Kant und Swedenborg: Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis 9783484970854, 9783484810389

Kant as the leading representative of the philosophical enlightenment and the seer Swedenborg, regarded as the father of

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Kant und Swedenborg: Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis
 9783484970854, 9783484810389

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Vorwort
Abkürzungen
Die Swedenborgforschung: ein persönlicher Überblick
Überlegungen zur Umbruchsituation 1765–1766 in Kants philosophischer Biographie1
Kant – „Zwillingsbruder“ Swedenborgs?
Träume eines Geistersehers – Polemik gegen die Metaphysik oder Parodie der Popularphilosophie?
Swedenborg in der Kritik der reinen Vernunft
Schwärmerei und Geisterseherei, Aufklärung und analytische Psychologie: Kant und Swedenborg aus der Sicht von C. G. Jung
Swedenborg aus der Sicht von Kant und der akademischen Kantforschung
Backmatter

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Hallesche Beitrge zur Europischen Aufklrung Schriftenreihe des Interdisziplinren Zentrums fr die Erforschung der Europischen Aufklrung Martin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg

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Kant und Swedenborg Zugnge zu einem umstrittenen Verhltnis

Herausgegeben von Friedemann Stengel

n Max Niemeyer Verlag Tbingen

Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Wolfgang Hirschmann, Gabriela Lehmann-Carli, Monika Neugebauer-Wçlk, Jrgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Wilhelm Khlmann, Wolfgang Levermann, Jean Mondot, Jrgen Osterhammel, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling Redaktion: Ulrich Diehl Satz: Kornelia Grn

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-81038-9

ISSN 0948-6070

 Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Printed in Germany. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

INGE JONSSON: Die Swedenborgforschung: ein persönlicher Überblick . . . . . . . . . . . . . . .

1

REINHARD BRANDT: Überlegungen zur Umbruchsituation 1765–1766 in Kants philosophischer Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

FRIEDEMANN STENGEL: Kant – „Zwillingsbruder“ Swedenborgs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

GREGORY R. JOHNSON: Träume eines Geistersehers – Polemik gegen die Metaphysik oder Parodie der Popularphilosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

MONIQUE DAVID-MÉNARD: Swedenborg in der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

PAUL BISHOP: Schwärmerei und Geistersehrerei, Aufklärung und analytische Psychologie: Kant und Swedenborg aus der Sicht von C. G. Jung . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

WOUTER HANEGRAAFF: Swedenborg aus der Sicht von Kant und der akademischen Kantforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

In Immanuel Kant als dem führenden Vertreter der philosophischen Aufklärung und dem Naturforscher und Geisterseher Emanuel Swedenborg, der als Geburtshelfer der modernen Esoterik gilt, stehen sich zwei offenbar völlig gegensätzliche Repräsentanten des 18. Jahrhunderts gegenüber. Bei Kants und Swedenborgs literarischer Begegnung scheinen die beiden paradigmatischen Weltbilder der Aufklärung und der Esoterik aufeinanderzuprallen und danach getrennte Wege zu gehen. So urteilte der Marburger Kirchenhistoriker Ernst Benz bereits 1941, Kant habe Swedenborgs Lehre mit seinen 1766 anonym erschienenen Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik nicht nur dem „Fluch der Lächerlichkeit“ ausgesetzt, er habe sie sogar hingerichtet.1 Ganz anders hatte der Hallesche Kantforscher Hans Vaihinger ein halbes Jahrhundert vorher das Verhältnis Kants zu Swedenborg gesehen: Man dürfe den Zusammenhang zwischen beiden weder übertreiben noch in den entgegengesetzten Fehler verfallen, ein positives Verhältnis zwischen ihnen nämlich ganz „hinwegzuleugnen“.2 Nicht erst in den häufig scharf voneinander getrennten Bereichen der Kant- und der Swedenborgforschung des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Diskussion mit vielen Schattierungen, aber dennoch zwischen diesen konträren Positionen verlaufen, bereits die Zeitgenossen Kants und Swedenborgs haben ganz unterschiedliche Versuche unternommen, Kants Umgang mit Swedenborg zu verstehen. Der vorliegende Band basiert auf Vorträgen, die Ende August 2006 anlässlich eines Internationalen Kant-Swedenborg-Workshops am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) in Halle gehalten wurden. Diese Veranstaltung hatte es nicht zum Ziel, ein endgültiges und harmonisiertes Urteil über das weithin umstrittene Verhältnis zwischen Kant und Swedenborg herbeizuführen. Vielmehr war beabsichtigt, unter dem Stichwort different approaches die disparaten Sichtweisen der letzten Jahre miteinander zu konfrontieren und deren Vertreter aus Philosophie, Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft und Theologie miteinander ins Gespräch zu bringen. So ergeben die nun hier präsentierten Aufsätze auch nicht ein harmonisiertes und einhelliges Urteil, sie stehen vielmehr für die verschiedenen Zugangs- und Interpretationsmöglichkeiten aus einer interdisziplinären Perspektive. 1

2

Benz, Ernst, Immanuel Swedenborg als geistiger Wegbahner des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 19 (1941), S. 2, 12f. Vaihinger, Hans, Commentar zu Kants Kritik der Reinen Vernunft. Stuttgart / Berlin / Leipzig 1892, Bd. 2, S. 431.

VIII Den Anfang des Bandes bilden zwei Beiträge führender Vertreter der Kant- und der Swedenborgforschung. Der Stockholmer Literaturwissenschaftler Inge Jonsson, seit Jahrzehnten Nestor und weltweit bester Kenner der akademischen Swedenborgforschung, liefert einen allgemeinen und grundlegenden Überblick über die Probleme und Schwerpunkte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Swedenborg vom 19. Jahrhundert bis auf unsere Tage. Aus der Perspektive der Kantforschung steuert der Marburger Philosoph Reinhard Brandt eigene Überlegungen zur kritischen, eng mit den Träumen eines Geistersehers verbundenen Wende in Kants philosophischer Biographie bei, wobei anhand von Kants mit Swedenborg konnotierter Kritik nicht an den Inhalten, sondern an der Methode der Metaphysik in den Träumen die Neuaufteilung von theoretischer und praktischer Philosophie in den Blick genommen wird. Sowohl vom Text als auch von den zeitgenössischen Reaktionen auf die Träume ausgehend, untersucht der Hallesche Kirchenhistoriker Friedemann Stengel Überschneidungen und partielle Aneignungen von Lehrelementen Swedenborgs durch Kant, die sich von dem Namen Swedenborgs selbst getrennt haben und in Kants Religions- und Moralphilosophie integriert worden sind. Der Philosoph Gregory R. Johnson (Atlanta) bietet eine streng auf den Text konzentrierte Interpretation der Träume und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass der Problemkreis ‚Swedenborg und die Metaphysik‘ in den einzelnen Kapiteln der Schrift gleichsam von mehreren fiktiven Personen kontrovers diskutiert wird, unter denen sich auch Kants eigene Stimme befindet. Die Pariser Psychoanalytikerin und Philosophin Monique David-Ménard stellt ihre These vor, dass sich die Abwehr der Behauptung Swedenborgs, in Kontakt mit einer intelligiblen Welt von Geistern zu stehen, als Negativfolie bis in die Kritik der reinen Vernunft hinein verfolgen lässt. Dass die spezifische Lesart eines ausgesprochen engen Verhältnisses zwischen Kant und Swedenborg zur faktischen Rezeption innerhalb der Wissenschaftsgeschichte gehört, zeigt der Germanist Paul Bishop (Glasgow) am Beispiel des Protagonisten der Tiefenpsychologie Carl Gustav Jung, der sich bei der Entwicklung seiner Lehre selbst als Kantianer verstand. Abschließend macht der Amsterdamer Religionswissenschaftler Wouter J. Hanegraaff auf die tiefe Diskrepanz aufmerksam, die zwischen der intensiven Beschäftigung Kants mit Swedenborg und dem geringen Interesse der akademischen Kantforschung an Swedenborg seit dem Ende des 19. Jahrhunderts besteht. Für ihre Mithilfe bei der Herstellung des Bandes wird Kornelia Grün, Ulrike Messe, Grit Neugebauer und Dr. Ulrich Diehl herzlich gedankt. Die Übersetzung des Beitrags von Gregory R. Johnson ist vom Herausgeber besorgt worden. Für die Aufnahme des Bandes in die Halleschen Beiträge zur Europäischen Aufklärung gebührt dem Herausgeberkreis, dem IZEA, insbesondere aber Monika NeugebauerWölk und der von ihr geleiteten DFG-Forschergruppe „Die Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik“, welcher der Herausgeber angehört und in deren Rahmen der Workshop veranstaltet worden ist, ebenfalls herzlicher Dank. Halle, im Juni 2008

Friedemann Stengel

Abkürzungen

Die Schriften Kants werden nach der Akademie-Ausgabe zitiert, nur im Falle der Kritik der reinen Vernunft wird auf die Seitenzählung der 1. (A) oder 2. (B) Auflage Bezug genommen. Swedenborgs Schriften finden sich im lateinischen Original und in Übersetzungen unter http://www.baysidechurch.org/writings.cfm und http://www.wlbstuttgart.de/referate/theologie/swedvotx.html. Die nach den Abkürzungen von Swedenborgs Schriften genannten Ziffern beziehen sich, wenn nicht anders ausgewiesen, nicht auf Seitenangaben, sondern auf die Nummerierung.

AA

Akademie-Ausgabe

AC

Swedenborg, Emanuel, Arcana coelestia, quae in scriptura sacra, seu verbo domini sunt, detecta. Londini 1749–1756; deutsch: Himmlische Geheimnisse, die in der Heiligen Schrift, dem Worte des Herrn, enthalten und nun enthüllt sind. 9 Bde. Zürich 1975.

GMS

Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1785.

KpV

Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft. 1788.

KrV

Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft. 1. Aufl. (A) 1781; 2. Aufl. (B) 1787.

KU

Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft. 1790.

R

Kant, Immanuel, Reflexionen aus dem Nachlaß.

RGblV

Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 2. Aufl. 1794.

VCR

Swedenborg, Emanuel, Vera christiana religio, continens universam theologiam novae ecclesiae a Domino apud Danielem VII. 7, 13–14 et in Apocalypsi XXI, 1.2 praedictae. Amstelodami 1771; deutsch: Die wahre christliche Religion. 4 Bde. Zürich 1960.

INGE JONSSON (Stockholm)

Die Swedenborgforschung: ein persönlicher Überblick

Jeder Versuch, die Literatur über einflussreiche Denker und Dichter kurz zusammenzufassen, ist notorisch schwierig, und wichtige Beiträge riskieren, nicht beachtet zu werden. Aber im Falle Emanuel Swedenborgs (1688–1772) entstehen auch spezielle Schwierigkeiten. Es besteht kein Zweifel, dass die Erforschung seines Lebens und Werks von den stark auseinandergehenden Meinungen über seine religiösen Ansprüche und Ansichten bestimmt worden ist, die schon in seiner Lebenszeit entstanden. Gegen eine vergleichsweise kleine Anzahl von Verehrern und Jüngern stand ein unheiliger Bund von Vertretern der Aufklärung wie Kant oder Johan Henrik Kellgren (1751–1795) in Schweden und orthodoxen Geistlichen, denen die Zensur und andere Machtmittel zu Verfügung standen. Ihre Angriffe auf den Geisterseher, die oft sehr höhnisch waren, erregten nicht nur eine apologetische Haltung bei den Anhängern, sondern auch Gefühle der Unsicherheit und des Zauderns bei den Gebildeten. Diese Stimmungen leben immer noch weiter. Vielfach ist die Frage an mich gestellt worden, warum ich meine Zeit für einen so wunderlichen Verfasser verwendet habe und über einen langen Zeitraum war ich auch ziemlich einsam als profaner Swedenborgforscher in seinem Heimatland. Dieser summarische Überblick soll mit einem Lob der neukirchlichen Tradition begonnen werden, weil es in vielerlei Hinsicht wohlverdient ist. Etwa zehn Jahre nach Swedenborgs Tod entstanden die ersten von Swedenborgs Schriften inspirierten Gesellschaften in England, mit dem primären Zweck, eben diese Schriften allgemein zugänglich zu machen. Die Lehre Swedenborgs wurde dann auch in den USA bekannt gemacht. Nach und nach entwickelten sich hier nationale Kirchen aus einer Menge von kleinen lokalen Gemeinden. Ohne den hingebungsvollen Einsatz von Gläubigen zuerst in England und in den Vereinigten Staaten, aber auch in Deutschland, wären heute gewiss weder Ausgaben von Swedenborgs zahlreichen unveröffentlichten Werken noch Übersetzungen seiner lateinischen Bücher zu haben. Die Arbeit fing schon kurz nach Swedenborgs Tod in London an, aber ein großer Teil der umfassendsten Projekte ist mit dem deutschen Namen Tafel verbunden. Im Jahre 1841 erhielt der berühmte Chemiker Jöns Jakob Berzelius (1779– 1848) als Secrétaire perpétuel der königlichen Akademie der Wissenschaften in Stockholm eine Anfrage der Swedenborg Society in London zum Besitzrecht eines Swedenborg-Manuskripts, das die Gesellschaft in ihrer Obhut hatte. Berzelius konnte sofort bestätigen, dass die Erben Swedenborgs alle hinterlassenen Manuskripte der Akademie, deren Mitglied Swedenborg seit 1740 gewesen war, geschenkt hatten. Die englische Gesellschaft antwortete darauf, dass sie das Manu-

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Inge Jonsson

skript selbstverständlich zurückgeben würde, aber sie bat um eine Frist, um es in Deutschland übersetzen zu lassen.1 Der Grund für die Übersendung des Manuskripts nach Tübingen hieß Johann Friedrich Immanuel Tafel, Bibliothekar an der Universität und später Professor der Philosophie. Er war 1796 geboren und hatte von Jugend auf als Übersetzer der theologischen Werke Swedenborgs und als Sammler von Dokumenten über ihn und die Neue Kirche gearbeitet. Außerdem war er als apologetischer Schriftsteller tätig. Seine Bedeutung für die Verbreitung der Gedanken Swedenborgs, vor allem als unermüdlicher Herausgeber und Übersetzer von bis dahin ungedruckten Werken, kann kaum überschätzt werden. Wenn auch mehrere der großen deutschen Dichter und Denker um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert – Lavater, JungStilling, Goethe, Schelling, Schubert, von Baader, Görres – Swedenborg mit großem Interesse gelesen hatten, wurde das Werk des Geistersehers dem Publikum ohne Lateinkenntnisse eigentlich nur durch den fleißigen Bibliothekar, Herrn Doktor Tafel zugänglich.2 In England und in den USA war es anders: Besonders in Großbritannien gewann sein [Swedenborgs] Einfluss schnell an Kraft, weil einige seiner Werke den Lesern schon zu seinen Lebzeiten auf Englisch verfügbar waren; und innerhalb von 20 Jahren nach seinem Tod 1772 waren alle größeren und viele der kleineren theologischen Werke ins Englische übersetzt. [...] Der erste Verlag, der sich dem Druck der Werke Swedenborgs widmete, die Manchester Printing Society, wurde 1782 gegründet, nur ein Jahrzehnt nach seinem Tod.3

Im Hinblick auf die Akten und Daten zum Leben und Werk Swedenborgs haben sich Immanuel Tafel und noch mehr sein in die USA ausgewanderter Neffe Rudolf Leonhard Tafel (1831–1880) die größten Verdienste erworben, der erstere durch eine vierbändige Sammlung von Texten über das „Leben und den Charakter E. Swedenborgs“ (1839–1845), der letztere durch eine noch umfassendere Sammlung. Um seinen Onkel zu ehren, übersetzte Rudolf Tafel sowohl den Titel als auch den Inhalt der deutschen Sammlung, als er seine eigenen drei riesigen Bände Documents concerning the Life and Character of Emanuel Swedenborg (1875–1877) in London veröffentlichte, aber er hatte auch während einer Forschungsreise nach

1

2

3

Tafel, Rudolf L. (Hg.), Documents concerning the Life and Character of Emanuel Swedenborg. London 1877 [Nachdruck 2004], S. 797–834; Jonsson, Inge, Swedenborg i Tyskland: resor, reflexer, reception, in: Hillerud, Kai-Inge (Hg.), Bland böcker och människor. Festschrift an Wilhelm Odelberg. Uddevalla 1983, S.170–171. Jonsson, Tyskland, (wie Anm. 1), S. 171–172; Bergmann, Horst, Johann Friedrich Immanuel Tafel (1796–1863). Initiator einer Bewegung, in: Zwink, Eberhard (Hg.), Emanuel Swedenborg 1688–1772. Naturforscher und Kundiger der Überwelt. Stuttgart 1988, S. 93–96; Mayer, JeanFrançois, Swedenborg and Continental Europe, in: Rose, Jonathan S. / Shotwell, Stuart / Bertucci, Mary Lou (Hg.), Emanuel Swedenborg. Essays for the New Century Edition on His Life, Work, and Impact. West Chester 2005, S. 177f. Kirven, Robert H. / Eller, David B., Selected Examples of Swedenborg’s Influence in Great Britain and the United States, in: Rose / Shotwell / Bertucci, (wie Anm. 2), S. 196 [Übers. F. S.].

Die Swedenborgforschung: ein persönlicher Überblick

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Schweden eine Menge von bisher unbekannten Urkunden aufgespürt. Es ist seine Sammlung, die das Standardwerk in der Swedenborgliteratur geworden ist. Einige Jahre nach Immanuel Tafels Tod 1863 ergriff eine der amerikanischen Swedenborggemeinschaften die Initiative zur Fortsetzung seiner Arbeit als Herausgeber sämtlicher Handschriften Swedenborgs und ein Komitee wurde beauftragt, die praktischen Voraussetzungen zu untersuchen. Nachdem die Gemeinschaft eine große Schenkung bekommen hatte, wurde Rudolf Tafel mit der Aufgabe betraut, alle Manuskripte sicherheitshalber zu reproduzieren. Das Projekt wurde mit Hilfe der neuerfundenen photolithographischen Technik in Stockholm durchgeführt. Während der Jahre 1869 und 1870 konnte Tafel zehn Bände veröffentlichen, die aus solchen Kopien, vorwiegend aus wissenschaftlichen Manuskripten, bestanden. Die Auflage belief sich auf 110 Exemplare, die den führenden Bibliotheken der Welt geschenkt wurden. Aus mindestens zwei Gründen muss dieses Projekt auch bei denen Aufsehen erregt haben, die sich nicht für den Inhalt interessierten: Erstens war es das erste Mal, dass die photolithographische Technik benutzt wurde, um die Zusammenarbeit zwischen Forschern zu befördern. Und zweitens war die Freigebigkeit fast einzigartig.4 Jedoch hatte auch sie ihre Grenzen. Man hatte offenbar die Kosten für die Reproduktion der etwa 20.000 Seiten unterschätzt. Deshalb wurde zunächst nur ein Viertel des Materials herausgegeben, leider in einem wissenschaftlich nicht ganz befriedigenden Zustand. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde indessen eine neue Reihe von phototypischen Kopien unter der Leitung eines jungen amerikanischen Swedenborgpastors namens Alfred Stroh gestartet. Er agierte auch als Herausgeber einer Reihe früher wissenschaftlicher Werke Swedenborgs bei der Akademie der Wissenschaften in Stockholm und verwurzelte sich tief in Schweden. Leider wurde er nur 44 Jahre alt, aber während seines kurzes Lebens vermochte er dank seiner eingehenden Kenntnis sowohl des intellektuellen Hintergrundes Swedenborgs als auch seiner Texte eine viel festere Basis für die Swedenborgforschung zu legen.5 Gemeinsam mit Stroh und den Herren Tafel hat Alfred Acton (1867–1956) mit mehreren erstklassigen Übersetzungen und Ausgaben einen Rang unter den neukirchlichen Forschern erworben: die Sammlung von Exzerpten in A Philosopher’s Note Book (1931) und von Briefen und Dienstakten in Letters and Memorials of Emanuel Swedenborg (1948–55) sind besonders wertvoll. 4

5

Eby, S. C., The Story of the Swedenborg Manuscripts. New York 1926, S. 40–47; vgl. auch Woofenden, William Ross, Swedenborg Researcher’s Manual. Bryn Athyn 1988, S. 135–136; Sigstedt, Cyriel O., The Swedenborg Epic. The Life and Works of Emanuel Swedenborg. New York 1952, S. 442–443: „Über die Jahre wurde durch den Fleiß verschiedener Organisationen in Amerika und England und durch die Tätigkeit von Rudolf Leonard Tafel, Alfred Henry Stroh, Alfred Acton und anderen jedes noch vorhandene Wort Swedenborgs mit verschiedenen Methoden in genauer Reproduktion konserviert: durch Photolithographie, Photosatz und Photokopie.“ [Übers. F.S]. Eby, (wie Anm. 4), S. 50–55; Jonsson, Inge, A Drama of Creation. Sources and Influences in Swedenborg’s Worship and Love of God. West Chester 2004, S. 8f.

