bescheidene Kompromisslosigkeit, 296–315; Ders., Theologische Religionskritik als Brücke zu einer Theologie der Religionen, in: Marco Hofheinz/Raphaela J. Meyer zu Hörste-Bührer (Hg.), Theologische Religionskritik. Provokationen für Kirche und Gesellschaft, Forschungen zur Reformierten Theologie 1, Neukirchen-Vluyn 2014, 16–33.

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Michael Weinrich

rizont der Anerkennung einer bestimmten Wahrheit, für die sie selbst nicht verantwortlich zeichnet. Ich würde die These wagen, dass die Religionen im Grunde auf je unterschiedliche Weise die Unzuständigkeit des Menschen für die Wahrheit repräsentieren und zu schützen helfen, so dass diejenigen, welche sich dazu versteigen, die Wahrheit für besondere eigene Ansprüche usurpieren, sich gegen diesen Grundimpuls ihrer Existenz richten. In diesem Sinne ist der Fundamentalismus mit seiner Inbesitznahme der Wahrheit keine problematische Erscheinungsform der Religion, sondern ein substanzieller Feind der Religion, denn diese entzieht dem Menschen in heilsamer Absicht die Wahrheit und schützt sie nachhaltig vor dem unverschämten Zugriff des Menschen. Ihre Veranlassung allerdings kann nur dann von tatsächlich relevanter Bedeutung sein, wenn sie der Religion und ihrem Bedingungshorizont vorgegeben und nicht von ihr dominiert wird, auch wenn einzuräumen bleibt, dass sie niemals ohne die Religion thematisiert werden kann. Jenseits der unverfügbaren Wahrheit bleibt die Religion der vom Menschen eingeschlagene Lebensgestaltungsversuch angesichts der unverfügbaren Wahrheitseinsicht, der als solcher ebenso fehlbar ist, wie sich der Mensch seinen Abstand gegenüber der anerkannten Wahrheit einzugestehen hat. Wenn Barth die Religion konsequent auf den Boden dieser Welt verweist, wo sie, wie auch alles andere, auf die Rechtfertigung durch Gott angewiesen bleibt, bedeutet dies ihre konsequente Relativierung zu einer vom Menschen zu gestaltenden Möglichkeit, die als solche mit allen Unzulänglichkeiten behaftet ist, die den Menschen eben ausmachen. Weil die konkrete Gestaltung der Religion eine unabstellbar ambivalente Angelegenheit darstellt, bleibt immer wieder neu über sie zu befinden. Das ist nicht zuletzt eine Aufgabe der Theologie, die allerdings dabei selbst ein Element der von ihr vergegenständlichten Religion ist. Der theologisch angemessene Horizont für den Dialog der Religionen ist die Harmatiologie, die um die niemals ganz abstellbare Eigenwilligkeit und Selbstgerechtigkeit des Menschen weiß, in der er gerade nicht nur die Sache Gottes, sondern mindestens ebenso seine eigene Sache betreibt. Der religiöse Mensch wird nicht durch seine Religion, sondern von Gott gerechtfertigt, so dass er auch um die Rechtfertigungsbedürftigkeit seiner Religion weiß. In diesem Horizont liegt eine große Verheißung auf dem dringend erforderlichen Dialog der Religionen. Für die Ökumene wird es sehr darauf ankommen, wie selbstreflexiv dieser Dialog angegangen wird. Die Probleme, die zwischen den Religionen virulent werden, gehen in aller Regel auf das Konto von unangemessener oder unzulänglicher Religionsausübung zurück. Es gilt inzwischen durchaus als anerkannt – auch wenn es häufig noch nicht tatsächlich greift –, dass eine entscheidende Voraussetzung für einen sinnvollen und zielführenden Dialog der Religionen ein selbstkritisches Selbstverhältnis der beteiligten Dialogpartner ist. Ohne die läuternde Dimension der Religionskritik, wie sie etwa für Barths Theologie

Karl Barth und die Ökumene. Ein Prospekt

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charakteristisch ist, steht die Theologie der Religionen in der Gefahr, als eine bedeutungslose Harmlosigkeit vor allem denganz und gar unbefriedigenden Status quo zu schmücken. Im Rückblick auf den skizziertes Prospekt von Barths Affinitäten zur Ökumene lässt sich festhalten, dass seine Theologie sowohl eine eigene Perspektive für die Ökumene anbietet als auch bis in den praktischen Bereich hinein Berührungspunkte zu beinahe allen Themenfeldern der Ökumene bis hin zu einer Theologie der Religionen enthält. Es wäre gewiss noch eine Menge Arbeit erforderlich, um diesen Prospekt dann auch auszuarbeiten. Wir haben mit dem letzten schriftlichen Zeugnis von Barth begonnen mit dem für seine Theologie insgesamt programmatischen Titel Aufbrechen – Umkehren – Bekennen. Es geht um die Dynamik dieser drei Verben, von der aus es jede der acht benannten Dimensionen von Barths Blick auf die Ökumene aufzuarbeiten gilt.

Andreas Pangritz

Die Rezeption Karl Barths und der dialektischen Theologie in der russischen Religionsphilosophie

1.

Einleitung

In der ersten Ausgabe der von Fritz Lieb herausgegebenen Zeitschrift Orient und Occident erschien im Jahr 1929 der Aufsatz Die Krisis des Protestantismus und die russische Orthodoxie des russischen Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew mit dem Untertitel Eine Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie. Der Aufsatz kann ebenso wie der ihm vorangestellte Beitrag Liebs unter dem Titel Orthodoxie und Protestantismus als programmatisch für die Zeitschrift gelten. Im Zentrum der folgenden Ausführungen wird Berdjajews kritische Rezeption der Theologie Barths in dem erwähnten Aufsatz stehen. Vorausschicken will ich einige Bemerkungen zu Fritz Lieb und seinem Verhältnis zu Russland und zum östlichen Christentum. In einem Seitenblick soll Berdjajews Umgang mit der dialektischen Theologie mit der Perspektive Leo Schestows, eines russisch-jüdischen Religionsphilosophen aus Liebs Freundeskreis, kontrastiert werden. Abschließen will ich mit dem Versuch einer Bewertung der Beobachtungen.

2.

Fritz Lieb über Orthodoxie und Protestantismus

Fritz Lieb (1892–1970)1 war einst Karl Barths Vikar in Safenwil gewesen, der seinen Mentor entlastete, als dieser 1921 an der zweiten Fassung seines Römerbriefs arbeitete.2 Nach Auskunft seiner Tagebücher hatte Lieb sich bereits als Theologiestudent im Jahr 1917 für die russische Revolution begeistert. Im November 1918 beteiligte er sich aktiv am Schweizer Landesstreik (Generalstreik),

1 Zu biographischen Details vgl. Manfred Karnetzki/Karl-Johann Rese (Hg.), Fritz Lieb. Ein europäischer Christ und Sozialist, Berlin 1992. Vgl. auch Karl Barth, Ein Brief an den Jubilar [Fritz Lieb; AP], in: EvTh 22, 1962, 282f. 2 Vgl. Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 1975, 131.

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Andreas Pangritz

was zu seiner vorübergehenden Verhaftung führte.3 Nachdem er sich in den 20er Jahren als Basler Privatdozent auf die Theologie der Ostkirche spezialisiert hatte, wechselte er auf Betreiben Karl Barths 1930 nach Bonn, wo er als außerordentlicher Professor ,Östliches Christentum‘ lehrte.4 Nachdem er bereits 1933 wegen seiner linksradikalen politischen Einstellung von der Universität Bonn entlassen worden war, ging er zunächst nach Paris ins Exil, wo er sich in Kreisen der deutschen und russischen Emigration bewegte.5 Er hielt dort engen Kontakt mit dem in der Nähe von Paris lebenden Nikolaj Berdjajew und freundete sich mit Walter Benjamin an.6 Im Jahr 1937 folgte er einem Ruf an die Universität Basel, wo er Dogmatik und Theologiegeschichte unter besonderer Berücksichtigung des östlichen Christentums lehrte. Von 1946 bis 1949 lehrte er alternierend mit Basel auch an der (Ost-)Berliner Universität Unter den Linden, der heutigen Humboldt-Universität, ,Osteuropäische Kirchenkunde‘.7 Fritz Liebs Verhältnis zur Ostkirche kann anhand seines programmatischen Eröffnungsartikels Orthodoxie und Protestantismus8 für die erste Ausgabe der Zeitschrift Orient und Occident beschrieben werden. Lieb geht davon aus, dass „der Weltkrieg und die auf ihn folgenden heftigen Erschütterungen […] in verschiedenster Weise dazu beigetragen“ hätten, „die für den Protestantismus bisher recht entfernte Welt der orthodoxen Christenheit ganz allgemein näher zu rücken – nicht nur räumlich, sondern auch geistig“. Als Beispiel erwähnt er die Bedeutung, die „Dostojewskij und mit ihm die gesamte russische Literatur für uns“ gewonnen habe. Damit aber stelle sich das „ökumenische Problem“ mit neuer Dringlichkeit.9 Es besteht für Lieb in der „Spannung […] zwischen ,Potentialität‘ und ,Aktualität‘ der Kirche“, wie sie auch von Berdjajew im Blick auf den „orthodoxen Kirchenbegriff“ formuliert worden sei.10 „Ist es doch nur Gott 3 Vgl. Fritz Lieb, Notizen aus den Tagebüchern zu den Themenbereichen Christlicher Glaube, Kirche, Sozialismus und Sowjet-Rußland, in: Karnetzki/Rese (Hg.), Fritz Lieb, 10.12. 4 Vgl. Busch, Karl Barths Lebenslauf, 214. 5 Vgl. Martin Rohkrämer, Fritz Lieb 1933–1939: Entlassung – Emigration – Kirchenkampf – Antifaschismus, in: Karnetzki/Rese (Hg.), Fritz Lieb, 51–68. 6 Vgl. Gershom Scholem, Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a.M. 1975, 257: „Fritz Lieb […] war der einzige, für den die theologische Dimension des späten Benjamin unmittelbar verständlich und ohne Verlegenheit bedeutsam war“. Vgl. auch: Chryssoula Kambas, Fritz Lieb und Walter Benjamin, in: Karnetzki/Rese (Hg.), Fritz Lieb, 69–86. 7 Vgl. Günter Wirth, Fritz Lieb in Berlin 1947 und 1949, in: Karnetzki/Rese (Hg.), Fritz Lieb, 147–158. 8 Fritz Lieb, Orthodoxie und Protestantismus, in: OuO 1, 1929, 1–11. Der Aufsatz war im übrigen noch im Jahr 1929 auch in russischer Übersetzung in der von Berdjajew herausgegebenen Zeitschrift Put’. Organ für russische Religionsphilosophie erschienen. Der Aufsatz wird im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in: Fritz Lieb, Sophia und Historie. Aufsätze zur östlichen und westlichen Geistes- und Theologiegeschichte, Zürich 1962, 41–54. 9 Lieb, Orthodoxie, 41f. 10 Lieb bezieht sich hier auf Berdjajews Ausführungen zum „bestimmenden Einfluß der

Die Rezeption Karl Barths in der russischen Religionsphilosophie

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Vater selbst, Jesus Christus, das unsichtbare Haupt der wahrhaft Einen Kirche, der Una Sancta, und der in der Kirche unsichtbar wirkende Heilige Geist, die im strengen Sinne allein vollkommen sind und die Kirche zur wahren Kirche machen.“11 Zwischen dem „Anspruch“ der orthodoxen Kirche, „die Bewahrerin der Tradition der altchristlichen Kirche“ zu sein, und dem „Bestreben“ der reformatorischen Kirchen, „das Evangelium in seiner Reinheit zu verkündigen und die reine Lehre wiederherzustellen“, könne „kein Widerstreit“ bestehen. Denn das altchristliche Glaubensbekenntnis sei ja „entstanden aus der Verteidigung gerade des Evangeliums und der reinen Lehre gegen ihre Widersacher.“12 Gegenüber einem „Protestantismus, der in nachreformatorischer Zeit den Glauben an die Trinität, an die Gottheit Christi und an die leibliche Auferstehung wenn nicht ganz preisgegeben, so doch außerordentlich erweicht hat“, werde „die orthodoxe Kirche gerade zum Prediger der Wahrheit“. Denn „ohne die altkirchliche Trinitätslehre und Christologie“ stehe „die ganze reformatorische Lehre von der Rechtfertigung und der Versöhnung in der Luft“ und verliere „allen Sinn“.13 Aufgabe des Protestantismus gegenüber der Orthodoxie sei es, „durch das eigene Beispiel […] zu zeigen, was […] ein wahres ,Leben in der Bibel‘ ist“.14 Es sei im wesentlichen die Schuld der „im Gegensatz zu den Reformatoren humanistisch gewordene[n] protestantische[n] Theologie“ selber, „wenn etwa Luther und Calvin von den Orthodoxen nicht oder nur sehr schlecht gekannt werden, und wenn auch sie nun fälschlicherweise“ für die „völlige Abkehr“ der „protestantischen Theologie und Philosophie des 19. Jahrhunderts“ – Lieb nennt ausdrücklich Schleiermacher und Hegel – „von der reinen Lehre zu einem geradezu heidnischen Individualismus und Subjektivismus verantwortlich gemacht werden“.15 Die „wahre, vom Willen zur Einigung in einem Herrn und Heiland be-

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14 15

Eschatologie auf den orthodoxen Kirchenbegriff“; für diesen sei „die Vollendung der Kirche, die volle Aktualisierung ihres ökumenischen Charakters […] eine ,Tatsache eschatologischer Ordnung‘“ (aaO., 43, Anm. 2). AaO., 43. AaO., 45. AaO., 47. Für diese These beruft sich Lieb (aaO., 47, Anm. 3) auf Karl Barth, der betont habe, dass der „Streit des Athanasius […] im Interesse einer reinen Lehre in der Kirche mindestens ebenso wichtig“ gewesen sei „wie nachher der Streit der Reformatoren um Glauben und Rechtfertigung“; vgl. Karl Barth, Die Christliche Dogmatik im Entwurf, Bd. 1: Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik, hg. v. G. Sauter, Zürich 1982, GA II.14, 266. Lieb, Orthodoxie, 49. Lieb bezieht sich hier auf Sergej Bulgakow, der in seinem Briefwechsel mit Hans Ehrenberg den „Biblizismus, eine besondere Bibelsättigung, ein Leben in der Bibel“ als „Vorrecht […] der protestantischen Welt“ gegenüber der Orthodoxie gelobt habe (ebd.). AaO., 50.

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herrschte Begegnung von reformatorischem Protestantismus und östlicher Orthodoxie“ zwinge „beide zur Selbstbesinnung, zur demütigen Buße vor Gott“. Sie sei „nur da möglich, wo das Kreuz Christi aufgerichtet ist – aufgerichtet ist nicht nur als Zeichen des Gerichtes über unsere Sünden, sondern auch des göttlichen Erbarmens und der Vergebung“.16 Es sei gerade „der orthodoxe Russe Dostojewskij“ gewesen, der „das Geheimnis der Sündenvergebung als die Grundlage aller wahren Brüderlichkeit der Menschen, der Allbrüderlichkeit […], immer wieder verkündet“ habe; und „kein Volk“ habe „so gelebt von dem Worte der Vergebung der Sünden […] wie das russische wahrhaft gläubige Volk“.17 Lieb nimmt hier „echt-evangelische Grundtöne in der russischen, von Christus erfaßten Seele“ wahr. Er sieht diese offenbar nicht zuletzt in der orthodoxen Tendenz zum Glauben an die Allversöhnung wirksam, die bei russischen Denkern wie „Dostojewskij so gut wie bei Solovjev, aber auch bei den späteren Florenskij, Bulgakow und Berdjaev“ als „der Glaube an die allumfassende Liebe Gottes wie an die universale Erlösung der alleinen Menschheit und des alleinen Kosmos zu einer allgemeinen Bruderschaft“ begegne, „ohne daß dabei der Ernst des Gerichtes und des jüngsten Tages abgeschwächt würde“. Dies sei „ein Glaube, der innerhalb des Protestantismus nur im jüngeren Blumhardt einen ebenbürtigen und gerade darin merkwürdig mit den Russen übereinstimmenden Vertreter gefunden“ habe.18 Der „Weg zur wahren und einen Ökumene“ beginne „in gemeinsamer Demütigung vor dem Gekreuzigten, in gemeinsamer Buße, in gemeinsamer Besinnung auf den, der uns allein eins machen kann“. Aber der „Weg über das Kreuz“ führe „zum geöffneten Grab des Herrn – des Auferstandenen“. Und eben die „kraftvolle Verkündigung der Auferstehungsbotschaft“ sei „das besondere Charisma der orthodoxen Kirche“. Daher werde die Ostkirche „einmal an erster Stelle stehen, wenn die eine Kirche aufersteht unter Führung des Auferstandenen selbst“.19 Nach dieser vielleicht doch ein wenig idealisierenden Einschätzung der russischen Orthodoxie durch Fritz Lieb kann es kaum verwundern, dass Nikolaj Berdjajew, dem Lieb seinen Aufsatz noch vor der Veröffentlichung zugesandt hatte, sehr freundlich darauf reagierte: „Ihr Artikel eignet sich sehr gut für die 1. N[ummer ; AP] der Zeitschrift. Er ist voll warmer Sympathie für die Orthodoxie und für die russische Kirche. Sie haben die Distanz zum liberalen Protestan-

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AaO., 52. AaO., 52f. AaO., 53. AaO., 53f.

Die Rezeption Karl Barths in der russischen Religionsphilosophie

245

tismus, der an dem mangelhaften Verständnis der Russen für das religiöse Pathos des Protestantismus schuldig ist, sehr gut zu wahren gewusst.“20

3.

Nikolaj Berdjajew und Fritz Lieb

Nikolaj Alexandrowitsch Berdjajew (1874–1948)21 war im Jahr 1922 wie zahlreiche Intellektuelle aus der Sowjetunion ausgewiesen worden. Er hatte sich schon während seines Studiums in Kiew dem Marxismus zugewandt und war wegen revolutionärer Aktvitäten im Jahr 1898 für drei Jahre in die Provinz Wologda nördlich von Moskau verbannt worden. Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung strebte er eine Verbindung von Marxismus und russisch-orthodoxem Christentum an.22 Nach der russischen Revolution gründete er in Moskau eine ,Freie Akademie für Geisteskultur‘. Nach seiner Ausweisung aus Russland ging er zunächst nach Berlin, wo er unter anderen mit Paul Tillich in Verbindung trat, ließ sich im Jahr 1924 dann aber wie viele russische Emigranten in der Nähe von Paris nieder, wo er eine ,Religionsphilosophische Akademie‘ gründete. Das Exil russischer Intellektueller in Westeuropa löste in den 20er Jahren ein gesteigertes Interesse für russisches Denken aus, an dem nicht zuletzt Fritz Lieb partizipierte. Berdjajews existentialistische Religionsphilosophie auf russischorthodoxer Grundlage ist von Lieb – in Anspielung auf den Titel eines Hauptwerks von Berdjajew – als eine „Philosophie der Freiheit des Geistes“23 charakterisiert worden. Im Zentrum stehe der Mensch, der sich aus seiner Verfallenheit an die materielle Welt lösen soll, um zur geistigen Wiedergeburt zu gelangen. Die Freiheit des Menschen werde hier aber – anders als im westlichen Denken – nicht 20 Nikolaj Berdjajew, Brief [9] an Fritz Lieb vom 12.1.[1929], Nachlass Fritz Lieb (Basel). Im Nachlass Fritz Lieb in der Universitätsbibliothek Basel befinden sich eine Reihe von Briefen und Postkarten von Berdjajew an Lieb. Diese Korrespondenz wird hier und im Folgenden zitiert nach der Internet-Edition von Klaus Bambauer, Berdjajews Briefe an Lieb. The Letters of Nikolaj Berdjajew to Fritz Lieb: www.borisogleb.de/lieb1.html bis www.borisogleb.de/ lieb10.html (05.02.14). 21 Zu biographischen Details vgl. Fritz Lieb, Nikolaj A. Berdjaev und seine christlich-sozialistische Philosophie (1948), in: Ders., Sophia und Historie, Zürich 1962, 202–211. 22 Zur Charakterisierung der Position Berdjajews nach der Revolution von 1905 vgl. Bastiaan Wielenga, Lenins Weg zur Revolution. Eine Konfrontation mit Sergej Bulgakov und Petr Struve im Interesse einer theologischen Besinnung, München 1971, 344: „Eine Menschenliebe, die nicht in der Gottesliebe, und das heißt in der Liebe zu der Wahrheit, zu der Schönheit und zu jedem absoluten Wert wurzelt, verfehlt ihr Ziel.“ AaO., 345: „Das Problem der russischen Intelligencija ist, daß ihr Durst nach Gerechtigkeit auf Erden nicht im Bund mit der Erkenntnis einer universalen Wahrheit steht.“ AaO., 346: „,Nur eine innere Revolution, die von einem neuen Geist belebt ist, vom ewigen Geist, führt nicht zur Auflösung, ist nicht begleitet von Fäulnis, nur eine solche Revolution ist radikal.‘“ 23 Lieb, Berdjaev, 205. Vgl. Nikolaj Berdjajew, Die Philosophie des freien Geistes. Problematik und Apologie des Christentums, Tübingen 1930.

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individualistisch verstanden; vielmehr habe Berdjajew Individualität und Kollektivität zur Synthese zu bringen versucht. Insofern habe „die Freiheitslehre Berdjaevs“ auch noch nach seiner Abwendung vom Marxismus „einen durch und durch sozialistischen Charakter“ behalten.24 Zentral für Berdjajews Religionsphilosophie war Dostojewskijs Legende vom Großinquisitor, die er als „eine unerhörte Hymne auf die Freiheit des Geistes“ pries, als „die extremste Form des religiösen Anarchismus“. Sie habe nicht nur einen „antikatholischen Aspekt“, sondern beziehe sich kritisch „auch auf die Orthodoxie, wie auch auf die autoritative Religion des atheistischen Kommunismus“.25 Durch Fritz Lieb, der Berdjajew zur Mitarbeit an der geplanten Zeitschrift Orient und Occident zu gewinnen suchte, ist auch dessen Interesse an Karl Barth und der dialektischen Theologie geweckt worden. Darüber gibt die Korrespondenz Berdjajews mit Lieb Auskunft, mit deren Hilfe die Bedingungen der Entstehung seines Aufsatzes Die Krisis des Protestantismus und die russische Orthodoxie rekonstruiert werden können. Anfang November 1928 bedankt er sich bei Lieb für die „Zusendung des Buch[es] von K. Barth“26, wobei es sich um die Christliche Dogmatik im Entwurf (1927) gehandelt haben dürfte. Bald darauf lobt er das „neue Projekt der Zeitschrift ,Orient und Occident‘“ und erklärt sich zur Mitarbeit bereit, bittet aber darum, auch Hans Ehrenberg, den er 1922 in Berlin kennengelernt hatte,27 und Friedrich Heiler in das Projekt einzubeziehen.28 Im Januar 1929 äußert Berdjajew Zweifel, „dass Karl Barth seine Zusage gibt“, woraus man schließen kann, dass Lieb auch Barth um Mitarbeit bitten wollte oder gebeten hatte. Zugleich berichtet er über seine jüngsten Leseerfahrungen: „In letzter Zeit las ich die Bücher Brunner’s, K. Barth’s und Kierkegaard’s, unter deren starkem Eindruck ich noch stehe.“29 Er möchte „so etwas wie einen offenen Brief in deutscher Sprache an Brunner schreiben“, denn dessen Buch Der Mittler (1927) sei „von großer Schärfe und Spannkraft“. Doch „in mancher Beziehung“ habe er „starke Einwände gegen diese Richtung“, denn „sie erniedrigt den Menschen und verneint ihn, es ist wenig Liebe darin“. Er empfinde sie als eine „Religion der Furcht, der Angst“. Sie habe „kein Verständnis für die Mysterien des Gottmenschen und Gottmenschentums“. Über 24 25 26 27

Lieb, Berdjaev, 208. Nikolaj Berdjajew, Der Geist des Grossinquisitors, in: OuO. Neue Folge 1, 1936, 30–38.33. Nikolaj Berdjajew, Brief [7] an Fritz Lieb vom 3. 11. 1928, Nachlass Fritz Lieb. Hans Ehrenberg hatte 1923 und 1925 zwei Bände unter dem Titel Östliches Christentum herausgegeben, deren zweiter Band auch die Anthropodizee von Berdjajew enthielt. Schon 1920 hatte er die Veröffentlichung von Karl Barths Tambacher Vortrag Der Christ in der Gesellschaft in der Reihe ,Bücher vom Kreuzweg‘ des Patmos-Verlags (Würzburg) veranlasst. 28 Nikolaj Berdjajew, Brief [8] an Fritz Lieb vom 3. 11. 1928, Nachlass Fritz Lieb. 29 Neben Barths Christlicher Dogmatik im Entwurf, vielleicht auch dessen Römerbrief (2. Aufl.), hatte Lieb Der Mittler von Emil Brunner an Berdjajew gesandt und – auf Berdjajews Bitte hin – die Einübung ins Christentum und Entweder–Oder von Søren Kierkegaard.

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Barths Christliche Dogmatik will er eine Rezension für seine eigene Zeitschrift Put’ (Der Weg) schreiben.30 Ende Februar 1929 bietet Berdjajew an, er könne „für den [!] ersten N[ummer] ein[en] speziellen Artikel schreiben über Orthodoxie und Protestantismus von K. Barth, Brunner etc.“31. Zwei Wochen später präzisiert er, er werde „ein[en] Artikel ,Krisis des Protestantismus und die russische Orthodoxie‘ schreiben“32. Im Juli 1929 bedankt er sich für die Zusendung der ersten Nummer von Orient und Occident, die seinen Artikel enthielt.33 Im Januar 1930 bringt er seine Vorfreude auf einen angekündigten Besuch Liebs in Paris zum Ausdruck, indem er bemerkt: „Wir werden über Barthianismus und Orthodoxie mit Ihnen sprechen.“34 Im November 1930 fragt er Lieb, an welche Bonner Adresse er sein Buch Philosophie des freien Geistes schicken solle, das gerade in Tübingen erschienen war.35

4.

Nikolaj Berdjajew über Karl Barth und die dialektische Theologie

In seinem Artikel Die Krisis des Protestantismus und die russische Orthodoxie36 für die Zeitschrift Orient und Occident bezeichnet Berdjajew den „Barthianismus“– ein Ausdruck, den er synonym mit der „sogenannten dialektischen Theologie“ verwendet37 – als „eine sehr ernste Erscheinung im christlichen Leben Europas“, die zugleich „eine sehr ernste Krise im Protestantismus“ signalisiere. Die dialektische Theologie bringe einen „Hunger und Durst nach religiöser Erneuerung und Wiedergeburt“ zum Ausdruck, durch den der „protestantische Liberalismus“, der sich „erschöpft“ habe, überwunden werde. Durch ihre „Rückkehr zu den religiösen Quellen“ des Protestantismus, zu Luther, Calvin und vor allem zur Bibel, trage die dialektische Theologie aber Züge einer „exklusiven Selbstbehauptung des protestantischen Typus“, die eine ökumenische Verständigung erschwerten. Einzig in Barths Dogmatik sei „eine

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Nikolaj Berdjajew, Brief [9] an Fritz Lieb vom 12.1.[1929], Nachlass Fritz Lieb. Nikolaj Berdjajew, Brief [10] an Fritz Lieb vom 27.2.[1929], Nachlass Fritz Lieb. Nikolaj Berdjajew, Brief [12] an Fritz Lieb vom 12.3.[1929], Nachlass Fritz Lieb. Vgl. Nikolaj Berdjajew, Brief [14] an Fritz Lieb vom 5.7.[1929], Nachlass Fritz Lieb. Nikolaj Berdjajew, Brief [15] an Fritz Lieb vom 8.1.[1930], Nachlass Fritz Lieb. Vgl. Nikolaj Berdjajew, Brief [17] an Fritz Lieb vom 15.11[1930], Nachlass Fritz Lieb. Nicolai Berdjajew, Die Krisis des Protestantismus und die russische Orthodoxie. Eine Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie, in: OuO 1, 1929, 11–25. 37 AaO., 11. Neben Barth erwähnt Berdjajew auch Emil Brunner, Friedrich Gogarten und Eduard Thurneysen als Hauptvertreter der neuen Richtung.

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Andreas Pangritz

Annäherung an die orthodoxe Dogmatik“, das heißt an die Theologie der Ostkirchen, erkennbar, die wiederum „die Protestanten erschrecken“ müsse.38 Berdjajew lobt das „religiöse Temperament“ von Barth und Brunner, das einen Bruch „mit dem Protestantismus des 19. Jahrhunderts“ bedeute, „der das Christentum in eine Professorenreligion verwandelt“ habe.39 Die dialektische Theologie stelle einen „Protest“ dar, nicht jedoch wie die Reformation des 16. Jahrhunderts „gegen den Katholizismus, sondern gegen den liberalen Protestantismus, gegen die religiöse Knochenerweichung, die mit der Aufklärung begonnen […] und sich in dem deutschen Idealismus und in der deutschen Romantik, wenn auch in neuer Form,“ fortgesetzt habe. Sie sei „ein Schrei, eine leidenschaftliche Reaktion […] gegen die Auffassung der Religion als einer Kulturerscheinung“. Die Kehrseite davon sei jedoch „eine Reaktion gegen die optimistische Beurteilung des Menschen und der Geschichte“, die Berdjajew bedauert. So problematisiert er den an sich berechtigten Rückgriff der dialektischen Theologie auf die biblischen „Quellen der Offenbarung“, sofern er auf eine „Negierung der heiligen Tradition“ hinauslaufe. Er meint hier „ein Müdesein vom menschlichen Schöpfertum und dem menschlichen Kulturtreiben“ wahrzunehmen, das sich allerdings auf den „Protest Luthers und Calvins“ berufen könne, sofern dieser sich „doch auch gegen den Humanismus im Katholizismus, gegen das menschliche Schöpfertum in demselben, gegen die antike Kunst und Philosophie gerichtet“ habe.40 Der eigentliche „Erwecker“ dieses Protests sei Søren Kierkegaard mit seiner „Neigung […] zur Paradoxie“ gewesen. Wenn der Protest sich auch auf Dostojewskij berufen habe,41 dann beruhe dies auf einem Missverständnis, denn dieser sei „ein Verteidiger des Menschen, den die neue protestantische Theologie heruntersetzt“. Bei Dostojewski stehe „der Mensch im Mittelpunkt“.42 Alles in allem sei die dialektische Theologie „eine Theologie der Krisis“, die 38 AaO., 25. 39 Mit dem Ausdruck „Professorenreligion“ hatte 1910 Sergej Bulgakow den zeitgenössischen Kulturprotestantismus bezeichnet; vgl. Viktor Yelensky, Religion und Kirchen in der Ukraine, in: Ost-West. Europäische Perspektiven 3, 2002, 266–276, 271. 40 Berdjajew, Krisis, 11. 41 Hier dürfte Berdjajew an Thurneysens Buch über Dostojewskij denken (vgl. Eduard Thurneysen, Dostojewski, München 1921), aber auch an die zahlreichen Anspielungen auf Dostojewskij in der zweiten Auflage von Barths Römerbrief; gleich im Vorwort zur zweiten Auflage verweist Barth darauf, dass zu den „Faktoren“, die bei der gegenüber der ersten Auflage des Buches „vollzogenen Weiterbewegung und Frontverlegung“ mitgewirkt hätten, auch „das vermehrte Aufmerken auf das“ zu rechnen seien, „was aus Kierkegaard und Dostojewski für das Verständnis des neuen Testamentes zu gewinnen ist,“ wobei ihm „besonders die Winke von Eduard Thurneysen erleuchtend gewesen“ seien (vgl. Karl Barth, Der Römerbrief. Neue Bearbeitung, München 1922, zit. nach dem 12., unveränd. Abdr. d. neuen Bearb. v. 1922, Zürich 1978, VII). 42 Berdjajew, Krisis, 11f.

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„mehr durch Motive eines negativen Protestes als durch positive Motive bewegt und inspiriert“ sei. Für sie sei „keine menschliche Bewegung zu Gott hin möglich, nur allein die Bewegung Gottes zum Menschen hin“. So stelle der „Barthianismus […] einer Auffassung der Religion als Kulturerscheinung schroff ein Verständnis der Religion als Krisis der Kultur entgegen“. In Christus sei nach Barth „eine universelle Krisis der Diesseitigkeit gegeben“. Die ganze Bewegung der dialektischen Theologie wolle „von der Subjektivität der Religion zu der Objektivität der Bibel, zu der Offenbarung, zurückkehren“. Der Glaube werde hier als „Negierung der Vernunft“, als „eine Paradoxie“ aufgefasst. Auch darin sieht Berdjajew „eine Entwertung der Kultur, der Geschichte, des sozialen Lebens“. Kurz: „Das Müdesein am Menschen“ sei „das Grundmotiv der ganzen Strömung“.43 Trotz dieser scharfen Kritik hält Berdjajew es für ein Missverständnis, in der dialektischen Theologie eine neo-orthodoxe Strömung bzw. einen Rückfall hinter die Moderne zu sehen: Die „orthodoxen Calvinisten, soweit es solche noch gibt“, wehrten sich gegen den Barthianismus, dem ja tatsächlich „die alte naive orthodoxe Gläubigkeit“ fehle. Man habe es hier „mit Leuten einer neuen Formation zu tun“, die „den Zwiespalt“ der Moderne kennen, „die durch die kritische Philosophie Kants“, „die Bibelkritik“ und „die Differenzierungen des kulturellen Gedankens hindurchgegangen“ seien.44 Gleichwohl sei der Barthianismus im Blick auf die Geschichte „von offenbaren Widersprüchen zerrissen“.45 Zwar komme Barth völlig zu Recht zur Anerkennung der „Existenz einer Metahistorie“ jenseits der für die historische Forschung zugänglichen Geschichte. Das Problem sei aber, dass jetzt „die Metahistorie und die Historie völlig auseinandergerissen“ werden, so dass ein „Dualismus“ entstehe: „Die Metahistorie geht nicht ein in die Geschichte, die Ewigkeit nicht in die Zeit. Jesus als der Christus“ werde hier als „das Ende der Zeit“, gesehen, als „eine Paradoxie“. Es gebe hier „vom Menschen, von der Welt, von der Geschichte her keinen Weg zu Gott, denn Mensch, Welt, Geschichte sind ganz ungöttlich“. Es gebe „nur einen Weg von Gott zum Menschen“; aber dieser Weg, „der Weg der Offenbarung“, sei hier „nicht Fleischwerdung und Menschwerdung Gottes als objektiver kosmischer Prozeß“, sondern allein „Gottes Wort, Gottes Sprechen zum Menschen“.46 Für das „kirchliche Verständnis des christologischen Dogmas“ sei es demgegenüber entscheidend, dass Christus nicht nur „der Mittler ist, durch den Gott sein Wort spricht, sondern der Gottmensch, die zweite Hypostase der Aller-

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AaO., 12. Ebd. AaO., 14. AaO., 15.

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heiligsten Dreifaltigkeit“, mit der sich eine reale „Veränderung in der Welt und in der Menschheit“ verbinde.47 Die eigentliche „Tragödie des Protestantismus“ sieht Berdjajew „in einer falschen und unvollständigen Auffassung des christologischen Dogmas“. Darüber habe auch die dialektische Theologie nicht hinauszuführen vermocht. Unverrückbarer Maßstab in seinem Urteil über die dialektische Theologie ist für Berdjajew offenbar das chalcedonensische Dogma von den zwei Naturen Christi. Der lutherischen Tendenz zum Monophysitismus habe Barth zwar widersprochen; er komme damit aber – mit Calvin – dem Nestorianismus „sehr nahe“. Der „transzendente Bruch zwischen Gottheit und Menschheit“ habe auf dem Boden des Protestantismus entweder zu einem „Humanismus und Immanentismus“ geführt, in dem die Gottheit durch die Menschheit verschlungen werde, oder aber – und dies sei der Fall der dialektischen Theologie – zu einem „extremen Antihumanismus“, einer „Herabsetzung des Menschen“, der ihn vom Antlitz der Gottheit verschwinden lasse. Darin widerspreche aber auch der Barthianismus dem Dogma von der „Menschwerdung Gottes“.48 Berdjajew führt dieses Versagen auf ein „sehr starkes alttestamentliches, vorchristliches Element“ zurück, das schon „in Calvin stark wirksam“ gewesen sei. Aufgrund der „transzendenten Kluft zwischen Gott und dem Menschen“ werde hier „behauptet, daß es zwar eine Bewegung von Gott zum Menschen gebe, aber nicht eine Bewegung vom Menschen zu Gott“. Damit höre die dialektische Theologie auf, „eine solche zu sein“, da sie „nicht mehr ein Dialog zwischen Gott und Mensch, sondern nur noch ein Monolog Gottes“ sei. Die Folge sei die „Ablehnung einer Verehrung der Gottesmutter“, die „Negierung der liturgischsakramentalen Seite des Christentums“ und die Ablehnung der h]ysir, die als „Vergottung der kreatürlichen Welt, des Menschen und des Kosmos“ doch „das Endziel des Christentums“ darstelle.49 Stattdessen schreibe Barth in seinem Römerbrief: „Der Messias ist das Ende des Menschen“.50 Dies kann Berdjajew nur als „eine letzte Herabsetzung des Menschen“ hören, „nicht der Sünde bloß, sondern auch des Menschen“, während der Glaube an die Menschwerdung Gottes doch besage, dass „die menschliche Natur erhöht und verherrlicht ist“. Man gewinne in der dialektischen Theologie (wie übrigens schon bei Luther und Calvin) den Eindruck, „als identifiziere sie den Menschen mit der Sünde, als sei für sie das Ebenbild Gottes im Menschen endgültig ausgelöscht. […] Zwei Welten – Himmel und Erde, Ewigkeit und Zeit, das Göttliche und das Menschliche“ – 47 48 49 50

AaO., 16. Ebd. AaO., 16f. AaO., 17. Das Zitat ist so in Barths Römerbrief (1922) nicht zu finden. Vgl. aber Barth, Der Römerbrief (1922), 166: „Gott ist nicht Gott, wenn sein Anfang nicht das Ende des Menschen ist.“

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blieben hier „durch einen Abgrund geschieden“. Für die Fleischwerdung des Wortes, für das Wort des Athanasius – „Gott ward Mensch, damit der Mensch vergottet werde“ – habe diese Theologie keinen Raum.51 Letztlich sei das Gottesverständnis Barths (wie auch schon das Calvins) „alttestamentlich, nicht neutestamentlich“.52 Sowohl Calvin als auch Barth behaupten – so nimmt es jedenfalls Berdjajew wahr – „die absolute Monarchie Gottes, seine absolute Herrschaft und Ehre“. Dies sei „ein reiner Monotheismus“; aber das Christentum – das hätten „die orthodoxen Juden“ am besten begriffen – sei gar „keine monotheistische Religion“. Der „reine Monotheismus“ sei „jüdische, mohammedanische, nicht christliche Religion“. Für das „christliche Bewußtsein“ sei „die Gottheit nicht absolute Monarchie, sondern Heilige Dreieinigkeit, d. h. unendliche Liebe und Opfer“.53 Die „Entgottung und die tiefste Herabsetzung der kreatürlichen Welt“, die Berdjajew in der dialektischen Theologie am Werk sieht, sei „die unvermeidliche Folge eines reinen Monotheismus“. Und dies sei „islamitische Religion“. Mit dem „trinitarischen Dogma“ sei hingegen „unlöslich die Verehrung der Jungfrau Maria, der Gottesmutter, verbunden“.54 An dieser Stelle gesteht Berdjajew seine Betrübnis angesichts von Brunners Desinteresse an der Lehre von der Jungfrauengeburt in dessen Buch Der Mittler. Er habe „das Buch von Brunner mit ungeheurem Interesse gelesen“, weil er „die Spannung und Schärfe des Gedankens, das religiöse Pathos in ihm fühlte“. Als er jedoch „an die Stelle kam, in der Brunner bekennt, daß er nicht an die Geburt Jesu Christi aus der Jungfrau glaubt, oder wenigstens ihr gleichgültig gegenübersteht,“55 sei ihm „traurig zumute“ geworden, „und die Sache wurde sogar langweilig. Denn mir schien es so, als werde nun alles durchgestrichen, als sei nun alles weitere zwecklos.“ Hier konstatiert Berdjajew „ein radikales Auseinandergehen“ der Wege zwischen Orthodoxie und Protestantismus; denn „das ganze Wunder des Christentums und sein ganzer Sinn“ liege doch „in der Geburt Christi aus der Jungfrau Maria vom Heiligen Geiste“. Der Protestantismus kenne offenbar „keinen kosmischen Prozeß, der eine verklärte jungfräuliche Kreatürlichkeit zur Erscheinung bringt“. Man spüre hier „einen Abscheu vor der Natur, der kreatürlichen Welt“. Zwar erkennt Berdjajew an, dass Barth in seiner 51 52 53 54 55

Berdjajew, Krisis, 17. AaO., 18. AaO., 18f. AaO., 19. Ebd. Vgl. Emil Brunner, Der Mittler. Zur Besinnung über den Christusglauben, Tübingen 1927, 287f., wo zwar die Tatsache der Menschwerdung des Gottessohnes als „das Weihnachtswunder“ bezeichnet wird, um dann aber fortzufahren: „[…] diese unbegreiflich herrliche Botschaft ist von alters her belastet gewesen durch eine Vorstellung, die ihren Grundgedanken zu verdunkeln geeignet ist: durch die Theorie von der jungfräulichen Geburt Jesu.“

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Christlichen Dogmatik „orthodoxer“ sei, indem er zugebe, „daß Christus von der Jungfrau geboren wurde“.56 Er vermisst aber auch dort „weitere geistliche Folgen“ dieses Bekenntnisses in einem „Kultus der Gottesmutter“.57 Von einer „Verklärung“ des Kosmos, wie sie sich „in der Freude an der Auferstehung“ im russischen Osterfest Ausdruck verschaffe, sei auch bei Barth nichts zu spüren.58 Im Zentrum der orthodoxen Theologie stehe „nicht die Idee der Rechtfertigung des Menschen“ wie für die westliche, sowohl protestantische als auch katholische Theologie, sondern „die Verklärung und die Vergottung der Kreatur“, denn „in Christus und durch Christus“ sei „die Vergottung der Schöpfung möglich“. Die „Rettung der Welt“ vollende sich nach orthodoxem Verständnis im „Mysterium der Auferstehung Christi“, in der „das Metahistorische und das Historische“ einander durchdringen.59 Der theologische Ausgangspunkt sei hier ein „Theantropismus“, der nichts mit Pantheismus zu tun habe. Demgegenüber habe der Westen die „beiden Elemente im Gottmenschentum“ auseinandergerissen, woraus ein „Theozentrismus“ einerseits, ein „Anthropzentrismus“ andererseits resultiere. Insofern seien Schleiermacher und Barth, „der idealistische Humanismus und der extreme Transzendentismus“, zwei Seiten derselben Medaille. Dem russisch-orthodoxen „Gottesgedanken“ jedoch entspreche eher der „Panentheismus“60 als der „transzendente dualistische Theismus“.61 Wichtig am Protestantismus ist Berdjajew „die Verteidigung der Freiheit des Christenmenschen“ und „das direkte Verhältnis zum Schriftwort“; aber er will beides „nicht individualistisch“ verstehen. Letztlich erscheint ihm die östliche Orthodoxie als ein dritter Weg jenseits des „historischen Kampfes zwischen Protestantismus und Katholizismus“ im Westen. In ihrer „eschatologisch gerichteten Art“ würden „alle Erwartungen und Hoffnungen in die metahistori-

56 Berdjajew, Krisis, 19. Vgl. Karl Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, Bd. 1: Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik (1927), GA II.14, hg. v. G. Sauter, §16 [Die Geburt des Herrn], 365–379 [3. Das Wunder der Geburt Christi], 365: „Wir kommen nun zu denjenigen Bestimungen, die die Inkarnationslehre im engsten und intimsten Sinn ausmachen, nämlich zu alledem, was zu sagen ist in der Richtung des Bekenntnisses: ,Qui conceptus est de Spiritu sancto, natus ex Maria virgine.‘“ 57 Berdjajew, Krisis, 19. 58 AaO., 21. 59 Ebd. 60 Im Text steht „Pantheismus“ statt „Panentheismus“. In seinem Brief an Fritz Lieb, in dem sich Berdjajew für die Zusendung der ersten Nummer von Orient und Occident bedankt, beklagt er sich zugleich über einen „schreckliche[n]“, weil sinnentstellenden „Fehler“ an dieser Stelle; es müsse „Panentheismus“ lauten. Nikolaj Berdjajew, Brief [14] an Fritz Lieb vom 5.7.[1929], Nachlass Fritz Lieb. In das Exemplar der Zeitschrift in der Bonner Theologischen Bibliothek ist an dieser Stelle ein Zettel mit einer entsprechenden „Berichtigung“ eingelegt. 61 Berdjajew, Krisis, 22.

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sche Sphäre“ hinübergetragen, „ohne damit den Sinn der Geschichte zu entwerten“, wie dies aus seiner Sicht wohl im Barthianismus der Fall ist.62

5.

Exkurs: Leo Schestow und Luthers Schlange

Bevor wir den Versuch einer Bewertung von Berdjajews Auseinandersetzung mit Barth und der dialektischen Theologie unternehmen, wollen wir uns einem anderen russischen Religionsphilosophen aus Liebs Freundeskreis zuwenden: Leo Schestow. Während der Frankreichreise, die Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum gemeinsam mit Ruedi und Gerty Pestalozzi im April 1934 unternahmen, kam es am Freitag, 13. April, im Haus von Mme Lovtzki, einer Schwester des russisch-jüdischen Religionsphilosophen Schestow, zu einer denkwürdigen Begegnung, über die wir aus dem Reisebericht von Charlotte von Kirschbaum informiert sind, der im Karl-Barth-Archiv in Basel aufbewahrt ist.63 Barth nahm an dem Treffen nicht teil, da er an diesem Abend beim Doyen der Pariser theologischen Fakultät eingeladen war. Auch der mit Schestow befreundete Berdjajew war nach allem, was wir wissen, nicht unter den Gästen. Anwesend war aber neben Schestow Fritz Lieb, der Gerty Pestalozzi und Charlotte von Kirschbaum in diesen Kreis russischer Exilanten eingeführt hatte. Als prominenter Gast wurde Martin Buber erwartet.64 Charlotte von Kirschbaum berichtet: „Die kleine Gesellschaft, die wir […] versammelt fanden, war auf den ersten Blick seltsam fremd. Da war Schestow selbst: ein hoher hagerer Mann, dessen ausdrucksvolles, vom Leben ausgehoehltes Gesicht mit den klugen dunklen Augen stark anzog, da waren seine Schwestern […], da waren ein paar junge Leute […], und da war schliesslich – er kam erst etwa um zehn Uhr – der Mann, um den sich alle diese Leute scharten: Martin Buber.“ Nachdem ein junger französischer Jude sich über Verbrennungen jüdischer Schriften in Deutschland und Österreich empört und damit eine abfällige Äußerung über „die deutsche Mentalitaet“ provoziert hatte, habe Buber eingegriffen, „gut und verstaendnisvoll“, wie Charlotte von Kirschbaum meint: „Es habe Jahre gegeben nach dem Krieg, da wollte Deutschland den Frieden […].“ Nun sei es „zu spaet“, habe der junge Jude erwidert. Er habe an die 62 AaO., 24f. 63 Charlotte von Kirschbaum/Karl Barth, [Reisebericht], KBA 11064. Ich danke Peter Zocher vom Karl-Barth-Archiv dafür, dass er mir eine Kopie dieses 15 Seiten umfassenden Reiseberichts zur Verfügung gestellt hat. Der Bericht wird auch zitiert bei Eberhard Busch, Unter dem Bogen des einen Bundes. Karl Barth und die Juden 1933–1945, Neukirchen-Vluyn 1996, 195. Dort wird der Name Schestow jedoch irrtümlich „Schechow“ geschrieben. 64 Zu Schestows Beziehung zu Buber vgl. Leo Schestow, Martin Bubers „Zwiesprache“, in: OuO 17, 1934, 38–45.

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Geschichte des jüdischen Volkes erinnert: Nur der „Gehorsam zu einer neuen Wanderung durch die Wueste“ könne die „Rettung“ aus der Not bringen. „Versteht Buber ihn nicht; oder warum nennt er das ,Optimismus‘??“ Er habe „zu einer langen tiefsinnigen Deutung der Vorgaenge unserer Zeit“ ausgeholt“. Es habe Zeiten gegeben, „die konnten sagen: ,Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!‘ Wir koennen es nicht mehr.“65 An dieser Stelle, so Charlotte von Kirschbaum, habe sie sich nicht mehr zurückhalten können, sondern Buber gefragt: „Ist nicht dieses ,Nahe‘ das Problem aller Zeiten gewesen, und kann man angesichts dieser Frage so geschichtsphilosophisch scheiden zwischen dem Heute und dem Gestern?“ Buber habe „sehr guetig“ geantwortet; aber „schon nach wenigen Worten“ sei ihr klar geworden, „dass eine Fortsetzung des Gespraeches ueber diese Frage darum nicht moeglich sein wird, weil fuer ihn die Singularitaet der Offenbarung in Jesus Christus nicht gegeben“ sei. Charlotte von Kirschbaum sieht Buber in dem „ausweglosen Gefaengnis des Judentums“ gefangen. „Als Schestow dann ein Wort von Luther zitiert, (er habe in den letzten Tagen Buber stundenlang aus Luther vorgelesen!) ein Wort ueber die Schlange […], jeden Tag sei sie neu da, sie muesste ueberwunden, getoetet werden. Aber wer kann das? Keiner, er auch nicht“, – da denkt sich Charlotte von Kirschbaum: „Mais pour nous elle [!] est tu8!“, wagt aber nicht, dies laut zu sagen. Die „ungetroestete Frage“ des jungen Juden – „Nicht wahr, wir muessen nicht verzweifeln?“ – geht ihr nach wie eine „uneingeloeste Schuld“.66 Leo Schestow (eigentlich Jehuda Leib Schwarzmann; 1866–1938), der Russland schon 1920 verlassen hatte, war ein Intellektueller, der – wie Helmut Gollwitzer schreibt – „mehr als alle großen Russen vom Alten Testament und von der Reformation […] verstanden hat“.67 Damit steht er – anders als Berdjajew – gerade auch der Rezeption des Alten Testaments bei Calvin und Barth nahe. Walter Benjamin, der Schestow 1936 auf Empfehlung von Gershom Scholem kennenlernte, hielt dessen Philosophie aufgrund der Lektüre von dessen Hauptwerk Athen und Jerusalem (1938) für „ziemlich bewunderungswürdig, aber nichtsnutzig“. Als „Kommentator“ könne man vor ihm allerdings „nur den

65 Charlotte von Kirschbaum/Karl Barth, [Reisebericht], 11f. 66 Charlotte von Kirschbaum/Karl Barth, [Reisebericht], 12. – Ein weiterer Bericht über diese Begegnung findet sich bei Benjamin Fondane, Recontres avec L8on Chestov, Paris 1982, 62–64. Dort heißt es zum Wortwechsel zwischen Buber und Schestow, Buber habe geklagt: „L’humanit8 par d8sespoir essaie les choses les plus absurdes. C’est comme si on voulait se mettre / pr8sent / tuer le serpent de la Bible. – Et c’est justement ce qu’il faudrait faire,“ habe Schestow erwidert. „Voil/ jour et nuit, depuis des ann8es, que je ne lutte que contre le serpent. Qu’est-ce que Hitler, / cit8 du serpent de la connaissance?“ (aaO., 64). 67 Helmut Gollwitzer, Rez. Leo Schestow: Spekulation und Offenbarung, in: EvTh 25, 1965, 621.

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Hut ziehen“; seine „Schreibweise“ sei „großartig“.68 In seiner Vernunftkritik lässt Schestow immer wieder Sympathien für Dostojewskij, aber auch für Luther, Kierkegaard und Nietzsche erkennen,69 also für die Ahnenreihe, auf die sich auch die frühe dialektische Theologie berufen hatte. Berdjajew jedoch, der von Lieb offenbar über die Beziehung Schestows zur dialektischen Theologie befragt worden war, gab diesem seine Einschätzung zur Kenntnis, dessen „Verwandtschaft mit jener Richtung“ sei „nur halb und rein negativ“. Nach langen Unterredungen mit Schestow habe er die Überzeugung gewonnen, „daß der Glaube an Christus ihm ganz fremd“ sei; er erkenne „die Menschwerdung Gottes“ nicht an.70 Wenn Charlotte von Kirschbaum erwähnt, dass Schestow Buber tagelang aus Luther vorgelesen habe, dann findet sich ein Niederschlag von Schestows Faszination in dieser Richtung schon in seiner frühen Abhandlung Sola fide, in der er De servo arbitrio als eines der „bemerkenswertesten Werke Luthers“ rühmt.71 Auch noch in seinem Alterswerk Athen und Jerusalem lässt er ein spezielles Interesse gerade für Luthers schroffe Vernunftkritik erkennen. Dort findet sich auch das Wort von der Schlange, die totzuschlagen sei, das Schestow zustimmend aus Luthers großem Galaterkommentar von 1531 zitiert: „Denn der Mensch überhebt sich und wähnt, weise, gerecht und heilig zu sein, deshalb ist es nötig, daß er gedemütigt werde durch das Gesetz und so jene Bestie, seine vermeintliche Gerechtigkeit, getötet werde, ohne deren Tötung der Mensch nicht leben kann.“72 Daraus macht Schestow im Folgenden in freier Wiedergabe die „bellua qua non occisa homo non potest vivere“73, die als Refrain seiner Lutherrezeption gelten kann. 68 Walter Benjamin, Brief an Gershom Scholem vom 4. 2. 1939, in: Ders., Briefe, Bd. 2, hg. v. G. Scholem/Th. W. Adorno, Frankfurt a.M. 1978, 803. 69 Vgl. etwa Leo Schestow, Kierkegaard und Dostojewskij, in: Ders., Siege und Niederlagen. Für eine Philosophie der Literatur von Shakespeare zu Tschechow, Berlin 2013, 171–197 (Erstdruck in der exilrussischen Zeitschrift Put’ [Der Weg], 1935). 70 Nikolaj Berdjajew, Brief [9] an Fritz Lieb vom 12.1.[1929], Nachlass Fritz Lieb. 71 Vgl. Leo Schestow, Dostojewskij und Tolstoj als Denkpartner Luthers, in: Ders., Siege, 198–241. 202. Es handelt sich bei diesem Text um einen Auszug aus der unvollendeten Abhandlung Sola fide, die zwischen 1911 und 1914 in der Schweiz abgefasst und erst posthum 1966 in Paris veröffentlicht worden ist. 72 Leo Schestow, Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie, Graz 1938; hier zitiert nach der Neuauflage München 1994, 201. Vgl. Martin Luther, In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius, in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe XL, 1. Teilbd.: 2. Galatervorlesung (cap. 1–4) 1531, hg. v. K. Drescher, Weimar 1911, 517: „[…] quia homo superbit et somniat se sapere, se iustum et sanctum esse, ideo opus est, ut lege humilietur, Ut sic bestia ista, opinio iustitiae, occidatur, qua non occisa non potest homo vivere.“ 73 Schestow, Athen, 206 u. ö. – Busch, Bogen, 195, Anm. 106, vermutet, dass es sich bei dem Lutherzitat über „die Schlange“ um die Stelle handeln könnte, die Barth 1938 dem zweiten Teilband der Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik (KD I/2) anstelle eines Vorworts vorangestellt hat, wo es u. a. heißt: „Das des mördlichen stechens und beissens in die Versen, der

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6.

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Noch einmal Berdjajew und Barth: Missverständnis oder sachliche Differenz?

Kehren wir nach dieser Abschweifung wieder zu dem Aufsatz Die Krisis des Protestantismus und die russische Orthodoxie von Berdjajew zurück, dann fällt zunächst auf, dass dieser die dialektische Theologie weitgehend als eine einheitliche Bewegung wahrnimmt. Das hat zur Folge, dass Barth gelegentlich Gedanken unterstellt werden, die sich eher bei Brunner oder Gogarten finden. Allerdings beobachtet Berdjajew bereits, dass Barth in seiner Christlichen Dogmatik „den paradoxen Charakter seiner Gedanken“, der in seinem Römerbrief (2. Aufl.) so scharf hervorgetreten sei, abschwäche; er wolle „ein System bauen“ und werde zum „Scholastiker“. Die Krisis sei „scheinbar überstanden“; an ihre Stelle sei „eine für den Protestanten maximale Anerkennung der kirchlichen Dogmen“ getreten.74 Insofern scheint Berdjajew hier und da offene Türen bei Barth einzurennen – etwa wo es um die zentrale Bedeutung der chalcedonensischen Zwei-Naturen-Christologie geht. Alles in allem muss aber dennoch gesagt werden, dass Berdjajew in seiner Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie einseitig den Bruch mit dem Kulturprotestantismus betont und die Momente der Kontinuität übersieht. Er partizipiert damit an dem Missverständnis von Barths Theologie, das typisch für den „Barthianismus“ und seine Kehrseite, den Antibarthianismus, geworden ist. Kierkegaards „unendlicher qualitativer Unterschied“ von Gott und Mensch, Zeit und Ewigkeit, wird als Beziehungslosigkeit interpretiert. Dabei hatte Barth im Vorwort zur 2. Aufl. des Römerbriefs betont, dass er diesen Unterschied nicht nur „in seiner negativen“, sondern eben auch „in seiner positiven Bedeutung“ beharrlich im Auge behalten wolle, dass es ihm also um „die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott“ gehe.75 Freilich muss man zugestehen, dass Barth an dem Missverständnis nicht ganz unschuldig gewesen ist. So hat er in der späteren Schrift Die Menschlichkeit Gottes selbst eingestanden, dass sein Gottesbegriff insbesondere im Römerbrief (2. Aufl.) hier und da „arg unmenschlich“76 formuliert worden sei. Recht vergrimmigen gifftigen Schlangen, doch ein mal ein ende werde […]“ (Die angebliche „Vorrede D. M. Luthers, vor seinem Abschied gestellet“ zum zweiten Band der Wittenberger Gesamtausgabe seiner deutschen Schriften [1548], in: Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe LIV: Schriften 1543–46, hg. v. K. Drescher, Weimar 1928, 459–477.475f). Möglicherweise habe Barth damit sogar ein Echo auf das Pariser Gespräch geben wollen, an dem er selber gar nicht teilgenommen hatte. 74 Berdjajew, Krisis, 13. 75 Karl Barth, Der Römerbrief (1922), XIII. 76 Vgl. Karl Barth, Die Menschlichkeit Gottes, Zürich 1956, 8, wo Barth einräumt, dass „das

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standen habe „die Göttlichkeit des lebendigen Gottes […] ihren Sinn und ihre Kraft nur im Kontext seiner Geschichte und seines Dialoges mit dem Menschen und also in seinem Zusammensein mit diesem […]. Eben Gottes recht verstandene Göttlichkeit schließt ein: seine Menschlichkeit.“77 Im übrigen hat Barth Berdjajews Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie durchaus wahrgenommen. So zitiert er in den Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, wo er sich in §15 (Das Geheimnis der Offenbarung) im Abschnitt „Das Wunder der Weihnacht“ mit Brunners „Bestreitung der Jungfrauengeburt“ auseinandersetzt, ausdrücklich zustimmend den „Seufzer von N. Berdiajew“, dem bei der Lektüre von Brunners Buch Der Mittler „traurig zumute“ geworden sei, weil damit alles Weitere „langweilig“ und „zwecklos“ geworden sei.78 Es wäre jedoch voreilig, daraus auf eine generelle Zustimmung Barths zu Berdjajew zu schließen. Dies wird in der Schöpfungslehre der Kirchlichen Dogmatik deutlich, wo Barth sich in §54 (Freiheit in der Gemeinschaft) im Abschnitt „Mann und Frau“ im Rahmen seiner theologischen Anthropologie ausführlich mit Berdjajews Menschenbild auseinandersetzt.79 Bezeichnenderweise hat Fritz Lieb in seinem Nachruf auf Berdjajew diesem eben das vorgeworfen, was dieser Barth vorgeworfen hatte: „eine nicht ungefährliche Neigung […] zu einer ausgesprochen gnostisch-dualistischen Abwertung dieser ,Welt‘“. Seine „schwermütige Sehnsucht nach der Ewigkeit“ habe das ganze Leben „in eine orphisch-platonische Fluchtbewegung“ hineingerissen, „heraus aus der ihm fremden Welt mit ihren Bindungen an die Geschichte, an die Gesellschaft, an die Familie und auch an das Geschlecht“.80 Zieht man die Missverständnisse ab, dann bleibt als Differenz, die aus evangelischer Perspektive kaum überbrückbar erscheint, zumindest Berdjajews Rede von der „Vergottung“ der menschlichen Natur und der Kreatur überhaupt, die ihr zentrales Symbol nicht nur im Osterereignis, sondern eben auch in der Gottesmutter habe.81 Immerhin kann selbst an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die leibliche Auferstehung auch für Barth im Zentrum der Dog-

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berühmte ,senkrecht von oben‘ hereinbrechende totaliter aliter und der nicht weniger berühmte ,unendliche qualitative Unterschied‘ zwischen Gott und Mensch“, womit er im Römerbrief (1922) Kirche und Theologie geschreckt hatte, „wie gut es auch gemeint sein und wieviel auch dran sein mochte“, seinerzeit „doch ein bißchen arg unmenschlich […] gesagt“ worden sei. AaO., 10. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2. Halbbd., Zollikon 1938, 201; vgl. Berdjajew, Krisis, 19. Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III: Die Lehre von der Schöpfung, 4. Teilbd., Zollikon-Zürich 1951, 177–179.177: „Die Ethik, in der in dieser Sache das genaue Gegenteil zu lesen steht, ist keine andere als das berühmte Buch von Nikolai Berdiajew, ,Von der Bestimmung des Menschen‘ 1935 […].“ Lieb, Berdjaev, 207. Berdjajew, Krisis, 17.21.

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matik steht, so wenn er schon früh davon redet, dass „der neue Mensch […] geschaffen werden“ müsse.82 Auch liest man nach dem Zweiten Weltkrieg in Barths Entwurf zum Darmstädter Bruderratswort Zum politischen Weg unseres Volkes vom 10. Juli 1947: „Wir sind in die Irre gegangen, indem wir es übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre ein von der Kirche weithin vergessenes wichtiges Element biblischer Wahrheit (Auferstehung des Fleisches!) neu ans Licht gestellt hat […].“83 Ganz problematisch ist schließlich Berdjajews klischeehafte Gegenüberstellung von trinitarischem Gottesglauben und angeblich alttestamentlich-islamitisch-calvinistischem Monotheismus – mit der Unterstellung, ein Gott, der nicht trinitarisch gedacht wird, sei ein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Im Blick auf das interreligiöse Gespräch der Gegenwart wird in dieser Beleuchtung umgekehrt die Frage zu stellen sein, ob nicht gerade Barths Verständnis der Trinität – anders als neuere, zum Tritheismus hin tendierende Trinitätslehren – eine geeignete Basis für das Gespräch mit Judentum und Islam über den Monotheismus darstellen könnte. Mit seinem Interesse für Luther, Kierkegaard und Nietzsche stellt Leo Schestow innerhalb der russischen Emigration in Paris gewissermaßen einen Gegenpol zu Nikolaj Berdjajew dar. Es ist aufgrund der genannten Beobachtungen kaum übertrieben, Schestow als einen dialektischen Theologen russischjüdischer Provenienz zu bezeichnen, und zwar gerade unter den vernunftkritischen, paradoxalen Aspekten, die Berdjajew als defizitär am ,Barthianismus‘ erschienen. Es sollte allerdings nicht verschwiegen werden, dass Barth spätestens mit dem ersten Teilband der Kirchlichen Dogmatik die Ahnenreihe Luther – Kierkegaard – Dostojewskij, auf die er sich in der zweiten Auflage des Römerbriefs zustimmend bezogen hatte, hinter sich gelassen hat, indem er „tunlichst Alles, was […] nach existenzphilosophischer Begründung, Stützung oder auch nur Rechtfertigung der Theologie allenfalls aussehen mochte, ausgeschieden“84 hat. Die damit einhergehende christologische Beruhigung der Dialektik hätte Schestow aus seiner jüdischen Perspektive heraus jedoch verweigert. Die Schlange war für ihn nicht etwa in Christus bereits „getötet“, wie Charlotte von Kirschbaum ihm und Buber nahelegen will.85 Die Tötung der Schlange blieb eine Aufgabe für jeden Tag. 82 Karl Barth, Die innere Zukunft der Sozialdemokratie (Vortrag vor den Sozialisten [Grütliverein] von Suhr vom 12. 8. 1915), in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, GA III.48, hg. v. H.-A. Drewes in Verbindung mit F.-W. Marquardt, Zürich 2012, 155. 83 Karl Barth, Entwurf vom 10. Juli 1947, in: Hartmut Ludwig, Die Entstehung des Darmstädter Wortes, JK 38, 1977, Beiheft zu H. 8/9, 30. 84 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 1. Halbd., München 1932, VIII [Vorwort]. 85 Vgl. Charlotte von Kirschbaum/Karl Barth, [Reisebericht], 12.

Harald Matern

Karl Barth und ,Amerika‘. Zur ökumenischen Produktivität des Missverständnisses

1.

Einleitung

Karl Barth gilt als „Pastor Pastorum Oecumenicus“1. Diese Einschätzung, die auf Barths enorme ökumenische Wirkung in akademischer Theologie und Pfarrerschaft verweist, ist mindestens überraschend: Zeit seines Lebens hat Barth sich innerhalb seiner Theologie nicht in erster Linie als ,weltoffen‘ gezeigt. Exemplarisch dafür ist seine Beteiligung an der Gründung des Ökumenischen Rats der Kirchen 1948 in Amsterdam.2 Dort bezeichnete Barth in einem separaten Treffen der Reformierten dieselben als „katholische Protestanten und protestantische Katholiken“3, während er gleichzeitig das Fernbleiben der römischen (wie der orthodoxen) Kirche freimütig als Werk der göttlichen Vorsehung darstellte. Barth stellte damit einen normativen Begriff der Kirche in den Mittelpunkt seines Amsterdamer Engagements, den er als neue Wiederbringung des Ursprünglichen inszenierte – und zwar am Ort seines eigenen Engagements. Die ökumenische Welt wird hier eher zum Material denn zum Kontext des theologischen Arguments. Und Barth steht dieser Welt gegenüber im Gestus prophetischer Rede. Noch unterstrichen wird dieser Gestus durch die Berufung auf die eschatologische Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, die an seine frühen

1 Willem Adolf Visser ’t Hooft, in: Karl Barth 1886–1968. Gedenkfeier im Basler Münster. Theologische Studien 100, Zürich 1969, zit. nach Michael Welker, Karl Barth – Vom Kämpfer gegen die „römische Häresie“ zum Vordenker für die Ökumene, in: Christian Möller u. a. (Hg.), Wegbereiter der Ökumene, Göttingen 2005, 156–177, 157. 2 Barth war an der konstituierenden 1. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Amsterdam 1948 mit dem Einführungsvortrag in das in vier Sektionen bearbeitete Hauptthema Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan beteiligt. Barths Vortrag erschien am selben Tag im Druck: Karl Barth, Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan, Zollikon 1948; wieder abgedruckt in: Karl Barth/Jean Dani8lou/Richard Niebuhr, Amsterdamer Fragen und Antworten, TEH 15, München 1949, 3–10. 3 Karl Barth, Unsere reformierten Kirchen und der Weltrat der Kirchen, in: Barth/Dani8lou/ Niebuhr, Amsterdamer Fragen, 11–15, 12.

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religiös-sozialistischen Zeiten erinnern mag, sowie die gleichzeitige Betonung des alleinigen Heilshandeln Gottes. Die Ambivalenz des ,prophetischen‘ Gestus (der Anspruch auf Katholizität und Revolution zugleich) ließ Barth nicht nur in der Presse als „Kommunisten“4 erscheinen. Er löste auch bei seinen theologischen Gesprächspartnern deutliche Kritik aus. Zwar teilte etwa Reinhold Niebuhr, der ebenfalls zu den Referenten gehörte, den ,eschatologischen Vorbehalt‘ Barths. Im menschlichen Handeln könne sich das die christliche Botschaft leitende Gesetz der Liebe nie vollständig darstellen. Dennoch liege es in der Verantwortung der Christen, wenigstens eine größtmögliche Annäherung an ein solches Ziel mit Anstrengung herbeizuführen. „[A]chieving a more perfect community in a technical age [must] be faced with a real sense of obligation“5, wie es in den Vorbereitungspapieren für sein Referat heißt. Auch der katholische Theologe Jean Dani8lou, der aufgrund päpstlicher Weisung an der Konferenz nicht teilnehmen konnte, schrieb eine scharfe Entgegnung auf Barths Vortrag.6 Gegenüber den kirchlich-praktischen und auch ethischen Bemühungen seiner Widerredner und auch anderer in Amsterdam Referierender, wie Emil Brunner,7 stellte Barth sehr deutlich sein Credo in den Vordergrund: „Wir werden es nicht sein, die diese böse Welt in eine gute verwandeln. Gott hat seine Herrschaft über sie nicht an uns abgetreten.“8 Vielmehr sei es die bleibende Aufgabe der Christen, „inmitten der politischen und sozialen Unordnung der Welt seine Zeugen, Jesu Jünger und Knechte“9 zu sein. Zeugen sein, Jünger sein, auf Gottes Handeln verweisen – mehr als kirchlich-praktische Handlungsanweisungen, stehen diese Formeln zugleich für ein ausgeklügeltes ekklesiologisches Programm, das den dynamischen und voll4 Barths Vortrag, der mit seiner Zentralstellung des Handelns Gottes deutlich antitriumphalistisch ausgerichtet war, wurde geradezu als politische Depotenzierung der Kirchen wahrgenommen, so„daß Karl Barth in der bürgerlichen Presse zum Kommunisten, in der Schweiz zum PdA-Mann oder politischen Naivling promoviert worden“ war, wie der Pfarrer und Lehrbeauftragte an der Universität Basel Bruno Balscheit bereits im selben Jahr resümierte; Bruno Balscheit, Die Weltkirchenkonferenz in Amsterdam und ihre Überraschungen, in: Neue Wege 42, 1948, 11, 517–525, 523. 5 Zit. nach Michael Plathow, Reinhold Niebuhr und die I. Weltkirchenkonferenz in Amsterdam 1948. Das christliche Zeugnis internationaler Verantwortung, in: Michael Plathow/Dietmar Schössler (Hg.), Öffentliche Theologie und internationale Politik. Zur Aktualität Reinhold Niebuhrs, Wiesbaden 2013, 59–74, 66, Anm. 19. 6 Die Entgegnungen Niebuhrs und Dani8lous finden sich in Barth/Dani8lou/Niebuhr, Amsterdamer Fragen, 16f. (Dani8lou, „Frage an Karl Barth“) und 25–29 (Niebuhr, „Wir sind Menschen und nicht Gott“). 7 Vgl. dazu Peter Zocher, Karl Barth und Emil Brunner nach 1945, in: Michael Beintker/ Christian Link/Michael Trowitzsch (Hg.), Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen 1935–1950. Widerstand – Bewährung – Orientierung. Beiträge zum Internationalen Symposion vom 1. bis 4. Mai 2008 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2010, 287–308. 8 Barth, Unordnung, 21f. 9 Ebd.

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zughaften, den ,lebendigen‘ Charakter der Kirche einzufangen sucht. Ob aber prophetischer Gestus oder Ekklesiologie im Vollzug: Wer Barth hierin nicht folgte, hatte mit harschen, bisweilen auch an die Grenze zur Beleidigung rückenden Kritiken zu rechnen. Hinter dieser öffentlichen ökumenischen ,Wirkung‘ oder Wahrnehmung Barths und der daraus vermeintlich abzuleitenden Intention steht ein theologisches Profil, das von einer spezifischen Dynamik lebt. Zwar hadert Barth mit ,Religion(en)‘ und ,Ökumene‘, aber gerade dadurch wird er zum weltweiten ökumenischen Phänomen. Allerdings geschieht dies in einer Weise, die nicht in jedem Fall der von ihm intendierten Lesart seiner Theologie oder seiner Person entsprochen hat, die aber gleichwohl als genuine Rezeption ,seiner‘ Theologie gelesen werden kann. Die These ist folglich, dass die ökumenische Welt, die anderen Konfessionen, andere Religionen, nicht einfach ,Folien‘ darstellen, die Barth als Hintergründe für die Entfaltung einer prophetisch-normativen und theologisch monomanischen Position ,benutzt‘. Vielmehr sind sie tatsächlich genuine ,Kontexte‘ seiner Theologie, ohne die diese nicht geworden wäre, was sie war. Barth wird nicht zu Unrecht als ,Pastor Pastorum Oecumenicus‘ bezeichnet. Allerdings betrifft dies die Rezeption seiner Theologie, die unabhängig von seiner ,Wirkung‘ oder auch seiner ,Intention‘ zu verstehen ist. Dies möchte ich im Folgenden am Beispiel ,Karl Barth und Amerika‘ demonstrieren. Ein wichtiger Hintergrund für das Verständnis der Rezeptionswege der Theologie Barths ist seine erstaunliche Fähigkeit zur Freundschaft, die nicht zu übersehende Bedeutung, die die Auseinandersetzung mit Gesprächspartnern unterschiedlichster Couleur für die Entwicklung, Verbreitung und Rezeption seiner Theologie hatte. Die Rezeption der Theologie Barths ist von der ,Wirkung‘ seiner Person kaum abzulösen – und bisweilen mag die Spannung zwischen Theologie und persönlichem Auftritt seine Gegenüber daran gehindert haben, der von Barth selbst intendierten Lesart seiner Gedanken zu folgen. Die frühe Rezeption Karl Barths in den USA ist dafür ein treffliches Beispiel. Sie begann Ende der 1920er Jahre, in einem Zeitraum, in dem Barth seine dezidiert ,Religions‘-kritische Theologie begrifflich auszuformulieren begann. Ansätze dazu lassen sich bereits in seinen ersten akademischen Vorlesungen finden, insbesondere in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Theologie Schleiermachers 1923/2410. Besonders aussagekräftig sind seine Ausführungen zum „Sanctissimum der Schleiermacherschen Theologie“11, der subjektivitätstheoretischen Grundlegung der Glaubenslehre in deren Paragraphen 3–6. Barth sah in dieser Grundlegung, die er unter dem Titel Die Religion behandelte, ein 10 Karl Barth, Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen, Wintersemester 1923/ 1924, GA II.11, hg. v. D. Ritschl, Zürich 1978. 11 AaO., 377.

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deutliches Missverständnis des Spezifikums des christlichen Glaubens dokumentiert.12 Gleichwohl konnte noch seine erste Dogmatikvorlesung in Göttingen, in deutlicher Anlehnung an Calvin und in Aufnahme wie Abgrenzung zur Theologie Albrecht Ritschls,13 unter dem Titel Unterricht in der christlichen Religion14 stehen. Auch noch die Christliche Dogmatik im Entwurf von 192715, die Barth in existenztheologischem Duktus formulierte, hatte noch nicht den ,Religions‘-kritischen Impetus der späteren Kirchlichen Dogmatik. Gleichwohl prägte alle diese frühen dogmatischen Hauptwerke der Gedanke, dass eine theologisch gehaltvolle Beschreibung menschlich-religiöser Vollzüge von dem dialektischen Geschehen der göttlichen Selbsterschließung und nicht primär vom menschlichen Erschließungsvermögen des Göttlichen auszugehen habe, sei dies nun in der spekulativen Vernunft, der Intuition oder den Prozessen der Willensbildung angesiedelt. Mehr und mehr trat für Barth an die Funktionsstelle der ,Religion‘ im Rahmen der dogmatischen Grundlegung der Begriff des Glaubens, eine Entwicklung, die in Fides quaerens intellectum16 von 1931 in der Auseinandersetzung mit Anselm zum ersten Mal methodisch vollständig durchgeführt wurde und im berühmten ,Religionsparagraphen‘ (§17), Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion in der Kirchlichen Dogmatik I/217, einen vorläufigen Abschluss fand. Zwar hat sich Barth von Beginn an gegen eine solche Interpretation gewehrt – dennoch liegt die funktionale Äquivalenz von Glaubens- und Religionsbegriff (wie sie etwa Rudolf Bultmann früh diagnostizierte18) auf der Hand, wenngleich 12 Vgl. aaO., 383f. 13 Zur Kontinuität der frühen Theologie Barths zur ritschlschen Schule vgl. Folkart Wittekind, Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916), BHTh 113, Tübingen 2000. 14 Vgl. Karl Barth, Unterricht in der christlichen Religion, Teil 1: Prolegomena (1924), GA II.17, hg. v. H. Reiffen, Zürich 1985; Ders., Unterricht in der christlichen Religion, Teil 2: Die Lehre von Gott/Die Lehre vom Menschen (1924/25), GA II.20, hg. v. H. Stoevesandt, Zürich 1990; Ders. Unterricht in der christlichen Religion, Teil 3: Die Lehre von der Versöhnung/Die Lehre von der Erlösung (1925/26), GA II.38, hg. v. H. Stoevesandt, Zürich 2003. 15 Karl Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, Bd. I: Die Lehre vom Worte Gottes, Prolegomena zur christlichen Dogmatik (1927), GA II.14, hg. v. G. Sauter, Zürich 1982. 16 Karl Barth, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis für die Existenz Gottes (1931), GA II.13, hg. v. I. U. Dalferth/E. Jüngel, Zürich 1981. 17 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2. Teilbd., Zollikon-Zürich 1938. 18 „[D]er ,Glaube‘ und immer wieder der ,Glaube‘ war für Bultmann das Zentrum dessen, was ihn an meinem Buch […] interessierte und [was er] lobenswert fand. Was ich nach ihm vom ,Glauben‘ vorgebracht hatte, das konnte er mühelos mit dem in eine Reihe stellen, was Schleiermacher, was R. Otto, was E. Troeltsch unter dem Titel ,Religion‘ verhandelten.“; Karl Barth, Nachwort, in: Heinz Bolli (Hg.), Schleiermacher-Auswahl. Mit einem Nachwort von Karl Barth, München/Hamburg 1968, 290–312, 301.

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mit ihr auch eine Verschiebung des Fokus’ intendiert ist. Diese kritische Umbesetzung des Religionsbegriffs fand, unbenommen aller methodischen Wandlungen, die Barths Theologie in dieser Zeit durchlief, ein beständiges Widerlager in einem eminent kirchlich-praktischen Interesse, das schließlich zur Entscheidung für eine explizit ,Kirchliche‘ Dogmatik führte. Allerdings war dieses kirchlich-praktische Interesse von einem spezifisch anderen Charakter als dasjenige der theologischen Kontrahenten Barths – wie es exemplarisch in den Auseinandersetzungen um Amsterdam 1948 deutlich wurde. Im Zusammenhang dieser theologischen Religionskritik gerieten auch das Phänomen sowie der Begriff ,Amerika‘ für Barth in den Fokus. Auf der anderen Seite wurde Barths Theologie dort nicht unter Absehung von ihren religionspraktischen, personellen und kirchlichen Implikationen aufgenommen und weiterverarbeitet. Barth wurde als prophetische Gestalt rezipiert – daran änderte auch eine Schweizerische Intervention nichts, die von Barths früherem Genfer Lehrpfarrer, dem Ökumeniker Adolf Keller19, ausging. Es ist, neben anderen, dieser ,Link‘ auf den ich im Folgenden näher eingehen möchte.

2.

Amerika bei Barth und Barth in Amerika20

Bekanntlich ist Barth nur ein einziges Mal in die USA gereist, obwohl der Plan dazu bereits früh gefasst war – und sich aufgrund der Reisen Brunners21 und der Emigration Tillichs22 auch geradezu aufdrängte. „Ja, wir wollen einmal nach Amerika fahren, bevor wir reif für Riehen23 werden“, schrieb Barth am 9. Februar 1929 an Eduard Thurneysen. Mitnehmen sollte man unter anderem den befreundeten Pratteler Pfarrer „Lukas Christ als Rausschmeißer im Fall von Zusammenstößen mit den theologischen Eingeborenen.“24 Zu dieser Reise kam es, nach mehreren Anläufen, aber erst 1962.25 19 Zu Kellers Leben und Werk vgl. grundlegend Marianne Jehle-Wildberger, Adolf Keller (1872–1963). Pionier der Ökumenischen Bewegung, Zürich 2008. 20 Vgl. zur frühen Rezeption Barths in den USA (mit besonderem Fokus auf Cornelius Van Til) George Harinck, „How Can an Elephant Understand a Whale and Vice Versa?“ The Dutch Origins of Cornelius Van Tils Appraisal of Karl Barth, in: Bruce L. McCormack/Clifford B. Anderson (Hg.), Karl Barth and American Evangelicalism, Cambridge 2011, 13–41. 21 Emil Brunner war 1928 zu einer Vortragsreise in die USA aufgebrochen. Vgl. Frank Jehle, Emil Brunner. Theologe im 20. Jahrhundert, Zürich 2006, 241–244. 22 Paul Tillich emigrierte Ende 1933 in die USA. 23 Riehen ist ein zu jener Zeit noch recht kleiner Vorort von Basel. Das ,Hiisli in Riehen‘ bzw. ,Riehen‘ steht in der Korrespondenz Barths häufig (und so auch hier) für den Ruhestand. 24 Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 9. 2. 1929, in: Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 1921–1930, GA V.4, hg. v. E. Thurneysen, 649–656, 651. 25 Die genaueren Umstände sind aktuell Gegenstand eines Forschungsvorhabens von Jessica de Cou. In jüngerer Zeit ist auch ein Sammelband erschienen, der sich mit den genaueren

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Auch wenn Barth die USA erst gegen Ende seines Lebens bereiste, spielte die Auseinandersetzung mit seiner Vorstellung von Land und Theologie zeitlebens eine erhebliche Rolle für ihn. Der vielleicht erste wichtige Kontakt mit dem USamerikanischen Christentum bestand für ihn in der Begegnung mit John Mott. Der charismatische Methodist, der in der Young Men’s Christian Association und der World Student Christian Federation engagiert war, besuchte 1911 mehrere Schweizer Universitäten. Barth begegnete ihm noch als Vikar in Genf und zunächst mit einigem Misstrauen, als „normaler Mitteleuropäer, dem nun einmal die Ideen-Assoziation: Amerika-Humbug tief im Blute sitzt“26. Dennoch entwickelte Barth eine besondere Faszination für den dynamischen Mott, die insbesondere dessen Auftreten betraf. Als einen „Kometen, der über unsern Himmel zog“27 konnte Barth ihn bezeichnen. Das allerdings besserte sein Amerikabild nicht unbedingt auf. In einer Predigt von 1913, bereits in Safenwil, wettert Barth über „[d]ie Spekulanten in Amerika drüben, die durch geschickte Manöver alle Ware in ihre Hände bringen und dann die Preise steigern, so weit es geht…“28. Und im Konfirmandenunterricht, im Blick auf die Frage, wer ein befreiter Mensch sei, fragt er : „Sind die Safenwiler befreite Menschen? Seid ihrs? Ja u. Nein. Die Fabriken. Die Quellen alles Glücks! Ohne sie keine Ziegeldächer, keine Kirche, keine Schule! Ihr vielleicht in Amerika! Aber die Geldgier? Und der Luxus? Und die Abstumpfung? Und die Tuberkulose? Und die schlechten Gewohnheiten?“29 Hyperkapitalismus und moralische Heuchelei waren für Barth, neben einer ungeheuerlichen Dynamik, die Kennzeichen von ,Amerika‘. In einer Göttinger Vorlesung über Calvin spricht Barth im Blick auf die USA von der „großen moralischen Verflachung, mit einer höchst betriebsamen, erstaunlich sichtbaren Kirchlichkeit, die aber von Furcht und Zittern vor Gottes Gnade [vgl. Phil. 2, 12], dem Grund und Sinn aller Kirchlichkeit, wenig mehr weiß“30. Ein Jahr später sind es der „übelste[…] Historismus und Psychologismus“, dem man „nach

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Entstehungsumständen der Vorlesungsreihe beschäftigt, die Barth in den USA hielt und die später als Einführung in die evangelische Theologie sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch veröffentlicht wurde, vgl. Clifford B. Anderson/Bruce McCormack (Hg.), Karl Barth and The Making of Evangelical Theology. A Fifty-Year Perspective, Cambridge 2015. Karl Barth, John Mott und die christliche Studentenbewegung (1911), in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1909–1914, GA III.22, hg. v. H.-A. Drewes/H. Stoevesandt, Zürich 1993, 266–284, 270. Ebd. Karl Barth, Predigt vom 30. 11. 1913 (I. Advent): Jesaja 65,17–25, in: Karl Barth, Predigten 1913, GA I.8, hg. v. N. Barth/G. Sauter, 614–629, 621f. Karl Barth, Konfirmandenunterricht 1915/16, in: Ders., Konfirmandenunterricht 1909– 1921, GA I.18, hg. v. J. Fangmeier, Zürich 1987, 107–146, 115. Karl Barth, Die Theologie Calvins 1922, GA II.23, hg. v. H. Scholl, Zürich 1993, 239.

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zuverlässigen Berichten in Amerika“31 huldige. Woher genau Barth seine Kenntnisse an dieser Stelle hat, ist nicht auszumachen. Bestätigt wird er in seinen kritischen Invektiven gegen Amerika und den Amerikanismus von seinem Freund Eduard Thurneysen. In einem Brief von 1925 schreibt dieser an Barth: „Amerika scheint auch auf dem Religionsmarkt als der große Aufkäufer auftreten zu wollen; seinem Kapitalismus entspricht ein unsäglich gottloses, antireformatorisches methodistisches Massenbekehrungs- und Seeleneinfängerchristentum, das mit amerikanischem Optimismus wahrscheinlich gerade auf den von Adolf Keller so gepriesenen Weltkonferenzen gewaltig und gewaltsam propagiert werden wird.“32 Einer nun beginnenden Rezeption der Theologie Barths in den USA stand auf dessen Seite ein wahrer Popanz von Amerikabild gegenüber, das in sich alle Übel sozialer und theologischer Natur vereint, gegen die die sich entwickelnde Theologie Barths sich richtete beziehungsweise richten sollte. Als erstes amerikanisches Buch über Barth gilt Finley D. Jenkins’ Germany’s New Paradox Theology33, das 1926 erschien. Bekannter wurde Barth aber durch Douglas Hortons Übersetzung der Aufsatzsammlung Das Wort Gottes und die Theologie34, die 1928 erschien. Im selben Jahr publizierte Horton einen kurzen Text im Christian Century mit dem Titel God lets loose Karl Barth35. In derselben dynamischen Weise wie Barth John Mott als ,Kometen‘ einstufte, wird hier Barth von Horton als ein geißelnder Wirbelwind präsentiert, der im deutschen akademischen wie kirchlichen Protestantismus wüte und hohe Wellen der Aufmerksamkeit erhalte. Befürworter und Kritiker hätten dabei jedenfalls Eines gemeinsam: „Die Spitze der Ehrerbietung gegenüber der Person Barth ist die nahezu allgegenwärtige Anerkenntnis religiöser Verpflichtung, die sogar seine Kritiker ihm entgegengebracht haben. [Übers. HM]“36 Barth wird von Horton als prophetische Gestalt inszeniert, der ein erhebliches religiöses Erneuerungspotential innewohnt. Horton versteht sich sogar zu der Aussage, dass „Karl Barth, kurz gesagt, eine Reinkarnation Johannes Calvins ist. [Übers. HM]“37 Ein neuer 31 Karl Barth, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften 1923, GA II.30, hg. v. der Karl-Barth-Forschungsstelle der Universität Göttingen unter der Leitung v. E. Busch, Zürich 1998, 47. 32 Eduard Thurneysen, Brief an Karl Barth vom 21. 7. 1925, in: Barth – Thurneysen, Briefwechsel 1921–1930, 349–358, 354. 33 Finley D. Jenkins, Germany’s New Paradox Theology, Princeton 1926. 34 Karl Barth, The Word of God and the Word of Man, übers. v. D. Horton, London/Boston/ Chicago 1928. 35 Douglas Horton, God lets loose Karl Barth, in: Christian Century, February 16, 1928. Online unter http://www.religion-online.org/showarticle.asp?title=467 (letzter Zugriff am 23. November 2016, o.S.). 36 „The crowning tribute to the man Barth is the almost universal acknowledgment of religious debt which even his critics have made to him.“; vgl. ebd. 37 „Karl Barth, in a word, is a reincarnation of John Calvin“; vgl. ebd.

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Calvin, der allerdings seine eigene Bibel im Gepäck hat, den Römerbriefkommentar, ein Heiliges Buch: „Es ist in seiner Paradoxalität und seinem Mangel an argumentativer Struktur ein wahrhaftiger Koran [Übers. HM].“38 Die Rezeption der Schriften Barths erfolgte nicht unabhängig vom Eindruck, den die Person Barth erweckte, ja sie stand nahezu im Schatten dieser prophetischen Gestalt. Das nächste amerikanische Werk zu Barth erscheint parallel zu zwei europäischen englischsprachigen Monographien, The Teaching of Karl Barth – an Exposition von Richard Birch Hoyle, London 1930, und The Significance of Karl Barth, 1931 ebenfalls in London, von John McConnachie, der wesentlich für die schottische Barth-Rezeption verantwortlich zeichnete. The Karl Barth Theology or the New Transcendentalism39 von Alvin Sylvester Zerbe erschien dann 1930 in Cleveland, Ohio. Zerbe war ein Altreformierter, Professor für Altes Testament, der nicht nur durch seine Kritik Barths sondern vor allem durch die Kritik der Evolutionstheorie Darwins bekannt geworden war. Sein Buch zu Barth ist ein Alterswerk. Er interpretiert Barths Theologie nicht als Theologie sondern als eine „abstruse Philosophie“40, als einen „Neuen Supernaturalismus oder besser einen NEUEN TRANSZENDENTALISMUS in Verbindungmit einem kosmischeschatologischen Dualismus [Übers. HM] “41. Zerbe hat hier die Theologie der zweiten Auflage des Römerbriefkommentars aber auch Das Wort Gottes und die Theologie vor Augen und versteht Barths Epistemologie als kantisch inspiriert. Barthianismus sei „eine allumfassende Weltanschauung, möglicherweise die originellste und umfassendste, sicherlich aber die radikalste und revolutionärste der jüngeren Zeit [Übers. HM]“42. Der Barthianismus stiftet Verwirrung, weil er die traditionellen Lehrbestände in einem neuen Arrangement präsentiert und ist jedenfalls als Theologie abzulehnen. Im strengeren Sinn sei er nicht „eine Verteidigung oder Darstellung der protestantischen Lehre, wie sie bisher verstanden wurde, sondern eine kosmische Philosophie, in der die grundlegenden Lehren von Gott, Mensch, Sünde, Erlösung, der Bibel, Zeit und Ewigkeit in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt werden und eine Bedeutung erhalten, die sich völlig von den alten Glaubensweisen und Bekenntnissen unterscheidet. Es ist ein theologischerUmbruch, bei dem kaum ein Stein an seinem ursprünglichen Ort bleibt [Übers. HM]“43. 38 „It is a veritable Koran for paradox and want of sequence“; vgl. ebd. 39 Alvin Sylvester Zerbe, The Karl Barth Theology or The New Transcendentalism, Cleveland/ Ohio 1930. 40 Eine „abstruse philosophy“; aaO., V. 41 „…[a] New Supernaturalism or rather a NEW TRANSCENDENTALISM combined with a Cosmic-Eschatological Dualism“, aaO., VII. 42 „…an all-inclusive world-view, probably the most original and comprehensive, certainly the most radical and revolutionary of recent times“, aaO., IX. 43 „Barthianism strictly is not a defence or exposition of protestant doctrine as heretofore understood, but a cosmic philosophy in which the fundamental doctrines of God, man, sin, redemption, the Bible, time and eternity are in a new setting and have a meaning entirely

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Zerbe wie auch Birch Hoyle bedienen sich für ihre Auseinandersetzung mit der Theologie Karl Barths nicht nur an dessen Schriften, sondern auch ausführlich aus einer wenige Jahre zuvor erschienenen Darstellung Max Strauchs44 – ein weiterer Beleg für die vielfältigen Vermittlungen, die die frühe Barth-Rezeption in den USA bedingen und prägen. Cornelius Van Til, ein konservativer Presbyterianer, der gemeinsam mit anderen (unter anderen John Gresham Machen) das Princeton Theological Seminary aus Protest gegen den dort herrschenden ›Modernismus‘ verlassen hatte, schreibt im folgenden Jahr in einer Rezension des Buches von Zerbe begeistert: „Der Autor begann seine Auseinandersetzung mit den Schriften Barths mit einem wahren historischen Sinn und einiger Kenntnis seiner Reformationstheologie. Daher wird er kaum der übereilten Identifikation von Calvinismus und Barthianismus zustimmen [wie sie etwa bei Douglas Horton begegnet, HM]. […] Wir sind daher der Überzeugung, dass das Buch dieses Autors zu dem äußerst wünschenswerten Ergebnis beitragen wird, dass jeder Zweig der Reformierten Kirche dem Barthianismus mit Nachdruck absprechen wird, eine legitime Spielart der Reformierten Theologie zu sein. [Übers. HM]“45

Der Vorschlag Van Tils, in der Gefolgschaft Zerbes Barths Theologie als philosophisch und daher unorthodox zu delegitimieren und sie damit gewissermaßen zu exkommunizieren, wird flankiert von einer weiteren, stärker religionskritisch auftretenden Position. Es handelt sich um Wilhelm Paucks 1931 erschienenes Buch Karl Barth, Prophet of a New Christianity46. Der deutschstämmige Kirchenhistoriker Pauck, der später als Biograph Paul Tillichs47 bekannt wurde, kann sehr viel ausführlicher auf den bislang erschienenen Textbestand zugreifen. Dennoch liegt der Skopus seiner Kritik nicht ausschließlich auf der Theologie Barths. Hier kritisiert er insbesondere Barths Ablehnung der historischkritischen Methode, kann sich jedoch durchaus mit seiner Liberalismuskritik anfreunden. Wirklich problematisch ist für Pauck allerdings Barths ,prophetische‘ Selbstinszenierung. Hierin sieht er nicht in erster Linie ein theologisches,

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different from the old creeds and confessions. It is a theological upheaval in which scarcely one stone remains in its original place“, aaO., IX, 270. Vgl. Max Strauch, Die Theologie Karl Barths, München 1925. „The author came to the study of Barthianism with a true historic sense and a knowledge of his Reformation theology. Accordingly he will have nothing of the hasty identification of Calvinism and Barthianism. […] We believe therefore that the author’s book will be conducive to the highly desirable end that every branch of the Reformed churches will resolutely disown Barthianism as an offshoot of Reformed theology“, Cornelius van Til, Review of: The Karl Barth Theology or The New Transcendentalism, by Alvin S. Zerbe, in: Christianity Today 1/10 (Feb 1931), 13f. Wilhelm Pauck, Karl Barth, Prophet of a New Christianity?, London, UK/New York 1931. Vgl. Wilhelm Pauck/Marion Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken. Bd. 1: Leben, Frankfurt a.M. 1978.

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sondern ein religionspraktisches Problem. Denn in einer kirchlichen Umbruchsituation warteten viele Amerikaner geradezu auf den „Propheten und den Philosophen, der uns sagen könnte, was wir denken und glauben sollten [Übers. HM]“48. In dieser Situation werde Barth zum „Propheten einer neuen Orthodoxie [Übers. HM]“49 oder auch zum „Propheten einer neuen Ära des Protestantismus [Übers. HM]“50, dem die Überbrückung der Kluft zwischen Modernismus und Orthodoxie auf einem Mittelweg zu gelingen scheine. Dieser Mittelweg wirke genau deswegen gangbar, weil Barths Theologie dezidiert untheologisch, je geradezu philosophisch daherkomme.51 Allerdings eigne diesem religiösen Philosophen die Kraft des Verführers; das ,Prophetische‘ an Barths Theologie sei ihre Kraft und ihre Gefahr, denn sie sei zur Mobilisierung unkritischer Massen geeignet. Über diesen Beginn der Rezeption seiner Theologie in den USA war Barth einigermaßen entsetzt. Er fühlte sich fundamental missverstanden – ein Phänomen, das ja auch aus dem deutschen Sprachbereich nicht unbekannt ist.52 Schon 1927 hatte Barth sich selbst von der ,prophetischen‘ Rezeption seiner Theologie distanzieren wollen. Er verstand die schrittweise Dogmatisierung und Akademisierung seiner Theologie, die auch durch den Ruf auf die Göttinger Honorarprofessur für Reformierte Theologie Ende Januar 1921 bedingt war, als Abkehr vom prophetischen Gestus der frühen Phase.53 Fachtheologie, so der Gedanke, gehe zwar keinesfalls mit einer Abkehr von der ,gelebten Religion‘ einher. Gleichwohl ist sie wie diese ein (wenngleich systematisch ausgearbeiteter) Deutungsvorgang, der gerade nicht selber seine Gegenstände hervorbringen dürfe. „Um Religion gerade nicht professionsreflexiv substantialistisch als Lebensvollzug sui generis zu deklarieren und damit im Grunde ,am Leben vorbei‘ zur ,Privatsache‘ zu erklären, identifiziert Barth als Gegenstand professionell reflektierter Religion den reflektierten Selbstvollzug menschlichen Lebens

48 … for the „prophet and for the philosopher who can tell us what we ought to think and to believe“; Pauck, Barth, 6. 49 „prophet of the new orthodoxy“; aaO., 40. 50 „prophet of a new era in Protestantism“; aaO., 62. 51 Pauck spricht von „Barth’s theology or shall we say his religious philosophy?“; aaO., 74. 52 Bereits die ersten Fassungen seines Römerbriefs wurden von der Kritik sehr unterschiedlich aufgenommen und Barth empfand sein Anliegen als nicht ausreichend gewürdigt. Vgl. besonders die Vorworte der unterschiedlichen Auflagen in Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) (1922), hg. v. C. van der Kooi/K. Tolstaja, GA II.47, 2010 Zürich. 53 Die Christliche Dogmatik im Entwurf war für Barth geradezu der Abschied von der „Prophetengebärde“, die seine ,vordogmatische‘ Theologie geprägt hatte, vgl. Barth, Christliche Dogmatik, 8; vgl. dazu: Georg Pfleiderer, Das prophetische Amt der Theologie. Zur systematischen Rekonstruktion der Theologie Karl Barths und ihres Entwicklungsgangs, ZdTh 17, 2001, 112–138.

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selbst.“54 Diese Aufstufung, die mit der Wendung von der ,Religion‘ zum ,Glauben‘ einhergeht, erfordert aber gerade von der Theologie eine systematische Gestalt und einen Modus des Arguments, der sich vom unmittelbaren religiösen Vollzug sowie von dessen Deutungsgestalt deutlich unterscheidet. Die „Erhebung zu einem beamteten ,Subjekt wissenschaftlicher Theologie‘“55 brachte für Barth die Notwendigkeit mit sich, den Impetus und Furor der ersten wie der der zweiten Fassung des Römerbriefs in eine systematische Gestalt zu überführen: „Die ,Bewegung‘ hörte auf. Die Arbeit begann.“56 ,Amerika‘ stand nun für genau die Formen von Religion und Theologie, die Barth als subprofessionell verstand. Allerdings: Trotz aller Invektiven gegen ,Amerika‘ sang Barth doch regelmäßig mit seinen Studierenden zum Semesterabschluss das ,Lied der Schweizer Auswanderer‘, das er selbst auch als ,Amerikalied‘ bezeichnete.57 Die Ablehnung von und die Sehnsucht nach ,Amerika‘ gingen in einer seltsamen Melange hier Hand in Hand. Umso empfindlicher musste Barth auf das ,Missverständnis‘ seiner Theologie in den USA reagieren. Am 24. Dezember 1931, am Weihnachtsabend, schrieb Barth erbost an Pauck: „Weder haben Sie mich richtig verstanden […]. Noch haben Sie einen verheissungsvollen und lehrreichen Angriff auf mich gemacht.“58 Nicht nur das theologische Missverständnis, sondern auch die Darstellung Barths als Prophet hatte einen wunden Punkt in Barths Selbstverständnis getroffen. „Ist es Ihnen bekannt oder nicht, daß ich mich verdrießlich abgewandt habe, wenn Leute die Dummheit begingen, in Bezug auf mich lobend oder tadelnd mit dem Begriff des ,Propheten‘ zu jonglieren? Habe ich Anlaß dazu gegeben? Habe ich je einen anderen Ehrgeiz geäußert als den, ein guter, aber gewöhnlicher Theologe zu sein?“59 Im folgenden Jahr – auch in diesem erschien eine weitere literarisch-theologische Apostrophierung Barths als eines „Propheten“60 – schrieb Barth An den Pfarrer Alfred Funck, Miller/Süddakota, USA, 1932: „In Amerika gute Theologie 54 Lars Charbonnier, Religion im Alter. Eine empirische Studie zur Erforschung religiöser Kommunikation, Berlin/Boston 2014, 38. 55 Vorwort zum Nachdruck der ersten Fassung des Römerbriefs von 1963, in: Karl Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) (1919), hg. v, H. Schmidt, Zürich 1985, 5–9, 9. 56 Karl Barth, Rückblick, in: Hans Dürr u. a. (Hg.), Das Wort sie sollen lassen stahn. Festschrift für Albert Schädelin, Bern 1950, 1–8, 5. 57 Vgl. Wolfgang Trillhaas, Karl Barth in Göttingen, in: Dietrich Roessler/Gottfried Voigt/ Friedrich Wintzer (Hg.), Fides et communicatio. Festschrift für Martin Doerne zum 70. Geburtstag, Göttingen 1970, 362–375, 364. 58 Karl Barth, Brief an Wilhelm Pauck vom 24.12. 1931, KBA 9231.407 [unveröffentlichtes Manuskript]. 59 Ebd. 60 William L. Wood, Karl Barth, Prophet and Theologian, in: AThR 14, 1932, 13–33.

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zu treiben, muß ganz besonders schwer sein! Mich beschäftigte gerade in der Weihnachtszeit das Buch, das Prof. Wilhelm Pauck in Chicago über mich geschrieben hat. Ich konnte nur staunen darüber, wie völlig dieser Mann, der noch dazu ein ursprünglich deutscher Theologe ist und 1922 ein Semester auch bei mir gehört hat, an mir (und nicht nur an mir!) vorbeigeschrieben hat.“61 Pauck habe ihn als „Philosophen verstanden und damit mißverstanden“62. Und weiter : „Die Eindrücke von der amerikanischen Kirche und Theologie, die ich aus dem Buche von Pauck empfing, waren alles in allem erschütternd: ein einziges von Glockenklang, Orgelspiel, Missions- und Sozialarbeit angenehm begleitetes Hineinlaufen in den wüstesten, nämlich in den frommen Atheismus, möchte man sagen.“63 Beide Deutungsvorschläge aus den USA, beide Hoheitstitel: den des Philosophen und den des Propheten, lehnt Barth entschieden ab. Denn beide treffen das Spezifikum seines Theologieverständnisses gerade nicht, verweisen sie doch auf reflexiv ungebrochene Religion (Prophet) oder reflexive Religionsdistanz (Philosoph) und verfehlen damit die besondere Verbindung von religiöser Deutung und Deutungsreflexion, die Barth seiner Theologie verleihen will. Auch hat sich das Amerikabild Barths durch diese Rezeption seiner Werke in den USA nicht geändert. Was nach seiner Einschätzung für die amerikanische Gesellschaft insgesamt zutrifft, scheint sich durchweg auch in den dortigen Kirchen zu bewahrheiten: Flachheit, Schalheit, ,frommer Atheismus‘, eine Art seichter religiöser Rummelplatz. Erst ein persönlicher Kontakt, der auch den Beginn der intensiveren und letztlich maßgeblichen Rezeptionsgeschichte der Theologie Barths in den USA markiert, sollte dazu führen, dass sich dieses Bild nach und nach wandelte. In der Gerinnungsphase der Theologie der Kirchlichen Dogmatik, in den Bonner Jahren, traf Barth auf John Mackay. Dieser Aktivist der Young Men’s Christian Association war, nach mehreren globalen Stationen, mit seiner Familie 1930 unter anderem wegen Barth für vier Monate nach Bonn gezogen. Mackay besuchte Barths Vorlesungen und wurde nach einigen Wochen zu dessen privatem Englischlehrer. Insbesondere die Ethikvorlesungen verfolgte er mit großem Interesse. Zu der Faszination, die Barths Theologie auf ihn ausübte, trat noch stärker die Begeisterung für die Person Barths – bei dem wiederum Mackay einen tiefen Eindruck hinterließ, umso mehr, als Barth vorher keinen intensiveren persönlichen Kontakt mit der englischsprachigen Welt gehabt hatte.64 Mackay interpretierte die Theologie Barths vor dem Hintergrund

61 Karl Barth, An den Pfarrer Alfred Funck, Miller/Süddakota, USA, 1932, in: Karl Barth, Offene Briefe 1909–1935, GA V.35, hg. v. D. Koch, Zürich 2001 Zürich, 165–169, 168. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Cambria Janae Kaltwasser, „Transforming Encounters“. The Friendship of Karl Barth and

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seines eigenen Interesses an Mystik und spiritueller Erfahrung. Als theologischer Barthianer konnte Mackay sich nicht verstehen, zumindest nicht in dem von Barth intendierten Sinn (der ohnedies die ,Barthianer‘ mit einigem Spott betrachtete65). Vielmehr verbanden sich bei ihm die eigenen Interessen nur sehr lose mit Barthschen Gedanken. Ironischerweise ist es genau eine solche existentialistische oder auch realistische Lesart der Theologie Barths, die Mackay in die USA exportierte. Dabei wurde er, nolens volens, zum Prediger einer Figur, nicht aber deren mittlerweile gewandelten Sachanliegens.66 1932 hielt Mackay eine Vorlesung über Prophetic Thinkers und stellte Barth in eine Reihe mit Kierkegaard, Dostojevsky, dem Spanier Miguel Unamuno und Nietzsche – eine Reihung die Barth, wenngleich er sie in der Zweitfassung seines Römerbriefkommentars in ähnlicher Weise selbst nahegelegt hatte,67 nun nicht mehr schätzen konnte. Ein Missverständnis der Theologie Barths – und ein erneutes Zerrbild seiner Person als ,Prophet‘? Gleichwohl war es Mackay, der, nachdem er in die USA zurückgekehrt war, für die Verbreitung der ,Sache‘ Barths Sorge trug. 1936 wurde Mackay Präsident des Princeton Theological Seminary und blieb bis 1960 in diesem Amt. Kurze Zeit vorher war es dort zum Bruch zwischen Modernisten und Orthodoxen gekommen, besagter Auseinandersetzung, die dazu führte, dass einige konservativer gesinnte Theologen das Seminary verließen. Erst dadurch konnte das PTS zum Hort nicht nur der dialektischen Theologie sondern des theologischen Modernismus insgesamt werden. ,Amerika‘ wird unterdessen bei Barth zum Inbegriff dessen, was er unter dem Titel ,Religion‘ perhorresziert: Der ,Amerikanismus‘ selbst wird gar als Religion dargestellt. In dem Artikel Fragen an das „Christentum“, der zuerst 1931 im Zofinger Zentralblatt erschien, tadelt Barth den „Amerikanismus mit seinen undiskutierbaren Göttern Gesundheit und Behaglichkeit, denen in helläugigem Egoismus, verbunden mit einer brillanten Technik und gesalbt mit einer primitiven, aber unverwüstlich optimistischen Moralität, zu dienen ihren Gläubigen längst jenseits aller Reflexion so selbstverständlich ist, wie das Atmen.“68 Barths kulturkritische Äußerungen haben hier eine Pointe, die deutlich auf sein ,religions‘-kritisches Theologieverständnis verweist. Diejenige Reflexivität,

65 66 67 68

John Mackay, in: Clifford B. Anderson/Bruce L. McCormack (Hg.), Karl Barth and the making of Evangelical Theology. A Fifty-Year-Perspective, Michigan 2015, 178–193, 183f. Vgl. exemplarisch nur Karl Barth, Brief an Eduard Thurneysen vom 8.6. 1924, in: Barth–Thurneysen, Briefwechsel 1921–1930, 258. „Despite his reluctance to jump onto the Barthian bandwagon, it seems that he had become something of an evangelist for the man himself“; Kaltwasser, Transforming Encounters, 185. Barth nennt hier „Abraham, Jeremia, Sokrates, Grünewald, Luther, Kierkegaard, Dostojewski“ als seine geistigen Vorfahren, vgl. Barth, Römerbrief (Zweite Fassung), 164. Karl Barth, Fragen an das „Christentum“ (1931), in: Ders., Vorträge und Kleinere Arbeiten 1930–1933, GA III.49, hg. v. M. Beintker/M. Hüttenhoff/P. Zocher, 2013 Zürich, 141–155, 147.

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die Barth für den christlichen Glauben (im Gegensatz zur ,Religion‘ oder ,Frömmigkeit‘) in Anspruch nimmt, fehlt dem „Amerikanismus“– und damit trifft auf ihn als Weltanschauung dasselbe Verdikt zu, das wenige Jahre später für die ,Religion‘ gelten soll: „Religion ist Unglaube“69. Die amerikanische Theologie ist intellektuell unterbelichtet, die amerikanische Kirchlichkeit moralistisch und triumphalistisch, der gesamte Amerikanismus ist eine politische Ideologie, die in funktionaler Hinsicht als Religion bezeichnet werden kann: Das Amerikabild Barths ist so eindeutig wie undifferenziert – ähnlich, wie das Barthbild in den USA. Vor diesem Hintergrund unternahm der Schweizer Ökumeniker Adolf Keller eine Intervention.

3.

,Weltadolf‘– eine Schweizer Intervention

Adolf Keller war in unermüdlichem Einsatz für die Sache der Ökumene, die er durchaus politisch-praktisch verstand. Er setzte sich für eine Bejahung des Völkerbunds durch die Kirchen ein und vertrat insgesamt ein eher funktionales Bild der Religion, die sowohl als Wertproduzentin wie auch als caritative Kraft ihren Ort in den modernen Gesellschaften habe.70 Aufgrund seines Engagements für die Weltkirchenkonferenzen hatte der frühere Lehrpfarrer Barths sich bei den Dialektikern den despektierlichen Spitznamen „Weltadolf“71 zugezogen. Dennoch verband Keller und Barth eine lebenslange Freundschaft, die häufige Male einseitig – selbstverständlich von Keller – am Leben erhalten wurde. „Weltadolf“ war nicht nur kirchlich und kirchenpolitisch tätig, sondern auch literarisch. Bereits 1921 hatte er mit seinem Buch Dynamis72 versucht, dem deutschsprachigen Publikum die US-amerikanische kirchliche und theologische Landschaft nahezubringen. Nun nahm seine transatlantische Initiative die andere Richtung. 1931 hatte Keller ein Buch über den Weg der dialektischen

69 Barth, KD I/2, 327. 70 Vgl. auch Harald Matern, Ekklesiologie und Politik bei Adolf Keller, in: Martin Hirzel/Martin Wallraff (Hg.), Ökumene in Wahrheit und Liebe. Beiträge zu Werk und Leben des Schweizer Theologen Adolf Keller (1872–1963), Zürich 2016, 49–87. 71 Barth nannte ihn so in einem Brief über die Stockholmer Weltkonferenz von Life and Work; Karl Barth, Brief an Georg Merz und Eduard Thurneysen vom 4. 10. 1925, in:Barth –Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2, 1921–1930, 369–372, 371. Der Spitzname konnte sich offenbar etablieren. 1933 verwendete Eduard Thurneysen ihn nun seinerseits in einem Brief an Barth, vgl. Eduard Thurneysen, Brief an Karl Barth vom 31. 5. 1933, in: Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 3, 1930–1935, GAV.34, hg. v. C. Algner, Zürich 2000,411–417, 412. 72 Adolf Keller, Dynamis. Formen und Kräfte des amerikanischen Protestantismus, Tübingen 1921.

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Theologie durch die kirchliche Welt73 veröffentlicht, das jetzt, 1933, in einer englischsprachigen Übersetzung erschien – bezeichnenderweise unter dem Titel Karl Barth and Christian Unity74. Kellers erklärte Absicht in diesem Text ist es nicht nur, über die theologische Differenziertheit der Bewegung aufzuklären, die als „Barthianismus“, „Theologie der Krise“ oder ähnlich bekannt war, sondern zugleich auf die kirchliche und kirchenpolitische Funktionalität dieser Art von Theologie hinzuweisen. Einerseits biete ein Blick auf den „Barthianismus [Übers. HM]“75 eine Art analytischer Folie, die dazu dienen könne, eine funktionale Interpretation einzelner Kirchen oder Kirchengruppen vorzunehmen. Zugleich aber könne die dialektische Theologie auch als Einheitstheologie für die transatlantische kirchliche Kooperation fruchtbar gemacht werden. Allerdings nicht etwa deshalb, weil ihre dogmatische Form allgemeine Zustimmung fände, sondern vielmehr weil sie als Ausdruck eines allgemeinen und universalen religiösen Bewusstseins verstanden werden könne. „Die Schuld einer ganzen Epoche, der innere Kampf der gegenwärtigen Generation, die Tragik der religiösen Beziehung in einer gottfernen Welt und der Schrei zu Gott aus tiefster Verzweiflung, die primitive Christliche Hoffnung auf Gericht und Erlösung – sie alle haben einen neuen prophetischen und eschatologischen Ausdruck gefunden. [Übers. HM]“76 Dieser prophetisch-eschatologische Ausdruck religiösen Bewusstseins trifft nach Keller in den USA genau den Nerv der Zeit. Die USA befänden sich in der Situation eines „Landrutsches [Übers. HM]“77, der über die Konfessionskirchen hinaus auch die Jugendbewegung und die intellektuelle Öffentlichkeit erfasst habe. Dabei passt sich Keller in seiner Darstellung der Medizin für diese Krankheit dem prophetischen Pathos der bisherigen US-amerikanischen Barthrezeption interessanterweise an. Nicht in erster Linie die Theologie als Theologie ist seiner Ansicht nach von Interesse, sondern der in der dialektischen Theologie vernehmbare „neue Ruf Gottes und Seines Wortes, der fordert, dass wir ganz neu zu- und hinhören, bevor wir versuchen, mit unseren theologischen Systemen

73 Adolf Keller, Der Weg der dialektischen Theologie durch die kirchliche Welt. Eine kleine Kirchenkunde der Gegenwart, München 1931. 74 Adolf Keller, Karl Barth and Christian Unity, New York 1933. 75 „[T]he problem of Barthianism can be used as a theological sextant with which to determine the position of the individual church constellations in the general religious situation of today“, Keller, Karl Barth, XV. 76 „The guilt of an entire period, the inner struggle of the present generation, the tragedy of the religious relationship in a world impoverished of God, and thecry to God out of deepest distress, the primitive Christian hope of judgment and redemption all have received a new prophetical and eschatological expression“; aaO., 250. 77 AaO., 177.

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eine Antwort zu geben [Übers. HM]“78. Im Vorwort der Übersetzer wird, in Aufnahme einer Formulierung von Werner Petersmann, Barths Theologie gar als der „Vorschlaghammer“ des „Propheten des Absoluten [Übers. HM]“ beschrieben.79 Die angestrebte und/oder konstatierte Effektivität der barthschen Theologie sieht Keller nicht in erster Linie in einem neuen theologischen Systemangebot, sondern in ihrer Praktikabilität. Nicht nur in Teilen der US-Amerikanischen Rezeption sondern auch in Deutschland hatte Barths Theologie Kritik genau dafür geerntet, dass mit ihr im Grunde keine Ethik machbar sei. Keller bot nun eine interessante Aufgabenteilung an. Während die Theologie Barths in ihre dogmatische Phase eingetreten sei, habe (ausgerechnet!) Emil Brunner „den Mangel an einer Ethik durch die Publikation seines großen Buches ,Das Gebot und die Ordnungen‘ behoben“80. Das barthsche Nein!81 zu Brunners Theologie, das kurz darauf öffentlich laut wurde, spielte für diese Zuordnung und auch für die Rezeption in der Folge keine Rolle. Auch ,Weltadolfs‘ Intervention zielte folglich nicht darauf ab, die US-Amerikanische Barthrezeption nach Barths eigener Rezeptionsintention zu korrigieren. Die Emphase Kellers liegt vielmehr in dem Hinweis auf die Praktikabilität einer Theologie, die mehrfach als abstrakte Philosophie verstanden worden war sowie in der positiven Umbesetzung des ,Prophetischen‘. Dass bei diesem Versuch der Rezeptionslenkung genau entgegen der theologischen Absichten Barths argumentiert wurde, stand hinter dem durchweg praktischen Interesse Kellers zurück. Dieses aber traf in den USA auf einiges Verständnis – nicht zuletzt etwa bei John A. Mackay, der Keller 1941 zu einer Gastvorlesung einlud und dessen Verdienste um den transatlantischen Dialog ausgiebig würdigte.82

4.

Abschließende Bemerkungen

Adolf Kellers Intervention führte zunächst nicht zu einer differenzierteren Barthrezeption in den USA. So, wie Keller das ,prophetische‘ Element der Theologie Barths betonte, so wurde auchBarth weiterhin als ,Prophet‘ wahrge-

78 The „new call from God and His word, demanding that we listen and hear anew, before we try to give an answer by our theological systems“; aaO., XX. 79 AaO., XI. 80 He has „filled the lack of an Ethics by the publication of his big volume ,Das Gebot und die Ordnungen‘“; aaO., XVIII. 81 Karl Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner, TEH 14, München 1934. 82 Vgl. Jehle-Wildberger, Adolf Keller, 474.

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nommen.83 Die dialektische Theologie war zwar fortan in Princeton vertreten, der Initiative John Mackays folgend, aber nicht in erster Linie in der Form der ,reinen‘ beziehungsweise der sich wandelnden Lehre Barths, sondern wesentlich beeinflusst durch Emil Brunner und erfahrungstheologische Ansätze. Der frühe Kritiker Barths, Cornelius Van Til, der unterdessen mit weiteren Princetoner Dissidenten am Westminster Theological Seminary lehrte, sollte nicht nur gegen Brunners Gastaufenthalt in Princeton wettern, sondern auch zu weiteren Schlägen gegen Barth ausholen – ein Thema, das ihn lebenslang nicht los ließ. In seinem 1946 publizierten Buch The New Modernism. An Appraisal of the Theology of Barth and Brunner lieferte er paradoxerweise eine Vorlage für diejenigen Interpretationsrichtungen, die man heute als liberale Barthforschung beschreiben könnte. Van Til interpretierte Barths Theologie von dessen Auseinandersetzung mit Kant her.84 Dabei ging er davon aus, dass es keine wesentlichen werkgeschichtlichen Entwicklungen in Barths Theologie gegeben habe und der Bruch mit der liberalen Theologie nur ein Scheingefecht gewesen sei. In Wahrheit sei Barth letztlich seinem liberalen Erbe verpflichtet geblieben. Eine differenziertere theologische Auseinandersetzung mit Barth erfolgte in den USA erst nach dessen erstem und einzigem Amerikaaufenthalt 1962. Fortan änderte sich nicht nur Barths Amerikabild, sondern auch das Barthbild in den USA gewann prägnantere Züge. Die Barthforschung wurde intensiviert und 1972 die Karl Barth Society of North America gegründet, die sich „eine kritische und konstruktive Theologie in Kontinuität mit dem Werk Karl Barths [Übers. HM]“85 auf die Fahnen geschrieben hat und eng mit dem 1997 gegründeten Center for Barth Studies am PTS verbunden ist. Aber welcher Barth ist es, dessen Theologie dort studiert wird? Der Barth Van Tils – oder der Mackays? Derjenige Paucks – oder derjenige Kellers? Die Schwierigkeit, diese Frage zu beantworten, führt auf die eingangs aufgeworfene Problemstellung zurück: Barth wurde als Prophet rezipiert und als solcher propagiert, nicht zuletzt von seinem Schweizer Freund Adolf Keller. Das Interesse an der und die Faszination für die Person Karl Barths führten zu Rezeptionen seiner Theologie, die deren eigener Intention oftmals nicht entsprachen, ja ihr bisweilen sogar zuwiderliefen. Dennoch weisen diese Rezeptionen – als kosmologisch-eschatologischer Philosoph und verkappter Kantianer, als Prophet (des Absoluten oder auch einer neuen Form des Christentums) – auf Besonderheiten und spezifische Schwierigkeiten der Theologie Barths hin. Möglicherweise waren es nicht nur die un83 Vgl. Melville Chaning-Pearce, Karl Barth as a Post-war Prophet, in: HibJ 35, 1936/37, 365–379. Das britischstämmige Hibbert-Journal fand auch in den USA Verbreitung. 84 Vgl. John P. Lewis, Karl Barth in North America. The Influence of Karl Barth in the Making of a North American Evangelicalism, Eugene (Oregon) 2009, 44–49. 85 Vgl. http://kbsna.kbarth.org/ (Zugriff am 15. 09. 2016).

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glaubliche Dynamik der Person Barths und die bisweilen persuasive Rhetorik seiner Schriften und Vorträge, die dazu beitrugen, eine so vielfältige ,Miss-Rezeption‘ in der innerprotestantischen transatlantischen Ökumene hervorzurufen, sondern auch spezifische formale wie materiale Aspekte seines theologischen Denkens. An erster Stelle könnte hier auf die Einziehung der Methodenreflexion in den Gang des theologischen Arguments hingewiesen werden. Dies ist – ungeachtet großer werkgeschichtlicher Verschiebungen – ein Kennzeichen bereits der (gleichermaßen unterschiedlichen) Theologie beider Fassungen des Römerbriefs und wird in den späteren Dogmatiken wie auch schließlich in der Kirchlichen Dogmatik nur konsequent zur Explikationsform des theologischen Systems erhoben. Die Reflexion über die Methode der Theologie wird nicht vorgängig geklärt, sondern ist Teil des Arguments und der Explikation der Gegenstände der Theologie. Dadurch erhält diese Theologie allerdings einen hermetischen Zug, der in der Tat auch als ,prophetisch‘ gelesen werden kann: Der Eindruck, hier solle mehr oder minder ,direkt‘ mitgeteilt werden, wie es um die Gegenstände der Theologie und deren Wahrheits- und Realitätsform beschaffen sei, ist jedenfalls eine der möglichen Lesarten der barthschen Theologie. Ein nächster Punkt betrifft die Praktikabilität der Theologie Barths. Folgt man seinen ethischen Ausführungen in den Vorlesungen sowie den entsprechenden Abschnitten der Kirchlichen Dogmatik, dann ist die christliche Praxis im Kern Verkündigung, Zeugenschaft, die auf Glauben und Glaubensreflexion zielt. Gerade diese auf eine eher symbolische und reflexive Praxis zielende Ausrichtung der Ethik Barths, entspricht zwar der argumentativen Grundausrichtung seiner Theologie, kommt aber nicht immer den auf Konkretisierung zielen Bedürfnissen der Rezipienten entgegen. Die Beispiele Mackays und Kellers zeigen sehr gut, wie relativ unbekümmert gegenüber Problemen der theologischen Systematik oder Methode sowohl das Interesse an einer theologischen Aufarbeitung (religiöser) Erfahrung als auch dasjenige an stärker sozialethisch ausgerichteten Formen christlicher Praxis mit der Theologie Barths verbunden werden konnten. An der frühen Barth-Rezeption in den USA zeigt sich letztlich sehr deutlich, dass die Praxis dieser Theologie offenbar eine Eigendynamik entwickelt. Barths Theologie setzt eine diskursive Praxis aus sich frei, die, in Affirmation wie in Ablehnung, in Personenkult („Prophet“) oder scharfem Widerspruch („Philosoph“) die Verständigung darüber sucht, was Theologie und was Religion im angemessenen Sinne sein könne. Wenn es stimmt, dass diese theologische Praxis für Barth immer bestimmender dafür wird, was Theologie und was Kirche ist,86 dann ist die frühe Rezeption, die die Theologie Barths in den USA erfährt, ein guter Indikator dafür, dass er – trotz vieler 86 Zur Diskursivität der Kirche vgl. auch den Beitrag von Georg Pfleiderer in diesem Band.

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,Missverständnisse‘– nicht zu Unrecht zum ,Pastor Pastorum Oecumenicus‘ werden konnte. Denn diejenigen Rezeptionen, die der Intention Barths widersprachen, erhielten die Dynamik seiner Denkentwicklung aufrecht und wiesen gegebenenfalls auf systematische Unstimmigkeiten hin. In ihrem praktischen Gestaltungswillen diskursiver wie kirchlicher und sozialethischer Natur entsprachen sie der Gestalt, die Barth seiner Vorstellung der Konkretisierung theologischer oder Glaubens-Praxis in den späteren Jahren gab.

Susanne Hennecke

Zur Kritik von Barths Religionskritik. Beispiele aus den Niederlanden unter besonderer Berücksichtigung des religionspluralistischen Ansatzes von Hendrik Kraemer1

1.

Einleitung

Trägt man die verschiedenen niederländischen Auseinandersetzungen mit der Religionsthematik in der Theologie Karl Barths einmal zusammen, so zeigt sich, dass diese Thematik in den Niederlanden in sehr umfassender Weise und mit einer großen Kontinuität in immer wieder anderen gesellschaftlichen Konstellationen rezipiert und in produktiver Weise auch kritisiert und variiert worden ist, und zwar bis in die jüngste Zeit hinein und bemerkenswerterweise nicht nur von Fachtheologen, sondern gerade in den 1930er Jahren oftmals auch von kirchlich interessierten theologischen Laien.2 Im Folgenden möchte ich zunächst eine Übersicht über die verschiedenen niederländischen Rezeptionsansätze und -kontexte verschaffen, um mich dann auf einen einzigen Ansatz und dessen Rezeption in Deutschland zu konzentrieren, nämlich den Ansatz des fachtheologischen Laien, barthianisch orientierten Christen und Kirchenmanns, promovierten Literaturwissenschaftlers, christlichen Missionars im heutigen Indonesien, späteren Professors für Religionswissenschaften an der Universität Leiden und noch späteren Leiters des ökumenischen Instituts in Bossey in der Schweiz, Hendrik Kraemer (1888–1965). Hendrik Kraemer ist für das Thema ,Religion und Religionskritik‘ ein ganz besonders interessantes Beispiel, da er das bei Karl Barth Gelernte 1 Dieser Beitrag ist Teil eines größeren DFG-Forschungsprojektes „Die theologische, politische und kulturelle Rezeption der Theologie Karl Barths in den Niederlanden (1919–1989)“ und bietet eine Vorversion eines noch zu schreibenden Kapitels „Religion, Religionen und Ökumene“. Im Rahmen dieses Forschungsprojekts habe ich bislang die folgende Studie publiziert: Susanne Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden. Teil 1: Theologische, kulturelle und politische Rezeptionen (1919–1960), FSÖTh 142, Göttingen 2014. 2 Das in den 30er Jahren gesteigerte Interesse an Barths Theologie im Allgemeinen und an der Religionsthematik im Besonderen gerade auch außerhalb der fachtheologischen Welt erklärt sich durch die überaus große Bedeutung der Theologie Karl Barths und ihrer Rezeption in den kirchreformerischen Bemühungen der Niederländischen Reformierten Kirche (NHK) im Interbellum.

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explizit für eine Theologie der Religionspluralität fruchtbar machen wollte, und zwar bereits vor Erscheinen des für dieses Thema wohl wichtigsten Beitrag Barths, nämlich des 1938 erstmals publizierten §17der Kirchlichen Dogmatik3.

2.

Ansätze und Kontexte

Doch zunächst zu meiner Übersicht über die verschiedenen niederländischen Rezeptionsansätze und -kontexte der Religionsthematik bei Karl Barth. Als erster ist hier der Naturwissenschaftler Cornelis Johannes Dippel (1902–1971) zu nennen, der 1947 als theologischer Laie und barthianisch orientierter Christ eine 500 Seiten umfassende Studie mit dem Titel Kirche und Welt in der Krise4 publizierte. In diesem Buch begründete Dippel sein Engagement für den sogenannten doorbraak, das heißt diejenige niederländische Bewegung, in der die Theologie Karl Barths in den Niederlanden wohl ihre wichtigste öffentliche Wirkung entfaltet hat: Gemeint ist der von der Theologie Barths mit-inspirierte Versuch, das gesellschaftliche Leben nach dem zweiten Weltkrieg nicht wieder entlang der Begrenzungen der sogenannten Versäulung5 zu organisieren, also der für die damaligen Niederlande typischen strikten Einteilung und Organisation des gesamten gesellschaftlichen Lebens entlang der Grenzen bestimmter konfessioneller und weltanschaulicher Gruppen, den sogenannten Säulen. Auf Seiten der Protestanten wandten sich insbesondere die von der Theologie Karl Barths inspirierten Christen, Kirchenleute und Theologen gegen diese Versäulung der Gesellschaft und damit auch gegen den sogenannten Neocalvinismus und die dazugehörige Politik der Antithese zwischen christlichen und nichtchristlichen Parteien und Weltanschauungen.6 Dabei suchten sie die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, verließen also die ihnen angestammte protestantische Säule und durchbrachen so die weltanschaulichen Einteilungen der Versäulung. Auch der oben erwähnte doorbraak-Mann Dippel bezog sich für 3 Karl Barth, §17 (Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion), in: Ders., Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2. Teilbd., Zollikon-Zürich 41948, 304–396 [ursprl. Zollikon 1938]. 4 Cornelis J. Dippel, Kerk en wereld in de crisis. Een appHl tot christelijke solidariteit in een democratisch-socialistische politieke en maatschappelijke omwenteling, ’s-Gravenhage 1947. Eine genauere Analyse der barthianischen Motive dieses auch als doorbraak-,Bibel‘ bekannten Buches findet sich in: Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden, 311–324. 5 Vgl. auch die Einführung mit weiteren Literaturhinweisen in: Susanne Hennecke, Unter Dichtern. Aspekte niederländischer Barthrezeptionen und die geisteswissenschaftliche Fakultät, in: ZDT 27, 2011, 62–83, bes. 64–68. 6 Vgl. etwa Susanne Hennecke, Durchbrechung der Polarisierung in der niederländischen Nachkriegszeit (1945–1960)? Kulturtheologie III: Christliche Politik?, in: Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden, 286–329.

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sein Engagement gegen die Versäulung vielfältig auf Karl Barths Theologie, unter anderem auch auf den im Zusammenhang mit diesem Beitrag interessierenden §17 der Kirchlichen Dogmatik. Sein Vorgehen ist dabei am besten als eine Anwendung und Rekontextualisierung wichtiger Aussagen des §17 zu bezeichnen, denn Dippel entlarvte angesichts versäulter niederländischer Umstände mithilfe von Aussagen des §17 gerade die Politik der Antithese und den damit verbundenen Neocalvinismus als eine Religion im Sinne eines Unglaubens. Gegenüber diesem als solchen enttarnten neocalvinistischen Unglauben habe die Kirche die geduldige Aufhebung der Religion durch Jesus Christus7 zu verkündigen – auch diese Wortwahl ist als Anspielung auf Barths §178 anzusehen. Eine wesentlich durchgängigere Rekontextualisierungvon Barths §17 bot neun Jahre später der bekannte niederländische Theologe Kornelis Heiko Miskotte (1894–1976). Der erste Teil seines 1956 in niederländischer Sprache publizierten und bereits 1966 ins Deutsche übersetzten Hauptwerkes, Wenn die Götter schweigen9, kann als der großangelegte Versuch einer produktiven Rezeption des gesamten §17 aus Karl Barths Kirchlicher Dogmatik im Kontext der in der niederländischen Nachkriegszeit zunehmenden Säkularisierung angesehen werden.10 Dabei diente Miskotte konkret der aufkeimende gesellschaftliche Nihilismus als eine zeitgenössische Illustration dessen, was Barth im §17.2 als den immanenten Widerspruch der Religion thematisierte. Anders als Barth behauptete Miskotte allerdings auch eine produktive, verheißungsvolle Verbindung zwischen dem als Nihilismus konkretisierten Unglauben und dem Glauben: In Entsprechung zu Barths Unterscheidung zwischen falscher und wahrer Religion unterschied er zunächst einen landläufigen falschen von einem literarischen wahren Nihilismus und sprach dann in prägnanter und alttestamentlich inspirierter Variation zur barthschen Aufhebung der Religion durch die christologische Offenbarung in Bezug auf den literarischen Nihilismus von einer zwar negativen, aber eben dazugehörigen und als solcher zu würdigenden Kehrseite der Theophanie des Namens Gottes. Mitte der 70er Jahren nahm dann der Theologe Hendrikus Berkhof (1914–1995) das Religionsthema bei Barth auf, wobei er den Ansatz Barths theologiegeschichtlich in Kontinuität zur liberalen Theologie deutete, dessen spezifische Modernität in der Verarbeitung des säkularen Weltgefühls der Neuzeit sah und sich für eine Kombination zwischen der offenbarungstheolo7 Vgl. Dippel, Kerk, 153. 8 Vgl. Barth, KD I/2, 326f. 9 Kornelis H. Miskotte, Als de goden zwijgen. Over de zin van het Oude Testament, Amsterdam 1956; vgl. ders., Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments, übers. v. H. Stoevesandt, München 1966. 10 Vgl. Susanne Hennecke, Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte. Kulturtheologie IV, in: Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden, 330–367.

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gischen Herangehensweise Barths und der erfahrungsbezogenen Herangehensweise Schleiermachers einsetzte.11 Wiederum einige Jahre später setzte in den 80er Jahren eine äußerst breit geführte Diskussion von Barths Religionsbegriff im Kontext eines konstruktiven Gesprächs mit der marxistischen Religionskritik ein. Im Gegensatz zu Berkhofs Anliegen verstanden sich diese ,linken‘ Barthrezeptionen als explizit politisch. Aus der großen Bandbreite der schwerpunktmässig in den 80er Jahren in den Niederlanden entstehenden theologischen Entwürfe seien an dieser Stelle nur die Ansätze von Arend van Leeuwen12 und von Rinse Reeling-Brouwer13 genannt, denen alternativ ein negativer und ein positiver Ideologiebegriff zugrundelag: Kam Van der Leeuwen das Verdienst zu, bereits 1968 auf die Unzulänglichkeit der seines Erachtens zu bürgerlichen und auch zu eurozentrischen Religionskritik Barths angesichts der atheistischen Moderne und des globalen Kapitalismus hingewiesen zu haben, stellte Reeling-Brouwer 1988 erstmals die Kontinuität und strukturelle Parallele zwischen früheren und späteren religionskritischen Schriften Barths heraus.14 Wiederum eine andere Variation der Umgehensweise mit Barths Religionskritik im §17 der Kirchlichen Dogmatik bietet der am Ende des 20. Jahrhunderts entwickelte Ansatz der Verfasserin15 dieses Beitrags, die diese im Rahmen einer feministischen Kultur- und Neuzeitkritik interpretierte und im Sinne eines betont konstruktiven interreligiösen Gesprächs mit einer (in diesem Fall: fiktiven) weiblich konnotierten Religion weiterführen wollte. Für die Zeit ab 2000 bezeugen schließlich verschiedene Einleitungen und Übersetzungen das weiterhin durchgängige und auch heutzutage immer noch rege niederländische Interesse an Karl Barths kritischer Behandlung des Religionsthemas. Konkret stammt sowohl die Einleitung zur ersten niederländischen Übersetzung als auch die Einleitung zur deutschsprachigen Neuherausgabe der zweiten Auflage des Rö11 Vgl. den Beitrag der Verf. in diesem Band. 12 Arend Th. van Leeuwen, Het begin bij Karl Barth, Karl Barth als begin, in: Ders. De burger en z’n religie, Verspreide teksten, Best 1988, 133–146; vgl. auch Gijsbertus H. ter Schegget, Arend van Leeuwen en Karl Barth, in: Economische theologie. Discussie over het werk van Arend Th. van Leeuwen, Eltheto 69, 1983, 57–65; Arend Th. van Leeuwen, In gesprek met Bert ter Schegget, in: Economische theologie. Discussie over het werk van Arend Th. van Leeuwen, Eltheto 69, 1983, 66–73. 13 Rinse Reeling-Brouwer, Over kerkelijke dogmatiek en marxistische filosofie. Karl Barth vergelijkenderwijs gelezen, ’s-Gravenhage 1988 [Diss. Universität von Amsterdam 1988]. 14 Ein weiterer für die Religionsthematik relevanter Ansatz einer politisch interessierten Barthrezeption in den Niederlanden ist der hier nicht berücksichtigte befreiungstheologische Ansatz des Leidener Ethikes Bert ter Schegget. Außerdem gehört auch der in diesem Band durch einen Beitrag repräsentierte Ansatz des Amsterdamer Theologen Dick Boer zu diesem Spektrum niederländischer Barthrezeptionen. 15 Susanne Hennecke, Der vergessene Schleier. Ein theologisches Gespräch zwischen Luce Irigaray und Karl Barth, Gütersloh 2001 [Diss. Universität von Amsterdam 1999].