4

Inge Jonsson

Amerikanische Zeitschriften wie The New Philosophy (seit 1898) und Studia Swedenborgiana (seit 1974) sind bedeutende Foren für die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, die nicht nur für Mitglieder der Neuen Kirche offen stehen. Im Zusammenhang mit großen Jubiläen, vor allem mit der Hundertjahrfeier der britischen Swedenborg Society 1910 und mit dem 300. Geburtstag Swedenborgs 1988, haben verschiedene neukirchliche Gesellschaften inhaltsvolle Bücher veröffentlicht.6 Nicht zuletzt muss die fortdauernde Herausgabe der theologischen Werke Swedenborgs in neuen Übersetzungen beachtet werden. Derzeit arbeitet ein Team an einer neuen gesammelten Ausgabe auf Englisch unter der Leitung der Swedenborg Foundation in West Chester, Pennsylvania: The New Century Edition of the Works of Emanuel Swedenborg. Trotz dieser großen editorischen Anstrengungen muss jedoch auch das grundlegende Problem der neukirchlichen Forschung kommentiert werden. Die Jünger Swedenborgs sind gewiss nicht von Lehrstreitigkeiten und Sektenwesen verschont geblieben. Bis heute sind sie sich wohl nicht ganz einig über den theologischen Status seiner Schriften. Dass er erwählt wurde, um eine göttliche Botschaft vom wahren Christentum – vera christiana religio – zu vermitteln, wird aber nicht in Frage gestellt, sondern ist der neukirchliche Ausgangspunkt für das Studium seines Lebens und Werks. Dadurch entsteht natürlich eine missionierende und apologetische Haltung innerhalb der Gesellschaften, die nur eine verschwindende Minorität der Christenheit ausmachen.7 Und es gibt Tendenzen, die wissenschaftlichen Leistungen Swedenborgs zu überschätzen. Wenn ihm in der Geschichte der Gelehrsamkeit eine Stellung zugeschrieben wird, die nur mit Kepler, Newton oder Darwin vergleichbar sei, glaubt man offenbar, die höchste Autorität himmelstürmender Ansprüche, die Swedenborg in seinen theologischen Werken beansprucht, aus seinem „naturwissenschaftlichen“ Werk erwerben zu können. In einem Artikel in The New Philosophy wurde vor einigen Jahren Leibniz als Johannes der Täufer dargestellt, der – selbstverständlich dessen unbewusst – die Ankunft des Messias Swedenborg angekündigt habe.8 Es versteht sich von selbst, dass man die Ergebnisse solcher Studien behutsam behandeln muss. 6

7 8

Speirs, James (Hg.), Transactions of the International Swedenborg Congress 1910. London 1911; Brock, Erland J. u.a. (Hg.), Swedenborg and His Influence. Bryn Athyn 1988; Larsen, Robin u.a. (Hg.), Emanuel Swedenborg. A Continuing Vision. New York 1988; Zwink, (wie Anm. 2). Vgl. Williams-Hogan, Jane / Eller, David B., Organizational Impact, in: Rose / Shotwell / Bertucci, (wie Anm. 2), S. 245–335. Vgl. Nemitz, Kurt P., Leibniz and Swedenborg, in: The New Philosophy 94 (1991), S. 445f.: „Man kann diskutieren, ob Leibniz nicht nur an der Formgebung der philosophischen Welt, in der Swedenborg lebte, teilhatte, sondern eine noch viel bedeutendere Rolle in dem göttlichen Drama der Erlösung des menschlichen Denkens spielte. Leibniz’ ansprechende Thesen fordern das menschliche Denken zu zwei grundsätzlichen Fragen heraus: Wie regiert Gott die Welt, um das hervorzubringen, was vollkommen und gut ist – trotz der Realität des Bösen? Worin besteht die göttlich geordnete Beziehung zwischen Geist und Körper, durch die die gleichen Absichten Gottes realisiert werden? Es könnte behauptet werden, dass Leibniz durch das Ver-

Die Swedenborgforschung: ein persönlicher Überblick

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Zur Verteidigung der neukirchlichen Forscher kann das fehlende Interesse, das die Wissenschaftshistoriker für Swedenborg gezeigt haben, angeführt werden. Darum gibt es noch heutzutage keine zusammenfassende Bewertung seiner Position in der Geschichte der Gelehrtheit. Das macht die Rede in neukirchlichen Kreisen von „a conspiracy of silence“ leicht verständlich.9 Aber der hauptsächliche Grund ist gewiss im Abschluss der Karriere Swedenborgs zu finden, oder „in the fact that he wrote the Arcana Caelestia“, um einen neukirchlichen Verfasser zu zitieren.10 Einige haben seinen Übergang zur Bibelauslegung als einen Verrat an der Wissenschaft aufgefasst, andere erklärten ihn für geisteskrank. Keine dieser Alternativen hat augenscheinlich das Interesse hervorgerufen, mit ihm bekannt zu werden. Aber es hat gewiss auch eine wichtige Rolle gespielt, dass Swedenborg nicht in das kumulative Muster passt, das die Wissenschaftsgeschichte lange geprägt hat. Es gibt nur wenige Entdeckungen oder gelöste Probleme, die mit ihm verbunden sind, er machte auch keine akademische Karriere, die ihm Schüler und Nachfolger hätte bescheren können. Der Hauptteil seiner wissenschaftlichen Arbeiten sind Werke von einem Privatmann. Seine großen hirnphysiologischen Manuskripte blieben nahezu 150 Jahre unveröffentlicht und konnten deshalb keinen Einfluss auf die Entwicklung der Hirnforschung nehmen. Dies kann man angesichts der Hochachtung, mit der gerade diese Werke von den wenigen Fachleuten geschätzt worden sind, die die Kraft hatten, sie zu lesen, fast als tragisch bezeichnen.11 Meiner Meinung nach ist die wahre Größe Swedenborgs in den unerhörten Visionen hinter einem Wissensdrang zu finden, der keinen Anstrengungen auswich und sich innerhalb keiner Fachgrenzen einschließen ließ. Dies kann jedoch auch das zurückhaltende Verhalten der Wissenschaftshistoriker erklären. Wenn auch seine Belesenheit keineswegs so ungeheuer war, wie es die zahllosen Referenzen in seinen wissenschaftlichen Texten dem Leser zu verstehen geben – verschiedenes hat er sich in Wirklichkeit aus Übersichtswerken und anderen Sekundärquellen verschafft –, kann es mühsam genug sein, ihm auf die Sprünge zu kommen, denn

9 10 11

dienst, diese so einflussreichen Streitfragen aufgeworfen zu haben, angesichts der Wiederkunft des Herrn als ein endzeitlicher Johannes der Täufer gewirkt hat.“ Woofenden, William Ross, Swedenborg’s Philosophy of Causality, in: The New Philosophy 93 (1990), S. 240. Johnson, Philip H., Revelation through the Ages. London 1948, S.16, zit. bei Woofenden, (wie Anm. 9), l.c. Retzius, Gustaf, Emanuel Swedenborg als Anatom und Physiolog auf dem Gebiete der Gehirnkunde. Abdruck aus den Verhandlungen der Anatomischen Gesellschaft auf der siebzehnten Versammlung in Heidelberg vom 29. Mai bis 1. Juni 1903; Ramström, Martin, Swedenborg on the cerebral cortex as the seat of psychical activity, in: Speirs, (wie Anm. 6), S. 56–70; Neuburger, Max, Some important accordances between Swedenborg and modern physiologists, in: ebd., S. 117–125; Gordh, T. / Sourander, P., Swedenborg, Linné och hjärnforskningen, in: Nordisk medicinhistorisk årsbok (1990), S. 97–117; Morley, Thomas P., Brain, Soul and Swedenborg (1688–1772), in: The New Philosophy 96 (1993), S. 155–163; Gross, Charles G., Emanuel Swedenborg: a Neuroscientist before his time, in: The New Philosophy 102 (1999), S. 429–445 [Nachdruck aus: The Neuroscientist 1997].

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Inge Jonsson

weder sein eigenes Latein noch der Sprachgebrauch seiner Vorläufer sind immer leicht verständlich.12 Für den Nichtfachmann kommt die Schwierigkeit dazu, nicht nur den Inhalt seiner frühen Arbeiten in Physik und Astronomie, sondern auch die anatomische und physiologische Argumentation zu verstehen, die so viel Platz in den letzten Werken aus der wissenschaftlichen Periode in Anspruch nimmt. Dessen ungeachtet ist aber die Vernachlässigung Swedenborgs zu notieren, und sie ist peinlich. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts erkannten allerdings auch einige maßgebende Mitglieder der Akademie der Wissenschaften in Stockholm, unter anderen der künftige Nobelpreisträger Svante Arrhenius (1859–1927), dass die Akademie sich um ihr weltberühmtes Mitglied mehr bemühen sollte. Es gelang ihnen, ihre Kollegen davon zu überzeugen, dass eine wissenschaftliche Edition einer Anzahl kleiner Schriften des jungen Swedenborg sehr wichtig wäre: Im Dezember 1902 ernannte die Akademie auf meinen Vorschlag eine Kommission von 5 Mitgliedern, nämlich dem Physiologen Prof. Christian Lovén, dem Paläontologen und Geologen Prof. A. G. Nathorst, dem Mediziner und Gehirnforscher Prof. S. E. Henschen, dem Physiker Prof. Sv. Arrhenius und mir, welche beauftragt wurde, mit der gütigen Unterstützung von Mr. Stroh, die sämtlichen Manuskripte Swedenborgs zu durchmustern und der Akademie einen Bericht darüber zu erstatten, ob und in welchem Umfange dieselben zu veröffentlichen wären. Im April d.J. hat nun diese Kommission, deren Vorsitzender ich bin, der Akademie vorgeschlagen, den Druck zu beginnen, und zwar mit einer Auswahl sowohl der nicht gedruckten, wie der schon von Swedenborg selbst herausgegebenen, aber nunmehr ganz vergriffenen Schriften physikalischen, chemischen und geologisch-paläontologischen Inhalts, um danach eine Auswahl seiner anatomischen Schriften zu veranstalten. Die Akademie billigte diesen Vorschlag, worauf mit dem Drucke begonnen worden ist.13

Das Resultat waren drei kleine Bände, die unter dem lateinischen Titel Emanuel Swedenborg: Opera quaedam aut inedita aut obsoleta de rebus naturalibus. Nunc edita sub auspiciis Regiae Academiae Scientiarum Suecicae in den Jahren 1907 bis 1911 veröffentlicht wurden. Die geplante Auswahl von anatomischen Schriften ist dagegen nicht zustande gekommen. Einige spätere Untersuchungen in der Schriftenreihe der Akademie über Swedenborg als Mathematiker und Astronom sind leider von der ziemlich häufigen Schwäche der Studien moderner Naturforscher über ältere Perioden geprägt, nämlich dass sie die damalige intellektuelle Atmosphäre nicht genug berücksichtigen, sondern von dem jetzigen Stand der Wissenschaft ausgehen.14 Während der letzten Jahrzehnte sind doch einige erfreuliche Anzeichen dafür vorhanden, dass die Aussichten sich bessern. Die dienstliche Arbeit Swedenborgs bot ihm Gelegenheit, große mineralogische Werke vorzubereiten. Auch die alltäg12 13 14

Vgl. zum Beispiel Jonsson, Inge, Visionary Scientist. The Effects of Science and Philosophy on Swedenborg’s Cosmology. West Chester 1999, S.75. Retzius, (wie Anm. 11), S. 4f. Vgl. zum Beispiel Eneström, Gustaf, Emanuel Swedenborg såsom matematiker, in: Kungl. Svenska vetenskapsakademiens handlingar. Stockholm 1890, Bd. 15; Nordenmark, N. V. E., Swedenborg som astronom, in: ebd., Stockholm 1933, Bd. 23 A.

Die Swedenborgforschung: ein persönlicher Überblick

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liche Routine konnte bisweilen von spannenden Aufträgen unterbrochen werden. Der Wissenschaftshistoriker Svante Lindqvist hat in seiner Doktorarbeit Technology on Trial (Uppsala 1984) nachgewiesen, dass Swedenborg vom Bergwerkskollegium, seinem Reichsamt, im Jahre 1724 mit der Prüfung der Brauchbarkeit einer Dampfmaschine für den Bergbau beauftragt wurde. Das war die erste wissenschaftliche Evaluierung eines technischen Verfahrens in Schweden. Sie wurde mit einer so großen Sorgfalt betrieben, dass sowohl das Amt als auch spätere Forscher damit zufrieden waren.15 Im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts legte eine italienische Kollegin Lindqvists, Francesca Maria Crasta, an der Universität zu Cagliari ihre Dissertation La filosofia della natura di Emanuel Swedenborg vor. Sie hat die Entwicklung Swedenborgs bis 1734 studiert. Auch wenn sie kaum neue Ergebnisse vorweisen kann, so ist ihr Buch doch von der sympathischen Bestrebung gekennzeichnet, die Naturphilosophie Swedenborgs aus den Verhältnissen ihrer Zeit heraus zu betrachten.16 In noch höherem Maße gilt dasselbe für die erste wissenschaftshistorische Doktorarbeit in Schweden, die sich nur mit Swedenborg beschäftigt: das mehr als 550 Seiten umfassende Buch Världsmaskinen. Emanuel Swedenborgs naturfilosofi (Lund 2004) von David Dunér. Es endet zwar im Jahre 1734, als Swedenborg von der anorganischen zur organischen Natur überging, aber Dunér verknüpft das Bemühen, Swedenborg historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mit einer selbständigen und tief einsichtsvollen Analyse seines mathematisch geprägten Denkens, das auch für die Erklärung der Struktur der Geisterwelt bedeutungsvoll ist. Der Stil des Buches entspricht hohen literarischen Anforderungen: Der Verfasser hat auch Mathematik studiert und kann mit seiner breiten kulturhistorischen Bildung dem Leser sowohl lehrreiche als auch ästhetische Erlebnisse bieten. Wie Dunér hervorgehoben hat, ist die bisherige Rezeptionsforschung im Falle Swedenborgs viel umfangreicher als die Studien zu seinem Leben und Werk.17 Diese Beobachtung gilt für die Literatur innerhalb und außerhalb der Neuen Kirche. Auf diesem Gebiet ist die Wissenschaftsgeschichte und die Religionsforschung besser repräsentiert. Neukirchliche Forscher wie Marguerite Beck Block, Freda Griffith und Jane Williams-Hogan haben die verschiedenen Swedenborggesellschaften in den Vereinigten Staaten und Grossbritannien gründlich untersucht.18 Die deutsche 15 16 17 18

Lindqvist, Svante, Technology on Trial. The Introduction of Steam Power Technology into Sweden 1715–1736. Uppsala 1984, S. 163–170. Crasta, Francesca Maria, La filosofia della natura di Emanuel Swedenborg. Milano 1999; vgl. meine Besprechung, in: ISIS 93, Nr. 2 (Juni 2002), S. 312f. Dunér, David, Världsmaskinen. Emanuel Swedenborgs naturfilosofi. Lund 2004, S. 18–22. Vgl. Beck Block, Marguerite, The New Church in the New World. A Study of Swedenborgianism in America. New York 1968 [1932]; Griffith, Freda G., The Swedenborg Society 1810– 1960. London 1960; Williams-Hogan, Jane, A New Church in a Disenchanted World. A Study of the Formation and Development of the General Conference of the New Church in Great Britain, Diss. phil.: University of Pennsylvania 1985; vgl. auch den oben genannten Artikel von Williams-Hogan und Elder in Rose / Shotwell / Bertucci (Anm. 7).

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Rezeption ist vorwiegend von dem Kirchenhistoriker Ernst Benz, seinem Schüler Friedemann Horn und dem Germanisten Michael Heinrichs eruiert worden. Hinsichtlich der Rezeption in Frankreich sind über das Buch von Auguste Viatte Les sources occultes du romantisme (1928) hinaus zwei neuere Werke zu erwähnen: Swedenborg en France von dem schwedischen Wissenschaftshistoriker Karl-Erik Sjödén und The Dream of an Absolute Language. Emanuel Swedenborg and French Literary Culture von der amerikanischen Komparatistin Lynn Wilkinson.19 In der Mitte der 1990er Jahre veröffentlichten zwei schwedische Wissenschaftshistoriker, Jakob Christensson in Lund und Jan Häll in Uppsala, umfassende und wohlbegründete Dissertationen über die frühen Swedenborgianer in Schweden, von denen einige durch ihre alchemistischen und magnetischen Aktivitäten einen Schatten auf den Meister warfen.20 Der Kirchenhistoriker in Uppsala, Harry Lenhammar, hat zwei wertvolle Studien über den frühen Swedenborgianismus in Schweden verfasst und sich dabei auf die Konflikte in der damaligen Staatskirche konzentriert, die in erheblichem Grad von Intoleranz und der Macht der Zensur gekennzeichnet waren. Diese beide Bücher, die 1966 und 1974 veröffentlicht wurden, stehen in scharfem Gegensatz zu dem fast betäubenden Stillschweigen über Swedenborg in der schwedischen Theologie.21 Bereits einige der eben erwähnten Werke konzentrieren sich auf den literarischen Einfluss Swedenborgs. Im Falle der säkularen akademischen Swedenborgforschung sind die Literaturhistoriker am aktivsten gewesen. Für die schwedische, teilweise auch für die internationale Forschung verdient das Buch von Martin Lamm Swedenborg. En studie öfver hans utveckling till mystiker och andeskådare, als bahnbrechend charakterisiert zu werden.22 Lamm hat ein Gesamtbild von der literarischen Tätigkeit Swedenborgs gezeichnet und betrachtet sie als ein Kontinuum. Schon in den wissenschaftlichen Werken Swedenborgs bis zu seiner biographischen Wende 1745 meinte Lamm die Grundstruktur der Geisterwelt identifizie19

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Vgl. Benz, Ernst, Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs nach neuen Quellen bearbeitet. Frankfurt/M. 1947; ders., Emanuel Swedenborg. Naturforscher und Seher. München 1948 (englisch: Swedenborg. Visionary Savant in the Age of Reason. West Chester 2002); Horn, Friedemann, Schelling and Swedenborg. Mysticism and German Idealism. West Chester 1997 (deutsch: 1954); Heinrichs, Michael, Emanuel Swedenborg in Deutschland. Eine kritische Darstellung der Rezeption des schwedischen Visionärs im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1979; Sjödén, Karl-Erik, Swedenborg en France. Stockholm 1985; Wilkinson, Lynn, The Dream of an Absolute Language. Emanuel Swedenborg and French Literary Culture. New York 1996. Vgl Christensson, Jakob, Lyckoriket. Studier i svensk upplysning. Lund 1996; Häll, Jan, I Swedenborgs labyrint. Studier i de gustavianska Swedenborgianernas liv och tänkande. Uppsala 1995. Lenhammar, Harry, Tolerans och bekännelsetvång. Studier i den svenska swedenborgianismen 1765–1795. Uppsala 1966; ders., Religion och tryckfrihet i Sverige 1809–1840. Uppsala 1974. Stockholm 1915; deutsch: Swedenborg. Eine Studie über seine Entwicklung zum Mystiker und Geisterseher. Leipzig 1922; englisch: Emanuel Swedenborg. The Development of His Thought. West Chester 2000. Eine französische Übersetzung wurde 1936 veröffentlicht.

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ren zu können. Wenn auch die neuere Forschung Einzelheiten berichtigt und die Begrenzung auf die rein philosophischen Vorstellungen in den umfangreichen Studien Swedenborgs in Frage gestellt hat, besteht wenig Zweifel, dass seine generelle Auffassung überdauern wird. Im Zusammenhang mit der Überführung der irdischen Überreste Swedenborgs von London nach Uppsala im Jahre 1908 und einer internationalen Konferenz in London 1910 verstärkte sich das einheimische Interesse, das in den späten Werken August Strindbergs und in der Edition der Akademie der Wissenschaften seinen Niederschlag gefunden hatte. Die Swedenborgstudie von Martin Lamm kann man in diesem Sinne als typisch für diese Zeit auffassen.23 Die primäre Anregung der Swedenborgforschung Lamms ist in einem noch viel größeren Projekt wiederzufinden, nämlich in der Vorbereitung auf sein zweibändiges Meisterwerk Upplysningstidens romantik (Die Romantik der Zeit der Aufklärung 1918–20), das leider nur in der schwedischen Fassung zugänglich ist.24 Lamm hatte bald verstanden, dass viele der Autoren, die die Romantik in Schweden repräsentierten, von Swedenborg inspiriert waren. Aber um die Fragen nach den Rezeptionswegen und nach den Rezeptionsumständen beantworten zu können, so erkannte Lamm, muss Swedenborg selbst ausführlich studiert werden. Aus dieser Absicht folgte eine Fokussierung auf den Ort Swedenborgs im literarischen und philosophischen Kontext. Hier war Lamm ein Pionier. Er konnte sich selbstverständlich auf die neukirchlichen Sammlungen von Dokumenten und Textausgaben stützen, aber er hatte eigentlich keine Vorläufer in der Literaturgeschichte. Dies macht sein gelehrtes und besonnenes Buch um so bewundernswerter. Für meine eigenen Swedenborguntersuchungen hat Lamm vor allem methodisch als Vorbild gedient. Obwohl er einen Lehrstuhl an meiner Stockholmer Universität bekleidete, habe ich ihn nicht persönlich kennengelernt. Aber angesichts der Heiligenverehrung, die meine Lehrer ihm entgegenbrachten, ist es mir nur leichter gefallen, sein bahnbrechendes Buch kritisch zu lesen. Weit entfernt von seinem Zweck, die ganze Entwicklung Swedenborgs darzulegen, habe ich mich auf ein einzelnes Werk, wie in meiner Dissertation über De cultu et amore Dei (1961), oder auf ein spezifisches Problemgebiet, wie in dem Buch Swedenborgs korrespondenslära (1969), beschränkt, dafür habe ich aber versucht, ein stärker durchgearbeitetes Bild von dem intellektuellen Hintergrund Swedenborgs zu zeichnen.25 Nicht zuletzt dank der Edition Alfred Actons, der ausgesprochen lohnenden Sammlung von Exzerpten unter dem Titel A Philosopher’s Note Book, hatte ich viel bes23 24

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Stockenström, Göran, Strindberg and Swedenborg, in: Larsen, (wie Anm. 6), S. 137–158. Schon im ersten Satz des Vorwortes betont Lamm, dass seine Swedenborgstudie von den Forschungen über die mystisch-sentimentalische Strömung in der schwedischen Literatur des 18. Jahrhunderts veranlasst worden ist. Als er 1918 den ersten Band des Upplysningstidens romantik – seines opus magnum im weitesten Sinne – publizierte, wählte er auch als Untertitel „Die mystisch-sentimentalische Strömung in der schwedischen Literatur“. Die Dissertation ist in einer bearbeiteten Version seit 2004 auf englisch zugänglich (Anm. 5).

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sere Voraussetzungen als Lamm, den Studien Swedenborgs im Einzelnen zu folgen. Darum bin ich weniger bereit gewesen, individuellen Übereinstimmungen ausschlaggebende Bedeutung beizumessen. Stattdessen glaube ich die Argumente verstärkt zu haben, dass Swedenborg zu einer rationalistischen Wissenschaftstradition gehörte und gegenüber dem, was er durch seine Lektüre von Leibniz, Wolff und anderen maßgebenden Denkern gelernt hatte, keine besonderen Kenntnisse von Kabbala, Alchemie oder anderen esoterischen Strömungen besaß. An der Universität in Stockholm ist es mir kaum gelungen, die Studenten davon zu überzeugen, dass Swedenborg ein faszinierendes Forschungsobjekt ist, aber derjenige, den ich zuletzt rekrutieren konnte, hat sich umso aktiver erwiesen. Anders Hallengren verteidigte im Jahre 1994 seine Dissertation The Code of Concord: Emerson’s Search for Universal Laws, in der er den Einfluss Swedenborgs auf den wahrscheinlich bedeutsamsten amerikanischen Denker sorgfältig darlegte.26 Danach hat er eine Menge von Artikeln und Büchern, die das Werk Swedenborgs und seine Nachwirkung behandeln, veröffentlicht. Ein Titel soll hier erwähnt werden, nämlich Gallery of Mirrors: Reflections of Swedenborgian Thought.27 Hallengren ist auch als freier Schriftsteller tätig. Sein Interesse für Swedenborg hat er mit zwei älteren Kollegen gemeinsam. Im Jubiläumsjahr 1988 publizierte Lars Bergquist, Dichter und ehemaliger Diplomat, eine ausführlich kommentierte Ausgabe des sogenannten Traumbuchs Swedenborgs, die übrigens von Hallengren ins Englische übersetzt worden ist (2001), und elf Jahre später eine empathische und einsichtige Biographie.28 Der Dichter und Kritiker Olof Lagercrantz veröffentlichte im Jahre 1996 ein Buch, in dem er ein originelles Bild von Swedenborg zeichnete: Dikten om livet på den andra sidan (Vom Leben auf der anderen Seite). Wie der Titel anzeigt, stehen die theologischen Werke im Blickpunkt. Sie werden mit Einfühlung und Sympathie als ein visionäres Gedicht dargestellt, das mit der Divina Commedia zu vergleichen sei; über das Meisterwerk Dantes hatte Lagercrantz früher ein Buch geschrieben.29 Weder für Swedenborg selbst noch für seine Jünger wäre diese Erklärung annehmbar, aber wahrscheinlich hat sie einem breiteren Leserkreis die Augen geöffnet.

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Die Dissertation wurde als Nr. 34 in den Acta Universitatis Stockholmiensis in der Serie Stockholm Studies in History of Literature gedruckt, wo auch mein eigenes Buch Swedenborgs korrespondenslära (Nr. 10) und Swedenborg en France von Karl-Erik Sjöden (Nr. 27) publiziert worden sind. West Chester 1998. Bergquist, Lars, Swedenborgs Drömbok. Glädjen och det stora kvalet. Stockholm 1988, englisch: Swedenborg’s Dream Diary. West Chester 2001; ders., Swedenborgs hemlighet. Stockholm 1999; englisch: Swedenborg’s Secret. The Meaning and Significance of the World of God, the Life of the Angels, and Service to God. London 2005. Lagercrantz, Olof, Från helvetet till paradiset. En bok om Dante och hans komedi. Stockholm 1964, deutsch: Dante und die Göttliche Komödie. Frankfurt/M. 1997. Sein Buch über Swedenborg ist auch als Nr. 11 in der Swedenborg-Studies-Serie (übers. von Anders Hallengren, West Chester 2002) erschienen; die deutsche Ausgabe wurde 1997 von Suhrkamp publiziert.