Zur Kritik von Barths Religionskritik

283

merbriefs aus niederländischer Hand. Außerdem wurde der §17 aus der Kirchlichen Dogmatik im Jahr 2011 zum ersten Mal ins Niederländische übersetzt.

3.

Der Ansatz von Hendrik Kraemer

Angesichts dieser in den Niederlanden überaus großen und bis in die jüngste Zeit hinein durchgängigen Relevanz der Religionsthematik bei Karl Barth kann nun gesagt werden, dass dem eingangs genannten bekennenden Christen und Religionswissenschaftler Hendrik Kraemer16 ein doppeltes Verdienst zukommt. Er rezipierte nämlich Barths Religionstheorie zum einen als allererster und als einziger bereits vor dem Zweiten Weltkrieg, und zum anderen rezipierte er sie im Kontext seiner spezifischen Erfahrungen in der Mission, das heisst anders als die meisten anderen Beispiele weniger vor dem Hintergrund zunehmender Säkularisierung, sondern eher in Bezug auf eine begegnende Pluralität von Religionen. Beide Bezüge gehören aber nach Kraemer und in der von ihm mitgestalteten niederländischen Apostolatstheologie der Vor- und Nachkriegszeit gerade zusammen, geht es doch in beiden Kontexten um das Verhältnis des christlichen Glaubens zu einer nicht-christlichen Umgebung. Wie oben bereits angedeutet, lässt sich der Ansatz Kraemers am besten als ein von Barth herkommender Versuch einer Theologie der Religionspluralität in kommunikativer Absicht bezeichnen, die als durchgängige und eigenständige Variation zu Barths §17 betrachtet werden kann. Um die These, dass es es sich um eine eigenständige Variation handelt, zu unterbauen, habe ich meine Arbeitsergebnisse zu Kraemers recht ausführlicher Barthrezeption in Form eines zugespitzten schlaglichtartigen Kommentars zusammengefasst, dem vier relevante Bücher Kraemers zugrunde liegen: Das erste, The Christian Message in A NonChristian World17, erschien 1938, also zeitgleich und damit unabhängig zum §17 der Kirchlichen Dogmatik. Vor dem Hintergrund einer stark relativistisch geprägten internationalen Missionstheologie18 versuchte der inzwischen zum Professor der Religionswissenschaften ernannte Kraemer, den Ertrag der dialektischen Theologie und den damit verbundenen, nach Kraemer wesentlichen 16 Vgl. die Biographie von Arend Th. van Leeuwen, Hendrik Kraemer. Pionier der Oekumene, Basel 1962. 17 Hendrik Kraemer, The Christian Message in A Non-Christian World, London 1938; ich beziehe mich im Folgenden auf die deutsche Übersetzung: Ders., Die christliche Botschaft in einer nichtchristlichen Welt, Zürich 1940. 18 Das Buch erschien als vorbereitender Beitrag für die dritte Weltmissionskonferenz, die 1938 in Tambaran (Indien) stattfand; vgl auch Carl F. Hallencreutz, Kraemer towards Tambaran. A Study in Hendrik Kraemer’s Missionary Approach, Studia missionalia Upsaliensia 7, Lund 1966 [Diss. Universität Uppsala 1966].

284

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Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens für einen missionstheologischen Kontext fruchtbar zu machen. Das zweite Buch, Religion and the Christian Faith19, erschien 1956. Außerdem beziehe ich mich noch auf die im gleichen Jahr publizierte kleinere Schrift The Communication of the Christian Faith20 und auf Kraemers letztes größeres Werk, World Cultures and World Religions21 aus dem Jahr 1960.

4.

Kraemer und Barth im Vergleich

Um Kraemers spezifische Differenz zum Aufbau und Inhalt von Barths §17 herausarbeiten zu können, soll im Folgenden die erst die Vorgehensweise Barths dargestellt und dann mit der von Kraemer verglichen werden: Eine genauere Analyse des Aufbaus von Barths §17 macht deutlich, dass die darin gemachten Schritte genauerhin als Doppelschritte22 bezeichnet werden können, bei denen einer explizit offenbarungstheologischen Analyse der Religion jeweils eine religionswissenschaftliche Analyse zur Seite gestellt wird. So wird die Religion bereits im ersten Schritt von Barth Religionstheorie (§17.1) zum einen aus einer offenbarungstheologischen Perspektive betrachtet und damit verbunden die Idee eines Synergismus zwischen Gott und Mensch und insbesondere auch die Rede von einem anthropologischen Anknüpfungspunkt zwischen Natur und Gnade entschieden zurückgewiesen23, zum anderen wird sie jedoch als „menschliche[s] Gesicht“24 der Offenbarung und als „menschlich[…], historisch und psychologisch faßbare[s] Phänomen[…]“25 beschrieben. Somit wird einer kultur- oder religionswissenschaftlichen Herangehensweise an die Reli19 Hendrik Kraemer, Religion and the Christian faith, London 1956; ich beziehe mich im Folgenden auf die deutsche Ausgabe: Ders., Religion und christlicher Glaube, Göttingen 1959. 20 Hendrik Kraemer, The Communication of the Christian Faith, Philadelphia 1956; vgl. Die deutsche Ausgabe: Ders., Die Kommunikation des christlichen Glaubens, Zürich 1958. 21 Hendrik Kraemer, World Cultures and World Religions. The Coming Dialogue, London 1960; ich beziehe mich im Folgenden auf die niederländische Übersetzung: Ders., Godsdiensten en culturen, ’s-Gravenhage 1963. 22 Vgl. hierzu bereits: Günter Thomas, Medien – Ritual – Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, stw 1370, Frankfurt a. M. 1998 [zugl. Diss. Universität Heidelberg, 1996], insbes. 82–125; vgl. ebenfalls meine Analyse der Vorgehensweise von Kornelis H. Miskotte in Wenn die Götter schweigen: Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden, 338–351. 23 Damit wiederholte Barth 1938 noch einmal sein entschiedenes „Nein“, das er 1934 vor dem Hintergund des anhebenden deutschen Kirchenkampfes seinem ehemaligen theologischen Weggefährten Emil Brunner und insbesondere dessen 1934 publizierter Schrift Natur und Gnade entgegengeschleudert hatte. 24 Barth, KD I/2, 306. 25 AaO., 305.

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gion von Anfang an Raum eingeräumt. Entsprechend geht es auch im zweiten Schritt von Barths Religionstheorie (§17.2), der sich mit einer „theologische[n] Würdigung der Religion und der Religionen“26 befasst, zum einen um die theologische Erkenntnis, dass die Religion und insbesondere die christliche Religion als „Unglaube“27 zu bezeichnen sei und zum anderen um die Einsicht, dass von diesem externen Widerspruch der Religion ein immanenter Widerspruch28 zu unterscheiden sei, der als solcher wiederum auch rein kultur- oder religionswisschaftlich erforscht werden könne. Schließlich wird im dritten Schritt (§17.3) ausgeführt, dass zum einen aus theologischer Perspektive von einer wahren Religion nur „im Rahmen der Lehre von der iustificatio impii“29 und also im Sinne eines gnädig an- und aufgehobenen Sünders gesprochen werden könne. Diese theologische Perspektive wird jedoch anhand eines Vergleichs der verschiedenen Gnadenreligionen30 wiederum durch eine religionswissenschaftliche Perspektive ergänzt. Deren Unterschiede erwiesen sich schließlich nur aus theologischer Perspektive als „relativ[…]“31, sodass als einziges Wahrheitskriterium die in der protestantischen Gnadenreligion gegebene „Erinnerung“32 an den „Name[n] Jesus Christus“33 festgehalten werden könne. Analysiert man nun Kraemers Rezeptionen der Religionsthematik bei Barth in den oben genanten wichtigsten diesbezüglichen Schriften in chronologischer Reihenfolge, finden sich meiner Erkenntnis nach exakt dieselben Doppelschritte wieder wie bei Barth, allerdings in jeweils genau umgekehrter Anordnung: Der theologischen Analyse wird jeweils eine recht ausführliche religionswissenschaftliche und später kulturanthropologische Analyse vorangestellt. Dabei wird die methodische Umkehrung Kraemers zugunsten der religionswissenschaftlichen Perspektive noch einmal mittels einer einführenden expressionistischkrisentheologischen Gegenwartsanalyse34 und einer theologiegeschichtlichen Einordnung35 verstärkt. Barths Religionstheologie soll also nicht nur in Bezug auf eine Religionspluralität re-kontextualisiert werden, sondern sie wird auch 26 27 28 29 30 31 32 33 34

AaO., 324. AaO., 327. Barth erörtert das Phänomen der Mystik (aaO., 348ff) und des Atheismus (aaO., 350ff). AaO., 370. Vgl. aaO., 372ff. AaO., 377. AaO., 376. Ebd. Vgl. Kraemer, Die christliche Botschaft, 9–33 (Kap. 1: Eine Welt im Übergang). Kraemers Gegenwartsanalyse entspricht dabei strukturell durchaus dem von Barth in die Theologische Perspektive des ersten Schritts eingebauten Exkurs zum theologiegeschichtlichen Kontext; vgl. KD I/2, 309ff. 35 Vgl. Kraemer, Die christliche Botschaft, 94–128 (Kap. 4: Die Stellung zu den nichtchristlichen Religionen), bes. 106ff.

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betont als kontextuelle Theologie präsentiert, und zwar markanterweise als radikal neuzeitliche und radikalsierte liberale Theologie. Denn bereits Troeltsch selber, so Kraemer, habe sich mit seiner Rede von der zwar nur vorläufigen Absolutheit des Christentums gegen die relativistischen Tendenzen der Aufklärungstheologie und den darauf folgenden dominanten neuzeitlichen Relativismus in den Religionswissenschaften gewandt. Barths offenbarungstheologischer Ausgangspunkt verstärke diese anti-relativistische Tendenz.36

4.1

Der erste Doppelschritt

Betrachtet man den ersten Doppelschritt etwas genauer, so zeigt sich, dass der bedeutsamste Unterschied zwischen Barths und Kraemers Ansatz außer in der methodischen Umkehrung Kraemers auch in der genaueren Bestimmung von Kraemers theologischer Perspektive gelegen ist: Zwar ist beider Ausgangpunkt die für den christlichen Glauben und die Kirche als verbindlich angesehene christologische Offenbarung37 und betonen beide in diesem Zusammenhang das gute theologische Recht der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben allein,38 doch versteht Kraemer diese Perspektive nachdrücklicher als Barth im Sinne eines radikal-religiösen biblischen Realismus,39 bei dem der Glaube an die Rechtfertigung des Sünders nicht als die einzig mögliche biblische Konkretion des mit der christologischen Offenbarung Gemeinten betrachtet wird. Zwar bezeichnet Kraemer Barths Konkretisierung der theologischen Perspektive als Rechtfertigung des Sünders als „[e]in[en] […] gute[n] Weg“40, doch akzentuierte er bereits 1938 etwas anders und weniger exklusiv als Barth, wenn er auch andere Konkretisierungen nennt und als das eigentliche Herz des christlichen Glaubens im Anschluss an Apg 2, 37f die Sündenvergebung41 und als ihr – bei Barth vermisstes – ethisches Pendant die menschliche Möglichkeit zur Umkehr betrachtet. 1958 verschärft Kraemer seine Kritik,42 wenn er Barths 36 Vgl. aaO., 109f. 37 Barth entwickelt diese Perspektive im ersten Schritt seiner Ausführungen in §17.1 (vgl. Barth, KD I/2, 305ff) in Abgrenzung gegen den allgemeinen Religionsbegriff der Theologie der Neuzeit (vgl. Barth, KD I/2, 309–317, insbes. 313ff); Kraemer entwickelt diese Perspektive etwa in: Kraemer, Die christliche Botschaft, 59–93 (Kap. 3: Christlicher Glaube und christliche Ethik). 38 Vgl Barth, KD I/2, 356 und Kraemer, Die christliche Botschaft, 70f. 39 Vgl. Kraemer, Die christliche Botschaft, 77f. 40 AaO., 70. 41 Vgl. aaO., 74. 42 Vgl. Kraemers Ausführungen in: Ders., Religion, 179–197 (10. Kap.: Religion und Religionen bei Barth und Brunner).

Zur Kritik von Barths Religionskritik

287

Ablehnung eines theologischen Synergismus in §17.143 zwar als „einzig legitime Methode für die christliche Theologie“44 qualifiziert, diese Ablehnung jedoch mit der Aussage relativiert, dass die Bibel selber wesentlich ungezwungener auch von einer religiösen „Rezeptivität“45 des Menschen rede. Führte Barths religionswissenschaftliche Betrachtung der Religion im ersten Doppelschritt zu einer Relativierung des christlichen Überlegenheitsanspruchs, stellt Kraemer in seiner religionswissenschaftlichen Analyse auf vergleichbare Weise fest, dass der „heilsame Einfluss“46 der vergleichenden Religionswissenschaften in der Möglichkeit bestehe, das Christentum als „empirische Wirklichkeit“47 wahrzunehmen, was die Rede von einer „Überlegenheit des Christentums“48 erschwere.

4.2

Der zweite Doppelschritt

Was mit der in Kraemers theologischer Perspektive oben gefundenem Stichwort der Rezeptivität gemeint ist, ergibt sich nun genauer aus Kraemers spezifischer Korrektur von Barths zweitem Doppelschritt im §17.2 und insbesondere von Barths Aussage, dass die Religion aus der Perspektive der christologischen Offenbarung als Unglauben49 zu bezeichnen sei. Auch diese Aussage Barths bezeichnet Kraemer 1958 als theologisch gesehen „völlig zutreffend“50 ; aus biblisch-realistischer Perspektive gesehen sei sie jedoch als „zu einspitzig auf einen Punkt ausgerichtet“51 und als „zu schematisch“52 zu bezeichnen. Barths faktisch undialektische, da betont negative Aussage über die Religionen versperre den Zugang zu den Religionen. Um den Zugang um willen einer „wirkliche[n] Begegnung“53 mit den Religionen wieder zu öffnen, entwickelte Kraemer die Lehre von einer doppelten Dialektik, und zwar im Ansatz bereits 193854 und also unabhängig von Barths §17. In Abgrenzung zu einer einfachen gott-menschlichen Dialektik ist mit der 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54

Vgl. Barth, KD I/2, 305. Kraemer, Religion, 189. Ebd. Kraemer, Botschaft, 100. Ebd. Ebd. Vgl. Barth, KD I/2, 327ff; vgl. aaO., 328ff über das alttestamentliche Bilderverbot und 332ff über dessen neutestamentliche Erweiterung bei Paulus; außer als Unglaube wird die Religion auch als Werkgerechtigkeit qualifiziert, vgl. aaO., 335ff. Kraemer, Religion, 190. AaO., 190. Ebd. Ebd. Vgl. etwa Kraemer, Die christliche Botschaft, 115f.

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doppelten Dialektik eine Dialektik gemeint, die aus einer menschlichen Dialektik einerseits und einer göttlichen Dialektik andererseitsbesteht. Ich wende mich zunächst der menschlichen Dialektik und damit dem Kern von Kraemers Kritik an Barth zu: Jede einzelne Religion, so Kraemer bereits 1938, weise eine immanente menschliche Dialektik auf. Diese bestehe rein religionswissenschaftlich betrachtet darin, dass alle Religionen sowohl religiöse und kulturelle Höchstleistungen als auch religiöse und kulturelle Mängel hervorbrächten.55 1958 verschärfte Kraemer diese Einsicht noch einmal, indem er die menschliche Dialektik in Anschluss an William James56 nicht mehr in jeder einzelnen Religion nachzuweisen versuchte, sondern sie in einem jeder einzelnen Religion zugrunde liegenden gemeinsamen religiösen Bewusstsein57 verortete. Die zunächst rein religionswissenschaftlich gewonnen Einsichten werden nach Kraemer von einer biblisch-theologischen Perspektive auf den Menschen bestätigt, sodass beide Perspektiven anders als bei Barth miteinander verzahnt werden können. Biblisch-theologisch gesehen, so Kraemer 1938, sei an die doppelte Bestimmung des Menschen zu denken, der in Anschluss an Gen 3, 5 einerseits als ein Gott gleich sein wollender Sünder58 und in Anschluss an Gen 1, 27f andererseits als Bild59, Mitarbeiter60 sowie in Anschluss an Rm 8, 16 auch als Kind61 Gottes zu betrachten sei. Aufgrund dieses doppelten biblischen Befundes wandte Kraemer sich 1958 dann zum einen explizit gegen Barths Anti-Synergismus in §1762 und dynamisierte zum anderen die bei Barth gefundene Einseitigkeit in Bezug auf die Religion mittels einer alternativen Exegese des Römerbriefs63 von Paulus: Dieser biete ein wesentlich dialektischeres Bild von der Religion als das bei Barth64 gefundene. Die folgenden fünf Beispiele aus Kraemers Paulusexegese machen deutlich, dass Kraemer mittels seiner alternativen exegetischen Einsichten nicht nur Barths Anti-Synergismus relativieren, sondern auch auf die Universalität der menschlichen Dialektik aufmerksam machen wollte, die sich seines Erachtens auch auf den Bereich außerhalb der christologischen Offenbarung bezieht:

55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Kraemer, Die christliche Botschaft, 104. Kraemer Die Religion, 78f . Kraemer, Die Religion, 17.20.78–81. Vgl. Kraemer, Die christliche Botschaft, 94.104. Das Motiv vom Menschen als Bild Gottes rückt erst 1958 stärker in den Vordergrund; vgl. Kraemer, Die Religion, 249. 251ff. Vgl. Kraemer, Die christliche Botschaft, 104. Vgl. AaO., 94. 116. Vgl. Kraemer, Die Religion, 189. Vgl. aaO., 277–314. Vgl. aaO., 305.

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Erstens65 sei Paulus’ Aussage in Röm 1,32, dass kein einziger Mensch gerecht sei, mithilfe der Aussage aus Röm 2, 13–16 zu ergänzen, wo zustimmend auf das Tun des Gesetztes hingewiesen werde. Zweitens66 betone Paulus in Röm 3, 23 zwar genau wie Barth das Sündersein aller Menschen, doch stehe dem beim Paulus in Röm 8, 19ff das menschlich aktive sehnsüchtige Warten und Hoffen aller Kinder Gottes gegenüber. Drittens67 entspreche Barths pauschaler Abweisung der Religion unter dem gemeinsamen Nenner von Götzendienst und Werkgerechtigkeit zwar die Aussage von Paulus in Röm 1, 21, dass alle Menschen in ihren Religionen bezeugten, Gott trotz gegenteiliger Möglichkeit nicht zu kennen. Doch stehe dieser falschen Reaktion biblisch gesehen auch eine richtige Reaktion gegenüber, etwa das Gotteslob68. Viertens69 bestehe die verkehrte Reaktion zwar tatsächlich darin, sich Abbilder von Menschen und Tieren zu machen und diese zu verehren. Doch beschreibe die Bibel auch diesbezüglich eine richtige Reaktion, nämlich das Festhalten an der Gottesebenbildlichkeit in der Schöpfungsgeschichte (Gen 1, 27f) und das Anziehen des neuen Menschen, also des göttlichen Ebenbildes Jesus Christus im Neuen Testament (Kol 3, 10; Eph 4, 24). Als einseitig sei fünftens70 und letztens Barths Exegese von Röm 2, 14f71 zu kritisieren. Denn nach Barth bezieht sich die Passage und auch die mit ihr verbundene Prophetie in Jer 31, 33 über das direkt ins menschliche Herz geschriebene Gesetz nur auf die durch die christologische Offenbarung hinzugekommenen Heidenchristen. Kraemer wertet die Stelle hingegen als weiteren Beleg für die umfassende Universalität der menschlichen Dialektik. Sie drücke das tiefergehende Interesse Gottes an allen Menschen aus, das auch außerhalb des Bereichs der christologischen Offenbarung72 gelte. Von der menschlichen Dialektik ist nun bei Kraemer die göttliche Dialektik zu unterscheiden. Besteht die menschliche Dialektik73 zusammengenommen aus dem Hin und Her zwischen einer menschlichen Flucht vor Gott und einem menschlichen Suchen und Tasten nach Gerechtigkeit und Wahrheit, wobei beide Verhaltensweisen als Ausdruck menschlicher Gottgebundenheit verstanden werden, so handelt es sich bei der göttlichen Dialektik74 um ein Zugleich der Liebe und des Zorns Gottes. Anders als die menschliche Dialektik ist die göttliche Dialektik allerdings insgesamt noch einmal von Gottes Retterwillen um65 66 67 68 69 70 71 72 73 74

Vgl. aaO., 298. Vgl. aaO., 190. Vgl. aaO., 290.305. Vgl. aaO., 291. Vgl. ebd. Vgl. aaO., 306. Vgl. Barth, KD I/2, 324–356. Vgl. aaO., 348.354. Vgl. Kraemer, Die christliche Botschaft, 116 und Kraemer, Religion, 315. Vgl. Kraemer, Die christliche Botschaft, 115 und Kraemer, Religion, 315.

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klammert. Mit dieser Denkfigur verarbeitet Kraemer meines Erachtens andeutungsweise Grundeinsichten der Erwählungslehre Karl Barths75, nach der dem Ja und dem Nein Gottes insgesamt ein göttliches Ja vorgeordnet wird – Barths christologische Zuspitzung, aber auch seine Verwerfung bestimmter Gruppen innerhalb dieser christologischen Zuspitzung findet sich bei Kraemer in dieser Form allerdings nicht. Damit möchte ich nun auf meine These zurückkommen, dass man Kraemers Ausführungen insgesamt als eine durchgehende Variation zu Barths Vorgehensweise in §17 verstehen kann. Ordnet man nämlich das bei Kraemer über die menschliche und die göttliche Dialektik Gefundene nun beim zweiten Doppelschritt in Barths §17 ein, so ergibt sich das Folgende: Spricht Barth in §17.2 religionswissenschaftlich gesehen von einer „innere[n] Dialektik“76 der Religion, der aus theologischer Perspektive die „wirkliche Krisis“77 der christologischen Offenbarung vorangestellt wurde, verlegt Kraemer den immanenten religiösen Widerspruch in jede einzelne Religion und bildet bei ihm das Gegenüber von göttlicher und menschlicher Dialektik das Pendant zu Barths externem Widerspruch der Offenbarung in Bezug auf die Religion.

4.3

Der dritte Doppelschritt

Damit komme ich zu Barths drittem Doppelschritt in §17.3 und zu dessen lang ausgestellter Pointe, nämlich der Wahrheitsfrage in Bezug auf die Religionen. Es wird ja oftmals als ein Ärgernis empfunden, dass Barth hier als das einzige Wahrheitskriterium in Bezug auf die Vielfalt der Religionen die Erinnerung an den Namen Jesus Christus nennt und schließlich und endlich den christlichen Protestantismus als die einzig wahre Religion verstanden wissen möchte. Von Kraemer her könnte man nun das Wort Wahrheit wesentlich dynamischer interpretieren als Barth es jedenfalls in §17 tut: Denn im Sinne seiner biblischrealistischen Perspektive ergibt sich Wahrheit nicht so sehr als rationalistische Unterscheidung zwischen wahr und falsch, sondern aufgrund der Lebendigkeit und Authentizität der gott-menschlichen Beziehung,78 eine Umschreibung, die meines Erachtens dem alttestamentlichen Wahrheitsbegriff entspricht, wo Wahrheit, emet, so viel wie Bundestreue und Wahrhaftigkeit innerhalb einer Beziehung79 bedeutet. Hinzu kommt, dass Kraemer den Namen Jesus Christus in seinem 1958 publizierten Buch The Communiation of the Christian Faith deut75 76 77 78 79

Vgl. Barth, KD II/2, 1–563 (§§ 32–35). Barth, KD I/2, 343. AaO., 354. Vgl. Kraemer, Religion, 143. AaO., 369: „Loyalität“ und „Treue“.

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licher als Barth es jedenfalls in §17 tut vom alttestamentlichen Gottesnamen Immanuel her versteht – Gott mit uns.80 Dieser Name bringt nach Kraemer am besten zum Ausdruck, dass die Grundstruktur der gesamten Bibel durchgehend auf Kommunikation und Begegnung hin angelegt ist. Integriert Barth in seinen theologischen Wahrheitsbegriff wiederum die religionswissenschaftliche Perspektive, indem er im dritten Doppelschritt die verschiedenen Gnadenreligionen miteinander vergleicht, ist das religionswissenschaftlich erfassbare Pendant zu Barths drittem Doppelschritt bei Kraemer die andere Seite der ,Kommunikation von‘, nämlich die „Kommunikation zwischen“81. Diese Form der Kommunikation setzt nach Krämer zwar in Abgrenzung zu dem in den Missionswissenschaften derzeit vorherrschenden eher äußerlichen „approach“82 eines Außenstehenden und in Anschluss an Roger Mehl83, Karl Jaspers84 und Ernst Cassirer85 eine gemeinsame Welt der Kommunizierenden voraus, meint aber keinesfalls eine gleichberechtigte zwischenmenschliche Kommunikation. Gemeint ist vielmehr ein solidarisches Dienstverhältnis des einen gegenüber dem anderen und in conreto das Dienstverhältnis des christlichen Missionars als eines einfühlsamen Zeugen für die christliche Wahrheit im Gespräch mit den Mitgliedern anderer Religionen. Dieser missionarische Dienst am Nächsten und damit die Person des Missionars selbst wurde von Kraemer 1938 sogar als ein alternativer Anknüpfungspunkt betrachtet, der die festgefahrenen Fronten in der damaligen Debatte zwischen Barth und Brunner in der Frage nach dem rechten Anknüpfungspunkt wieder auflockern sollte.86 Beschliesst Barth den §17 mit der Erkenntnis der christlichen als einer wahren Religion, interpretiert Kraemer diese Erkenntnis 1958 in Anschluss an Joh 17,2187 nochmals als eine Kombination zwischen der „Kommunikation von“88 – der auf Gemeinschaft mit Christus gerichteten christlichen Botschaft – und der ,Kommunikation zwischen‘. Zusätzlich bezieht er sich für den Stellenwert der ,Kommunikation zwischen‘ auf Einsichten aus Karl Barths theologischer Anthropologie in KD III/289. Auch später blieb Karl Barth für Kraemer ein wichtiger theologischer Bezugspunkt, auch wenn die direkte Auseibandersetzung mit dessen Theologie 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89

Vgl. Kraemer, Kommunikation, 10. AaO., 7.15. AaO., 47. Vgl. Kraemer, Kommunikation, 6.45. Vgl. aaO., 57f. Vgl. aaO., 61f. Vgl. Kraemer, Die christliche Botschaft, 119–128, bes. 128. Vgl. Kraemer, Kommunikation, 19. AaO., 7.15. Vgl. aaO., 14f, vgl. Kraemer, Religion, 192; vgl. Barth, KD III/2, bes. 329–344.

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immer mehr in den Hintergrund rückte. Im seinem letzten großen Buch aus dem Jahr 1960, World Cultures and World Religions. The Coming Dialogue, wies er auf die große zukünftige Bedeutung der Anthropologie für den Dialog zwischen dem säkularisierten Westen und den östlich-religiösen Kulturen hin. Gerade Karl Barths „Anthropologie“90 in der Kirchlichen Dogmatik enthalte diesbezüglich viel Material – gemeint sind wahrscheinlich wiederum Einsichten aus Barths Schöpfunglehre in KD III/291: Das Faszinierende an Barth war und blieb für den doorbraak-Mann Hendrik Kraemer offensichtlich dessen positiv-würdigende Integration nicht-theologischer beziehungsweise nicht-christlicher Perspektiven in die Dogmatik und in concreto die Freimütigkeit, mit der Barth nichtchristliche Autoren wie etwa Konfuzius, Plato, Feuerbach oder Buber darin zu Wort kommen liess.

5.

Zur Rezeption von Kraemers Barthrezeption

Abschliessend gehe ich noch kurz auf die Rezeption von Kraemers Ansatz bei Hans Joachim Kraus und damit auf die Wahrnehmung Kraemers in einem deutschen Kontext ein. In seiner Einführung in die Theologische Religionskritik92 aus dem Jahr 1982 kritisierte Kraus, das Kraemer mit dem Begriff einer „spontanen Natürlichkeit“93 entgegen seinem Anliegen ein der Offenbarung Gottes gegenüber „,anderes Prinzip‘“94 habe einführen wollen. Indem Kraemer erneut das Natürliche geltend mache, so der Vorwurf, wolle er die entschiedene und kompromisslose Religionskritik Karl Barths erweichen und problematisieren. Außerdem verkenne Kraemer mit seiner Rede von einer „religiöse[n] Sekurität frommer Rezeptivität“95 die „prophetisch-apostolische Krisis“96, die mit der Religionskritik Karl Barths einhergehe und verkehre er den Sinn der Dialektik der dialektischen Theologie in ihr Gegenteil, indem er auf ein „ausgeglichenes Verhältnis zwischen Natur und Gnade“97 aus sei. Der Vorwurf der natürlichen Theologie hängt hier natürlich in der Luft, wird aber von Kraus selber nicht ausgesprochen. Ich bestreite nun nicht, dass Kraemer die Religionskritik Barths im Namen 90 Kraemer, Godsdiensten en Culturen, 327. 91 Vgl. Barth, KD III/2, bes. 329–344. 92 Hans-Joachin Kraus, Theologische Religionskritik, Neukirchner Beiträge zur Systematischen Theologie 2, Neukirchen-Vluyn, 1982. 93 AaO., 36f. 94 AaO., 37. 95 AaO., 36. 96 Ebd. 97 AaO., 37.

Zur Kritik von Barths Religionskritik

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eines biblischen Humanismus in der Tat problematisieren und deutlicher als Barth die Religion um der Religionen willen nicht nur verurteilen wollte. Insofern hat Kraemer der Religionskritik Karl Barths im §17 tatsächlich etwas von ihrer Kompromisslosigkeit genommen. Mit der von Kraus beklagten „spontanen Natürlichkeit“98 meint Kraemer jedoch gerade kein theologisches Prinzip, sondern das nicht systematisch zu erfassende freie Gnadenhandeln Gottes. Von einer „Sekurität“99 frommer Rezeptivität ist bei Kraemer aus demselben Grunde nichts zu spüren. Und auch der Ausgleich des Verhältnisses zwischen Natur und Gnade war nicht das Anliegen Kraemers.100 Eher könnte man sagen, dass Kraemer Karl Barths Identifikation von natürlicher Theologie und der nach Kraemer biblisch gebotenen Anerkennung einer auch in der Natur, der Geschichte und dem Gewissen möglichen Selbstenthüllung Gottes bestreiten wollte und bestritten hat.101 Kraemer hält Barths Eingrenzung des Offenbarungsbegriffs auf die christologische Offenbarung tatsächlich für biblisch-theologisch falsch.102 Die Aussage, dass die christologische Offenbarung vom Neuen Testament her gesehen die „zentrale oder den Brennpunkt betreffende“103 beziehungsweise die „abschließende Offenbarung“104 sei und Jesus Christus aus dieser Perspektive das „Kriterium“105 zur Beurteilung aller anderen Offenbarungsweisen Gottes bilde, hält er jedoch für richtig. Kraemer ging es um eine Kombination: Um das freie und souveräne Gnadenhandeln Gottes und um die Möglichkeit menschlicher Offenheit dafür, die sich selbst noch in der Verkennung dieser Möglichkeit manifestiert. 98 AaO., 36f. 99 AaO., 36. 100 Vielmehr geht es Kraemer um eine Dekonstruktion des Gegensatzes zwischen einem kontinuierlich oder gerade diskontinuierlich gedachten Verhältnis zwischen Natur und Gnade beziehungsweise allgemeiner und besonderer Offenbarung und um eine Integration der allgemeinen in die besondere Offenbarung (vgl. Kraemer, Religion, 346ff): Jede Offenbarungsform sei zunächst biblisch gesehen eine Art und Weise, von „Gottes aktiver Selbstenthüllung aus direktem und persönlichem Interesse am Menschen zu sprechen“ und jede dieser Offenbarungsformen sei „auf die schöpferische Wiederherstellung des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen gerichtet“ (aaO., 348). Das gelte auch von der von Barth zwar abgewiesenen aber biblisch gesehen unbestittenen Rede von einer Offenbarung Gottes in der Natur, der Geschichte oder dem Gewissen. Diese gelte allerdings „legitim nur im Lichte der Offenbarung in Christus“ (ebd.). Barths Ablehung eines anthropologischen Anknüpfungspunktes, so Kraemers Schlussfolgerung, sei zwar einerseits zuzustimmen, andererseits sei jedoch an der methodisch nicht ableitbaren Erfahrung eines anthropologischen Anknüpfungspunktes etwa in der zwischenmenschlichen Begegnung festzuhalten (vgl. aaO., 358.366). 101 Vgl. Kraemer, Religion, 348f. 102 AaO., 352f, 354. 103 AaO., 350. 104 AaO., 354. 105 Ebd.

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6.

Susanne Hennecke

Zum Schluss

Damit findet sich bei Kraemer eine Denkform, die meines Erachtens auch den übrigen niederländischen Rezeptionen der Religionsthematik bei Karl Barth mehr oder weniger unbewusst zugrunde liegt und die – so meine vorsichtige These für zukünftige Forschungen – womöglich den gemeinsamen kritischen Nenner niederländischer Barthkritik in Bezug auf dessen Umgang mit Religion, Religionen und auch der Religionskritik bildet. Zu beobachten ist nämlich eine implizite Kritik der von Barth angewandten dialektischen Denkform, bei der die verschiedenen Formen der Religion oder auch die verschiedenen Varianten des Atheismus wie eine zu überwindende Antithese vorzugsweise als aufzuhebenden oder mindestens anzunehmenden Widerspruch in Bezug auf die christologische Offenbarung thematisiert werden. Demgegenüber geht es in den hier besprochenen niederländischen Ansätzen um das mehr als nur relativ eigene Recht der Antithese und um deren mehr als nur negative Funktion in Bezug auf die Offenbarung: andere Religionen, unwahre Formen der eigenen christlichen Religion und auch Phänomene wie der neuzeitliche Atheismus und die nichttheologische Religionskritik werden als solche stärker – oder besser : noch stärker – gewürdigt als das bei Barth der Fall ist.106 Diese Wahrnehmung entspricht jedenfalls einer frühen Intuition des liberalen Theologen und äußerst positiven niederländischen Barthrezipienten Karel Hendrik Roessingh, der bereits 1925 von einer gefühlten niederländischen Fremdheit in Bezug auf das Dialektische im dialektischen Denken Karl Barths und seines Angriffs auf den modernen Religionsbegriff sprach und diese Befremdung auf den Einfluss von Erasmus auf die niederländische Kultur zurückführte: „Unsere Volksart kann nicht in solchen scharfen dialektischen Gegensätzen leben und denken wie die Deutschen, die die große Tradition Kants und Hegels hinter sich haben; ob wir es wollen oder nicht, Erasmus ist unser Ahne, und wir können ihn nicht austreiben [Übers. SH].“107 Als Alternative bevorzugte Roessingh eine Denkfom, in der beide Pole einer Dialektik oder auch Paradoxie jeweils zu ihrem eigenen Recht kommen.

106 Vgl. den Beitrag zu Hendrikus Berkhof in diesem Band. 107 Karel H. Roessingh, Het humanistisch en het eschatologisch element in het modernisme, in: Gerrit J. Heering (Hg.), Verzamelde werken van dr. K.H. Roessingh, Bd. II: Theologische geschriften, Arnhem 1926, 347–371.

Dick Boer

„Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“. Christlich-atheistische Reflexionen zum ersten Gebot als Axiom einer radikalen Religionskritik

1.

Dogmatik als Umweg – und die Frage Miskottes

Zwischen der Konstituierung des in Gottes Offenbarung implizierten menschlichen Subjekts (§16: Die subjektive Wirklichkeit der Offenbarung)1 und der diesem Subjekt gebotenen Praxis (§18: Der Mensch als Täter des Wortes)2 wusste Barth sich bekanntlich genötigt, seine Ausführung über dieses Subjekt mit einer Verhandlung über die Religion zu unterbrechen – §17: Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion3. Diese Unterbrechung könnte erstaunen. Von der Offenbarung her, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt wird, biblisch-theologisch also, steht doch nichts zwischen dem Immanuel, dem Gott-mit-uns, dem Gott also, der nicht ohne den Menschen Gott sein will, und dem ,uns‘, das seinerseits das ,wir-mit-Gott‘ praktizieren soll. Der Grund dafür ist das ,Problem der Religion‘4 : „Gott ist in seiner Offenbarung tatsächlich eingegangen in eine Sphäre, in der seine Wirklichkeit und Möglichkeit umgeben ist von einem Meer von […] nicht zu verkennenden Parallelen und Analogien […]. Gottes Offenbarung ist tatsächlich Gottes Gegenwart und also Gottes Verborgenheit in der Welt menschlicher Religion.“5 In dieser Welt der Religion erscheint „das göttlich Einzigartige in einem menschlich bloß Eigenartigen“6. An sich müsste das kein Problem sein, solange in diesem Eigenartigen das Einzigartige alle Ehre bekommt: „Der NAME, dein Gott, ist Hchad, der Einzige und Einzigartige“ (Dtn 6, 1 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur kirchlichen Dogmatik, Teilbd. 2, Zollikon 1938, 222–303. 2 AaO., 397–504. 3 AaO., 304–396. 4 Weil „eine Begriffs- und Wesensbestimmung der Rel. […] ein fast unlösbares Problem“ darstellt, das nur lösbar erscheint durch „eine subjektive existenzielle Entscheidung“ (RGG 7, 4 2004, 265) halte ich mich ,einfach‘ an die Definition, die Barth selber gibt, nämlich dass „Menschen [sich] bestimmten, über ihr eigenes Wesen und das der Welt erhabenen und es beeinflussenden Mächten gegenübergestellt […] fühlen“; vgl Barth, KD I/2, 306. 5 Barth, KD I/2, 307. 6 Ebd.

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4). Faktisch wurde es aber ab dem Moment sehr wohl zu einem Problem, in dem die neuzeitliche Theologie begann, den christlichen Glauben als ,Religion‘ misszuverstehen und anfing, die Erscheinung für das Eigentliche zu halten. Konsequenterweise sprach Barth darum im §17 auch von „,Christentum‘ oder ,christlicher Religion‘“7. Damit unterstreicht er, dass es sich beim christlichen Glauben an sich tatsächlich nur um eine Religion unter anderen handelt, um „ein Besonderes auf dem Felde des Allgemeinen, das man Religion nennt“8. Damit verliert der Glaube den Ausführungen Barths zufolge seinen objektiven Grund, nämlich in der „real verändernden Tatsache, dab Gott ist“9 gegründet zu sein, und wird zu einem bloß subjektiven Bewusstseinszustand, bei dem „die beweisende Kraft für die Wahrheit […] dem religiösen Bewußtsein als solchem zugeschrieben“10 wird. Zu beweisen war jetzt die Überlegenheit dieses Bewusstseins: „Es kam nun alles darauf an, innerhalb dieses auch von der nichtchristlichen Welt anerkannten anthropologischen Allgemeinbegriffs […] das besondere ,Wesen des Christentums‘ ans Licht zu stellen […]. [–] Das Christentum [wurde nun] als die bessere Begründung von Weltanschauung und Sittlichkeit, als die bessere Befriedigung der letzten Bedürfnisse, als die bessere Aktualisierung der höchsten Ideale des modernen Menschen seinen verschiedenen Konkurrenten gegenübergestellt“11. Es sollte sich kurzum erfolgreich auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten bewähren. Barth sah es auch als eine „providentielle Fügung“ an, dass „die […] genaueste […] ,heidnische‘ Parallele zum Christentum, eine Religionsbildung im fernsten Osten in Parallelität nicht etwa zum römischen oder griechischen Katholizismus, sondern nun ausgerechnet gerade zu der reformatorischen Gestalt des Christentums steht“12, gemeint ist mit dieser Parallele die Gnadenreligion zweier buddhistischer Sekten in Japan. Selbst als Gnadenreligion kann sich die christliche Religion also nicht als überlegen beweisen. Barth muss es genossen haben, auf diese Parallele gestoßen zu sein! Das Erscheinen der „christlichen Religion“ als Religion ist aber nach Barth auch real: „auch sonst und überhaupt scheinen sich die Menschen – und das sogar mit einer gewissen Notwendigkeit – bestimmten über ihr eigenes Leben und das der Welt erhabenen und es beeinflussenden Mächten gegenübergestellt zu fühlen.“13 Ebenso ergeht es dem Christen! In der Welt der Religion erscheint 7 AaO., 306. 8 AaO., 307. 9 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II: Die Lehre von Gott , 1. Teilbd., Zollikon 1940, 289. 10 Barth, KD I/2, 364. 11 AaO., 368. 12 AaO., 372. 13 AaO., 306.

Christlich-atheistische Reflexionen zum ersten Gebot

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das von der Offenbarung konstituierte Subjekt in der Tat als homo religiosus und seine Praxis als Religion, und zwar mit allem, was dazu gehört: mit einem Gott, einem Kult und einem Heiligtum. Entsprechend ist für ihn auch die christliche Religion eine menschliche Produktion, „ein menschliches Gemächte“14, das genau darum nicht weniger als die Religion im Allgemeinen von der Offenbarung her als „Unglaube“15 zu qualifizieren ist, weil sie ihre Subjektivität statt ihre schlechthinnige Abhängigkeit von der Offenbarung als Beweis für die Wahrheit ihres ,Glaubens‘ anführt. Barth betont hier vor allem die Ähnlichkeit zwischen christlichem Glauben und Religion, sodass unmissverständlich klar wird, dass der christliche Glaube als Religion gerade nicht demonstrieren kann, dass er im Gegensatz zu allen anderen Religionen von einer echten Offenbarung herkommt. Der Sinn der Unterbrechung der §§16 und 18 über die Konstituierung des in der Offenbarung implizierten Subjekts ist also die Ausschaltung des Gedankens, der Glaube sei dem Allgemeinbegriff ,Religion‘ unterzuordnen: „Es geht bei der Frage nach dem Problem der Religion in der Theologie um ein Entweder-Oder, bei dem auch die geringste Abweichung, die geringste Konzession an dem Religionismus die richtige Antwort sofort ganz unmöglich macht.“16 Die Unterbrechung war also nicht in erster Linie biblisch-theologisch, sondern dogmatisch motiviert,17 was damit zusammenhängt, dass dieser Religionismus in der Dogmatik und insbesondere in der Dogmatik der Neuzeit völlig selbstverständlich, ja ,natürlich‘ geworden war – und im Kirchenkampf der Kirche sogar fatal zu werden drohte (KD I/2 erschien 1938). Wahr wird die christliche Religion erst in ihrer ,Aufhebung‘ durch die Offenbarung. Barth verwendet eine Denkfigur aus der hegelschen Dialektik: „Die Aufhebung der Religion […] braucht nicht bloß zu bedeuten: ihre Negation […] Die Religion kann in der Offenbarung […] wohl aufgehoben […] von ihr gehalten und in ihr geborgen […] sein. [Kurs. DB]“18 Dabei ist klar, dass diese Aufhebung nicht ein Kraftakt menschlichen Denkens ist, die Aufhebung geschieht vielmehr„durch die Offenbarung“19. Offen bleibt aber, ob wir uns diese ,Aufhebung‘ vor allem als ein ,Bewahren‘ (vgl. „gehalten“ und „geborgen“) der Religion vorzustellen haben oder als eine Negation, deren Konsequenz nicht eine ,höhere Form‘ von Religion ist, sondern vielmehr deren Ende. Könnte es nicht 14 15 16 17

AaO., 329. AaO., 324. AaO., 321. Der niederländische Theologe Frans Breukelman bezeichnete Barths Dogmatik als Hermeneutik: „Diese Dogmatik ist in erster Instanz: Aufruf zu einem sehr bestimmt neuen Hören auf das Zeugnis der Heiligen Schrift“; vgl. Frans H. Breukelman, Dogmatiek als hermeneutiek, in: Ders., Bijbelse Theologie, Bd. IV/2: Theologische opstellen, Kampen 1999, 5–75, 9. 18 Barth KD I/2, 357. 19 Ebd.

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sein, ja, ist es nicht so, dass die christliche Religion, von ihrer Aufhebung her gedacht, selber schon sichtbar und erkennbar diese „Negation“ praktiziert und das Ende der Religion in ihrem Gottesdienst vorwegnimmt? Gibt es nicht eine der Einzigartigkeit des Gottes der Offenbarung entsprechende Eigenartigkeit seitens des von ihm konstituierten menschlichen Subjekts? Muss sie also zwangsläufig als Religion in der Welt der Religion erscheinen? Der niederländische Theologe und Zeitgenosse Karl Barths Kornelis H. Miskotte (1894–1976) hatte jedenfalls in einem Brief vom 22. 3. 1939 offenbar Anlass, bei Barth genauer nachzufragen: „Es gibt wahre Religion, obschon Religion in sich selbst Unglauben heißen muß [soweit stimmt Miskotte Barth zu; DB]; aber [fragt Miskotte dann; DB] diese Erwählung kann nicht jeder Religion geschehen, die christliche Religion ,ist‘ je und je [nur durch Erwählung; DB] die wahre Religion.“20 Dass sie tatsächlich erwählt ist, steht auch bei Miskotte zwischen Anführungszeichen, aber, so sein Hauptgedanke, was der christlichen Religion geschieht, kann nicht jeder Religion geschehen. Das heißt, dass sich die christliche Religion sichtbar und erkennbar in der Welt der Religion von der Religion unterscheiden kann. Zwar beweist sie ihre Wahrheit damit nicht, sie bezeugt sie aber – oder eben auch nicht, wenn sie sich nämlich nicht sichtbar und erkennbar von der Religion unterscheidet. Im Gegensatz zu Barth arbeitet Miskotte auch mit einer Phänomenologie, die sichtbar machen kann, dass diese christlich-religiöse Eigenart in Form einer biblischen Theologie tatsächlich auch als Eigen-Art erscheinen kann.21 Für Barth hingegen ist der Satz, dass die Religion Unglaube sei, gerade nicht „an Hand einer Phänomenologie oder Geschichte der Religion“22 zu beweisen. Miskotte relativiert das. Es kann gezeigt werden, dass sich biblische Theologie und Anthropologie qualitativ von der Logik der Religion unterscheiden: „Von größter Bedeutung ist es ferner, die Art der ,Abhängigkeit‘ zu sehen, in welcher sich das vor uns liegende biblische Schrifttum in seinem Wort-Zusammenhang befindet, im Hinblick auf ,außerbiblische‘ Grundwörter und Sprachsymbole, weil nur so das Eigene an dem Tag treten kann, nämlich [an der] Tendenz, mit welcher das gegebene Wort umgekehrt und in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt wird.“23 20 Kornelis H. Miskotte, Brief an Karl Barth vom 22. 3. 1938, in: Ders., Brieven [an Barth; DB] 1924–1968, in: Ders., Verzameld werk van dr. K.H. Miskotte, Bd. II: Karl Barth. Inspiratie en vertolking: Inleidingen, essays, briefwisseling, hg. v. A Geense/H. Stoevesandt, Kampen 1987, 430–540, 451. 21 Vgl. Miskottes folgende Ausführung: „In dem Recht der phänomenologischen Exegese liegt auch das unveräußerliche Recht der sogenannten, ›biblischen Theologie‹ beschlossen, die unter Ausschaltung aller biographischen und historischen Momente […] sich auf die Sache richtet“; vgl. Kornelis H. Miskotte, Das Problem der theologischen Exegese, in: Theologische Aufsätze. Karl Barth zum 50. Geburtstag, München 1936, 56. 22 Barth, KD I/2, 327. 23 Miskotte, Das Problem, 53.

Christlich-atheistische Reflexionen zum ersten Gebot

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Man muss wissen, was man glaubt und Miskotte hat es deshalb als seine Aufgabe angesehen, der Kirche die biblischen Grundworte beizubringen und also die Kirche gleichsam zu alphabetisieren. In seinem Biblische[n] ABC stellt er fest, dass „die Urworte der Heiligen Schrift“24 uns unbekannt geworden sind, weil sie von „unseren eigenen Urworten“25 verdrängt wurden – obwohl diese in der Bibel gar nicht vorkommen. Eines dieser eigenen Worte ist „Religion“26, die in der Bibel als Gottlosigkeit bekämpft wird. Der Gegenbegriff ist für Miskotte der Atheismus, der zwar nicht zu den biblischen Grundworten gehört, aber die Sache, um die es dort geht, adäquat auf den Begriff bringt: „Der Atheismus ist in seiner ersten und reinsten Gestalt die Kehrseite von Israels Glauben. Er ist eine frohe Sache, eine Befreiung für immer […]. Die ,Heiligung des Namens‘, welche dem Volk Gottes geboten ist, fängt immer mit dem Bekennen dieses ,Atheismus‘ an.“27

2.

Die Antwort Barths: das erste Gebot als theologisches Axiom

Barth hatte aber die Frage Miskottes bereits in seinem Vortrag Das erste Gebot als theologisches Axiom28 aus dem Jahr 1933 beantwortet. In diesem Vortrag fehlt allerdings der Umweg über das Problem der Religion und Barth kommt direkt zur Sache, nämlich der dem Volk Gottes gebotenen Praxis: „du sollst keine andern Götter neben mir haben“.29 Damit wird die Frage nach der Praxis für Barth zur wichtigsten Frage und alles andere dient einzig und allein dazu, diese Frage zu beantworten. Zwar zählt Barth als guter Calvinist zum ersten Gebot das befreiende Wort „Ich bin der Herr dein Gott“ und ist das „du sollst“ als das in diesem Evangelium implizierte Gesetz zu verstehen und das Grundverhältnis das „des Befreiers zum Befreiten“30. Trotzdem wird das Gebot so sehr betont, dass das „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, dem Diensthaus, geführt hat“ höchstens noch als „Vorgeschichte des Gebotes“31 betrachtet wer24 Kornelis H. Miskotte, Biblisches ABC. Wider das unbiblische Bibellesen, Neukirchen-Vluyn 1976, 147, Amsterdam 21966[ursprl. Bijbels ABC, Nijkerk 1941]. 25 Ebd. 26 AaO., 148. 27 Kornelis H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments, München 1966, 20 [ursprl. Als de goden zwijgen. Over de zin van het Oude Testament, Amsterdam 1956]. 28 Karl Barth, Das erste Gebot als theologisches Axiom, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1930–1933, GA III.49, hg. v. M. Beintker/M. Hüttendorf/P. Zocher, Zürich 2013, 214–241. 29 AaO., 217. 30 AaO., 223. 31 Ebd.

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den kann. Entscheidend ist, dass das Gebot, „keine anderen Götter neben mir zu haben“, dem Volk Gottes gebietet, sich ausdrücklich von den „Völkern“ zu unterscheiden: „Das Gebot […] isoliert ganz Israel als solches gegenüber diesen Völkern mit der Forderung, diese andern Götter nicht etwa neben dem Gott Israels […] neben dem Gott, der Israel aus Ägypten geführt, auch als Gott zu haben, also für Gott zu halten.“32 Diese splendid isolation, die Israel auferlegt wird, ist kaum anders als als radikalste Religionskritik zu verstehen. Denn mit den Göttern, die Israel nicht für Gott halten darf, müssen genau diejenigen Mächte gemeint sein, denen sich die Menschen eben gegenübergestellt fühlen. Barth argumentiert hier biblisch-theologisch: die Sätze der Kirche „können grundsätzlich nur Auslegung [der Bibel] sein“33. Das Problem der Religion kommt in diesem Vortrag erst zum Schluss zur Sprache – nachträglich, als Beispiel, wie die Theologie ihr Thema aus den Augen verloren hat und nicht mehr weiß, was ihr zu tun geboten ist, nämlich der Kirche den Dienst einer radikalen Religionskritik zu leisten.34 Zwar ist es von der Logik des biblischen ABCs her gesehen eigentlich unverständlich, dass die Kirche überhaupt auf den Gedanken gekommen ist, dass der christliche Glaube eine Religion sei. Aber da das an sich Unverständliche geschehen war, sah Barth sich genötigt, es zu erklären und ist der §17 der Versuch einer Erklärung, wie die Theologie auf den trügerischen Gedanken einer Ähnlichkeit zwischen der christlichen Religion und den Religionen im Allgemeinen überhaupt kommen konnte. Der Paragraph sollte also nicht dahingehend missverstanden werden, dass Barth darin alles sagt, was über die Religion zu melden wäre. Vielmehr ist der Paragraph von Das erste Gebot als theologisches Axiom her als der Umweg anzusehen den Barth gehen musste, um zur Sache selbst zu kommen: ihr sollt keine anderen Götter neben mir haben.35 Barth argumentiert biblisch-theologisch. Hier konzentriert er sich auf den praktischen Sinn der Exodus-Erzählung, die Befreiung aus der Knechtschaft der Religion. Dabei richtet er sich insbesondere gegen den Gedanken, dass eine ,Schöpfungsordnung‘ als eigenständige Größe dem Gedanken der Befreiung zur Seite gestellt wird.36 Denn auch die Schöpfung ist Gegenstand

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AaO., 227. AaO., 218. Vgl. aaO., 227ff. Einen ähnlichen Umweg geht Barth im §14 (zwischen den §§13 und 15): die Selbstverständlichkeit, mit der in der Dogmatik die Zeit der Offenbarung einem allgemeinen Zeitbegriff untergeordnet worden war, zwang ihn zu einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Zeit. 36 „Der allgemeine Begriff des Axioms versagt hier völlig. […] Von gewissen, angeblich der sittlich-politischen Geschichte zu Grunde liegenden Axiomen ist offenbar ähnliches zu sagen. Man nimmt sie in der heutigen Theologie mit merkwürdigem Eifer als ,Schöpfungsordnungen‘ in Anspruch. […] Ein Axiom, das man abstrakt aus der Schöpfung meint

Christlich-atheistische Reflexionen zum ersten Gebot

301

der biblischen Befreiungsgeschichte, nämlich eine Erzählung der Befreiung aus dem Tohuwabohu, die das Problem der Religion schon ganz ,Am Anfang‘ radikal angeht. Darum plante Barth in seiner Schöpfungslehre ursprünglich auch zwei dann doch nicht aufgenommene Abschnitte, nämlich Gott und die Götter und Der Glaube und die Weltanschauungen.37 Auf diese beiden Abschnitte möchte ich im Folgenden zu sprechen kommen.

3.

Der Satz „Ich glaube an Gott, den Schöpfer“ ist ein Kampfsatz38

In Gott und die Götter39 geht es um die Weiterführung der „in der Analyse der beiden Schöpfungssagen Gen. 1 und Gen. 2 […] gewonnenen Einsichten“, und zwar zuerst um die kritische Aufgabe, Gott von den Göttern zu unterscheiden, und zwar radikal: die Götter heißen in der Bibel nicht zufällig „Nichtse“.40 Es geht in diesem Abschnitt also um Verneinung, Negation und Kritik.41 Vorausgesetzt ist die Auslegung von Gen. 1, 2: das Tohuwabohu als die „laut der Offenbarung in seiner wirklichen Schöpfung [nämlich im Sprechen seines Wortes!; DB] verneinte[…] und verworfene[…] […] Welt“42. Die Verneinung so ausdrücklich voranzustellen ist wahrscheinlich der Grund gewesen, dass Barth diesen Abschnitt nicht in der Kirchlichen Dogmatik veröffentlichte. Schöpfung ist dort ja vor allem „Wohltat“ (vgl. den Titel von §42.1: Schöpfung als Wohltat43), „das Ja Gottes des Schöpfers“ (vgl. Titel des §4244) geht also voran. Aber ich denke, dass Barth der Negation ihren Ort in der Kirchlichen Dogmatik ihren Ort hätte lassen

37 38

39 40 41 42 43 44

ablesen zu können, ist, was es auch sein mag, sicher nicht das Gebot Gottes, nicht theologisches Axiom“; vgl. Barth, Das erste Gebot, 224f. Es geht um die Abschnitte 1 und 2 in dem für die KD vorgesehenen §42, „Der Schöpfer und seine Offenbarung“, in: Karl Barth, Unveröffentlichte Texte zur Kirchlichen Dogmatik, GA II, hg. v. H. Stoevesandt/M. Trowitzsch, Zürich 2014, 5–304. Rinse Reeling Brouwer machte mich darauf aufmerksam, dass Barth das Thema ,Gott und die Götter‘ der Schöpfungslehre Calvins entliehen haben könnte: In der Institutio von 1559 (I.10.3) schreibt Calvin: „primo [!] observent lectores, Scriptura mut at verum Deum nos dirigat, diserte excludere acreii ceredeo somnes Gentium, quia seculis fereomnibus passim adulterata fuit religio“; zit. nach Peter Barth/Wilhelm Niesel (Hg.), Ioannis Calvini Opera Selecta III, München 1928, 87 Z. 21–24. Karl Barth, Der Schöpfer und seine Offenbarung, in: Ders. Unveröffentlichte Texte, 9–113. AaO., 9. Obwohl im Leitsatz die Offenbarung Gottes des Schöpfers als „Bejahung aller von ihm verschiedenen Wirklichkeit“ vor der „Verneinung jeder Gestalt ihrer [dieser Wirklichkeit] eigenen Göttlichkeit“ steht; vgl. aaO, 6. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III: Die Lehre von der Schöpfung, 1. Teilbd., Zollikon-Zürich 1945, 119f. Barth, KD III/1, 377. Ebd.

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sollen. Denn es führt kein Weg an der Religionskritik vorbei, es sei denn, wir würden uns in unserem Übermut in Hinblick auf die Protagonisten der Religion, den Göttern, für immun halten. Der Satz „Ich glaube an Gott, den Schöpfer“ ist meines Erachtens als ,ein Kampfsatz‘ zu verstehen. Von der Offenbarung her gedacht – und anders darf theologisch jedenfalls nach Barth überhaupt nicht gedacht werden – muss gesagt werden, „dass sie die radikale Kritik aller Götter in sich schließt“45. Denn zwischen Schöpfer und Geschöpf ist kein Drittes, „sind die Götter ausgeschlossen und beseitigt“46. Der Raum zwischen ihnen „ist der Raum, in welchem ein anderer Gott und andere Götter nicht sein können“47. Die Metaphorik ist militant: Kampf, ausschließen, beseitigen. Dem Glauben an Gott, den Schöpfer, ist also diese Militanz wesentlich. Er entspricht der Militanz Gottes selber. Er ist selber wesentlich Religionskritiker. Dass die Götter nicht sein können, kann nur „von Gottes Schöpfungsakt her“48 gesagt werden. Indem Gott das Tohuwabohu verwarf, hat er das Geschöpf diesem Tohuwabohu, „dem Nichts […] entrissen“49. Das kann man vom Geschöpf so nicht sagen: „Es hat sich nicht selbst gesetzt und damit dem Nichts entrissen.“50 Ohne diesen Schöpfungsakt, in welchem Gott sich als Gott-mit-uns offenbart, erscheinen die Götter als „reale[…] Mächte[…]“, die zwar Gott gegenüber ohnmächtig sind, „aber nicht ohnmächtig, sondern übermächtig im Verhältnis zu den Taten und Wirkungen der anderen Geschöpfe“.51 Auf die „anderen Geschöpfe“ [Kurs. DB], also darauf, was es heißt, dass auch die Götter zur Geschöpfwelt gehören, komme ich noch zu sprechen. Aber indem Gott sich selbst als Gott-mit-uns offenbart, offenbart er zugleich den Menschen, erschafft er das Subjekt Mensch als „Partner und Gefährte“52, als Bundesgenosse. Denn das ist es, „was nach Gottes Offenbarung die Absicht seines Bundes mit dem Menschen und damit auch die Absicht der Schöpfung ist […] [, nämlich] mit Gott [zu] triumphieren über das drohende Nichts“53. Es folgt kurz hintereinander neunmal ein Satz, der jeweils mit „es ist der Mensch“ beginnt. Der erste lautet: „Es ist der Mensch, dem gewissermaßen am Tor der ganzen Geschöpfwelt die Wache übertragen ist, die jedem anderen als dem Schöpfer und dem Geschöpf den Eintritt in diesen Bereich zu verweigern […] 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Barth, Unveröffentlichte Texte, 10. AaO., 113. AaO., 89. AaO., 60. AaO., 61. Ebd. AaO., 18f. AaO., 61. Ebd.

Christlich-atheistische Reflexionen zum ersten Gebot

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hat.“54 Im Moment, dass Gott uns zu erkennen gibt, dass in der Schöpfung die Götter nichts zu melden haben, gebietet er uns so frei zu sein, keine anderen Götter neben ihm zu haben und also die Kritik aller Götter nun auch unsererseits zu praktizieren. Gen 1, 2, deren Auslegung immer vorausgesetzt bleibt, bekommt hier ihren praktischen Sinn: dem Nichts entrissen wird der Mensch hinausgeführt in eine Welt ohne Götter und bekommt den Auftrag, alles, was sich zum Gott aufspielt, zu verneinen. Die Schöpfungserzählung ist darum genauso wie die Exoduserzählung eine Befreiungsgeschichte, nämlich der Anfang der Bundesgeschichte und Auftakt einer „Kriegsgeschichte“55. Zwar definiert Barth die Götter als die „Exponenten der […] Offenbarung des Nichts“56, doch sind sie nicht einfach identisch mit dem Nichts des Tohuwabohu, das von Gott schlechthin aus dem Bereich der Geschöpfwelt verwiesen wird. Das kann mit ein Grund gewesen sein, dass Barth diesen Abschnitt nicht in die Kirchliche Dogmatik aufgenommen hat und diesem „Nichts“ eine ,Sonderbehandlung‘ in der Lehre vom Nichtigen57 zukommen ließ, in der weder Götter noch Religion einen Ort haben dürfen. Ich komme im letzten Teil meines Beitrags auf das Nichtige zurück, wenn ich die Frage aufwerfe, was in letzter Instanz das Entstehen der Religion erklären kann. Die Götter aber stehen, wie wir hörten, „anderen Geschöpfen“ gegenüber und gehören offenbar selber zur Geschöpfwelt: Barth stellt ausdrücklich fest, dass die Götter „Geschöpfe“58 sind. Nur sind sie es „in einer eigentümlichen Verkehrung ihrer Geschöpflichkeit“59, durch welche sie gewissermaßen aus der Ordnung der Schöpfung heraustreten und zu Göttern werden. Es geht also um an sich gut geschaffene Dimensionen der Geschöpfwelt, deren Vergöttlichung zwar erklärlich – es sind „reale Mächte“, jedoch nicht notwendig ist: die „Verkehrung“ hat „in ihrer Geschöpflichkeit wohl ihre conditio sine qua non, nicht aber ihren Grund, nicht ihren Ursprung […]“60. Ursprünglich, von ihrem Ursprung in der Schöpfung her, sind es Geschöpfe wie alles andere – mächtig genug um für göttlich gehalten zu werden, aber entschieden nicht mächtig genug um ,wie Gott zu sein‘, jedenfalls wenn man daran festhält, dass es nur einen Gott gibt, der Gott, der die Welt und uns in dieser Welt ,gut‘ geschaffen hat. Das Subjekt der Verkehrung ist der Mensch: „des Menschen Mitgeschöpf [des Menschen Um-Welt; 54 55 56 57

AaO., 64. AaO, 10. AaO., 6. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III: Die Lehre von der Schöpfung, 3. Teilbd., Zollikon-Zürich 1950, §50 (Gott und das Nichtige), 327–425. 58 Barth, Unveröffentlichte Texte, 17. 59 Ebd. 60 Ebd.

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DB] hat nicht gesündigt“61. Er ist der homo religiosus, der die Schöpfung verdirbt, indem er bestimmte Geschöpfe vergöttlicht: „Wo vorher schlicht der natürliche oder geistige, der äußere oder innere Kosmos war, da sind jetzt kosmische Herren.“62 Und Gegenstand der Vergöttlichung ist nicht an letzter Stelle der Mensch selber : „homo hominideus“63 – die Reminiszens an Feuerbach ist evident: „Homo hominideus – dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.“64 Dieser Entwurf einer Menschheitsreligion ist ebenso schön wie verständlich, gerade auch in Anbetracht der von der Kirche zu oft propagierten Menschenverachtung, aber es geht nichtsdestoweniger um Religion, mit der der Mensch in einer Weise erhöht wird, dass er nur fallen kann. Angesichts dieses Übermenschen kann der Mensch, der auf Gott hört, nur der Atheist sein, der nicht nur weiß, dass es neben Gott keine anderen Götter gibt, sondern auch danach handelt. Mit seinem Atheismus bekundet er, tatsächlich aus dem Haus der Religion hinausgeführt zu sein, und zwar ,von Anfang an‘. Im zweiten Abschnitt, Der Glaube und die Weltanschauungen65 geht es dann um den Weg dieses Menschen in das Reich der Freiheit: zum Auszug gehört der Einzug. Das Stichwort, worauf dieser Abschnitt hinausläuft, ist Freiheit.66 Wo die Götter nicht mehr das Sagen haben, ist es auch mit den Weltanschauungen, in denen der Mensch wie ein Gott die Welt in den Griff nimmt, getan. Die Welt kann gesehen werden, wie sie ist. Deshalb ist gerade der Glaube „die Freiheit zur Wissenschaft, die Freiheit zu wirklichem Sehen und immer besserem Sehen und also zum wirklichen Erforschen und Kennen der wirklichen Welt“67. Man merkt dabei, wie für Barth das Sehen der wirklichen Welt ein menschliches Sehen ist – bestenfalls ein „immer besser[…] Sehen“68, nie aber ein Sehen ,wie Gott‘. Und was für diese „offene Weltwissenschaft“ gilt, gilt auch für „eine ihr entsprechend offene Weltgestaltung“69 (Technik, Wirtschaft, Politik, Kunst). Theorie und Praxis sollen menschlich bleiben. Letztendlich und zusammenfassend geht es um die Quintessenz dessen, was Gott der Schöpfer seinem Geschöpf, dem Menschen, zudenkt: „und so vollenden wir jetzt die Reihe [einer freien Theo61 62 63 64

65 66 67 68 69

AaO., 73. AaO., 74f. AaO., 57. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. V, hg. v. W. Schuffenhauer, Berlin 1984, 444 [ursprl. Leipzig 1841]. Dagegen Barth: „Auch der Mensch Jesus Christus wurde nicht von sich aus, nicht durch seine Tugend und Kraft Gottes Sohn: er wurde es, indem er von Gott dem Vater durch den Heiligen Geist in der Einheit des Seins mit seinem Sohne aufgenommen wurde“; vgl. Barth, Unveröffentlichte Texte, 17f. AaO., 113–304. Schon im Leitsatz hören wir vom „Werk des Glaubens an den Schöpfer“ als das Erkennen der Wirklichkeit „in der Freiheit des Verzichts [Kurs. DB]“ auf ihre Vergöttlichung; vgl. aaO, 6. AaO, 294. Ebd. AaO, 297.

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logie, Weltwissenschaft und Weltgestaltung; DB].[…] Ihr letztes Glied ist: der freie Mensch“70. Zu diesem Einzug gehört allerdings auch der Auszug, die Negation, der Krieg gegen die Götter. Denn die Freiheit ist und bleibt „in Streit und umstritten“71. Ein militanter Atheismus bleibt die Voraussetzung wirklicher Freiheit. Barth bewegt sich mit seiner Religionskritik in der Welt der Neuzeit. Die Radikalität, mit der Gott die Götter tötet, wird mit dem Begriff der Aufklärung kommentiert: „Die Götter sind hier tot: so tot, wie keine Aufklärung sie töten kann.“72 Die Gemeinde ist „der Ort in der Welt“, wo diese Aufklärung „effektiv geschehen muss“73. Aber es gibt auch anderswo „allerlei Aufklärung über die Götter“, ja, „es gibt ganze Revolutionen und Kriege, die im Grunde Erhebungen oder doch Abwehrbewegungen gegen bestimmte Göttermächte sind“74. Und die Gemeinde wird diesen „nicht teilnahmslos gegenüberstehen“75. Denn „gerade sie weiß um die Notwendigkeit und das Recht solcher Befreiungswerke und Befreiungskämpfe“76. Die große, nur von der Offenbarung her stattfindende Aufklärung ist nach Barth also nicht einfach die Negation der Aufklärung, die die Neuzeit zu ihrem Programm gemacht hat. Es gehört zur Freiheit eines Christenmenschen, mit dieser Aufklärung zu sympathisieren – im Wissen, dass Gott aufgeklärte Menschen mag.

4.

Die Kritik der Religion als Voraussetzung aller Kritik: Hinweis auf eine Analogie

Man würde jetzt erwarten, dass Barth den Atheismus der Neuzeit als ,Befreiungskampf gegen bestimmte Göttermächte‘ begrüßt hätte. Aber erstaunlicherweise tut er das in seinen expliziten Ausführungen über den Atheismus in den §§17 und 77 der Kirchlichen Dogmatik gerade nicht: Im §17 ist der Atheismus wie die Mystik „eine immanente Problematisierung der Religion“, die auch „nicht mehr als immanente Bedeutung hat“77, was heißt, dass er dem Bannkreis der Religion nicht entkommen kann, sondern letztlich selber wieder Religion 70 AaO., 304. Nicht zufällig zitiert Barth hier nahezu wörtlich Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ und zwar die beiden Grundthesen: „Hier wird er zum Knecht Gottes nicht nur, sondern in der Lieb zu einem untertänigen Knecht aller Dinge. […] Hier ist er als Geschöpf in der Hand seine Schöpfers frei, d. h. Herr aller Dinge, wie Gott es als Schöpfer ist.“ 71 Ebd. 72 AaO., 96. 73 AaO., 98. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Barth, KD I/2, 343.

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wird. Im §77 ist der Gedankengang nicht anders: Wie die Religion ist der Atheismus der Neuzeit „eine […] sich selbst absolut setzende Weltanschauung“, die, wohl unvermeidlich, „das Pathos irgendeiner individuellen oder gesellschaftlichen anthropomonistische Mystik und Moral als positives Komplement der atheistischen Leugnung“78 mit sich führt. Der Ton ist sogar deutlich schärfer geworden: der theoretische Atheismus ist „die primitivste Gestalt des Unbekanntseins Gottes in der Welt“79. Nun ist es zweifellos wahr, dass der Atheismus die Gefahr einer geschlossenen Weltanschauung, die meint, die Welt endgültig erklärt zu haben, in sich birgt. Und ebenso zweifellos verfährt dieser weltanschauliche Atheismus in seinem Agitprop oft ziemlich primitiv – wenn er zum Beispiel Kosmonauten erklären lässt, dass sie im Kosmos keinem Gott begegnet sind, nicht wissend, dass der Kosmos Schöpfung ist und es in ihr keine Götter geben kann! Es wundert aber, dass Barth den Atheismus auf diese Verabsolutierung reduziert und ihn dann dementsprechend mit der Religion über einen Kamm schert. Miskotte jedenfalls kritisiert diese von Barth vorgenommene ,Gleichschaltung‘ auch explizit, wenn er in einem Aufsatz Nietzsche en Barth schreibt: „Der Atheismus ist respektabel, respektabler als sein Verwandter, die Mystik, weil er die fabrica idolorum unmittelbarer angreift [Übers. DB].“80 Man würde eine offenere Haltung gegenüber dem Atheismus auch dort erwarten, wo Barth das ,allein‘ der Reformation (sola scriptura – sola gratia – sola fide) von dem Missverständnis befreit, wir hätten dem Anderen nur kritisch-negierend zu begegnen, zum Beispiel in seiner Lichterlehre81. Wenn Christus dort als das Licht der Welt charakterisiert wird, heißt das, dass uns auch von außerhalb der Kirche ,wahre Worte‘ entgegenkommen können. Hinzu kommt, dass Barth vor der eigentlichen Lichterlehre auf den heilsamen Einfluss der Neuzeit auf das Selbstverständnis der Kirche hinweist: Dieser besteht darin, „daß man auf christlicher Seite die positive Bedeutung […] gewisser mehr oder weniger rein humanistischer, achristlicher oder gar antichristlicher Schilderhebungen […] nachträglich entdeckt, kenntlich gemacht, der Christenheit zum Bewußtsein gebracht und ihr als Vorbild vor Augen gestellt hat“82. Diese Vorbildfunktion gilt nach Barth dabei insbesondere für den Sozialismus! Doch kommt es nicht zu einer expliziten Bewertung eines nicht unwesentlichen Aspekts des Sozialismus, 78 Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4 aus dem Nachlass. Vorlesungen 1959–1961, GA II.7, hg. v. H.-A. Drewes/E. Jüngel, Zürich 1976, 209. 79 Ebd., ,primitiv‹, ,Primitivität‹ und ,Dummheit‹ sind die favorisierten Epitheta, mit denen der Atheismus belegt wird. 80 Kornelis H. Miskotte, Nietzsche en Barth, in: Ders., Verzameld Werk, Bd II: Karl Barth, Kampen 1987, 391–405, 402. 81 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 3. Teilbd., 1. Hälfte, Zollikon-Zürich 1959, §69 (Die Herrlichkeit des Mittlers), 106–405. 82 Barth, KD IV/3, 31.

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nämlich seines Atheismus. Zwar hat Barth den Sozialismus andeutungsweise als ein ,wahres Wort‘ bezeichnet, nämlich als „die durch keinen Kompromiss zu stillende Unruhe […] angesichts der großen Unordnungen in Staat und Gesellschaft, angesichts der Menschen, die unter ihre Räder kommen mußten und müssen, und dazu vielleicht die eiserne Entschlossenheit eines Willens, gerade diesen großen Unordnungen zu Leibe zu gehen“83. Aber er hat nicht die Frage aufgeworfen, ob der Atheismus der marxschen Religionskritik ein ,wahres Wort‘ sein könnte, zum Beispiel im Sinne einer immanenten Problematisierung der Religion, die nicht selber wieder zur Religion wird, indem Immanentes zur Transzendenz (Vergöttlichung des Geschöpflichen) wird, sondern in der Immanenz bleibt, etwa wie bei Gramsci im Sinne einer „absolute[n] Verweltlichung und Diesseitigkeit des Denkens, ein[es] absolute[n] Humanismus der Geschichte“84. Obwohl man sich kaum vorstellen kann, dass Barth den Grundtext der marxschen Religionskritik, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung85, nicht gekannt hat, ist er in der Kirchlichen Dogmatik und soweit ich sehe auch in keiner anderen Schrift auf diesen nie zu sprechen gekommen. Trotzdem drängt sich die Analogie mit dem biblischen Atheismus auf! Die Analogie fängt schon an mit dem Grundsatz, dass nämlich „die Kritik der Religion […] die Voraussetzung aller Kritik“86 ist. Nach Marx sollen die Menschen erkennen: „Der Mensch macht die Religion“87, er macht sich Götter, die ihn dann daraufhin ,machen‘ – nämlich zu Menschen, die sich vor der Übermacht beugen und als geduckte Wesen durch die Welt gehen. Die Kritik der Religion ergibt eine Welt, in der es nur Menschen gibt, keine Götter mehr. Es ist aber, wie in der Exodus-Erzählung, nicht der Mensch im allgemeinen, um welchen es Marx zu tun ist, sondern es geht ihm um „die bedrängte Kreatur“ und ihre „Seufzer“88 nach Befreiung. Diese „Protestation gegen das wirkliche Elend“89 ist nach Marx das nicht-religiöse Wesen der Religion. Erst wenn der Mensch von den Göttern befreit ist, ist er frei, selber seine Wirklichkeit zu gestalten, kann er den Schritt machen von der Kritik der Religion zur Kritik des Rechts, das heißt der Kritik der ungerechten Verhältnisse. Die Logik dieser Religionskritik ist gerade insofern biblisch als sie in der Immanenz bleibt und nicht so tut, als ob sie mit ihrer Kritik zu Gott selber durchzudringen vermochte. Diesen Anspruch hat sie ja tatsächlich 83 AaO., 140. 84 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI, hg. v. W. F. Haug, BerlinHamburg 1999, Heft 10.II, §31, 1281–1287, 1282. 85 Karl Marx, Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Ders. Marx-Engels Werke I, Berlin/DDR 1976, 378–391[ursprl. Paris 1844]. 86 AaO., 378. 87 Ebd. 88 Ebd. 89 Ebd.

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nicht. Zwar endet die Kritik der Religion mit der an Feuerbach angelehnten Lehre, „daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei“90, trotzdem ist dieses höchste Wesen kein Gott. Wenn es auch wahr ist, dass „[d]ie Menschen […] ihre eigene Geschichte“ machen, „sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“91. Der Mensch bleibt Kreatur, Geschöpf, und nur so ist er für den Menschen das höchste Wesen, wie er das auch für den biblischen Gott ist, der den Menschen so geliebt hat, dass er der Menschheit seinen einziggeborenen Sohn geschenkt hat, um sie zu retten, das heißt aus der Knechtschaft zu befreien. Wenn es schon einen Unterschied zwischen der biblischen und der marxschen Religionskritik gibt, dann nicht so sehr, dass die erste von der Offenbarung her kommt und die zweite nicht. Vielmehr meint Marx, dass die Kritik der Religion „im wesentlichen beendet“92 sei – zwar schreibt er „für Deutschland“93, aber gemeint ist wohl die ganze aufgeklärte Welt. Nach Marx haben wir die Aufklärung hinter uns, während sie biblisch gesehen noch nicht zu Ende ist. Es bleibt das Gebot „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“. Inzwischen ist zur Genüge bekannt, wie wenig aufgeklärt sich die Menschheit, nicht zuletzt die europäische, im Zeitalter der Aufklärung ,entwickelt‘ hat und wie wenig sie vor Vergöttlichung gefeit gewesen ist, zu denken ist etwa an die Vergöttlichung der Nation, der Wirtschaft und, noch erschreckender, der Vernunft und ihrer Humanität. Biblisch gesehen ist die Aufklärung erst dann zu Ende, wenn Gott alles in allen sein wird! Die Analogie zwischen biblischem und marxistischem Atheismus besteht also gerade in seiner Militanz. Wenn wir Christen meinen, von den Marxisten verlangen zu müssen, sie sollten auf ihren Atheismus verzichten, dann haben wir diese Analogie (noch) nicht verstanden, jedenfalls nicht, wenn wir sie als Bundesgenossen akzeptieren wollen. Meines Erachtens ist genau dieser Kampf gegen die Vergöttlichung die gemeinsame Aufgabe von Christen und Marxisten, nicht zuletzt gegen die Vergöttlichung der Wirtschaft, des „Fetischcharakter[s] der Ware und sein Geheimnis“94, wie Marx es sagt. Es geht beim militanten Atheis90 AaO., 385. 91 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon, in: Ders., Marx-Engels Werke, Bd VIII, Berlin/DDR 1960, 111–207, 115 [ursprl. Hamburg 1869]. Es ist dieser grundsätzlich den Menschen in seinen Schranken weisende Satz, der die Marxisten vor den auch dort nicht fehlenden Vergötterungen („Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“, Wladimir Iljitsch Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, in: Ders., Werke, Bd. IXX, Berlin 1977, 3 [ursprl. o.O., 1913]) hätte bewahren können – aber bekanntlich nicht bewahrt hat. 92 Marx, Kritik, 378. 93 Ebd. 94 Karl Marx, Das Kapital I, in: Ders: Marx-Engels Werke, Bd. XXIII, Berlin/DDR 1962, 85

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mus allerdings nicht um einen ,methodischen Atheismus‘, wie er für die wissenschaftliche Praxis erforderlich ist. Vielmehr ist der militante Atheismus die Voraussetzung aller Kritik: keine Kritik ist von vorne herein, so frei die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist – illusionslos, aber nicht ohne Erwartung, weil ,das Ende der Geschichte‘ nur der Irrtum einer geschlossenen Weltanschauung, einer Vergöttlichung des ,Ganzen‘, sein kann.95 Auch ein ,methodischer Atheismus‘ braucht diesen militanten Atheismus. Denn auch er ist nicht immun gegen die Versuchung des weltanschaulichen Vorurteils, die Wissenschaft sei im Stande das ,Ganze‘ zu überblicken und das Rätsel des ,Woher‘ und des ,Wohin‘ des Makro- und des Mikrokosmos endgültig zu lösen. Man kann sich natürlich fragen, ob diese Analogie, obleich sie wahr ist, nicht inzwischen gründlich von der Geschichte eingeholt worden ist. Die Chance, dass Christen und Marxisten sich in diesem militanten Atheismus hätten finden können – den Menschen zu Gute –, ist verpasst. Sie gehört wohl endgültig einer Vergangenheit an, der wir bestenfalls nur noch nachtrauern können. Was könnte ein Bündnis von Christen und Marxisten in der heutigen Welt noch bedeuten? Aber auch die Welt von heute macht nicht den Eindruck, die Religion eingeholt zu haben. Sie ist vital wie eh und je – und die Kirche ist geneigt, in der Welt der Religion noch mal ihre Attraktivität zu (ver)suchen. Darum besteht objektiv die Notwendigkeit eines militanten Atheismus weiterhin und uns ist geboten, diesen subjektiv zu praktizieren – nicht zuletzt verbunden mit denen, die von ihrer Tradition her, wissen: „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun“. Dass nur die wenigen übriggebliebenen Marxisten für dieses Bündnis in Betracht kommen, ist damit nicht gesagt. Aber so weit ich sehe, gibt es keine Religionskritik, die der biblischen so nahe kommt und so sehr an die Radikalität des Gebotes „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ erinnert wie die von Marx. In einer Theologie, die sich wie die barthsche Theologie auf den Gott konzentriert, der keine Götter neben sich duldet, darf diese Ana[ursprl. Hamburg 1867]: „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr […]. Es ist sinnenklar, dass der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützliche Weise verändert. Die Form des Holzes z. B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. […] Aber sobald [der Tisch] als Ware [gemeint ist: als Geld] auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding.“ Barth hat diesen Fetischcharakter durchaus gesehen, wenn er den biblischen Begriff des Mammons auf das Geld im Sinne von Kapital und Zins bezieht und schreibt: „Mammon, keine Realität, und doch eine, und was für eine!“; vgl. Barth, Das christliche Leben, 382. 95 Vgl. Miskottes Religionsbegriff: „Die Religion als […] Erlebnis der Einheit mit dem All […] als Ethos des willigen Sich-Einfügens in die Ordnungen des Lebens, wie sie in den Mythen vom immerwährenden Kreislauf ihre zwingende Darstellung finden.“ Wir sollen dagegen erkennen, „dass inmitten des Gewimmels und Gemisch der Religionen […] Israel und die Kirche keine Religionen sind“; vgl. Miskotte, Wenn die Götter schweigen, 316.

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logie nicht fehlen, damit wir nicht auf die Idee kommen, die Religion wieder in Religion aufzuheben.96

5.

Ein Christ kann nur ein guter Atheist sein

Die immanente Problematisierung der Religion hat aber nach Barth eine Grenze, die nach einer Transzendenz schreit, die wir von uns aus nicht erreichen können: „Nur von einem Ort außerhalb des Zauberkreises der Religion mit Inbegriff des Ursprungsortes, d. h. nur von einem Ort außerhalb des Menschen her könnte die […] wirkliche Krise der Religion hereinbrechen.“97 Denn innerhalb der Welt der Religion, ja, innerhalb der Welt überhaupt gibt es offenbar etwas, das diesen Zauberkreis immer wieder in Bewegung setzt. Was dieses ,Etwas‘ sein könnte, wird von Barth im §17 nicht weiter thematisiert. Aller Nachdruck liegt dort auf dem Angriff auf die Religion, der von diesem Ort außerhalb stattfindet und dem religiösen Spuk endgültig ein Ende macht. Von diesem Angriff sagt er nur, dass dieser „in einem anderen Buch [steht], neben dem die Bücher der Mystik und des Atheismus als reichlich harmlose Bücher zu bezeichnen sind“98. Meine These ist, dass dieses andere Buch die Schöpfungserzählung ist, die Befreiung aus dem Tohuwabohu, dem Chaos, dem Nichts, das Menschen dazu bringt zu denken, alles sei ,für nichts‘, ein Kreislauf ohne Anfang und Ende – ein Schrecken ohne Ende, woraus nur ein Ende mit Schrecken erlösen kann. Dieses ,Nichts‘ ist das ,Etwas‘, das der immerwährende Ursprung der Religion ist, die Quelle der ,nihilistischen Erfahrung‘ die die Menschen mit ihrer Religion zu beschwören suchen oder als das mysterium tremendum selber zum Gegenstand von Religion machen.99 Meine andere These ist, dass diese ,nihilistische Erfahrung‘ das Thema von Barths Lehre vom Nichtigen im §50 der Kirchlichen Dogmatik ist.100 Sie kann 96 Barth selber hat es kritisch beurteilt, dass die Theologie sich von jeher vom Atheismus abund der Religion zugewandt hat: „Es war nicht aus der Luft gegriffen, wenn das älteste Christentum von seiner Umgebung des Atheismus beschuldigt wurde, und es wäre einsichtiger gewesen, wenn seine Apologeten sich dagegen nicht so eifrig verwahrt hätten“; vgl. Barth, KD II/1, 500. 97 Barth, KD I/2, 355. 98 Ebd., 356. 99 Rudolf Otto erkennt ein Außerhalb der Religion als ihren geschichtlichen Ursprung: das Numinose als „qualitativ eigentümlichen Grundfaktor und Grundtrieb des ganzen religions-geschichtlichen Verlaufes […] wie es nichts Geschöpfliches, auch nicht das Bedrohlichste und Übermächtigste einflössen kann“; vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 2004, 4. 15f. [ursprl. Breslau, 1917]. So lässt sich die ,nihilistische Erfahrung‘ religionsgeschichtlich gut definieren. 100 Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III: Die Lehre von der Schöpfung, 3. Teilbd., Zollikon-Zürich 1950, 327–425.

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aber dort gerade kein selbständiges Thema sein, weil das Nichtige von vorne herein das von Gott Verneinte ist, das in der Schöpfung keinen Ort hat – außer den, dass es von Gott gleich ,am Anfang‘ verworfen wurde: es geht um das ,Etwas‘, das „innerhalb der Geschöpfwelt als solche[s] gar nicht vorkommt“ und „innerhalb der Geschöpfwelt […] nur als schlechthiniger Fremdling auf den Plan und in Wirksamkeit treten kann“101. Könnte man die Aufhebung der Religion noch dialektisch denken – als ein Bewahren dessen, was in ihr als Sehnsucht nach Erlösung gegenwärtig war (vgl. den Seufzer der bedrängten Kreatur), beim Nichtigen hört alle Dialektik auf. Der Gegensatz zwischen Gott und dem Nichtigen ist also „kein bloß innerweltlicher und also kein bloß dialektischer Gegensatz“102. Zwischen Gott und dem Nichtigen gibt es nur Krieg: „Negation, Defensive, Aggression“103. Im Kampf, der hier stattfindet, gibt es zwei Orte außerhalb des Menschen, zweierlei Transzendenz, nämlich die Transzendenz des Gottes, der in die Welt einbricht, um das Nichtige aus der Welt zu schaffen, und die Transzendenz des Nichtigen, das in der Welt keinen Ort haben darf. Ich bin mir bewusst, dass meine Rede von zwei Orten gewagt ist und dass sie so in Barths Lehre vom Nichtigen auch nicht zu finden ist. Aber ließe sie sich vom Menschen her vermeiden? Das Tohuwabohu wird in der Schöpfungserzählung nicht verschwiegen, sondern als real existierend hervorgerufen, um sogleich verneint zu werden. Die ,nihilistische Erfahrung‘ ist die Erfahrung von ,etwas‘, das über allem Geschöpflichen erhaben ist. Es kann nicht wie die Götter als Vergöttlichung des Geschöpflichen entmythologisiert werden, sondern überschreitet heillos die heilsame Grenze der Geschöpfwelt. Der Mensch stünde diesem Nichtigen wehrlos gegenüber, wenn er nicht von einem ,Ort außerhalb‘ das erlösende Wort hörte: „Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht“ (Gen 1, 3). Nach Barth wird der Mensch die Begegnung mit dem Nichtigen „faktisch erfahren und erleiden“, aber er wird sie „sofort mißdeuten“104, weil die Konfrontation mit dem Nichtigen am Wort Gottes vorbei zu schrecklich ist, um damit leben zu können. Man kann sich natürlich fragen, ob die ,nihilistische Erfahrung‘ etwas allgemein Menschliches ist und zur condition humaine gehört, wie zum Beispiel Heidegger meinte, um diese Erfahrung dann sofort als für das eigentliche Menschsein Erforderliche zu ,mißdeuten‘. Vielleicht gibt es tatsächlich Menschen, denen diese Erfahrung erspart bleibt. Wer glaubt, dass das Nichtige ein und für allemal exkommuniziert ist, muss mit dieser Möglichkeit rechnen. Aber gerade die Menschen, die gehofft hatten, dass sich die Welt zum Guten ändern 101 102 103 104

AaO., 343. AaO., 342. AaO., 405. AaO., 404.

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würde – und die sich nicht von der Religion in die Irre haben führen lassen, dass sie glaubten, dass das Heil, wenn überhaupt, nur im Jenseits zu erwarten sei und die die Menschen lehrten, keine falschen Götter anzubeten, damit die Welt menschlich gestaltet werden würde, – gerade denen ist die Erfahrung des Nihil nicht erspart geblieben. Sie konnten die Niederlagen, die die Befreiungsbewegungen immer wieder erlitten, nicht mehr mit historischem Optimismus zum Guten denken. Sie wurden Nihilisten – um dann vielleichtwieder religiös zu werden.105 Die Frage ist aber, ob Ihnen wirklich damit geholfen wäre, wenn ein barthianisch geprägter Theologe ihnen sagen würde, dass das Nichtige im wahrsten Sinn des Wortes nur das ist, was von Gott zu Nichte gemacht ist. Denn wir wissen ja, dass unsere Hilfe vonwoanders herkommt und können nur beten, dass sie auch kommen möge. An diesem Punkt scheint der von mir hier dargestellte atheistische Glaube doch wieder ,religiös‘ zu sein. Denn können Atheisten beten? Nichtsdestotrotz beten wir aber : „Geheiligt werde dein Name“ und, schrieb Barth in Gott und die Götter : „Mit dieser Heiligung Gottes den Göttern gegenüber beginnt alle Heiligung, mit dieser Befreiung des Geschöpfs vom Bann der Götterwelt alle sonstige Freiheit.“106 Wir beten darum, bei dem als von Gott geboten erkannten Atheismus bleiben zu können – und wir beten für alle Menschen, die mit uns in einer Welt leben, die dem Nichtigen nicht preisgeben ist: dass auch sie Atheisten werden oder, wenn sie es schon waren, bleiben. Wir werden sie also nicht, wie die Kirche so oft getan hat, zur Religion (ver)führen, sondern ihnen Mut machen, Atheist zu sein. Und wir können das nur überzeugend tun, wenn wir selber atheistisch leben, indem wir sichtbar und erkennbar unseren Glauben bekennen, dass Gott uns aus dem Nichtigen hinausgeführt hat. Ernst Bloch gab seinem Buch Atheismus im Christentum folgendes Motto mit: „Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, nur ein Christ kann ein guter Atheist

105 Diese Bewegung von der Religion zum Nihilismus und dann wieder vom Nihilismus zur Religion gehört nach Miskotte zum Wesen der Religion: „Wenn die Götter schweigen, wenn das Dasein rings um uns sowohl erfüllt als umschlossen ist von einer spukhaften Stille, dann tritt zutage, was ,objektiv‘ schon immer wahr gewesen ist. ob es die Götter immer gegeben hat, wissen wir nicht; dass sie niemals geredet haben, das ist sicher. In unserer Situation […] wird offenbar, wie der Atheismus immer latent in der Religion gegenwärtig war“; vgl. Miskotte, Wenn die Götter schweigen, 18. Und umgekehrt: „Wenn die Götter schweigen, dann schweigt früher oder später […] auch jener unverlässliche, willkürliche, Allmächtige, unveränderliche Herr [das Gottesbild, dasdie Konsequenz „der religiösen Interpretation des Alten Testaments“ ist]. […] Die Instruktion und die Parole, die das Alte Testament dazu ausgibt, lauten kurz und kräftig: er muss verschwinden. Ist er denn nicht verschwunden – im Nihilismus, im echten Nihilismus? Wäre es nur so! er stellt sich von selbst immer wieder ein, er steckt uns irgendwie doch im Blut [Kurs. DB]“; vgl. aaO., 71. 106 Barth, Unveröffentlichte Texte, 88.

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sein.“107 Er begründet diesen Satz damit, dass Christus sich ja selber „gottgleich genannt“108 habe, also Atheist war. Das stimmt – aber nur, wenn man es nicht dahingehend missversteht, dass Christus ein Gott sei. Atheismus im Christentum heißt: der Atheismus des Menschgewordenen. Ob das unbedingt bedeutet, dass nur ein Christ ein guter Atheist sein kann? Aber es bedeutet sicherlich, dass er nur ein guter Atheist sein kann – gut, weil sein Atheismus im Geiste Jesu Christi menschlich bleibt. Und das wiederum bedeutet, dass nur ein Atheist ein guter Christ sein kann! Barths Religionskritik ist radikal, weil sie die Sache der Religion an ihrer Wurzel angreift, nämlich dort, wo sie von vornherein unmöglich wurde, nämlich durch den Auszug aus dem Tohuwabohu und den Einzug in eine atheistische Welt.109 Die nähere Erklärung findet sich im vorher Ausgeführten.

6.

Nachbemerkung

Muss der Atheist nun aber auch ein Verächter der Religion sein? Ich meine: nein! Denn seine Religionskritik bekämpft ja an erster Stelle die Religion-in-ihm selber und andere erst dann, wenn sie Geschöpfliches vergöttlichen. Es sollte nicht zu schnell behauptet werden, dass dieser Kampf bereits hinter uns liegt. Ehe man es sich versieht, ist man dann wieder dabei, seine eigene Überlegenheit zu beweisen. Und wie können wir uns sicher sein, die anderen Religionen seien bloß ,Unglaube‘? Könnte nicht zum Beispiel der Islam, der ja Allah als den einzigen Gott bekennt, nicht auch gegen die Vergöttlichung des Geschöpflichen gefeit sein? Wäre nicht, um ein anderes Beispiel zu nennen, auch der dem Buddhismus zugeschriebene Atheismus als radikale Gottlosigkeit zu würdigen? Meines Erachtens sollte man eine „reine Religionswissenschaft“110 für sich selber sprechen lassen. Wir brauchen dem interreligiösen Gespräch nicht aus dem Weg zu gehen – setzen bei diesem Gespräch allerdings kein religiöses a priori vor-

107 Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt a.M. 1968, 15. 108 AaO., 24. 109 Die „wirkliche Krisis der Religion“ bestünde darin „in jenem Innenraum“ des religiösen Bewusstseins „hinein[zu]schreien: hier ist die fabrica idolorum! hier wird gelogen, gemordet, gestohlen, Hurerei getrieben! Hier gilt’s: Pcrasez l’inf.me!“; vgl. Barth, KD I/2, 355. 110 Barth favorisierte eine „reine[…] – aber nun wirklich reine[…]! – ,Religionswissenschaft‘, deren Verfahren man „von der Theologie her gesehen, als sauberer, lehrreicher und verheißungsvoller bezeichnen [muß] als das jener gemischten Religionswissenschaft der Theologen, die […] den ruhigen Gang der Erforschung der religiösen Wirklichkeiten durch das plötzliche Rechnen mit einer Offenbarungswahrheit zu stören pflegen“; vgl. Barth, KD I/ 2, 322.

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aus!111 Atheismus ist recht verstanden auch keine Weltanschauung, sondern eine Praxis. Die Aufgabe des Atheisten wäre dann in der Welt der Religionen seine frohe Befreiung aus den religiösen Bindungen112 vorzuleben und vielleicht so seine religiösen Geschwister auf atheistische Gedanken zu bringen. Eines geht jedenfalls nicht: seinen sich als religiös verstehenden Mitmenschen abzusprechen, sich in ihrer Religion ebenfalls auf denjenigen Gott zu beziehen, der als einziger außerhalb der Religion zu finden ist: „Die Tempel der Götter sind mit Recht verfallen, ihre Standbilder stehen mit Recht im Museum, ihr Dienst, soweit er geordnet und geregelt war, mag eine einzige ungeheure Verirrung gewesen sein, – aber das Stoßgebet, das sich aus gequälter Brust zu ihnen emporrang, und die Träne, die der karthagische Vater, der seinen Sohn zum Molochopfer führte, vergoss, können nicht ungehört, nicht ungesehn geblieben sein. Oder sollte Gott auf den Sinai oder gar auf Golgatha gewartet haben? Nein, so wenig, wie vom Sinai Wege führen, auf denen er mit Sicherheit erreicht wird, sowenig kann er sichs versagt haben, auch dem, der ihn auf den Saumpfaden um den Olymp suchte, zu begegnen.“113

111 In seiner Kritik an der pluralistischen Religionstheorie beobachtet Andreas Pangritz, dass die ihm bekannten Konzepte einer pluralistischen Religionstheorie mit der „Unterstellung [Kurs. DB] einer aller Religionen gemeinsamen religiösen Frage bzw. eines allen Religionen gemeinsamen Bezugs auf ein höheres Wesen, das dann auch ,Gott‘ genannt werden kann“ erkauft werde; vgl. Andreas Pangritz, ,Natürliche Theologie‘ als Grundlage für den interreligiösen Dialog heute, in: ZDT 26, 2010, 88–111, 96. Diese Unterstellung ist das religiöse a priori, das auch einen „religiöse[n] Inklusivismus“ mit sich bringt, da „nichtreligiöse Selbstverständnisse von Christen – Bonhoeffers ,religionsloses Christentum‘ –, aber auch von Juden, Atheisten und anderen“ ausgeschlossen werde; vgl. ebd. 112 Die Barmer Theologische Erklärung spricht in der zweiten These von „frohe[r] Befreiung aus den gottlosen Bindungen“; zit. nach Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. IV, Teil 2 (Neuzeit, 2. Teil: 1870–1975), hg. v. H. A. Oberman/A. M. Ritter/H. W. Krumwiede, Neukirchen-Vluyn 1980, 130–132, 131. Aber ,gottlos‘ bezieht sich hier auf die zutiefst religiöse Ideologie des Nationalsozialismus. 113 Franz Rosenzweig, Das neue Denken, in: Ders., Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. v. R. u. A. Mayer, Dordrecht 1984, 139–161, 154.

Katharina Eberlein-Braun

Lebenszusammenhang Ambivalenz. Ein Ausblick auf Religion als offener Umgang mit religiöser Motivik im Anschluss an Theodor W. Adorno und Karl Barth

1.

Einleitung

1.1

Religionsinterpretation – Umgang mit religiöser Motivik

Im Folgenden wird auf die Kritik der Religion bei Adorno und Barth eingegangen. Dabei geht es allerdings eher um Religionsinterpretation als um -kritik. Die Pointe wird bei beiden darin gesehen, in der jeweiligen Interpretation von Religion auf die Frage nach dem Umgang mit religiöser Motivik abzuzielen und verschiedene Umgangsweisen als Religion in aller Ambivalenz zu verstehen. So rechnet der Weg des Umgangs zwar mit Unhintergehbarkeit des entsprechenden Phänomens, aber zugleich aufgrund von Ambivalenz des Kritisierten mit dessen Interpretationsfähigkeit und Veränderlichkeit durch Interpretation, die dann selbst Teil des Phänomens wäre. Damit ist Folgendes erreicht beziehungsweise es kann folgendermaßen angeschlossen werden: Religion wird erstens als dynamisch verstanden und kann nicht ohne interpretierende Aneignung in Bezug auf religiöse Motive verstanden werden, die sich ändern und verschiedene Gewichtungen vornehmen kann. Zweitens bezieht sich Kritik dann weniger auf etwas, das zeitlos als Religion definiert werden könnte, sondern auf jeweils neu zu erschließende Umgangsund Aneignungsformen religiöser Motivik. Drittens kann so ein Verständnis des Lebenszusammenhangs von Religion diskutiert werden, das den Umgang mit religiöser Motivik als religiös relevant begreift,1 dabei Religion aber zugleich, entsprechend der vielen Umgangsweisen mit religiöser Motivik, als ambivalent versteht. Dabei steht im Hintergrund die Annahme, dass Ambivalenz zumindest 1 Auf das Phänomen des Umgangs mit Religion ist Osthövener aufmerksam geworden: Er verwendet für eine explizite, aneignend-interpretierende Bezugnahme auf Religion den Begriff der Religionsaffinität. Vgl. Claus-Dieter Osthövener, „Religionsaffinität“. Erkundungen im Grenzbereich von Theologie und Kulturwissenschaft, in: ZThK 112, 2015, 358–377: „Sie [die Religionsaffinität; K.E.-B.] bezeichnet einen Umgang mit Religion von einem nichtreligiösen Feld aus“; aaO., 370.

316

Katharina Eberlein-Braun

in der Gegenwart unhintergehbar zur Lebenswelt gehört. Insgesamt können so verschiedene Umgangsweisen2 mit religiöser Motivik als religionstheoretisch relevant begriffen werden. Viertens hat die Frage nach der Art und Weise eines gelingenden Umgangs mit religiöser Motivik eine große Bedeutung, also die Frage nach religiöser Bildung: Zum einen im Blick auf die gegenwärtig viel diskutierten Schattenseiten von Religion, zum anderen, weil Religion als Ort von Bearbeitung unhintergehbarer Ambivalenz verstehbar wird, an dem es um sein Gelingen gehen muss. Unter Aufnahme der unten dargestellten Kritik Adornos an abstrakten Festlegungen religiöser Motivik und Barths Kritik am ,religiösen Besitz‘ dürfte dies in Richtung eines anspruchsvollen Offenhaltens religiöser Symbolik und entsprechender Kommunikation gehen. Anspruchsvoll insofern, als damit keine Reduktion von religiöser Reflexion gemeint sein kann, sondern (selbst)reflexive Arbeit an vermeintlich unmittelbaren religiösen Vorstellungen und Annahmen, zu denen immer auch die jeweiligen eigenen Reflexionen gehören müssten.

1.2

Schwerpunkt Lebenszusammenhang

Adornos Religionskritik erweist sich im Folgenden als Kritik an religiösen Abstraktionen und Paradoxien, die nicht in einen Lebenszusammenhang eingebunden sind. Von hier aus wird dann Karl Barths Religionsverständnis unter Aufnahme seines Erfahrungsbegriffs entwickelt.3 Barths Religionskritik kann so 2 Zur weiteren Differenzierung dürfte die Unterscheidung von ablehnendem oder zustimmendem Umgang zu kurz greifen, da sich dieser wiederum auf tradierte Umgangsweisen bezieht, weniger auf religiöse Motive selber. Wichtig sind auch innerreligiöse Differenzen, die auf pluralen Umgangsweisen beruhen und sich durchaus auch in ihren zum Beispiel lebenspraktischen Folgerungen widersprechen können. Es ergibt sich also weniger ein Gegenüber von Religion und Kultur, als ein Gegenüber verschiedener Umgangsweisen mit religiösen Motiven, die jeweils sowohl im als Kultur und als Religion definierten Bereich vorkommen können. Osthövener wirft das Problem auf, ob jeder Zugriff auf religiöse Motive bereits als religionsaffin verstanden werden solle; vgl aaO., 372, Anm. 41. Dies ließe sich evtl. als Frage nach einem gelingenden Umgang mit Religion umformulieren und weiterbearbeiten. 3 Zum Verhältnis der Kritischen Theorie und der Dogmatik (bzw. Barths und Vertretern der Kritischen Theorie) siehe Andreas Pangritz, Vom Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie. Ein Versuch über das Projekt einer „impliziten Theologie“ bei Barth, Tillich, Bonhoeffer, Benjamin, Horkheimer und Adorno, Tübingen 1996. Bei Pangritz findet sich auch eine Rekonstruktion der impliziten Theologie der Kritischen Theorie aus verschiedenen Quellen; vgl. aaO., 119–222. Gemeinsamkeiten bezüglich eines interpretierend-vollzugshaften und selbstreflexiven Verfahrens in Negativer Dialektik und Kirchlicher Dogmatik waren Gegenstand von Katharina Eberlein-Braun, Erkenntnis und Interpretation. Kritisches Denken unter den Voraussetzungen der Moderne bei Theodor W. Adorno und Karl Barth, DoMo 3, Tübingen 2011. Daran schließen die hier vorgenommenen Überlegungen an. Außerdem besteht Ähnlichkeit zu Überlegungen von Pfleiderer und Wittekind zu Strukturen im Denken

Lebenszusammenhang Ambivalenz

317

als Versuch verstanden werden, Religion in Lebensvollzügen zu verorten.4 Die Zentralstellung von Lebensvollzügen ist insofern wichtig, als erst mit der Frage nach dem Lebenszusammenhang kritisierter religiöser Abstraktion die Kritik über eine nur wieder abstrakte Kritik hinausgeht. Indem religiöse Abstraktion einen Ort im religiösen Vollzug erhält, löst sich ein vermeintliches Gegenüber von Abstraktion und Vollzug auf und der Vollzug selbst wird als offen und des frühen Barth; vgl. Folkart Wittekind, Religionskritik als Kritik der Religionswissenschaft. Karl Barths methodisches Programm der Theologie, in: Ingolf U. Dalferth/Hans-Peter Grosshans (Hg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Religion in Philosophy and Theology 23, Tübingen 2006, 219–242 und Georg Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, BHTh 115, Tübingen 2000; vgl. ders., Religion. Zur Frage des Verhältnisses von Adornos Denken bzw. der Kritischen Theorie zu Theologie seien beispielhaft genannt der von Matthias Lutz-Bachmann herausgegebene Band Kritische Theorie und Religion, Religion in der Moderne 3, Würzburg 1997 und die Untersuchung von Ulf Liedke, Zerbrechliche Wahrheit. Theologische Studien zu Adornos Metaphysik, Religion in der Moderne 10, Würzburg 2002. Liedke stellt sowohl Kritik als auch Aufnahme von Religion und Theologie bei Adorno mit Fokus auf Adornos Verständnis metaphysischer Erfahrung dar und bietet Überlegungen zu Adornos Verhältnis zum ontologischen Gottesbeweis. Außerdem sei für eine Beschäftigung mit Adorno und Barth aus der Theologie noch genannt der Aufsatz von Edgar Thaidigsmann, Von der Gerechtigkeit der Wahrheit. Der ontologische Gottesbeweis bei T.W. Adorno mit einem Blick auf die Theologie Karl Barths, in: NZSTh 37, 1995, 144–164, weiter die Untersuchung von Ralf Frisch, Theologie im Augenblick ihres Sturzes. Theodor W. Adorno und Karl Barth. Zwei Gestalten einer kritischen Theorie der Moderne, Wien 1999. Literatur zur Religionskritik Barths wird hier ebenfalls beispielhaft wiedergegeben: Mit dem Vorwurf an Barth, zur Religion nur negativ eingestellt zu sein, hat sich Link auseinandergesetzt. Er betont die Perspektive der Involviertheit und des Vollzugs von Religion statt fixierbarer Wahrheiten und verbindet dies mit Beobachtungen zur ,Lichterlehre‘ Barths, in der dann profane Verhaltensweisen religiös verständlich werden. Vgl. Christian Link, Der Religionsbegriff Karl Barths. Einleitung in KD I/2, §17, in: ZDT 19, 2003, 8–24. Weinrich entwickelt aus Barths Verständnis von Religion als „schwach“ und „nicht notwendig“ eine Perspektive für den interreligiösen Dialog. Vgl. Michael Weinrich, Von der Humanität der Religion. Karl Barths Religionsverständnis und der interreligiöse Dialog, in: ZDT 19, 2003, 25–44. Hier wird im Folgenden besonders Bezug genommen auf Pfleiderer, Religion und Wittekind, Religionskritik. Dort finden sich auch für die hier vorgenommene Interpretation Barths entscheidende Motive wie z. B. Vollzug und Selbstreflexivität. Darüber hinaus kommt hier der Aspekt der Ambivalenz als Hintergrund von Selbstreflexivität und Vollzugshaftigkeit in den Blick. Dies sieht auch Wittekind: Religionskritik sei „theologisch gesehen Ausdruck der Ambivalenz aller Religion“, nämlich Gott als Absolutes zu kennen und den Menschen dazu in Verbindung zu stellen; vgl. aaO., 239. Das Zitat ebd. 4 Dies berührt das Thema ,gelebter Religion‘. Pfleiderer ordnet (den frühen) Barth ebenfalls dem Thema ,gelebter Religion‘ zu: Der Entdeckung von Religion in der Lebenswelt und ihren Vollzügen gehe eine theologische Konstruktion von Religion voran, die Religion überhaupt erst sichtbar mache. Dabei werde diese konstruierte Religion normativ verstanden. Hier erkennt Pfleiderer Parallelen zu Barth. Vgl. Georg Pfleiderer, „Gelebte Religion“ – Notizen zu einem Theoriephänomen, in: Albrecht Grözinger/Georg Pfleiderer (Hg.), „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Christentum und Kultur 1, Zürich 2002, 23–41.

318

Katharina Eberlein-Braun

ambivalent sichtbar. Diese Ambivalenz lässt sich ausgehend von Adornos Religionskritik als „Angelpunkt“5 der Theologie und des Religionsverständnisses Barths verstehen. Sie stellt nicht primär ein zu lösendes Problem dar, sondern ist unhintergehbare Basis aller Lebensvollzüge, auch derjenigen, die mit ihr umgehen. Dabei bewegt sie sich zwischen Vollzugshaftigkeit des Lebens und der Unvermeidlichkeit, sich dazu (abstrahierend) zu verhalten. Sie erweist sich nicht allein als religiöses Phänomen, sondern als Lebenszusammenhang von Religion und darüber hinaus als allgemeiner Lebenszusammenhang.6 Religion wird so als beispielhafter Ort von Ambivalenz sichtbar, an dem Ambivalenz zugleich aneignend bearbeitet werden kann.7

2.

Adorno: Kritik abstrakter Religion

2.1

„Die religiösen Renaissancen von heutzutage dünken mir Religionsphilosophie, nicht Religion.“8

Wesentlich für die Religionskritik Adornos,9 ist der Gedanke, dass der Lebenszusammenhang von Religion verloren sei.10 Dieser Verlust wird als Abstraktion 5 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. v. R. Tiedemann u. a., stw 1703, Frankfurt a.M. 2003, 203. Dabei handelt es sich auch um eine Denkstruktur Adornos selbst: „[D]ie Aporie selbst, vielmehr ihre Reflexion, ist für Adorno eine Gestalt von Hoffnung. […] Die Sehnsucht nach der Transzendenz, die Begierde der Rettung, muß in die Selbstbesinnung des in sich Befangenen münden, nicht in Versuche, das Absolute zu behaupten“. Hans-Ernst Schiller, Zergehende Transzendenz. Theologie und Gesellschaftskritik bei Adorno, in: Matthias Lutz-Bachmann, (Hg.), Kritische Theorie und Religion, Religion in der Moderne 3, Würzburg 1997, 85. 6 Vgl. Dietrich Korsch, Dogmatik im Grundriss. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott, UTB 2155, Tübingen 2000: Korsch betont „Ungleichgewichte“ des Lebens und bestimmt den „Umgang mit den unvermeidlichen, weil konstitutiv dazugehörenden Ungleichgewichten bewußten leiblichen Lebens, der dem Ungleichen ein Verhältnis von Gegenseitigkeit anbietet“ (aaO., 79) als „Grundform für die Bestimmung des Handelns aus dem Gottesverhältnis“ (ebd.). 7 Pfleiderer stellt fest, dass in Ansätzen zu ,gelebter Religion‘ unter Religion ,Lebensdeutung‘ verstanden werde: „Religion ist dann eine reflexive Selbststeigerung menschlicher Lebenstätigkeit. ,Gelebte Religion‘ weist wiederum auf den Vollzugssinn solcher Reflexivität hin, welche der menschliche Lebensvollzug selbst und insgesamt sein soll. ,Gelebte Religion‘ ist dann derjenige partikulare Lebensvollzug, in welchem der reflexive Vollzugscharakter des Lebens selbst reflektiert und zugleich praktisch gelebt wird.“ Pfleiderer, Religion, 26f. Darin dürfte sich die von Pfleiderer festgestellte Normativität der in Ansätzen zu „gelebter Religion“ konstruierten Religion wiederentdecken lassen; vgl. aaO., 32. 8 Theodor W. Adorno, Vernunft und Offenbarung, in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte, Gesammelte Schriften, Bd. X, Teil 2, hg. v. R. Tiedemann u. a., stw 1710, Frankfurt a.M. 2003, 610.

Lebenszusammenhang Ambivalenz

319

von realen Lebenszusammenhängen beschrieben. Dabei steht im Fokus der Kritik, dass zwar die Menschlichkeit Gottes behauptet, aber stattdessen Diesseitiges verabsolutiert werde. Dies müsse dann verdrängt beziehungsweise in irrationalen und paradoxen Denkformen bloß behauptet werden. Damit sei christliche Religion in ihrer Irrationalität lebensfern und abstrakt. Als rational gilt demgegenüber, was zum Lebenserhalt beiträgt. Der Verlust des Lebenszusammenhangs steht meines Erachtens im Zentrum der Kritik: „Die religiösen Renaissancen von heutzutage dünken mir Religionsphilosophie, nicht Religion. [Kurs. K.E.-B.]“11 Dem begegnet Adorno zunächst mit Verweis auf das Judentum (und „Tolstois Urchristentum“), das eben keine (abstrakten) Glaubenssätze ausbilde und „nichts anderes […] verlange[…], als daß man dem Gesetz nachlebe“12, dabei aber das Problem der „Autorität der Lehre“13 nicht löse, also nicht erkläre, weshalb überhaupt etwas befolgt werden solle. Daher steht für Adorno am Ende der Verzicht auf jeden Offenbarungsglauben – unter Bezug auf das Bilderverbot: „Treue zum Bilderverbot, weit über das hinaus, was es einmal an Ort und Stelle meinte.“14

9 Diese wird unten genauer dargestellt. Ich beziehe mich auf Horkheimer/Adorno, Dialektik, 200–204, und auf Adorno, Vernunft, 608–616. Zur Religionskritik Adornos vgl. z. B. Liedke, Wahrheit, dort bezüglich der Christologie 28ff. Watzka geht auch in Auseinandersetzung mit Habermas auf die hier ebenfalls behandelten Texte der Dialektik der Aufklärung und Vernunft und Offenbarung mit ähnlicher Fragestellung (,Säkularisierung‘ als Aneignung) ein. Er sieht in den religiösen Motiven von Adornos Denken bzw. in Adornos Religionsbegriff „eine religionskritische und eine soteriologische Komponente“. Vgl. Heinrich Watzka, „Rettende Preisgabe durch rückhaltlose Säkularisierung“. Wege philosophischer Aneignung religiöser Gehalte bei Adorno und Habermas, in: Günter Kruck (Hg.), Gottesglaube – Gotteserfahrung – Gotteserkenntnis. Begründungsformen religiöser Erfahrung in der Gegenwart, Mainz 2003, 25–42, 39f. Siehe weiter Matthias Lutz-Bachmann, Zur Religionskritik der Kritischen Theorie, in: Günter Kruck (Hg.), Gottesglaube – Gotteserfahrung – Gotteserkenntnis. Begründungsformen religiöser Erfahrung in der Gegenwart, Mainz 2003, 15–23, v. a. in Bezug auf die Religionskritik der Dialektik der Aufklärung. 10 Lutz-Bachmann versteht die Religionskritik der Kritischen Theorie im Kontext der Metaphysikkritik und bezieht sie auch auf die Problematik von Abstraktion und Konkretion. Daher ließen sich positive Bezugnahmen auf religiöse Motive „als nachmetaphysische Interpretation der Bedeutung von Religion“ verstehen. Lutz-Bachmann stellt dies in eine Reihe mit Habermas’ „Sympathiebekundungen […] für eine Theologie, die sich ,praktisch‘ und d. h. spekulationsdistanziert versteht“; vgl. Lutz-Bachmann, Religionskritik, 16. Die Zitate ebd. Darauf reiht er auch die negative Theologie in die Tradition spekulativen Denkens ein und bezieht die Kritik der Kritischen Theorie auf jede, zumindest auf „die dominante Tradition der christlichen Theologie“; ebd. 11 Adorno, Vernunft, 610. 12 AaO., 614. 13 Ebd. 14 AaO., 616.

320 2.2

Katharina Eberlein-Braun

Aneignung religiöser Motivik in einen Lebenszusammenhang

Dabei lässt sich bei Adorno durchaus ein (negativer) Lebenszusammenhang ausmachen: Die Kritik an Abstraktion und Paradoxie der Religion liest sich in Analogie zur Kritik am begrifflichen Denken. Religiöse Abstraktion und begrifflich-fixierendes Denken lassen sich als Ausdruck davon verstehen, mit Unverbindlichkeit, Offenheit und Unabgeschlossenheit der Wirklichkeit nicht zurecht zu kommen. Sie können dann auf diesen Zusammenhang selbstreflexiv angewendet werden. So nimmt Adorno mit dem Bilderverbot ein religiöses Motiv auf, um Religion zu kritisieren.15 Das Bilderverbot spielt in Adornos Denken generell eine große Rolle,16 denn die kritisierte Struktur zeigt sich für Adorno genauso im abendländisch-begrifflichen Denken, in dem der Begriff als Instrument der Weltbeherrschung die Rolle der Abstraktion übernimmt. So habe sich laut Adorno das Bilderverbot verschärft und beziehe sich nicht mehr nur auf die Nennung göttlichen Namens, sondern auf das Denken von Hoffnung überhaupt.17 Bei diesem Umgang mit dem religiösen Motiv ,Bilderverbot‘ scheint es sich um eine Aneignung des religiösen Motivs durch dessen eigene Struktur zu handeln, die es in den Lebenszusammenhang des Denkens einbindet. Diese Einbindung scheint nun durch die Idee der Säkularisierung theologischen Gehalts18 geschehen zu sollen: „Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern. Die gegenwärtig – im Gegensatz zu der reich und konkret ausgebildeten religiösen Vorstellungswelt von 15 Mit dem Einwandern religiöser Motive in das Denken Adornos beschäftigen sich z. B. Schiller, Transzendenz und Watzka, Preisgabe. 16 „Adornos Polemik gegen die Unmittelbarkeit des Bildes in der Erkenntnistheorie säkularisiert das theologische Bilderverbot. Sie wendet sich gegen die scheinbare Verdoppelung des Faktischen, die den wirklichen Gegenstand verstellt und das bloß Gegebene zum Unbedingten erhöht“; Schiller, Transzendenz, 79. 17 Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, hg. v. R. Tiedemann u. a., stw 1706, Frankfurt a.M. 2003, 394. 18 Die Idee, dass sich theologische Begriffe bzw. Vorstellungen säkularisieren, kommt bei Adorno öfter vor (und lässt sich zum großen Teil über die Suchfunktion der digitalen Adorno-Ausgabe finden: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann u. a., Frankfurt a.M. 2003, digitale Ausgabe, Directmedia Publishing GmbH, Digitale Bibliothek 97, Berlin 2004). So habe sich die Erbsünde in einen totalen Schuldzusammenhang säkularisiert (vgl. Adorno, Negative Dialektik, 241) oder in philosophische Begriffe seien christliche Vorstellungen „eingesickert“; Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie (1963), hg. v. Th. Schröder, in: Theodor W. Adorno, Nachgelassene Schriften, hg. v. Theodor W. Adorno Archiv, Vorlesungen 10, 72f. 173. Vgl. weiter Adorno, Negative Dialektik, 39.64.354.369.389 u. ö. Im Text Vernunft und Offenbarung ist das Konzept programmatisch. Vgl. auch Schiller, Transzendenz, 69: Schiller versteht das von Adorno genannte Zergehen von Transzendenz als Diagnose und als Programm.

Lebenszusammenhang Ambivalenz

321

früher – vorherrschende Meinung, Leben und Erfahrung der Menschen, die Immanenz, sei eine Art von Glaskasten, durch dessen Wände man auf ewig unveränderliche Seinsbestände einer philosophia oder religio perennis blicken könne, ist selber Abdruck eines Zustands, in dem der Offenbarungsglaube nicht mehr in den Menschen und der Ordnung ihrer Verhältnisse substantiell gegenwärtig ist und nur durch verzweifelte Abstraktion gehalten werden kann. [Kurs. K.E.-B.]“19

Adornos Bezug auf das Bilderverbot kann als Beispiel für eine solche ,Säkularisierung‘ gelten, in der das religiöse Motiv als Denkanleitung in den eigenen Denkvollzug übernommen wird.20 Mit Bezug auf den Säkularisierungsgedanken als Einbettung21 von Vernunft in Lebenszusammenhänge wird Religion wieder mit einem religiösen Motiv beziehungsweise mit einem, das es auch in Religionen gebe, kritisiert: „[…] Vernunft muß versuchen, die Rationalität selber, anstatt als Absolutes sie sei es zu setzen, sei es zu verneinen, als ein Moment innerhalb des Ganzen zu bestimmen, das freilich diesem gegenüber auch sich verselbständigt hat. Sie muß ihres eigenen naturhaften Wesens innewerden. Dies Motiv ist den großen Religionen nicht fremd: gerade es aber bedarf heute der ,Säkularisierung‘, soll es nicht, isoliert und überhöht, zur Verfinsterung der Welt helfen, die es bannen möchte.“22

Adornos Religionskritik lässt sich (auch) als Selbstanwendung religiöser Motive auf Religion verstehen, nämlich als Umgang, mit dem religiöse Motive in einen Lebenszusammenhang (hier das Denken) eingehen. Damit verschiebt sich die Frage nach der Kritik der Religion auf die Frage nach der Kritik der Umgangsweisen mit Religion. Dabei wäre ein Umgang besonders bemerkenswert, der den Zusammenhang religiöser Motivik mit ihrer Aneignung nochmals in sich reflektiert. Dahingehend lässt sich Horkheimers/Adornos Verweis in der Dialektik der Aufklärung auf unter anderen Barth verstehen, bei dem Ambivalenz von Religion (Religion werde Religionsersatz) zum „Angelpunkt“23 der Theologie geworden sei.24 Dieser Bezug wird nun im Kontext der Dialektik der Aufklärung dargestellt. 19 Adorno, Vernunft, 608f. 20 Vgl. Schiller, Transzendenz, 79ff. 21 Matthias Jung verwendet den Begriff ,eingebettet‘ für eine Form des Begründens und unterscheidet freistehende, eingebettete und verkörperte Arten des Begründens. Vgl. Matthias Jung, Gründe als Rechtfertigungen – verkörpert, eingebettet und freistehend, in: Matthias Jung/Michaela Bauks/Andreas Ackermann (Hg.), Dem Körper eingeschrieben. Verkörperung zwischen Leiberleben und kulturellem Sinn, Studien zur Interdisziplinären Anthroplogie, Wiesbaden 2016, 125–141. 22 Adorno, Vernunft, 611. Ob mit einer solchen Säkularisierung auf die theologischen Begriffe immer wieder Bezug genommen werden muss, oder ob diese sich vollständig profan übersetzen lassen, wird hier nicht diskutiert. Siehe dazu aber Watzka, Preisgabe. Ebenfalls bleibt hier das Selbstverständnis Adornos in Bezug auf Religion undiskutiert. 23 Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik, 203. Das Zitat ebd.

322

Katharina Eberlein-Braun

2.3

Von Adorno zu Barth: Ambivalenz christlicher Religion und zwei Formen christlicher Theologie in der Dialektik der Aufklärung

Die Dialektik der Aufklärung wird im gleichnamigen Werk zurückgeführt auf die Annahme, dass der Mensch im Schrecken vor blinder, irrationaler Natur lebe und dies durch rationale, abstrakt-rationalisierende Mittel versuche zu bannen. Dies beginnt für Horkheimer/Adorno mit dem Mythos, der rationalisiere und ein System setze.25 So setzt sich laut Horkheimer/Adorno die Verfallenheit an Natur aber letztlich fort. „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.“26 Dies steht auch im Hintergrund der Überlegungen Adornos und Horkheimers zur christlichen Religion,27 die (anders als zum Beispiel das Judentum) Endliches verabsolutiere und dies um den Preis der Abstraktheit und Irrationalität verdränge und beschönige: Das Christentum mildere den Naturschrecken durch das Motiv der Gnade. Dies geschehe so, dass das Absolute menschlich werde. In Wahrheit aber werde Endliches verabsolutiert, Jesus Christus sei ein „vergottete[r] Magier“28. Horkheimer/Adorno bezeichnen das Christentum als einzige Religion im engeren Sinn, weil nur es sich in einen kulturellen Sonderbereich der Paradoxie und des Widerspruchs gegen die Vernunft manövriere.29 Demgegenüber sehen Horkheimer/Adorno im Judentum (und asiatischen Religionen) eine Wurzel von Rationalität, wenn dort das Motiv der Selbsterhaltung (also Handeln, das dem Leben dient) durch Regeln im Ritual integriert sei. „Entspringen die Regeln auch nicht aus rationaler Überlegung, so entspringt doch aus ihnen Rationalität.“30 Das Christentum entwerte demgegenüber durch seine Paradoxie das endliche Dasein, ist also lebensfern auch in dem ganz grundsätzlichen Sinne, dass es dem Selbsterhaltungstrieb des Lebens nicht folgt. Im Folgenden wird auf das Textstück eingegangen, in dem sich der Bezug auf Barth findet. Dabei scheint für Horkheimer/Adorno das zu Kritisierende an (christlicher)Religion weniger der ambivalente religiöse Vollzug zwischen Un24 Korsch schließt an die Kirchliche Dogmatik an und stellt fest: „Dogmatik ist die Darstellung des Werdens der Glaubensüberzeugung“; vgl. Dietrich Korsch, Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion, Tübingen 2005, 325. Das Zitat ebd. Für Wittekind wird bei Barth „die christliche Symbolsprache positiv aufgenommen und als Analysesprache ihrer eigenen Verfertigung auf sich selbst angewendet“; Wittekind, Religionskritik, 228. 25 Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik, 19ff. 26 AaO., 29. 27 Vgl. aaO., 200–204. Zur Religionskritik Adornos in den auch hier herangezogenen Texten vgl. Lutz-Bachmann, Religionskritik. Vgl. weiter Watzka, Preisgabe. 28 Horkheimer/Adorno, Dialektik, 202. 29 Vgl. ebd. 30 Ebd.

Lebenszusammenhang Ambivalenz

323

mittelbarkeit und Abstraktion, sondern die Verstellungder Ambivalenz durch als abstrahierend verstandene religiöse Elemente. Demgegenüber scheint es um eine Einbettung theoretischer religiöser Elemente in den entsprechenden Vollzug zu gehen, die von Adorno unter der Annahme, dass sich religiöse Lebensvollzüge überlebt hätten, als Säkularisierung theologischen Gehalts bezeichnet wird.31 In folgendem Textstück32 aus der Dialektik der Aufklärung lassen sich alle diese Facetten der Religion ausmachen: der ambivalente Umgang mit Unabgeschlossenheit, Verdrängung und Verschiebung dieser Ambivalenz und deren Thematisierung als „Angelpunkt“33 der Theologie – hier findet sich dann der Bezug auf Barth. „Die Sinngebung ist trügerisch, weil zwar die Kirche davon lebt, daß die Menschen in der Befolgung ihrer Lehre, fordere sie Werke wie die katholische oder den Glauben wie die protestantische Version, den Weg zur Erlösung sehen, aber doch das Ziel nicht garantieren kann. Die Unverbindlichkeit des geistlichen Heilsversprechens, dieses jüdische und negative Moment in der christlichen Doktrin, durch das Magie und schließlich noch die Kirche relativiert ist, wird vom naiven Gläubigen im stillen fortgewiesen, ihm wird das Christentum, der Supranaturalismus, zum magischen Ritual, zur Naturreligion. Er glaubt nur, indem er seinen Glauben vergißt. […] Das ist nicht notwendig das Schlechtere gegenüber der vergeistigten Theologie. Das italienische Mütterchen, das dem heiligen Gennaro für den Enkel im Krieg in gläubiger Einfalt eine Kerze weiht, mag der Wahrheit näher sein als die Popen und Oberpfarrer, die frei vom Götzendienst die Waffen segnen, gegen die der heilige Gennaro machtlos ist. Der Einfalt aber wird die Religion selbst zum Religionsersatz. Die Ahnung davon war dem Christentum seit seinen ersten Tagen beigestellt, aber nur die paradoxen Christen, die antioffiziellen, von Pascal über Lessing und Kierkegaard bis Barth, machten sie zumAngelpunkt ihrer Theologie. […] Die anderen aber, die es verdrängten und mit schlechtem Gewissen das Christentum als sicheren Besitz sich einredeten, mußten sich ihr ewiges Heil am weltlichen Unheil derer bestätigen, die das trübe Opfer der Vernunft nicht brachten […].“34

Der ambivalente Vollzug (des alten Mütterchens) zwischen Religion und abstrahierend supranaturalistischem Religionsersatz ist im Text nicht mit dem stärker theoretisch konnotierten Umgang (der Popen und Oberpfarrer) identisch. Dieser verstärkt die Ambivalenz zur reinen Abstraktion, indem er sie verdrängt und vermeintlich auflöst (frei vom Götzendienst), sie aber zur Lebensfeindlichkeit hin verschärft (Waffen segnen). Faktisch wird also unterschieden zwischen einem ambivalenten religiösen Vollzug, der es umfasst, sich abstrahierend zu ihm zu verhalten, und verschiedenen Umgangsweisen mit 31 Vgl. Adorno, Vernunft, 608f.611. 32 Dieses Stück ist auch zentral für Watzka, der es ebenfalls mit Gedanken aus Vernunft und Offenbarung kombiniert; vgl. Watzka, Rettende Preisgabe, 32ff. 33 Horkheimer/Adorno, Dialektik, 203. 34 Ebd.

324

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dieser Ambivalenz.35 Die Ambivalenz des Vollzugs wird beschrieben als: „Der Einfalt aber wird die Religion selbst zum Religionsersatz.“ Dabei kann dies dann ins Zentrum der Theologie gestellt (Barth) oder verdrängt werden. Hier ergeben sich zwei Formen von Theologie als Konsequenz der Ambivalenz. Barth beschreibt mit „Religion ist Unglaube“36 letztlich den gleichen ambivalenten Sachverhalt wie Adorno mit seiner Feststellung, Religion werde zum Religionsersatz und erschließt ihn durch religiöse Motivik. Diese wird so auf ihre eigene Ambivalenz und damit auf ihren Lebenszusammenhang angewendet. Daher lässt sich vermuten, dass ein Motiv der Religionskritik bei Barth der Versuch ist, Religion und konkrete Erfahrung aufeinander zu beziehen. Daher wird in den Überlegungen zu Barth zunächst auf sein Religionsverständnis (3.1), dann auf sein Erfahrungsverständnis (3.2) eingegangen.

3.

Lebenszusammenhang ,Ambivalenz‘ als „Angelpunkt“37 der Theologie bei Barth

Die Interpretation von Barths Religionsverständnis schließt im Folgenden an die Interpretation der Gedanken Adornos an und fokussiert auf die Ambivalenz religiöser Vollzüge. Zweitens wird im Anschluss an die Frage nach dem Lebenszusammenhang bei Adorno nach einer Verbindung von Religion und Erfahrung bei Barth gefragt. So erscheint Religion bei Barth erstens als unhintergehbar, zweitens als paradigmatisch für Ambivalenz und drittens – wie in der Kirchlichen Dogmatik, die Religion unter Bezug auf religiöse Motivik darstellt, – als Ort ihrer Bearbeitung beziehungsweise als unabgeschlossener Umgang mit dieser Ambivalenz. Die Unhintergehbarkeit führt dazu, dass sich die ablehnende Religionskritik, die zur Frage nach Alternativen und Gegenüberstellungen führt, verschiebt zur Frage nach dem Umgang mit Religion, der innerhalb religiöser Motivik interpretierend verfährt und sich als unabgeschlossen versteht. Religion erscheint als grundlegender menschlicher Vollzug in seiner Ambivalenz, dessen Kritik in der gleichen Ambivalenz verhaftet bliebe und mit dem daher aneignend umgegangen wird. Der Ansatz der Ambivalenz steht für die Notwendigkeit eines Umgangs und ist theologisch begründet durch die Annahme, dass Religion 35 Dabei ist in Adornos/Horkheimers Verständnis dieser Vollzug als christlicher Vollzug einer anderen Problematik ausgesetzt als das Judentum, das nicht in gleicher Weise als irrational gilt, und kann bei Adorno nicht als unhintergehbar ambivalent verstanden werden, wie dies in der Interpretation Barths geschehen soll, da bei Adorno mit dem Judentum eine alternative religiöse Möglichkeit vorliegt. Siehe dazu oben 2.1. 36 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2. Teilbd., Zollikon-Zürich 1938, 327. 37 Horkheimer/Adorno, Dialektik, 203.

Lebenszusammenhang Ambivalenz

325

Ausdruck von Offenbarung sei, dass also mit Religion umgegangen werden müsse und könne, weil sie nicht selbst Offenbarung ist, aber Ort ihrer Erfahrung: „Offenbarung kann Religion annehmen und auszeichnen als wahre Religion“38 und habe das bereits getan. Dies wird im Folgenden an §17.2 der Kirchlichen Dogmatik und an Barths Verständnis des Erfahrungsbegriffs gezeigt.

3.1

Barths Religionsverständnis in §17.2 der Kirchlichen Dogmatik

Religion kann bei Barth als beispielhaft für menschliches Verhalten verstanden werden: „Eben das Vermögen, in der Welt und Mensch zu sein, ist ja als des Menschen eigenes Vermögen identisch mit dem Vermögen, Götter zu ersinnen und zu gestalten und sich selbst zu rechtfertigen und zu heiligen.“39 Sie erweist sich als Teil der menschlichen Lebensbewältigung. Barth beschreibt einen Zirkel, indem er fragt, ob das menschliche Handeln (Rechtfertigungsversuche) Folge eines Gefühls der Unterlegenheit gegenüber größeren Mächten sei, oder ob die Gestaltung von Gottesbildern umgekehrt Folge notwendigen menschlichen Handelns sei,40 ob Religion auch der „intimste und intensivste Bestandteil der Technik, mittelst derer der Mensch mit seinem Dasein fertig zu werden versucht“41 sei. So lässt sich Religion – wie bei Adorno als Versuch der Naturbeherrschung – als Teil menschlicher Weltbemächtigung verstehen, wenn es laut Barth auch darum gehe „sich selbst zu bestätigen und zu bestärken […], sich die Welt dienstbar zu machen“42. Die Ambivalenz zwischen offenem Vollzug und nötiger Abstraktion lässt sich in der bekannten Gegenüberstellung von Religion und Glaube sehen: „Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muß geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen. [Im Original zum Teil gesperrt, K.E.B.]“43 Während dem Glauben ein (nicht herstellbares) offenes Verhalten entsprechen würde, zielt Religion mit erdachten Gottesbildern auf Abschluss. Dabei geht es aber genau nicht darum, der Religion eine Alternative entgegenzusetzen. Diese würde die Ambivalenz verstärken beziehungsweise verdrängen, aber nicht lösen. Das wird deutlich, wenn Barth den kritischen Umgang mit Religion selbst als Erscheinung von Religion versteht: Religion ist laut Barth als tautologische Gestaltung des Menschen nicht-not38 39 40 41 42 43

Barth, KD I/2, 357. AaO., 354. Vgl. aaO., 337. Ebd. Ebd. AaO., 327.