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Vom Gesichtspunkt der Forschung soll mit Dankbarkeit notiert werden, dass Lagercrantz als sensibler Leser an die großen poetischen Qualitäten der „scènes de la vie spirituelle“ erinnert hat. Jedoch wäre es selbstverständlich für den Geisterseher unmöglich, dem Herzog Theseus von Athen zuzustimmen, der im letzten Akt von A Midsummer Night’s Dream von der Feder des Dichters spricht, die dem Nichtexistierenden Name und Ort geben kann: „gives to airy nothing / a local habitation and a name“.30 Das bedeutet jedoch nicht, dass Swedenborg keinen Sinn für Poesie hatte. Ganz im Gegenteil ist sein erster Druck ein Lobgedicht auf Schwedisch, das er im Alter von zwölf Jahren schrieb, und in seinem ersten Buch veröffentlichte er lateinische Gedichte. Die poetischen Werke Swedenborgs sind jetzt in drei wissenschaftlichen Editionen im Original mit englischer Übersetzung zugänglich. Es ist Professor Hans Helander in Uppsala, der diesen selbstgewählten Auftrag in den Jahren 1985, 1988 und 1995 musterhaft erfüllt hat.31 Über diesen ausgezeichneten, fast bahnbrechenden Einsatz in der Swedenborgforschung hinaus setzte er vor einigen Jahren auch ein Projekt an der Universität in Uppsala in Gang, um das wissenschaftliche Latein Swedenborgs zu untersuchen.32 Die Aktivitäten der Forschergruppe „Die Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitliche Esoterik“ am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle (Saale) lassen mich diesen eiligen und oberflächlichen Überblick in einer gegenüber meinen Ausführungen zu Beginn lichteren Tonlage abschliessen. Ich möchte gern noch einen Grund dafür nennen, der allerdings eher symbolisch als inhaltlich ins Gewicht fällt. Im Jahre 2005 beschloss die UNESCO, die Handschriften Swedenborgs, die der Akademie der Wissenschaften in Stockholm wie erwähnt 1772 geschenkt wurden, auf ihr Verzeichnis World Cultural Heritage einzutragen. Damit ändert sich vielleicht im Augenblick nichts anderes, als dass die Akademie nun das Recht besitzt, zum Nachweis ihres neuen Status eine Plakette am Eingang anzubringen. Aber wenn man in Betracht zieht, dass der zweite Antrag aus Schweden, der von der UNESCO bewilligt wurde, sich auf die Manuskriptsammlung Astrid Lindgrens in der königlichen Bibliothek in Stockholm bezieht, also auf den literarischen Nachlass der unvergleichlich berühmtesten und höchst geliebten schwedischen Verfasserin, dann ist es leicht, die Auszeichnung der UNESCO als eine wahre, wenn auch späte Ehrenrettung des Geistersehers zu verstehen.

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V.1.16f. Swedenborg, Emanuel, Festivus applausus in Caroli XII in Pomeraniam suam adventum; ders., Camena Borea; und ders., Ludus Heliconius and other Latin poems, edited, with introduction, translation and commentary by Hans Helander. Uppsala 1985, 1988, 1995. Vgl. http://www.lingfil.uu.se/swedenborg/index.php. In den Jahren 2007 bis 2010 ist außerdem eine Forscherin aus dieser Gruppe an der Königlichen Akademie der Wissenschaften innerhalb eines neuen Projekts damit befasst, Swedenborgs Manuskripte zu katalogisieren.

REINHARD BRANDT (Marburg)

Überlegungen zur Umbruchsituation 1765–1766 in Kants philosophischer Biographie1 Ludwig Ernst Borowski schrieb 1804 in seiner Biographie, Kant erkläre in den Träumen eines Geistersehers die (sc. schlechte, dogmatische) „Metaphysik für Kontrebande“, sie (sc. die legitime Metaphysik) sei ihm schon hier eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft. […] Hier ward schon damals die Erwartung einer künftigen Welt an den moralischen Glauben angeknüpft. Überhaupt fand jeder aufmerksame Leser schon hier die Keime der Kritik der reinen Vernunft und dessen, was K. uns späterhin gab.2

Wenn die Annahme von Borowski stimmt, dann markieren die Träume Kants Abwendung von der Schulmetaphysik hin zum Doppelkonzept der kritischen theoretischen und praktischen Philosophie bzw. Metaphysik. Für die letztere sei markant, dass die Erwartung einer künftigen Welt an den moralischen Glauben angeknüpft werde; also hat schon 1766 die Moral den Vorrang, auf die dann – wie in der späteren Postulatenlehre – die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode folgt, nicht umgekehrt. Der praktischen Philosophie geht somit keine (schlechte) Metaphysik von Gott und Unsterblichkeit (Theologie und rationale Psychologie) voraus, sondern sie muss sich selbst begründen und kann danach aus eigener Logik die Jenseitsvorstellungen folgen lassen. Für die theoretische Philosophie müsste vielleicht der Dreischritt von Dogmatismus, Skeptizismus und Kritizismus (A 856) schon in den Träumen auffindbar sein. Diese Vermutung lässt sich bestätigen: Über die Präsenz der (a) dogmatischen Metaphysik in den Träumen kann es keinen Dissens geben; umstritten ist nur, was und wer genau gemeint ist und der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll: Die Lehre des Okkasionalismus, der prästabilierten Harmonie, des influxus physicus; Leibniz, Wolff, Kant selbst? Die Destruktion der überkommenen Metaphysik erfolgt auf zwei Wegen; einmal werden bestimmte Lehren mit Swedenborg zu einer Konsequenz gebracht, die die Urheber nicht gemeint hatten; zum anderen werden sie mit einer (b) skeptischen Position konfrontiert, der sie nichts entgegensetzen können.

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Der Erstdruck dieses Aufsatzes ist in den Kant-Studien 99 (2008), Heft 1, S. 46-67 erschienen. Hier finden sich einige Korrekturen und Ergänzungen. Groß, Felix, Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski. Berlin 1912, S. 33. Kant wird mit Band-, Seiten- und Zeilenangabe nach der Akademie-Ausgabe zitiert; die A- und B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV) jedoch nach der Ausgabe im Meiner-Verlag.

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Die (c) kritische Philosophie ist in der Idee der Metaphysik als einer Grenzwissenschaft gegenwärtig; Borowski konnte Kant selbst zitieren: „In so fern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft […]“.3 Ungefähr zur Zeit der Träume notiert Kant: „Man könnte sagen die Metaphysik sey eine Wissenschaft von den Schranken der Menschlichen Vernunft.“4 Die Vorstellung der Philosophie als einer Grenzwissenschaft stammt für Kant von John Locke, der für ihn der erste kritische Philosoph ist. Hiermit sind die verschiedenen Gravitationszentren des theoretischen Teils der Träume benannt. Kants zentrale Aussage des praktischen Teils ist in den neueren Untersuchungen mit wenigen Ausnahmen5 überlesen worden, obwohl Kant sie mit plakathafter Deutlichkeit herausstellt und sie den Schlüssel für das Werk im Ganzen bilden, die Intention des negativen theoretischen Teils also nur durch den positiven praktischen verständlich wird. Was wir in der Retrospektive klar unterscheiden können, ist zwar in der Schrift nachweisbar, wird jedoch in einem komplizierten Maskenspiel, in einer Mischung von Ernst und Satire und der Überformung der einzelnen Komponenten durcheinander dargestellt. Die Träume sind daher nicht ohne weiteres verständlich, wie schon die ratlosen Äußerungen von Mendelssohn bis hin zu Ernst Cassirer6 zeigen. Inzwischen ist vieles geklärt worden, u.a. durch die gründlichen Studien von Alison Laywine (1993)7 und Gregory R. Johnson (2001);8 die folgenden Darlegungen aus locker verknüpften Einzeluntersuchungen verstehen sich als punktuelle Ergänzung der Literatur und als Korrektur der Hauptthesen zur Metaphysik, gegen die sich Kant wendet.

Die Disposition der Träume: Theorie und Praxis Während die theoretische Grenzziehung die Aufgabe besonders des ersten Teils der Schrift ist, kulminiert der zweite Teil in der praktischen Bestimmungsfrage. 3 4 5

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AA II, S. 368,1–2. AA XX, S. 181,1–2; vgl. AA X, S. 72,32–35. Dazu gehört Johnson, Gregory A., A Commentary of Kant’s Dreams of a Spirit-Seer, Diss. phil. Washington: The Catholic University of America 2001; Kühn, Manfred, Immanuel Kant. Eine Biographie. München 2003, S. 204–209. Zu beidem vgl. Laywine, Alison, Kant’s Early Metaphysics and the Origin of the Critical Philosophy. Atascadero 1993, S. 12–13, 86. Laywine und Johnson machen ihre Swedenborg-Lektüre fruchtbar; sie lesen die Texte allerdings in englischer Übersetzung. Der lateinische Text ist zugänglich unter: http://www. baysidechurch.org/writings.cfm (für den Hinweis danke ich Friedemann Stengel, IZEA Halle). Swedenborgs Texte sind für das Thema der vorliegenden Untersuchung, so weit ich sehe, nicht ergiebig. Johnson geht akribisch den verschiedenen Masken nach, unter denen sich Kant mit dem schwedischen Visionär einen begrifflichen Schaukampf liefert. Dieser Bereich der Schrift wird im Folgenden ausgeklammert.

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Der Titel des Endes des ersten Teils lautet: „Theoretischer Schluß aus den gesammten Betrachtungen des ersten Theils“,9 der Titel des Endes des zweiten Teils ist: „Praktischer Schluß aus der ganzen Abhandlung“.10 Der entscheidende Satz im Hinblick auf die theoretische Erkenntnis lautet: Allein mit dem philosophischen Lehrbegriff von geistigen Wesen ist es ganz anders bewandt. Er kann vollendet sein, aber im negativen Verstande, indem er nämlich die Grenzen unserer Einsicht mit Sicherheit festsetzt und uns überzeugt: daß die verschiedene Erscheinungen des Lebens in der Natur und deren Gesetze alles seien, was uns zu erkennen vergönnt ist, das Principium dieses Lebens aber, d.i. seine geistige Natur, welche man nicht kennt, sondern vermuthet, niemals positiv könne gedacht werden, weil keine data hiezu in unseren gesammten Empfindungen anzutreffen seien, und daß man sich mit Verneinungen behelfen müsse […].11

Das Pendant in praktischer Hinsicht im Schluss des zweiten Teils: Die Eitelkeit der Wissenschaft entschuldigt gerne ihre Beschäftigung mit dem Vorwande der Wichtigkeit, und so giebt man auch hier gemeiniglich vor, daß die Vernunfteinsicht von der geistigen Natur der Seele zu der Überzeugung von dem Dasein nach dem Tode, diese aber zum Bewegungsgrunde eines tugendhaften Lebens sehr nötig sei; […] Allein die wahre Weisheit ist eine Begleiterin der Einfalt, und da bei ihr das Herz dem Verstande die Vorschrift giebt, so macht sie gemeiniglich die große Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich, und ihre Zwecke bedürfen nicht solcher Mittel, die nimmermehr in aller Menschen Gewalt sein können.12

Den letzten Nebensatz lese man erneut, um zu spüren, welch ein politisches Erdbeben sich hier gegen die Privilegien der Herrn Metaphysiker ankündigt: in der Gewalt aller Menschen! Unmittelbar darauf folgt in rhetorischer Hochform: Wie? ist es denn nur darum gut tugendhaft zu sein, weil es eine andere Welt giebt, oder werden die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich selbst gut und tugendhaft waren? Enthält das Herz des Menschen nicht unmittelbar sittliche Vorschriften, und muß man, um ihn allhier seiner Bestimmung gemäß zu bewegen durchaus die Maschinen13 an eine andere Welt setzen?14

Wenn der erste Teil nicht aus dieser Emphase des zweiten begriffen wird, bleibt er für Kant eine gelehrte Quisquilie. Wir haben es also mit einem komplementären Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie oder, mit einem in Kürze folgenden Vokabular, von Metaphysik der Natur und Metaphysik der Sitten zu tun. Diese duale Metaphysik tritt an die Stelle der viergliedrigen Anlage von Ontologie, Psychologie, Kosmologie und Theologie (oder in anderer Reihenfolge); sie war das delendum, der endlich ausge-

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AA II, S. 348,31–32. AA II, S. 368,32. AA II, S. 351,30–352,1. AA II, S. 372,12–23. Zur auffälligen, politisch negativ besetzten Maschinenmetapher vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats. Berlin 1986. AA II, S. 372, 26–29.

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träumte Wahn. Auf die neue, zugleich schon antike duale Einteilung verweist Kant am Anfang der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.15 Der theoretische Lehrbegriff der Träume ist kritisch und negativ, indem er, wie wir sahen, das in den Sinnen und Empfindungen nicht Darstellbare ausgrenzt, speziell die kausale Interaktion von Seele und Körper, aber auch von Seelen oder Geistern untereinander. Insgesamt lässt sich über die kritisierte Methode der Schulmetaphysik sagen: Es werden in ihr nach Kant aus wirklichen oder vermeintlichen Erfahrungen abstrakte Begriffe gebildet wie z.B. der der Seele; diesen Begriffen wird testiert, dass sie keinen Widerspruch enthalten, dass sie also denkbar und möglich sind; in einem weiteren Schritt werden hinzukommende vermeintliche Erfahrungen unter ihn subsumiert und so die Scheinevidenz der Wirklichkeit des Begriffes erzeugt. Die metaphysischen Begriffe erweisen sich damit als produktiv für die Erzeugung vermeintlicher Erkenntnisse, denen tatsächlich die „data“ fehlen. Ein Muster dieser produktiven Begriffsdichtung sind die Pseudo-Erfahrungen von Swedenborg; sie nehmen jedoch nach Kant nur die schlechte Metaphysik beim Wort und weiten sie ins Visionäre aus, dahin würden ihnen die Metaphysiker ungern folgen, aber Gegenargumente haben sie nicht. Goya: „El sueño de la razón produce monstruos“16 Kant: „[…] bis diese Herren ausgeträumt haben“17

Die Arcana coelestia von Swedenborg werden von Kant als Verkehrung des normalen, wachen Menschenverstandes dargestellt, als monströse Produkte einer schlafenden Vernunft, aber anders als bei Goya wird die antike Vorstellung vom schlimmen Schlaf der Vernunft18 zunächst nicht benutzt, um den Schrecken zu charakterisieren, sondern im Gegenteil zum befreiten Lachen zu führen. „Wit and humour“ ist die Losung. Wer dem Verlachen nicht standhält, hat die Wahrheit verraten.19 Aber im Verlachen steckt auch, wie wir sehen werden, die Wut und die Empörung über „diese Herren“. Schon der Titel scheint verkehrt zu sein, denn er muss natürlich, wie es sich für einen kritischen Philosophen gehört, umgekehrt lauten: „Träume der Metaphysik, erläutert durch Träume eines Geistersehers“, weil die dogmatische Metaphysik 15 16 17 18

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AA IV, S. 387,1ff. Vgl. Brandt, Reinhard, Philosophie in Bildern. 2. Aufl. Köln 2001, S. 364–376. Das Wort „ausgeträumt“ in den Träumen (AA II, S. 342,16) ist ein hapax legomenon der Bände I–XXIII. Dazu Brandt, Philosophie, (wie Anm. 16), S. 366–368. Der Autor ist Plutarch. Kants Aristoteles ist bekanntlich Heraklit, vgl. Diels, Hermann / Kranz, Walter (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. 8. Aufl. Berlin 1956, Bd. 1, S. 171, Fragment 89: „Die Wachenden haben eine einzige gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich ein jeder von dieser ab in seine eigene“. Vgl. AA VI, S. 209,1–7. Kant bezieht sich auf Shaftesburys „test of ridicule“, vgl. Shaftesbury, Anthony Earl of, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times etc., hg. v. John M. Robertson. Gloucester 1963, Bd. 1, S. 10 (A Letter Concerning Enthusiasm).

Zur Umbruchsituation in Kants philosophischer Biographie

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interessiert, und ihr Zustand wird dadurch drastisch vor Augen geführt, dass die auf ihrer Grundlage erwachsene oder auch nur nach denselben Prinzipien mögliche Geisterseherei dargestellt wird: Leibniz und Wolff und Kant junior werden, so der Kritiker Kant, konsequent von Swedenborg zu Ende phantasiert; da dieses Ende somnambul ist, muss auch die leichtfertige Begriffsdichtung der Metaphysiker im Vernunftschlaf entstanden sein, eine konkludente reductio ad ridiculum. Die Metaphysik endet notwendig in Geisterseherei, wenn die Vernunft nicht kritisch thematisiert und ihre Kompetenz und Grenze nicht festgelegt werden. Dieser Traum also ist 1766 in aller Öffentlichkeit ausgeträumt. Wie gut, dass David Hume Kants eigenen, von wirren Träumen heimgesuchten dogmatischen Schlummer vor 1766 unterbrach und seinen spekulativen Untersuchungen eine ganz andere Richtung in der gemeinsamen Welt der Wachenden gab!20 Oder wird umgekehrt die Geisterseherei von Swedenborg durch eine neue erträumte Metaphysik erläutert? Nimmt Kant selbst die Swedenborgschen Tagvisionen auf und wendet sie in den Vortraum einer Metaphysik (der Sitten), die er in Kürze zu liefern gedenkt? Dann wäre die Schrift nicht nur eine Retrospektive qua Metaphysikkritik im Medium ihrer Karikatur, sondern eine Prospektive darüber, wie sich aus Unfug Funken schlagen lassen. Aber dies könnte sich nur auf die kurze Einlage über die zwei Welten beziehen, den mundus sensibilis, der nach Newtonischen Gesetzen geregelt ist, und die Gegenwelt der Moral nach dem Gesetz der volonté générale.21 Kant folgt einer Laune der Mode: Den Ton gaben zuerst die Engländer an, Shaftesbury mit seinen Essays voller „wit and humour“ gegen die barocken Potestaten, sodann der wegen seines Witzes bei Friedrich II. akkreditierte, bald in seinen Garten verjagte Voltaire, alles im Rückgriff auf die launige Satirenkunst von Horaz. Im Schutz dieses Genres überschüttet Kant, der nunmehr elegante Magister,22 das Gelehrtenwesen mit Kübeln voller Hohn und Spott und schreibt sich so die Last von der Seele, das widerspruchsfreie Denken für den Garanten des Möglichen und gar des Seins zu halten. Aber warum zieht die alte Metaphysik, wie Kant an Mendelssohn schreibt, den „Haß“ auf sich? Warum ist Kant moralisch empört?23 Wer sich mit der Schrift beschäftigt, stößt auf diese Frage und muss sie zu beantworten versuchen.

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AA IV, S. 260,6–9. Dazu unten S. 31–33. Vgl. AA II, S. 329,1–341,34. Vgl. dazu auch die experimentierenden Gedanken in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen AA XX, S. 144,17–145,25. Stavenhagen, Kurt, Kant und Königsberg. Göttingen 1948, S. 43ff.; Kühn, (wie Anm. 5), S. 123ff. Siehe unten S. 30.

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Die Grenzbestimmung der menschlichen Erkenntnis: Locke und Kant „Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hier finden sie ein unbegränztes Land […].“ (II 317,3–4) In diesem wohlgeformten Anfang der Schrift ist schon das durchgehende Problem des ersten Teils der Träume benannt: Die Grenzbestimmung der Erkenntnis gegen das Unbegrenzte der Phantasie und des ausgedachten Möglichen. Mit dem Grenzbegriff ist John Locke präsent.24 In der Vorrede der ersten Auflage der KrV wird Kant mit wenigen Strichen das Schicksal der bisherigen Vernunfterkenntnis skizzieren. Von einfacher Erfahrung anfangend, habe sie sich über alle Erfahrungsgrenzen hinaus bewegt und sei in ein Feld endloser Streitigkeiten geraten; der Kampfplatz heiße Metaphysik. In neueren Zeiten schien es zwar einmal, als sollten allen diesen Streitigkeiten durch eine gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes (von dem berühmten Locke) ein Ende gemacht und die Rechtmäßigkeit jener Ansprüche völlig entschieden werden […]. (A IX)

Aber Lockes Unternehmen musste scheitern, da er die Metaphysik aus der Erfahrung herleiten wollte. Die Reaktion auf dieses Scheitern sei der jetzige Indifferentismus. Er sei nicht die Wirkung des Leichtsinns, sondern der gereiften Urteilskraft des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten lässt, und eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen,25 der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, alle grundlosen Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne, und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft. – Ich verstehe aber hierunter nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfangs und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien. (A XI–XII)

Lockes Essay setzt sich genau dieses Ziel, er will „the Original, Certainty, and Extent of humane Knowledge“26 bestimmen. Kant nimmt dieses Programmmotiv auf – „alles aber [jetzt gegen Locke, R. B.] aus Prinzipien“. Wenn es heißt, das Geschäft der Selbsterkenntnis der Vernunft solle aufs neue in der KrV übernommen werden, dann bezieht sich das „aufs neue“ ebenfalls auf den einzigen in der Vorrede genannten Philosophen (A IX) zurück, John Locke. Er ist für Kant der Vorgänger in der Vernunftkritik; die ausdrücklichen Verweise, die zu John Locke 24

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Vgl. Reich, Klaus, Gesammelte Schriften, hg. v. Manfred Baum u.a. Hamburg 2001, S. 349: „[…] John Locke steht, obwohl nicht genannt, als wahrer ‚Kritiker der Vernunft‘ im Hintergrund.“ Zu dem Folgenden vgl. Brandt, Reinhard, Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg 2007. Zur Einsetzung (institutio) der KrV als eines Gerichtshofes vgl. A 751. Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding, hg. v. Peter H. Nidditch. Oxford 1975, I –1,2, S. 43.

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und seiner kritischen Philosophie führen, lassen sich um und vor 1770 in der Logik Blomberg entdecken. Lock hat den allerwesentlichsten Schritt gethan dem Verstand den Weg zu bahnen. Er hat ganz neue Criteria angegeben. Er philosophirt subjektive, da Wolff und alle vor ihm objective philosophirten. Er hat die Genesin die Abstammung und den Ursprung der Begriffe untersucht. Seine Logic ist nicht dogmatisch, sondern kritisch. Wolf frägt: was ist ein Geist? Lock: wo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her? Sie hat niemals einen Geist gesehen; woher kommen diese Gedanken?27

Hätte Wolff kritisch gefragt, wie er zu seinen Begriffen kommt, hätte er keine Wesensdefinitionen des Möglichen im Schattenreich des abstrakten Denkens gesucht. Bei Locke heißt es, die Philosophie habe die Aufgabe, „to discern how far our Knowledge does reach“.28 Mit der Lockeschen Frage nach der Grenze der menschlichen Erkenntnis, die für die kritische Philosophie konstitutiv ist, hat Kant die Leibniz-Wolffsche Philosophie schon verlassen. Für sie gibt es die göttliche Allerkenntnis alles Möglichen und Wirklichen, daher ist Gott der größte Philosoph – „Deus summus philosophus“ – , die Menschen stehen ihm in der Reichweite ihrer Erkenntnis nach, aber es gibt keine entscheidende qualitative Zäsur zwischen dem Allwissen und der spezifischen „cognitio humana“, die entsprechend auch nicht in den Titeln der einschlägigen Abhandlungen begegnet. Und wie Gott nicht zwischen Philosophie und Wissenschaft unterscheidet, so ist diese Differenz auch in der Metaphysik nicht ursprünglich angelegt: Die größten Wissenschaftler werden den Philosophen zugerechnet, und selbst Newton nennt seine Physik Principia mathematica philosophiae naturalis. Leibniz reihte sich ein in die Reihe der „chain of being“-Denker, er wusste in seiner Monadologie vieles über den göttlichen Einfluss Gottes und das Helle und das Dunkle im Kontinuum der Schöpfung zu erzählen,29 und er eiferte mit seinem unerschöpflichen Wissen Gott, dem Allwisser und „summus philosophus“, nach. Swedenborgs Geisterseherei ist im Platonischen Seins- und Erkenntniskontinuum angesiedelt, in dem auch Dantes Göttliche Komödie uns am poetischen Aufstieg bis zu den „arcana coelestia“ des Paradieses teilnehmen lässt, im Mittelalter. Swedenborg ist ein moderner Naturwissenschaftler, der die Zeichen der Zeit nicht versteht, sondern mit seiner Seele die Mysterien des Himmels sucht und, ganz allein, Visionen im Lehnstuhl hat. Wie Don Quijote zu viele Ritterromane zur 27

28 29

AA XXIV, S. 338,27–34. Später heißt es in der Metaphysik Mrongovius: „An Critic der reinen Vernunft hat bis jetzt noch keiner gedacht.“ (AA XXIX/1.2, S. 764,19) Die subjektivistische Wende von Locke verblieb in der empirischen Psychologie und damit im Bereich der „quaestio facti“, während die Kritik die Frage stellt, „mit welchem Rechte bedienen wir uns derselben [der Begriffe, R.B.]. […] denn das ist die Critic, also quaestio iuris.“ (ebd., S. 764,7–8) Die Rechtsfrage richtet sich, wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, auf die Vernunftbegriffe der Dialektik, auf die sich unsere unabweislichen Fragen und das höchste Interesse unserer Vernunft bezieht, ebd., S. 765 passim. Locke, (wie Anm. 26), S. 542 – An Essay Concerning Human Understanding IV 3, 6. Laywine, (wie Anm. 6), S. 67f.