326

Katharina Eberlein-Braun

wendig und schwach.44 Dies führt laut Barth zur Kritik an Religion, die aber selbst der religiösen Struktur verhaftet bleibe. „Es gilt hier aber klar zu sehen: jene kritische Wendung, in der dieser Selbstwiderspruch und diese Unmöglichkeit der Religion sichtbar wird, ist ein Moment im Leben der Religion selbst. Sie hat nicht mehr als immanente Bedeutung.“45 Barth nennt hier Mystik und Atheismus.46 Mystik und Atheismus als kritische Formen seien nun Formen, die die Sinnlosigkeit der Religion bemerkten, die aber dennoch den ,religiösen Besitz‘ wahrten und in „Nicht-Ausdruck“47 überführten. Nun gibt es aber aufgrund der Unhintergehbarkeit des Sich-Verhaltens, auf das unten zum Erfahrungsbegriff näher eingegangen wird, keine Alternative zum immer aktiven und ambivalenten religiösen Verhalten, wie der Bezug auf den Atheismus als Nicht-Religion und die Mystik deutlich machen: Auch sie befinden sich als Extreme dennoch im „Zauberkreis der Religion“48. Ist eine Alternative unmöglich, so bewegt sich die „wahre Religion“49 im Rahmen der Religion und ihrer Ambivalenz. Es scheint dabei möglich, die Notwendigkeit und Faktizität eines Umgangs mit Religion bewusst zu machen und so die Ambivalenz nicht zu verdrängen, sondern offenzuhalten. Die Alternativlosigkeit muss also dazu führen, genau die Ambivalenz als Beispielhaftigkeit von Lebensvollzügen zum Gegenstand zu machen. Ob dies gelingt, kann dabei durch die Unhintergehbarkeit der Ambivalenz nicht garantiert werden – wie jeder Umgang bleibt auch dieser ambivalent und muss dies bewusst halten. Hierzu gehört Barths Beschreibung der Kirche als Ort „wahrer Religion“ in Analogie zur Rechtfertigung des Sünders50 und dass Sicherheit des Glaubens nicht im Besitz, sondern in der Erwartung gesehen wird: „Der Mensch, die Kirche, die kirchliche Verkündigung, die Dogmatik, die mit dem Wort und dem Glauben meinten arbeiten zu können wie mit einem zur Disposition ste44 AaO., 344ff. Im Kontext der Schwäche der Religion weist Weinrich auf die „phänomenale Ambivalenz“ von Religion hin; vgl. Weinrich, Humanität, 32. Das Zitat ebd. 45 Barth, KD I/2, 343. 46 Vgl. auch zum Folgenden aaO., 344ff. Mit dem Stellenwert der Mystik für die Theologie Barths hat sich Nicolaus Klimek, Der Begriff ,Mystik‘ in der Theologie Karl Barths, Paderborn 1990 beschäftigt. 47 Barth, KD I/2, 347. 48 AaO., 355. 49 AaO., 356–397. 50 Das Bewusstsein der Rechtfertigungsbedürftigkeit „kann nämlich anzeigen, daß die christliche Kirche der Ort ist, wo Menschen mit Gottes Offenbarung und Gnade konfrontiert, durch Gnade von Gnade leben“; aaO., 370f.; vgl. zur Rolle der Kirche auch aaO., 377. Vgl. zur Analogie zur Rechtfertigung des Sünders aaO., 356. An der Struktur der Rechtfertigungsbedürftigkeit liegt es, dass Barth die christliche Religion als wahre Religion bezeichnet; vgl. aaO., 357. Denn im Bewusstsein, selbst nur Symptom zu sein, fällt ein abwägender Vergleich mit anderen Religionen aus – das Bewusstsein wahrer Religion ist ein Glaubenssatz; vgl. ebd. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass andere Religionen dies von sich ebenfalls aussagen.

Lebenszusammenhang Ambivalenz

327

henden Kapital, würden gerade damit nur beweisen, daß sie weder das Wort noch den Glauben hätten. Wo man sie hat, da setzt man sie gerade nicht als Besitz voraus, da streckt man sich, hungernd und dürstend und gerade so selig, nach ihnen aus. Und so nun auch nach der Möglichkeit der Erkenntnis des Wortes Gottes. Gerade wo man sie kennt, erwartet man sie zu kennen. Die Sicherheit ihrer Bejahung ist also die Sicherheit ihrer Erwartung.“51

3.2

Unhintergehbarkeit des Sich-Verhaltens und Ambivalenz: Erfahrungsbegriff und Religionsverständnis

Dass bei Barth mit Religion ein unhintergehbar ambivalenter Lebenszusammenhang gemeint ist, lässt sich der Verbindung mit dem Erfahrungsbegriff52 entnehmen. Barth bringt Religion mit dem Erfahrungsbegriff und seiner Definition folgendermaßen in Verbindung: „Sofern die Offenbarung nun aber in der Tat auch ein dem Menschen widerfahrendes Ereignis ist, ein Ereignis, das jedenfalls auch die Gestalt menschlicher Zuständlichkeit, Erfahrung und Tätigkeit hat, stoßen wir an dieser Stelle auf das Problem der menschlichen Religion. Die Offenbarung Gottes ist wirklich und möglich als eine Bestimmung der menschlichen Existenz.“53 Sowohl der Erfahrungsbegriff als auch die Formulierung „Bestimmung der menschlichen Existenz“ zeigen eine Verbindung von Barths Religionsverständnis mit seinem Erfahrungsverständnis in §6 der Kirchlichen Dogmatik. Erfahrung wird dabei als unhintergehbare Existenzweise verstanden, denn Barth beschreibt den Menschen als von Erfahrungen bestimmt und als bestimmten Menschen auf bestimmte Weise Erfahrungen machend: Die „Bestimmung der Existenz des erkennenden Menschen nennen wir Erfahrung. Der Mensch existiert nicht abstrakt, sondern konkret, d. h. aber in Erfahrungen, in Bestimmungen seiner Existenz durch Gegenstände, durch ein von ihm unterschiedenes Außen. Als Erfahrener, d. h. bestimmt durch dieses Außen […] und als Erfahrender, d. h. als eben jetzt wieder einem bestimmten Außen in bestimmter Weise Begegnender ist er, was er ist, existiert er als Mensch, nicht sonst.“54 51 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 1. Halbd., München 1932, 236f. 52 Nicht zufällig spielt der Erfahrungsbegriff auch bei Adorno eine große Rolle: Dem laut Adorno als Herrschaftsinstrument gebrauchten Begriff, der aus einer absolut gesetzten Systemlogik von abstrakter Rationalität stammt, setzt er eine begrifflich vermittelte Erfahrung entgegen. Vgl. Adorno, Negative Dialektik, 15–66. Zum Erfahrungsbegriff bei Adorno und Barth und der hier beschriebenen Struktur vgl. auch Eberlein-Braun, Erkenntnis, 31–116. Auch Liedke, Wahrheit, geht auf Adornos Erfahrungsverständnis ein. 53 Barth, KD I/2, 305. 54 Barth, KD I/1, 207.

328

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Diese konkrete Existenz des Menschen in seinen Erfahrungen wird gleichgesetzt mit Selbstbestimmung, die aber selbst in der Erfahrung des Wortes Gottes noch einmal bestimmt werde: „Wir fassen zusammen: Menschliche Existenz heißt menschliche Selbstbestimmung. Handelt es sich in der Erfahrung vom Worte Gottes um die Bestimmung menschlicher Existenz und also menschlicher Selbstbestimmung durch das Wort Gottes, so ist unter Selbstbestimmung zu verstehen: die Betätigung sämtlicher Vermögen, in deren Betätigung der Mensch Mensch ist.“55 Selbstbestimmung als Existenz in konkreten Erfahrungen scheint also für Barth zwar unhintergehbar, aber kein fester Boden zu sein, sondern anscheinend ein ambivalenter und offener Vorgang, der noch einmal bestimmt wird: Die Bestimmung der Selbstbestimmung lässt sich so – geschildert mit dem unglücklich gewählten Begriff des Gehorsams56 – verstehen als Qualifizierung der Selbstbestimmung bezüglich ihres Gelingens. Ist das Existieren in Erfahrung also unhintergehbar, dieses aber bezüglich seines Gelingens (seines Qualifiziertseins) offen, so zeigt sich darin die Ambivalenz der Existenz, sich nicht nicht (reflexiv) verhalten zu können (nämlich nur im Vollzug zu leben), dabei aber die Konsequenzen des eigenen Verhaltens nicht absehen zu können. Dies lässt sich als Hintergrundstruktur der Religionskritik in §17.2 verstehen, denn dort wird Religion mit dem Sein des Menschen in der Welt gleichgesetzt: Spätestens in der Moderne ist der Mensch zu einem eigenen Sichverhalten frei und zugleich genötigt und kann sein Gelingen nicht garantieren. Diese Beobachtungen zu Barths Erfahrungsbegriff lassen sich nun auf sein Religionsverständnis beziehen: Während die von Barth kritisierte Religion auf Abschluss dieser Nötigung zielt, scheint seine Gegenüberstellung von Religion und Glaube auf die offene Struktur des religiösen Lebenszusammenhangs hinzuweisen, in dem Religion keinen eindeutigen Grund für ein bestimmtes Verhalten bietet. Ein passendes Verhalten ließe sich auch schlecht denken, denn dieses würde ja immer auf einem eigenen Verhalten beruhen, also immer noch zur Ambivalenz des Sich-nicht-nicht-verhalten-Könnens gehören. Barth schildert dann in KD I/2 Glauben als entsprechendes Nicht-Verhalten: „Das der Offenbarung entsprechende Tun müßte ja der Glaube sein […]. Wir müßten es sehen, daß im Blick auf Gott all unser Tun umsonst ist auch in dem besten Leben, d. h. daß wir von uns aus nicht in der Lage sind, die Wahrheit zu ergreifen, Gott Gott und unseren Herrn sein zu lassen. Wir müßten also auf alle Versuche verzichten, diese Wahrheit nun doch ergreifen zu wollen.“57 Dieser Verzicht darf 55 AaO., 213. 56 Barth redet von einer „Qualifizierung der Entscheidung des Menschen als eine Entscheidung zum Glauben oder Unglauben, zum Gehorsam oder Ungehorsam“; aaO., 215. 57 AaO., 329.

Lebenszusammenhang Ambivalenz

329

auf dem Hintergrund der Unhintergehbarkeit des Sich-Verhaltens nicht als gewollte Passivität, als Ausstieg aus der Ambivalenz, verstanden werden. Vielmehr scheint der Begriff Glaube das Gelingen von Religion, also ein Geschehen innerhalb ambivalenter religiöser Vollzüge zu meinen statt der Religion als Alternative gegenüber gestellt zu werden. Dies hat seine Grundlage wieder im Erfahrungsverständnis in §6.3 der Kirchlichen Dogmatik (Das Wort Gottes und die Erfahrung), in dem eine wahre Erfahrung letztlich als Erfahrung verstanden wird, die als Anerkennung, die selbst anerkannt sein muss, den Erfahrungsbegriff überschreitet – aber im Vollzug der Erfahrung: „[D]iese Erfahrung hört, indem sie als Erfahrung stattfindet, auf, Erfahrung zu sein. [Dort mit anderen Hervorhebungen; K.E.-B.]“58 Hierfür führt Barth dann den Glaubensbegriff ein. Eine solche Erfahrung ist im Gegensatz zu Erkenntnis- und Verhaltensweisen, die auf einer festen Basis beruhen und bleibend aufbauen (wozu auch gewollte Passivität gehören würde), nie gesättigt oder stillgestellt, sondern ist in der Dialektik von Ver- und Enthüllung in Bewegung: „Anerkennung des Wortes Gottes muß […] bedeuten: immer wieder sich führen lassen, immer wieder den Schritt tun, immer wieder in Bewegung sein von der einen jeweils gemachten Erfahrung, von dem einen jeweils gefaßten Gedanken, zu dem entgegengesetzten Erfahren und Denken, weil Hören des Wortes Gottes immer im Mithören des einen im anderen, des anderen im einen besteht. In dieser durch keine Synthese zu beruhigenden Bewegung anerkennt ein Mensch das Geheimnis des Wortes Gottes und hat er christliche Erfahrung.“59

Auf dem Hintergrund der Unhintergehbarkeit eigenen ambivalenten Sich-Verhaltens würde es also um ein bewusstes Offenhalten immer neuer Aneignungen religiöser Motivik gehen60 – um eine Verschiebung auf die Frage nach dem Umgang mit Religion.

4.

Religion als Umgang mit Religion

Von Adorno ausgehend ergaben sich die Schwerpunkte des Lebenszusammenhanges und der Ambivalenz, die sich in Barths Religionsverständnis herausarbeiten ließen. Die zentrale Frage nach dem Lebenszusammenhang von religiösen Motiven führt zur Verschiebung einer Kluft (zwischen abstrakt-theoretischen und vollzugshaft-praktischen Elementen) zur Ambivalenz eines Vollzugs, zu 58 Vgl. Barth, KD I/1, 217f. Das Zitat aaO., 218. 59 AaO., 216f. 60 Wie Barth es (vgl. oben 3.1) als Sicherheit in der Erwartung statt Besitz beschreibt; vgl. Barth, KD I/1, 236f.

330

Katharina Eberlein-Braun

dem auch theoretische Elemente61 gezählt werden, also durch den Einzug von Ambivalenz in das zu beschreibende Phänomen und seine Beschreibung selbst. Bei Barth lässt sich von hier aus die Ambivalenz von Religion als beispielhaftes Auftreten der Unhintergehbarkeit menschlichen Sich-Verhaltens verstehen, die im Erfahrungsbegriff an Lebensvollzüge zurückgebunden wird. Mit der Unhintergehbarkeit von Religion und ihrer Ambivalenz geht es so weniger um ihre Kritik als um die Frage nach einer zuträglichen Sichtweise auf sie, nach einer gelingenden Religionsaneignung. Von hier aus ergibt sich der religionstheoretische Ausblick, Religion als offenen Umgang mit religiöser Motivik zu verstehen. Religion wird zu Religionsaneignung, Religionskritik verschiebt sich zu Kritik an bestimmten Umgangsweisen mit religiösen Motiven und stellt selbst ebenfalls eine Form des Umgangs mit Religion dar. Die Sicht auf Religion wäre dann als religionsproduktiv zu verstehen, daher ihre Bestimmung wesentlich für die Entwicklung von Religion. Hier zeigt sich die Notwendigkeit von Bildung im Bereich der Religion. Abschließend stellt sich die Frage nach dem ,Umgang mit dem Umgang‘, nämlich die Frage, wie mit den verschiedenen, ambivalenten Umgangsweisen mit religiöser Motivik wiederum selbst umgegangen werden soll und kann. Auch hier wird es um anspruchsvolle Offenheit gehen: Einerseits ginge es um Bildung zur Interpretation und Einschätzung religiösen Verhaltens, also um Bildung zu einer Außenperspektive, andererseits um die Befähigung, eigene religiöse Annahmen zu reflektieren und zu interpretieren, also immer neu aneignend mit eigenem umzugehen. Plurale Umgangsweisen machen dabei auch nicht vor den Grenzen der Bereiche Kirche, Religion und Kultur halt. Entscheidend wäre dann nicht die grundsätzliche (und abgrenzende) Identifizierung bestimmter Bereiche als religiös sondern eine momenthafte Aufnahme und Interpretation von kulturellen und gesellschaftlichen Beständen in ihren Aneignungen religiöser Motive.62

61 „Professionelle Reflexion von Religion (also Theologie) und reflektierter Lebensvollzug (also Religion) fallen zusammen. […] Sich deutende Selbstreflexion, Religion, gibt es mithin nur im theologischen Vollzug“; Pfleiderer, Religion, 29. Wittekind versteht Theologie in ihrer Konstruktion von und so Durchsichtigkeit für Religion als Möglichkeit dafür, dass „sich an ihr der wahrhafte Vollzug von Religion ereignen“ kann; vgl. Wittekind, Religionskritik, 241f. „Die Theologie […], von der Barth spricht, arbeitet die Erkenntnis dieser Produktionsebene religiöser Gehalte als unmittelbare reflexive Wahrnehmung im Akt religiöser Produktion selbst aus. Damit gewinnt eine solche Theologie, und das ist der wissenschaftsmethodisch entscheidende Punkt, Anteil an dem religiösen Leben selbst“; aaO., 227. 62 Hier ließe sich neben Osthövener, Religionsaffinität an Korsch (Korsch, Religionsbegriff, 255ff.) anschließen, der für Christentum und Kultur (allerdings historisch einen größeren Raum einnehmende) verschiedene Integrationslogiken mit verschiedenen Schlüsselfiguren (Kosmologie, Ethik, Ästhetik) annimmt.

Dorothea Sattler

Karl Barth und die christliche Ökumene. Gedanken aus (einer) römisch-katholischen Perspektive

1.

Einleitung: Ökumenisch geachtete Biographien

Es gibt einen kostbaren Gedanken des Literaten Peter Handke: „Vor jeder Begegnung: Denk, was der andere für einen Weg hatte.“1 Heute wählen wir nicht nur im Blick auf die Ökumenische Bewegung vielfach biographische Zugänge zur Wirklichkeit, um Interesse am Verständnis der historischen Zusammenhänge sowie der thematischen Anliegen zu wecken. Im Jahr 2015 war ich auf Einladung der Brüder in Taiz8 zu einem Vortrag zum Gedenken an FrHre Roger Schutz, dem ersten Prior der Gemeinschaft von Taiz8, der im Jahr 2015 anlässlich seines 100. Geburtsjahr und seines 10. Todestag internationale theologische Beachtung erfuhr.2 Roger Schutz und Karl Barth sind zwei Schweizer, zwei reformierte Christen. Sie sind in wechselseitigem Respekt füreinander unterschiedliche Wege in der Ökumene gegangen. In der römisch-katholischen Theologie haben beide Persönlichkeiten hohe Aufmerksamkeit erfahren. Wir freuen uns gemeinsam an der Wirkung des Geistes Gottes jenseits der Grenzen der kirchlichen Institutionen. Biographisches Erzählen fesselt die Aufmerksamkeit. Briefwechsel werden ediert und wissenschaftlich kommentiert; sie sind eine wichtige Erkenntnisquelle im Hinblick auf den immer auch emotionalen Anteil an dem ökumenischen Engagement eines Menschen. Wer den intensiven Briefwechsel zwischen Karl Barth und Willem Adolf Visser ’t Hooft, dem ersten Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, in den Jahren zwischen 1930 und 1968 nachliest, begegnet zwei Menschen mit ganz unterschiedlichem Temperament: Der eine, Karl Barth, schrieb eher nüchtern, zurückhaltend und manchmal auch skeptisch; der andere, Willem Visser ’t Hooft, blieb unermüdlich zuversichtlich, 1 Peter Handke, Phantasien der Wiederholung, Frankfurt a.M. 1983, 42. 2 Vgl. Dorothea Sattler, Contributions de frHre Roger Schutz / la th8ologie, in: L’apport de frHre Roger / la pens8e th8ologique. Actes du colloque international, Taiz8, 31 ao0t–5 septembre 2015, Taiz8 2016, 277–298.

332

Dorothea Sattler

zur Ökumene alternativlos entschieden und eingebunden in die Zwänge der institutionellen Organisation ökumenischen Handelns. Eine gemeinsame tiefe Überzeugung teilten beide Männer – und gewiss auch Roger Schutz – trotz all ihrer Unterschiedlichkeit: die Überzeugung von einer notwendig christologischen Orientierung der Ökumene, die geistlich begründet ist, die ekklesiale Dimension des Handelns achtet und theologisch verantwortlich argumentiert. In der gebotenen Kürze werde ich nun aus römisch-katholischer Perspektive einige Blicke auf die Lebenswege und die Denkwege von Karl Barth in der christlichen Ökumene wagen. Ich beginne biographisch und fahre systematischtheologisch fort. Die gegenwärtige ökumenische Situation sowie meine eigene römisch-katholische religiöse Prägung bilden dabei den Horizont meiner Überlegungen.

2.

Lebenswege: Biographische Notizen zum ökumenischen Engagement von Karl Barth

2.1

Ökumene in der Herausforderung von Bekenntnis und Widerspruch

Karl Barth stand den Anfängen der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierenden institutionalisierten Ökumenischen Bewegung skeptisch gegenüber. Mit dieser Skepsis steht er in voller Übereinstimmung mit der römisch-katholischen Kirche seiner Zeit, auch wenn die Gründe völlig unterschiedlich waren. In einem mit zeitlicher Distanz verfassten Rückblick auf die gemeinsamen Zeiten, die Willem A. Visser ’t Hooft 1979 auf einer der vielen Tagungen zum Werk von Karl Barth auf dem Leuenberg vorgetragen hat, bemüht dieser sich um ein gewisses Verständnis der vernichtenden Kritik, die beispielsweise die Gründungsversammlung von ,Life and Work‘, der ,Bewegung für Praktisches Christentum‘, 1925 in Stockholm durch Barth erfahren hat. Barth sprach damals offenkundig von einem „Schwindel“ und davon, dass diese Versammlung der Konfessionen „krank“ sei.3 Auch für die Gründungsversammlung von ,Faith and Order‘, der Bewegung für ,Glauben und Kirchenverfassung‘, 1928 in Lausanne findet Barth keine anerkennenden Worte. Von einem „aus den verschiedenartigsten christlichen Stimmen zusammengesetzten Orchesterkonzert“4 war damals offenkundig die Rede, bei dem er nicht mitspielen mochte. Barth wollte nicht nur ein Wort sprechen unter tausenden anderen. Ich frage mich, ob sich die

3 Willem A. Visser ’t Hooft, Karl Barth und die Ökumenische Bewegung, in: EvTh, 40, 1980, 2–24, 3f. 4 AaO., 4.

Karl Barth und die christliche Ökumene

333

Opposition gegen die anderen Konfessionen bei Barth auch aus einem sehr starken persönlichen Selbstbewusstsein heraus speiste. Visser ’t Hooft bestätigt rückblickend die Einschätzung von Barth, dass die Wahrheitsfrage – die Frage nach der Offenbarung Gottes allein in Christus Jesus – zu Beginn der Ökumenischen Bewegung nicht im Vordergrund der Bemühungen stand. Die Repräsentanten der Kirchen waren vor allem darum bemüht, neues Vertrauen zueinander zu gewinnen. Viele waren froh, überhaupt als willkommene Gesprächspartner füreinander zu gelten. Das konfessorische Moment, das entschiedene Bekenntnis zu Jesus Christus, trat dahinter zurück. Aber war es wirklich nicht im Blick? Ist es nicht immer schon die Basis der Ökumene? Ist Karl Barth der frühen ökumenischen Bewegung gerecht geworden? Das ist eine offene Frage. Ein Gedanke erscheint mir sehr wichtig: Karl Barth hat mit seinem Votum für eine konfessorische Entschiedenheit für Christus Jesus und mit seinem Eintreten für die Freiheit des religiösen Bekenntnisses im Widerstand gegen die politische Obsession der christlichen Ökumene einen Weg gewiesen, der bis heute segensreich ist und im Jahr 2017 in ökumenischer Verbundenheit ganz neu entdeckt wird. Durch die intensiven Bemühungen von Willem A. Visser ’t Hooft hat sich Karl Barth bereits in den 30er Jahren in die Genfer Ökumene einbinden lassen. Er hatte damals möglicherweise die später dann enttäuschte Hoffnung, Unterstützung für die Barmer Erklärung in der weltweiten Ökumene zu finden. Von frühester Zeit an hat er zu einer christologischen Zentrierung der Ökumene gemahnt: Bei einem vom Ökumenischen Rat für Praktisches Christentum 1935 veranstalteten Seminar formulierte er : „Die Frage nach der Einheit der Kirche muss identisch sein mit der Frage nach Jesus Christus als dem konkreten Haupt und Herrn der Kirche. Die Wohltat der Einheit ist nicht zu trennen von dem Wohltäter, in welchem sie ursprünglich und eigentlich wirklich ist, durch dessen Wort und Geist sie uns offenbar wird, im Glauben an den sie auch allein unter uns Realität sein kann. Nochmals: Jesus Christus als der eine Mittler zwischen Gott und Menschen ist geradezu die kirchliche Einheit, jene Einheit, in der es wohl eine Vielheit der Gemeinden, der Gaben, der Personen in der Kirche gibt, durch die aber eine Vielheit der Kirchen ausgeschlossen ist. Wir dürfen nicht die Idee – auch nicht eine noch so schöne und moralische Idee von Einheit, wir müssen ihn meinen, wenn wir es erkennen und aussprechen wollen, dass es im Auftrag der Kirche liegt, eine Kirche zu sein.“5

Die christologisch-soteriologische Ausrichtung des Denkens von Barth war wegweisend für die Ökumene.

5 Karl Barth, Die Kirche und die Kirchen, in: Ders., Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge, Bd. 3, Zollikon 1957, 214–232, hier 217.

334 2.2

Dorothea Sattler

Karl Barth 1948 in Amsterdam

Im Hinblick auf die aktive Teilhabe von Karl Barth an Versammlungen der sich institutionell formierenden Ökumenischen Bewegung gilt sein Referat zur Eröffnung der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam als besonders wichtig. Ungeteilte Zustimmung hat ihm seine Rede nicht eingetragen. Es gab für ihn unerwartete Kritik. Sein Thema war Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan6. Offenkundig war es ihm wichtig, von Beginn seiner Rede an die Perspektive zu wechseln: Zunächst ist zu sprechen von Gottes Heilsplan in Christus Jesus; dann erst kommt die Frage nach der Unordnung der Welt in den Blick. Gleich am Anfang sagt er : „,Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan‘. Darf ich Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Frage richten, ob wir dieses Thema nicht in seiner Gesamtheit und in allen seinen einzelnen Aspekten von hinten nach vorn betrachten und behandeln müssen? Es heißt ja, dass wir am Ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit trachten sollen, damit uns dann alles das, was wir im Blick auf die Unordnung der Welt nötig haben, hinzugefügt werden möge. Dürfen und wollen wir mit dieser Reihenfolge nicht ernst machen? Der ,Heilsplan‘ Gottes ist oben – die Unordnung der Welt und so auch unsere Vorstellungen von ihren Gründen, so auch unsere Vorschläge zu ihrer Bekämpfung, das alles ist unten.“7

Karl Barth hat nach dieser Rede viele sehr grundsätzliche Anfragen hören und lesen müssen, die ihn sehr verwunderten: Ihn ereilte von mehreren Seiten der Vorwurf, er ermutige den Menschen nicht zum eigenen Handeln im Blick auf die aufzurichtende soziale Gerechtigkeit in irdischer Zeit. Eine weitere Thematik führte 1948 dazu, dass Barth auf die Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen nicht mit Freude blickte: Er war Mitglied einer Arbeitsgruppe zum Thema ,Leben und Arbeit der Frauen in der Kirche‘.8 Es heißt, dass Barth sich im Amsterdamer Frauenkomitee „von Anfang an unwohl“9 fühlte. Barth war skeptisch gegenüber geschlechteranthropologischen Positionen, die die Gleichordnung von Frau und Mann in der Schöpfungsordnung auch im Hinblick auf die politische und kirchliche Ordnung seiner Zeit geltend machen wollten. Mit Paulus votierte Barth unter Bezug auf 1Kor 11 für eine Nachordnung, ja sogar eine Unterordnung der Frau hinter den Mann und somit für eine Bewahrung der patriarchalen Ordnung in Kirche und 6 Vgl. Karl Barth, Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan, in: EvTh 8, 1948/49, 181–189 (Vortrag bei der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam am 23. 8. 1948). 7 AaO., 182. Hervorhebungen im Original. 8 Vgl. Thomas Herwig, Karl Barth und die Ökumenische Bewegung. Das Gespräch zwischen Karl Barth und Willem Adolf Visser ’t Hooft auf der Grundlage ihres Briefwechsels 1930–1968, Neukirchen-Vluyn 1998, hier bes. 168–175. 9 AaO., 171.

Karl Barth und die christliche Ökumene

335

Gesellschaft. Nicht zuletzt unter dem Einfluss einer Frau, Charlotte von Kirschbaum, hat Barth sich später zurückhaltender im Blick auf die Bedeutung der Frauen in der Kirche geäußert: Charlotte von Kirschbaum sah viele gute Gründe, die Frau trotz der Weisungen des Paulus an der Wortverkündigung teilhaben zu lassen.10 In den 50er Jahren gab es verschiedene Versuche von Willem A. Vissser ’t Hooft, Karl Barth stärker in die institutionalisierte Ökumenische Bewegung einzubinden. Sie misslangen jedoch weithin. Vorabsprachen gab es im Blick auf die zweite Versammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Evanston 1954. Nach Amerika wollte Barth nicht gerne reisen. Englisch zu sprechen, hatte er nicht gelernt. Auch in der Sache gab es Vorbehalte von Barth – vor allem im Hinblick auf die Frage, ob das Verhältnis zu Israel dort angemessen zu besprechen sei. Barth war in der zweiten Hälfte der 50er Jahre weithin mit anderen Fragen und nicht mit den im engeren Sinn ökumenischen Themen befasst.

2.3

Ökumenische Hoffnungen angesichts des Zweiten Vatikanischen Konzils

Wie nicht wenige der evangelischen Theologen seiner Zeit hat auch Karl Barth durch das Zweite Vatikanische Konzil eine Verwandlung der Perspektive erfahren.11 Es wird wohl so sein, dass eine weltweite Versammlung zu theologischen Beratungen – aus römisch-katholischer Sicht eine universale, ökumenische Synode – das Herz auch von nicht römisch-katholischen Menschen bis heute anrührt. Vor allem methodisch und auch inhaltlich sehr aufschlussreich sind die ersten Reflexionen von Karl Barth auf das Zweite Vatikanische Konzil12, die erstmals am Ende der ersten Sitzungsperiode des Konzils nach dem Tod von Johannes XXIII erschienen sind. Damals zeichnete sich bereits ab, dass es zu einer umfassenden Reform der römisch-katholischen Kirche durch das Konzil kommen werde. Das Ergebnis war noch offen. Und genau in diese noch unbestimmte Situation hinein formulierte Barth seine Überlegungen. Barth lag dabei sehr daran, das Geschehen dieses Konzils nicht unter der Perspektive zu betrachten, welche Annäherungen an die anderen christlichen Konfessionsgemeinschaften durch die Beratungen erreicht werden, oder welche 10 Vgl. Charlotte von Kirschbaum, Der Dienst der Frau in der Wortverkündigung, ZollikonZürich 1951. 11 Vgl. Herwig, Ökumenische Bewegung, bes. 244–256. 12 Vgl. Karl Barth, Überlegungen zum 2. Vatikanischen Konzil, in: J. Chr. Hampe (Hg.), Ende der Gegenreformation? Das Konzil. Dokumente und Deutung, Stuttgart/Berlin 1964, 406–415; Ders., Thoughts on the Second Vatican Council, in: The Ecumenical Review 15, 1963, 357–367.

336

Dorothea Sattler

Themen für künftige ökumenische Dialogrunden sich ergeben könnten. Es war sein vorrangiges Anliegen, die inneren Entwicklungen in der römisch-katholischen Kirche zur Kenntnis zu nehmen. In reformatorischer Tradition war er dabei überrascht durch manche Entscheide, die damals von evangelischer Seite der römisch-katholischen Kirche nicht zugetraut wurden – und dies nicht nur nicht von Karl Barth beispielsweise im Hinblick auf das Bekenntnis zu Jesus Christus als der Mitte der Schrift oder in Bezug auf die Liturgiereform mit der Wertschätzung des verkündigten Wortes Gottes. Karl Barth wünschte der römisch-katholischen Kirche, sie möge sich im Geist des Evangeliums selbst erneuern. Er betrachtete die inner-römisch-katholischen Bemühungen als ein vorbildhaftes Beispiel auch für die reformatorischen Traditionen, sich auch selbst an der Mitte des Evangeliums auszurichten. Ökumenische Dialoggespräche über kontroverse Fragen – gar über ekklesiologische Themen – favorisierte Barth nach meiner Wahrnehmung nicht.

2.4

Eigene und fremde Rückblicke auf Karl Barth und die Ökumene

Karl Barth hat vor seinem Tod selbst auf sein ökumenisches Engagement zurückgeblickt.13 Andere Menschen – als Zeitgenosse vor allem Willem A. Visser ’t Hooft14 – haben es aus ihrer Sicht getan. In seinem eigenen Rückblick erinnert Barth an seinen Vortrag 1948 in Amsterdam. Er erinnert an seine Absicht, die Frage auf den Kopf zu stellen. Er wollte zuerst vom Heilsplan Gottes und dann erst von den Wirrnissen in der Geschichte sprechen. Barth gibt auch zu erkennen, dass die institutionalisierte Ökumene in seinem Zeit- und Lebensplan keinen großen Raum hatte. Im Blick auf die Grundmotivation zur Ökumene erinnert er an eine Intuition, die er auch bereits anlässlich des Zweiten Vatikanischen Konzils formuliert hatte: Es kommt auf die Reformierung der Konfessionen an – die Reform jeder Konfessionsgemeinschaft. Offenkundig war er sehr beeindruckt von der Weise, wie in der römisch-katholischen Kirche im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils die Schriftauslegung an Bedeutung gewonnen hat. Er stellte fest, dass in römisch-katholischen Radioansprachen die Schriftauslegung eher geschieht als in evangelischen. Er freute sich sehr darüber und ermahnte seine evangelischen Geschwister, Gleiches zu tun. Im Blick auf die sichtbare Einheit der Kirchen riet er – wie früher schon – zur Nüchternheit. Er

13 Vgl. Karl Barth, Letzte Zeugnisse, Zürich 1969, bes. 25–28. 14 Vgl. Willem A. Visser ’t Hooft, Karl Barth und die Ökumenische Bewegung, in: EvTh 40, 1980, 2–24.

Karl Barth und die christliche Ökumene

337

schrieb: „Ich bin kein Optimist. Wir werden eine Wiedervereinigung nicht erleben, aber es ist schon viel, dass man heutzutage miteinander redet.“15

3.

Denkwege: Theologische Anliegen von Karl Barth – ökumenisch betrachtet

Nun wechsele ich die Perspektive und nehme Themenaspekte der gegenwärtigen christlichen Ökumene – gewiss aus meiner begrenzten Sicht einer römischkatholischen Theologin – auf. Ich möchte vier thematische Aspekte aufnehmen, die in der gegenwärtigen christlichen Ökumene bedacht werden und einen engen Bezug zum Denken von Karl Barth aufweisen.

3.1

Ökumenische Zentrierung auf Gottes Offenbarung in Christus Jesus

Viele Passagen in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils lassen sich finden, in denen die christologisch-soteriologische Fundierung der Ökumene zur Sprache kommt. Ich wähle ein Zitat aus dem Dekret über den Ökumenismus, Unitatis Redintegratio, Nr. 2: „Nachdem der Herr Jesus am Kreuze erhöht und verherrlicht war, hat er den verheißenen Geist ausgegossen, durch den er das Volk des Neuen Bundes, das die Kirche ist, zur Einheit des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe berufen und versammelt [hat], wie uns der Apostel lehrt: ,Ein Leib und ein Geist, wie ihr berufen seid in einer Hoffnung eurer Berufung. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe‘ (Eph 4, 4–5). Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen […]. Ihr alle seid ja einer in Christus Jesus’ (Gal 3, 27–28). Der Heilige Geist, der in den Gläubigen wohnt und die ganze Kirche leitet und regiert, schafft diese wunderbare Gemeinschaft der Gläubigen und verbindet sie in Christus so innig, dass er das Prinzip der Einheit der Kirche ist.“16

Was eigentlich völlig selbstverständlich sein sollte, bedurfte in der frühen Ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts einer expliziten Vergewisserung: Das Christusbekenntnis verbindet die christlichen Kirchen. Jenseits all der Fragen nach der angemessenen institutionellen Gestalt kirchlicher Existenz ist das Christus-Bekenntnis die verbindende Mitte. Wenn alle Bekenntnisgemeinschaften sich Christus Jesus annähern, nähern sie sich auch einander an. Karl Rahner hat vier Tage nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils am 15 Barth, Letzte Zeugnisse, 28. 16 Unitatis Redintegratio, Nr. 2, in: Karl Rahner/Herbert Vorgrimmler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vaticanums in der bischöflich beauftragten Übersetzung, Freiburg i.Br. 1966, 230–232, 230f.

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Dorothea Sattler

12. Dezember 1965 darauf hingewiesen, dass die Ökumene der Zukunft eine Ökumene sein wird, die sich den wahren Fragen zu stellen hat. Später kam er immer wieder auf diese Fragen zurück: Wie kann im Kontext der vielen religiösen Zeugnisse das Zeugnis für Christus Jesus glaubwürdig sein?17 Karl Rahner sieht die Ökumene der Zukunft in dem Bemühen begründet, gemeinsam christliche Antworten zu geben auf die existentiellen Fragen der Menschen: Woher kommen wir und wohin gehen wir? Welcher Trost wird uns im Tod geschenkt? Wie gehen wir um mit unseren Verstrickungen in die Fänge der Sünde und ihrer leidvollen Folgen? Das Rätsel der menschlichen Existenz; die Rechnung des Lebens, die nicht aufgeht; die Bereitschaft zur Liebe in allen Abgründen – dies alles bedachte Karl Rahner. Das Zweite Vatikanische Konzil hat seine Gedanken in Nostra aetate18 – in der Erklärung zum Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen – aufgenommen. Alle Religionen möchten Antworten geben auf die Lebensfragen der Menschen. Niemand ist sich sicher, dass die eigene Antwort die richtige ist. Gemeinsam stehen wir heute in der christlichen Ökumene im Horizont des Jahres 2017 vor der Herausforderung, das christliche Bekenntnis als eine glaubwürdige Antwort auf die schwer lastenden existentiellen Fragen des Lebens zu begründen. Immerzu soll ein Christusfest sein – nicht nur 2017. Von der geschehenen Erlösung in Christus Jesus ist dabei zu sprechen. Gerade im soteriologischen Kontext ist es sehr wichtig, wieder Karl Barth zu lesen, da es ihm in besonders eindrücklicher Weise gelungen ist, die enge Beziehung zwischen der soteriologischen und der eschatologischen Argumentation in der Theologie aufzuzeigen.

3.2

Sakramentale Gemeinschaft in der einen christlichen Taufe

Es gibt viele Beiträge zur Theologie der Taufe bei Karl Barth. Ich habe seine Anfragen an die Praxis der Säuglingstaufe und sein Votum für die Geisttaufe immer so verstanden, dass er den Gnadencharakter des Geschehens, die Gabe Gottes, nicht in Abrede stellen wollte, vielmehr angesichts seiner grundlegenden Skepsis gegenüber rituellen kirchlichen Handlungen darauf aufmerksam machen wollte, dass in der Taufe eine existentielle Wende des menschlichen Lebens gefeiert wird. Dies sollte möglichst dann mit Kenntnis und mit Zustimmung der Betroffenen geschehen. Bekennend christlich, so dachte Barth, sollten die Ge17 Vgl. Karl Rahner, Ökumenische Theologie der Zukunft, in: Ders., Einheit in Vielfalt. Schriften zur Ökumenischen Theologie, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 27, bearb. v. K. Lehmann/A. Raffelt, Freiburg/Basel/Wien 2002, 105–118. 18 Vgl. Nostra aetate, in: Rahner/Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, 355–366.

Karl Barth und die christliche Ökumene

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tauften handeln und leben und sein. Alle Christinnen und Christen sollten bereit dazu sein, im eigenen Dasein die in der Taufe vollzogene Existenzwende zu bezeugen. Heute haben wir in der Ökumene hohe Achtung vor den christlichen Gemeinschaften, die die Praxis der Glaubenstaufe favorisieren: Getauft wird dann nur, wer vor der Gemeinde sein persönliches Christusbekenntnis im eigenen biographischen Kontext formulieren kann. Es geht dabei keineswegs um eine intellektuelle Leistung – es geht um die Entschiedenheit für Christus Jesus, die im Bekenntnis (konfessorisch) zu bezeugen ist. Im Gespräch mit den Pfingstkirchen hat die Frage nach der Geisttaufe neue Aktualität gewonnen.

3.3

Umkehr und Erneuerung der Kirche(n)

Die von Karl Barth angemahnte innere Erneuerung jeder Kirche als Weg der Ökumene findet in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils Zustimmung. Dort heißt es in Unitatis Redintegratio, Nr. 7: „Es gibt keinen echten Ökumenismus ohne innere Bekehrung.“19 . Das Ökumenismusdekret greift in diesem Zusammenhang einen Gedanken in der Kirchenkonstitution Lumen Gentium auf: „Sie [die Kirche] ist zugleich heilig und der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung.“20 Die Idee einer Ecclesia semper purificanda erscheint den römisch-katholischen Bischöfen im Blick auf die eigene Kirche nahe liegend. In der ökumenischen Literatur sind die Beiträge zum Themenkreis ,Umkehr – Erneuerung – Ökumene‘ sehr zahlreich. Die ökumenische Groupe des Dombes hat dazu vor der Jahrtausendwende hilfreiche Ausführungen gemacht. Karl Barth war schon sehr früh entschieden für eine solche Ökumene der Reform. 1963 schrieb er : „Der Weg zur Einheit der Kirche kann […] nur der ihrer Erneuerung sein. Erneuerung heißt aber Buße. Und Buße heißt Umkehr ; nicht Umkehr der anderen, sondern eigene Umkehr.“21 Bis kurz vor seinem Tod hielt Barth an diesem Gedanken fest, dass die römisch-katholische Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil eine Erneuerung – eine Reformierung – erfahren hat; er fügt hinzu: „Man hat gesagt: Was jetzt in der katholischen Kirche vorgehe, sei eine ,Spätzündung‘ der Reformation vom 16. Jahrhundert. Vielleicht ist das ein wenig viel gesagt – aber man könnte es doch vielleicht verantworten zu sagen, 19 Unitatis Redintegratio, Nr. 7, in: Rahner/Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, 237–238, 237. 20 Lumen Gentium, Nr. 8, in: Rahner/Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium, 130–132, 131. 21 Barth, Überlegungen zum 2. Vatikanischen Konzil, 415.

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Dorothea Sattler

dass hier ein Zusammenhang besteht.“22 Der letzte Vortrag von Barth hatte den Titel Aufbrechen – Umkehren – Bekennen. Darin heißt es, dass „echte, rechte Umkehr […] sorgsam überlegt sein“23 will. Dies bleibt sein Vermächtnis. Die geforderte Umkehr hat ihre Orientierung an Jesus Christus. Barth formuliert dies so: „Die Kirche kommt von dem Gebot Jesu Christi her. Sie zieht und sieht seinem neuen, hellen Kommen entgegen.“24

3.4

Eschatologische Hoffnung auf universale Versöhnung – auch in der Ökumene

Von frühester Zeit an hat Karl Barth formuliert, dass seiner Einschätzung nach in irdischer Zeit die sichtbare Einheit der Kirchen auf institutioneller Ebene nicht zu erreichen sein wird. Deutlich unterschied er zwischen der gegebenen Einheit im Bekenntnis zu Christus Jesus und der kirchenamtlichen Existenz, die ihm im Blick auf die römisch-katholische Kirche trotz einer möglichen Faszination, die er in seinen späten Jahren empfunden haben mag, doch sehr fremd blieb. Die in der reformatorischen Tradition vielfach eingeübte Unterscheidung zwischen dem Grund der Kirche (das lebendige Christuszeugnis) und der Gestalt jeder kirchlichen Institution war ihm zeitlebens sehr wichtig. Mit seiner Annahme, dass es in Zeit und Geschichte keine sichtbare Einheit der Kirchen geben wird, ist Karl Barth in guter Gesellschaft. Auch Joseph Ratzinger konnte dies bereits in den 60er Jahren als seine Überzeugung formulieren. Erfahrene Menschen wissen, wie stark lastend die historisch bedingten institutionellen Formen des Christentums sind. Was wiegt da das gemeinsame Christus-Bekenntnis auf der anderen Waagschale? Noch immer sind wir in der christlichen Ökumene auf dem Weg der Entdeckung des hohen Gutes der bereits bestehenden Gemeinschaft im Glauben an Jesus Christus. Römisch-katholische Studierende lesen vermutlich nicht die vielen Bände der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth. Eine Seite aus diesem reichen Schatz seiner Gedanken versuche ich den Studierenden jedoch nahe zu bringen: „Im Glauben an Jesus Christus werden wir wohl nie aufhören, die Entscheidung über uns wie über jeden anderen Menschen ganz und gar ihm zu überlassen. […] Wie in Jesus Christus allein die Vergebung der Sünden begründet und wie er allein von den Toten auferstanden ist, so haben wir für uns selbst und für Andere ihn allein zum Zeugen der Hoffnung.“25 22 23 24 25

Barth, Letzte Zeugnisse, 27. Karl Barth, Aufbrechen – Umkehren – Bekennen, in: Ders., Letzte Zeugnisse, 61–71, hier 68. AaO., 67. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II: Die Lehre von Gott, 2. Teilbd., Zollikon-Zürich 1942, 551f.

Karl Barth und die christliche Ökumene

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Gemeinsam sind wir in der christlichen Ökumene in diesen Zeiten bemüht, unsere Hoffnung auf die Allversöhnung der Geschöpfe christologisch zu begründen, ohne dabei die Klage der Leidenden und das Gericht Gottes aus dem Blick zu verlieren. Eine der letzten Studien des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen trägt den Titel Heil für alle?26 Auf die Hoffnung auf Allversöhnung konnten wir uns ökumenisch verständigen. Ich schließe so, wie ich begonnen habe: in Rückbindung an den Literaten Peter Handke. Er formuliert aphoristisch: „Ich bin sicher, dass es keinen anderen Weg gibt als den meinen; aber manchmal weiß ich nicht, ob ich auf einem Weg bin.“27 Karl Barth war sich gewiss, dass es keinen anderen Weg gibt als den seinen: das Bekenntnis zu Christus Jesus. Dies ist völlig unstrittig in der christlichen Ökumene. Zugleich fragen wir uns, welches Ziel die Ökumenische Bewegung heute haben kann. Gibt es einen Weg ohne Ziel? Mehr und mehr teilen wir die Skepsis von Karl Barth in der Frage, ob die institutionelle und in diesem Sinne sichtbare Einheit der Kirche – der Kirchen – in irdischer Zeit je erreicht werden könnte. Ist sie nicht einmal anzustreben? Unterschiedlich sind die Antworten auf diese Frage in der theologischen Literatur – und vermutlich auch bei allen Getauften sowie den kirchenleitenden Persönlichkeiten. Unter Gottes Wort, das um der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses für Jesus Christus willen zur Einheit in dessen Nachfolge mahnt (vgl. Joh 17, 21), stehen alle, die sich Christinnen und Christen nennen. Gottes Geist wird daran immer wirksam erinnern. Die Kirchen sind alternativlos auf einem nicht selbst gewählten Weg zur sichtbaren Einheit. Er wird wohl noch weit sein.

26 Vgl. Dorothea Sattler/Volker Leppin (Hg.), Heil für alle? Ökumenische Reflexionen, Freiburg/Göttingen 2012. 27 Handke, Phantasien, 58.

Georg Pfleiderer

Aggiornamento. Zum ökumenischen Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths

1.

Religionskritik als Prozedenzmodus antimoderner Modernisierung der Theologie

1.1

Religionskritik als Prozendenzmodus dialektischer Theologie

„Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muss geradezu sagen: die Angelegenheit des gottlosen Menschen.“ Dieser Satz „soll nicht nur irgendwelche andere mit ihrer Religion, er soll auch und vor allem uns selbst als Angehörige der christlichen Religion treffen. Er formuliert das Urteil der göttlichen Offenbarung über alle Religion“1. Die bekannte Pointe von Karl Barths Religionskritik ist, wie das berühmte Zitat aus §17 der Kirchlichen Dogmatik klar bekundet, dass diese sich nicht nur gegen „andere“, nichtchristliche Religionen, sondern auch und vor allem gegen das Christentum, gegen die je und unmittelbar eigene Religion, wendet. Denn Religion ist der Modus der Offenbarung: „Indem Gott sich offenbart, verbirgt sich das göttliche Besondere in einem menschlich Allgemeinen, der göttliche Inhalt in einer menschlichen Form und als das göttlich Einzigartige in einem menschlich bloss Eigenartigen.“2 Die Nachzeichnung des Offenbarungsgeschehens in den einzelnen Aspekten seines Vollzugs als das konstruktive Geschäft der Theologie ist darum nur in dem Maße möglich, in welchem es sich selbst in einem radikalen Sinne religionskritischer Reflexion unterwirft. Deren innerster Kern ist nämlich nichts anderes als das Bewusstsein vom Konstruktionscharakter theologischer, auch und gerade offenbarungstheologischer Arbeit. Religionskritik ist mithin die negative, kritische Manifestation des ,Aktualismus‘3, des Dialektischen in der Dialektischen 1 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, 2, Teilbd., Zollikon-Zürich 1938, 327. 2 AaO., 307. 3 Vgl. die von Barth gerne verwendete Formel „ubi et quando visum est Deo“, in: Ders., Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dog-

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Georg Pfleiderer

Theologie Karl Barths – auch und, wie sich an jenem berühmten §17 der Kirchlichen Dogmatik zeigt, in gewisser Weise gerade in ihren vermeintlich „nachdialektischen“ Phasen, also nach der sogenannten „Wende von der Dialektik zur Analogie“4. Die Religionskritik der KD entfaltet, was Barth im expressionistischen Römerbrief von 1922 mehrfach mit der Metapher vom „Schaden Josephs“ belegt hatte: das Bewusstsein, dass gerade der Anspruch einer ,prophetischen Kritik‘ an positiver Religion, Kirche und kirchlicher Theologie auf jene selbst zurückfällt: „An Büchern wie diesem Buch, nicht an der Unterhaltungsliteratur der Weltkinder, kommt der Schaden Josephs zum Ausbruch.“5 Wenn Barth dort in einer gewissermaßen summativen Schlussaufhebung den „Römerbrief selbst gegen jeden Römerbriefstandpunkt!“6 gestellt hatte, dann ist auch die gesamte vielbändige Sprachkathedrale der Kirchlichen Dogmatik nicht minder als blosses Interpretament des Geschehens der freien Selbstvergegenwärtigung Gottes zu verstehen, der, wie Barth auf den ersten Seiten der Prolegomena der Kirchlichen Dogmatik und als deren Lesehilfe einschärft, nicht nur dort, wo die Theologie – auch und gerade die von ihm selbst auf den Weg gebrachte – vermutet und bestimmt, sondern etwa „durch den russischen Kommunismus, durch ein Flötenkonzert, durch einen blühenden Strauch oder durch einen toten Hund zu uns reden kann“7. Diese in einem gewissen Sinne ,anarchische‘„Freiheit Gottes“, sich jederzeit „gegen den freien Lebensversuch, der sich aus ihrer Erkenntnis unvermeidlich ergibt“8, zu stellen, ist ihrerseits nichts anderes als der Glutkern und eigentliche Möglichkeitsgrund solcher Freiheit, auf welche die ganze Theologie Karl Barths zielt.9 Mit solchem Differenzbewusstsein in freiheitstheologischer Absicht knüpft Barth auf seine Weise genau an diejenige theologische Reflexionstradition konstruktiv an, deren Überwindung er mit dem Projekt einer offenbarungstheologischen Internalisierung der Religionskritik vor allem im Auge hat: an die moderne Religions-Theologie seit Schleiermacher. An die Stelle der neuprotestantischen Fundamentalerkenntnis der Differenz von Theologie und Religion setzt er die Differenz von freier göttlicher Selbstoffenbarung und menschlicher

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matik, 1. Teilbd., Zürich 1932, 54; auf Kirche übertragen vgl. z. B.: Ders., Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 1. Teilbd., Zollikon-Zürich 1953, 801. Vgl. Hans Urs von Balthasar, Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Olten 1961, 116. Karl Barth, Karl, Der Römerbrief (2. Aufl.) (1922), GA II.47, hg. v. C. van der Kooi/K. Tolstaja, Zürich 2010, 240; vgl. auch 543.559. Die Metapher geht auf Am 6,6 zurück. Barth, Römerbrief (1922), 673. Barth, KD I/1, 55. Barth, Römerbrief (1922), 673. Sie ist übrigens auch das eigentliche Movens für die an Barth oft beobachtete eigentümliche Mischung aus grimmiger Selbstüberzeugtheit und humorvoller Selbstdistanzierung.

Zum ökumenischen Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths

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Gotteserkenntnis alias Religion. Was dort jedoch als statisch-analytische Beobachtungsdistanz der wissenschaftlichen Theologie zu Religion als ihrem Gegenstand aufgefasst wurde (oder von Barth so interpretiert wird), wird hier als dynamischer Lebens- und Reflexionsvollzug verstanden beziehungsweise vorgeführt. Distanziert beobachtende ,Zuschauerschaft‘ kann es bei diesem Theologieverständnis nicht mehr geben,10 weil Theologie konstitutiv als reflexive Form eines Glaubensvollzugs verstanden wird, der selbst im Kern solche ,Gotteserkenntnis‘ ist: der religionskritische modus procedendi der Theologie ist seinerseits die reflexive Form eines Glaubens, der sich aktualiter als ,simul iustus ac peccator‘ und darum wesentlich im Modus der Struktur des Gebets ,ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben‘, vollzieht beziehungsweise (nach theologischer Maßgabe) vollziehen soll. Gewiss sind kritische Fragen, ob Barth jene Internalisierung der Religionskritik in die dialektische Struktur der Theologie wirklich überzeugend gelungen ist, berechtigt. In ihrem Kern richten sie sich – wie in ihren aus meiner Sicht stärksten, weil kategorial klar identifizierten Formen bei Falk Wagner11 und Jörg Dierken12 – auf die Frage, ob Barths Begriff absoluter göttlicher Subjektivität – ungeachtet ihrer christologischen Selbstvermittlung – ,starkes Anderssein‘ überhaupt zulasse. In epistemologischer Wendung lautet die kritische Rückfrage, ob Barths dialektische Theologie über ein reflexives Konstruktionsbewusstsein ihrer selbst tatsächlich verfüge oder dieses in Wahrheit (in ihrem Begriff göttlicher Selbstoffenbarung) gerade zum Verschwinden bringe.13 Die Crux an der Figur jener ,anarchischen‘ Freiheit Gottes ist ja gerade, dass sie einerseits die fundamentale Reserve gegenüber jedwedem Versuch ihrer menschlichen Besetzung markiert und von daher als Aussenposition jeder, auch einer noch so dialektischen Theologie, reklamiert werden muss, dass sie andererseits zugleich genau den fundamentalen Ausgangs- und Zielpunkt einer an10 Vgl. Georg Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, BHTh 115, Tübingen 2000, 29–138. 11 Falk Wagner, Theologische Gleichschaltung. Zur Christologie bei Karl Barth, in: Falk Wagner/Walter Sparn/Friedrich Wilhelm Graf/Trutz Rendorff (Hg.), Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths, München 1975, 10–43. 12 Vgl. Jörg Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus. Studien zum Verhältnis von religiösem Vollzug und theologischer Bestimmtheit bei Barth und Bultmann sowie Hegel und Schleiermacher, BHTh 91, Tübingen 1995 sowie beispielsweise seinen Beitrag im vorliegenden Band. 13 Und etwa mit Pannenberg kann man fragen, ob Barth in seiner kritischen Wendung gegen den Neuprotestantismus den für diesen konstitutiven ,Subjektivismus‘ nicht nachgerade auf die (absolutheitstheologische) Spitze getrieben habe. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Göttingen 1980, 96–111.

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spruchsvollen dialektischen Theologie bildet. Die in jenem Zitat alludierten potentiellen Medien göttlicher Selbstoffenbarung in Natur und Geschichte sind ja nichts anderes als Platzhalter dessen, was von Barth ansonsten als ,Religion‘, ,Weltanschauung‘ oder ,natürliche Theologie‘ perhorresziert wird. Eine Offenbarungstheologie, die diese Dimension göttlicher Weltzuwendung nicht zu berücksichtigen vermöchte, würde materialiter hinter die klassische Unterscheidung von ,revelatio specialis‘ und ,revelatio generalis‘ zurückfallen. Gottes Freiheit wird von Barth nun bekanntlich aber gerade nicht als ,anarchische‘, sondern als sich selbst ein für allemal in Jesus Christus gebunden habende und bindende verstanden. Dies ist die Grundstruktur seines Begriffs von Offenbarung als göttlicher Selbstoffenbarung, von da aus seiner Trinitäts-, Gottes-, Erwählungs-, Schöpfungs-, Versöhnungs- und Erlösungslehre. Sie macht sich mithin anheischig, den Verweis auf Gottes Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit menschlichen – inklusive vor allem auch theologischen – Bemächtigungsversuchen gegenüber als Grundprinzip eines (bestimmten) solchen Vollzugs, nämlich desjenigen, den Barth in seiner Dogmatik unternimmt, anzuvisieren. Dazu muss diese Dogmatik so prozedieren, dass sie ihr Grundprinzip – den Vollzug beziehungsweise Begriff souveräner göttlicher Selbstoffenbarung – als Prinzip permanenter kritischer Aufhebung ihrer Erfassungsvollzüge, in diesem Sinne als prozeduralisierte Religionskritik präsentiert. Genau so war Barth bereits in seinen Römerbriefkommentaren faktisch verfahren.14 Das Neue der dogmatischen Entwürfe seit 1924/25 ist, dass er die dortige implizite Methode durch Explikation des Begriffs göttlicher Selbstoffenbarung als Prinzip der Anordnung und Entfaltung sämtlicher theologischer Inhalte nunmehr explizit macht. Dort wie hier kommt damit aber dem Entfaltungsvollzug der solchermaßen dialektischen Theologie selbst entscheidendes Gewicht zu. In der Dogmatik sind es vorrangig die pneumatologischen Teile und Abschnitte, in denen die selbstkritische Öffnung des Inhalts der Theologie, mithin ihr Vollzugs- oder Handlungscharakter, in ihrem jeweils erreichten Reflexions- und Themenfeld ,an sich selbst‘ zur Sprache gebracht wird. Reflektiert werden in diesen Teilen in besonders intensiver Weise die sprachlich-kommunikative, näherhin performative und appellative, insofern auch die ethische15 Seite der dogmatischen Offenbarungstheologie. Die Erkenntnis, dass die freie göttliche Selbstbewegung auf die freie Selbstaneignung durch den Menschen zielt, beziehungsweise dass aller 14 Vgl. dazu Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie, 275–314.337–375. 15 Trutz Rendtorff, Der ethische Sinn der Dogmatik – Zur Reformulierung des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik (1975), in: Ders.: Theologie in der Moderne. Über Religion im Prozeß der Aufklärung. Troeltsch-Studien 5, Gütersloh 1991, 167–182.

Zum ökumenischen Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths

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freien menschlichen Selbsttätigkeit in Wahrheit jene göttliche Selbstbewegung zugrunde liegt, ist, wie angedeutet, das Gesamtziel barthscher Theologie, das in jenen Teilen und Abschnitten in besonderer Weise zum Vorschein kommt.

1.2

Antimoderne Modernisierung

Ein weiteres Merkmal dieses selbst- und darin religionskritischen Vollzugscharakters von Barths Theologie ist die Weise, wie sie die ihrer eigenen strengen systemischen Programmatik folgende Entfaltung der dogmatischen Inhalte mit zeitkritischen Diagnosen verknüpft. Dies geschieht innerhalb wie außerhalb der Dogmatik. Mit dieser zeitdiagnostischen Dimension des (methodisch regulierten) Aktualismus barthscher Theologie hängt ferner die oft beobachtete Neigung oder Fähigkeit Barths zur – expliziten und später eher impliziten – Selbstkorrektur zusammen. Beides zusammengenommen, kann man von einem programmatischen Prinzip des theologischen ,aggiornamento‘ bei Barth sprechen. Damit ist eine spezifische, nämlich ihrem unmittelbaren Richtungssinn nach antimoderne, ihrem strukturellen Sinn nach aber wiederum durchaus moderne Form der Selbstentwicklung von Theologie gemeint. Man könnte zeigen, dass Barths Theologie seit dem Ersten Weltkrieg verschiedene, voneinander unterscheidbare Phasen solchen ,aggiornamentos‘ durchmacht: während des Ersten Weltkriegs formiert sie sich als radikal religions- und kulturkritische Kulturtheologie. Ihr Autor ist ein ,prophetischer‘, intellektueller Pfarrer, der sich zusammen mit seinem Mitstreiter Eduard Thurneysen und einigen (zunächst ganz wenigen) anderen Getreuen als Anführer einer neuen (antimodern-modernen) theologischen Avantgarde präsentiert.16 Mit der Aufnahme der Lehrtätigkeit in Göttingen beginnt der Prozess der Akademisierung dieser Theologie; Karl Barth wird (nolens volens) zum Gründervater einer neuen, um die Zeitschrift Zwischen den Zeiten versammelten theologischen Schulrichtung und zum eigentlichen Schulhaupt dieser erfolgreichsten theologisch-akademischen Bewegung der Weimarer Republik. Diese schreibt sich die disziplinäre Verselbständigung der Theologie gegen jedwede Form der Amalgamierung mit Religions- und Kulturwissenschaft auf die Fahnen (wissenschaftlich-disziplinäre Religionskritik). Nachdem in den letzten Jahren von Weimar diese Schule auseinanderfällt, beginnt – bedingt durch die Etablierung des Nationalsozialistischen Staates und gegen diesen – eine erste Stufe des Prozesses der Verkirchlichung der barthschen Theologie. Für diese erste Stufe ist kennzeichnend, dass Barth die kompromisslose, exklusiv theologische (antireligionswissenschaftliche) Zuschärfung des Erkenntnisprinzips als fun16 Dazu Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie, 263–393.

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Georg Pfleiderer

damentaltheologisches Prinzip einer (antipolitischen) politischen Theologie erachtet: Wer hier falsch, nämlich nicht auf dem Boden des theologischen Prinzips der Christologie als „Theorie des prinzipiellen (singulären) Faktums“17 votiert, ist in seinen Augen immer schon latenter Anhänger des Nationalsozialismus – oder gegen diesen zumindest intellektuell wehrlos. Im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs kommt es zur ersten Modifikation dieses radikalen Standpunkts: Angesichts der manifesten Gewaltdrohung und wenig später Gewaltausübung des NS-Staates gegen potenziell ganz Europa und vor allem die jüdische Bevölkerung lässt Barth erkennen, dass das theologische Exklusivprinzip ethisch aufgeschlossen werden muss. Dies geschieht über die – implizite – (sozial-)ethische Interpretation a.) des Prinzipialismus’ des christologischen Prinzips als universales, das er als Begründung von Rechtsstaatlichkeit versteht,18 sowie b.) der Faktizität jenes Prinzips, das er auf die heilsgeschichtliche Positivität des geschichtlichen Judentums hin auslegt.19 ,Kirche‘ und ,Israel‘ (beziehungsweise geschichtliches Judentum) werden darum als die beiden Seiten des einen Gottesvolkes verstanden. Nach 1945 sind, wenn ich recht sehe, zwei weitere Stufen von Barths ,aggiornamento‘ unterscheidbar. In der Nachkriegszeit rückt für ihn das Thema der einen göttlichen Wahrheit in verschiedenen geschichtlichen Existenzformen in den Vordergrund. Dieses hat zum einen eine politisch-ideologiekritische Dimension (Ost-West-Konflikt); zum anderen eine ökumenische. In beiden Formen wird das von Barth faktisch seit seinen Anfängen betriebene ,aggiornamento‘, wenn man so will, reflexiv. Beide Themen verknüpfen sich ab den späten 1950er Jahren, in den letzten Bänden der Kirchlichen Dogmatik (KDIV/3; IV/4 Fragment) zu einer neuen grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Moderne und zum Versuch, die eigene Theologie als kompatibel mit Grundanliegen der Moderne und moderner Gesellschaften – politischer, ethischer, weltanschaulicher und religiöser Pluralismus, Toleranz, Demokratie, geschichtliche Relativität von Wahrheitsansprüchen, Anschlussfähigkeit an außertheologische sozialethische Diskurse, – zu erweisen.

17 Dietrich Korsch, Christologie und Autonomie. Zur dogmatischen Kritik einer neuzeittheoretischen Deutung der Theologie Karl Barths, in: Ders., Dialektische Theologie nach Karl Barth, Tübingen 1996, 146–177, 170. 18 Vgl. Karl Barth, Rechtfertigung und Recht, in: Ders., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, ThSt(B)104, 5–48, 45.47. 19 Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. II: Die Lehre von Gott, 2. Teilbd., ZollikonZürich 1942, 230; dazu s. u. etwas näher.

Zum ökumenischen Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths

2.

Ecclesia semper reformanda – antimoderne Kirchenmodernisierung

2.1

,Liminale Theologie‘

349

Die bekanntlich aus dem Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils stammende Parole ,aggiormanento‘ ist zur Aufhellung dieses Aspekts der barthschen Theologie also aus werkgeschichtlichen Gründen und darüber hinaus darum so geeignet, weil sie es grundsätzlich erlaubt, deren (ihrem Anspruch nach) religionskritische Struktur in den für ein solches Unternehmen angemessenen und naheliegenden Deutungshorizont zu stellen: nämlich in den einer selbstkritischen oder „reflexiven Moderne“20. Ausserdem spielt das Stichwort in besonderer Weise den thematischen Raum der Ekklesiologie und konkreter das ökumenische Bezugsfeld ein, das im Rahmen der skizzierten Veränderungsschritte der barthschen Theologie und des für sie jeweils konstitutiven Aspekts internalisierter Religionskritik nicht umsonst eine zentrale Rolle spielt. Grundsätzlich verdichtet sich in der Ekklesiologie die religionskritische Potenz der Theologie in besonderer Weise: Religionskritik vollzieht sich theologisch wesentlich als Kirchenkritik, nämlich als Kritik an bestimmten kollektiven Formierungen und Vergemeinschaftungen positiver Religion. Im Bereich der Ökumene beziehungsweise ökumenischer Theologie und insbesondere Ekklesiologie ist die Kritik der Ekklesiologie ihrerseits gewissermaßen inhärent: in Gestalt wechselseitiger Bestreitung von theologischen Geltungsansprüchen. Ökumenische Theologie und nachgerade ökumenische Ekklesiologie ist damit dasjenige Praxisfeld von Theologie, auf welchem das religions- und kirchenkritische Potenzial der wissenschaftlichen Theologie dieser in Gestalt praktischer Institutionalisierung begegnet. Das Feld ökumenische Kirchentheologie und zumal -ekklesiologie ist darum ein ideales Gelände, um die Operationalisierung der Religionskritik bei Barth zu verfolgen. Dies soll im weiteren Gang des vorliegenden Textes am Beispiel derjenigen Auseinandersetzung geschehen, die Karl Barth in den 1960er Jahren mit jenem ,aggiornamento‘ des zweiten Vatikanums geführt hat.21 Die darauf ge20 Zum Begriff vgl. Ulrich Beck/Antony Giddens/Scott Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt 1996. 21 Vgl. dazu jetzt: Donald W. Norwood, Reforming Rome. Karl Barth and Vatican II, Cambridge U.K. 2015. Das Buch stellt Barths Auseinandersetzung mit dem Vatikanum II in einen weiteren theologie- und teilweise auch werkgeschichtlichen Kontext. In seiner Analyse der barthschen Texte, insbes. von Ad Limina Apostolorum verfolgt Verf. jedoch eine Art ,Lokalmethode‘; der Versuch, Barths Überlegungen vor dem Hintergrund seiner vor allem in der KD entfalteten theologischen Grundentscheidungen zu deuten, unterbleibt weitgehend. Darum dringt er auch nicht zu einer systematisch-theologischen Rekonstruktion der in den

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richteten Überlegungen wiederum werden sich vor allem auf jene Fragen konzentrieren, die Barth bei seiner Reise vom September 1966 Ad Limina Apostolorum22 zu Handen seiner römisch-katholischen Gesprächspartner vorbereitet hat. Zeigen möchte ich, dass dieser Dialog einerseits ein ganz praktisches, wenn man so will ,performatives‘ Anwendungsbeispiel für die praktische, kirchliche Fruchtbarkeit von Barths religionskritischer Theologie ist, dass er andererseits, und zwar schon in seinem Titel, ein höchst anspruchsvolles theologisches Programm erkennen lässt, nämlich dasjenige einer sublim introduzierten ihrerseits ,liminalen‘ Theologie: Theologie, so lautet, wenn ich recht sehe, die darin versteckte These jenes Schriftleins, ist genau in dem Maße ökumenisch, wie sie Kirchenleitungstheologie jedweder Konfession zu verstehen gibt, dass deren Ort, auf dem Weg ,ad limina Apostolorum‘ zu sein hat. Wer diese Schwelle überschreitet, so kann man es auch sagen, ist der Gefahr in den Rachen gefallen, die jede Kirchenleitungstheologie, ob in Rom oder anderswo, stets als Schatten ihrer selbst begleitet: die Gefahr der ,Petrifizierung‘ ihres eigenen Ortes. Indem sie diese Gefahr durch sublimes ,fracking‘, um im Bild zu bleiben, bewusstmacht, ist religions- als kirchenkritische Theologie eminent ökumenisch. Um den werkgeschichtlichen wie auch systematisch-theologischen Stellenwert dieser späten Auseinandersetzung Barths mit dem römischen Katholizismus bestimmen zu können, sind einige Vorbemerkungen erforderlich. Barths Auseinandersetzung mit dem römischen Katholizismus hatte in den 1920er Jahren in seiner Münsteraner Zeit begonnen. Neben der äußeren Veranlassung durch den gesteigerten Kontakt mit einem auch intellektuell anspruchsvollen Katholizismus sind dafür vor allem auch innere, in Barths theologischer Entwicklung liegende Gründe verantwortlich: Das große Thema für ihn ab Mitte der 1920er Jahre ist die fundamentaltheologische Bedeutung des Feldes von Kirchlichkeit und Autorität.23 Dabei wird der Kirchenbegriff in seiner fundamentaltheologischen Bedeutung auf dem Weg von der Göttinger24 über die Münsteraner25 zur Bonner Dogmatik26 immer prominenter. Ist Kirche in den

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Fragen erkennbaren Argumentation Barths vor. Das Buch krankt dabei, wie leider viele englischsprachige Bartharbeiten der letzten Jahre, auch daran, dass Verf. mangels entsprechender Sprachkenntnisse die nicht-englischsprachige Quellen- und Forschungsliteratur praktisch komplett ignoriert. Karl Barth, Ad Limina Apostolorum, Zürich 1967. Vgl. Karl Barth, Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge, Bd. 2, Zürich 1928. Karl Barth, „Unterricht in der christlichen Religion“, Bd. I: Prolegomena (1924), GA II.17, hg. v. H. Reiffen, Zürich 1985; Ders., „Unterricht in der christlichen Religion“, Bd. II: Die Lehre von Gott. Die Lehre vom Menschen (1924/1925), GA, II.20, hg. v. H. Stoevesandt, Zürich 1990; Ders.: „Unterricht in der christlichen Religion“, Bd. III: Die Lehre von der Versöhnung/Die Lehre von der Erlösung (1925/1926), GA II.38, hg. v. H. Stoevesandt , Zürich 2003. Vgl. Karl Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, Bd. 1: Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik (1927), GA II.16, hg. v. G. Sauter, Zürich 1982.

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ersten beiden Dogmatiken nur – aber immerhin – der Ort der Predigt, so heißt es in KD I/1 im zweiten ihrer Sätze deklaratorisch: „Theologie ist […] eine Funktion der Kirche.“27 Entscheidend für diese Verstärkung des Kirchenbegriffs und damit verbunden des Gedankens kirchlicher Autorität ist die in Münster geführte Auseinandersetzung mit Erik Peterson.28 Der römische Katholizismus fungiert ab dieser Zeit für Barth recht stereotyp als Gegenbegriff zum komplementär bestimmten „Neuprotestantismus“29. Bereits in den 1930er Jahren beginnt die Auseinandersetzung mit der Ökumene und der ökumenischen Bewegung.30 Diese gewinnt für Barth sodann in der Nachkriegszeit, wie oben angedeutet, eine neue fundamentaltheologische Bedeutung, als er sie nun als Problematisierung der Relativität innerchristlicher konfessioneller Positionen und zunehmend auch und darüber hinaus als Problematisierung der Differenz von Kirche und Welt auffasst. Diese Deutung wird wiederum ermöglicht durch die Integration der Religionskritik in den Kirchenbegriff, die ihrerseits auf der Basis des theologischen Begriffs der in der Wirkmächtigkeit des Heiligen Geistes, als der Form der Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi, begründeten „Zeugenschaft“ basiert. Der Heilige Geist ist „die Macht […], in der Jesus Christus – sich selbst wirksam bezeugt, sich unter Menschen und im Menschen Gehör und Gehorsam verschafft“31. Diese lebendige Selbstbezeugung stellt grundsätzlich jedes Bewusstsein von „Sonderkirche“32 in Frage; sie führt „zu einer Krisis des kirchlichen Sonderbewusstseins“33 ; sie nötigt, positiv formuliert, dazu, dass eine ihr tatsächlich folgende christliche Kirche „für die Sonderüberlieferungen, Sonderlehren, Sondergestalten der anderen Kirchen offen wird“34.

2.2

,ecclesia semper reformanda‘

Solche konstitutive Selbstkritik an der eigenen konfessionellen Glaubenspositivierung verbindet Barth in dem 1953 veröffentlichten ersten Teil seiner Ekklesiologie der Versöhnungslehre an drei Stellen mit der Formel „ecclesia semper 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Vgl. Barth, KD I/1. AaO.,1. Vgl. dazu Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie, 389–393. Vgl. Lidija Matosevic, Lieber katholisch als neuprotestantisch. Karl Barths Rezeption der katholischen Theologie 1921–1930, Neukirchen 2005. Vgl. Karl Barth, Die Kirche und die Kirchen, TEH 27, 1935, 1–24. Barth, KD IV/1, 724. AaO., 761. AaO., 762. AaO., 763.

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reformanda“35. Diese KD-Stellen sind nach jetzigem Kenntnisstand vermutlich der wirkungsgeschichtliche Ursprung der seit den späten 1950er Jahren, sprunghaft ansteigenden Verbreitung dieser Formel.36 Interessanterweise gilt das für beide Konfessionen. Für den katholischen Bereich ist daran vor allem die Rezeption und Multiplikation der Formel durch Hans Küng in populären Schriften zum Zweiten Vatikanum verantwortlich.37 Eine Möglichkeitsbedingung des bemerkenswerten Erfolgs der Formel ist zweifellos ihr durch das Lateinische bedingter solenner Klang. Ihr historischer Sitz im Leben ist jedoch – ungeachtet einer kurzen, zunächst aber randständig bleibenden Vorgeschichte im 17. Jahrhundert38 – nicht, wie das Lateinische suggeriert, das Zeitalter der Reformation oder Gegenreformation, sondern, wie Mahlmann zeigt, eigentlich der reformierte Schweizer Liberalismus, genauer die reformierte Vermittlungstheologie des 19. Jahrhunderts, nämlich Alexander Schweizer, den Barth in seiner Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts entsprechend zitiert.39 Bereits 35 AaO., 770, vgl. 773.787. 36 Vgl. Theodor Mahlmann, [Art:] „Reformation“, in: HWPh, Bd. VIII, Sp. 416–427, 421; und dann besonders (mit partieller Revision seiner älteren Urteile): Ders., „Ecclesia semper reformanda“. Eine historische Aufklärung. Neue Bearbeitung, in: Torbjörn Johansson/Robert Kolb/Johann Anselm Steiger (Hg.), Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert. Bengt Hägglund zum 90. Geburtstag, Berlin/ New York 2010, 381–442. Der erste Beleg der neueren Begriffsgeschichte ist genau genommen der sechs Jahre ältere Text von Karl Barth, Die Botschaft von der freien Gnade Gottes, Zollikon-Zürich 1947; vgl. Mahlmann, Ecclesia, 385. 37 Hans Küng, Konzil und Wiedervereinigung. Erneuerung als Ruf in die Einheit, Wien/Freiburg i.Br./Basel 1960, 51f. Küng hat auf Einladung von Karl Barth unter dem Titel Ecclesia semper reformanda am 19. Januar 1959 einen Gastvortrag in der Basler Theologischen Fakultät gehalten; vgl. Hans Küng, Erkämpfte Freiheit. Erinnerungen, München/Zürich 2002, 227f.; vgl. dazu wiederum Mahlmann, Ecclesia, 391. Im Text des Vatikanum II findet sich die Rede von der nötigen „dauernden Reform“ im Dekret über den Ökumenismus „Unitatio redintegratio“; vgl. Karl Rahner/Herbert Vorgrimler (Hg.), Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums mit Einführungen und ausführlichem Sachregister, Freiburg i.Br. 91974, 237. 38 Die Ursprünge sind in der altprotestantischen Orthodoxie auf etwas verwickelte Weise vor allem bei Jodocus van Lodensteyn, Johannes Hoornbeecks, Wilhelm Teelinck und Johann Heinrich Heidegger zu suchen; vgl. dazu im Detail: Mahlmann, Ecclesia, 420–436. Es sind mithin Theologen beider protestantischer Konfessionen beteiligt. 39 Vgl.: „Die ganze Entwicklung der Kirche ist nämlich ,ein Fortschreiten zu immer reinerem Glauben und ein beständiges Abstreifen abergläubiger Beimischungen‘. Ecclesia semper reformari debet“; Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 51981, 518 [ursprl. Zürich 1947]. Barth zitiert hier den ersten Band von: Alexander Schweizer, Die Glaubenslehre der evangelisch reformierten Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Bd. 1, Zürich 1844/1847, §15. Ähnliche Zitate finden sich auch in anderen Werken Schweizers, vgl. dazu Mahlmann, Ecclesia, 385f.411f, Anm. 160–163. In der weiteren Besprechung von Schweizer rechnet Barth zu den „Voraussetzungen“ von dessen Glaubenslehre: „den Glauben an eine auch in der Geschichte der Theologie waltende Vorsehung, in der Weise waltende, daß jeweiligen die oberste erreichte Stufe des theologischen Fortschritts per se für den Augenblick auch die theologische

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im Jahr 1960 erscheint die Formel als Titel einer Untersuchung zum Kirchenbegriff des 19. Jahrhunderts, die in Basel bei Karl Barth von dem ungarischen Theologen Gyula Barczay verfasst wurde.40 Bei Barczay wird erkennbar, dass die Formel sich in der Tat bestens zur Kennzeichnung theologischer Kirchenreformbemühungen im 19. Jahrhundert eignet; insbesondere für Schleiermacher, die Vermittlungstheologie, aber auch für liberale und spekulative Ekklesiologien hat sie einen hohen Beschreibungswert. Verwendet wurde sie, von Schweizer abgesehen, gleichwohl offenbar (vermutlich aufgrund weitgehender Vergessenheit) dort nicht. Zu reformatorischen Ekklesiologien steht die Formel insofern in einer gewissen Spannung, als für sie die moderne Anschauung einerseits einer prinzipiell offenen Zukunft, andererseits der auf Dauer gestellten Selbstkritik leitend ist und die reformatorische Grundanschauung eines ,Zurück zu den Quellen‘ und einer Orientierung der Kirche an biblisch dokumentierten Grundvollzügen (Wort und Sakrament) in sie zwar (wie bei Barth und vielen anderen Nutzern seit den 1960er Jahren) eingezeichnet werden kann, in ihr aber nicht notwendig enthalten ist. Auf diese Spannung ist denn auch von einzelnen Stimmen seit den 1960er Jahren verschiedentlich hingewiesen worden – jedoch ohne nachhaltigen Erfolg.41

Wahrheit bedeutet“; Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jh., 519. Barths Kritik an diesem Fortschrittsbegriff ist durch das hervorgehobene „per se“ angezeigt sowie durch den Verweis auf „das Selbstvertrauen, das den gläubigen Denker in die Lage versetzt, seiner eigenen Kairos-Gemäßheit sicher, in diesem Augenblick als Vollstrecker des Willens der Vorsehung aufzutreten“ (ebd.) motiviert, außerdem durch die Ablehnung der geschichtsund religionsphilosophischen Rahmentheorie, welche im Sinne des klassisch aufklärerischen bzw. idealistischen Stufenmodells das protestantische Christentum als Höhepunkt der Religionsentwicklung versteht; vgl. aaO., 520. Durch Schweizers selbstgewisse, metatheoretisch abgesicherte Kairostheologie würden jedoch alle „ernsthafte[n], brennende[n] Probleme grundsätzlicher Art in der Theologie“ (aaO., 522) bzw. aus derselben verdrängt. Darin bekunde sich recht eigentlich die Sackgasse „der neueren Theologie“, die dazu zwinge, „gründlich umzukehren“ (aaO., 523). Zu beachten ist, dass diese in ihrer Struktur wohlbekannte Kritik Barths am theologischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts dem Grundgedanken einer ,permanenten Reformation‘ der Kirche gerade nicht gilt. 40 Vgl. Gyula Barczay, Ecclesia semper reformanda. Eine Untersuchung zum Kirchenbegriff des 19. Jahrhunderts, Zürich 1960. Motiviert ist diese Dissertation durch den zeitgenössischen Reformbedarf insbesondere in Kirchen wie der ungarischen (vgl. aaO., 7). Die Arbeit würdigt insbesondere Schleiermachers Begriff der permanenten Kirchenreform als ein „,Fortschreiten in Christo‘“ „im Gegensatz zum Kulturprozeß“ (aaO., 67) positiv ; kommt dann aber doch insgesamt zu einem negativen Gesamturteil über die Kirchenreform-Theologien des 19. Jahrhunderts, insofern alle untersuchten Theologen des 19. Jahrhunderts „an Stelle des durch sein Wort die Kirche regierenden Herrn ein menschliches Anliegen gesetzt“ (aaO., 185) hätten. Zur titelgebenden Formel finden sich aaO., 19 einige Bemerkungen; auch hier gilt A. Schweizer als Referent für die Entstehung in der Altprotestantischen Orthodoxie. 41 Vgl. Erwin Mühlhaupt, Immerwährende Reformation? (1968), in: Ders., Luther im 20. Jahrhundert. Aufsätze, Göttingen 1982, 267–275.

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Bei Barth selbst spiegelt sich der liberal-moderne Kontext charakteristischer Weise in einer expliziten Wendung gegen diesen: „Was in der Kirche zählt, ist nicht der ,Fortschritt‘, sondern die Reformation: ihre Existenz als ecclesia semper reformanda. Semper reformari heißt aber nicht: immer mit der Zeit gehen, den jeweiligen Zeitgeist als Richter über wahr und falsch walten lassen, sondern: zu jeder Zeit und in Auseinandersetzung mit jedem Zeitgeist nach der dem unveränderlichen Wesen der Kirche entsprechenden Gestalt, Lehre, Ordnung, Dienstleistung fragen. Es heißt: den einen, keiner Revision bedürftigen Auftrag der christlichen Gemeinde heute besser ausrichten als gestern und insofern: ,dem Herrn ein neues Lied singen‘. Es heißt: nicht müde werden in der Rückkehr zum – nicht zum zeitlichen, wohl aber zum sachlichen Ursprung der Gemeinde.“42

Barth versucht mithin, der modern-theologischen Fortschrittsformel einen reformatorischen Sinn einzuschreiben. Allerdings ist unverkennbar, dass in solcher Einschreibung die moderne Logik der kritischen Selbstreflexion als modus procedendi des Fortschritts nicht gebrochen, sondern lediglich auf die besagte Weise ursprungstheologisch interpretiert wird. Man wird von daher von einer antimodern-modernen Überbietungsstrategie sprechen dürfen. Diese ist für Barths theologisches Programm grundsätzlich typisch; sie stellt eine Anwendung der, wie Trutz Rendtorff nachgerade klassisch gezeigt hat, theologischen Prinzipialisierung des neuzeitlichen Autonomiegedankens dar.43 Unverkennbar ist, dass sich seit den 1950er Jahren bei Barth die Tendenz verstärkt, nunmehr das modernitätstheoretisch-konstruktive Potenzial seiner Theologie in den Vordergrund zu stellen. Eine der Programmschriften dieser Wendung ist der Aufsatz Die Menschlichkeit Gottes aus dem Jahr 1956; diese Entwicklungslinie führt zu den verschiedenen gesprächsweisen Bekundungen des späten Barth aus den 1960er Jahren, seine Theologie sei durchaus mit der Tradition des theologischen Liberalismus kompatibel,44 und mündet in die bekannten positiven Würdigungen Schleiermachers und die Andeutungen einer pneumatologischen Revisionsbedürftigkeit seiner christozentrischen Theologie.45 Das am meisten ausgearbeitete Stück dieses Versuchs einer explizit-konstruktiven Hinwendung zur Moderne sind die entsprechenden Passagen in KD IV/3 sowie das Fragment der Tauflehre in KD IV/4.46 Nicht umsonst stehen dabei 42 Barth, KD IV/1, 787. 43 Vgl. Trutz Rendtorff, Radikale Autonomie Gottes. Zum Verständnis der Theologie Karl Barths und ihrer Folgen, in: Ders., Theorie des Christentums, Gütersloh 1972, 161–181. 44 Vgl. z. B. Karl Barth, Offenbarungsglaube ist liberal. Gespräch von Karl Barth, Basel, mit dem Herausgeber, in: Alfred Blatter (Hg.), Was heißt „liberal“. Eine Frage – sieben Antworten, Basel 1969, 125–135. Vgl. dazu jetzt auch meinen Artikel: Georg Pfleiderer, Barth und die liberale Theologie, in: Michael Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, 59–64. 45 Vgl. Karl Barth, Nachwort, in: Heinz Bolli (Hg.), Schleiermacher-Auswahl, Gütersloh 21980, 290–312, 310f. 46 Vgl dazu Trutz Rendtorff, Der ethische Sinn der Dogmatik – Zur Reformulierung des Ver-

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zwei dogmatische Loci beziehungsweise Themenbereiche im Vordergrund: zum einen die Epistemologie – die berühmte Lichterlehre (KD IV/3, 40–187), zum andern die Ekklesiologie. Für die hier interessierende Fragestellung ist der – in der Forschung bislang vielleicht noch selten wahrgenommene – innere Zusammenhang der beiden Bereiche beziehungsweise der hier vorgenommenen gleichsinnigen Revisionen wichtig. Dessen systemische und werk- beziehungsweise zeitgeschichtliche Möglichkeitsbedingung ist die Tatsache, dass Barth in der 1959 in zwei Teilbänden erschienenen KD IV/3 den dritten Teil seiner Versöhnungslehre ausarbeitet, der es mit der ,prophetischen‘ Dimension der Versöhnung zu tun hat. Dabei geht es um die Selbstbezeugung, das heißt um die pneumatologische, sprachlich-kommunikative Selbsterschliessung des Versöhnungsgeschehens. Der Selbstbezeugung Jesu Christi im Heiligen Geist entspricht, wie schon in IV/1 statuiert wird, von daher das kirchliche SprachHandeln im Modus der „Entsprechung“47. Der so aufgeschlossene Begriff der Zeugenschaft erlaubt es Barth, die Kirche nunmehr tendenziell ganz zu ,dynamisieren‘, sie als diejenige Dimension des Versöhnungsgeschehens („irdischgeschichtliche Existenzform Jesu Christi“48) zu deuten, in der dieses über sich selbst hinausgreift und zu einer sich an ,die Welt‘ adressierenden, sprachlichen Kommunikationsbewegung wird. Darum dominieren hier die performativ-appellativen Sprachformen. Die in KD IV/1 vorbereitete Dynamisierungsformel der Kirche als „ecclesia semper reformanda“ wird in IV/3 durch die Metapher von der Kirche, die essentiell „im Sprung, oder doch im Anlauf zum Sprung hinaus zu denen, zu denen sie gesendet ist“49, expliziert. Das Wesen der Kirche kann damit zum einen als diskursive Gemeinschaft, ja als Diskurs, zum andern als notwendig und essentiell missionarische Kirche bestimmt werden. Beide Dimensionen sind, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, leitend für Barths Auseinandersetzung mit dem Vatikanum II in Ad Limina Apostolorum. Für unser Thema ist dabei wiederum wichtig zu sehen, dass und inwiefern sich in Barths Verständnis von Zeugenschaft als Diskursivität in der Tat der die ,ecclesia semper reformanda‘-Formel leitende Gedanke konstitutiver Selbstkritik einzeichnet. Die in der Sprungmetapher insinuierte Kommunikationsform ist von daher – in einer gewissen Spannung zu ihrer Bildlogik (wie einzuräumen ist) – nicht als einlinige SenderEmpfänger-Relation zu verstehen, sondern dem Anspruch nach in der Tat re-

hältnisses von Dogmatik und Ethik, in: Ders., Theologie in der Moderne. Über Religion im Prozeß der Aufklärung, Gütersloh 1991, 167–182. 47 Barth, KD IV/1, 824. 48 Barth, KD IV/3, 834. u. ö. 49 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV: Die Lehre von der Versöhnung, 3. Teilbd., Zollikon-Zürich 1959, 892.

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zipientenorientiert und rezipientenoffen.50 Genau dies ist ja auch der Sinn der Lichterlehre, die für eine heuristisch-hermeneutische Aufgeschlossenheit für theologisch-christologische Wahrheit extra muros ecclesiae plädiert – mithin für eine Revision der schroffen Exklusion ,natürlicher Theologie‘, wie Barth sie um 1930 vorgenommen hatte. Unverkennbar scheint mir, dass Barth mit diesen fundamentaltheologischen und ekklesiologischen Revisionen seiner Theologie auf die veränderte Diskussionslage der Nachkriegszeit reagiert. Wir haben es gewissermassen mit seiner Version einer ,Institutionalisierung‘ von ,Dauerreflexion‘ im Sinne des berühmten Aufsatzes von Helmut Schelsky aus dem Jahr 195351 beziehungsweise Reinhart Kosellecks im gleichen Jahr wie Barths KD IV/3 veröffentlichte klassische Studie über den inneren Zusammenhang von Kritik und Krise52 im modernen Bewusstsein zu tun. Für keinen der beiden Bezüge – auch nicht, obwohl das leicht möglich (gewesen) wäre, für Schelskys Aufsatz, – wird hier ein direkter Rezeptionszusammenhang behauptet.53 Doch stehen diese beiden Publikationen symptomatisch für die Heraufkunft der neuen, ,postfaschistischen‘, die 1960er Jahre bestimmenden Diskussionslage in den deutschsprachigen Geisteswissenschaften, die ihrerseits den Boden für die stupende Erfolgsgeschichte der Formel ,ecclesia semper reformanda‘ bildet. Die Theologie und gerade auch die späte Theologie Karl Barths nimmt daran intensiv teil. Ihr Rüstzeug dafür hat sie nicht zuletzt in der in KD I/2 entworfenen Religionskritik entwickelt, die sie nunmehr ekklesiologisch und näherhin ökumenisch-theologisch wendet; genau dies soll im Folgenden gezeigt werden.

50 Damit macht Barth am Ende seines Lebens endlich (könnte man sagen) mit einer systematischen Grundtendenz seiner Theologie ernst, die diese der Sache nach seit ihren Anfängen auszeichnet: ihrer rezeptionsästhetischen Struktur. Vgl. dazu Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie, 12f.44.282.338.441. 51 Helmut Schelsky, Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie, in: ZEE, 1957, 153–174. 52 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg i.Br./München 1959. 53 Sehr in der Nähe sind allerdings Äußerungen Barths zum Verhältnis von „Institution und Ereignis“ im Rahmen eines „Gespräch[s] mit Studenten in Paris“ (20. 10. 1963), in denen ebenfalls auf die Formel „,ecclesia semper reformanda‘!“ Bezug genommen wird; vgl. Karl Barth, Gespräche 1963, GA IV.41, hg. v. E. Busch, 162–176, 170 (Überschrift) bzw. 173 (Formel).

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3.

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Ad Limina Apostolorum – Religionskritik und Ökumene

Mit dem Vatikanum II hat Barth sich in verschiedenen Texten und Zusammenhängen auseinandergesetzt. Neben Ad Limina Apostolorum ist in unserem Interessekontext vor allem der in der Festschrift für Karl Kupisch abgedruckte Text Überlegungen zum Zweiten Vatikanischen Konzil54 von 1963 zu nennen. Hier stellt Barth die Forderung auf, die Bedeutung des Konzils weniger als ein ökumenisches, denn als ein innerkatholisches (und vermittels dessen ökumenisches) „geistliche[s] Ereignis“55 einer epochalen Erneuerung in Rückbesinnung auf Schrift und Jesus Christus zu sehen, verbunden damit als die Anfrage an die Protestanten: „Existieren aber auch wir im europäischen Westen wirklich als ecclesiae semper reformandae“56 ? Das wichtigste Dokument unter diesen Texten stellt zweifellos das kleine Büchlein Ad Limina Apostolorum dar. Es enthält vier Texte Barths, die im Zusammenhang seiner Romreise von 1966 entstanden sind. Neben einem Vortrag 54 Karl Barth, Überlegungen um Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Ernst Wolf u. a. (Hg.), Zwischenstation. Festschrift für Karl Kupisch zum 60. Geburstag, München 1963, 9–18. Vgl. dazu: Karl Barth – Willem Adolf Visser’t Hooft, Briefwechsel 1930–1968, einschließlich des Briefwechsels von Henriette Visser’t Hooft mit Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum, GA V.43, hg. v. Th. Herwig, Zürich 2006, 307–319. 55 Barth, Überlegungen 12. 56 AaO., 15. Weiter ist ein „Gespräch mit rheinischen Jungpfarrern“ (4. 11. 1963) von Belang, in dem ebenfalls auf die ecclesia semper reformanda-Formel Bezug genommen wird; vgl. Karl Barth, Gespräche 1963, GA IV.41, hg. v. E. Busch, Zürich 2005, 321–328 [Formel: 325]. Ferner sind mindestens drei weitere Gespräche aus den folgenden Jahren erwähnenswert; vgl. Karl Barth, Gespräche 1964–1968, GA IV.28, hg. v. E. Busch, Zürich 1997: Das „Gespräch mit Tübinger ,Stiftlern‘ vom 2. 3. 1964“; aaO., 92–109 (hier : „Der Aufbruch des neueren Katholizismus“); vgl auch schon aaO., 86–92 über „Die Denkform der Analogie“ (eine Revision seiner Kritik an der analogia entis!). Ein „Gespräch in der Basler Bruder Klaus-Gemeinde“ aus dem Jahr 1967; vgl. aaO., 351–369). Und ein „Gespräch mit dem Maria-Stein-Kreis“ aus dem Jahr 1967; vgl. aaO., 370–385. Auch Barths allerletztes Textfragment, das er am Vorabend seines Todes mitten im Satz abbrach, widmet sich der Ökumene und adressiert sich an Katholiken. Darin wird der Kirchenbegriff eingeführt als „die eine Bewegung, in der sich die Kirche befindet“; vgl. Karl Barth, Aufbrechen – Umkehren– Bekennen, in: Ders.: Letzte Zeugnisse, hg. v. E. Busch, Zürich 1969, 61–71. Außerdem hat Barth im Anschluss an seinen Besuch in Rom im Wintersemester 1966/67 ein Kolloquium über die Konstitution des 2. Vatikums „Dei Verbum“ durchgeführt, im Wintersemester 1967/68 eines über „Lumen gentium“, deren von Eberhard und Beate Busch verfasste Protokolle nunmehr sorgfältig dokumentiert sind; Eberhardt Busch, Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, 112–248 passim. Vgl. dazu auch den Beitrag von Michael Weinrich in diesem Band. Im ersten Kolloquium kreist die Debatte naturgemäß vor allem um die Frage der Offenbarungsquellen, darin den Status der kirchlichen Autorität (insbesondere des Lehramts und des Papstes). Einschlägiger für die hier fokussierte Fragestellung ist das zweite Kolloquium, das allerdings von Barth krankheitshalber abgebrochen werden musste; vgl. aaO., 489–530 passim. An der Sitzung vom 25. 2. 1967 nahm Joseph Ratzinger teil; vgl. aaO., 229.

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zur Dogmatischen Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die göttliche Offenbarung57 sind hier vor allem die Fragen in Rom wichtig. Dabei handelt es sich um das Questionnaire, das Barth seinen Gesprächspartnern in Rom nach einem Proömium Allgemeine Fragen zu den einzelnen Konstitutionen über Liturgie, Kirche, Offenbarung, Kirche in der heutigen Welt, Ökumenismus, Laienapostolat, Missionstätigkeit, Verhältnis zu den nicht-christlichen Religionen sowie religiöse Freiheit vorgelegt hatte. Barth formuliert dazu jeweils zwei Reihen von drei bis sieben Fragen, eine erste mit Verständnisfragen, eine zweite als Kritische Fragen.58 In den Fragen folgt Barth in etwa dem Aufbau der Konzilsdokumente59, nimmt aber gewisse Umstellungen vor, so werden die Fragen zu Offenbarung und Kirche in der Welt von heute relativ weit vorgezogen, jedoch hinter die beiden ersten Abschnitte zu Liturgie und Kirche gestellt, dafür wird die Erklärung über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen relativ weit, nämlich hinter das Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche, zurückgestellt. Sieben der sechzehn Verlautbarungen, vor allem die amtsbezogenen, werden ganz ausgelassen.60 Erkennbar ist in Barths Text insgesamt das Interesse einer fokussierten Analyse in systematischer Absicht. Der Text ist, schon mit Blick auf seine Fragestruktur, ein seinerseits ausgesprochen interaktiv gehaltener Beitrag zum ökumenischen Dialog. Dieser ökumenische Dialog ist, wie zu zeigen sein wird, seinerseits der ekklesiologische Konstitutionsdiskurs.61 Damit soll derjenige Aspekt des ,Bezeugungsgeschehens‘ gemeint sein, in welchem sich der sich theologisch reflektierende Glaube auf dieses Geschehen als solches richtet – mithin auf die Kirche. Dieser ,innere‘ Diskurs überführt sich in den den Römern vorgelegten Fragen zugleich in einen zweiten, von ihm funktional unterscheid57 Barth, Ad Limina, 45–60. 58 Die Unterscheidung ist nach beiden Seiten hin nicht strikt: die Verständnisfragen enthalten durchaus kritisches Potenzial und die „Kritischen Fragen“ sind in einem ingesamt recht irenischen, diplomatischen Ton gehalten. Die Antworten der katholischen Gesprächspartner werden nicht wiedergegeben; sehr summarisch orientiert jedoch ein ausführliches Vorwort über einige der historischen Gegebenheiten. 59 Barth zitiert die Texte auf Lateinisch. Ich folge hier : Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums, Freiburg i.Br./Basel/Wien, 9 1974 [ursprl. Freiburg i.Br.1966]. 60 Nicht besprochen werden „das Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel ,Inter mirifica‘“ (Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 91–104), das „Dekret über die katholischen Ostkirchen ,Orientalium Ecclesiarum‘“ (aaO., 201–216), die amtsbezogenen Dekrete über die Bischöfe, Priester und Ordensleute (aaO., 251–330.553–598) sowie die „Erklärung über die christliche Erziehung“ (aaO., 331–348). 61 Darum ist für Barth von zentralem Interesse, wie die konziliare Formel von den (nichtkatholischen Mit-Christen) als „fratres sejuncti“ (Barth, Ad Limina, 15f.33) verstanden werden solle.

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baren, insofern ,äußeren‘ Diskurs, nämlich den missionarischen, also den Diskurs Kirche mit Nicht-Kirche: Welt, nicht-christliche Religionen. Damit ist die oben bereits angedeutete Deutungsthese näher bezeichnet: Kirche wird von Barth als ökumenischer und missionarischer Diskurs verstanden. Sie existiert im doppelten Sinne auf der Schwelle – ad limina Apostolorum. Solche Schwellenexistenz führt sie jedoch aus Barths Sicht genau und nur dann, wenn sie diese ihrerseits theologisch-reflexiv diskursiviert; in dieser reflexiven Diskursivität („Bezeugung“62) hat sie ihre Selbststeuerung, ihre Autopoietik. Um deren performativen Aufweis geht es Barth in seinem Text.

3.1

Kirche als ökumenischer Diskurs

Diese Absicht wird bereits in den einleitenden „Allgemeine[n] Fragen“63 erkennbar. Hier möchte Barth nämlich von seinen Gesprächspartnern wissen, ob die „Konzilsbeschlüsse einen bestimmten Mittel- und Schwerpunkt“ hätten, ob es sich beim Vatikanum II seinem Selbstverständnis nach insgesamt um ein „Reformkonzil“ gehandelt habe und „an was“ das „aggiornamento“ „,Anpassung‘“ vornehmen wolle; ob es sich dabei um die „Erneuerung des (theoretischen und praktischen) Selbstverständnisses der Kirche im Licht der sie begründenden Offenbarung“ oder „im Licht der modernen Welt“ handle und ob sich „diejenigen Angehörigen der progressiven Mehrheit des Konzils, die für b) optieren, der Gefahr bewusst[…]“ seien, „[…] dass es dann leicht zu unerwünschten Wiederholungen der im neueren Protestantismus begangenen Fehler kommen könnte?“64. Dieser neuprotestantische Kardinalfehler sei die Essentialisierung der Kirche als (Gestalt von) Religion, wodurch diese von der Theologie auf deskriptiven Abstand gesetzt und der Raum des ökumenischen Diskurses gar nicht aufgespannt werde. An diesen Gedanken schließen Fragen zur „Pastoralen Konstitution über die Kirche in der heutigen Welt“65 sachlich an; in ihnen werden nämlich samt und sonders modernitätskritische Akzente gesetzt: Etwaige Tendenzen der Konzilstexte, nach denen die Kirche Entwicklungen der Moderne als normativ für sich akzeptieren könnte, sowie etwaige Importe genuin modernen Gedankenguts („Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“66) beziehungsweise immanentisierende67 Umdeutungen der christlichen Eschatologie werden kritisch mar62 63 64 65 66 67

Barth, Ad Limina, 25. AaO., 23. Ebd. AaO., 30f. AaO., 30. Vgl. die Verständnisfrage 4 sowie die kritische Frage 1, aaO., 30 bzw. 31.

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kiert, stattdessen wird die sich in „konkrete[n] Stellungnahmen“68 manifestierende „prophetische Funktion der Kirche“69 eingefordert. Das theologische „Aggiornamento“ vollzieht sich in Barths Augen gerade dann, wenn die Kirche den Dialog mit „der Welt“ in der Weise führt, dass sie diesem „den Charakter einer Botschaft“70 verleiht. Hier zeigt sich die konstitutive sprechakttheoretische Differenz zwischen ökumenischem und missionarischem Diskurs: Ersterer ist bestimmt durch ,Zeugenschaft‘ beziehungsweise ,Entsprechung‘, letzterer durch seinen Charakter als ,Botschaft‘. Vorzugsweise an der für das römische Selbstverständnis grundlegenden Liturgie, die darum im Konzilstext auch den Anfang macht, muss sich jene zweifache autopoietische Diskursivität der Kirche – und namentlich zunächst deren erstere, grundlegende Form – erweisen. Darum möchte Barth wissen, ob die vom Konzil anvisierte Reform als grundsätzliche „innere Erneuerung der Ecclesia viva catholica“71 zu verstehen sei. Wenn dem so sei, könne erstens nicht eine bestimmte rituelle Praxis, nämlich die Eucharistiefeier, als suisuffizienter Ursprung legitimer Kirchlichkeit in Anschlag gebracht werden. Zweitens dürfe liturgisches Handeln nicht als „,exercitium‘ des Erlösungswerks“72, sondern müsse als Antworthandeln, als Zeugnis, mithin performativ-diskursiv, verstanden werden,73 womit drittens die prinzipielle Koaktualität der „Laien“74 mit dem Priester beziehungsweise für das priesterliche Handeln strikte funktionale Repräsentativität gesetzt sei. Darum zielt Barth in seinen Fragen zum „Dekret über den Laienapostolat“75 darauf, diesen als „genuine Gestalt des Apostolats der Kirche als solcher“76 zu verstehen, was die Rede von einem „besonderen Apostolat der Hierarchie“77 eigentlich verunmögliche und inhaltlich mit dem „Begriff des Zeugnisses“, das die „Aufgabe der ganzen Kirche der Welt gegenüber“78 bezeichne, zu beschreiben sei. Zeugenschaft als Aufgabe der ganzen Kirche – so lautet die hier implizite These – sei grundsätzlich egalitarisierend zu verstehen; von einem „besondere[n] Apostolat der Hierarchie“79 könne vor diesem Hintergrund immer nur in strikt funktionaler Unterordnung unter dieses Prinzip 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79

AaO., 31. Ebd. Barth, Überlegungen, 16. Barth, Ad Limina, 24. AaO., 25. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, ob nicht auch Paulus „zu dem von Petrus präsidierten Apostelkollegium“ zu rechnen sei; aaO., 26. AaO., 25. AaO., 34f. AaO., 34. Ebd. AaO., 35. AaO., 34.

Zum ökumenischen Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths

361

(also im Sinne einer dienenden Hierarchie) die Rede sein. Auf diese Weise sei – so deute ich Barths Fragen zur Kirchenkonstitution – der Anschein einer substanziellen Heilswirklichkeit –„plenitudo“80 – beziehungsweise Heilsmittlerschaft der Kirche im Ansatz zu verhindern, die ihrerseits in vorzüglicher oder gar exklusiver Weise von der Hierarchie repräsentiert und in der Mariologie symbolisch überbaut würde. Diese, wenn man so will, antisubstanzialistische, nämlich die Kirche ganz als Sprachereignis deutende Argumentationslinie setzen die beiden Fragereihen zur Offenbarungskonstitution begründungskritisch fort, wobei sie einerseits – gleichsam positiv – das Vatikanum II in seinen „christologische[n] und soteriologische[n] Aussagen“81 von den vernunfttheoretischen Argumentationen des Vatikanums I abzuheben versuchen82 und andererseits die Tendenzen zur gleichwertigen Nebenordnung von „traditio“ und „magisterium“ über die „scriptura“ beziehungsweise deren Überordnung über sie sowie die Affirmation der tridentinischen Formel „,pari pietatis affectu‘“83 kritisieren. Der solchermaßen in Frageform rekonstruierte innere Konstitutionsdiskurs der Kirche wird in eine reflexive Form überführt in Gestalt der Fragen zum Ökumenismusdekret. Der ökumenische Dialog impliziere, so insinuiert Barth, ein Verständnis von Kirche, das zwischen der in einer bestimmten Kirche zu einer bestimmten Zeit repräsentierten christlichen Wahrheit und dieser selbst konstitutiv unterscheide und die Kirche insgesamt, aber namentlich jetzt auch – endlich – die römisch-katholische, in einem Prozess des „opus renovationis nec non reformationis“84, das heißt in einer „perennis reformatio“85 begriffen sehe. Bei diesem ökumenischen Suchprozess gebe es de facto einen „Vorsprung der nicht-katholischen Kirchen“86, den Rom anzuerkennen hätte. Die ökumenische Diskursivität geht auch und gerade Roms – partikularer – Kirchlichkeit konstitutionell voraus. Angesichts der prinzipiellen Unverfügbarkeit der „plenitudo catholicitatis“87 seien nicht nur „die anderen“, sondern letztlich auch die Römer selbst, so insinuiert Barth, nichts anderes als „fratres sejuncti“88. Die den ökumenischen Zeugnisdiskurs eigentlich begründende Differenz ist diejenige, in der das Zeugnis von Jesus Christus als solches thematisch, nämlich strittig ist: „der Gegensatz von Kirche und Synagoge“89. Dieser bildet darum aus 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89

AaO., 26. Barth, Ad Limina. 28. Vgl. die Verständnisfragen ebd. AaO., 29. AaO., 32. Ebd. AaO., 33. Ebd. Ebd. Ebd.

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Georg Pfleiderer

Barths Sicht „das Grund-Schisma“90, auf dessen Überwindung der ökumenische Prozess zielen müsse. Darum hält er es für einen der systematisch-theologisch schwersten Fehler des Konzils, das Verhältnis zum Judentum als Repräsentanten der „Urgestalt der einen Gottesoffenbarung“91 erst „im Dekret über die ,nichtchristlichen Religionen‘ zur Sprache“92 zu bringen, also im missionarischen Aussendiskurs des Verhältnisses von Kirche und Welt. Hinter Barths Insistieren auf der Zugehörigkeit Israels beziehungsweise des Judentums zum ökumenischen, also inner-ekklesiologischen Diskurs steht seine in KD II/2 aus dem Jahr 1942 stammende Lehre von der Zweiteiligkeit der ,Gemeinde‘93 in Israel und Kirche. Diese wiederum ist angeregt durch Erik Petersons Lehre von der heilsgeschichtlich-katechontischen Funktion der Israelmission für die Kirche.94 Zu der von Erik Peterson in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt in den 1930er Jahren vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus geführten Debatte um Heilsgeschichte, Apokalyptik und Politische Theologie95 leistet Barth einen offenbarungstheologischen Beitrag.96 Schon in KD II/2 hatte er versucht, eine heilsgeschichtlich-objektivierende Perspektive – trotz unverkennbarer Affirmationselemente97 – von der Thematik möglichst weitgehend fernzuhalten und die Frage der Erwählung Israels beziehungsweise der Kirche performativ vom Begriff der „Darstellung“98 her aufzubauen. Dies gilt jedoch vorrangig für die Seite der „Kirche“, die „Zeuge und Herold“99 Jesu Christi zu sein habe. Die Zeugenschaft Israels ist „das seiner göttlichen Widersetzung sich widersetzende Volk der Juden“100, das die von Gott auf sich selbst gezogene Verwerfung darstellt, bezeugt durch seine Glaubensverweigerung und sein historisches „Schicksal“ „in seiner von seinem Leiden in Ägypten bis zum letzten Untergang Jerusalems und darüber hinaus bis auf diesen Tag immer neu wiederholten, Preisgabe, Ausrottung und Zerstörung“101. Dabei will Barth jedoch nicht schon die blosse „Zugehörigkeit zu diesem Volke“ aufgrund „seines jüdi90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101

Ebd. AaO., 40. AaO., 33. Barth, KD II/2, 215–336. Vgl. dazu Erik Peterson, Die Kirche, München 1929; Ders., Die Kirche aus Juden und Heiden. Drei Vorlesungen, Salzburg 1933; vgl. dazu Barbara Nichtweiss, Erik Peterson, Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg i.Br. 1992, 545–549. Alfons Motschenbacher, Katechon oder Grossinquisitor? Eine Studie zu Inhalt und Struktur der Politischen Theologie Carl Schmitts, Marburg 2000, bes. 219–224; vgl. auch Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden, Berlin 2005. Zu Peterson vgl. Barth, KD II/2, 249.253.307f.319.321. Vgl. das offenbar zustimmende Zitat von Peterson in Barth, KD II/2, 249. Barth, KD II/2, 215; als kerygmatische Aufgabe der Bezeugung vgl. aaO., 286. AaO., 216. AaO., 219. AaO., 287.

Zum ökumenischen Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths

363

schen Blutes“102, sondern den sich im Unglauben bekundenden negativen Modus der göttlichen Erwählung als eigentliches heilsgeschichtliches Agens festhalten; darum sucht er auch das affirmativ aufgenommene Diktum, die „Existenz der Juden genügt bekanntlich als Gottesbeweis“103, in den Modus des Glaubens zu übersetzen und demzufolge als „Aufweis der Tiefe der menschlichen Schuld und Not“ und der diese überwindenden „unbegreiflichen Liebe Gottes“104 zu deuten. Wenn Barth in seiner Romschrift von 1967 auf der Zugehörigkeit Israels beziehungsweise des Judentums zum ökumenischen Diskurs insistiert, verstärkt er die 1942 noch tendenzielle und implizite diskurstheoretische Formierung seiner Ekklesiologie beträchtlich. Das Kirchesein wird nun ganz vom Gedanken der ,perennis reformatio‘, also des kerygmatischen Prozesses, der diskursiven Auseinandersetzung um rechte Zeugenschaft, aus gedacht und jeglicher historischen Substanzialisierung zu entziehen versucht. Dazu steht in Spannung, wenn er nunmehr vom „späteren und heutigen (gläubigen oder ungläubigen) Judentum“, ausdrücklich als dem „einzigen natürlichen (weltgeschichtlichen [!]) Gottesbeweis“105 spricht, demgegenüber wie – auch gegenüber den Muslimen in puncto Kreuzzüge – ein „Schuldbekenntnis am Platz gewesen“106 wäre. Darauf wird zurückzukommen sein.

3.2

Kirche als missionarischer Diskurs

Die ,innere‘ ökumenische Diskursivität von Kirche überführt sich gemäss der Logik des Zeugen- beziehungsweise des Diskursbegriffs mit innerer Notwendigkeit in eine ,äußere‘, missionarische. Mit großer Zustimmung nimmt Barth die konziliaren Formulierungen im Missionsdekret, nach welchen „die Kirche wesenhaft Missionskirche, die Mission wesenhaft Sache der Kirche als solcher sei“107, auf. Er verbindet sie mit der aus KD IV/3108 bekannten Selbstkritik an den reformatorischen Kirchen hinsichtlich dessen, dass diese erst in ihrer neuzeitlichen Geschichte diese fundamentale Bedeutung der Missionsaufgabe wahrgenommen hätten und gibt damit zu erkennen, dass er seine eigene ekklesiologische Diskurstheorie als Beitrag zur neuzeitlichen theologischen Theoriediskussion zu verstehen wünscht. Gerade solche Diskursivität, die Barth pointiert als Wahrnehmung ihres 102 103 104 105 106 107 108

AaO., 236. AaO., 230. Ebd. Barth, Ad Limina, 40. Ebd. AaO., 36. Barth, KD IV/3, 18–40.

364

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prophetischen Amtes verstanden wissen will, garantiere die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und ihre politische Widerstandsfähigkeit. Nach ,innen‘ hat die Missionstätigkeit der Kirche einen ,irenischen‘ Effekt. Dagegen werde verstoßen, wenn etwa „katholische Propaganda unter den nicht-katholisch getauften Neuchristen“109 befürwortet und so die Differenz von ökumenischem und missionarischem Diskurs ignoriert werde. Ein konsequentes Verständnis des missionarischen Diskurses müsse vielmehr dazu führen, dass die partikularisierenden katholischen Lehren vom Messopfer und der Mariologie im ökumenischen Diskurs revidiert würden. Die grundsätzliche Einsicht in den Diskurscharakter des Missionarischen zeigt sich nun nach Barth in der „Deklaration über das Verhältnis der Kirche zu den nicht-christlichen Religionen“ darin, dass eine Interpretation „in optimam partem“110zumindest möglich ist, nach welcher klare Toleranzpflichten gegenüber den Praktikantinnen und Praktikanten nicht-christlicher Religionen eingeschärft würden. Diese seien schöpfungstheologisch „im Blick auf die in ihnen mehr oder weniger sichtbar werdende Teilwahrheit – der Strahlen der alle Menschen erleuchtenden einen Wahrheit […] – als Ausdruck der allgemeinen Sehnsucht nach dieser […] zu würdigen, ja zu respektieren“111sowie soteriologisch, also „im Blick auf Christus, der für die Sünden aller Menschen und zu ihrer aller Heil gestorben ist“112 zu begründen. Die soteriologische Begründung motiviere zugleich jedoch die missionarische Verkündigung der christlichen Botschaft als „plenitudo vitae religiosae“113, die demnach nicht im Widerspruch zu solcher Toleranzforderung sondern als deren eigentliche Ausübung zu verstehen sei. Die Diskursivität von Barths eigenem Text kommt prägnant darin zum Ausdruck, dass er an dieser Stelle auch die einer solchen Interpretation „in optimam partem“ widerstreitenden Tendenzen der Konzilsdokumente festhält, nämlich etwa diejenige, die „kritische und missionarische Aufgabe der Kirche den Religionen als solchen gegenüber – statt als sachliche Mitte – nur am Rande der ,Deklaration‘“114 zur Geltung zu bringen und stattdessen die Thematik in einer überwiegend „historisch-analysierenden Darstellung“115 mit noch dazu veralteten Unterscheidungen wie der von „,Hochreligionen‘ gegenüber den primitiven“116 Religionen abzuhandeln. 109 110 111 112 113 114 115 116

Barth, Ad Limina, 37. AaO., 38. Ebd. Ebd. Ebd. AaO., 39. Ebd. Ebd.

Zum ökumenischen Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths

365

Den Charakter einer abschließenden Gesamtreflexion, mit der sich der Kreis zu den einleitenden Fragen schließt, haben Barths Überlegungen zur Konzils„Deklaration über die religiöse Freiheit“117. Er sieht hier beim Konzil klare Tendenzen eines naturrechtlichen Denkens am Werk, das Religionsfreiheit als „auf die natürliche Würde der der menschlichen Person“118 begründetes Vernunftrecht versteht, das von der Kirche gegenüber den Staaten „in deren eigenstem Interesse“119 geltend zu machen sei. Vor dem Hintergrund jahrhundertelanger kirchlicher Zwangspraktiken wäre stattdessen vielmehr „auch hier ein ziemlich umfassendes Schuldbekenntnis am Platz gewesen“120 sowie eine strikt offenbarungstheologische Begründung von Religionsfreiheit auf „das biblische Wort von der wahren Freiheit, zu der uns der Sohn freimacht“121, das aber zugleich auch „ihre (sc. der Kirche) eigene Krisis ist“122. Solche „religiöse Freiheit“123 gelte es nicht zu fordern, sondern zu bezeugen.

4.

Das aggiornamento und sein Anker

Die Fragen, die Barth an die römischen fratres richtet, umkreisen eine ihrem Anspruch nach ökumenische Ekklesiologie, die ihrerseits auf ein aggiornamento, eine strukturelle Modernisierung des Kirchenbegriffs, zielt. Solchen Vollzug diskursiver wechselseitiger Verständigung und Kritik als Wesen und Kern gemeinsamen ökumenischen Kircheseins zu vermitteln, ist der eigentliche performative Sinn des Unternehmens. In diesem Diskurs wird die konfessionelle Positionalität darin anerkannt, dass sie als ebenso gegebener wie problematischer Ausgangspunkt der ökumenischen Analyse genommen wird. In dem Maße, in dem sich die positionellen Gehalte der diskursiven Aufhebung ins Allgemeine des ökumenischen Kirchenbegriffs widersetzen, erweisen sie sich funktional als blosse ,Religion‘. Anstelle einer inhaltlichen Bestimmung oder eigenen materialen biblischen Begründung des Kirchenbegriffs fungiert der freiheitlich-offene diskursive Prozess der – inneren – ökumenischen Selbstverständigung, der sich in der missionarisch-kommunikativen Bekundung des Evangeliums als seines Begründungszusammenhangs nach außen (Mission) bewähren muß. Als Wahrheitsnorm dient dabei der Bezug auf die Selbstbezeugung Jesu Christi, die sich in die Bereitschaft zur kritischen Selbstzurücknahme 117 118 119 120 121 122 123

AaO., 41. Ebd. Ebd. AaO, 42. Ebd. AaO., 43. AaO., 41.

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Georg Pfleiderer

jedweder argumentativen und darauf aufgebauten institutionellen ,Essentialisierungen‘ von christlicher Religionsgestaltung übersetzen müsse. Legitime christliche Praxis ist allein der Vorgang permanenter ,Bezeugung‘ des Konstitutionsgeschehens von Kirche, in der die Einsicht in die ,Krisis‘ aller –religiösen – Bezeugungsakte inbegriffen ist und zugleich als deren methodisches Wahrheitskriterium fungiert. Der spannende Punkt dieser Argumentation zeigt sich an der Schnittfläche von ökumenischem und missionarischem Diskurs. Die Unterscheidung der beiden Diskurse ist für Barths Gesamtargumentation grundlegend; die Schnittfläche begründet recht eigentlich die Differenz von Kirche und ,Welt‘ beziehungsweise von Offenbarungsglauben (Kirche) und nicht-christlichen Religionen. Dass es zu der Unterscheidung eines ökumenischen ,Innen‘ von einem missionarischen ,Außen‘ kommt, ergibt sich jedoch einzig daraus, dass sich die Wahrheitsansprüche der Kommunikationspartner als Zeugnisakte der einen christlichen Wahrheit interpretieren lassen – oder eben nicht. Allerdings ist diese Diskursgrenze zugleich wiederum nicht fest, sondern fließend. Sie resultiert zunächst aus dem Interpretationsverhalten der Kommunikationspartner : in dem Maße, in welchem diese bereit sind, ihre eigenen religiösen Wahrheiten als ,Zeugnisse‘ der einen Wahrheit des Evangeliums zu interpretieren, definieren sie sich in den inneren ökumenischen Kreis hinein – oder eben aus ihm heraus. Allerdings kann solche Selbstdefinition von denjenigen, die sich selbst (wie Barth) als Christus-Zeuginnen und -Zeugen, also als Partizipanten am ökumenischen Diskurs zu verstehen geben wollen, nicht einfach übernommen werden; sie muß vielmehr von ihnen kritisch-diskursiv zu reproduzieren versucht werden. Einen solchen exemplarischen Überprüfungsakt stellt Barths Ad Limina Apostolorum dar. Der ökumenische Diskurs ist mithin, wie eingangs bereits angedeutet, dieser dialogische Metadiskurs über die ,Apostolizität‘ der Bezeugungsakte der beteiligten Dialogpartner. Praktische Auswirkung der Zugehörigkeitserkenntnis zum inneren, ökumenischen Dialogkreis ist, dass die Partner auf wechselseitige Mission verzichten (müssen). Eigentliches Ziel des Diskurses ist die Ermittlung der konkreten Grenze von ökumenischem und missionarischem Diskurs. Diese Offenheit ist sachlich darin begründet, dass die beide Diskurse zentrierende Christus-Figur eine Doppelfunktion hat. Sie ist ihrerseits einerseits Zeugnisinhalt als auch andererseits personaler Zeugnis(akt). Sollen hier unklare Ambiguitäten vermieden werden, dann muss gelten: Sie ist ersteres (Zeugnisinhalt), gerade weil sie auf paradigmatische Weise Letzteres (personaler Zeugnisakt) ist. Damit aber wird es im Sinne einer Grenzfunktion möglich, die Inhaltseite, das Zeugnis von Christus, gewissermaßen einzuklammern. Genau dies geschieht in Gestalt Israels beziehungsweise des Judentums. Barth verwendet sich, wie

Zum ökumenischen Potenzial der religionskritischen Theologie Karl Barths

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gezeigt, emphatisch für die Einordnung Israels in den inneren, also den ökumenischen Diskurs. „Israel“ steht für die radikale Entpositivierung aller historischen Essentialisierungseffekte des Zeugnis-Inhalts für den bezeugenden (Kollektiv-)Akteur. Interessanter Weise steht für diese historische Entessentialisierung aber wiederum, wie gezeigt, nunmehr – anders als in KD II/2 – gerade die Historizität des Judentums – unabhängig von der Frage seiner eigenen Gläubigkeit. Für diese reklamiert Barth ja, wie erwähnt, die Valenz eines weltgeschichtlichen Gottesbeweises. Es ist also offenbar letztlich der Bezug auf das historische Judentum in seiner biologisch-genealogischen Kohärenz und Konsistenz, welches den essentiellen Kern der Kirche, die Grenzstabilität der diskursvariablen Grenze von ökumenischem und missionarischem Dialog, markiert. Der Bezug auf das geschichtliche Judentum verhindert damit zugleich auch die Auflösung des Christentums in theologische (Meta-)Diskursivität. Er erfüllt die Funktion, die im neuzeitlichen Religionsdiskurs der Verweis auf Religion jenseits der Theologie, oder in der Gegenwart: auf ,gelebte Religion‘ erfüllt. Ohne einen solchen Anker oder Widerhalt droht das religionskritische Potenzial neuzeitlich-ökumenischer Debatten den Kirchenbegriff selbst aufzulösen. Das Judentum fungiert hier als Grenznutzenindikator religionskritischer Ökumenik. Katholiken im Sinne des Vatikanums II könnten sagen: Was für uns das Petrusamt in seiner apostolischen Sukzession ist, ist bei dem offenbarungstheologischen „Neuprotestanten“124 Karl Barth das Judentum – in seiner ,biologischen‘ Sukzession. Ganz ohne außerdiskursive Positivität, sei sie juridischer, sei sie biologisch-naturaler Art, scheint es beim aggiornamento moderner Theologie nicht zu gehen.

124 AaO., 23.

Susanne Hennecke

Karl Barth und die Religion(en) im europäischen Vergleich. Das Beispiel Deutschland : Niederlande1

1.

Einleitung

Keine Theologie in der jüngeren Theologiegeschichte, so eine der einleitenden Bemerkungen zu vorliegendem Band, hat bei ihren Lesern und Leserinnen bis in die allerjüngste Zeit hinein für so viele Streitigkeiten, ja sogar für eine regelrechte Scheidung der Geister gesorgt wie die Theologie Karl Barths. Für die deutschsprachige Theologie, so die zusammenfassende Beobachtung2 des Basler Theologen Georg Pfleiderer, sei die Auseinandersetzung zwischen Barth-Befürwortern und Barth-Kritikern trotz zahlreicher Schlichtungsversuche weiterhin konstitutiv und ihr Ausgang offen. Als das zentrale Thema dieser Auseinandersetzung könne dabei Barths Verhältnis zur Moderne und damit verbunden Barths Unterscheidung zwischen Religion und Theologie angesehen werden. Habe Barth nach Meinung der Barthkritiker versucht, den Religionsbegriff aus der Theologie zu verbannen und sich damit den modernen religionstheoretischen Diskursen und so auch der Suche nach einer konstruktiven Verhältnisbestimmung des Christentums zu den anderen Religionen und einer sich säkular gebenden modernen kulturellen Öffentlichkeit entzogen, habe er nach Meinung der Barth-Befürworter mit seiner offenbarungstheologisch motivierten Problematisierung des Religionsbegriffs dazu beigetragen, dass die Theologie ihre Fühlung zum christlichen Glauben und dessen intrinsischen 1 Dieser Beitrag ist Teil eines größeren DFG-Forschungsprojektes „Die theologische, politische und kulturelle Rezeption der Theologie Karl Barths in den Niederlanden (1919–1989)“ und bietet eine Vorversion des noch zu schreibenden internationalen Vergleichs im Rahmen des endgültigen Abschlusskapitels. Im Rahmen dieses Forschungsprojektes habe ich außerdem bereits die folgende Studie publiziert: Susanne Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden. Teil 1: Theologische, kulturelle und politische Rezeptionen (1919–1960), FSÖTh 142, Göttingen 2014. 2 Vgl. Georg Pfleiderer, Progressive Dialektik. Zur Entwicklung von Karl Barths theologischem Denken im Zeitraum des Ersten Weltkriegs, in: G. Pfleiderer/H. Matern (Hg.), Theologie im Umbruch der Moderne. Karl Barths frühe Dialektische Theologie, Christentum und Kultur 15, Zürich 2014, 81–103, 82f.

370

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Wahrheitsansprüchen und autochthoner Wirklichkeitssicht nicht zugunsten einer rein deskriptiven Wissenschaft vom Christentum aufs Spiel setze. Der vorliegende Band kann in vielerlei Hinsicht als eine bestimmte, nämlich die Debattenlage verschiebende Reflexion dieser facettenreichen Diskussion betrachtet werden. Denn er spiegelt diese in zugleich verkleinerter als auch erweiterter und damit hoffentlich auch weiterführender Form. Während die verschiedenen Vorwürfe der Barth-Kritiker etwa in den Beiträgen von Jörg Dierken oder Reinhold Bernhardt bewusst und fokussiert noch einmal aufgegriffen werden sollten und aufgegriffen worden sind, wurde eine Diskussion der Argumente der Barth-Befürworter zugunsten einer vielfältig und offen-weiterführend gestalteten eigenen Annäherung der Beitragenden an die Religionsthematik bei Barth, die außerdem in erster Linie das Gespräch mit den Barthkritikern suchte, oftmals erst einmal aufgeschoben. Eine weitere Verschiebung der Debattenlage ergab sich in diesem Band – außer durch den Focus auf die Beiträge aus den verschiedenen Religionen – auch durch ihre Internationalisierung, die gerade auch durch das Hinzuziehen mehrerer Beiträge speziell aus dem niederländischen Diskussionszusammenhang erreicht werden konnte. Betrachtet man nämlich die beiden Beiträge über die niederländischen Barthrezipienten Hendrik Kraemer und Hendrikus Berkhof sowie den Beitrag des niederländischen Theologen Dick Boer einmal gesondert, so wird im Ansatz bereits deutlich, dass gerade diejenigen Theologen, die sich in den Niederlanden in Hinblick auf die Religionsthematik und ihre offenbarungstheologische Problematisierung positiv und konstruktiv auf Karl Barth beziehen beziehungsweise bezogen haben und daher im niederländischen Kontext als – wenn auch nicht unkritische – Barth-Befürworter angesehen werden, das positive Anliegen der Barth-Kritiker im deutschsprachigen Kontext, nämlich eine konstruktive Verhältnisbestimmung des Christentums zu den anderen Religionen und einer sich säkular gebenden modernen kulturellen Öffentlichkeit dezidiert vertreten, und zwar entgegen dem Argwöhnen der Barth-Kritiker in der deutschsprachigen Debattenlage gerade im Anschluss an Karl Barth. Man könnte auch sagen: Das Anliegen niederländischer Barth-Befürworter passt nur positiv und nicht negativ zu dem den Vorwürfen deutschsprachiger Barth-Kritiker zugrundeliegenden Interesse an der Förderung des interreligiösen Dialogs und des Gesprächs mit der sich säkular verstehenden Moderne, und dies bereits seit den Anfängen der niederländischen Barthrezeptionen in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Das Ziel dieses Beitrags ist darum der Versuch, die dialogische Eigenart (großer Teile) des niederländischen Barthianismus einmal zusammenhängend zu rekonstruieren und die so entstandene Übersicht über die niederländische

Karl Barth und die Religion(en) im europäischen Vergleich

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Debattenlage mit der deutschsprachigen3 zu vergleichen. Ein derartiger Vergleich bietet sich auch darum an, weil gerade in den Niederlanden eine sehr umfangreiche Barthrezeption4 stattgefunden hat, die sich aber von der – ebenfalls sehr umfangreichen – deutschsprachigen unter anderem, so die Hypothese, aufgrund des gegenüber Deutschland unterschiedlichen gesellschaftlichen, (religions-)politischen und theologie- beziehungsweise ideengeschichtlichen Kontextes auf markante Weise unterscheidet. Um das gesteckte Ziel zu erreichen, soll zunächst ein religionssoziologischer Vergleich zwischen (West-)Deutschland und den Niederlanden die unterschiedlichen Rezeptionshintergründe und -kontexte erhellen (2). Sodann wird die Entwicklung der (west-)deutschen Debattenlage aufgezeigt und vor dem Hintergrund länderspezifischer Unterschiede und in historisch sinnvoll abgegrenzten Phasen mit der niederländischen Debattenlage verglichen und erklärt (3). Der Beitrag schließt ab mit dem Ertrag einer in Zukunft noch auszubauenden internationalen Perspektive (4).

2.

Religion und Moderne in (West-)Deutschland und den Niederlanden

Um eine erste Einsicht in die für beide Länder unterschiedlichen Rezeptionskontexte der Theologie Karl Barths und insbesondere in die in diesem Band thematisierte Umgangsweise mit der Religionsthematik zu verschaffen, soll zunächst auf die für Deutschland und die Niederlande jeweils unterschiedliche Entwicklung der Bedeutung von Religion in der Moderne aufmerksam gemacht werden, und zwar anhand von Überlegungen und Forschungsergebnissen, die im Jahr 2015 von den beiden Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack und Gergely Rosta in einer Studie zur Religion in der Moderne5 vorgelegt worden sind. Die Studie bietet außer ihrer Aktualität den Vorteil, dass sie die Situation in 3 Aus pragmatischen Gründen bezieht sich der Vergleich lediglich auf die insgesamt besser erforschte Situation in der alten Bundesrepublik. Forschungen, die sich auf die Situation in der ehemaligen DDR beziehen, werden nicht berücksichtigt. Als Grundlage für einen zukünftigen deutsch-deutschen Vergleich kann etwa der Beitrag von Matthias Gockel und Martin Leiner angesehen werden; vgl. Matthias Gockel/Martin Leiner, Kritik und Versöhnung. Karl Barth und die DDR, in: Martin Leiner/Michael Trowitzsch (Hg.), Karl Barth als europäisches Ereignis, Göttingen 2008, 79–119. 4 Susanne Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden. Teil 1: Theologische, kulturelle und politische Rezeptionen (1919–1960), FSÖTh 142, Göttingen 2014. 5 Vgl. Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Schriftenreihe Religion und Moderne 1, Frankfurt/New York 2015, bes. 9–88 (Einführung und theoretische Überlegungen). 89–174 (Situation in Westdeutschland).196–242 (Situation in den Niederlanden).

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unter anderen den Niederlanden und Westdeutschland nicht nur umfangreich erfasst, sondern erstmalig auch im Zusammengang vergleicht und diskutiert. Methodisch gesehen vertreten die beiden Religionssoziologen einen eigenen Ansatz in der aktuellen Debatte zwischen den ihrer Meinung nach mittlerweile in die Defensive geratenen Verteidigern der Säkularisierungsthese auf der einen Seite und deren unbeirrbaren Infragestellern auf der anderen Seite: Das Anliegen der Säkularisierungstheorie soll, so die Autoren, weder vorschnell verabschiedet noch unkritisch übernommen werden. Vielmehr geht es um den Versuch, den religiösen Wandel moderner Gesellschaften mittels einer sowohl deskriptiven als auch explanatorischen Vorgehensweise noch einmal genau zu fassen und dabei sozialwissenschaftliche und kulturgeschichtliche [ich möchte hinzufügen: inklusive theologiegeschichtliche; SH] Interpretationen gerade miteinander zu vermitteln.6 Außerdem vertreten die Autoren die Meinung, dass trotz der diesbezüglichen Schwierigkeiten zur Erkenntnis der gestiegenen und gefallenen sozialen Signifikanz von Religion ein allgemeiner Religionsbegriff grundlegend sei7 und schlagen darum in Auseinandersetzung mit der gangbaren Unterscheidung zwischen substantiellen und funktionalen Religionsbegriffen eine Kombination beider vor. Entscheidend für die Religionsauffassung der Autoren ist dabei die Annahme eines „Unterschied[s] zwischen Transzendenz und Immanenz“8 in Kombination mit einem sogenannten „re-entry“9 – man könnte auch sagen: einer „Symbolisierung“10– des Transzendenten im Immanenten.11 Untersucht wurden außer der Dimension der Kirchenzugehörigkeit (z. B. Mitgliedschaft) auch die Dimension der rituellen Praxis (z. B. Kirchgang) und die Dimension der religiöse Erfahrung und Überzeugung (z. B. Glaube an Gott oder Erfahrung der Nähe Gottes). Sowohl den Religionsbegriff der Autoren als auch ihre säkularisationstheoretische Annahme und Schlussfolgerung möchte ich im Rahmen dieses Beitrags weder diskutieren noch mit dem Religionsbegriff von Karl Barth vergleichen. Von Interesse sind für mich vielmehr die von den Autoren gewonnenen länderspezifischen Einsichten über den Verlauf des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses und über die damit einhergehende Entwicklung der Bedeutung von Religion, die meines Erachtens zur Erhellung des für Deutschland und die Niederlande je spezifischen Rezeptionskontextes für die Theologie Karl 6 7 8 9 10 11

Vgl. aaO., 12. Vgl. aaO., 14f. AaO., 71. Ebd. AaO., 72. Nach Meinung der Autoren sind Phänomene wie u. a. Karl Barths Offenbarungstheologie, die Gott-ist-tot-Theologie und Überschreitungen der Arbeitswelt sowie Selbsttranszendierungen darum nicht als religiös zu bezeichnen; vgl. aaO., 71, Anm. 13.