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Unzeit las, so konnte Swedenborg nicht genug über die Lebensweisen und Chorgesänge der Engel erfahren, er ist wie Don Quijote ein Phantast, der in der Windmühle Riesen sieht, auch Swedenborg sieht die Geister, mit denen er kommuniziert, vor sich und plaudert mit ihnen. Erst Locke und Kant begründen den modernen Philosophiebegriff, der eine eindeutige Trennung gegenüber allen positiven Wissenschaften impliziert. Das eigentliche Thema der theoretischen Philosophie ist Kritik, die Unterscheidung zwischen dem Diesseits und Jenseits der Grenze der menschenmöglichen Erkenntnis. Das Lockesche „human understanding“ kennzeichnet die Opposition gegen das absolute Wissen und die nur graduelle Abstufung im alten Modell.30 Locke entwickelt das menschenmögliche Erkennen aus den Vermögen, die wir in uns vorfinden. Kant macht sich die grundsätzliche Idee zu Eigen und wird versuchen, ihr den zirkulären Charakter dieser psychologischen Erkenntnis zu nehmen.31 Der Anlass und Beginn der Nachfrage nach den spezifisch menschlichen Erkenntnismöglichkeiten liegt im Scheitern bei bestimmten Themen, etwa Moral und Religion, wie Locke berichtet. Für Leibniz und Wolff und den frühen Kant gab es dagegen keine Grunderfahrung des Scheiterns. Dieses Scheitern wird im oben zitierten „Paradies der Phantasten“ und in dem Titel der „Träume der Metaphysik“ angezeigt, jedoch so, dass schon eine Ausgrenzung vorgenommen wurde. Die Schrift zieht bereits eine Grenze zwischen Traum und Wachzustand; es gilt nur, diese Differenz genauer zu begründen. Kant schreibt in den Träumen: Wenn man den vielerlei Scheineinsichten im Wetteifer der Spekulation über die geistige Natur, Freiheit und Vorherbestimmung nicht mehr folgen wolle, dann schlage die Nachforschung in Philosophie aus, „die über ihr eigen Verfahren urteilt, und die nicht die Gegenstände allein, sondern deren Verhältnis zu dem Verstande des Menschen kennt, so ziehen sich die Grenzen enger zusammen“.32 Genau dies ist die kritische Aufgabe, die Kant mit Locke gegen „die“ Metaphysik zu lösen sucht. Die zitierte Äußerung Kants wird in der Kritik der reinen Vernunft bei der Bestimmung ihres methodischen Hauptbegriffs benutzt: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt.“ (A 11–12) Die Idee einer erneuerten Transzendentalphilosophie rettet die Selbstkritik der Vernunft aus dem empiristischen Zirkel und macht sie allererst zur Philosophie, d.h. zu einer Selbsterkenntnis mit dem Charakter der Notwendigkeit.

30 31

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Vgl. die präzise Formulierung Borowskis im oben angeführten Text, er spricht von der „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“. Vgl. die drastische Beschreibung von Hegel in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, hg. v. Hermann Glockner. Stuttgart 1958ff., Geschichte der Philosophie III, XIX 555. AA II, S. 369,28–36.

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In Kants Ohr: Hume als Erwecker Dass David Humes Versuch über den menschlichen Verstand in den Träumen zitiert wird, ist u.a. von Kuno Fischer und Lewis White Beck notiert und kommentiert worden.33 […] wie etwas könne eine Ursache sein oder eine Kraft haben, ist unmöglich jemals durch Vernunft einzusehen, sondern diese Verhältnisse müssen lediglich aus der Erfahrung entnommen werden. Denn unsere Vernunftregel geht nur auf die Vergleichung nach der Identität und dem Widerspruche. […] Daß mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verständlicher, als wenn jemand sagte, daß derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurückhalten könnte […].34

Es lässt sich nicht bestreiten: der Mond bewegt sich nicht aus seiner Bahn, wenn wir es wollen, wohl aber können wir unseren Arm nach (post; quia?) unserem Willen bewegen. Hume versperrt den Weg zu einer pompösen Leib-Seele-Theorie, indem er seine Erklärung des vermeintlichen Kausalgesetzes aus bloßen konstanten Phänomenfolgen geltend macht: Die innere Verknüpfung von Vorgänger- und Folgeereignis gibt es nicht oder sie entzieht sich unserer Erkenntnis. Also: An die Stelle der – in der alten Metaphysik – drei einzig möglichen Systeme der Kausalität von 1. Okkasionalismus, 2. prästabilierter Harmonie und 3. influxus physicus35 tritt die erlösende 4. Position: Wir haben zwar keine weitere Lösung in der Ebene der bisherigen konkurrierenden Theorien, aber doch eine überraschende Nicht-Lösung im Rahmen der Grenzen unserer Erfahrung, nämlich sich wiederholende Sequenzen von Empfindungen in unserer Erfahrung. Die Skepsis tritt im europäischen Reflexionsmuster 1, 2, 3/4 an der vierten Stelle auf.36 Kant scheint den Anfang der kritischen Philosophie ähnlich zu datieren wie Borowski. Das bekannte Diktum in den Prolegomena lautet: Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab.37

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Vgl. Laywine, (wie Anm. 6), S. 162; außerdem Anm. 9 ebd. Zur Verbreitung der Humeschen Versuche in Deutschland vgl. Kühn, Manfred, Scottish Common Sense in Germany. 1768– 1800. Montreal 1987. AA II, S. 370,11–28. Vgl. Hume, David, Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß. […] Als dessen vermischter Schriften Zweyter Theil. Hamburg und Leipzig 1755, S. 370 – Versuch über den menschlichen Verstand XII 3: „Das Fallen eines Kieselsteines mag, so viel wir davon wissen, die Sonne auslöschen, oder der Wunsch eines Menschen die Planeten in ihren Laufbahnen aufhalten.“ Zur Behauptung der notwendigen Vollständigkeit dieser Dreiheit durch Wolff und Bilfinger vgl. Laywine, (wie Anm. 6), S. 62. So auch bei Hume in der Abfolge der Philosophenschulen die Skeptiker als notwendiger Schluss auf die in sich vollständigen Schulen der Epikureer, Stoiker und Platoniker folgen, vgl. Brandt, Reinhard, D’Artagnan und die Urteilstafel. Über ein Ordnungsprinzip der europäischen Kulturgeschichte. 2. Aufl. München 1998, S. 99–102. AA IV, S. 260,6–9.

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Nur im Wachzustand lassen sich die Träume der Metaphysiker und Geisterseher gegen einander ausspielen und ad ridiculum führen; die Erweckung durch Hume muss also schon erfolgt sein, und es passt gut, dass Hume tatsächlich präsent ist. So ist der Schluss unausweichlich, dass Kant selbst seine Abkehr von der Schulmetaphysik vor 1766 datiert.38 Wie prekär das freie Geständnis trotzdem bleibt, soll weiter unten angesprochen werden. Locke hielt das Kausalgesetz für analytisch und damit apriori beweisbar, Hume dagegen zeigt, dass wir nur über gewohnte Abläufe verfügen, dass es jedoch nicht widersprüchlich ist, wenn ein Ereignis nicht wie gewohnt eintritt. Kant schließt sich Hume an und setzt vorerst nur auf die Daten der Empfindung oder Erfahrung, was immer das genau ist; im § 30 der Dissertation erscheint das Kausalgesetz noch unter den „principia convenientiae“,39 die ihren Halt nur darin haben, dass wir unseren Verstand ohne sie nicht gebrauchen könnten.40 Erst später wird das Programm einer Kategoriendeduktion entwickelt, in dem das Prinzip der Kausalität eine höhere epistemische Dignität erhält.

Grenzüberschreitungen Der Titel der Kantischen Schrift setzt in der ersten der beiden oben erwähnten Lesarten voraus, dass hier eine Metaphysik persifliert wird, an die Swedenborg problemlos anschließen kann, die also die erfahrbare Präsenz von Geistern im Weltraum ermöglicht, sei es konkret inhaltlich, sei es allgemein methodisch. Wir können an zwei Raum- und Erfahrungsauffassungen erinnern, bei denen Geistererscheinungen im Raum prinzipiell unmöglich sind, die Descartes‘ und die des kritischen Kant. Descartes trennt in seiner Metaphysik die res cogitans von der res extensa und bestimmt die letztere so, dass der Raum von Materie erfüllt ist; die geistige Substanz der res cogitans kann daher unmöglich im ausgedehnten, von Materie erfüllten Raum existieren, sondern ist uns nur in der nicht ausgedehnten, nicht teilbaren unmittelbaren Selbstgewissheit des „cogito“ gegeben. Die Berufung auf die cartesische Metaphysik hätte dem schwedischen Geisterspektakel problemlos den Bo-

38 39 40

Zu der umfangreichen Literatur vgl. Kreimendahl, Lothar, Kant – Der Durchbruch von 1769. Köln 1990, S. 26–38. AA II, S. 418,12–21. Wie sich im übrigen die Dissertation von 1770 mit ihrer Substanzmetaphysik in eine Entwicklung fügt, in der der Bruch mit der Schulmetaphysik um 1765 vollzogen wird, ist ein Problem für die historische Kantforschung. Die Dissertation ist eine akademische Pflichtschrift (siehe u.a. Schmucker, Josef, Zur entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung der Inauguraldissertation von 1770. Bonn 1974 (Kant-Studien Sonderheft 65), S. 261–282), und die Abkehr von der dogmatischen Metaphysik vollzieht Kant 1766 in einer nicht sehr deutlichen Form, in der er um die Sachfragen herumlaviert: Zwei Pole, die erst in der KrV zusammen geführt werden?

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den und irgendwelchen Sinn entzogen.41 Aber es ist zu ergänzen: Im Prinzip, denn Descartes muss nach der rigorosen Substanzentrennung eingestehen, dass er selbst ein Körper-Seelen-Wesen ist und seine Seele am Ort seines Körpers im Raum ist bzw. wirkt.42 Und hiermit öffnen sich die Schleusen für alle nachfolgenden Fragen: Wie kann die res cogitans im Raum sein? Wie ist die Interaktion der Seele mit dem physischen Körper möglich, wenn beide heterogene Substanzen sind? Und auch, ist überhaupt der kausale Einfluss einer Substanz auf eine andere möglich? „Was sind nun Raum und Zeit?“ fragt Kant in der Kritik der reinen Vernunft (A 23). Der Raum wird als Form der sinnlichen Anschauung bestimmt, wobei das Sinnliche dieser äußeren Anschauung gemäß den näheren Erläuterungen (außerhalb der Raum-Zeit-Frage) nur ein materielles Mannigfaltiges sein kann, das in der Erfahrung kategorial bestimmt wird. Damit sind Geister keine möglichen Gegenstände einer äußeren Erfahrung, sie sind auch keine Bedingungen der Möglichkeit bestimmter Erfahrungen, sondern, wie es in der Anthropologie heißt, ein „Betrug des inneren Sinnes“.43 Die Kritik der reinen Vernunft geht kurz auf drei „Hirngespinste“ ein: Substanzen, die beharrlich im Raum gegenwärtig sind, ohne ihn zu erfüllen, eine Grundkraft unseres Gemüts, Künftiges anzuschauen, oder ein Vermögen desselben, mit anderen Menschen, so entfernt sie auch sein mögen, willkürlich zu kommunizieren. Das alles mag sich nicht widersprechen, enthalte jedoch trotzdem keinen Anspruch auf objektive Realität (A 222–223; vgl. A 395; A 771). Swedenborg wird nicht genannt, man darf ihn jedoch als Illustration mitmeinen.44 Die Kritik der reinen Vernunft betrachtet das Problem der Träume als grundsätzlich erledigt. Im Vorfeld dieser Lösung untersucht Kant 1766 die Punkte, an denen die etablierte Metaphysik in bloße Fiktionen gerät. Kehren wir zu den Träumen zurück. Suchen wir genauer den Fehler der Metaphysik, den Kant mit seinem Verlachen und Nachdenken bloßlegen will. Es sind zwei Vorschläge gemacht worden: Kant kritisiert im Medium der Swedenborgschen Träume entweder Christian Wolff oder seine eigenen Versuche. Wir untersuchen diese beiden Vorschläge (von Reich und Laywine); keiner von beiden kann sich auf einen direkten Hinweis in den Träumen berufen, obwohl Kant klar hätte sagen können, dass er sich gegen diesen oder jenen Inhalt von Wolff oder seiner eigenen Metaphysik wendet. Also bleibt nur der Indizienbeweis; wir werden feststellen, dass die Indizienbeweise nicht haltbar sind. Kant wendet sich in den Träu-

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In der nachcartesischen Philosophie wurde der res-extensa-Begriff Descartes’ zurückgewiesen und der Raumbegriff vorbereitet, der die Swedenborgschen Abenteuer ermöglicht, vgl. u.a. Mintz, Samuel I., The Hunting of Leviathan. Seventeenth-Century Reactions to the Materialism and Moral Philosophy of Thomas Hobbes. Cambridge 1969, S. 84ff. Vgl. Descartes, René, Oeuvres complètes, hg. v. Charles Adam und Paul Tannery. Paris 1897ff., Bd. VII, S. 81 – Meditationes VI. AA VII, S. 161,27. Laywine, (wie Anm. 6), S. 17–18.

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men nicht gegen bestimmte Inhalte der bisherigen Metaphysik, sondern gegen deren Methode, und dies sagt er ausdrücklich.

Kant gegen Wolff? Bringt die Schrift eine „Widerlegung der Rationalen Psychologie Wolffs“ und dessen Raumtheorie in der Ontologie? Dies ist die suggestive These von Klaus Reich.45 In seiner Einleitung der Träume46 konzentriert sich Reich auf den von Kant vermeintlich unterstellten Wolffschen Seelen- und vor allem Raumbegriff; es hänge die metaphysische Rationale Psychologie Wolffs (kosmischer Charakter des Verhältnisses von Leib und Seele, Unsterblichkeit der Menschenseele) auch an seinem Raum- (und Zeit-) Begriff. Dass es sich bei dem von Kant in den ‚Träumen eines Geistersehers‘ verwendeten Raumbegriff um Wolffs Theorie handelt, kann ein Blick in dessen Ontologie (§ 544–641, speziell § 588– 593) bestätigen.47

Wir könnten, heißt es weiter, durch das Studium dieser Paragraphen auch über die Absicht und den Ursprung des Wolffschen Raumbegriffs belehrt werden;48 in einem Überblick über die Genese seiner Raumdefinition verweise Wolff im § 591 auf de Cordemoy: propius tamen [sc. als Aristoteles und Descartes, R. B.] ad veritatem accessit de Cordemoy in Dissertatione de corporibus et materia, dum spatium concipit meram possibilitatem corporum ponendorum: spatium enim resultat ex possibilitate coexistendi (§ 591).

Die Tatsache, dass Cordemoy Okkasionalist sei, zeige deutlich, dass Wolff bei seinem Raumbegriff eigentlich am Leib-Seele-Problem interessiert sei. Durch seinen Raum- und damit auch Geistbegriff öffne Wolff den Visionen à la Swedenborg Tür und Tor.49 Nun lässt Wolff zwar in seinem Nachsatz zu de Cordemoy das „corporum“ fort, er sagt nicht ausdrücklich „ex possibilitate coexistendi corporum“, aber es gibt weder in seiner Ontologia noch in der Cosmologia einen Hinweis darauf, dass beim Raum als der „possibilitas coexistendi“ an etwas anderes als an materielle Körper gedacht ist. Die Kosmologie handelt nur von Themen der Physik, und in der Ontologie wird zwar in abstrakter Weise häufig einfach von „res“ gesprochen, aber 45 46 47 48

49

Reich, (wie Anm. 24), S. 351. Ebd., S. 348–359. Ebd., S. 351. Ebd., S. 351: „[…] dass es sich in den ‚Träumen eines Geistersehers‘ bei Kants Widerlegung der Rationalen Psychologie Wolffs um eine partiell jedenfalls immanente Widerlegung handelt, immanent nämlich, was den dabei verwendeten Raumbegriff anlangt.“ Wolff ist sicher kein Okkasionalist, Swedenborg dagegen neigt diesem System des nach ihm geistigen Einflusses zu, s. Laywine, (wie Anm. 6), S. 62f.

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was mit diesen Dingen gemeint ist, wird immer wieder durch die Einfügung der „corpora“ geklärt, von denen de Cordemoy schon ausweislich des Titels des Buches einzig handelt. Wolff wendet sich ausdrücklich gegen die englischen Autoren, die die Existenz des Weltraumes annehmen „sublatis corporibus“ (§ 601). Würde er dagegen in der Raumerörterung der Ontologie auch an Geister denken, müsste der Raum die Möglichkeit ihrer Koexistenz darstellen, also ein körperfreier Raum mit der Bestimmung des „extra se“ (vgl. § 591ff.) für reine Geister existieren können. Davon findet sich verständlicherweise keine Spur. Zeitlich koexistierende seelische oder geistige endliche oder unendliche Substanzen spannen keinen Raum auf und sind in einem absoluten leeren Raum nicht lokalisierbar. Nach Reich bestimmt Wolff den Raum abstrakt „als Feld der Wechselwirkung von Substanzen überhaupt“,50 aber diese These wird nicht belegt; sie steht m.E. im Widerspruch zu Wolffs Theorie, die nur eine erkennbare räumliche Wechselwirkung körperlicher Substanzen kennt. Der Raum wird von Wolff in der Ontologia als die Möglichkeit der Koexistenz von Dingen bestimmt („Spatium adeo resultat ex possibilitate coexistendi“, § 591), die Dinge werden durchgehend als materielle Körper gefasst, ohne dass das Problem geistiger bzw. seelischer Dinge oder Substanzen berührt würde. Die Seele wiederum wird in der Psychologia rationalis so bestimmt, dass ihre substanzielle Realpräsenz im Raum ausgeschlossen ist. Nach entsprechenden Rückverweisen auf die Ontologie heißt es: „Anima partibus caret, nec extensa est, nulla praedita est figura, nullum replet spatium, caret magnitudine, motuque intestino destituitur.“51 Die Seele lässt sich auch nicht als extensionsloser Punkt im Raum verorten (§ 48). An dieser These des ontologischen Dualismus, der völligen Unräumlichkeit nicht nur der Seele (anima), sondern auch des Geistes (spiritus), lässt Wolff keinen Zweifel.52 Die Aristoteliker hätten Körper und Seele nicht klar genug unterschieden, Descartes jedoch zeige, dass sie unterschiedliche Entitäten seien (§ 51 Anmerkung). Die Einzelseelen oder -geister sei es der Menschen, sei es Gottes sind völlig unräumlich, und entsprechend ist eine Koexistenz und Kommunikation zwischen ihnen nicht räumlicher und auch nicht erkennbarer Natur. Das Problem des „commercium“ zwischen räumlichen, also körperlichen Substanzen und intelligiblen Wesenheiten wird so gelöst, dass der Geist oder die Seele mit einem organischen Körper auf eine uns nicht erkennbare Weise für einige Zeit verbunden ist; dieser Körper ist der Ort ihrer Empfindung und ihrer Wirksamkeit, aber nicht ihr eigener Ort, denn die Seele als Substanz ist raum- und folglich auch ortlos. Soweit ich sehe, wird dies von Kant nie in Frage gestellt.

50 51 52

Reich, (wie Anm. 24), S. 350. Wolff, Christian, Gesammelte Schriften, neu hg. u. bearb. v. J. École, H. W. Arndt, C. A. Corr u.a. Hildesheim / New York 1968–1986, Bd. II 6, S. 33 – Psychologia rationalis § 49. Vgl. u.a. Wolff, (wie Anm. 51), II 6, S. 33 – Psychologia rationalis § 644–645.

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Die von Reich unterstellte Kritik von Kant an Wolffs Raum- und Seelenbegriff gibt es bei Leonhard Euler, wobei dieser sich jedoch auf nicht näher genannte Wolffianer bezieht und nicht auf Wolff selbst – klugerweise, denn Wolff sagt ungefähr dasselbe wie Leonhard Euler in seinen Briefen an eine deutsche Prinzessin (1769–1773), auf die sich Kant 1770 in seiner Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis53 beruft. Im 92. Brief wird ausgeführt: Ein Geist sei kein geometrischer Punkt, wie die Scholastik und noch die Wolffianer annähmen, weil die Bindung an einen bestimmten Ort unweigerlich die Ausdehnung mit sich führe; ein Geist aber oder eine Seele sei nicht im Raum und entsprechend an keinem Ort, sie könnten aber an einem bestimmten Ort wirken.54 Jeder Geist ist ein denkendes, reflektirendes, schließendes, beratschlagendes, freyhandelndes Wesen; dahingegen der Körper keine andern Eigenschaften hat, als die Ausdehnung, die Fähigkeit, bewegt zu werden, die Undurchdringlichkeit […].55

Wenn vom Sitz der Seele im Gehirn die Rede sei, besage dies, dass das Gehirn der Ort ihrer Wirksamkeit und ihres Einflusses sei; wie dieser Einfluss möglich sei, könnten wir nicht erkennen. Wolff pur, muss man kommentieren. Welcher Wolffianer könnte gemeint sein? In der Sache käme mutatis mutandis Kants Schätzung der lebendigen Kräfte (1747) in Frage; aber auch Alexander Baumgarten weist der Seele einen Ort im Raum zu: „Ergo in me existit anima“, heißt es in der Metaphysica.56 Wenn Raum und Zeit 1770 jeweils als Form einer mit sinnlicher Anschauung ausgestatteten Substanz bestimmt werden, dann lässt sich mit Kant selbst unterstellen, dass die Sinnlichkeit nur materielle Empfindungen rezipiert und somit eine räumliche Geistererscheinung vom Ansatz her ebenso ausgeschlossen ist wie klarerweise 1781. Es ist hierbei nicht einfach zu erkennen, in welchem Verhältnis die Bestimmung der einzelnen immateriellen Substanzen und ihrer Form- und Prinzipienausrüstung zur transzendentalen Subjektbestimmung steht, die eine Pluralisierung ausschließt. Wenn die Dissertation sich auf der zweiten (wenn auch noch nicht so benannten) Ebene bewegt, dann kann man schwer die Berufung auf Leonhard Euler einsehen, der in der Raumfrage empirischer Realist ist und entsprechend im empirischen Raum Körper und auch einzelne organisierte Körper auftreten lässt, wobei die letzteren den einzelnen Seelen Orte ihrer Wirksamkeit bieten. Kants subjektivistische Wende schließt die erkennbare Raumhaftigkeit von Geistern oder Seelen apriori aus; er bedarf daher keiner Einhilfe von Leonhard Euler 53 54

55 56

AA II, S. 414,13–14, 419,16–17. AA II, S. 103; Euler, Leonhard, Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie/ übers. und eingel. v. Andreas Speiser. Bd. 2, Braunschweig / Wiesbaden 1986, S. 49. AA II, S. 103; Euler, Briefe, (wie Anm. 54), S. 50f. Baumgarten, Alexander Gottlieb, Metaphysica. Hildesheim 1982 [Nachdruck der 7. Aufl. Halle 1779], S. 174 – Metaphysica III 1, 1, § 504.