Karl Barth und die Religion(en) im europäischen Vergleich

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Barths und zum besseren Verständnis der ländertypisch unterschiedlich ausgeprägten Rezeptionstypen beitragen. In Hinsicht auf die Entwicklungen in sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche kommen die Autoren zu folgenden Ergebnissen: In Westdeutschland12 habe in den letzten Jahrzehnten eine moderate Entkirchlichung mit punktuellen Zuwächsen stattgefunden. Insgesamt gesehen könne von einer erstaunlichen Beharrungskraft der christlichen Kirchen gesprochen werden. Betrachtet man einmal die evangelische Kirche gesondert, zeige sich, dass nach 1965 dennoch ein unerbittlicher Prozess der Minorisierung eingesetzt habe: Ab 1967/68 habe im Zuge des sich dynamisch vollziehenden Wandels (Bildungsexplosion, Wirtschaftswachstum u. ä.) ein rapider Anstieg der Kirchenaustritte und eine Abnahme der Taufquoten eingesetzt, eine Entwicklung, die nach einer leichten Normalisierung in den 70er Jahren und einer durch die konservative Wende nach 1982 und dem Stillstand der Wohlstandsexplosion bedingten leichten Retardierung in den 80er Jahren im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung schließlich noch einmal unterstrichen worden sei. Könnten als die Träger der Entwicklung am Ende der 60er Jahre vor allem Hochgebildete, Männer und Städter bezeichnet werden, die ihren Protest gegen das bürgerliche Establishment zum Ausdruck bringen wollten, seien demgegenüber ab den 90er Jahren Motive wie die Einsparung der Kirchensteuer, Gleichgültigkeit und Fremdheit gegenüber der Kirche sowie die Entbehrlichkeit von Glauben und Religion überhaupt und also – trotz allgemeiner Anerkennung christlicher Werte und der Kirche – die individuelle Distanz zur Kirche die entscheidenden Gründe für die Entwicklungen gewesen. Zusätzlich und in Abgrenzung von der Individualisierungsthese sei in Bezug auf die deutsche Situation hervorzuheben, dass die abnehmende gesellschaftliche Relevanz der Kirchen seit Ende der 60er Jahre nicht durch die Zunahme neuer religiöser Bewegungen – gedacht ist hier an den Bereich Esoterik – kompensiert worden sei. Die Entwicklungen in der religiösen (kirchlichen) Praxis bestätigten diese Analyse weitgehend. Formen nichtchristlicher (in concreto: esoterischer) Religiösität bildeten offensichtlich kein Gegenstück zur konventionellen Christlichkeit und seien von deren Rückläufigkeit mitbetroffen. Demgegenüber seien die Niederlande (insbesondere im Vergleich zu hochreligiösen Ländern wie Italien, etwas gemäßigter aber auch im Vergleich zu Westdeutschland) als eines der am stärksten entkirchlichten europäischen Länder überhaupt zu bezeichnen. Dort habe sich die Situation13 säkularisationstheoretisch gesehen insgesamt wesentlich progressiver entwickelt: Zwar habe die kirchliche Bindungskraft in den Niederlanden ebenfalls in den 60er 12 Vgl. im Einzelnen die Darstellung aaO., 98–174. 13 Vgl. im Einzelnen die Darstellung aaO., 196–239.

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Jahren stark abgenommen. Dies sei ebenfalls aufgrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse (Wirtschaftswachstum, Anhebung des Wohlstandniveaus, Ausbau des Sozialstaats und Bildungsexplosion) zustande gekommen, doch sei hervorzuheben, dass diese Abnahme bereits wesentlich früher eingesetzt habe und insgesamt wesentlich heftiger verlaufen sei als in Westdeutschland: Bereits in den 30er Jahren seien 15 % der Niederländer konfessionslos gewesen, in den 60er Jahren bereits mehr als ein Drittel und in den letzten Jahren bei bleibend steigender Tendenz sogar mehr als zwei Drittel. Die Abnahme der religiösen Praxis verlaufe in den Niederlanden anders als in Deutschland wegen des verhältnismäßig hohen Gottesdienstbesuchs wesentlich weniger rapide. Die Abnahme des Gottesglaubens hingegen, die wiederum ebenfalls wesentlich stärker als in Westdeutschland verlaufen sei, bestätige die allgemeine absteigende Tendenz noch einmal. Eine Auffälligkeit bilde das Phänomen, dass viele niederländische Kirchenverlasser den Glauben an eine transzendente Macht aufrecht erhalten haben. Der Kreis der Glaubenden sei also dort breiter als die Gruppe der Kirchenmitglieder. Wolle man nun diese sehr früh einsetzende, außerordentlich rapide verlaufende und überdurchschnittlich stark auftretende Entkirchlichung in den Niederlanden erklären, sei auf das für die Niederlande vergleichsweise überaus einflussreiche Phänomen der Versäulung14 hinzuweisen.

14 Die folgende, an den Text von Pollack und Rosta angelehnte Darstellung basiert auf verschiedenen Beiträgen zur Versäulungsforschung, die hier nicht im Einzelnen besprochen werden können. Hinzugezogen wurden etwa die Studien von: Hans J.C. Blom, Onderzoek naar verzuiling in Nederland. Status quaestionis en wenselijke ontwikkeling, in: Ders./Carly J. Misset (Hg.), Broeders sluit U aan. Aspecten van verzuiling in zeven Hollandse gemeenten, Den Haag 1985, 10–29; Hans Knippenberg, De religieuze kaart van Nederland, Assen/ Maastricht 1992; Jeroen Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006; Jacob Pieter Kruijt/Walter Goddijn, Versäulung und Entsäulung als soziale Prozesse, in: Joachim Matthes (Hg.), Soziologie und Gesellschaft in den Niederlanden, Neuwied 1965, 115–119; Arie Molendijk, Versäulung in den Niederlanden. Begriff, Theorie und lieu de m8moire, in: Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Große Kracht (Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2007, 307–327; Harry Post, Pillarization. An Analysis of Dutch and Belgian Society, Aldershot 1989; Paul Pennings, Verzuiling en ontzuiling. De lokale verschillen, Kampen 1991; Eric Sengers/Herman Noordegraaf, Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in den Niederlanden. Weltanschauliche Versäulung im Umbruch, in: Karl Gabriel/Hans-Richard Reuter/Andreas Kurschat/Stefan Leibold (Hg.), Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa. Konstellationen – Kulturen – Konflikte, Tübingen 2013, 247–277; Joris van Eijnatten/Fred van Lieburg, Niederländische Religionsgeschichte, Göttingen 2011; Peter van Rooden, Protestantism in the Netherlands to the present day, in: Alister McGrath/Darren C. Marks (Hg.), The Blackwell Companion to Protestantism, Malden 2004, 147–155; Friso Wielenga, Die Niederlande. Politik und politische Kultur im 20. Jahrhundert, Münster 2008; Ernest Zahn, Das unbekannte Holland. Regenten, Rebellen und Reformatoren, München 1993.

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Dieser Ausdruck bezeichnet in den Sozial- und Geschichtswissenschaften die Entstehung von religiös-konfessionellen und politisch-weltanschaulichen Gruppenkulturen, die nach innen auf religiöser oder weltanschaulicher Grundlage starke Netzwerke von gesellschaftlichen Organisationen, Verbänden und Vereinen ausbilden und sich nach außen hin stark voneinander abgrenzen. Die dadurch entstehenden säulenförmigen Organisationsstrukturen bestimmen das gesamte gesellschaftliche Leben und auch die Lebensführung des Individuums: So gab es in den Niederlanden etwa eine katholische, eine evangelisch-reformierte, eine liberale, eine sozialdemokratische und zeitweise auch eine kommunistische Säule, zu der unter anderen jeweils entsprechende Parteien, Schulen, Gewerkschaften, Universitäten, Tageszeitungen, Rundfunkstationen, Bäckereien, Krankenhäuser, Sport- und Freizeitvereine gehörten.15 Als der Vater der Versäulung gilt der calvinistische Kirchenmann und Politiker Abraham Kuyper, der 1879 nach der Einführung der liberalen Verfassung von 1848, in der unter anderem die Trennung von Kirche und Staat und die Einführung eines direkten Wahlrechts für Männer realisiert worden war, die erste politische Partei in den Niederlanden gründete, nämlich die neo-calvinistisch orientierte Anti-Revolutionäre Partei (ARP), die die Interessen der orthodoxeren Calvinisten beziehungsweise der Neocalvinisten vertrat.

Die Versäulung, so die in der Versäulungsforschung nicht unumstrittene, aber nach meiner Einsicht durchaus überzeugende und wichtige These von Pollack und Rosta, sei zwar durchaus als eine Reaktion auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse aufzufassen, stelle selber aber ein „antimodernes Phänomen“16 dar. Diese tendenziell antimodernistische versäulungstheoretische Einschätzung der Autoren17 ist das Resultat einer betont säkularisationstheoretischen Interpretation der Entstehung der Versäulung am Ende des 19. Jahrhunderts: Nachdem die erst nach dem Westfälischen Frieden von 1648 offiziell anerkannte Republik der Niederlande beziehungsweise der konfessionelle Staat in der Mitte des 18. Jahrhunderts von aufklärerischen und revolutionären Gedanken herausgefordert worden sei, so die ausführlichere Argumentation der Autoren, sei es zu einer Trennung von Kirche und Staat, der formalen Aufhebung der sozialen und politischen Diskriminierung der konfessionellen Minderheiten und der Bildung eines modernen Nationalstaats nach französischem Vorbild gekommen. 15 Zur aktuellen Debatte um den Begriff vgl. auch Peter van Dam, Staat van verzuiling. Over een Nederlandse mythe, Amsterdam 2011. 16 Pollack/Rosta, Religion, 206. In der niederländischen Versäulungsforschung wird z. B. sowohl eine Protektionsthese als auch eine Emanzipationsthese in Bezug auf die Modernisierung diskutiert, wobei bei der zumeist von Versäulungsbefürwortern vertretenen Emanzipationsthese ein positiver Zusammenhang zwischen Moderne und Versäulung angenommen wird. 17 Für diese kurze historische Übersicht orientiere ich mich außer an der Darstellung von Pollack/Rosta auch an der Darstellung von Frieso Wielenga, Schlaglichter niederländischer Geschichte. Ein Überblick vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart, in: Friso Wielenga/ Markus Wilp (Hg.), Die Niederlande. Ein Länderbericht, bpb Schriftenreihe 1624, Bonn 2015, 17–74 und auf Peter van Dam, Eine protestantische Nation? Zur Rolle der Religion in der niederländischen Gesellschaft, in: Wielenga/Wilp, Niederlande, 141–177.

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Nach der Etablierung des Königreichs der Niederlande Anfang des 19. Jahrhunderts sei dann das Erbe der Revolutionäre insofern weiterhin aufgenommen worden, als in der neuen sozialen Ordnung nicht mehr die Differenz bestimmter konfessioneller Gruppen, sondern die nationale Gemeinschaft autonomer Individuen betont worden sei, zu deren Erziehung der Protestantismus und besonders die zur öffentlichen Kirche erklärte reformierte Kirche der Niederlande habe beitragen sollen und wollen.18 Der Verflechtungszusammenhang zwischen der „Auflösung der religionsbasierten Sozialhierarchie“ und der dadurch ermöglichten „Freisetzung des Bürgers“, das „politische Projekt der Nationsbildung“, die Betonung „moralischer Erziehung“ und das Bemühen um eine „religionsneutrale staatliche Schulerziehung“ sowie das Streben liberaler Kreise nach einer „unbeschränkten Freihandelspolitik“, einem „wirtschaftlich[…] abgestuften Stimmrecht[…]“ und der „Schaffung einer nationalen Staatsverfassung“, so die Argumentation von Pollack und Rosta, könne tendenziell als Ausdruck einer „Modernisierung“ bezeichnet werden.19 Doch habe sich dann gegen diese Dominanz von freiem Bürgertum, staatlicher Bildungspolitik, öffentlicher reformierter Kirche und Hochkultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Protest des stärker orthodoxen Calvinismus konfessioneller Gruppen gewandt. Die ab 1848 eingeführte radikal liberale, moderne Verfassung sei dabei paradoxerweise gerade nicht den Liberalen, sondern den Konfessionsgebundenen zugute gekommen: Sowohl die strengen Calvinisten als auch die Katholiken hätten von der neuen Verfassung profitiert, wobei die vom neo-calvinistischen Kirchenmann und Politiker Abraham Kuyper vorangetriebene Abspaltung der (orthodoxen) Gereformeerde Kerken in Nederland zu einer weiteren Schwächung und schließlich zu einer Partikularisierung der nationalen reformierten Kirche (Nederlandse Hervormde Kerk) geführt habe. Kuypers Absonderungsstrategie (die sogenannte Politik der Anti-These) habe dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Entstehung der konfessionellen und weltanschaulichen Säulen (s. o.) geführt, die die bislang vertretene Leitidee von der Nation moralisch handelnder Individuen in Frage gestellt habe. Trotz teilweise moderner Elemente20 sei also die Versäulung als ein „antimodernes Phänomen“21 einzuordnen und, so die Pointe in Hinsicht auf den hier interessierenden 18 Die Darstellung von Pollack/Rosta orientiert sich hier besonders an den Forschungen von Peter van Rooden, Secularization, Dechristianisation and Rechristianisation in the Netherlands, in: Hartmut Lehmann (Hg.) Säkularisierung, Dechristianisierung und Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997, 131–153. Die antimodernistische Pointe der Interpretation entwickeln die Autoren jedoch eigenständig. 19 Pollack/Rosta, Religion, 203. 20 Zu denken ist etwa an die mit der Errichtung voneinander abgeschotteter Säulen verbundene Akzeptanz weltanschaulicher Pluralität, vgl. etwas ausführlicher Hennecke, Karl Barth, 34–39. 21 AaO., 206.

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vergleichsweise progressiven Verlauf der Entkirchlichung, sei es keinesfalls als zufällig zu betrachten, dass die öffentliche reformierte Kirche zwischen 1870 und 1930 mehr als ein Drittel ihrer Mitglieder verloren habe: Zwar seien nämlich einige der Ausgetretenen in die neu entstandenen strengeren reformierten Kirchen eingetreten, die meisten seien jedoch in die Gruppe der Konfessionslosen [also in nicht-konfessionelle Säulen; SH] hinübergewechselt.22 Als typisch antimoderner Effekt des Versäulungsprozesses sei dabei die Abnahme der funktionalen und vertikalen Differenzierung zugunsten einer Entdifferenzierung innerhalb der Säulen und die Einschränkung des freien Wettbewerbs aufgrund der Undurchlässigkeit der Milieugrenzen anzusehen, und als typisch für die Struktur der Versäulung sei des Weiteren die Eingebundenheit der ganzen Person in eine weltanschauliche Gemeinschaft und deren soziale Beobachtung zu betrachten. Dadurch hätten die Säulen zwar auch einen gewissen Schutz gegen die Folgen der ab 1870 einsetzenden wirtschaftlichen Modernisierung geboten, doch als sich die bereits angelegten Modernisierungstendenzen und Liberalisierungsprozesse dann durchgesetzt hätten, seien die Säulen konsequenterweise zusammengebrochen. Als der entscheidende Entsäulungsfaktor könne dabei der Anstieg des Wohlstands ab 1945 und der bis zum Ende der 60er Jahre konsequent betriebene Ausbau des Sozialstaats angesehen werden. Mit der Zunahme der staatlichen Fürsorge und der staatlichen Professionalisierung und interkonfessionellen Öffnung von Wohlfahrtsorganisationen habe sich das Individuum von der Einbindung in bestimmte konfessionelle oder auch weltanschauliche Milieus emanzipieren können und sei erstmals so etwas wie eine politische Öffentlichkeit und nationale Kultur jenseits der Säulen entstanden. Was die Säulen einst stark gemacht habe, so die Schlussfolgerung23 der Autoren, nämlich die soziokulturellen und politischen Implikationen religiöser Zugehörigkeit, habe auch zu ihrer Auflösung geführt. Bilde also sowohl das Aufkommen als auch das Abklingen der Versäulung eine gute Erklärung für die überaus hohe Kirchenaustrittsquote in den Niederlanden, sei schließlich zusätzlich noch zu erklären, warum in den Niederlanden der Kreis der Glaubenden nichtsdestotrotz als breiter anzusehen sei als der Kreis der Konfessionszugehörigen. Zwar könne das seit den 80er Jahren zu beobachtende Phänomen eines leichten Aufschwungs alternativer Religiösität beziehungsweise das Interesse an einer areligiösen Spiritualität im Rahmen der religiösen Individualisierungsthese erklärt werden, doch stelle dies wegen der schwachen soziokulturellen Organisiertheit der alternativen Religiosität die Säkularisierungsthese noch nicht in Frage. Im Vergleich zu Westdeutschland (und anderen europäischen Ländern) falle vielmehr der sowohl negativ als auch positiv si22 Vgl. aaO., 205. 23 Vgl. aaO., 210.

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gnifikante Zusammenhang zwischen der alternativen und der konventionellen Religiösität ins Auge. Während in den anderen sich säkularisierenden Ländern gerade eine Tendenz zur Einebnung der religiösen Differenz bestehe, zeichne sich also in den Niederlanden das insgesamt geschrumpfte Segment religiöser Orientierungen und Praktiken durch eine hohe religiöse Pluralität und Lebendigkeit auf der einen und durch beachtliche Spannungen und Konfliktfähigkeit auf der anderen Seite aus. Insgesamt gesehen könne gesagt werden, dass die Religion sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden auf der Individualebene von einem umfassenden Bedeutungsrückgang erfasst worden sei und dass diese Diagnose durch alternativ-religiöse Gegenbewegungen nicht in Frage gestellt werde. Die individualisierungstheoretische Annahme eines Formenwandels des Religiösen sei darum lediglich als eine Ergänzung der säkularisierungstheoretischen Behauptung einer Bedeutungsabschwächung der Religion anzusehen, ja, der Bedeutungsverlust des Religiösen sei aufgrund des positiven Zusammenhangs zwischen der Verflüssigung konkreter Transzendenz- oder Gottesvorstellungen und der Abnahme ihrer individuellen Relevanz mit der Transformation ihrer konventionellen Formen sogar eng verbunden.24 Je unbestimmter die religiösen Vorstellungen, so die Schlussfolgerung, desto höher die Wahrscheinlichkeit ihrer Diffusion in andere gesellschaftliche Bereiche und ihrer Angewiesenheit auf kulturelle Unterstützung. Die hier in aller Kürze präsentierten religionssoziologischen Einsichten von Pollack und Rosta sollen mir nun im Folgenden als eine Art Matrix für meinen Erklärungsversuch der möglichen Andersheit niederländischer Barthrezeptionen gegenüber den deutschsprachigen dienen. Auch wenn die Autoren der Studie deutlich machen, dass ideengeschichtliche Konstellationen oder auch kulturgeschichtliche Einsichten gegenüber den in erster Linie ökonomisch begründeten Modernisierungsprozessen als nur „kontingente Faktoren“25 zu bezeichnen seien, werden diese im Gesamtzusammenhang ihrer Darstellung durchaus mit einbezogen, und zwar in einer meiner Meinung nach ergänzungsbedürftigen Art und Weise. So weisen die Autoren mehrmals und meines Erachtens mehr als zu Recht auf den Zusammenhang zwischen dem Neocalvinismus Abraham Kuypers und der Entstehung des Phänomens der Versäulung hin.26 Der von Kuyper begründete Neocalvinismus kann dabei theologiege24 Vgl. die Darstellung von Pollack/Rosta, Religion, 224. 25 Pollack/Rosta, Religion, 206. 26 Vgl. etwa aaO., 201–207; für eine ausführlichere Darstellung des Gedankenguts von Kuyper und den Zusammenhang mit dem Phänomen der Versäulung vgl. Hennecke, Karl Barth, 22–39; vgl. dies., Unter Dichtern. Aspekte niederländischer Barthrezeptionen und die geisteswissenschaftliche Fakultät, in: Zeitschrift für dialektische Theologie 27, 2011, 62–83; Jeroen Koch, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006; Arie L. Molendijk, Neo-

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schichtlich als eine spezifisch neoorthodoxe Form eines Kulturprotestantismus eingeordnet werden, die sich im Kontext einer „vom Modernismus dominierten Kultur“27 im „Unterschied zum liberalen Kulturprotestantismus“28 dahingehend profilierte, dass der modernen Kultur eine spezifisch (orthodox- beziehungsweise neoorthodox-) christliche und calvinistische Kultur gegenübergestellt werden sollte. Der Erfolg der von Kuyper begründeten Form des Kulturprotestantismus ist nun für das Verständnis der spezifischen Entwicklung der niederländischen Barthrezeptionen insofern von höchster Bedeutung, als jedenfalls der Barthbefürwortende Teil dieser Rezeptionen sich gerade in äußerst kritischer Abgrenzung gegen den Neocalvinismus und die von Kuyper initiierte Versäulung entwickelt hat. Ist aus theologiegeschichtlicher Sicht der Name Kuyper nicht wegzudenken, wenn es um die Entstehung der Versäulung geht, so ist der Name Barth (beziehungsweise die Rezeption seiner Theologie im niederländischen Kontext) von Bedeutung in Bezug auf den Prozess der Entsäulung. Auch die Leistungen niederländischer Barthrezipienten sollten darum meines Erachtens den in erster Linie wohlstandstheoretisch und ökonomisch argumentierenden Studien von Pollack und Rosta hinzugefügt werden. Der Prozess der Entsäulung, der bereits vor dem Krieg eingesetzt hatte und Mitte der 60er Jahre mit der Anhebung des Wohlfahrtniveaus beschleunigt worden war, wurde außer durch ökonomische Umstände auch durch den politischen Neuanfang nach dem zweiten Weltkrieg vorangetrieben. Dazu gehörte unter anderem das Streben der alten sozialistischen/sozialdemokratischen Partei, sich zu einer großen Volkspartei zu entwickeln, die bewusst auch für Protestanten und Katholiken offenstehen wollte. Diesem Streben entsprach innerhalb der protestantischen Säule die von der Theologie Karl Barths inspirierte Bewegung des doorbraak, also des Versuchs der Durchbrechung versäulter Verhältnisse, der für viele Christen mit dem Eintritt in die sozialdemokratische Partei verbunden war.29 Zwar konnte die sowohl von Christen als auch von der Sozialdemokratie ambitionierte Durchbrechung der versäulten Struktur in der niederländischen Nachkriegszeit noch nicht realisiert werden und blieb die versäulte Welt der Vorkriegszeit nach dem Krieg zunächst noch weitgehend intakt, doch ist die seither zur Selbstverständlichkeit gewordene Regierungsteilnahme der Sozialdemokratie als ein in der niederländischen Politik neues Phänomen einzustufen30und die vorher recht unübliche Möglichkeit, als Christ sozialdemokratisch beziehungsweise eine nichtkonfessionelle Partei zu wählen, zu einer gängigen Option geworden.

27 28 29 30

calvinistisch cultuurprotestantisme. Abraham Kuypers Stone Lectures, in: Documentatieblad voor de Nederlandse kerkgeschiedenis 65, 2006, Nr. 1800, 5–19; Ders. Abraham Kuyper. Theoretiker der Moderne, in: Alf Christophersen/Friedemann Voigt (Hg.), Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II, München 2009, 116–129. Molendijk, Abraham, Kuyper, 129. AaO., 128. Vgl. die Darstellung in Hennecke, Barth in den Niederlanden, Kap. 8, bes. 303–311. Vgl. Wielenga, Schlaglichter, 62.

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Ging es also theologiegeschichtlich gesehen bei der von Abraham Kuyper angestoßenen Form einer protestantischen Kulturtheologie um eine gegenüber der liberalen Kulturtheologie neoorthodoxe Variante, hat sich der schwerpunktmäßig in der öffentlichen reformierten Kirche zu lokalisierende an Karl Barth orientierte Protestantismus in den Niederlanden zwischen diesen beiden bereits bestehenden Formen einer Kulturtheologie entwickelt, und zwar ebenfalls in Form einer Kulturtheologie. Diese dritte kulturtheologische Variante zeichnet sich meines Erachtens dadurch aus, dass sie als der Versuch beschrieben werden kann, jenseits des Gegensatzes zwischen der neocalvinistischen antithetischen Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und moderner Kultur auf der einen und der (brüchig gewordenen) liberalen synthetischen Verhältnisbestimmung auf der anderen Seite, eine neuartige Form der Verhältnisbestimmung zu entwickeln. Die diesbezüglichen vielfältigen Versuche lassen sich meiner Meinung nach am besten unter dem Nenner einer differenzierten und dialogisch geprägten Form der Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und moderner Kultur zusammenfassen. Denn faktisch wurde eine Verhältnisbestimmung entwickelt, bei der es weder um eine höhere Einheit (Synthese) wie in der liberalen Variante, noch um die polemische Unterschiedenheit (Antithese) wie in der neocalvinistischen Variante ging, sondern um eine die Andersheit des säkularen Anderen (beziehungsweise der eigenen Säkularität) implizierende und gebrochene Einheit (Differenz), die sich auch als der Versuch einer kritischen Solidarität mit der modernen Kultur beschreiben lässt, die theologisch gesprochen im partikular-universalistisch gerichteten Gedanken der kritischen Solidarität Gottes mit allen Menschen wurzelte.31 Diese zunächst noch skizzenhafte Darstellung weist bereits auf eine erste und sehr grundlegende Andersheit (kritisch-)befürwortender niederländischer Barthrezeptionen gegenüber der deutschen Wahrnehmung hin, was bei einer internationalen Perspektive ein Paradox entstehen lässt: Stammen nämlich die niederländischen Barthkritiker aus einem neocalvinistischen oder auch orthodox-calvinistischen Umfeld, das sich unter Einbeziehung teilweise moderner Strategien wie der Akzeptanz weltanschaulicher Pluralität defensiv gegenüber der Moderne verhalten hatte („anti-revolutionär“), so entwickelten sich die niederländischen Barth-befürwortenden Rezeptionen, die zumeist einem liberalen oder vermittlungstheologischem Umfeld entstammten, mit dem Ziel, sich in offen-modernitätsbejahender Weise mit einer konstruktiven Neuordnung des Verhältnisses zwischen moderner Kultur und Glauben zu beschäftigen.32 Dass 31 Vgl. hierzu ausführlicher die Zusammenfassung von Hennecke, Barth in den Niederlanden, 372–382. 32 Das nimmt nicht weg, dass sich in den 20er Jahren und dann wieder im Zuge der Entsäulung auch die neocalvinistischen und ab den 70er Jahren vereinzelt auch die orthodoxen Calvi-

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sich das Anliegen der niederländischen Barthbefürworter nur positiv zum Anliegen der deutschsprachigen Barthkritiker verhalten hat und verhält, erklärt sich also durch den andersgelagerten gesellschaftlichen, modernitätstheoretischen und theologiegeschichtlichen Kontext.

3.

Die Entwicklung der deutschsprachigen und niederländischen Barthrezeptionen im Vergleich

Trotz des allen barthbefürwortenden Barthrezipienten gemeinsamen grundlegend positiven Verhältnisses zur Moderne und zu gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, weisen diese Ansätze eine beachtliche Vielfalt auf und außerdem gab es aufgrund der überaus großen Bedeutung Karl Barths in den Niederlanden auch eine beachtliche Anzahl barthabweisender Rezeptionen. In sieben zeitgeschichtlich orientierten Schritten soll nun versucht werden, vor dem Hintergrund der für die jeweilige Rezeptionsphase charakteristischen (zeitgeschichtlichen) Rezeptionsbedingungen die Entwicklung deutscher und niederländischer Rezeptionsleistungen nicht nur in ihrer jeweiligen länderspezifischen Eigenart sondern auch in ihrer länderinternen Vielfalt aufzuzeigen. Unterschieden wird dabei (3.1) die Phase zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Machtübernahme der Nationalsozialisten (20er Jahre), (3.2) die Phase zwischen der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Besetzung der Niederlande (30er Jahre), (3.3) die Phase vom Ausbruch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (erste Hälfte 40er Jahre), (3.4) die Phase der Nachkriegszeit und der Beginn des Ost-Westkonflikts (zweite Hälfte der 40er Jahre und 50er Jahre), (3.5) die Phase des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus (50er/60er Jahre), (3.6) die Phase des gesellschaftlichen Paradigmenwechsels (60/70er Jahre) und (3.7) die Phase der wirtschaftlichen Stagnation, der Nachrüstungsdebatte und des Endes des Kalten Kriegs (70er/90er und darüber hinaus). Hinsichtlich der deutschen Situation orientiere ich mich an bereits bestehenden Deutungsversuchen,33 hinsichtlich der niederländischen Situation beziehe ich nisten in ein mehr offenes Verhältnis zu niederländischen Barthbefürwortern begeben wollten und teilweise auch begeben haben. Diese Reaktionen betreffen jedoch nicht den mainstream niederländischer befürwortender Barthrezeptionen; zur Polemik niederländischer Barthkritiker aus dem neocalvinistischen Bereich vgl. Hennecke, Karl Barth, 42–45.100–120.207–222; zu der marginalen vorsichtigen Öffnung auch sehr orthodoxer Calvinisten für Gedanken aus der Theologie Karl Barths vgl. die Studie von Niels van Driel, Het volk zonder applaus. De receptie van Karl Barth in hervormd-gereformeerde en christelijk-gereformeerde kring, Barneveld 2014. 33 Vgl. die Darstellung von Ralph P. Crimmann, Karl Barths frühe Publikationen und ihre Rezeption. Mit einem pädagogischem Anhang, Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie 45, Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas 1981; Michael Beintker

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mich für die zeitgeschichtlichen Informationen auf aktuelle Zusammenfassungen34 und hinsichtlich der theologiegeschichtlichen Entwicklungen im niederländischen Protestantismus auf eigene Studien35 und Vorarbeiten. Anzumerken ist, dass es sich im Folgenden ausdrücklich nur um den (ersten) Versuch eines internationalen Vergleichs handelt, der als solcher noch ergänzt und verfeinert werden könnte und sollte.

3.1.

Die 20er Jahre (1918–1933)

Deutschland Nach Dietrich Korsch36 zeichneten sich die deutschen zeitgeschichtlichen Rezeptionsbedingungen für die Theologie Karl Barths in den 20 er Jahren durch ein in sich vielfältig gestaltetes allgemeines Bewusstsein einer Krise aus, das bis in die heutige Zeit hinein alternativ historisch oder gerade antihistorisch gedeutet worden sei und die geistigen Institutionen unter Legitimationsdruck gesetzt habe. Wichtige zeitgeschichtliche Stichwörter seien genauerhin die Einsicht in die Krisenhaftigkeit der modernen kapitalistischen Gesellschaft überhaupt, das Ende des Kaiserreichs, die Einführung der Weimarer Demokratie, die Folgewirkungen des Versailler Vertrags, die russische Oktoberrevolution und zahlreiche, zumeist bereits in der Vorkriegszeit entstandene gesellschaftliche Reformbewegungen. Die vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Krisenbewusstseins einsetzende Rezeption der Theologie Karl Barths habe ihr Interesse insbesondere ab der zweiten Auflage des Römerbriefs von 1922 auf den stark negativ gefärbten Begriff der Dialektik zwischen Zeit und Ewigkeit gelenkt, wobei der von Barth selber unterterminologisch und vielfältig schillernd gebrauchte Begriff der Dialektik entsprechend unterschiedlich wahrgenommen worden sei: So habe etwa Paul Tillich ab 1923 einen objektiven Dialektikbegriff bei Barth unterstellt, während Rudolf Bultmann ab 1925 von einem eher platonischen Dialektiktyp ausgegangen sei. Mit der Akademisierung von Barths theologischer Produktion ab 1921 sei außerdem ein zunehmendes Interesse – krisengeschüttelter – kirchlicher Pragmatiker und das Interesse an einer spezifisch theologischen Krisendeutung zu verzeichnen. Demgegenüber habe je(Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016; Georg Pfleiderer, „Inkulturationsdialektik“. Ein Rekonstruktionsversuch zur modernitätstheoretischen Barthinterpretation, in: Michael Beintker/Christian Link/Michael Trowitzsch (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand. Beiträge zum Internationalen Symposium vom 1. bis 4. Mai 2003 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2005, 223–244. 34 Vgl. Wielenga, Schlaglichter. 35 Wenn nicht anders angegeben vgl. Hennecke, Karl Barth, passim. 36 Vgl. die Darstellung von Dietrich Korsch in, Beintker (Hg.), Barth Handbuch, 424–430.

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doch – so Korschs rezeptionsästhetisch gesehen originelle These – die „genaueste Rezeption der dialektischen Theologie Barths in seiner eigenen Kirchlichen Dogmatik“37 stattgefunden, wobei zwischen einer theologischen Begriffsbildung von kritischer Negation und der zeitgeschichtlichen Krisenerfahrung gerade sorgfältig unterschieden worden sei. Den Ausführungen Korschs können ergänzend Beobachtungen des Basler Theologen Ralph Crimmann38 hinzugefügt werden, der für diese erste Barthrezeptionsphase zwischen expliziten Barthbefürwortern und scharfen Kritikern unterscheidet: Falle unter die erste Gruppe etwa der Kreis um die Zeitschrift Zwischen den Zeiten, seien in Bezug auf die zweite Gruppe die Neulutheraner, die Reformierten, die an Pietismus und Schleiermacher anschließende Gemeinschaftsbewegung, die von Adolf von Harnack angeführten liberalen Theologen und schließlich Wissenschaftler wie Paul Althaus oder Erik Peterson zu nennen, die Barths Theologie als philosophisch abstrakt empfunden hätten.

Niederlande In Blick auf die niederländischen zeitgeschichtlichen Rezeptionsbedingungen der Theologie Karl Barths ist demgegenüber hervorzuheben, dass, so Wielenga, der Erste Weltkrieg für die neutral gebliebenen Niederlande zwar durchaus negative wirtschaftliche Folgen gehabt habe, doch das Land in den 20er Jahren „unter dem Einfluss des Ersten Weltkriegs einen Prozess der beschleunigten Industrialisierung und industriellen Modernisierung [durchlaufen habe] und damit die Basis für die guten wirtschaftlichen Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit [gelegt worden seien]“39. Auch politisch gesehen habe sich die Situation anders als in Deutschland eher durch Stabilität ausgezeichnet: Nach Beendigung des vom Neocalvinisten Kuyper am Ende des 19. Jahrhunderts angestossenen Schulstreits zugunsten der konfessionellen Schulen und einer Verfassungsänderung im Sinne eines allgemeinen (Männer-)Wahlrechts im Jahr 1917, sei eine – entlang der Säulenidentitäten (s. o.) organisierte – Parteienlandschaft entstanden, die bis 1960 stabil geblieben sei. Dabei bildeten bis 1933 zunächst die konfessionellen Parteien die Regierungsmehrheit, danach kamen auch die Liberalen hinzu und ab 1939 trugen auch die Sozialdemokraten zu dieser Mehrheit bei. Trotz der verhältnismässig stabilen Situation gab es durchaus auch Unzufriedenheit mit dem von Abraham Kuyper entwickelten Neocalvinismus einschließlich der dazugehörigen Versäulung und der entsprechend neoorthodoxen 37 AaO., 429. 38 Vgl. Crimmann, Frühe Publikationen, 174f. 39 Wielenga, Schlaglichter, 52.

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Kulturtheologie, die im Bereich des Protestantismus gerne auch anhand der Rezeption der Theologie Karl Barths artikuliert wurde. Nach einer anfänglichen (1919–1926) Offenheit für Barths Römerbrieftheologie in allen theologischen Strömungen und Milieus (neocalvinistisch, liberal, vermittlungstheologisch/ ethisch, konfessionell und gemischt-studentisch), kam es spätestens ab 1926 zu einer deutlichen Polarisierung zwischen den neocalvinistischen/orthodoxen Rezeptionen einerseits und den liberalen/vermittlungstheologischen/konfessionellen Rezeptionen andererseits: Im neocalvinistischen/orthodoxeren Spektrum würdigte man zunächst wohlwollend Barths theozentrischen Ansatz, seine Kontinuität zur Theologie der Reformation und seine Diskontinuität mit der modernen Theologie und der Moderne überhaupt, lehnte aber von Anfang an auch seine dialektische Denkform, seinen Intellektualismus und Agnostizismus und die in seiner Theologie gefühlte Unmöglichkeit einer christlichen Ethik ab. Ab 1926 entwickelte sich die anfängliche Offenheit innerhalb des neocalvinistischen Spektrums zu einer stark ablehnenden Haltung. Demgegenüber formierte sich parallel dazu das breite (dem studentisch-gemischten, liberalen, konfessionellen und ethisch/vermittlungstheologischen Milieu entstammende) Spektrum der Barthbefürworter, das überwiegend dem Bereich der öffentlichen reformierten Volkskirche zuzuordnen ist. Bereits ab 1919 wertschätzte man im konfessionell gemischten studentischen Milieu, dass Karl Barths Theologie einen dritten Weg jenseits der überfälligen Alternative zwischen dem traditionellen Glauben auf der einen und dem modernen Lebensgefühl auf der anderen Seite geboten habe. Auch im liberalen Milieu fand bereits ganz zu Anfang eine die Modernität Barths positiv begrüssende Rezeption statt. So deutete der liberale Theologe Karel Roessingh Karl Barths Römerbrieftheologie als Ausdruck einer allgemeinen kulturpessimistischen Stimmung und interpretierte sie gerade in Kontinuität zur liberalen Theologie. Auch Barths dialektische Denkform wurde von ihm positiv im Sinne einer Ermöglichung der relativen Eigenständigkeit der menschlichen gegenüber der göttlichen Sphäre gedeutet.40 Ab 1926 wurde die Gruppe der Barthbefürworter durch ehemals konfessionelle und vermittlungstheologisch/ethisch orientierte Theologen verstärkt, die ebenfalls positiv auf die Modernität Barths und die ihr implizite Alternative zum Neocalvinismus zu sprechen kamen. Betrachtete der konfessionelle Theologe Theodorus Haitjema als die eigentliche und insbesondere für den positiv-dogmatischen Neocalvinismus relevante Herausforderung der dialektischen Theologie Karl Barths ihren gegen die Verdinglichung Gottes gerichteten erkenntnistheoretischen Ansatz,41 so interpretierte der ethische/vermittlungstheologische Theologe Oepke Noordmans Barths Römerbrieftheologie 40 Vgl. Hennecke, Karl Barth, 63–71. 41 AaO., 72–81.

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in Sinne einer radikal modernen, in ihrem Kulturoptimismus allerdings gerade gebrochenen Kulturtheologie, als deren wichtigste Elemente er die dialektische Denkform, den theologischen Aktualismus, die diskontinuierliche Zeitauffassung, den Sinn für Fragmentierung, die Betonung des konkreten leiblichen und bedürftigen Alltagsmenschen und die Eurozentrismuskritik hervorhob. Lag die gefühlte Modernität von Barths Dialektik für ihn genau wie für Roessingh im – die moderne Differenzieung der Sphären und das Ende des christlichen Zeitalters spiegelnde – Auseinanderreissen des göttlichen und des menschlichen Bereichs, so kommt für Noordmans nun ein über die Moderne hinausgehendes Surplus hinzu, dass er in der Betonung der befreienden Solidarität Gottes mit dem Menschen sah, als deren konsequente Verlängerung er eine Ethik des zwischenmenschlichen Für-einander-Seins betrachtete.42

3.2

Die 30er Jahre (1933–1938/1940)

Deutschland Als die entscheidenden zeitgeschichtlichen Rezeptionsbedingungen für die deutsche Barth-Rezeption in den 30er Jahren sind nach Martin Greschat43 der Erfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen von 1930, die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Jahr 1933, der Anfang der Judenverfolgungen und der Beginn des zweiten Weltkriegs hervorzuheben. Theologiegeschichtlich bedeutsam sei das Erscheinen der Kirchlichen Dogmatik ab 1932, der Zerfall des Kreises um die Zeitschrift Zwischen den Zeiten, der ab 1933 anbrechende Kirchenkampf, Karls Barths Eintritt in die SPD im Jahr 1931 und seine Rückkehr in die Schweiz im Jahr 1935 aufgrund seiner Entlassung in Deutschland. Vor diesem Hintergrund, so kann mit der Darstellung von Ralph Crimmann44 ergänzt werden, erkläre sich, dass die Rezeption der frühen dialektischen Theologie abgerissen sei und sich die Aufmerksamkeit auf den aktuellen zeitgenössischen Barth gerichtet habe, eine Entwicklung, die durch Barths federführende Mitwirkung bei der Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 noch einmal verstärkt worden sei. Außer der Barmer Theologischen Erklärung, so wieder Greschat,45 hätten insbesondere auch die 1933 publizierte Schrift Theologische Existenz heute und Barths Kritik an der Bekennenden Kirche nach seiner Rückkehr in die Schweiz das Aufsehen der Öffentlichkeit auf sich gezogen. Dasselbe gelte für den Vortrag Rechtfertigung und Recht aus dem 42 43 44 45

AaO., 121–158. Vgl. den Beitrag in: Beintker (Hg.), Barth Handbuch, 430–436. Vgl. Crimmann, Frühe Publikationen, 180. Vgl. die Darstellung in: Beintker (Hg.), Barth Handbuch, 430–436.

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Jahr 1938 und Barths Brief an Josef Hrom#dka aus demselben Jahr, wobei es bezüglich des letzteren in Deutschland selber und insbesondere auch in der Bekennenden Kirche zu großer Empörung gekommen sei. Niederlande Auch die Niederlande wurden Anfang der 30er Jahre von der weltweiten großen Depression getroffen, was zu einer langanhaltenden Wirtschafskrise führte. Eine Gesundung der Wirtschaft und eine Abnahme der hohen Arbeitslosigkeit, so der zusammenfasende Rückblick,46 seien erst ab 1936 aufgetreten. Insgesamt gesehen stünden die 30er Jahre in den Niederlanden für eine konservative, auf Ordnung und Autorität bedachte Mentalität, die insbesondere auch von dem in den 30er Jahren lange regierenden antirevolutionären (also neocalvinistischen) Ministerpräsidenten Colijn repräsentiert worden sei. Theologiegeschichtlich gesehen47 konsolidierte sich die sich bereits in den 20er Jahren aufgetretene Polarisierung zwischen Barthkritikern und Barthbefürwortern, wobei das Für und Wider in Bezug auf Barth gerade auch angesichts der einschlägigen Bedeutung Barths für die Niederlande als kennzeichnend für die gesamte Debattenlage innerhalb des niederländischen Protestantismus angesehen werden kann. Die Gruppe der neocalvinistischen Barthkritiker wurde von Gerrit Cornelis Berkhouwer vertreten, der Barth die Destruktion der Korrelation zwischen Offenbarung und Glauben, seine universalistische Prädestinationslehre, sein zu liberales Schriftverständnis und seine an liberale Konzepte erinnernde Ablehnung einer Verbindung von Religion und (christlicher) Politik vorwarf. Berkhouwers die liberalen Theologen repräsentierender Gegenspieler Gerrit Jan Heering würdigte hingegen vorsichtig Barths letztlich unhistorische Geschichtsauffassung (Konzept der Urgeschichte), Barths Ablehnung einer religiösen Empfänglichkeit des Menschen für die Offenbarung, Barths Kritik am biblizistischen Schriftverständnis der Orthodoxie und Barths Unterscheidung zwischen Glaube und Offenbarung. Die Gruppe der eigentliche Barth-Befürworter formierte sich nun in den 30er Jahren gleichsam zwischen dem orthodoxen und dem liberalen Pol zu einer breitgefächerten neuen Strömung innerhalb des niederländischen Protestantismus, und zwar weiterhin im Modus einer radikal-modernen Kulturtheologie. Zusammengefasst lassen sich innerhalb der neu entstandenen Strömung drei Bereiche unterscheiden, in denen das Verhältnis zwischen Glaube und Moderne jeweils neu und in konstruktiver Absicht bestimmt wurde, nämlich erstens ein auf die versäulte und die damit zusammenhängende zunehmend entkonfessionalisierte (vgl. Abschnitt 2) Situation in 46 Vgl. Wielenga, Schlaglichter, 51–56. 47 Vgl. für den gesamten Abschnitt Hennecke, Karl Barth, 205–236.

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den Niederlanden bezogener kirchenreformerischer Bereich, zweitens ein die religionsplurale Situation in den Gebieten der niederländischen Mission neu reflektierender Bereich und drittens ein – den versäulten Strukturen traditionell entzogener – literarischer Bereich: Als repräsentativ für den ersten Bereich sind die Autoren des Sammelbands Die Offenbarung der Verborgenheit48 anzusehen, deren bevorzugte Themen die Frage nach der Gotteserkenntnis und diejenige nach dem Status und der Autorität eines gemeinsamen Bekenntnisses der öffentlich reformierten Kirche waren.49 Anders als in Deutschland spielte die Bekenntnisfrage in der öffentlichen reformierten Volkskirche im Zusammenhang mit der ihr eigenen Pluriformität bereits seit 1816 eine wichtige Rolle, was immer wieder zu kirchlichen Reorganisationsbewegungen geführt hatte. In Abgrenzung insbesondere gegen den Neocalvinismus suchten die Autoren des Sammelbands in den 30er Jahren nach einem Konzept für eine nicht nur bekennende, sondern auch weltoffen und weltbezogen bekennende Kirche, die an dem (ehemals) volkskirchlichen Charakter der öffentlichen reformierten Kirche trotz deren zunehmender Minorisierung (vgl. Abschnitt 2) festhaltenden sollte. Methodisch gesehen ist der Beitrag von Kornelis Heiko Miskotte hervorzuheben, der im Anschluss an Barths biblische Orientierung als Alternative zu sowohl der in liberalen Kreisen favorisierten historisch-kritischen Methode als auch zum Biblizismus der Orthodoxie Ansätze zu einer rein textorientierten phänomenologisch-exegetischen Methode entwickelte, die eine prinzipielle Vergleichbarkeit theologischer und nicht-theologischer Texte unterstellte und beförderte. Für den zweiten Bereich kann stellvertretend der auf einen religiösen Pluralismus hin orientierte Ansatz des Religionswissenschaftlers und Missionstheologen Hendrik Kraemer genannt werden,50 der methodisch gesehen insofern innovativ zu nennen ist, als er die dialektische Vorgehensweise aus Karl Barths Religionstheorie zwar aufgriff, diese aber gerade auch in Bezug auf die Umgangsweise mit der Religion in Richtung auf ein mehr dialogisches Denken hin modulierte. In dem dritten, dem literarischen Bereich befürwortender Barthrezeptionen stand das auch gesellschaftskritisch orientierte Gespräch mit der ästhetischen Moderne im Zentrum. Ging es etwa dem ursprünglich liberal-reformierten Literaten und Literaturtheoretiker Roel Houwink im Anschluss an Barths Aussagen zum nur hinweisenden Zeugnischarakter des christlichen Glaubens um eine existentielle und weltoffene Alternative zum bestehenden Gegensatz zwischen einer (meistens sehr moralinsauren) christlichen Kunst auf der einen und einem rein ästhetisch 48 Vgl. Simon Frederik Hendrik Jan van der Sprenkel u. a. (Hg.), De openbaring der verborgenheid, Baarn 1934. 49 Vgl. Hennecke, Karl Barth, 238–257. 50 Vgl. den Beitrag von Verf. in diesem Band.

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orientierten modernen Kunstideal auf der anderen Seite, publizierte der ursprünglich neocalvinistische und auch im niederländischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus organisierte Zeitungsmann Henk van Randwijk in den Jahren der Wirtschafskrise zwei äußerst erfolgreiche versäulungs- und gesellschafkritische Barthromane.51

3.3

Die 40er Jahre (1938–1945)

Deutschland In der ersten Hälfte der 40er Jahre ergab sich durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine grundlegende Veränderung der Rezeptionsbedingen für sowohl die Theologie als auch die Zeitgenossenschaft Karl Barths, da, so Peter Zocher,52 sowohl internationale Publikationen als auch Auftritte weitgehend unmöglich geworden seien. Vor diesem Hintergrund habe sich dann bis weit in die Kreise der Bekennenden Kirche hinein die Tendenz zu einer betont unpolitischen Barthrezeption entwickelt, mit der man (vermeintlich) wieder an den frühen Barth habe anknüpfen wollen. Niederlande Die traditionell neutralen Niederlande wurden im Mai 1940 von den Deutschen besetzt. Die fünfjährige Besatzungszeit wird von der niederländischen Geschichtsschreibung53 inzwischen sehr nuanciert beschrieben: Stehe der Zeitraum insgesamt für Unterdrückung, Terror, Mord an den Juden, Deportationen und Zwangsarbeit, lasse er sich bei genauerer Betrachtung in verschiedene Phasen unterteilen, nämlich erstens die Phase der Gleichschaltung, zweitens die Phase der Verstärkung der antijüdischen Maßnahmen, drittens die Phase des zunehmenden Drucks auf die nichtjüdische Bevölkerung und des Widerstands, vierten die Phase der Landung der Alliierten und der Befreiung des südlichen Teils der Niederlande, fünftens die Phase des Hungerwinters und der wirtschaftlichen Demontage im nördlichen Teil und sechstens schließlich die Phase der Befreiung ab März 1945. Als theologiegeschichtlich relevant ist hervorzuheben,54 dass fast alle in diesem Zeitraum auf protestantisch-kirchlicher Seite verfassten Widerstandsdokumente von barthbefürwortenden Mitgliedern der öffentlichen reformierten 51 52 53 54

Vgl. Hennecke, Karl Barth, 179–201. Vgl. Beintker, Barth Handbuch, 437–440. Vgl. die Darstellung von Wielenga, Schlaglichter, 56–61. Vgl. ausführlicher Hennecke, Karl Barth, 263–283.

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Kirche verfasst worden sind. In Hinsicht auf den noch zukünftigen gesellschaftlichen Neuanfang nach dem Krieg ist außerdem die von den Deutschen vorgenommene Inhaftierung von gesellschaftlich und kirchlich führenden Niederländern im Gefangenenlager St. Michielsgestel von Bedeutung, da dadurch – unbeabsichtigt – erstmals ein Austausch zwischen den traditionell voneinander abgeschotteten jeweiligen Säuleneliten und auch zwischen den Angehörigen der verschiedenen Strömungen innerhalb der öffentlich-reformierten Kirche möglich geworden war. Das führte in beiden Fällen zu einer besseren Zusammenarbeit nach dem Krieg und ermöglichte entscheidende Schritte sowohl in Hinsicht auf die gesellschaftliche Neuordnung (einschließlich des Versuchs der Durchbrechung der Versäulung) als auch in Hinsicht auf die kirchenreformerischen Bemühungen innerhalb der öffentlichen reformierten Kirche.

3.4

Die Zeit nach 1945

Deutschland Als wichtige Stichworte für die Rezeptionsbedingungen barthscher Theologie in der deutschen Nachkriegszeit ergeben sich der wirtschaftliche, soziale und kirchliche Wiederaufbau sowie die Situation des Kalten Kriegs, die Westintegration Westdeutschlands und die Suche nach einer Verhältnisbestimmung zur Hitlerzeit. Als theologiegeschichtlich bedeutsam, so Zocher,55 sei hervorzuheben, dass in dieser Zeit an den Universitäten viele Lehrstühle mit Barthianern besetzt worden seien, die die theologischen und kirchenpolitischen Diskussionen nun mitbestimmt hätten. Von Interesse seien jedoch weniger Karl Barths theologische Publikationen gewesen, sondern vor allem seine aktuellen politischen und kirchenpolitischen Beiträge und also Themen wie die Versöhnung mit Deutschland, das Engagement gegen den Kalten Krieg, die Sorge um eine christologisch bestimmte Neuordnung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, die damit verbundene Hinwendung zur Gemeinde, die Verantwortungsübernahme für das Geschehene und die Überwindung der Frontstellung gegen die soziale Demokratie.

55 Vgl. den Beitrag von Peter Zocher in: Beintker (Hg.), Barth Handbuch, 440–444.

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Niederlande Die niederländische Nachkriegszeit, so die Darstellung Wielengas,56 habe sich allgemeingeschichtlich durch zwei gegenläufige Bewegungen ausgezeichnet: Einerseits habe man versucht, wieder an die 30er Jahre anzuknüpfen, andererseits habe es aber auch – insbesondere in der sozialdemokratischen Partei – politische Erneuerungsbestrebungen mit dem Ziel der Durchbrechung der durchaus noch intakten versäulten Strukturen der Vorkriegszeit gegen. Zwar habe dieses Vorhaben derzeit noch nicht verwirklicht werden können, doch sei die selbstverständliche sozialdemokratische Mitgestaltung der Regierungspolitik versäulungstheoretisch gesehen ein neues Phänomen gewesen. Dem politischen Versuch der Durchbrechung der Versäulung und der Öffnung der sozialdemokratischen Partei für konfessionelle Wähler entsprachen auf protestantisch-kirchlicher Seite zahlreiche ebenfalls auf die Durchbrechung der Versäulung hin angelegte Initiativen,57 die zu einem großen Teil von den Barthbefürwortern entwickelt und vorangetrieben wurden. Hervorzuheben ist die 1945 von sieben Amsterdamer Pfarrern und Barthianern herausgegebene und Aufsehen erregende Broschüre Wat bezielt ze58(Was treibt sie an?; Übers. SH), in der diese ihren Übertritt in die sozialdemokratische Partei bekanntgaben. Theologiegeschichtlich bedeutsam ist weiterhin, dass die bereits in der Vorkriegszeit verstärkt in Angriff genommenen kirchenreformerischen Bestrebungen nun zu einem Ende kamen: 1949 wurde von der Synode der öffentlichen reformierten Kirche der Entwurf für ein neues gemeinsames Bekenntnis verabschiedet und 1951 kam es zu einer neuen, stark apostolatstheologisch gefärbten neuen Kirchenordnung. Beide Dokumente gelten als stark barthianisch beeinflusst und haben mit dafür gesorgt, dass Karl Barth in den Niederlanden bis in die 60er/70er Jahre hinein als ein äußerst populärer, ja als ein dominanter Theologe wahrgenommen wurde. Als Spiegel59 sowohl versäulungskritischer als auch kirchenrefomerischer Bemühungen kann die im Jahr 1947 von dem Naturwissenschaftler und reformierten Christen Cornelis Johannes Dippel publizierte und sehr einflussreiche Studie Kerk en wereld in de crisis60 (Kirche und Welt in der Krise; Übers. SH) angesehen werden. Angesichts der Erfahrung des Nihilismus, des Endes des christlichen Zeitalters und der notwendigen Kritik an der neocalvinistischen 56 57 58 59 60

Vgl. Wielenga, Schlaglichter, 61–64. Vgl. Hennecke, Karl Barth, 303–311. Johan J. Buskes (u. a.), Wat bezielt ze?, Amsterdam 1945. Vgl. Hennecke, Karl Barth, 311–324. Cornelis J. Dippel, Kerk en wereld in de crisis. Een appHl tot christelijke solidariteit in een democratisch-socialistische politieke en maatschappelijke omwenteling, ’s Gravenhage 1947.

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Antithesen-Politik beschäftigte sich auch dieses Buch unter durchgängig positiver Bezugnahme auf Schriften Karl Barths mit dem Versuch einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen christlichem Glauben und Politik, als deren wichtigste Elemente die christliche Solidarität mit der säkularen Welt und die Ermöglichung einer sachlich-thematisch ausgerichteten Zusammenarbeit mit Nicht-Christen anzusehen seien. Methodisch gesehen knüpfte Dippel an die von Miskotte angeregte phänomenologisch-exegetische komparative Methode an, mit deren Hilfe er theologische und zeitgenössische säkulare Themen immer wieder aufeinander bezog. So gelang es ihm, die zeitgenössische Erfahrung des Nihilismus und (verdrängte) Erfahrungen von Absurdität und Nicht-Identität derart theologisch relevant zu machen, dass er sie von der Erfahrung der Absurdität beziehungsweise Nicht-Identität innerhalb des gott-menschlichen Verhältnisses her in einen anderen, nämlich befreienden theologischen und auf zwischenmenschliche Solidarität auch mit Nicht-Christen ausgerichteten Zusammenhang rückte. So gesehen vertritt auch Dippel das Anliegen einer radikalmodernen Kulturtheologie: Der neocalvinistischen Verquickung von Glauben und Politik/Kultur beziehungsweise Gott und Welt wird in Anlehnung an Barths Dialektik eine Trennung dieser Bereiche gegenübergestellt, die sich über die Trennung hinausgehend aber letztlich als die Ermöglichung einer gottmenschlichen und dann auch zwischen-menschlichen befreienden kritischen Solidarität erweist. Knüpften die versäulungstheoretisch interessierten Theologen zumeist weiterhin an barthsche Schriften an, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg publiziert worden waren, kam in der niederländischen Nachkriegszeit zusätzlich auch ein an den aktuellen politischen und kirchenpolitischen Schriften Barths orientiertes Interesse auf. Das läßt sich etwa an dem Oeuvre des liberal-reformierten Pazifisten und späteren Professors für Ethik an der städtischen Universität von Amsterdam, Krijn Strijd, beobachten, der sich mit Barth im Zusammenhang nach der Frage eines christlichen Umgangs mit der deutschen Schuld, seiner Stellungnahmen zum Kalten Krieg und der weltweiten sozialen Frage auseinandersetzte.61

61 Vgl. die Übersicht in Susanne Hennecke, Barth??? Twee vrijzinnige portretten, in: Kerk en Theologie, 59, 2008, 230–250.

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Die 50er/60er Jahre

Deutschland Als die für die deutsche Situation wichtigsten Rezeptionsbedingungen für die 50er und 60er Jahre sind außer dem Kalten Krieg die Westintegration Westdeutschlands und das westdeutsche Wirtschaftswunder hervorzuheben. Letzeres bildete die Grundlage für die Wohlstands- und Bildungsexplosion am Ende der 60er Jahre, in deren Zusammenhang (vgl. Abschnitt 2) auch der zwar schleichende, sich aber doch unerbittlich durchsetzende Prozess der Minorisierung der christlichen Kirchen einzuordnen ist. In den EKD-internen Diskussionen um die kirchliche Neuordnung, so Peter Zocher speziell zu den theologiegeschichtlichen Rezeptionsbedingungen für die Theologie Karl Barths in diesem Zeitraum,62 habe sich der oftmals explizit politische Barthianismus der Nachkriegszeit letztlich nicht durchsetzen können. Hingegen seien die 50er Jahre, so Ulrich Körtner,63 in theologiegeschichtlicher Hinsicht als die Blütezeit Rudolf Bultmanns zu charakterisieren. Dementsprechend habe sowohl auf der Ebene der Kirchenleitungen als auch in wissenschaftlichen Fachkreisen der Streit um die existentiale Bibelinterpretation und die Entmythologisierung des Neuen Testaments die Debattenlage beherrscht, was die Rezeptionsbedingungen für die Theologie Karl Barths insofern geprägt habe, als Barths Theologie nun im Kontext eines sich formierenden Gegensatzes zwischen einer Barthschule und einer Bultmannschule wahrgenommen worden sei. Insgesamt habe sich als der Hauptvorwurf der Bultmann-, aber auch der Tillich- und Bonhoefferanhänger gegenüber den Barthbefürwortern die Vernachlässigung des hermeneutischen Problems herauskristallisiert, auch wenn neuere Vertreter der Bultmannschule gerade angestrebt hätten, mit einer hermeneutisch interessierten Barthinterpretation die verhärteten Fronten zwischen den Barth- und Bultmannschülern aufzulockern. Schließlich habe sich Anfang der 60er Jahre eine neue, gänzlich abweisende Form der Barthrezeption entwickelt, für die programmatisch die von Wolfhart Pannenberg in Verbindung mit Rolf Rendtorff, Trutz Rendtorff und Ulrich Wilcken herausgebrachte Schrift Offenbarung als Geschichte64 gestanden habe. Niederlande Auch in den Niederlanden standen in den 50er und den 60er Jahren der gesellschaftliche Wiederaufbau und die Westintegration im Vordergrund, wodurch 62 Vgl. den Beitrag in: Beintker (Hg.), Barth Handbuch, 440–444. 63 Vgl. den Beitrag in: Beintker (Hg.), Barth Handbuch, 444–450. 64 Wolfhart Pannenberg u. a. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961.

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sich insofern entscheidende Weichenstellungen ergaben, als zum einen der Grundstein für ein umfassendes System der sozialen Fürsorge gelegt wurde und zum anderen die bislang politisch neutrale Haltung der Niederlande zugunsten einer Einbindung in die NATO und den europäischen wirtschaftlichen Integrationsprozess aufgegeben wurde. Dabei orientierte man sich insbesondere im wissenschaftlichen Bereich zunehmend weniger an Deutschland und immer stärker an den Vereinigten Staaten, was mit einiger Verzögerung ab den 80er Jahren auch für die Theologie und damit für die Rezeptionbedingungen der Theologie Karl Barths eine Rolle spielte. Wichtige Stichwörter für die 60er Jahre, so die niederländische Selbstdarstellung,65 seien der Ruf nach mehr politscher Partizipation, der Entsäulungsprozess im Kontext der zunehmenden Wohlfahrt (vgl. auch Abschnitt 2) und schliesslich die damit verbundene Säkularisierung und Individualisierung. Als typisch niederländische Entwicklung könne dabei die vergleichsweise geringe Kluft zwischen Establishment und Protestgeneration angesehen werden, da die Ziele und Forderungen der letzteren ab Mitte der 60er Jahre von den alten Säuleneliten im Allgemeinen wohlwollend aufgegriffen und integriert worden seien. Der Ausbau des Sozialstaats und das Aufkommen politisch sich mündig verstehender BürgerInnen erklärten auch die ab Mitte der 60er Jahre auftretende Implosion der seit 1918 politisch stabilen Parteienlandschaft, bei der die konfessionellen Parteien ihre jahrzehntelange politische Mehrheitsposition verloren und sich die eher linken Parteien zu einer antikonfessionell motivierten Polarisierungsstrategie entschlossen hätten. Dem sich auch in der rapiden Zunahme von Kirchenaustritten (vgl. Abschnitt 2) spiegelnde zunehmenden Bedeutungsverslust der (christlichen) Religion, den auch die an sich erfolgreichen kirchlichen Reorganisationsbemühungen nicht aufhalten konnten, entsprach auf Seiten des Protestantismus ab den 60er Jahren der theologiegeschichtlich gesehen bedeutsame Versuch, die vielen niederländischen protestantischen Kirchenspaltungen mit dem sogenannten Zusammen-unterwegs-Prozess zu überwinden. Die angestrebte Kirchenfusion der beiden großen reformierten Kirchen (und der kleinen lutherischen Kirche) gelang allerdings tatsächlich erst im Jahr 2004 mit dem Entstehen der heutigen Protestantse Kerk in Nederland (PKN). Für das anfängliche Zustandekommen des Vereinigungsprozesses der beiden großen reformierten Kirchen (der öffentlichen reformierten Volkskirche und den neocalvinistischreformierten Kirchen) darf die Bedeutung der (sich verändernden) Wahrnehmungen der Theologie Karl Barths in den Niederlanden wiederum nicht unterschätzt werden, gilt doch gerade die zweite große Barthstudie von Gerrit

65 Vgl. Wielenga, Schlaglichter, 61–69.

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Cornelis Berkouwer aus dem Jahr 195466 als dasjenige Buch, dass zur Annäherung der barthablehnenden Neocalvinisten an die in der öffentlich reformierten Kirche dominanten Barthbefürworter und damit zur Überwindung eines für den niederländischen Protestantismus derzeit bestimmenden Gegensatzes beigetragen hat. Der weitaus bedeutsamste Theologe dieses Zeitraums ist allerdings zweifelsohne Kornelis Heiko Miskotte und damit der bedeutsamste Vertreter der sich in diesem Zeitraum etablierenden barthianischen radikal-modernen Kulturtheologie. Miskottes überaus bekanntes und bereits 1966 ins Deutsche übersetze Buch aus dem Jahr 1956, Wenn die Götter schweigen (ursprl.: Als de Goden zwijgen)67 bot eine durchgängige Rezeption und Rekontextualisierung von Barths §17 der Kirchlichen Dogmatik und rückte damit wie auch die Arbeiten von Kraemer und Dippel wiederum die Religionsthematik bei Barth in den Vordergrund.68 Dabei diente Miskotte konkret der aufkeimende gesellschaftliche Nihilismus der Nachkriegszeit als eine zeitgenössische Illustration dessen, was Barth im §17.2 als den immanenten Widerspruch der Religion thematisiert hatte. Anders als Barth behauptete Miskotte allerdings auch eine produktive, verheißungsvolle und dialogische Verbindung zwischen dem in der aktuellen Situation als Nihilismus konkretisierten Unglauben und dem Glauben. Überhaupt ging es Miskotte um die Erfahrbarkeit und praktische Relevanz des Glaubens: In Anknüpfung an die von Barth inspirierte Abkehr von der begrifflich-deduktiven allgemeinen Gotteserkenntnis zu einer namenstheologisch-induktiven besonderen Gotteserkenntnis führte er Barths Ansatz insofern kulturtheologisch relevant weiter, als er Barths erste erkenntnistheoretische Umkehrung mit einer weiteren erkenntnistheoretischen Umkehrung ergänzte, die theologisch auf die Vorordnung der befreienden Erfahrbarkeit der besonderen Gotteserkenntnis und eine damit verbundenen Praxis abzielte. Des Weiteren ergab sich bei Miskotte in Konsequenz der von ihm entwickelten phänomenologischen Methode immer wieder ein breites hermeneutisches Interesse an der Verbindung zwischen biblisch-theologischen und kulturwissenschaftlichen Einsichten. Der Ausgangspunkt war dabei in dialogischer Variation zu Barths dialektischem Gegensatz zwischen Offenbarung und Erfahrung die prinzipielle Vergleichbarkeit biblisch-theologischer und nicht-biblischer literarischer Texte und die Möglichkeit, nicht-theologische Textzusammenhänge durch das Aufspüren von 66 Gerrit Cornelis Berkouwer, De triomf der genade in de theologie van Karl Barth, Kampen 1954. 67 Kornelis H. Miskotte, Als de goden zwijgen. Over de zin van het Oude Testament, Amsterdam 1956; vgl. ders., Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments (übers. v. H. Stoevesandt), München 1966. 68 Vgl. Susanne Hennecke, Barth-Rezeption als Sinngebung des Sinnlosen bei Kornelis H. Miskotte. Kulturtheologie IV, in: Hennecke, Karl Barth in den Niederlanden, 330–367.

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Äquivalenten in theologische Zusammenhänge zu übersetzen und von dieser Übersetzung her die befreiende Relevanz des von Gott Erkannt-werdens des Menschen einsichtig zu machen. Der die barthsche Dialektik relativierende, dialogische Sinn der Methode wurde von Miskotte noch einmal unterstrichen, indem er die Anerkennung eines religiösen Pluralismus auch wahrheitstheoretisch voraussetzte.

3.6

Die 70er/90er Jahre – und darüber hinaus

Deutschland Als charakteristisch für die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland ist für den Zeitraum der 70er/90er Jahre an zahlreiche Großereignisse wie etwa die Ölkrise und deren wirtschaftliche Folgen, den heißen Herbst, die konservative Wende in den 80er Jahren, die Debatte um den NATO-Nachrüstungsbeschluss, an Tschernobyl und schließlich an den Mauerfall und damit an das Ende des Ost-Westkonflikts zu erinnern. Der allmähliche aber unablässige Bedeutungsverlust der Religion und die trotz erstaunlicher Beharrungskraft abnehmende gesellschaftliche Relevanz der Kirchen (vgl. Abschnitt 2) in Westdeutschland wurde von einem zunehmenden Bewusstsein radikaler Pluralisierung, Individualisierung und Privatisierung des Religiösen begleitet, wobei umstritten ist, inwiefern für die Situation ab den 90er Jahren von einer Rückkehr des Religiösen gesprochen werden kann oder nicht. Speziell in Hinsicht auf die Rezeptionsbedingungen für die Theologie Karl Barths kann für den Zeitraum der 70er/90er Jahre mit Stefan Holtmann69 auf den Tod Karl Barths und auf die Verbesserung der Quellenlage durch das Erscheinen der Karl Barth Gesamtausgabe hingewiesen werden. Als entscheidend für die Rezeptionsbedingungen für die Theologie Karl Barths sollte jedoch zusätzlich auf die Veränderung in der gesamttheologischen Debattenlage hingewiesen werden: Der bislang bestimmende Streit zwischen der Barthschule und der Bultmannschule kam zu seinem Ende und innerhalb der Theologie entstand seit den 70er Jahren ein erneutes Interesse an der kulturtheologischen Debattenlage von vor und nach dem Ersten Weltkrieg und damit verbunden an Theologen wie Schleiermacher, Troeltsch und Tillich.70 Theologiegeschichtlich gesehen wird diese Zeit gerne71 mit dem Entstehen einer einfachen Gegenüberstellung von „kulturabstinent“ und „barthianisch“ 69 Vgl. den Beitrag in: Beintker (Hg.), Barth Handbuch, 451–456. 70 Vgl. etwa den Beitrag von Christoph Schwöbel, Glaube und Kultur. Gedanken zu einer Idee der Kultur, in: NZSTh 38, 1996, 137–154. 71 Vgl. etwa meine freilich unvollständige Übersicht in: Hennecke, Karl Barth, 369–372.