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auf der Ebene des empirischen Realismus. 1781 wird diese Annahme, wie wir sahen, theoretisch unterbaut; das Mannigfaltige der Empfindung in Raum und Zeit wird durch die Kategorien bestimmt, und zwar so, dass im Erfahrungsraum die intensiven und extensiven Größen und ihre relationale Ordnung ausschließlich körperlicher Natur sind; Geister im Raum wären kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Kant knüpft in den Träumen an eine Metaphysikkritik an, die er 1763 im Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, geäußert hatte. Ohne einen Opponenten zu nennen, wird darauf hingewiesen, dass nach den Erkenntnissen der Geometrie der Raum nicht aus einfachen Teilen bestehe, allein man geht sie [sc. diese Data der Wissenschaft] vorbei und setzt sein Zutrauen lediglich auf das zweideutige Bewusstsein dieses Begriffs, indem man ihn auf eine ganz abstrakte Art denkt. Wenn dann die Speculation nach diesem Verfahren mit den Sätzen der Mathematik nicht übereinstimmen will, so sucht man seinen erkünstelten Begriff durch den Vorwurf zu retten, den man dieser Wissenschaft macht, als wenn die Begriffe, die sie zum Grunde legt, nicht von der wahren Natur des Raumes abgezogen, sondern willkürlich ersonnen werden. (II 168,9–16)

Wer ist „man“? Christian Wolff, und gemeint sind dessen Ausführungen „De Ente Finito et Inifinito“ (§§ 796–850). Wolff trennt den geometrischen Raum als ens imaginarium vom Weltraum und wendet sich dagegen, Aporien und Eigenschaften des ersteren auf den zweiten zu übertragen. Der imaginäre Raum der Geometrie ist nicht erkünstelt, künstlich ersonnen oder erdichtet, wie Kant polemisch sagt, sondern ist das Ergebnis der philosophischen Reflexion über die Geometrie und ihren Gegenstand. Dazu zwei Bemerkungen. Wolff verbindet nicht die Frage der Räumlichkeit von Seele oder Geist mit dem speziellen Problem des Unendlichen des geometrischen Raumes. Für ihn ist entschieden, dass spirituelle Entitäten wie die menschliche Seele zwar im Raum an einem bestimmten Ort wirksam sein können, ihr eigenes Dasein jedoch im Raum ist ausgeschlossen. Dies gilt nicht für körperliche Substanzen, die gänzlich im Raum sind und durch die Trennung von Geometrie und Physik ihr Dasein nicht im Pulver der unendlichen Teilbarkeit verlieren. Damit lässt sich auch keine konkrete Brücke vom Versuch zu den Träumen schlagen, die zu einer Verbindung der Geist- und Raumproblematik geeignet wäre. Das Gemeinsame der Wolffkritik von 1763 und 1766 bezieht sich auf die Methode, gemäß der den gedanklichen Abstraktionen die reale Möglichkeit durch die Denkbarkeit bzw. Widerspruchsfreiheit testiert wird. Aber, um es noch einmal zu sagen, das inhaltliche Resultat der rationalen Psychologie von Wolff eignet sich nicht als Basis Swedenborgscher Extrapolationen. Zweitens sei daran erinnert, dass Kant gegen Wolff die Apriorizität der euklidischen Geometrie gegenüber dem Weltraum behauptet. Hieran wird er auch nach der subjektivistischen Wende von 1770 natürlich verstärkt festhalten; daher in der Übernahme der Theorie in der Kritik der reinen Vernunft der Begriff einer „Transzendentalen Ästhetik“. Diese Position bedeutet, dass die Eigenschaften des Raumes Gegenstand nur der reinen Geometrie sind (A 24; B 40–41) und dass ein Physiker,

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etwa Einstein, der diesen Gegenstand für sich reklamiert, den Charakter seiner eigenen Wissenschaft nicht begriffen hat. Nach Kant behandelt die Physik oder Naturwissenschaft das Naturgeschehen, das sich auf der Raumbühne der Erscheinungswelt abspielt, er thematisiert nicht die Eigenschaften der Bühne selbst. Hier hat Wolffs Trennung des imaginären Raumes der Geometrie und des physischen Raumes einen Vorteil gegenüber Kant, der zweifellos die Wissenschaftsentwicklung mit stimuliert hat, die zur Rückkehr zur älteren Auffassung zwingt, gemäß der der reale Raum Gegenstand der Physik sein kann.

Kant gegen Kant junior? Die These, dass es sich bei der inhaltlichen Metaphysikkritik der Träume um eine Selbstkritik Kants handelt, wird von Alison Laywine vertreten. Sie befasst sich nicht mit der nahe liegenden Möglichkeit, dass es sich auch um andere Metaphysiker handeln könnte – Wolff, Baumgarten, Bilfinger – , sondern konzentriert sich in ihrem Indizienbeweis ganz auf die vorhergehenden Kantischen Schriften. Im Gegensatz zu Wolff lokalisiert Kant in der Schätzung der lebendigen Kräfte (1747) die Seele selbst im Raum: […] daß die Seele nach draußen aus diesem Grunde müsse wirken können, weil sie in einem Orte ist. Denn wenn wir den Begriff von demjenigen zergliedern, was wir den Ort nennen, so findet man, daß er die Wirkungen der Substanzen in einander andeutet. […] Denn die Materie, welche in Bewegung gesetzt worden, wirkt in alles, was mit ihr dem Raum nach verbunden ist, mithin auch die Seele.57

Hier greift die Kantische Polemik in den Träumen inhaltlich; Kant kritisiert demnach 1766 als Protokritiker die Raum- und Seelenauffassung des Metaphysikers Kant von 1747. Aber Kant hat die Position von 1747 in den fünfziger und anfänglichen sechziger Jahren aufgegeben und ist längst immun gegen den Vorwurf, seine Substanztheorie enthalte in nuce die Basis für Swedenborgs Geistervisionen und -gespräche. Er hat der Seele jede eigene Präsenz im Raum abgesprochen und die Anwesenheit und Kausalbeziehung im Körper zu einem unlösbaren Rätsel erklärt.58 Die mit bewundernswertem Scharfsinn herauspräparierten Stellen, die Kant selbst in die Nähe der inkriminierten Metaphysik rücken, beweisen nicht, dass nur er gemeint sein kann; und es gibt keine Passage, an denen das metaphysische „Wanted!“ nur auf ihn zutreffen kann. Das Resümee: Kant bleibt kompromittiert, solange er versucht, am naiven influxus physicus festzuhalten, aber die reductio ad ridiculum der Träume wendet sich nicht speziell gegen diese eine, besonders 1747 von Kant vertretene Variante der Metaphysik. 57 58

AA I, S. 20,36–21,16. Vgl. AA XXVIII, S. 147,3–7.

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Kants Methodenkritik der bisherigen Metaphysik Eine Alternative zu den beiden kritisierten Versuchen wäre, dass Kant in den Träumen weder den Raum noch die Psychologie Christian Wolffs in concreto kritisiert, noch sich ausschließlich auf sich selbst bezieht, sondern auf die Methode im Allgemeinen, gemäß der die Metaphysik, speziell die rationale Psychologie, einige Daten aus der Erfahrung aufgreift und sich zu Wesensdefinitionen versteigt, die sich auf etwas Mögliches beziehen sollen; möglich, weil widerspruchsfrei denkbar. Das Mögliche aber ist der Realgrund alles Wirklichen und der eigentliche Gegenstand der Metaphysik. Die Metaphysikkritik der Träume wäre dann methodischer, nicht speziell inhaltlicher Art. Der Umfang unserer Erkenntnis bemisst sich nach der allgemeingültigen Erfahrung, die im Raum durch die Kräfte von soliden Körpern bestimmt ist, also deren externe Relationen. Was die Kräfteäußerungen der physischen Substanzen innerlich ermöglicht, entzieht sich unserer Erkenntnis. Im Hinblick auf körperlose Geister oder Seelen mangelt es uns erstens an allgemeingültigen räumlichen Erfahrungen; wir wissen zweitens nicht, ob es so etwas gibt wie das Innere geistiger Substanzen.59 Es wird, wenn unsere Überlegungen zutreffen, in den Träumen nicht Wolffs Raum- oder Geistes- oder Seelenbegriff kritisiert, auch nicht ausschließlich spezielle Lehrstücke der eigenen Substanztheorien, sondern das Verfahren, mit ungeklärten Begriffen zur vorgeblichen Erkenntnis der Möglichkeit von Wesen zu gelangen und diesen damit auch die Lizenz zu erteilen, wirklich zu sein. Wolffs einzige Nennung in den Träumen lautet nach der Erinnerung an das Diktum Heraklits: „Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigene“: Auf diesem Fuß, wenn wir die Luftbaumeister der mancherlei Gedankenwelten betrachten, deren jeglicher die seinige mit Ausschließung anderer ruhig bewohnt, denjenigen etwa, welcher die Ordnung der Dinge, so wie sie von Wolffen aus wenig Bauzeug der Erfahrung, aber mehr erschlichenen Begriffen gezimmert, oder die, so von Crusius durch die magische Kraft einiger Sprüche vom Denklichen und Undenklichen aus Nichts hervorgebracht worden, bewohnt, so werden wir uns bei dem Widerspruche ihrer Visionen gedulden, bis diese Herren ausgeträumt haben. (II 342,8–16)

Dies trifft den Kern der gesamten Möglichkeits-Metaphysik: Es wird für real möglich gehalten, was sich widerspruchsfrei denken lässt. Die Unhaltbarkeit dieser Lehren zeigt sich darin, dass zwischen den diversen Möglichkeitsträumen Widersprüche auftauchen, die die vor sich hin träumenden Einzelschläfer nicht mehr begreifen und zu einer Lösung führen können. Ihnen fehlt also grundsätzlich der Zu59

Vgl. Vogel, Karl, Kant und die Paradoxien der Unendlichkeit. Die Monadenlehre in Kants philosophischer Entwicklung bis zum Antinomienkapitel der „Kritik der reinen Vernunft“. Frankfurt/M. 1986, S. 228–238.

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gang zur gemeinsamen und damit wirklichen Welt. Man sieht leicht, dass hier eine der Vorzeichnungen der Antithetik der reinen Vernunft von 1781 liegt. Das grundsätzliche Verfahren der Metaphysikkritik ist demnach so, dass verschiedene Positionen mit einander konfrontiert werden, die selbst widerspruchsfrei sind, die jedoch den Widerspruch untereinander nicht mehr thematisieren und lösen können. Ihr Fehler: Die Grenzüberschreitung der menschlichen Erkenntnis und damit der Übergang in das Schattenland der Einzelträumer. An die Stelle der Antithetik (etwa von Wolff und Crusius, wie sie Kant im zitierten Text andeutet) tritt die Erläuterung des Traummonologs des Metaphysikers durch die Träume eines Geistersehers. Ebenso wie in der Untersuchung selbst bezieht sich Kant im Brief an Moses Mendelssohn vom 8. April 1766 auf die Methodenkritik seiner Schrift: […] allein ich verheele gar nicht daß ich die aufgeblasene Anmaßung gantzer Bände voll Einsichten dieser Art so wie sie jetziger Zeit gangbar sind mit Wiederwillen ja mit einigem Hasse ansehe indem ich mich vollkommen überzeuge daß der Weg den man gewählt hat ganz verkehrt sey daß die im Schwange gehende Methoden den Wahn und die Irrthümer ins unendliche vermehren müssen und daß selbst die gänzliche Vertilgung aller dieser eingebildeten Einsichten nicht so schädlich seyn könne als die erträumte Wissenschaft mit ihrer so verwünschten Fruchtbarkeit.60

Aufgeblasene Anmaßung, Widerwille, Hass, verwünschte Fruchtbarkeit – hier geht es um mehr als die Kritik an akademischen Subtilitäten. Hier sind „wit and humour“ verflogen, und Kant steht Goya mit seinem „produce monstruos“ näher als dem witzigen Aristokraten Shaftesbury. Weder Klaus Reich noch Alison Laywine können erklären, woher die Wut und Erregung kommt, die Kant noch im Brief an Mendelssohn erfasst. Woher rührt die moralische Empörung gegen die Schulmetaphysik? Sollen es Fehler im Wolffschen Raumbegriff sein? Einzelne Irrtümer in der eigenen Substanztheorie? Passt Kant die ganze Richtung nicht mehr, weil er einen neuen Einfall in Detailfragen hat? Kant müsste schon schizophren sein, wenn er die deutsche Metaphysik in Trümmer schlägt, sich zur gleichen Zeit zu Rousseaus antifeudalen Ideen bekennt, aber beides nicht miteinander verbindet. Aber er sagt es selbst: Ich bin so weit entfernet die Methaphysik selbst, objectiv erwogen, vor gering oder entbehrlich zu halten daß ich vornemlich seit einiger Zeit nachdem ich glaube ihre Natur und die ihr unter den Menschlichen Erkenntnissen eigenthümliche Stelle einzusehen überzeugt bin daß sogar das wahre und dauerhafte Wohl des Menschlichen Geschlechts auf ihr ankomme […].61

Die alte Metaphysik stellt sich dem praktischen Wohl der Menschheit entgegen, deswegen wird ihr der Prozess gemacht – im Namen der sittlichen Bestimmung des Menschen. Die Metaphysik der Schulen verhindert „das wahre und dauerhafte Wohl des Menschlichen Geschlechts“, sie muss also aus moralischen Gründen beseitigt werden. 60 61

AA X, S. 70,13–22. AA X, S. 70,23–28.

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Die sittliche Bestimmung des Menschen Wir erinnern noch einmal an den oben zitierten Satz, in dem von der finalen Bestimmung des Menschen gesprochen wird und an den offenbar Borowski bei seiner Paraphrase des Inhalts der Träume gedacht hat: Wie? ist es denn nur darum gut tugendhaft zu sein, weil es eine andere Welt giebt, oder werden die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich selbst gut und tugendhaft waren? Enthält das Herz des Menschen nicht unmittelbar sittliche Vorschriften, und muß man, um ihn allhier seiner Bestimmung gemäß zu bewegen durchaus die Maschinen62 an eine andere Welt setzen?63

Die Untersuchung über die Deutlichkeit (1764) endete mit dem Satz: Hieraus ist zu ersehen, daß, ob es zwar möglich sein muß, in den ersten Gründen der Sittlichkeit den größten Grad philosophischer Evidenz zu erreichen, gleichwohl die obersten Grundbegriffe der Verbindlichkeit allererst sicherer bestimmt werden müssen, in Ansehung dessen der Mangel der praktischen Weltweisheit noch größer als der speculativen ist, indem noch allererst ausgemacht werden muß, ob lediglich das Erkenntnißvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die erste Grundsätze dazu entscheide.64

Hier finden wir dieselbe Zweiteilung von spekulativer und praktischer Philosophie, die der Wolffschen Metaphysik zuwiderläuft, denn in dieser kann es keine Frage geben, dass die spekulative Ontologie alle anderen theoretischen und praktischen Disziplinen als ihre Derivate betrachten muss. Im Folgenden soll die allgemeine Bedeutung dieser Aussage umrissen werden. „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die größte unter ihnen“, diese Formulierung gehört zu den vertrautesten Textstücken des Neuen Testaments (1. Korinther 13, 13). Hieraus entwickelten sich die drei christlichen Kardinaltugenden, die den vier nichtchristlichen entgegengestellt wurden: Bescheidenheit, Mut, Überlegung und Gerechtigkeit, gemeinsam lieferten sie die Schlüsselbegriffe der Ethik des Abendlandes. Die christlichen Tugenden gehen sicher auf hellenistische Philosophen zurück, die sie in einem systematischen Zusammenhang mit den drei großen Bereichen der Metaphysik entwickelten: Wir glauben an Gott, die Hoffnung gilt der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, und die Liebe bestimmt das Handeln in der Welt, also Gott, Seele und Welt, von denen die Metaphysik als ihren besonderen Gegenständen handelt. Im Testament stehen der Glaube und die Hoffnung eindeutig an der Spitze, wenn auch der Liebe wie in einem Akt der Reue zugestanden wird, sie sei die wichtigste. Diese Positionierung fand ihren Ausdruck in einer geschichtsmächtigen Auffassung, dass der Gottesglaube die wahre Liebe und das moralische Handeln allererst ermöglicht, der Atheist also nicht sittlich sein kann. Damit hat die Kirche das Monopol bei der 62 63 64

Zur auffälligen Maschinenmetapher vgl. Stollberg-Rilinger, (wie Anm. 13). AA II, S. 372,26–29. AA II, S. 300,26–33.

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Bestimmung von Sittlichkeit und Tugend; wer nicht in den von der Kirche fixierten Ritualen glaubt, mag zwar äußerlich liebevolle Handlungen vollbringen, aber sie entspringen einem korrupten Herzen und bleiben glänzendes Elend. Dieses Sittlichkeitsmonopol der Kirche löste sich wie analoge Monopole der Staaten in der Neuzeit allmählich auf, die Gesellschaft eignete sich wieder an, was Kirche und Staat für sich beansprucht hatten. Diese neuzeitliche Befreiung fand in unterschiedlichen Stufen in den mitteleuropäischen Ländern statt; hier soll die „anthropologische Wende“ in Deutschland in der Mitte des 18. Jahrhunderts herausgehoben werden, an der die Kantische Überlegung partizipiert. Die Wende vollzieht sich auf fast allen Gebieten der Kultur, der Produktion, des Handels, der Rechte und in der Erosion von absolutistischem Thron und Altar. Äußerlich geschah wenig Spektakuläres, es gab keine großen Verfolgungen, und wenn Friedrich Wilhelm I. von Preußen dem Hallenser Philosophen Christian Wolff androhte, er würde ihn hängen lassen, wenn er nicht binnen 24 Stunden das Land verlasse, dann fand sich ein Nachbarland, das Wolff dem Galgen vorzog und in dem er in Ruhe seine vielbändigen lateinischen Werke weiter schreiben konnte. Eine der subtilen und bis heute wirksamen Verkehrungen gegen die bis dahin geltende Ordnung findet sich in der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts berühmten Broschüre des Pfarrers Johann Joachim Spalding, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1748).65 Spalding war geschult in englischer Philosophie; seine ihr folgende unauffällige Tat ist die implizite Verkehrung der Reihenfolge der christlichen Tugenden in „Liebe, Glaube, Hoffnung“. Damit wird an den Anfang eine natürliche Moral gestellt, die sich aus den eigenen Gefühlen und natürlichen Überlegungen jedes Menschen ergeben soll. Wir sind also im Hinblick auf unser moralisches Urteil und auch in der Motivation zum sittlichen Handeln auf keine Kirche angewiesen und brauchen nichts zu glauben und nichts zu hoffen, um sittlich zu sein. Der religiöse Drehpunkt ergibt sich für Spalding erst am Ende aus der Erfahrung, dass in unserer Welt der Übeltäter belohnt und der Tugendhafte bestraft wird; da es Gott nun einmal gibt, kann mit diesem Leben nicht aller Tage Ende sein – wir können mit guten Gründen hoffen, dass es nach dem leiblichen Tod eine ausgleichende Gerechtigkeit gibt. Wir hatten oben aus den Träumen zitiert: Allein die wahre Weisheit ist eine Begleiterin der Einfalt, und da bei ihr das Herz dem Verstande die Vorschrift giebt, so macht sie gemeiniglich die große Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich, und ihre Zwecke bedürfen nicht solcher Mittel, die nimmermehr in aller Menschen Gewalt sein können. […] muß man, um ihn allhier seiner Bestimmung gemäß zu bewegen, durchaus die Maschinen an eine andere Welt ansetzen?66

65 66

2006 neu erschienen in einer vorzüglichen Edition von Albrecht Beutel: Spalding, Johann Joachim, Die Bestimmung des Menschen, hg. v. Albrecht Beutel u.a. Tübingen 2006. AA II, S. 372,19–29.

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Der (in den Träumen nur hier gebrauchte) Begriff der finalen Bestimmung67 verweist auf Spalding, aber man entdeckt rasch, dass Spalding nicht originell ist. Locke schreibt: „All the great Ends of Morality and Religion, are well enough secured, without philosophical Proofs of the Soul’s Immateriality.“68 Die Träume gehen mit ihrer moralischen Emphase auf eine Auseinandersetzung zurück, die von der Polemik der Kyniker gegen die Platonische Ideenlehre, von den Stoikern gegen die intellektuelle Bildung, der Franziskaner gegen die Dominikaner, der Protestanten gegen den hohlen Pomp in Rom, der moral-sense-Theoretiker gegen die Rationalisten und Platoniker und Rousseaus gegen die Akademien und den intellektuellen Luxus, im Streit der Fakultäten der Wahrheit suchenden Philosophie gegen die oberen Wahrheit vergessenden Nutzdisziplinen, später Marx‘ gegen Hegel reicht, immer steht die wahre Natur gegen ihre kulturelle Zerstörung von oben, die natürliche Moral gegen ihre gelehrte Verhinderung. Außer Hume hat Rousseau Kant zurecht gebracht und erweckt, und dies alles als Echo eines seit der Antike währenden Kulturkampfes, in dem Kant in der Mitte der sechziger Jahre die Seiten wechselt. Später wird er wieder zum Verstand zurückkommen und das moralische Gefühl des Herzens, das Gefühl der Achtung, der praktischen Vernunft unterstellen. Jetzt wird die Grundstruktur der Schrift deutlich: Die traditionelle Metaphysik muss insgesamt und grundsätzlich, d.h. aus ihrer Methode destruiert werden, damit sie die natürliche Moral nicht durch Gelehrsamkeit verformt; die sittliche Emphase, mit der Kant dieses Geschäft betreibt, findet ihren Ausdruck in einer der Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen: […] ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen.69

67 68 69

Ungefähr gleichzeitig AA XX, S. 175,29: „Der letzte Zweck ist die Bestimmung des Menschen zu finden.“ Siehe auch AA, S. XXVIII 300,38–301,6. Locke, (wie Anm. 26), S. 542 – An Essay Concerning Human Understanding IV 3, 7. AA XX, S. 44,14–16.

FRIEDEMANN STENGEL (Halle)

Kant – „Zwillingsbruder“ Swedenborgs?

Das Problem Der Ostberliner Aufbau-Verlag eröffnete 1954 eine Philosophische Bücherei, die für geringe Kosten ein philosophisches curriculum für das Staatsvolk des „Arbeiter-und-Bauernstaates“ breit zugänglich machen sollte. Der erste Band enthielt Immanuel Kants Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Das Vorwort stellte Kants Auseinandersetzung mit Swedenborg in den ideologischen Kontext der teleologischen Geschichtsschreibung des Marxismus-Leninismus, indem es formulierte, mit den Träumen habe sich die deutsche Aufklärung nicht nur der „offene[n] Dunkelmännerei“ entledigt, sie habe sich auch daran gemacht, mit ihren theologischen Resten „ins Gericht zu gehen“.1 Davon abgesehen, dass sich diese Behauptung weder für Kant noch für die deutsche Aufklärung insgesamt halten lässt, sondern hier das Telos der marxistisch-leninistischen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts in Kant eingetragen wird, bietet der Blick auf den Kontext von 1954 die entscheidende Erklärung dafür, dass ausgerechnet die Träume als Eröffnungsbändchen der Philosophischen Bücherei ausgewählt worden sind. 1954 befindet sich die SED auf dem Höhepunkt ihres Kirchenkampfes: Tausende von christlichen Schülern und Studenten werden relegiert und exmatrikuliert, kirchliche Gebäude und Devisen beschlagnahmt, die Jugendweihe wird eingeführt, die Schließung der Theologischen Fakultäten liegt in der Luft – alles mit dem Ziel, der marxistischen Doktrin unter die Arme zu greifen, dass Kirche und (Aber-) Glaube in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft als Rudimente des Kleinbürgertums keinen Platz mehr hätten und man diese Entwicklung nur zu beschleunigen brauche.2 Dass ausgerechnet Kant als historischer Vorläufer für diese klassenkämpferische Ideologie herzuhalten hatte, ist ein Zeichen für die Instrumentalisierung jedweder geschichtlichen Tradition zur Fundamentierung eines Herrschaftsanspruchs – eine überdies höchst erfolgreiche Strategie: Bis heute ist in der ostdeutschen Bevölkerung die Ansicht weit verbreitet, dass die Aufklärung Reli1 2

Bassenge, Friedrich, Einleitung zu: Kant, Immanuel, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Berlin (Ost) 1954, S. 9. Vgl. Ueberschär, Ellen, Junge Gemeinde im Konflikt. Evangelische Jugendarbeit in SBZ und DDR 1945 – 1961. Stuttgart 2003; Stengel, Friedemann, Die Theologischen Fakultäten in der DDR im Umfeld des 17. Juni 1953, in: Greschat, Martin / Kaiser, Jochen-Christoph (Hg.), Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953. Stuttgart 2003, S. 173–215; Ders., Die Theologischen Fakultäten in der DDR als Problem der Kirchen- und Hochschulpolitik des SED-Staates bis zu ihrer Umwandlung in Sektionen 1970/71. Leipzig 1998.

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gion, Kirche und Glaube abgeschafft, ja gleichsam wissenschaftlich widerlegt habe. Dieses Beispiel soll genannt werden, um zu zeigen, wie tiefgreifend sich der Interpretationszweck mit dem Inhalt einer Schrift zu überlagern vermag. Der etwas provozierende Titel „Kant – ‚Zwillingsbruder‘ Swedenborgs“ bezieht sich auf eine Lesart des Verhältnisses zwischen dem Königsberger und dem Stockholmer, die auf Hartmut Böhme und Gernot Böhme3 zurückgeht. Sie führt gewissermaßen die von Gregory Johnson als „überlieferte Sicht“ (received view)4 bezeichnete Interpretation der Träume in der Kant- und gleichermaßen auch in der Swedenborgforschung auf einer anderen Ebene fort: Kant habe in den Träumen mit Swedenborgs Lehre insgesamt abgerechnet und seitdem gebe es keinerlei Spuren Swedenborgs mehr in seinem Werk. Für den deutschen Raum ist etwa die Interpretation der Träume durch Julius Ebbinghaus für diese Sichtweise signifikant: Wenn man Swedenborg und seinen Bericht über das lese, „was er im Jenseits alles erblickt haben will“, dann sei es „schwerlich möglich, anders zu reagieren, als Kant wirklich reagiert hat“. Swedenborgs Schilderungen seien nichts anderes als eine „Herabschraubung dantaesker Visionen auf das Niveau von Jahrmarktströdel“.5 Hartmut Böhme und Gernot Böhme behandeln den Fall hingegen exemplarisch: Kants Umgang mit Swedenborg zeige die Verdrängungsmechanismen der Aufklärung, die nicht nur die Geisterseherei Swedenborgs als ihr Dunkles, sondern parallel zu ihr auch Phantasie und Einbildungskraft, das Verhältnis zum Körper und zur Natur und die Sexualität rationalisiert und verdrängt habe. Ich greife diese Behauptung bewusst auf und werde die These aufstellen, dass es irreführend ist, wie Böhme/Böhme von Swedenborg als einem „dunklen“, unbekannten und gleichsam ‚entbruderten‘ Zwilling zu sprechen, sondern dass Kants ambivalente Auseinandersetzung mit Swedenborg umgekehrt Folgen für seine eigene Philosophie hatte und zu unübersehbaren Transformationen swedenborgischer Systemelemente in Kants Werk geführt hat. Nur einzelne Ansätze stellen die Sicht eines scharfen Bruchs in den Träumen in Frage und gelangen über eine erneute dekonstruierende Lektüre zu einem differenzierteren Verständnis des Textes.6 Es gilt also, wenigstens zwei einseitigen und in3 4 5

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Vgl. Böhme, Hartmut / Böhme, Gernot, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M. 1983, besonders S. 250–261. Vgl. Johnson, Gregory R., A Commentary on Kant’s Dreams of a Spirit-Seer. Diss. phil. Washington: The Catholic University of America 2001. Vgl. Ebbinghaus, Julius: Kant und Swedenborg, in: Ders., Gesammelte Schriften/ hg. von Hariolf Oberer und Georg Geismann. Bd. 3: Interpretation und Kritik. Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924–1972. Bonn 1990, S. 115f. Vgl. vor allem Johnson, Gregory R. / Magee, Glenn Alexander (Hg.), Kant on Swedenborg. Dreams of a Spirit-Seer an Other Writings. West Chester 2002, und Johnson, Commentary, (wie Anm. 4); Ders.: Kant on Swedenborg in the Lectures on Metaphysics, in: Studia Swedenborgiana 10 (1996), S. 1–38; 11 (1997), S. 11–39; Ders., Swedenborg’s Positive Influence on the Development of Kant’s Mature Moral Philosophy, in: McNeilly, Stephen (Hg.), On the True Philosopher and the True Philosophy. Essays on Swedenborg. London 2003, S. 21– 38.

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tereressegeleiteten Interpretationen der Träume auszuweichen: dem „Fluch der Lächerlichkeit“, mit dem Kant gleichsam ein „Todesurteil“ über Swedenborg ausgesprochen habe,7 und den parapsychologischen Lesarten vor allem seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts,8 die Kant okkulte oder mystische Tendenzen insgesamt unterschieben wollten, um dem zeitgenössischen Materialismus einen autoritätsgestützten Beweis für die Existenz von Seele und Geist entgegenzuhalten – eine Bewegung, die im Neukantianismus etwa bei Hermann Cohen mit dazu beitrug, als Gegenreaktion das gesamte Postulatenkapitel als „bedenklich und anstößig“ und als „Interessen-Annahmen“ aus der Kantischen Moralphilosophie zu entfernen, um eine reine Pflichtethik zu konstruieren.9 Wenn die literarische Begegnung Kants mit Swedenborg aber zu der Diagnose führt, dass sich in den Träumen mit der von Rousseau angeregten sittlichen Gesinnung und dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und an die Existenz Gottes die „Keimzelle“ der Postulatenlehre und die erste Formulierung der kritischen Ethik befindet,10 dann ist es unumgänglich, die „überlieferte Sicht“ als Konstrukt des Diskurses um Kant seit dem 19. Jahrhundert11 anzusehen und sie erneut zu überprüfen.

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Vgl. Benz, Ernst, Immanuel Swedenborg als geistiger Wegbahner des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 19 (1941), S. 2, 12. Prel, Carl du (Hg.), Immanuel Kants Vorlesungen über Psychologie. Mit einer Einleitung „Kants mystische Weltanschauung“. Pforzheim 1964 [Leipzig 1889]. Der Band enthält neben dem ausführlichen Vorwort du Prels die separate Veröffentlichung der rationalen Psychologie aus der Metaphysik-Vorlesung L1 (AA XXVIII/1, S. 193–350). Zur Auseinandersetzung um parapsychologische oder spiritistische Deutungen des Verhältnisses zwischen Kant und Swedenborg gehören: Bormann, Walter, Kantsche Ethik und Okkultismus, in: Beiträge zur Grenzwissenschaft. Ihrem Ehrenpräsidenten Dr. Carl Freiherr du Prel gewidmet von der „Gesellschaft für wissenschaftliche Psychologie“ in München. Jena 1899, S. 107–139; Hoffmann, Richard Adolf, Kant und Swedenborg. Wiesbaden 1909; Zimmermann, Robert, Kant und der Spiritismus. Wien 1879. Zu du Prel vgl. Sawicki, Diethard, Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900. Paderborn u.a. 2002, S. 306f., 334, 348. Sala, Giovanni B., Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar. Darmstadt 2004, S. 354f. Vgl. Schmucker, Josef, Kants kritischer Standpunkt zur Zeit der Träume eines Geistersehers, im Verhältnis zu dem der Kritik der reinen Vernunft, in: Heidemann, Ingeborg / Ritzel, Wolfgang (Hg.), Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781–1981. Berlin / New York 1981, S. 20. Rousseaus Einfluss dürfte auch dann durch Swedenborg zu ergänzen sein, wenn man Johnson / Magee nicht folgt, die die These vertreten, Kant habe Rousseau (und andere) natürlich schon vor seiner Lektüre Swedenborgs gekannt, ihn aber erst danach zu einer Synthese mit der Lehre Swedenborgs genutzt, vgl. Johnson / Magee, (wie Anm. 6), S. XX. Zu Rousseaus Einfluss auf Kant vgl. auch Zammito, John H., Kant, Herder and the Birth of Anthropology. Chicago / London 2002, S. 91–99, 113–120, 125–128. Nach Johnson / Magee geht die „überlieferte Sicht“ auf den Kantforscher Kuno Fischer (1824– 1907) zurück, vgl. Johnson / Magee, (wie Anm. 6), S. XII.

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Die Ambivalenz der Träume eines Geistersehers Es ist natürlich kaum zu übersehen, dass sich für eine abwertende, ja vernichtende Bewertung Swedenborgs durch Kant gravierende Anhaltspunkte in den Träumen finden. Damit ist weniger die durchgängige Bezeichnung Swedenborgs als „Schwedenberg“ gemeint, die immer wieder als abfällige Note gedeutet worden ist. Swedenborgs Arcana coelestia waren anonym erschienen und Johann Georg Hamann kannte bereits 1764 einen „Schwedenberg“ als Verfasser.12 Ja selbst Friedrich Christoph Oetinger schrieb bis in die 1770er Jahre „Schwedenborg“, nachdem er viele Briefe mit ihm gewechselt hatte. Ebenso wenig lässt sich Kants Rekonstruktion der Swedenborgschen Lehre als eine „karikaturhafte Verzeichnung“ beschreiben, wie es Ernst Benz getan hat.13 Ganz im Gegenteil zeugt sein knappes Referat für ein intensives Studium, eine sorgfältige Rekonstruktion und für ein ernsthaftes Bemühen um eine zusammenhängende Analyse der Arcana coelestia.14 1. Vor allem in dem mit „Antikabbala“ überschriebenen dritten Haupstück des ersten Teils und im zweiten Hauptstücks des zweiten Teils wendet sich Kant gegen die „Memorabilien“ in den Arcana coelestia, in denen Swedenborg seinen andauernden Kontakt mit den Bewohnern der Geisterwelt auf dieser Erde und auf anderen Planeten und Sternen des Alls, dort geführte Gespräche, Dispute und Visionen schildert. Es sei dem Leser nicht zu verdenken, so Kant, wenn er die Geisterseher nicht als „Halbbürger einer anderen Welt“ ansehe, sondern sie „kurz und gut als Candidaten des Hospitals“ abfertige. Und da man es „sonst nöthig fand“, einige von ihnen zu „b r e n n e n “, so sei es „jetzt gnug“, sie „nur zu p u r g i r e n “.15 Sweden12

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Vgl. Hamann an Moses Mendelssohn, 6.11.1764, mit der Ankündigung, Kant werde die „Opera omnia eines gewißen Schwedenbergs recensiren, die neun [sic!] große Quartanten betragen und in London ausgekommen sind“, in: Kant, Immanuel, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik/ textkritisch hg. und mit Beilagen versehen von Rudolf Malter. Stuttgart 1976, S. 111. Moses Mendelssohn nannte Swedenborg in seiner Rezension von 1766 gar „Schredenberg“, vgl. ebd., S. 118. Zu Oetinger vgl. dessen Schreiben an den Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt, 15.1.1771, in: Benz, Ernst, Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und der Lehre Emanuel Swedenborgs. Frankfurt/M. 1947, S. 289. Die Deutung des gewissen Herrn Schwedenberg, der in Stockholm ohne „Amt und Bedienung“ von seinem ziemlich ansehnlichen Vermögen lebe, als mutwillig verballhornende Namensverzerrung geht auf die anonyme Breslauer Rezension von 1786 zurück (vgl. unten S. 55f.). Der Rezensent entgegnet Kant (offenbar auch in Anspielung auf dessen Vermögen), es sei ja nicht anders, wenn jemand aus Stockholm schriebe: „‚Es lebt zu Königsberg ein gewisser Herr Cont von seiner philosophischen Professur.‘ “ Benz, Wegbahner, (wie Anm. 7), S. 12. Vgl. Kirven, Robert H., Swedenborg and Kant Revisited. The Long Shadow of Kant’s Attack and a New Response, in: Brock, Erland J. u.a. (Hg.), Swedenborg and his Influence. Bryn Athyn 1988, S. 114; und sogar Ebbinghaus, (wie Anm. 5), S. 115, erscheint Kants Schilderung von „großer Korrektheit“. AA II, S. 348 [Hervorh. im Original]. Folgt man der These Gregory Johnsons, dass Kant in diesem Kapitel einen fiktiven „diktatorischen“ Skeptiker etwa aus der Berliner Aufklärung spotten lässt, der nicht Kants eigene Meinung repräsentiert, dann wird hier nicht Swedenborg attackiert, sondern der Skeptiker selbst, der in die Gemeinschaft der Hexenverbrenner gestellt

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borg sei nach seinem eigenen Zeugnis nicht nur der „Erzgeisterseher unter allen Geistersehern“, sondern „sicherlich auch der Erzphantast unter allen Phantasten“.16 Seine Schilderungen scheinen „fanatischem Anschauen“ entsprungen zu sein, obwohl sie „gar wenig Verdacht“ erregten, gänzlich „erdichtet“ und „zum Betruge“ angelegt worden zu sein.17 Neben der Geisterseherei sind es noch zwei Momente in Swedenborgs System, die Kant geradezu infantilisiert: Swedenborgs Vorstellung des homo maximus als die Gestalt des Himmel und Geisterwelt umfassenden Teils des Universums, für Kant eine „ungeheure und riesenmäßige Phantasie“ und eine „alte kindische Vorstellung“,18 und Swedenborgs allegorische Exegese, „schwärmende Auslegungen“, die Kant aber nicht konkret kritisieren will. Stattdessen verweist er auf eine negative Rezension der Arcana durch den Leipziger Theologen Johann August Ernesti.19 2. Der Abschnitt „Antikabbala“ macht aber noch eine weitere Front auf: die Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie, die Kant vor Augen hatte und deren Extrakt ihm in der Metaphysik Alexander Gottlieb Baumgartens als Lehrbuch bei seinen Metaphysik-Vorlesungen über Jahrzehnte mehrmals in der Woche vorlag. Diese „Träumer der Vernunft“, die er den „Träumern der Empfindung“, also Swedenborg, gegenüberstellte, hätten aus „erschlichenen Begriffen“ ihr System abgeleitet. „Luftbaumeister“ wie Wolff und Crusius hätten aus „wenig Bauzeug der Erfahrung“ oder durch die „magische Kraft einiger Sprüche vom Denklichen und Undenklichen aus Nichts“ die „Ordnung der Dinge“ gezimmert.20 Nicht nur gegen Swedenborg, auch gegen Leibniz, Wolff und Crusius sind die Träume gerichtet, nicht aber gegen die Metaphysik als solche, denn in diese verliebt zu sein, sei sein Schicksal, so Kant an anderer Stelle.21 Diese Beobachtung ist für die Gesamtbeurteilung der Träume kaum zu unterschätzen. Wenn Kant Swedenborg mit der rationalistischen Philosophie parallelisierte, dann nahm er diese Verbindung nicht willkürlich wahr, sondern erkannte Swedenborgs philosophische Wurzeln, die auch in den Arcana coelestia nicht zu übersehen sind.22 Wenn Swedenborg eine zentrale

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wird. Der Skeptiker – nicht Kant, sondern die Popularphilosophie – versuche, das Paranormale durch einen reduktionistischen Materialismus überflüssig zu machen und seine Gegner mit fäkalsprachlichen Versen zu verspotten, vgl. Johnson, Commentary, (wie Anm. 4), S. 207f. AA II, S. 354. AA II, S. 360. AA II, S. 365f. AA II, S. 360; vgl. Ernesti, Johann August, Neue Theologische Bibliothek. Bd. 1, Leipzig 1760, S. 515–527. AA II, S. 342 [Hervorh. im Original]. AA II, S. 367. Vgl. dazu Stengel, Friedemann, Swedenborg als Rationalist, in: Neugebauer-Wölk, Monika / Rudolph, Andre (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen 2008, S. 149–203. Auch der eingangs zitierte Friedrich Bassenge weist auf diesen Zusammenhang hin: Kant habe sich Wolff durch Swedenborg „‚erläutern‘“ lassen, und es sei „erstaunlich“, wie deutlich es Kant war, dass er sich mit seiner Lehre von der Doppelbürgerschaft des Menschen in der Nähe von „‚Träumen‘“ befand, vgl. Bassenge, (wie Anm. 1), S. 7.

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Rolle bei Kants kritischer Wende zugesprochen wird, dann dürfte diese vor allem darin zu suchen sein, dass er durch die Begrenzung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten nicht nur der Swedenborgschen Geisterseherei einen epistemologischen Riegel vorschob, sondern zugleich erkannte, dass die Grundlagen Swedenborgs in der Leibniz-Wolffschen Philosophie lagen, die er während seiner philosophischen Entwicklung einer fundamentalen Kritik unterzog.23 Diese Verwandtschaft wird in den Träumen deutlich ausgesprochen. Wenn es in der Literatur um die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Kant und Swedenborg ging, wurden gerade die abqualifizierenden Stellen aus dem Abschnitt „Antikabbala“ als Beleg dafür zitiert, dass Kant Swedenborg als wahnsinnig und unvernünftig abgetan habe. Diese Sichtweise entspricht den Ausschließungsprozeduren, die nach Michel Foucault in Diskursen wirken.24 Von diesen Prozeduren ausgehend konnte Kant die Schriften des Geistersehers nicht verbieten, er musste deshalb mit der Macht seiner Feder und Autorität zwischen „wahr“ und „falsch“ unterscheiden, zwischen „vernünftig“ und „wahnsinnig“. Swedenborg fiel als das „Andere“ oder „Dunkle“ der Aufklärung durch Kants Verdikt aus den Aufklärungsdiskursen heraus und wurde aus den Rationalitätsstrukturen der Aufklärung als „wahnsinnig“ und „falsch“ verbannt. Doch würde einer solchen Interpretation zunächst ein Missverständnis des Diskursbegriffes bei Foucault entsprechen. Denn das „Falsche“, „Wahnsinnige“ und „Verbotene“ verschwindet nicht aus dem Diskurs, sondern verbleibt als, vielleicht sprachloser, Wirkfaktor weiterhin Adresse und Quelle innerhalb der Kommunikation des einen Diskurses. Es bleibt integriert und wird nicht in einen diskursfreien luftleeren Raum verdrängt.25 Außerdem würde durch diese einseitige Anwendung der Ausschlussprozeduren auf die Träume 23

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Dieser Zusammenhang wird freilich nicht deutlich, wenn Swedenborg in den Kontext einer kabbalistischen oder hermetischen Tradition gestellt wird. Eine solche Tradition wird für Swedenborg nach wie vor behauptet, kann aber im Gegensatz zu seinen Wurzeln im philosophischen Rationalismus nicht bewiesen, sondern nur durch phänomenologische Vergleiche hergestellt werden. Diese Lesart, die vor allem durch den Mangel an einer Untersuchung der nachweislich von Swedenborg benutzten Quellen entsteht, liegt schon bei Martin Lamm und Ebbinghaus (wie Anm. 5), S. 113f., vor und wird bis in neueste Untersuchungen beibehalten, die zwar bemerkenswerte Hinweise liefern, aber über motivgeschichtliche und phänomenologische Indizien hinaus keine sicheren Belege vorweisen können, vgl. jetzt Roling, Bernd, Erlösung im angelischen Makrokosmos: Emanuel Swedenborg, die Kabbala Denudata und die schwedische Orientalistik, in: Morgen-Glantz 16 (2006), S. 385–457. Vgl. dazu aber Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22) und vor allem die Arbeiten von Inge Jonsson, die gegen die Behauptung der esoterischen Tradition für Swedenborg ebenfalls philosophisch-rationalistische, patristische und mittelalterlich-neuplatonische Texte als prägend nachweisen können, insbesondere Jonsson, Inge, A Drama of Creation. Sources and Influences in Swedenborg’s Worship and Love of God. West Chester 2004. Vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses. 7. Aufl. Frankfurt/M. 2000, S. 11–17; Brieler, Ulrich, Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker. Köln / Weimar / Wien 1998, S. 279–285. Bei Foucault sind die Grenzziehungen ja gerade deshalb beabsichtigt, um die Angst vor dem „großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses“ einzudämmen und sein „Wuchern“ zu bändigen. Vgl. Foucault, (wie Anm. 24), S. 33.

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der Blick auf die Ambivalenz der Schrift verdeckt, die schon von den Zeitgenossen erkannt worden ist, wie noch auszuführen sein wird. 3. Auch in den Träumen finden sich neben den scharf verspottenden Zurückweisungen Kants Formulierungen, die entweder auf eine kritische Prüfung der Lehre Swedenborgs schließen lassen oder an seine Arcana coelestia positiv anknüpfen, indem sie einzelne Motive transformieren und konstruktiv modifizieren. Die Darlegungen der ersten beiden Hauptstücke des ersten „dogmatischen“ Teils enthalten Aussagen über Seele und Unsterblichkeit, in denen Swedenborgs Name nicht einmal auftaucht, die aber mit den Grundlagen seiner Lehre nahezu identisch sind. Die Seele ist in diesen beiden Kapiteln ganz in der Tradition der Leibniz-Wolffschen Philosophie nicht nur „einfache Substanz“, sie ist auch unausgedehnt und immateriell26 und existiert über den Tod hinaus,27 ein Gedanke, dessen Beweisbarkeit Kant in der ersten Kritik als Paralogismus abweisen würde, der aber in der Moralphilosophie und der Religionslehre im Kontext der Postulatenlehre epistemologisch umgewertet weiterbestand. In den ersten beiden Abschnitten der Träume kann die Seele nicht im Raum sein und demzufolge nicht an einem konkreten Ort im Körper, sondern: „wo ich empfinde, da b i n i c h “, nämlich im ganzen Körper und in jedem seiner Teile.28 Er selbst, so gesteht Kant ausdrücklich als Autor zu, sei geneigt, „das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten“ und seine eigene Seele selbst in die „Klasse dieser Wesen“ zu versetzen.29 Er betont das Geheimnisvolle der zeitweiligen Gemeinschaft des Körpers mit der Seele, warnt aber zugleich davor, aus dieser „zufällige[n] Vereinigung“ den Schluss zu ziehen, dass die Seele wieder zu ihrem Ursprung zurückkehre. Eine solche Folgerung kann nicht als stringente philosophische und erfahrungsbezogene Argumentationskette gelten und übersteigt seine „Einsicht“.30 Dennoch verharrt der Abschnitt bei der Doppelnatur des Menschen als Teil der natürlichen und einer geistigen Welt und führt den Terminus mundus intelligibilis31 ein. Er hält es für so gut als demonstrirt, oder es könnte leichtlich bewiesen werden, [...] daß die menschliche Seele auch in diesem Leben in einer unauflöslich verknüpften Gemeinschaft mit allen immateriellen Naturen der Geisterwelt stehe, daß sie wechselweise in diese wirke und von ihnen Eindrücke empfange, deren sie sich aber als Mensch nicht bewußt ist, so lange alles wohl steht.32

Diese „i mma t e r i e l l e Welt“ könne als ein „vor sich bestehendes Ganze“ betrachtet werden, dessen „Theile untereinander in wechselseitiger Verknüpfung und Gemeinschaft stehen“ und dem alle geschaffenen Intelligenzen angehören.33 In 26 27 28 29 30 31 32 33

AA II, S. 322–324. AA II, S. 336. AA II, S. 325 [Hervorh. im Original]. AA II, S. 327. AA II, S. 328. AA II, S. 329. AA II, S. 333. AA II, S. 330 [Hervorh. im Original].

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diesem Zusammenhang findet sich auch ein Umriss des späteren moralisch-teleologischen Unsterblichkeitsbeweises, der hier mit der auch von Swedenborg vertretenen Eschatologie verbunden wird: Die Moralität der Handlungen könne im leiblichen Leben niemals eine „vollständige Wirkung“ haben, „wohl aber in der Geisterwelt nach pneumatischen Gesetzen“.34 In einer Anmerkung wird die Verortung des Himmels im „Weltraume“ oder auf anderen Planeten als Wahn zurückgewiesen. Demgegenüber wird genau wie bei Swedenborg der Himmel als Geisterwelt bestimmt, die nicht räumlich lokalisierbar sei, sondern in „geistigen Verknüpfungen“ bestehe.35 Ende die Verbindung der Seele mit dem Körper, so bleibe die „Gemeinschaft“ übrig, in der die Seele bereits jetzt mit den „geistigen Naturen“ stehe, und sie werde nun „zum „klaren Anschauen eröffnet“.36 Die Kontinuität zwischen Geisterwelt und natürlicher Welt beziehe sich, so wird differenziert, selbstverständlich nicht auf die Person, sondern auf das Subjekt, denn die Seele steht ja in Verbindung mit dem Körper und gewinnt dadurch ihre Individualität. Die Einflüsse der Geisterwelt gingen in das menschliche Bewusstsein nicht direkt über, sondern passten sich nach dem „Gesetz der vergesellschafteten Begriffe“ den Sinnen und der Sprache an.37 Es ist bemerkenswert, dass Kant sich in dem Abschnitt der Träume, der sich explizit auf das „Zeugnis“ Swedenborgs selbst bezieht, dessen Ähnlichkeit mit seiner eigenen „philosophischen Hirngeburt“ eingesteht, obwohl es „verzweifelt mißgeschaffen und albern aussieht“. Eben aus diesem Grund verstehe er „keinen Spaß“, was „solche Vergleichungen anlangt“.38 4. Die entscheidende Differenz Kants zu Swedenborg wird jedoch hier wie auch in den beiden Anfangskapiteln der Träume deutlich, die in Grundzügen Swedenborgs Modell enthalten: Eine Anschauung der „a n d e r n Welt“ kann nur erlangt werden, „indem man etwas von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man für die g e g e n w ä r t i g e nöthig hat“.39 Und am Ende des gesamten ersten „dogmatischen“ Teils kommt Kant trotz der in dem Abschnitt „Antikabbala“ enthaltenen Qualifizierungen Swedenborgs als „Kandidat des Hospitals“ eher zu einem ‚non liquet‘: Die geistige Natur als das Prinzip des Lebens könne nicht positiv gedacht werden, weil hierzu die „Data“ fehlten. Daher müsse man sich mit „Verneinungen“ behelfen. Deshalb geht Kant die „ganze Materie von Geistern [...] künftig nichts mehr an“.40 Es wird auch dort, wo Kants Darlegungen Swedenborgs Lehre am nächsten kommen, nicht unterlassen, auf die unüberwindbare epistemologische Distanz zu verweisen.