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auf der einen und „kulturtheologisch“ und „liberal“ auf der anderen Seite in Verbindung gebracht – ein verbreitetes Bild72, das aber allein schon aufgrund der Entwicklungen in der deutschen Barthforschung nach dem Tode Barths durchaus nuancierter als im Modus einer einfachen Gegenüberstellung gezeichnet werden sollte: So deutet der niederländische Theologe Cornelis van der Kooi73 die Entwicklungen in der deutschsprachigen Barthforschung der 70er und 80er Jahre als das Auseinandertreten zweier Positionen: Befinde sich die eine Position in kritischer Distinktion zu „einer von Schleiermacher herkommenden Position, die in der menschlichen Religiösität ihren Ausgangspunkt finde[…]“74, orientiere sich die andere Position an dem von Barth gebotenen „Paradigma einer substantiellen Theologie“75 und bemühe sich um eine Weiterführung der „materialen Entscheidungen“76 der barthschen Theologie. Seien letzterer Position etwa die Arbeiten von Eberhard Jüngel, Jürgen Moltmann, Gerhard Sauter und Ingolf Dalferth zuzuordnen, vertrete die erstere Position eine auf das Erbe Ernst Troeltschs zurückgehende und von Trutz Rendtdorff angestoßene modernitätstheoretisch interessierte Barthrezeption. Diesen beiden Entwicklungen innerhalb der Barthforschung kann im Anschluss an Ralph Crimmann ein dritter Neuaufbruch hinzugefügt werden, nämlich die im Zuge der Studentenrevolte aufgekommene „eigenartige[…] Wiederentdeckung gerade der [frühen dialektischen; SH] Anfänge Barths“77, die etwa von den von Jürgen Moltmann herausgegebenen Sammelbänden zu den Anfängen der dialektischen Theologie und von Friedrich Wilhelm Marquardts Monographie Karl Barth und der Sozialismus dokumentiert worden sei. Zu unterscheiden sind mithin für diesen Zeitraum das Auseinandertreten von dogmatisch-substantiellen, liberal-modernitätstheoretischen und vom jungen Barth herkommenden politischen Barthrezeptionen. Das Bild verschiebt sich noch einmal, wenn man mit Georg Pfleiderer78 die zweite und dritte Neuentwicklung zusammenzieht und auf einen gemeinsamen Nenner bringt. Diese beiden Neuentwicklungen, so Pfleiderers These, seien nämlich gemeinsam gegen die bislang favorisierten „kirchlichen, näherhin 72 In Hinsicht auf das gemeinte Bild und seiner Entstehung besteht meines Erachtens großenteils eine theologiegeschichtliche Forschungslücke. 73 Vgl. den Beitrag in: Beintker (Hg.), Barth Handbuch, 457–463. 74 AaO., 458. 75 Ebd. 76 AaO., 459. 77 Crimmann, Frühe Publikationen, 181. 78 Georg Pfleiderer, „Inkulturationsdialektik“. Ein Rekonstruktionsversuch zur modernitätstheoretischen Barthinterpretation, in: Michael Beintker/Christian Link/Michael Trowitzsch (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand. Beiträge zum Internationalen Symposium vom 1. bis 4. Mai 2003 in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Zürich 2005, 223–244.

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(scheinbar) orthodox-dogmatischen Explikationsformen“79 der barthschen Theologie und also insofern gegen die erste Neuentwicklung abzugrenzen, als sie beide das lang verdeckte „Modernitätspotential“80 der barthschen Theologie wieder ans Licht gebracht hätten. Sowohl die zweite als auch die dritte Neuentwicklung seien also als modernitätstheoretische Barthrezeptionen anzusehen und als deren gemeinsames Verdienst sei außer des Versuchs der Bestimmung des theologiegeschichtlichen Ortes der Theologie Barths auch die Beschäftigung mit der von der Theologie Barths selber angestoßenen Frage nach dem „wissenschaftlichen, dann aber auch […] gesellschaftlichen und kulturellen Ort und […] [der] entsprechenden Funktionen einer zeitgemäßen Theologie und, davon abhängig und davon abgeleitet, […] [nach einem] zeitgemäß reflektierte[n] Christentum“81 und also ihr gemeinsamer Beitrag für die „Legitimitäts- und kulturelle[n] Selbstverständigungsdebatten“82 der Theologie überhaupt anzusehen. In diesem Zusammenhang ist es nun wiederum als das Verdienst Pfleiderers anzusehen, das derart neu skizzierte Bild einer einfachen Zweiheit ein weiteres Mal zu nuancieren, und zwar mittels des Versuchs, die Entwicklung der modernitätstheoretischen Barthdeutungen sowohl theologiegeschichtlich zu rekonstruieren und zu deuten als auch in ihrer Vielfältigkeit zu thematisieren und zu systematisieren. Theologiegeschichtlich gesehen seien in aller Vorläufigkeit drei Phasen einer modernitätstheoretisch interessierten Barthrezeption zu unterscheiden: So sei in den 70er Jahren zunächst die Frage strittig gewesen, ob die Theologie Barths eine der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie gegenüber alternative modernitätstheoretische Denkfigur impliziere, wobei dann wiederum eine formale Variante (Trutz Rendtorff) von zwei materialen Varianten, nämlich dem sozialistischen Barth (Marquardt) und dem faschismusaffinen Barth (Wagner) zu unterscheiden sei. Nachdem diese antipodisch strukturierten politischen Radikaldeutungen in den 80er Jahren von einer methodisch gesehen breit gefächerten Palette an Barthdeutungen abgelöst worden sei, habe dann in den 90er Jahren sowohl das kultur- und religionspraktische Anschlussinteresse der Barthinterpreten als auch das Interesse an der politischen Position Barths stark nachgelassen, was allerdings mit methodischer Differenziertheit und historischer Forschungsintensität einhergegangen sei. Systematisch gesehen seien für den gesamten Zeitraum der 79er/90er Jahre und darüber hinaus83 insgesamt drei verschiedene Typen modernitätstheoretischer Barthinterpretationen zu unterscheiden, nämlich der erkenntnistheoretische, der ästhetisch-symboltheoreti79 80 81 82 83

AaO., 244. Ebd. AaO., 231. Ebd. Pfleiderer bezieht sich auf Arbeiten bis zum Jahr 2000.

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sche und der ethisch-politische Typ. Für den ersten Typ ergebe sich grundsätzlich die Alternative einer an die Erkenntnisse Rendtorffs angelehnten absolutheitstheoretischen (Falk Wagner) und einer das Erbe des späten Barths betonenden faktizitätstheoretischen (Dietrich Korsch) Deutung. Hinsichtlich des zweiten Typs sei die Studie von Michael Moxter hervorzuheben, die zwar in Bezug auf Barths Theologie genau wie etwa Falk Wagner den Vorwurf einer strukturellen Gleichschaltung selbstständigen Andersseins erhebe, diesen Vorwurf aber in Anschluss an Ernst Cassirers Symboltheorie in einem differenzkonstitutiven Sinn noch einmal neu gewendet habe. Für den dritten und letzten Typ modernitätstheoretischer Barthrezeptionen seien schließlich etwa die Arbeiten Folkart Wittekinds repräsentativ, die den Zusammenhang zwischen Barths ethisch motivierter Theologie und deren Fortkommen aus der Ritschlschule aufgedeckt hätten. Hinzuzufügen ist an dieser Stelle vielleicht noch der rezeptionsästhetisch interessierte Ansatz von Pfleiderer selber, dem es um den Aufweis der pragmatischen Verfasstheit der (frühen) Theologie Karl Barths ging. Niederlande Aufgrund von Demokratisierungsbewegungen und Entsäulunsgprozessen ab den 60er Jahren kam es in den 70er Jahren in den Niederlanden erstmals zu einer Regierung, die von den eher linken (nicht-konfessionellen) Parteien dominiert wurde. Das Leitbild des mündig gewordenen Bürgers, der sich nicht länger von politischen und kirchlichen Autoritäten bevormunden lasse, habe sich gefestigt und, so die niederländische Selbstbeschreibung,84 auch die Frauenbewegung habe im Laufe der 70er Jahren einen bedeutsamen politischen und gesellschaftlichen Einfluss erlangen können. Dasselbe gelte für die in den späten 70er und den 80er Jahren entstehenden anderen sozialen Bewegungen wie die DritteWelt-, Friedens- und Ökologiebewegung, die sich politisch gesehen ebenfalls entsprechend dem Ideal der Verhinderung politischer Eskalation durch politische Integration in die Gesamtgesellschaft eingebracht hätten. Versäulungstheoretisch gesehen habe sich die Polarisierungsstrategie der linken Parteien nach anfänglichen Erfolgen jedoch letztlich als ein Fehlschlag erwiesen und Ende der 70er Jahre sei ein sogenanntes Paradox der Versäulung entstanden, demzufolge die konfessionellen Parteien zwar die Mehrheit verloren hätten, ihre zentrale Stellung aber insofern hätten behaupten können, als sie aufgrund ihres starken Wählerrückhalts faktisch den Koalitionspartner bestimmen konnten: Nachdem sie sich dann zu einer einzigen christlichen Partei (CDA) zusammenschlossen hatten, so die Zusammenfassung von Wielenga, hatten sie, mit inzwischen nur noch schwach ausgeprägtem konfessionellen Profil, von 84 Vgl. Wielenga, Schlaglichter, 64–69.

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1977–1989 fast ununterbrochen zusammen mit der liberal-konservativen Partei (VVD) regiert und sich ab 1989 für die (inzwischen ebenfalls gemäßigtere) sozialdemokratische Partei (PvdA) als Koalitionspartner entschieden. In den 80er Jahren wurde schliesslich angesichts der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung in den Niederlanden das sogenannte Poldermodell entwickelt, dessen Erfolge sich ab den 90er Jahren zeigten. Gemeint ist eine Liberalisierung der Wirtschaft in Kombination mit einer konsequenten Sparpolitik, die auf einer Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beruhte. Von einer Vollendung des Prozesses der Entsäulung ist hingegen für die 90er Jahre zu sprechen, was man historisch daran festmachen kann, dass 1994 erstmals eine Regierungskoalition ohne die Beteiligung der konfessionellen Parteien zustande gekommen ist. Die zunehmende Volatilität der Wähler hat ab 2000 freilich zu einem Anwachsen des Rechtspopulismus in den Niederlanden geführt und ab 2002 ist es zu einer Mitte-Rechts-Koalition (teilweise mit Beteiligung der neuen rechtpopulistischen Partei) unter Anführung eines wiederum konfessionellen Ministerpräsidenten gekommen. Theologiegeschichtlich gesehen kann ab den 70er Jahren nach meiner Einsicht ebenfalls von einem auf Mündigkeit gerichteten Paradigmenwechsel gesprochen werden: Statt an deduktiven theologischen Ansätzen wie dem von Karl Barth orientierte man sich nun vermehrt an einer induktiven Theologieauffassung, hinterfragte das traditionelle theistische Gottesbild und beschäftigte sich mit neuen theologischen Richtungen wie der Gott-ist-tot-Theologie, der Theologie der Revolution, der Befreiungstheologie und ab den 80er Jahren auch mit der feministischen Theologie. Außerdem führte die Erfahrung voranschreitender Entkirchlichung und des gesellschaftlich sich verbreitenden Agnostizismus nun auch bei den Fachtheologen in den 70er und 80er Jahren zu einer breiten Auseinandersetzung mit dem Atheismus, der in den 80er Jahren eine Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Theologie überhaupt und ab Ende der 90er Jahre eine Debatte über die Integration theologischer in geisteswissenschaftliche Fakultäten folgte, die einerseits nach anfänglichen konstruktiven Versuchen ab dem Jahre 2000 und dann vermehrt im Zug der weltweiten Finanzkrise zumeist in eine Umformung der (kirchlich unabhängigen) theologischen Fakultäten in Departments für religious studies und andererseits zur Stärkung und Konzentration von kirchlich gebundenen Ausbildungstätten führte. Hervorzuheben ist für die 90er Jahre auch das Aufkommen der Debatte um die Bedeutung des sogenannten Postmodernismus/Poststrukturalismus, und zwar sowohl in den Geistes- und Sozialwissenschaften als auch in der Theologie. Doch zurück zum gesellschaftlichen und theologischen Paradigmenwechsel der 70er Jahre. Zwar wurde die Dominanz der Theologie Karl Barths/der niederländischen Barthianer gebrochen, doch wurden die neuen theologischen Entwürfe auch innerhalb der Gruppe der niederländischen Barthianer und

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Barthrezipienten diskutiert und integriert. Vermehrt bestimmten nun Themen wie die Verhältnisbestimmung zwischen Offenbarung und Erfahrung und das Verhältnis zwischen Glauben und Religionskritik die Diskussionen, damit verbunden wurde auch oftmals die Frage nach dem theologiegeschichtlichen Ort der Theologie Karl Barths und ab den 80er Jahren entsprechend der veränderten allgemeingesellschaftlichen Debattenlage vermehrt auch die Frage nach dem Ort der Theologie überhaupt. Fasst man die entsprechenden Debatten in den 70er/ 90er Jahren zusammen, lassen sich vorläufig insgesamt vier verschiedene Barthrezeptions-Varianten unterscheiden, nämlich der Ansatz der sogenannten Amsterdamer Schule im engeren Sinne, der befreiungstheologisch orientierte Ansatz der Amsterdamer Schule im weiteren Sinne, der Ansatz von Hendrikus Berkhof und ein kulturtheoretischer Ansatz. Das verbindende Moment aller vier Ansätze liegt dabei in der Inspiration von der Person und/oder dem Oeuvre Kornelis Heiko Miskottes und insbesondere von der von Miskotte entwickelten phänomenologischen Methode, dessen barthianisch inspirierten kulturtheologischen Ansatz man auf je eigene Art und Weise weiterführte: Der Ansatz der sogenannten Amsterdamer Schule im engeren Sinne zeichnet sich wie die ersten drei Ansätze überhaupt durch eine starke biblisch-theologische Orientierung aus, die in diesem Fall aber mit einer starken Kritik an induktiven theologischen Ansätzen und einer entsprechend starken oder sogar exklusiven offenbarungstheologischen Argumentationsweise verbunden wurde, die oftmals mit einer deutlichen Abweisung von Religion als menschlicher Selbstprojektion und -täuschung überhaupt sowie einer radikalen Kritik der natürlichen Theologie einherging.85 Demgegenüber kann der Ansatz der Amsterdamer Schule im weiteren Sinne als wesentlich weniger steil beschrieben werden: Im Anschluss an die Ideologietheorie von Louis Althusser und/oder durch eine stark befreiungstheologisch und später auch feministisch-theologische Ausrichtung ging es in diesem Ansatz vielfach um die Kritik bestimmter („bürgerlicher“) Formen von Religion und um die Ermächtigung von alternativen religiösen Bewegungen (Schwarze Theologie, Feministische Theologie, Interkulturelle Theologie, Schwule Theologie, Befreiungstheologie, Postkoloniale Theologie). Theologiegeschichtlich gesehen wurde Barth innerhalb dieser Richtung gerne als ein (wenn auch kritischer) Theologe der Neuzeit eingeordnet und seine Theologie und Religionskritik wurden gerne im Zusammenhang mit neuzeitlichen und zeitgenössischen gesellschaftlichen Entwicklungen diskutiert und insbesondere mit den verschiedenen Debatten um den (kulturwissenschaftlich und geistesgeschichtlich problematisch gewordenen) neuzeitlichen Subjektbegriff konstruktiv in Verbindung gebracht.86 85 Die Darstellung beruht auf Vorstudien von Verf. 86 Die Darstellung beruht auf Vorstudien von Verf.

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Als der Gegenpol der steilen Variante der Amsterdamer Schule ist der Ansatz des in Leiden lehrenden Theologen Hendrikus Berkhof zu betrachten. Zeichneten sich die Anfänge von Berkhofs Barthrezeption insgesamt durch das Interesse aus, den christozentrisch-offenbarungstheologischen Ausgangspunkt Barths pneumatologisch zu erweitern, ging es ihm ab den 70er Jahren um den Versuch einer Kombination von Barths offenbarungstheologischem mit Schleiermachers erfahrungsgerichtetem Ansatz und um eine theologiegeschichtliche Verortung von Barths Theologie als kongenialer Weiterführung des von Schleiermacher erstmals entwickelten modernen Problembewusstseins. Barths theologischen Subjektwechsel und seine theologische Verarbeitung der Religionskritik in der Römerbrieftheologie betrachtete er angesichts des methodischen Rückzugs der Theologie in der Moderne als einen über die liberale Theologie hinausgehenden und dem zunehmend säkularisierten Wirklichkeitsverständnis angemessenen theologischen Neuansatz. Anders als in der steilen Variante der Amsterdamer Schule entschied sich Berkhof anstatt für eine Exklusion der Religion für deren Inklusion in Form einer biblisch-theologisch begründeten und in sich bereits religionskritisch angelegten sogenannten abrahamitischen Glaubensreligion. Etwas weniger biblisch-theologisch orientiert ist die vierte und letzte, explizit extern-komparativ arbeitende phänomenologisch-religionsphilosophisch interessierte kulturtheoretische Variante der von Miskotte inspirierten Formen niederländischer Barthrezeptionen, die in den 70er und 80er Jahren vom Leidener Religionswissenschaftler Hendrik Johan Adriaanse und dessen Schüler Johan Goud entwickelt worden war. Reflektierte Adriaanse87 Barths theologischen Subjektwechsel mit dem Ziel der besseren Verständlichmachung theologischer Aussagen fiktiv, also ohne direkten historischen Anknüpfungspunkt, mithilfe der phänomenologischen Methode Edmund Husserls, orientierte sich Goud88 in Abgrenzung zu Adriaanses Durchdringung der Sache selbst an Levinas’ Kategorie des Unendlichen und rekonstruierte als die gemeinsamen Themen des externen Vergleichs zwischen Barth und Levinas das Denken einer radikalen Alterität, die geteilte messianische Grundstruktur des Denkens und die Suche nach einer Antwort auf die seit Nietzsches Skepsis und Nihilismus aufgeworfene Frage nach der Krise des Ethischen. Ab den 90er Jahren spiegelte sich die veränderte Debattenlage in den Geistesund Sozialwissenschaften (und das Antreten einer neuen Generation von TheologInnen) insofern auch in den niederländischen Barthrezeptionen, als die 87 Vgl. Hendrik Johan Adriaanse, Zu den Sachen selbst. Versuch einer Konfrontation der Theologie Karl Barths mit der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls, ’sGravenhage 1974. 88 Johan Goud, Levinas en Barth. Een godsdienstwijsgerige en ethische vergelijking, Amsterdam 1984.

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Theologie Karl Barths nun vermehrt im Zusammenhang mit dem Postmodernismus reflektiert wurde. Es können drei Ansätze unterschieden werden, die allerdings im Gegensatz zu den oben genannten Ansätzen aus den 70er/90er Jahren wohl auch aufgrund der zunehmenden Schliessung theologischer Fakultäten beziehungsweise deren Umstrukturierung zu religionswissenschaftlichen Ausbildungsstätten im Rahmen geisteswissenschaftlicher Fakultäten soweit ich sehe nicht mehr schulbildend gewirkt haben. Die Studie von Bernard van den Toren, Breuk en brug (Bruch und Brücke; Übers. SH),89 beschäftigt sich mit Karl Barth und dessen als Apologiekritik wahrgenommener Theologie vor dem Hintergrund des vermehrten gesellschaftlichen Pluralismus und Säkularismus mit dem Ziel der Apologetik des christlichen Glaubens. Von diesem apologetischen Interesse her ergibt sich – wie auch im Verhältnis zur Universalismus-, Rationalismus- und Repräsentationskritik postmoderner Theologen wie George Lindbeck – im Gespräch mit Augustinus gerade ein kritisches Leseverhältnis zu Barth und dessen Abwehr der natürlichen Theologie. Die Studie Dwalen (Umherirren; Übers. SH)90 von Leddy Karelse interpretiert hingegen Karl Barths Einsicht in die Unmöglichkeit menschlicher Gotteserkenntnis und seine christologische Konzentration in konstruktiv-dialogischer Absicht mithilfe von Einsichten des postmodernen Theologen Marc C. Taylor als das Bemühen um das Offenhalten einer Leerstelle, die gerade nicht als Glaubensfundament missverstanden werden sollte und die den Menschen mit einer unaussprechlichen Differenz- und Abwesenheitserfahrung konfrontiert, angesichts derer der Mensch sich als ein in der Wüste unendlich Umherirrender erfährt und akzeptiert. Auch die Studie von Verf., Der vergessene Schleier,91 unterstellt die Möglichkeit eines konstruktiv-dialogischen Verhältnisses zwischen Barths Theologie und post/modernen Denkansätzen und expliziert die Erfahrung radikaler gott-menschlicher Alterität gendertheoretisch vor dem Hintergrund der Aufgabe des noch zukünftigen Denkens einer radikalen zwischenmenschlichen Alterität (der sog. „sexuellen“ Differenz), um derer willen sie unter anderem gerade auch die Möglichkeiten einer (diskursiv konstituierten) positiv gedachten „weiblichen“ Subjektivität, Religion und Gottesrede auslotet. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze und Leserinteressen kann als Gemeinsamkeit und als Kontinuität zu vorherigen Ansätzen doch die von Adriaanse im Anschluss an Miskotte entwickelte extern-komparatistische Vorgehensweise und das bereits in den Barthrezeptionen Noordmans’, Dippels, Miskottes und Gouds angelegte 89 Bernard van den Toren, Breuk en brug. In gesprek met Karl Barth en postmoderne theologie over geloofsverantwoording, Zoetermeer 1995 [Diss. Universität Utrecht 1995]. 90 Leddy Karelse, Dwalen. Over Mark. C. Taylor en Karl Barth, Zoetermeer 1999 [Diss. Theologische Universität der Gereformeerde Kerken Kampen 1999]. 91 Susanne Hennecke, Der vergessene Schleier. Ein theologisches Gespräch zwischen Luce Irigaray und Karl Barth, Gütersloh 2001 [Diss. Universität von Amsterdam 1999].

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Interesse gerade auch an den ethischen Implikationen theologischer Rede hervorgehoben werden.

4.

Ertrag einer internationalen Perspektive

Verfolgt man einmal die grundlegende Dynamik deutscher und niederländischer Barth-Rezeptionen unter besonderer Berücksichtigung ihrer auch kirchenpolitischen und zeitgenössischen Relevanz im Vergleich, so kann gesagt werden, dass diese Relevanz sich in Deutschland nach einer relativ kurzen Phase des Interesses an Barths Römerbrieftheologie in den 20er Jahren in den 30er Jahren im Zusammenhang mit der Entstehung der Bekennenden Kirche zu entwickeln begann und dann in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine recht kurze Blütezeit erlebte, die aber bereits im Laufe der 50er Jahre in Konkurrenz zur Blütezeit der von Bultmann angestossenen Debatte um die Entmythologisierung trat und die ab den 70er Jahren in Polarität zu einem erneut aufkommenden Interesse an der kulturprotestantischen Debatte von vor dem Ersten Weltkrieg deutlich wieder abnahm, während sie in den Niederlanden nicht nur wesentlich tiefere Wurzeln schlagen konnte, sondern auch eine wesentlich längere Blütezeit hatte und außerdem kirchenpolitisch äußerst ertragreich war : In den Niederlanden fiel nämlich die Römerbrieftheologie Karl Barths bereits in den 20er Jahren und gerade bei kulturtheologisch interessierten liberalen und vermittlungstheologisch orientierten Theologen insofern in einen sehr fruchtbaren Boden, als man sich von ihr eine Alternative in Hinsicht auf sowohl den Erfolg der neocalvinistischen Verquickung zwischen (christlichem) Glauben und Politik/Kultur im Gegenüber zur säkularen Moderne als auch der brüchig gewordenen liberalen Synthese zwischen Glauben und Kultur versprach. Dieses Interesse führte dann in den 30er Jahren im Kontext eines durch orthodoxe/ neocalvinistische Kirchenabspaltungen beförderten und im Vergleich zu Deutschland auffällig hohen Säkularisierungsgrads zur Bildung einer sich bewusst im konstruktiven Gespräch mit der Moderne und dem religiösen Pluralismus formierenden barthianischen Bewegung. Diese vertrat von Anfang an ein weltoffen-bekennendes kirchenreformerisches Interesse, das anders als in Deutschland nicht erst mit dem Entstehen der Deutschen Christen in den 30er Jahren aufgekommen war, sondern als solches auf eine bereits seit 1816 bestehende Problemanzeige reagierte, nämlich die sehr/zu unverbindlich-pluralistische Organisationsstruktur der öffentlichen reformierten Kirche. Unter dem zusätzlichen Einfluss der großen Bedeutung Karl Barths für den protestantischen Teil des niederländischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus erlebte die barthsche Theologie beziehungsweise ihre Rezeption dann in der niederländischen Nachkriegszeit eine sowohl kirchenpolitisch als versäulungs-

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theoretisch äußerst intensive Blütezeit, als deren konkrete Früchte verschiedene wichtige kirchliche Erklärungen und Bekenntnisse, die Vorbereitung von und Mitwirkung an dem im Kontext fortschreitender Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse in den 60er Jahren anhebenden Prozess der Durchbrechung der Versäulung und die inzwischen ausgereifte und international bekannte Form einer eigenständigen barthianischen Kulturtheologie im Kontext des modernen Nihilismus (vgl. Kornelis Heiko Miskotte) zu nennen sind, wobei letztere in den Niederlanden methodisch gesehen bis in die 90er Jahre hinein in verschiedenen Variationen schuldbildend gewirkt hat. Vergleicht man innerhalb dieser länderspezifisch unterschiedlich verlaufenden Dynamiken die deutschen und die niederländischen Rezeptionen der Theologie Karl Barths noch einmal detaillierter in Hinsicht auf bestimmte Inhalte und Konstellationen, ergeben sich weitere bemerkenswerte Unterschiede, die ich an dieser Stelle in Form von zehn vorläufigen Thesen zu benennen versuche: Wurde nämlich (1) die Römerbrieftheologie Karl Barths in Deutschland in den 20er Jahren vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Krisenzeit rezipiert und wurde dort der dialektische Ansatz eher kritisch aufgenommen, traf sie in den Niederlanden auf eine relativ stabile Gesellschaft und das Auseinanderklaffen zwischen Gott und Mensch wurde dort von Anfang an auch positiv als zeitgenössische theologische Reflektion des Endes des christlichen Zeitalters und in Verbindung mit der Suche nach einer neuen und konstruktiven Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und moderner säkularer Kultur verbunden. Entwickelte sich das Interesse an der Theologie Karl Barths in den 30er Jahren (2) in Deutschland vor der Kulisse des anhebenden Kirchenkampfes, standen in den Niederlanden die Abgrenzung gegen den Neocalvinismus und bereits seit langem bestehende kirchenreformerische Interessen innerhalb der öffentlichen reformierten Kirche im Vordergrund. Spielte die Theologie Karl Barths und das Erbe der Bekennenden Kirche (3) in Deutschland in den Kirchenreformprozessen nur für eine relativ kurze Zeit eine bedeutsamere Rolle, bildete der Barthianismus in der niederländischen Nachkriegszeit jedenfalls in der öffentlichen reformierten Volkskirche das kirchliche Establishment. Entwickelte sich (4) der deutsche Barthianismus in den 50/60 Jahren in Konkurrenz zu der von Bultmann angestossenen Säkularisierungsdebatte, spielte die Theologie Bultmanns in den Niederlanden so gut wie keine Rolle92 und wurde das Problem des (konstruktiven) Umgangs mit einem aufkommenden säkularisierten Zeitalter sowie das Bedürfnis nach einer hermeneutischen Theologie im 92 Die einzige Ausnahme bildet meines Erachtens die Studie von Johannes Marie de Jong, Kerygma. Een onderzoek naar de vooronderstellingen van de theologie van Rudolf Bultmann, Assen 1958.

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Rahmen einer von Barth inspirierten und von Miskotte repräsentierten radikalmodernen Kulturtheologie diskutiert. Wurde (5) die inzwischen gebrochendominante Relevanz der Theologie Karl Barths für aktuelle theologische Diskurse ab den 70er Jahren in Deutschland in polarisierter Form von einem erneut aufkommenden Interesse für liberale Theologen wie Schleiermacher und Troeltsch abgelöst, gab es im Rahmen des theologischen Paradigmenwechsel in den Niederlanden bereits in den 70er Jahren den Versuch, Barth und Schleiermacher in ein dialogisches Verhältnis zu setzen und Barths Aufnahme der Religionskritik in die Dogmatik als eine unter säkularen Umständen angemessene Fortsetzung und Erneuerung der liberalen Theologie zu interpretieren. Dabei kann der Versuch, Barth in Kontinuität zu (bestimmten Strömungen) liberaler Theologie zu interpretieren, bereits auf eine längere, nämlich seit den 20er Jahren bestehende niederländische Tradition (Karel H. Roessingh) zurückblicken. Kreisten (6) die führenden theologischen Debatten in Deutschland also um eine Vielzahl einander sich in ihrer Aktualität ablösende Theologen (u. a. Schleiermacher, Troeltsch, Tillich, Bultmann und eben auch Barth), blieb Barth in den Niederlanden trotz der Relativierung seiner Dominanz in den 70er Jahren der wichtigste (und gewissermassen der einzig wirklich wichtige moderne) Theologe, dessen Relevanz im Grunde erst im Kontext der Einführung der religious studies und der Abschaffung vieler theologischer Fakultäten in Frage gestellt wurde. Wurden (7) die ab den 80er Jahren entstehenden kontextuellen Theologien (feministische, schwarze, schwule, postkoloniale Theologien) in Deutschland oftmals in einem Spannungsverhältnis zur Theologie Karl Barths interpretiert, gab es in den Niederlanden viele Versuche, Barth und kontextuelle theologische Entwürfe gerade in einen entspannten Diskussionszusammenhang zu stellen. War für die deutsche Diskussion der 70/90er Jahre (8) eine theologiegeschichtliche und/oder intern-komparative (historische) Vorgehensweise kennzeichnend, hat sich in den Niederlanden eine äußerst ertragreiche externkomparative (konstruktive) Vorgehensweise herausgebildet. Wurde Barths Dialektikbegriff (9) in Deutschland oftmals im Sinne einer einfachen Gegenüberstellung und /oder als Ausschaltung selbständiger Andersheit interpretiert und gilt seine Theologie als autoritär und dialogunfähig, wurde Barths Dialektikbegriff in den Niederlanden außer dialogisch gerade bevorzugt im Kontext der französischen anstatt der deutschen Hegeltradition (in concreto im Kontext der Schriften von L8vinas, Lacan, Derrida und Irigaray) und also häufiger als in Deutschland gerade alteritätstheoretisch rezipiert. Daher ergab sich auch ein recht zwangloser Anschluss an die Debatte um den Postmodernismus. Kurzum (10): Mit Karl Barth konnte man in den Niederlanden Dank Miskottes phänomenologischer Methode nicht nur modern werden oder bleiben, sondern auch postmodern, religionsphilosophisch, religionspluralistisch, atheistisch oder feministisch!

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Reinhold Bernhardt, Professor für Systematische Theologie/Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Basel Dick Boer, emeritierter Universitätsdozent für Neue und Neueste Kirchengeschichte an der ehemaligen Theologischen Fakultät der Universität von Amsterdam Jörg Dierken, Professor für Systematische Theologie/Ethik an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Katharina Eberlein-Braun, Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg Susanne Hennecke, Privatdozentin für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dietrich Korsch, emeritierter Professor für Systematische Theologie und Geschichte der Theologie am Fachbereich Evangelische Theologie der PhilippsUniversität Marburg Martin Leiner, Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena Harald Matern, Oberassistent für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Basel

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Muhammad Sameer Murtaza, externer Mitarbeiter der Stiftung Weltethos in Tübingen und Lehrbeauftragter am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück Andreas Pangritz, Professor für Systematische Theologie an der EvangelischTheologischen Fakultät der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Georg Pfleiderer, Professor für Systematische Theologie/Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Basel Michael Pye, emeritierter Professor für Religionswissenschaft an der PhilippsUniversität Marburg Jan Rohls, emeritierter Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München Ruggero Vimercati Sanseverino, Junior-Professor für Hadithwissenschaften und prophetische Tradition am Zentrum für Islamische Theologie der Eberhard Karls Universität Tübingen Dorothea Sattler, Professorin für Ökumenische Theologie und Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster John N. Sheveland, Professor für Religionswissenschaften an der Gonzaga University/USA Yoshiki Terazono, emeritierter Professor an der Seinan-Gakuin Universität in Fukuoka/Japan Michael Weinrich, emeritierter Professor für Systematische Theologie, Ökumenik und Dogmatik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der RuhrUniversität Bochum Folkart Wittekind, Professor für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Duisburg-Essen

Personenregister

˘ ˘

Abd al-Jabba¯r, Ahmad 159 ˙ Abduh, Muhammad 163 ˙ Adorno, Theodor W. 22, 28, 131, 140f., 255, 315–325, 327, 329 Adriaanse, Hendrik J. 82, 401f. Al-Afghani, Jamal Al-Din 163 Al-Baghawı¯, Abu¯ Muhammad al-Husain ˙ ˙ 179 Al-Ghazali, Abu Hamid Muhammad 167 Althaus, Paul 383 Amstutz, Galen 190 Anawati, Georges C. 167–169 Anderson, Clifford B. 263f., 271 Arkoun, Mohammed 167 Ashcroft, Bill 28 Aslan, Reza 157f. Audebert, Claude-France 177 Axt-Piscalar, Christine 175f. Aydin, Mahmut 160 Baeck, Leo 129, 133, 141f. Baier, Klaus Alois 228 Balscheit, Bruno 260 Balthasar, Hans Urs von 344 Barczay, Gyula 353 Barth, Hans-Martin 188 Barth, Heinrich 133, 135f. Barth, Karl passim Barth, Markus 105, 207 Barth, Ulrich 38 Beck, Ulrich 349 Becker, Hildegard 163 Beintker, Michael 10, 229, 260, 271, 299, 354, 381f., 385, 388f., 392, 395f.

Beker, Ernst J. 78, 80 Ben-Chorin, Schalom 148, 158, 160f. Benjamin, Walter 131, 133, 138, 140f., 149, 242, 254f., 316 Berdjajew, Nikolaj Alexandrowitsch 20, 241f., 244–258 Berkhof, Hendrikus 14, 69–86, 96, 281f., 294, 370, 400f. Berkhouwer, Gerrit Cornelis 386 Bernhardt, Reinhold 15, 89, 163, 226, 370, 407 Bloch, Ernst 148f., 312f. Blom, Hans J.C. 374 Blumhardt, Christoph 56, 118, 244 Boer, Dick 21f., 282, 295, 370, 407 Bond, James 162 Bonhoeffer, Dietrich 11, 314, 316 Brandt, Willy 151 Breukelman, Frans H. 297 Brockman, David 210 Bruck, Michael von 211, 214 Brück, Michael von 57, 100, 188, 237, 402 Brunner, Emil 64f., 136, 199, 246–248, 251, 256f., 260, 263, 274f., 284, 286, 291 Buber, Martin 16f., 130–134, 139, 141–150, 253–255, 258, 292 Bühler, Willi 161 Bultmann, Rudolf 31, 84, 161, 225, 262, 345, 382, 392, 403–405 Busch, Beate 357 Busch, Eberhardt 93, 96, 105, 132, 137, 139, 209, 227, 241f., 253, 255, 265, 356f. Buskes, Johan J. 390 Butschkus, Horst 190, 194

410 Calvin, Jean 63, 75, 79, 81, 103, 150, 196, 224, 229, 243, 247f., 250f., 254, 262, 264–266, 301 Cassirer, Ernst 291, 398 Chaning-Pearce, Melville 275 Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniel 190 Charbonnier, Lars 269 Christ, Lukas 263 Clooney, Francis X. 209–211 Cohen, Herrmann 16, 131–138, 141, 148 Cohn, Emil Ludwig 129f. Colli, Giogio 155 Crimmann, Ralph P. 381, 383, 385, 396 Dahling-Sander, Christoph 100 Dani8lou, Jean 259f. Danz, Christian 28, 114 Darwin, Charles 266 Denffer, Ahmad von 157 Derrida, Jacques 134, 149, 183, 405 Deurloo, Karel 78, 80 Dhawan, Nikita 28 Di Noia, J. Augustine 166, 209 Dierken, Jörg 12f., 27, 32, 345, 370, 407 Dilthey, Wilhelm 59f. Dippel, Cornelis Johannes 280f., 390f., 394, 402 Dobers, Henning 151f. Dorrien, Gary 33 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 56, 242, 244, 246, 248, 255, 258, 271 Dulon, Friedrich Ludwig 60 Dürr, Hans 269 Eberlein-Braun, Katharina 22, 315f., 327, 407 Ehrenberg, Hans 16, 138f., 243, 246 Ensminger, Sven 100 Ess, Josef van 156, 159, 161f., 408 Fackenheim, Emil 148 Fangmeier, Jürgen 95, 105, 134, 264 Feuerbach, Ludwig 56, 82, 143f., 170f., 292, 304, 308 Fichte, Johann Gottlieb 50, 65f., 144

Personenregister

Fischer-Barnicol, Hans A. 96 Flesseman-van Leer, Ellen 70 Flood, Gavin 211, 214 Florenz, Karl 190 Foucault, Michel 183 Franziskus 56 Freud, Sigmund 82, 129 Frey, Christofer 104 Frey, Jörg 158 Freytag, Gustav 49 Frisch, Ralf 317 Fromm, Erich 144, 158 Funck, Alfred 269f. Gardet, Louis 167–169 Gellert, Christian Fürchtegott 50 Gerhardt, Paul 50 Gerhardt, Volker 38 Giddens, Antony 349 Gimaret, Daniel 178 Gockel, Matthias 371 Goddijn, Walter 374 Goethe, Johann Wolfgang von 50–52, 62, 66 Gogarten, Friedrich 55, 136, 139, 143f., 199, 247, 256 Gollwitzer, Helmut 254 Götz, Cornelia 50, 90, 154f., 162 Goud, Johan 401f. Graf, Friedrich Wilhelm 34, 345, 374 Gramsci, Antonio 307 Greggs, Tom 11 Greschat, Martin 385 Griffiths, Gareth 28, 211 Habermas, Jürgen 38, 174, 319 Habito, Ruben L.F. 210 Haeckel, Adolf von 67 Halevi, Jehuda 139 Hallencreutz, Carl F. 283 Handke, Peter 331, 341 Harnack, Adolf von 119, 383 Hasselaar, Johannes M. 78, 80 Heering, Gerrit Jan 294, 386 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 31, 64, 66, 80f., 243, 294, 345

Personenregister

Heidegger, Martin 199, 311, 352 Hennecke, Susanne 9, 14, 20f., 69–71, 74, 78, 202, 279–282, 284, 369, 371, 376, 378–382, 384, 386–388, 390f., 394f., 402, 407 Henrix, Hermann 94 Herrmann, Wilhelm 68, 81f., 84 Herwig, Thomas 229f., 334f., 357 Heß, Ruth 9 Heschel, Abraham 148 Hick, John 28 Hieronymus 158 Hoff, Gregor Maria 94, 289 Hofheinz, Marco 11, 100, 229, 237 Hofmann, Murad 159f. Holzhey, Helmut 131 Horkheimer, Max 28, 316, 318f., 321–324 Houwink, Roel 387 Hoyle, Richard Birch 266f. Husserl, Edmund 82, 401 ˘

˘

Ibn Ata¯ Alla¯h, Ta¯j al-Dı¯n al-Iskandarı¯ ˙ 167 Ibn Hanbal, Ahmad 181 ˙ ˙ Ibrahim, Mohamed 162 Jäger, Stefan S. 95, 197f. James, William 288 Jaspers, Carl 291 Jehle, Frank 263, 274 Jenkins, Finley D. 265 Jesus 13, 15–18, 30f., 41–44, 52, 60, 84, 89, 93, 95, 97, 102, 105, 107f., 110f., 117–119, 123–126, 135, 140, 144, 149, 151–154, 156–162, 166, 197f., 200f., 207, 215–218, 236, 243, 249, 254, 281, 285, 289f., 293, 304, 322, 333f., 336–341, 346, 351, 357, 361 Jong, Johannes Marie de 404 Jung, Matthias 321 Kadowaki, Ken 188 Kaltwasser, Cambria Janae 270f. Kambas, Chryssoula 133, 242 Kant, Immanuel 50f., 66, 81, 83f., 146, 249, 275, 294

411 Karelse, Leddy 402 Karentzos, Alexandra 34 Karnetzki, Manfred 133, 241f. Keller, Adolf 21, 263, 265, 272–275 Keller, Claudia 152 Kessler, Andreas 161 Kiblinger, Kristin Beise 209 Kierkegaard, Sören 58, 139f., 246, 248, 255f., 258, 271, 323 Kirschbaum, Charlotte von 132f., 253–255, 258, 335, 357 Klappert, Berthold 105, 199, 207f. Klimek, Nicolaus 326 Knippenberg, Hans 374 Knitter, Paul F. 28, 209 Koch, Jeroen 99, 270, 374, 378 Konfuzius 143, 292 Korsch, Dietrich 12f., 32f., 39, 135, 137, 318, 322, 330, 348, 382f., 398, 407 Koselleck, Reinhart 356 Kraemer, Hendrik 21, 190f., 279, 283–294, 370, 387, 394 Kraus, Hans-Joachim 21, 81, 96, 292f. Krötke, Wolf 96, 99 Kruijt, Jacob Pieter 374 Küng, Hans 17, 156–162, 197, 208, 352 Kuyper, Abraham 374–376, 378–380, 383 Lagerlöf, Selma 49 Lai, Wahlen 188, 279f., 360 Landau-Tasseron, Ella 174 Langer, Gerhard 94 Langer-Kaneko, Christiane 190, 197 Lapide, Pinchas 148 Lash, Scott 349 Lauterburg, Otto 49 Leiner, Martin 9f., 16, 33, 129, 148, 371, 407 Lenin, Wladimir Iljitsch 245, 308 L8vinas, Emmanuel 134, 149, 405 Lewis, John P. 275 Lieb, Fritz 62, 66, 102, 114, 133, 241–247, 251–253, 255, 257, 260, 272, 289, 305, 337f., 351, 363 Liedke, Ulf 317, 319, 327 Lindbeck, George 402

412

Personenregister

Nehring, Andreas 34 Nicholson, Hugh 210 Niebuhr, Reinhold 259f. Nietzsche, Friedrich 67, 156, 255, 258, 271, 306, 401 Nishida, Kitaro 19, 199f., 202–206 Noordegraaf, Herman 374 Noordmans, Oepke 70f., 384f., 402 Norwood, Donald W. 349 Novalis 14, 50–52, 66f.

Mackay, John 270f., 274–276 Mahlmann, Theodor 352 Mahmu¯d, Abd al-Halı¯m 180 ˙ ˙ Mann, Thomas 9, 49, 61, 63, 65, 68, 156, 160f., 253, 257, 260, 270, 280, 292, 334 Mar Castro Varela, Maria do 28 Marquardt, Friedrich Wilhelm 49, 51, 95, 111, 133f., 258, 396f. Marx, Karl 202, 307–309, 379 Matern, Harald 10, 20f., 24, 69, 110, 117, 259, 272, 369, 407 Matosevic, Lidija 351 McConnachie, John 266 McCormack, Bruce 263f., 271 Mehl, Roger 291 Merz, Annette 132, 157, 161, 272 Meyer zu Hörste-Bührer, Raphaela J. 237 Mikkelsen, Hans Vium 131 Minoura, Eryo¯ 188 Miskotte, Kornelis Heiko 22, 70f., 74, 132f., 281, 284, 295, 298f., 306, 309, 312, 387, 391, 394f., 400–402, 404f. Mohammed 90f. Molendijk, Arie L. 374, 378f. Möller, Christian 259 Moltmann, Jürgen 136, 139, 148, 396 Mostert, Christiaan 33 Motschenbacher, Alfons 362 Mott, John 264f. Mühlhaupt, Erwin 353 Murtaza, Muhammad Sameer 17, 151, 163, 408

Ogawa, Keiji 207 Osthövener, Claus-Dieter 315f., 330 Otto, Rudolf 54f., 82, 188, 262, 310, 407

˘

Lindsay, Mark R. 93 Link, Christian 10, 104, 260, 263, 317, 382, 396 Lohmann, Johann Friedrich 135 Lowry, Joseph E. 173 Luhmann, Niklas 38 Luther, Martin 58, 63f., 75, 139, 141, 150, 190, 196, 225, 243, 247f., 250, 253–256, 258, 271, 305, 353, 407 Lutz-Bachmann, Matthias 317–319, 322

Natorp, Paul 55, 133 Naumann, Friedrich 67

Pagani, Manuela 170 Pangritz, Andreas 20, 24, 131, 241, 314, 316, 408 Pannenberg, Wolfhart 345, 392 Paprotny, Thorsten 11 Pauck, Marion 267 Pauck, Wilhelm 267–270, 275 Pennings, Paul 374 Peterson, Erik 351, 362, 383 Pfleiderer, Georg 10, 23f., 32, 69, 110, 117, 227, 268, 276, 316–318, 330, 343, 345–347, 351, 354, 356, 369, 382, 396–398, 408 Phan, Peter C. 210 Plasger, Georg 10, 100, 229, 234 Plathow, Michael 260 Platon 59 Pollack, Detlef 371, 374–376, 378f. Post, Harry 28, 148, 168, 275, 374 Przywara, Erich 94 Pye, Michael 18, 187–190, 408 Rade, Martin 49, 52, 115 Ragaz, Leonhardt 53–55, 143 Rahner, Karl 94, 103, 153, 210, 337–339, 352, 358 Ratzinger, Joseph 340, 357 Ray, Jonathan S. 210 Reeling Brouwer, Rinse 10, 132, 301 Rendtorff, Rolf 392 Rendtorff, Trutz 346, 354, 392, 397

413

Personenregister

Rese, Karl-Johann 133, 241f. Reuter, Julia 34, 374 Ritschl, Albrecht 38, 60, 65, 67, 81, 84f., 261f. Roessingh, Karel Hendrik 294, 384f., 405 Rohkrämer, Martin 242 Rohls, Jan 13, 49, 408 Rosenstock-Huessi, Eugen 16, 138f. Rosenzweig, Franz 16, 129–134, 138–140, 148f., 314 Rosta, Gergely 371, 374–376, 378f. Rubinstein, Richard 148 Rzepkowski, Horst 191 Said, Edward 28 Sattler, Dorothea 23, 331, 341, 408 Schelsky, Helmut 356 Schestow, Leo 241, 253–255, 258 Schiller, Friedrich 50, 52 Schiller, Hans-Ernst 318 Schlatter, Adolf 156, 160 Schlegel, August Wilhelm 51 Schlegel, Friedrich 51, 61f. Schleiermacher, Friedrich 13–15, 20, 31, 49, 51, 55, 58–66, 68–70, 75–79, 81, 83–87, 96, 101, 225, 243, 252, 261f., 282, 344f., 353f., 383, 395f., 401, 405 Schmidt-Leukel, Perry 28, 188 Schmitt, Carl 362 Schneider, Nikolaus 151f. Schoen, Ulrich 163 Schoeps, Hans-Joachim 132f., 140 Scholem, Gershom 16, 131, 140f., 148, 242, 254f. Schopenhauer, Arthur 14, 50 Schössler, Dietmar 260 Schutz, Roger 331f., 377 Schweizer, Alexander 95, 230, 241, 264, 269, 272, 275, 331, 352f. Schwöbel, Christoph 52, 183f., 395 Seiichi, Yagi 95 Sengers, Eric 374 Sheveland, John N. 19, 209f., 213, 408 Siddiqui, Ataullah 153 Simons, Eberhard 156 Smart, Ninian 187

Söderblom, Nathan 190 Spalding, Johann J. 27 Spengler, Eduard 82 Spinoza, Baruch de 129 Stoellger, Philipp 33 Stosch, Klaus von 169 Strauch, Max 102, 267, 344 Strijd, Krijn 391 Suzuki, Daisetz Teitaro 191, 202 Takizawa, Katsumi 19, 199–202, 206f. Taubes, Jacob 129 Taylor, Marc C. 402 Ter Schegget, Gijsbertus H. 282 Terazono, Yoshiki 18f., 199, 201, 408 Tersteegen, Gerhard 50 Thaidigsmann, Edgar 317 Theißen, Gerd 157, 161 Thomas, Günter 10, 50, 160, 284 Thompson, Geoff 33 Thurneysen, Eduard 53–55, 59, 64f., 133, 142, 247f., 263, 265, 271f., 347 Tiele, Cornelis Petrus 190 Tiffin, Helen 28 Tillich, Paul 38, 95, 139, 143, 198, 225, 245, 263, 267, 316, 382, 392, 395, 405 Tolstoi, Leo 67, 319 Trillhaas, Wolfgang 269 Troeltsch, Ernst 14, 67f., 70, 82, 84, 134, 188f., 225, 262, 286, 346, 395f., 405 Trowitzsch, Michael 9f., 33, 144, 260, 301, 371, 382, 396 Unamuno, Miguel

271

Van Dam, Peter 375 Van den Toren, Bernhard 402 Van Driel, Niels 381 Van Eijnatten, Joris 374 Van Gennep, Frederik Onslow 70 Van Leeuwen, Arend Th. 282f. Van Lieburg, Fred 374 Van Randwijk, Henk 388 Van Rooden, Peter 374, 376 Van Til, Cornelius 263, 267, 275 Verdonk, Wessel Eliza 70

414 Vimercati Sanseverino, Ruggero 17, 165, 408 Visser ’t Hooft, Willem Adolf 229f., 331–334, 336 Vogel, Beatrix 156 Vorgrimler, Herbert 338f., 352, 358 Wagner, Falk 114, 345, 397f. Wagner, Richard 67 Watzka, Heinrich 319–323 Weber, Max 38, 135 Weber, Otto 103 Webster, John 166, 183, 209 Weidner, Daniel 131 Weinrich, Michael 19f., 100, 223–225, 229f., 233–237, 317, 326, 357, 408 Welker, Michael 33, 259 Welsch, Wolfgang 38 Wielenga, Bastiaan 245

Personenregister

Wielenga, Friso 375, 379, 382f., 386, 388, 390, 393, 398 Wiesel, Elie 148 Wilcken, Ulrich 392 Wirth, Günter 242 Wittekind, Folkart 15, 107, 114, 262, 316f., 322, 330, 398, 408 Wohlleben, Ekkehard 103 Wolf, Ernst 357 Wood, William L. 269 Yelensky, Viktor 248 Zahn, Ernst 374 Zerbe, Alvin Sylvester 266f. Zocher, Peter 253, 260, 271, 299, 388f., 392 Zwingli, Huldrych 79, 102

Sachregister

Alterität 27f., 34, 101, 149, 401f. Amida-Buddhismus 18, 30, 95, 107, 116, 189–191 Anthropologie 19, 29, 73, 103, 143, 172, 191, 195, 218, 257, 291f., 298 anthropologisch 36, 86, 96, 115, 125, 148, 284, 293, 296 Anthropozentrismus 191 Antibarthianismus 256 Antihumanismus 20, 250 antimodern 23, 343, 347, 349, 354, 375–377 Antisemitismus 94f. Antithese 83, 85, 280f., 294, 380, 391 Atheismus 22, 29, 74, 77, 82, 86, 191, 270, 285, 294, 299, 304–310, 312–314, 326, 399 atheistisch 21f., 74, 84, 138f., 246, 282, 295, 306, 312–314, 405 Aufhebung 15, 28f., 32, 65, 67, 106, 262, 280f., 295, 297f., 311, 346, 365, 375 Aufklärung 13, 18, 22, 27–29, 34, 48, 50, 66f., 83, 248, 305, 308, 318f., 321–323, 346, 352, 355 Barthbefürworter 381, 383f., 386, 390, 392, 394 Barth-Befürworter 69, 86, 369f., 386 Barthianismus 11, 74, 78, 81, 139, 197, 247, 249f., 253, 256, 258, 266f., 273, 370, 392, 404 Barthkritiker 369f., 380f., 386 Barth-Kritiker 69, 86, 369f.

Bekenntnis 17, 90, 92, 124, 126, 150, 152f., 162, 235, 332f., 336–341, 390 Bilderverbot 287, 319–321 Buddhismus 11, 18, 39, 94–96, 161, 187–193, 195–197, 199, 202f., 207, 313 buddhistisch 18f., 95, 188, 191, 194, 196, 199f., 202, 296 Christentum 10, 17f., 23, 27, 30, 33, 35f., 39, 46, 51, 61, 64f., 69, 84, 90, 92, 94, 97f., 100, 105, 107–110, 113, 115–117, 119, 122f., 125, 140, 151f., 155–163, 176, 188–191, 197, 199, 201–203, 207, 230, 241f., 245f., 248, 250f., 264, 271, 275, 286f., 296, 304, 310, 312–314, 317, 322f., 330, 332f., 340, 343, 353f., 367, 369f., 397 christlich 10–13, 15, 17–19, 21–23, 27f., 30–39, 41f., 44, 46–48, 52, 55, 60f., 65f., 69, 74–79, 83, 85, 87, 89, 91f., 94–101, 103–107, 109, 113f., 116, 118f., 122–126, 131, 134, 137, 143, 148f., 151f., 155–163, 166, 168, 184, 187–191, 193f., 199f., 202, 206–208, 224, 226, 231, 234, 236, 242f., 245–247, 251f., 256, 260, 262, 264, 268, 272f., 276, 279f., 283–292, 294–298, 300, 306, 309, 318–320, 322–324, 326, 329, 331–333, 335, 337–341, 343, 350f., 354, 358f., 361f., 364, 366, 369, 373, 379, 384–387, 390–393, 398, 402–404 Christologie 12f., 15, 17, 19, 39, 42, 44, 48, 91, 103, 107, 109f., 113, 115–118,

416 121–125, 157, 159–161, 200f., 206, 243, 256, 319, 345, 348 christologisch 9, 13, 15f., 23, 42, 44f., 47, 72f., 82, 109, 113f., 117, 119, 126, 144, 167, 198, 249f., 258, 281, 286–290, 293f., 332f., 337, 341, 345, 348, 356, 361, 389, 402 Dekonstruktion 12, 38, 293 dekonstruktiv 12 Dialektik 13, 16, 28, 67, 69, 89, 93, 96, 106, 117, 131, 134, 138, 140f., 258, 287–290, 292, 294, 297, 311, 316, 318–324, 327, 329, 344, 369, 382, 385, 391, 395 Dialektische Theologie 9f., 18, 20f., 32f., 53, 69, 80, 110, 131f., 135–137, 140, 187, 241, 246–251, 253, 255–257, 271, 273, 275, 283, 292, 322, 343–346, 348, 369, 378, 383–385, 396 Dialog 11, 15, 17, 19, 59, 69, 75, 79, 81, 86, 95, 100, 105, 126, 131, 139, 149, 151f., 162f., 165, 182f., 188, 207f., 237f., 250, 257, 274, 292, 314, 317, 350, 358, 360f., 367, 370 dialogisch 16, 76, 79–81, 96, 130, 134, 144, 148, 163, 197, 366, 370, 380, 387, 394f., 402, 405 Differenz 12, 20, 32, 35f., 38, 42, 47, 86, 95, 98, 107, 110, 117, 123, 126, 256f., 284, 316, 344, 351, 360f., 364, 366, 376, 378, 380, 402 Durchbrechung der Versäulung 389f., 404 Einheit der Kirchen 229, 336, 340 Ekklesiologie 20, 73, 225, 227, 261, 272, 349, 351, 353, 355, 363, 365 Entsäulung 374, 379f., 399 Erfahrung 14, 22, 61, 80–83, 85f., 96, 101, 125, 142, 145, 158, 166, 184, 190, 196f., 203, 230, 271, 276, 283, 293, 310–312, 317, 319, 321, 324f., 327–329, 372, 390f., 394, 399f., 402 Erlösungslehre 346 Erster Weltkrieg 52, 69, 108, 117, 131, 184, 347, 369, 381, 383, 395, 403

Sachregister

Eschatologie 73, 122, 191, 195, 243, 359 eschatologisch 62, 73, 112, 117f., 243, 252, 259f., 266, 273, 275, 294, 338, 340 Ethik 49, 52f., 65, 111f., 114f., 117, 119, 124, 126, 135–138, 202f., 205, 236, 257, 262, 274, 276, 282, 286, 330, 346, 355, 384f., 391, 407f. ethisch 13, 19, 23, 53, 61, 66, 71f., 91, 108, 110–112, 114f., 119–122, 166, 260, 276, 286, 346, 348, 354, 384, 398, 401, 403 Exklusivismus 34, 78f., 96 Französische Revolution 50 Freiheit 36, 53, 55–57, 83, 90, 101, 136f., 143, 156, 167, 170, 185, 227, 230–232, 245f., 252, 257, 304f., 312, 333, 344–346, 352, 358f., 365 Fundamentalismus 12, 238 fundamentalistisch 37f. Gottesfinsternis 80, 82 Gotteslehre 33, 115, 117 Hamartiologie 29 hamartiologisch 201 Henotheismus 155 Hermeneutik 13, 109f., 112, 175, 188, 236, 297, 322 hermeneutisch 12f., 15, 40, 45f., 95, 99f., 107–109, 113, 116, 118f., 121, 124, 356, 392, 394, 404 Hinduismus 11, 19, 39, 94, 96, 161, 207 Humanismus 20, 248, 250, 252, 293, 307 humanistisch 243, 294, 306 Humanität 28, 56, 58, 100, 143, 184, 237, 308, 317, 326 Immanuel-Christologie 19, 201 Islam 11, 17f., 20, 39, 46, 90–93, 96, 151–163, 165, 167f., 170–172, 174, 176, 178, 180f., 183–185, 207, 258, 313 islamisch 17f., 153f., 157, 159, 165f., 168f., 172–177, 179–185, 408 Judentum 11, 16f., 20, 39, 89f., 92–95, 129, 131f., 137, 142, 152, 154–158,

Sachregister

161–163, 207, 228, 254, 258, 319, 322, 324, 348, 362f., 366f. jüdisch 16f., 37, 93–95, 129–134, 137–142, 147–149, 153–158, 161f., 241, 251, 253f., 258, 323, 348, 363 Kapitalismus 135, 265, 282 katholisch 63, 67, 94, 152f., 168, 188, 227, 252, 259f., 323, 339, 341, 351f., 358, 361, 364, 373, 375, 408 Katholizismus 51, 92, 105, 248, 252, 296, 350f., 357 Kirchenkampf 229, 242, 284, 297, 385, 404 kolonialistisch 39 Kolonisation 174 Komparative Theologie 169 komparativ-theologisch 10, 18f. Konfession 24, 92, 103, 171, 184, 261, 332f., 336, 350, 352 konfessionell 10, 20, 71, 84, 92, 166, 227, 233, 280, 351, 365, 375–377, 379, 383f., 390, 393, 398f. konfessorisch 333, 339 Konstruktivismus 12, 146 Konstruktivistisch 32f. Kritische Theorie 316–319 Kulturtheologie 23, 65, 71, 280f., 347, 380, 384–386, 391, 394, 404f. kulturtheologisch 70f., 114, 380, 394–396, 400, 403 Leben-Jesu-Forschung 156f. Liberale Theologie 21, 81f., 85f., 141, 170, 175, 275, 281, 286, 354, 384, 401, 405 Lichter des Kosmos 44 Lichterlehre 19, 79, 81, 96, 103f., 198, 207, 306, 317, 355f. Mission 34f., 37, 92, 102, 270, 283, 363, 365f., 387 missionarisch 46, 92, 291, 355, 359f., 362–367 mittelorthodox 72f. Mittelorthodoxie 72f. modern 10, 12–15, 17f., 23, 31–34, 39, 51, 64f., 67, 69, 71–73, 76f., 79, 82–86, 110,

417 114, 165–168, 170f., 174f., 182–184, 190, 193, 202, 204, 249, 272, 282, 294, 296, 316–318, 328, 344–349, 353–356, 359, 367, 369–372, 375f., 379–382, 384–388, 391, 394, 401–405 Modernismus 12, 23, 183, 267f., 271, 379 Modernität 23, 85, 116, 281, 384f. modernitätstheoretisch 14, 70, 83, 86, 354, 381f., 396–398 Monotheismus 20, 90, 153–155, 162, 251, 258 monotheistisch 90, 154, 157, 163, 251 Nationalsozialismus 224, 314, 348, 362, 388, 403 natürliche Theologie 81f., 85, 102, 207, 292f., 314, 346, 356, 400, 402 Neocalvinismus 280f., 378f., 383f., 387, 404 neuprotestantisch 39, 344, 351, 359 Neuprotestantismus 92, 345, 351 Niederlande 14, 20f., 24, 69–72, 74, 82, 279–284, 369–381, 383, 386–388, 390, 392–394, 398f., 403–405 niederländisch 14, 21–23, 69–71, 74, 78, 81f., 86, 132, 190, 279–284, 294, 297f., 370f., 374f., 378–383, 386–388, 390f., 393f., 396, 398f., 401, 403–405 Nihilismus 230, 281, 312, 390f., 394, 401, 404 Offenbarung passim Offenbarungstheologie 17, 140, 166f., 176f., 182, 262, 346, 372 offenbarungstheologisch 12, 75–78, 103, 282, 284, 286, 343f., 362, 365, 367, 369f., 400f. Ökumene 11, 19f., 23, 37f., 200, 221, 223, 225–230, 232, 234–239, 244, 259, 261, 272, 276, 279, 331–333, 336–341, 349, 351, 357 ökumenisch 10, 20, 23, 71, 94, 103, 105, 126, 188, 202, 207, 225f., 228f., 231–233, 235f., 242f., 247, 259, 261, 279, 331–333, 335–337, 339, 341, 343, 348–350, 356–367

418 ökumenische Bewegung 227, 229, 333, 351 Ökumenischer Rat der Kirchen 229, 259, 331, 334f. Orthodoxie 20, 241–244, 246f., 251f., 256, 268, 352f., 386f. Panentheismus 205, 252 Phänomenologie 298 Pietismus 53, 55, 199, 383 Pluralisierung 10, 16, 33, 223, 225, 395 Pluralismus 10, 15, 23, 101, 140, 169, 189, 225, 237, 348, 387, 395, 402f. Pluralismusuntauglichkeit 12 pluralistisch 12, 20, 22, 28, 36, 126, 314, 403 Pluralität 12, 15f., 21, 23, 34–38, 46, 118, 123–125, 189, 283, 376, 378, 380 Pneumatologie 73, 104f. pneumatologisch 15, 72f., 346, 354f., 401 Polytheismus 155 postmodern 12, 33–36, 402, 405 Postmoderne 33f. Postmodernismus 23, 399, 402, 405 protestantisch 18, 20, 30, 63–65, 107, 135, 137, 160, 166, 168, 170, 189, 193, 225, 243, 247f., 252, 259, 266, 280, 285, 323, 352f., 375, 379f., 388, 390, 393, 403 Reich Gottes 52, 65, 118f., 121, 163, 236, 334 Religion passim Religionsgespräch 149f. Religionskritik 11, 14f., 18, 21f., 31, 56, 82, 86, 89, 99f., 117, 122, 124, 168, 171, 202, 237f., 263, 279, 282, 292–295, 300, 302, 305, 307–309, 313, 316–319, 321f., 324, 328, 330, 343–347, 349, 351, 356f., 400f., 405 religionskritisch 9, 11, 22f., 35, 100, 224, 267, 282, 319, 343, 345, 347, 349f., 367, 401 religionsphänomenologisch 12, 78, 96 Religionsphilosophie 68, 109, 123, 136, 202, 245f., 318f., 408

Sachregister

– jüdische Religionsphilosophie 16, 129f., 134 – russische Religionsphilosophie 20, 241f. religionsphilosophisch 29, 245, 353, 401, 405 Religionspluralismus 16 religionspluralistisch 11, 21, 279, 405 Religionssoziologie 135, 356 Religionstheologie 12, 15, 27f., 31f., 34–36, 38, 89, 96–99, 103, 106, 125f., 285 religionstheologisch 10, 15, 29f., 33, 90, 96, 98f., 101, 106, 140 religionstheoretisch 10, 13, 16, 21, 75–78, 316, 330, 369 Religionstheorie 10, 12f., 33, 39, 44–48, 58, 79, 109, 116, 123, 283–285, 314, 387 Religionswissenschaft 34, 39, 203, 279, 283, 286f., 313, 317, 408 religionswissenschaftlich 10, 13, 18, 21, 29, 47, 96, 284f., 287f., 290f., 402 rezeptionsästhetisch 10, 20f., 81f., 356, 383, 398 Rezeptionskontext 371f. Romantik 13f., 49–56, 59, 65–68, 248 romantisch 14, 49, 54, 58f., 62, 64–68, 135 römisch-katholisch 23, 94, 226f., 331f., 335–337, 339f., 350, 361 säkularisiert 69, 75, 82, 86, 292, 320, 401, 404 Säkularisierung 14, 20f., 81, 131, 188, 223–225, 281, 283, 319–321, 323, 376, 393 Säkularisierungsdebatte 223, 404 Säkularisierungstheorie 372 Säkularität 102, 149, 380 Schöpfungslehre 22, 257, 301 Shin-Buddhismus 95, 188–190, 193, 197f. Sozialdemokratie 258, 280, 379 Sozialismus 58, 81f., 112, 242, 306f., 396 spätmodern 14, 85 Spätmoderne 85 Synergismus 284, 287f.

Sachregister

Theologiegeschichte 9, 29, 66, 70, 83, 85, 242, 314, 352, 369 theologiegeschichtlich 10f., 13f., 21, 69f., 75f., 79, 81–86, 281, 285, 372, 379–382, 385f., 388–390, 392f., 395–397, 399–401, 405 Toleranz 28, 35, 37f., 348 trinitarisch 17, 20, 37, 153–155, 167, 236, 251, 258 Trinitätslehre 20, 91, 162f., 243, 258, 345 trinitätstheologisch 99 universal 45, 97, 101, 103, 106, 199–202, 206–208, 244f., 265, 273, 335, 340, 348 Universalismus 103f., 402 universalistisch 13, 16, 40, 380, 386 Ursprungsdenken 16, 134f., 138, 148

419 Verborgenheit 16f., 80, 141f., 148, 150, 295, 387 Vermittlungstheologie 352f. vermittlungstheologisch 84, 380, 384, 403 Versäulung 280f., 374–379, 383, 388, 398 Versöhnungslehre 42, 351, 355 wahre Religion 9, 13, 18, 30f., 40f., 77f., 99, 108–110, 113, 116f., 281, 285, 290f., 298, 325f. Wahrheitsanspruch 46, 78, 87, 98, 100f., 284 Wahrheitsfrage 20, 108, 198, 290, 333 Zweiter Weltkrieg 70, 74, 148, 206, 208, 232, 258, 280, 283, 348, 379, 381, 385, 388, 391 Zweites Vatikanisches Konzil 94, 227, 335–339, 349, 357f.