34 35 36 37 38 39 40

AA II, S. 336. AA II, S. 332. AA II, S. 332. AA II, S. 337–339. AA II, S. 359. AA II, S. 341 [Hervorh. im Original]. AA II, S. 352.

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5. Bereits im zweiten Hauptstück des ersten Teils verknüpft Kant die Geisterwelt, zu der alle geschaffenen Intelligenzen gehören, mit dem „allgemeinen menschlichen Verstande“, der dem „Ganzen denkender Wesen eine Art von Vernunfteinheit“ verschafft, mit einem Prinzip also, das sich nicht in der Natur und im Körper befindet. Aus ihm leiten sich aber die „Regel des allgemeinen Willens“, die moralische Einheit „aller denkenden Naturen“, die Regeln der Sittlichkeit und die „sittlichen Antriebe“ ab, die zu den „mächtigsten“ Kräften gehören, „die das menschliche Herz bewegen“, aber „außerhalb demselben“ liegen. Der Privatwille und der allgemeine Wille, „d.i. der Einheit des Ganzen der Geisterwelt“, sind miteinander verknüpft.41 6. Am Ende der Schrift gelangt Kant zu einer Neudefinition der Metaphysik, die fortan als „W i s s e n s c h a f t v o n d e n G r e n z e n d e r me n s c h l i c h e n V e r n u n f t “42 zu gelten hat und die er mit Hilfe der „durch Erfahrung gereifte[n] Vernunft“43 vor unnützen Spekulationen ebenso wie vor der Geisterseherei schützen müsse. Für pneumatische Gesetze unabhängig von der Verbindung mit dem Körper gibt es keine empirischen Beweise und für deren Beschreibung keine der „Naturwissenschaft“ analoge Verfahren – eine Hypothese, die im Schlusswort der zweiten Kritik modifiziert und nunmehr als erfüllt angesehen wird.44 Es kommt auf die Moral an, auf Handlungen, die nicht um der Belohnung in einer anderen Welt wil-

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AA II, S. 334f. Giovanni Sala hat darauf aufmerksam gemacht, dass Kant in Abschnitt I.2 der Träume die Gemeinschaft der Seelen mit den immateriellen Naturen der Geisterwelt zwar nicht beweisen, wohl aber „plausibel machen“ wolle. Wenn er [in I.3 – Antikabbala] die metaphysische Begründung des Sittengesetzes ablehne, hebe er alle Spekulationen über die Gemeinschaft mit der Geisterwelt zwar auf, nicht aber „das Faktum des Gesetzes als Gesetz des allgemeinen Willens“, die beide – so wäre Sala zu ergänzen – aus der Geisterwelt abgeleitet sind. Dadurch wird das Gesetz als bloßer Formalismus und als Verpflichtung der Übereinstimmung des Privatwillens mit dem allgemeinen Willen begründet. Vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 44. AA II, S. 368 [Hervorh. im Original]. AA II, S. 369. Von der Einsicht in den „Weltbau“ durch mathematisch-physikalische Gesetze ist zu hoffen, dass sie „niemals“ zurückgehen wird. „Diesen Weg nun in Behandlung der moralischen Anlagen unserer Natur gleichfalls einzuschlagen, kann uns jenes Beispiel anräthig sein und Hoffnung zu ähnlichem guten Erfolg geben.“ Die Beispiele der „moralisch-urteilenden Vernunft“ können zwar nicht mathematisch, aber durch ein „der Chemie ähnliches Verfahren, der Scheidung des Empirischen vom Rationalen“ zergliedert werden, wodurch „Beides rein [...] und mit Gewißheit erkennbar“ werde. Diese „Wissenschaft (kritisch untersucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt [...]“, vgl. AA V, S. 163. Ich verstehe Kants Verfahren in Analogie zu den pneumatischen Gesetzen, die er in den Träumen (AA II, S. 335) entsprechend der Newtonschen Gravitation als eine gesetzmäßige Wechselwirkung zwischen allgemeinem Willen und Privatwillen, die durch die Einheit der immateriellen Welt gewährleistet ist und durch die Moralität der Handlungen in der Geisterwelt nach „pneumatischen Gesetzen“ zum Ziel gelangt. Im Brief an Mendelssohn bezeichnete er diese Analogie zwischen dem pneumatischen und dem Gravitationsgesetz nicht als seine eigene Meinung, sondern als philosophische Erdichtung, vgl. Malter, (wie Anm. 12), S. 117. Am Ende der KpV wendet Kant allerdings den Anspruch eines dem „naturwissenschaftlichen“ Bereich analogen Verfahren explizit auf die „Behandlung der moralischen Anlagen“ an, wobei die immaterielle Welt als Bedingung für die Übereinstimmung zwischen Privatwillen und allgemeinem Willen selbst natürlich nicht Untersuchungsgegenstand ist.

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len begangen werden, sondern „an sich selbst gut und tugendhaft“45 sind. Es erscheint wie ein Vorgriff auf seine Moralphilosophie, wenn Kant deutlich macht, dass nicht wegen eines – wenn auch künftigen – Lohns gehandelt werden soll. Die Handlung muss als Handlung gut sein, und sie muss autonom geschehen. Sie wäre aber gewissermaßen heteronom, wenn man „die Maschinen an eine andere Welt“ ansetzen würde, denn dann wäre sie determiniert. Ist es aber nicht so, wendet Kant ein, dass das menschliche Herz selbst „unmittelbare sittliche Vorschriften“ enthält und – so könnte man ergänzen – dadurch die Fähigkeit zur Autonomie aus sich selbst heraus besitzt? Die Geisterseherei wie auch die Geisterwelt werden nicht nur epistemologisch durch das „unter den meisten Menschen einstimmige Gesetz der Empfindung“46 abgeschnitten, Kant kennt bereits in den Träumen zwei später ausgebaute moralphilosophische Argumente: die Autonomie und das moralische Gesetz als alleinige Triebfeder. Diese ambivalenten Aussagen der Träume, die zwischen Anlehnung, scharfer Zurückweisung und Transformation, zwischen Satire und gleichsam psychiatrischer Diagnose changieren, sind nicht benannt worden, um eine stringente und konsistente Interpretation der Schrift im Hinblick auf die ‚eigentliche‘ Intention und den ‚wahren‘ Inhalt zu liefern. Es dürfte schwer sein, eine ‚eindeutige‘ Deutung der Träume vorzulegen, die durch eine plausible Harmonisierung oder Auflösung der verbalen und strukturellen Widersprüche zu einem einheitlichen Bild mit einer eindeutigen Gesamtaussage führen würde. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Ambivalenz der einzelnen Kapitel auch stilistisch niederschlägt. Ironische Referate und Spott gegenüber dem Geisterseher und der rationalistischen Philosophie wechseln mit konjunktivischen Erwägungen, mit persönlichen Positionierungen durch in die 1. Person gesetzte Indikative und mit kräftigen Zurückweisungen, deren Objekte sich aus dem Textfluss nicht mehr ohne weiteres erschließen. Die Absichten Kants bleiben durch ein solches Vorgehen an vielen Stellen verdeckt, vor allem da, wo die konkreten Gegner im Dunkeln bleiben. Es wird oftmals nicht deutlich, welche Abschnitte miteinander korrespondieren oder ob Kant gar mehrere Personen sprechen lässt.47 Auch wenn der moralisch-pragmatische Schluss, das 45 46 47

AA II, S. 372. AA II, S. 371f. Die These, dass Kant in den Träumen einen (selbst-) ironischen und apologetischen Metaphysiker (in den Teilen I.1 und I.2), dann einen aufgeklärten, materialistischen Skeptiker in der Manier der zeitgenössischen Popularphilosophie (I.3) sprechen lasse, um am Ende dieses Dialogs der Einwände gegen Swedenborg in Gestalt eines pragmatisch-vernünftigen Metaphysikers (II.3) mit eigener Stimme aufzutreten, hat Gregory Johnson in seiner Dissertation eindrücklich dargelegt, vgl. Johnson, Commentary, (wie Anm. 4), S. 86–89. In Analogie zu Rousseaus Emile vertrete der ironische Metaphysiker eine dualistische, theistische und von Swedenborg abgeleitete Weltsicht als These, der Skeptiker setze einen epikureischen Materialismus dagegen, und der pragmatische Metaphysiker (aus II.3), der die Vorstellungen des ironischen Metaphysikers gelten lasse und die Kritik des Skeptikers billige, rekonstruiere dann die Metaphysik Swedenborgs auf der Grundlage der praktischen Vernunft neu. Vgl. ebd., S. 217. Mit dieser These befindet sich Johnson wenigstens in der Nähe zu einigen zeitgenössischen Rezensionen

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dritte Hauptstück des zweiten Teils, als das eigene abschließende Wort Kants angesehen wird, kann die Gesamtintention mit Blick auf die vorhergehenden, sich teilweise stark widersprechenden Abschnitte nicht hinreichend begründet werden.

Die ersten Leser der Träume Wenn es aus den beschriebenen Gründen kaum möglich ist, eine eindeutige Autorintention aus den Träumen abzuleiten, könnte es weiterführend sein, die Reaktionen der Zeitgenossen Kants auf die Schrift zu untersuchen. Und diese sind nichts anderes als auffällig – auffällig wegen ihrer eigenen Unklarheit über die Intention des Textes im Hinblick auf die Ambivalenz der Schrift, und auffällig, weil sie keinesfalls mit der modernen Lesart eines radikalen Bruchs oder gar einer „Hinrichtung der Swedenborgschen Lehre“48 in den Träumen konform gehen. 1. Nur eine einzige Stellungnahme Kants selbst zu den Träumen liegt vor. Moses Mendelssohn, dem Kant die Schrift zugeschickt hatte,49 hatte offenbar sein „Befremden“ über Kants Umgang mit der Metaphysik geäußert,50 so dass Kant ihm ein Entschuldigungsschreiben zukommen ließ und ihm darin seine Motive zu erklären versuchte.51 Er bat um Verzeihung angesichts der unordentlichen Form des Textes, betonte aber vor allem, dass es ihm natürlich nicht darum gegangen sei, die Metaphysik an sich für „gering oder entbehrlich“ zu erachten, sondern nur bestimmte Auswüchse eines verderbten Kopfes, der eines „catarcticon“ bedürfe. Es sei ihm bei aller Skepsis vor allem um die „Anwendung“ der Metaphysik und um die Frage nach der Präsenz der Seele in den Körpern gegangen, die ohne Erfahrung nicht zu klären sei. Kants Schreiben brachte für Mendelssohn indes keine befriedigende Klärung, denn dieser zeigte sich 1767 in seiner kurzen Rezension unsicher darüber, ob Kant mit den Träumen denn nun die Metaphysik „lächerlich“ oder die „Geisterseherey“ glaubhaft machen wollte. Der „scherzende Tiefsinn“, mit dem Kant das Werk abgefasst habe, lasse den Leser in dieser Beurteilung „zuweilen in Zweifel“.52 Dennoch enthalte es den „Saamen zu wichtigen Betrachtungen“, neue Gedanken über

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und könnte von hier aus gestützt werden, sein Ansatz ist aber deutlich von der Suche nach der Autorintention bestimmt. Der neueste Erklärungsversuch der Träume verfolgt noch intensiver das Ziel, unabhängig vom Diskursfeld die ursprüngliche Intention herauszuarbeiten, vgl. Balke, Friedrich, Wahnsinn der Anschauung. Kants Träume eines Geistersehers und ihr diskursives Apriori, in: Baßler, Moritz / Gruber, Bettina / Wagner–Egelhaaf, Martina (Hg.), Gespenster: Erscheinungen – Medien – Theorien. Würzburg 2005, S. 297–313. Vgl. Benz, Wegbahner, (wie Anm. 7), S. 13. Vgl. Kant an Mendelssohn, 7.2.1766, in: Malter, (wie Anm. 12), S. 111f.; AA X, S. 67f. Der Brief ist nicht erhalten, Kant bezieht sich aber in seinem Antwortschreiben unmittelbar darauf. Der Ausdruck „Befremden“ entstammt Kants Schreiben. Vgl. Kant an Mendelssohn, 8.4.1766, in: Malter, (wie Anm. 12), S. 112–117; AA X, S. 69–73. Mendelssohn, Moses, Rezension, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek. Bd. 4, 2. Stück. Berlin / Stettin 1767, S. 281; abgedruckt bei: Malter (wie Anm. 12), S. 118.

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die Natur der Seele und „Einwürfe“ gegen „die bekannten Systeme“, die einer ernsthaften „Ausführung“ würdig seien. Es war Mendelssohn also durchaus nicht klar, welches Ziel Kant verfolgte oder ob er etwa verschiedene Personen in den Träumen sprechen ließ. 2. Dies traf auch auf Johann Georg Heinrich Feder zu, der sich nicht sicher war, ob die Schrift „im Ernste, oder zum Scherze“ geschrieben worden sei; wenigstens sei „beides fast immer beysammen“.53 Offenbar mache der Verfasser von der Metaphysik nicht „Profession“, sei aber „ein eben so sinnreicher Philosoph, als ein witziger Spötter“. Und: auf Feder wirkte Kants Geständnis, dass Swedenborgs Lehre seiner eigenen „Hirngeburt so ungemein ähnlich“ sei und dass er gerade deshalb keinen Spaß verstehe,54 offenbar so stark, dass er Kants scharfsinnigen Tadel Swedenborgs im Widerspruch dazu sah, dass Kant „durch ihn erst ein kleines System sich gebauet hätte, wo er nachher erweitern, ändern, abbrechen und zubauen konnte, wo sein weiteres Forschen es für gut befand“. Der Spott, den Kant über Swedenbog ausgoss, stand also in Feders Augen im Gegensatz zu der Ähnlichkeit beider Systeme. 3. Dieser Ähnlichkeiten zwischen Kant und Swedenborg war sich der wohl beste Kenner Swedenborgs im deutschen Raum ebenfalls bewusst: Friedrich Christoph Oetinger55 schrieb an Swedenborg, die Träume, deren Verfasser er zunächst nicht kannte, würden ihn „gerade so viel durch Lobreden“ erheben, wie sie ihn, „um nicht fanatisch zu scheinen, durch Beschuldigungen“ erniedrigten.56 Diese Ambivalenz stellte Oetinger ausdrücklich in Analogie zu den Spöttern, die ihn selbst wegen seiner Sympathie für Swedenborg als „Fanatiker“ bezeichnet hatten. Denen habe er oft die Frage entgegengehalten, ob es denn möglich sei, dass aus dem Philosophen Swedenborg, der in „geometrischer Weise nach der Art Wolffs“ die Dinge messe und beurteile, plötzlich ein „törichter Mensch“ werden könne, der „von den geordneten Regeln des Denkens abgekommen“ sei, aber dennoch 22 Jahre lang „über den Zustand nach dem Tod sieht und hört“, und das in „Überein-

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Feder, Johann Georg Heinrich, Rezension, in: Compendium Historiae Litterariae novissimae Oder Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten 21 (1766), S. 308f.; abgedruckt bei Malter, (wie Anm. 12), S. 125–127. Vgl. AA II, S. 359. Oetinger gehörte zu den ersten prominenten Übersetzern Swedenborgs im deutschsprachigen Raum und stand mit Swedenborg auch persönlich im Kontakt. Vgl. Gutekunst, Eberhard, „Spötter, die mich um Ihrer willen für einen Fanatiker ausrufen“: Swedenborg und Friedrich Christoph Oetinger, in: Zwink, Eberhard (Hg.), Emanuel Swedenborg 1688 – 1772. Naturforscher und Kundiger der Überwelt. Stuttgart 1988, S. 77–81; Heinrichs, Michael, Emanuel Swedenborg in Deutschland. Eine kritische Darstellung der Rezeption des schwedischen Visionärs im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. u.a. 1979, S. 91–114; Hanegraaff, Wouter J., Swedenborg, Oetinger, Kant. Three Perspectives on the Secrets of Heaven. West Chester 2007, S. 67–85. Oetinger an Swedenborg, 4.12.1766, in: Acton, Alfred (Hg.), The Letters and Memorials of Emanuel Swedenborg. Bryn Athyn 1955, Bd. 2, S. 628–630; Übers. nach dem Auszug bei Malter, (wie Anm. 12), S. 127f.

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stimmung“ mit bestimmten Schriftstellen und dem „System“. „Vernünftiges“ Philosophieren, Seherei und Prophetie schlossen sich für Oetinger nicht aus, sondern bildeten eine stimmige Einheit. Die Träume Kants, um dessen Verfasserschaft Oetinger zunächst nicht wusste, stellten in seinen Augen lediglich ein Beispiel für die interpretatorische Unsicherheit bei der Beurteilung der Arcana coelestia Swedenborgs dar, wenn sie zugleich lobredeten, beschuldigten und erniedrigten. Schließlich enthielten die Träume, so Oetinger in einer Schrift, die er zur Klarstellung seiner mittlerweile kritischen Haltung gegenüber Swedenborg verfasste,57 Swedenborgs „ganze Lehre mit dem Idealismus vermischet“: „nemlich alle Menschen stehen in gleich inniger Verbindung mit der Geisterwelt, nur sie empfinden es nicht, weil sie zu grob sind“. Oetinger skizzierte im Anschluss vor allem die Verbindung der Menschen mit der Geisterwelt bei Swedenborg näher, nicht ohne sich von Swedenborgs exegetischer Methode, seiner Eschatologie und von seiner homo-maximus-Figur zu distanzieren – in diesen Punkten stimmte er übrigens genau mit der Kritik Kants überein.58 Eine eindeutige Distanzierung der Träume von Swedenborgs System insgesamt konnte er aber nicht erkennen. Oetingers Beurteilung der Schrift als ambivalent nicht nur (wie Ernst Benz) für eine „höchst seltsame Charakteristik“ zu halten, sondern auch noch ihre Nähe zur „Wirklichkeit“ anzuzweifeln, verhindert nicht nur die historische Einordnung der Sichtweise Oetingers, sondern ‚berichtigt‘ durch ein modernes Vorverständnis der Träume deren Rezeptionsgeschichte!59 Oetinger geriet wegen seiner aktiven Rezeption und vor allem wegen seiner Übersetzungen Swedenborgs in Württemberg kirchenbehördlich unter Beschuss und verfasste mehrere Verteidigungsschriften, in denen er sein ambivalentes Verhältnis und seine partiell positive Positionierung gegenüber Swedenborg darstellte. Nach der Publikation der Vera christiana religio (1771), in der sich Swedenborg offen als Träger der neuen Offenbarung bezeichnete, distanzierte sich Oetinger 57

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Oetinger, Friedrich Christoph, Höchstwichtiger Unterricht vom Hohenpriesterthum Christi, zur richtigen Beurtheilung der Nachrichten des Herrn von Schwedenborgs, in einem Gespräch nach Art des Buches Hiob, zwischen einem Mystico, Philosopho und Orthodoxo, da jedesmal ein heutiger Hiob, ein um Wahrheit willen leidender antwortet sammt einer Vorrede vom Neide der Frommen und Gelehrten. Frankfurt/M. u.a. 1772; Auszug bei Malter, (wie Anm. 12), S. 128–130. Dem Höchstwichtigen Unterricht lag teilweise wörtlich eine Schutzschrift Oetingers von 1767 zugrunde, die nur handschriftlich überliefert ist. Sie ist abgedruckt in: Oetinger, Friedrich Christoph, Sämtliche Schriften/ hg. von Karl Chr. Eberhard Ehmann, eingel. und neu hg. von Erich Beyreuther. Stuttgart 1977, 2. Abt., Bd. 2: Swedenborgs irdische und himmlische Philosophie, S. LI–LXX. Oetinger wandte vor allem ein, dass Swedenborgs hieroglyphische Methode dem Buchstabensinn der heiligen Offenbarung „besonders am Ende“ entgegenstehen könnte. Dass die „Apparenz“ des homo maximus mit dem Jesus-Wort Joh 17 übereinstimme („daß sie alle eines seien“), „steht dahin“. Es ist daher ganz abwegig, Oetinger undifferenziert als „Swedenborgianer“ zu bezeichnen wie Florschütz, Gottlieb, Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant. Swedenborg und die okkulten Phänomene aus der Sicht von Kant und Schopenhauer. Würzburg 1992, S. 100. Vgl. Benz, Swedenborg, (wie Anm. 12), S. 69f.

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nachhaltig von Swedenborgs Person, nicht aber von seiner Lehre insgesamt.60 Diese Distanzierung schlug sich in Oetingers letztem großen Werk, dem Biblischen und Emblematischen Wörterbuch (1776), äußerlich darin nieder, dass Swedenborgs Name hier kaum noch auftauchte, und wenn, dann vorwiegend im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Kritikpunkten. Oetinger zeigte sich nach den jahrelangen Auseinandersetzungen und vor allem aufgrund der prophetischen Selbstanmaßung nicht mehr mit Swedenborg verbunden. Umso bemerkenswerter sind seine Ausführungen unter dem Stichwort „Welt, unsichtbare, Mundus intelligibilis, aorata“ im Wörterbuch.61 Neben neutestamentlichen Belegstellen aus dem Kolosserbrief (1,16) und aus dem Matthäusevangelium (19,18), die dafür sprächen, dass es den mundus intelligibilis geben müsse, verweist Oetinger nun auf Kant als die zeitgenössische Autorität. Die immaterielle Welt, sagt das tiefdenkende Original Genie des Prof Kant in seinen Träumen, kan als ein vor sich bestehendes Ganze angesehen werden62 und man hat wohl Ursache zu bedenken, was Er p. 13–3163 mit Grund behauptet. Er ist geneigt mit Malebranc überal eine Extensionem intelligibilem zu concipiren. Das ist sein Raum und Zeit, womit er die ganze neue Philosophie zu Boden wirft.64 Wir seyn an uns selbst ein finstrer Staub. Wäre GOttes Extensio 60 61

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Vgl. Gutekunst, (wie Anm. 55), S. 80; sowie Benz, Swedenborg, (wie Anm. 12). Oetinger, Friedrich Christoph, Biblisches und Emblematisches Wörterbuch/ hg. von Gerhard Schäfer. Berlin / New York 1999, Bd. 1, S. 405f. Diese bemerkenswerte Rezeption der Träume ist bei Malter nicht abgedruckt und findet sich auch sonst nicht in der Literatur zu diesem Thema. Swedenborg wird im Wörterbuch weder unter naturphilosophisch relevanten noch unter Stichworten erwähnt, die den postmortalen Zustand, die Seele und andere Topoi betreffen, unter denen Oetinger ihn zehn Jahre zuvor und bis 1772 differenziert rezipiert und ausführlich diskutiert hatte. Das heißt natürlich nicht, dass Elemente seiner Lehre hier nicht mehr vorhanden wären. Die Rezeption Swedenborgs durch Oetinger insgesamt muss allerdings einer separaten Studie vorbehalten bleiben. Hierbei handelt es sich um ein wörtliches Zitat, vgl. AA II, S. 330 und oben S. 41. Dies deutet darauf hin, dass Oetinger bei der Abfassung des Wörterbuchs die Träume oder ein Exzerpt aus der Schrift vor sich hatte. Diese Seiten umfassen den Hauptteil von I.1 und die ersten drei Seiten von I.2, also genau die Abschnitte, die die stärksten Affinitäten zu Swedenborg aufweisen (vgl. oben S. 41, Punkt 3) und die Oetinger 1767 bzw. 1772 als die mit Idealismus vermischte Lehre Swedenborgs ansehen konnte. Das Zitat befindet sich auf Seite 32. Kant wird von Oetinger mehrfach als prominenter Zeuge gegen die Leibniz-Wolffsche Philosophie („die ganze neue Philosophie“) herangezogen, so etwa S. 268: „KANT, Professor in Königsberg, greift die Sache ganz anderst an in seiner Dissertation de Mundi sensibilis atque intelligibilis forma & Principiis. Er nimmt an einen ewigen Raum und eine ewige Zeit und heißt Wolff einen Luft-Baumeister, wie auch Crusium.“ Auch hierbei handelt es sich um ein Zitat aus den Träumen. „Luftbaumeister“ ist in der Verbindung mit Wolff und Crusius hapax legomenon in Kants publiziertem Werk (AA II, S. 342, vgl. oben S. 39). Die Inauguraldissertation (1770) ist wahrscheinlich die einzige Schrift Kants, die Oetinger außer den Träumen kannte. Er zog den vorkritischen Kant noch zweimal heran, um gegen den Raum- und Zeitbegriff der Leibniz-Wolffschen Philosophie zu argumentieren. Dabei entnahm er der Dissertatio (und den Träumen) nicht ein Verständnis von Raum und Zeit als apriorischen Größen, sondern meinte, dass Kant (wie Newton) Raum und Zeit als ewige Größen oder als „sensorium Dei“ angesehen habe, vgl. Wörterbuch, (wie Anm. 61), S. 48, 351. In der Dissertatio grenzte sich Kant allerdings sowohl von der Raumtheorie der „Engländer“ als auch von der Leibnizschen ab (AA II, S. 403f.).

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intelligibilis nicht unser Eigenthum, so würden wir nichts sehen. In dieser extensione intelligibili, in diesem Raum und Zeit, als in GOtt, sehen wir alles, per continuam assistentiam, aber nicht mit leiblichen Augen, sondern als ȞȠȠȪμİȞĮ durch den Verstand.65

Swedenborg, dessen Lehre Oetinger mit „Idealismus“ vermischt noch wenige Jahre zuvor in den Träumen erkannt hatte, taucht in diesem Kontext nicht mehr auf. Stattdessen suggeriert Oetinger nun, dass Kant seine Ausführungen unter Rückgriff auf Malebranche vorgebracht habe, wovon er in seinen ersten Reaktionen auf die Träume nichts erkennen ließ, obwohl er schon damals über ausgezeichnete Kenntnisse der Schriften Malebranches verfügte,66 der allerdings auch zu den wichtigsten Autoren für Swedenborg gehörte.67 Es ist nicht herauszufinden, wann Oetinger mittlerweile zu dem Wissen gelangte, dass Kant der Verfasser der Träume war.68 Auffällig ist jedoch, dass er die Vorstellung vom mundus intelligibilis, die er jahrelang mit Swedenborg verbunden und in den Träumen bestätigt gefunden hatte, jetzt von der Person des im Zuge der theologischen und kirchenamtlichen Auseinandersetzungen obsolet gewordenen Swedenborg löste und sie an Malebranche ankoppelte. Das Entscheidende an dieser Rezeption der Träume durch Oetinger liegt jedoch darin, dass er Kant nun als den aktuellen Hauptzeugen für den mundus intelligibilis betrachtete und die auf Swedenborg basierenden Ausführungen der Teile I.1 und I.2 der Träume wiederum nicht für ironisierend oder distanziert, sondern für so ‚authentisch‘ hielt, dass sie für diese Zeugenschaft taugten. An dieser Stelle verschwindet Swedenborg und taucht, mit der Maske des vorkritischen Kant versehen und aus dem ‚Material‘ Malebranches rekonstruiert, wieder auf. Ebenso verschwindet auch Oetingers Erinnerung daran, dass Kant in den Träumen Swedenborg nicht nur gepriesen, sondern auch beschuldigt und erniedrigt hatte. Noch zehn Jahre nach den Träumen erschien Kant in den Augen Oetingers als Parteigänger wenn schon nicht der Person, dann aber eines gewichtigen Teils der Lehre Swedenborgs. 65

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Im Anschluss wendet Oetinger den für ihn typischen inkarnationstheologischen Ansatz in Verbindung mit Jakob Böhme und der christlichen Kabbala auf seine Raumtheorie an. Ab „er ist geneigt“ bezieht er sich nicht mehr auf die Träume, sondern auf die Inauguraldissertation und auf Malebranches Méditations chrétiennes et métaphysiques (9. Meditation, § 9), vgl. Wörterbuch, (wie Anm. 61), Bd. 2, S. 290. Oetingers komplexe Rezeption Kants und Malebranches kann jedoch nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein. 1765, im Jahr vor den Träumen, erschien Oetingers Der Irrdischen und Himmlischen Philosophie, Zweyter Theil, Worinnen 1. Swedenborgs. 2. Malebranche. 3. Newtons. 4. Cluvers. 5. Wolfens. 6. Ploucquets. 7. Baglius. 8. Frickers Irrdische Philosophie mit Ezechiels himmlischer Philosophie verglichen wird. Franckfurt / Leipzig. Vgl. Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22). Möglicherweise wurde er durch eine 1767 in Greifswald erschienene Rezension darauf aufmerksam. 1771 kannte er sicher Kant als Verfasser, vgl. Oetinger, Friedrich Christoph, Beurtheilungen der wichtigen Lehre von dem Zustand nach dem Tod und der damit verbundenen Lehren des berühmten Emanuel Swedenborgs theils aus Urkunden von Stockholm theils aus sehr wichtigen Anmerkungen verschiedener Gelehrten. o.O. 1771, S. 106, vgl. unten Anm. 84. In dem 1772 erschienen Höchstwichtigen Unterricht nannte Oetinger Kants Namen allerdings nicht.

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4. Im Umfeld Oetingers sind ähnliche Kommentare zu finden. Sein ehemaliger Vikar Philipp Matthäus Hahn etwa hielt den anonymen Verfasser der Träume noch deutlicher als Oetinger für einen „Anhänger“ Swedenborgs, auch wenn er wie Oetinger (und Kant) seiner Auslegungsmethode kritisch gegenüberstand.69 Hahn fasste die Träume auch nicht ambivalent auf wie Oetinger, sondern meinte aufgrund seiner guten Kenntnis der Werke Swedenborgs verstehen zu können, dass die Träume jedem ein „Rätsel“ sein müssten, der Swedenborg nicht gelesen habe. Selbst den negativen Äußerungen Kants versuchte er einen positiven Sinn abzugewinnen. So deutete er Kants Bemerkung, die Arcana seien acht „Quartbände voll Unsinn“70 so, dass ihr Inhalt eben nicht der sensatio entstamme, sondern dass es sich vielmehr um Visionen handele. Kant habe wohl „sagen wollen“, so notierte Hahn, dass die Systeme Wolffs, Crusius’ und Swedenborgs alle „auf eines hinaus“ laufen. Keines sei vollkommen, in jedem seien „verkehrte Phantasien“. Darum solle man aus Swedenborg das „Nötigste und Nützlichste und das Überzeugende lernen und beybehalten. Und das übrige stehen lassen“.71 Hahns Lesart entspricht einerseits ganz der Sichtweise Oetingers, der in den Träumen ein „Lobpreis“ Swedenborgs zu erkennen meinte. Sie geht aber auch über Oetinger hinaus, denn Hahn erblickt in den Träumen eine differenzierte Swedenborg-Rezeption und nicht etwa eine grundsätzliche Ambivalenz. Es ist fraglich, ob man unterstellen kann, Hahn habe vielfach nicht verstanden, nicht verstehen wollen, er habe den Sinn seiner Aussagen verändert oder „absichtlich ad bonam partem“ interpretiert.72 Insbesondere das zweite Hauptstück des ersten Teils der Träume war für Hahn, wie ja auch für Oetinger, als Plädoyer für Swedenborg so eindeutig, dass es durch die anderen Abschnitte der Schrift nicht entkräftet werden konnte, auch nicht durch den Abschnitt „Antikabbala“, der in der „überlieferten Sicht“ als vernichtender Spott verstanden wurde.73 5. Oetingers Schwiegersohn, der Tübinger Theologieprofessor Heinrich Wilhelm Clemm, legte seine Position gegenüber Swedenborg im 1767 erschienenen vierten Band seiner Vollständigen Einleitung in die Religion und in die gesammte

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Hahns handschriftliche Theologische Notizen und Exzerpte befinden sich in der Württembergischen Landesbibliothek; die Zitate stammen aus: Stäbler, Walter, Hahn und Swedenborg, in: Zwink, (wie Anm. 55), S. 83f. AA II, S. 360. Diese Interpretation stimmt auffälligerweise mit dem überein, was Johann Gottfried Herder in der Metaphysik-Vorlesung Kants etwa zur gleichen Zeit (zwischen 1762 und 1764) notierte: Swedenborg rede „ungereimt dreust, de statu post mortem“, aber man könne „vielleicht den Rest behalten; nicht alles ausschütten: so wie partial falsche beobachtung reinigen und den Grund des Irrtums leichter entdecken“. Denn wer „alles verwerfe“, müsse auch die „Seele oder Zustand nach dem Tode leugnen“. Metaphysik Herder. AA XXVIII/1, S. 114. So Stäbler, (wie Anm. 69), S. 84. „Das 2te Hauptstück war das schwerste, allein ein schwerer Aufschluß zur Beurtheilung der Visionen Schwedenborgs zu finden. Und ist Autor gewiß ein Anhänger Schwedenborgs.“ Stäbler, (wie Anm. 69), S. 84.

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Theologie ausführlich dar.74 Clemm, der offenbar selbst zuweilen für den Verfasser der Träume gehalten wurde, nahm Swedenborg gegen manche Vorwürfe in der anonymen Schrift in Schutz75 und sprach sich für ein deutlicheres non liquet bei der Beurteilung von Geistererscheinungen insgesamt aus.76 Offenbar handelte es sich bei dieser mehrmals wiederholten Vorsicht Clemms um eine Replik auf diejenigen Bemerkungen in den Träumen, die Swedenborgs als Geisterseher für wahnsinnig erklärten, obwohl an anderen Stellen ein „ernsthaft[es] und unentschieden[es]“ Urteil bekundet wurde.77 Derjenige, der die Träume verfasst habe, „er mag auch seyn wer er will“, sei trotz mancher „allzuscherzhafte[r] Gedanken und Ausdrücke, die wohl hätten wegbleiben können“, „kein „ungeschikter Kopf“.78 Er teilte bei aller Sympathie für die – allerdings nicht beweisbaren – Geisterkontakte Swedenborgs die Kritik Oetingers (und Kants) an Swedenborgs Auslegungsmethode und an der fehlenden Schriftgemäßheit, vor allem in der Rechtfertigungslehre und in der Eschatologie.79 Clemms Interesse gilt vor allem der Kritik der Lehre Swedenborgs. Der Verfasser der Träume wird an den erwähnten Punkten zwar verbessert, dennoch wird er für „geschickt“ gehalten. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass Clemm in den Träumen einen deutlichen Bruch mit Swedenborg gesehen hätte, er teilt vielmehr die differenzierte Rezeption seiner Lehre im württembergischen Pietismus um Oetinger. Allerdings ist es auch unangemessen, ausgerechnet aus Clemms Äußerungen den Schluss zu ziehen, Kant sei zeitgenössisch als Fürsprecher Swedenborgs betrachtet worden.80 Dies trifft eher auf Hahn und Oetinger zu.

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Auszug abgedruckt in: Malter, (wie Anm. 12), S. 130–142. So stellte er etwa richtig, dass Swedenborg sich nicht nur mit Spekulationen beschäftige – Kant hatte behauptet, er wäre ohne „Amt und Bedienung“ und lebe nur von seinem „ziemlich ansehnlichen Vermögen“ –, sondern in wichtigen schwedischen Ämtern stehe [Swedenborg war zu diesem Zeitpunkt allerdings aus seinen Ämtern bereits ausgeschieden]. Durch große Reisen sei Swedenborg gegen „Anfälle einer hypochondrischen Lebensart gesichert“. Vgl. ebd., S. 132. Vgl. ebd. S. 138, 141. Clemm nannte Gottfried Ploucquet und Elias Camerarius als Beispiele für die Möglichkeit übersinnlicher Wahrnehmungen und für Spekulationen über das postmortale Leben. Der Tübinger Philosophieprofessor Ploucquet war von Oetinger mehrfach referiert worden, um Swedenborgs Lehre zu rechtfertigen. AA II, S. 351. Vgl. Clemm, (wie Anm. 74), S. 131. Das „unvergängliche und ewig bleibende“ Wort Gottes müsse allein Richtschnur des Glaubens daran bleiben, dass Christus nach seinem Tod zu den „abgeschiedenen Geistern“ gepredigt habe. Selbst „wenn tausend Swedenborge noch aufstünden, und eben so viel Engel vom Himmel kämen“ und ein anderes Zeugnis ablegten, dürfe „ihren Nachrichten schlechterdings kein Gehör“ geschenkt werden. Geister, die etwas mitteilten, was der Schrift „zuwider“ ist, seien „gewiß keine von Gott gesandte Geister“, vgl. ebd., S. 140f. So Florschütz, (wie Anm. 58), S. 100. Es stimmt mit der differenzierten Sicht Clemms ebenfalls nicht überein, als Ergebnis pauschal festzuhalten, dass Clemm auf den ungerechten Umgang mit Swedenborg durch Kant aufmerksam gemacht habe, so Walter, Jörg, Kants Auseinandersetzung mit Swedenborg. Versuch einer Kritik, in: Offene Tore 1993, S. 175. Der Kern seiner Kritik an Swedenborg wird damit verfehlt.

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6. Im dritten Band seiner Aussichten in die Ewigkeit (1773) reflektierte der mit Oetinger ebenfalls bekannte und mit dem Thema Swedenborg befasste81 Johann Caspar Lavater die Möglichkeit übersinnlicher Wahrnehmungen und verwies auf ein Beispiel, welches Herr Kant in Königsberg – ein wol nicht schwacher Kopf – von Emanuel Swedenborg erzählt; der zu Gothenburg einen Brand zu Stockholm gesehen und einer Gesellschaft beschrieben haben soll.82

Auch hier wird Kants Bericht in den Träumen offenbar nicht als Kritik an Swedenborg, sondern eher als tendenziell zustimmendes Referat einer Begebenheit beurteilt, die sich so zugetragen haben soll. Denn der Zusatz, dass Kant „ein wol nicht schwacher Kopf“ sei, spricht dafür, dass Kants Autorität für die Glaubwürdigkeit der geschilderten Begebenheit in Gothenburg in Anspruch genommen wird. Bereits 1768 hatte Lavater in einem Brief an Friedrich Wilhelm Jerusalem gegen die Lehre vom postmortalen Seelenschlaf unter anderem damit argumentiert, dass gerade die „beynahe unläugbaren historischen Beweise“ Swedenborgs dagegen sprächen, die Kant in den Träumen angeführt habe.83 Lavater liest die Träume als Quelle, nicht als ironisch-distanzierten Kommentar. Damit bewegt er sich in der Nähe von Oetinger und Hahn. 7. Im Gegensatz zu den süddeutschen Lesern zeigte sich ein mit dem Kürzel „Z.“ unterzeichnender Rezensent in den Neuen Critischen Nachrichten aus Greifs-

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Vgl. Benz, Ernst, Swedenborg und Lavater. Über die religiösen Grundlagen der Physiognomik, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 57 (1938), S. 153–216; Bergmann, Horst, Swedenborgs und Lavaters „Physiognomische Fragmente“, in: Zwink, (wie Anm. 55), S. 121–127; CaflischSchnetzler, Ursula, Lavaters Himmel und Swedenborgs Träume. Die Beziehung zwischen Johann Caspar Lavater und Emanuel Swedenborg, in: Offene Tore 2006, S. 171–195. Lavater, Johann Caspar, Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Bd. 2: Aussichten in die Ewigkeit 1768–1778/ hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001, S. 429. Lavater kannte die Träume bereits 1768, denn im zweiten Band der Aussichten wünschte er sich, dass Kant über die Beschaffenheit der postmortalen Körper „geschrieben hätte“, fürchtete aber, dass dieser Mann mit „einem so seltenen Maasse von philosophischem Genie“ darüber „raisonnieren“ könne – und zwar aus moralischen Gründen. Denn „er hat vielleicht viele Leute gesehen, die, je mehr sie über die Zukunft philosophirten, derselben nur desto unwürdiger lebten; und das mag vielleicht die Ursache seyn, warum er mit Voltärens Candide lieber in den Garten gehen, und Früchte pflanzen will.“ Vgl. ebd., S. 319 [Hervorh. bei Lavater]. Der Hinweis auf Voltaire ist Schlusssatz in der Träumen. Auch diese Stelle, die Swedenborg nicht erwähnt, zeigt, dass Lavater Kant eher als tendenziellen Befürworter des mundus intelligibilis und der postmortalen Existenz der Seelen betrachtete. Wenn er sich wünscht, Kant sollte trotz seiner moralischen Bedenken auch darüber schreiben, gibt er zu erkennen, dass er die entsprechenden Abschnitte in den Träumen als Swedenborg-Referat, aber den Gesamtkontext der Träume gerade nicht als einen radikalen Bruch betrachtet. Vielmehr interpretiert Lavater Kants Schweigen so, dass er einen moralischen Verfall damit verhüten wollte. Vgl. Lavater an Jerusalem, 22. Januar 1768, bei Weigelt, Horst, Das Verständnis vom Zwischenzustand bei Lavater. Ein Beitrag zur Eschatologie im 18. Jahrhundert, in: Pietismus und Neuzeit 11 (1985), S. 121f.; zitiert nach Georg Geßner, Johann Kaspar Lavaters Lebensbeschreibung. Bd. 1 Winterthur 1802, S. 323.

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wald nicht als ein Kenner der Arcana coelestia.84 Wenn er in seinem Beitrag nur den ersten, dogmatischen Teil der Träume referierte, weil dieser den „Liebhabern der Metaphysik angenehmer seyn“ werde als der zweite, historische Teil, dann sah er hierin keinerlei Spuren von Swedenborgs Lehre. Nach Ansicht des Rezensenten hatte Kant, um dessen Verfasserschaft er wusste, die Arcana coelestia, die immerhin ein „ganzes hermeneutisches und theologisches System“ enthielten, überhaupt nicht behandelt. Kant habe sich lediglich mit den „auditis & visis“ beschäftigt, also mit den „Memorabilien“ aus der Geisterwelt und mit der Möglichkeit von Geistern und Geisterkontakten überhaupt, die „dem größten Theil unserer Leser bekannt sind“ und „noch leicht“ durch andere Begebenheiten ergänzt werden könnten. Die Auseinandersetzung mit Swedenborg wird demnach ausschließlich im historischen Teil der Schrift erblickt – also dort, wo sein Name auch erwähnt wird, wobei es Kant selbst überlassen werde, „die zuweilen sehr strengen und bittern Verurtheilungen“ Swedenborgs „zu verantworten“. „Die Einfälle einer originalen Laune“, die die Lektüre aufheiterten, werden zwar erkannt, diese Wahrnehmung führt aber im Gegensatz zu Mendelssohn oder Feder nicht zu einer interpretatorischen Unsicherheit über den Zweck der Schrift.85 Wenn der Rezensent die vier Hauptstücke des ersten Teils beschreibt, vermag er darin weder Affinitäten noch ironisierende Anlehnungen an Swedenborg zu entdecken. Vielmehr sieht er in der Zweiweltentheorie, nach der die immateriellen Wesen ein großes Ganzes, eine immaterielle Welt ausmachen, nach der die Seele mit dieser und der natürlichen Welt zugleich verknüpft ist und zum „klaren Anschauen“ erst nach dem Ende ihrer Verbindung mit dem Körper gelangt, Kants eigenes Wort und keine ironisierende Persiflage Swedenborgs. Aus dieser „Geistergemeinschaft“ leitet Kant nach dem Urteil des Greifswalder Rezensenten die Vernunfteinheit der denkenden Wesen, die Gesetze von „Schuldigkeit“ und „Gütigkeit“, mithin „die moralische Einheit in der Welt aller denkenden Naturen“ ab.86 Geisterseherei, so liest er es in dem Abschnitt „Antikabbala“, sei nichts anderes als eine krankhafte organische Störung des „focus imaginarius“, aber der Geisterlehre insgesamt müsse trotz ihres rein spekulativen Charakters dennoch „Glaubwürdigkeit“ zugesprochen werden, „weil sie unsere Hoffnung stärkt und mit einer [...] Neigung, künftig fortzudauern, in Sympathie steht“. Mit diesen Überlegungen befinde sich Kant „nicht gerade im Geleise herrschender Systeme“, aber seine „Vermuthungen“ führten „forschende Geister“ doch auf „neue Spuren“.87 „Z.“ ist sich durchaus der Kluft zwischen Kant und der (von ihm gar nicht besprochenen) Geisterseherei (auch) Swedenborgs bewusst. Aber Kants Ausführungen im ersten Teil der Träume, die Oetinger und Hahn (als Swedenborgkennern) gerade als Indiz für Kants Anhängerschaft galten, werden nicht 84 85 86 87

„Z.“: Rezension zu den Träumen, in: Neue Critische Nachrichten. Bd. 3, Greifswald 1767, S. 257–262. Vgl. ebd., S. 257. Vgl. ebd., S. 260f. Vgl. ebd., S. 261f.

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als ironische Distanzierung von Swedenborg oder als eine Auseinandersetzung mit seiner Lehre verstanden, sondern als Kants eigene Stimme. Hier ging „Z.“ mit den Württembergern konform, auch wenn er Swedenborg aus offensichtlicher Unkenntnis der Arcana nicht hinter Kants Text vermuten konnte.88 Deutlicher als sie betrachtete er die moralphilosophischen Erwägungen Kants aber als Anknüpfung an die Zweiweltentheorie des ersten Teils der Träume. 8. Aus ganz ähnlichen Gründen zeigte sich Johann Gottfried Herder angetan von der Schrift.89 Denn auch er schrieb eine ganze Reihe von Äußerungen aus den Teilen I.1 und I.2, die in der „überlieferten Sicht“ als satirisch oder distanzierend verstanden wurden, Kants eigener Meinung zu, so seine Ansichten über die Wirksamkeit des Geistes im Raum bzw. der Seele im Körper,90 die Konstruktion einer immateriellen, aus allen Intelligenzen in oder außerhalb von Körpern bestehenden Welt, die Doppelbürgerschaft der Seele, ihr künftiger Zustand in der Geisterwelt und die aus ihr abgeleitete „moralische Einheit aller denkenden Naturen“. Zu dieser Geisterwelt wollten Kant (der Verfasser) und „einige ausser- und überordentliche Genies den Schlüßel haben“.91 Herder bemerkte allerdings sehr wohl den Bruch in den Träumen. Der Abschnitt „Antikabbala“ schränke das vorher Gesagte wieder „völlig ein“ und nehme „einen entgegengesezten Weg“. Ihm blieb nichts anderes übrig, als im letzten Teil (I.4 und II.3) „allgemeine Betrachtungen über die Geisterlehre und Metaphysik“ zu entdecken und auf die Züge eines Planes aufmerksam zu machen, den Kant wohl noch selber ausführen und anwenden werde. Er bemängelte, dass die Schrift nicht „gnug Einheit“ aufweise und die Beziehung zwischen den einzelnen Teilen nicht deutlich genug sei. Der Verfasser trage „die Wahrheiten von beiden Seiten vor“.92 Herder sah also in den Träumen, wenn schon nicht ausdrücklich mehrere fiktive Personen, dann doch wenigstens mehrere widersprüchliche Sichtweisen. Was er aber als Kants eigene Sprache verstand, war die Rede von einer immateriellen Welt, in der die Seelen bereits jetzt verankert sind, aus der sie moralische Einflüsse und die moralische Einheit empfangen und in die

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Oetinger druckte 1771 den Brief eines ungenannten „angesehenen Mannes“ aus Amsterdam [Johann Christian Cuno] ab, der sich über Swedenborg äußerte und sich auch auf die Träume bezog, die er „aber“ für „eine Satyre“ hielt, „mehr wider die Gelehrten überhaupt, als wider die Geisterseher insbesondere“. Oetinger kommentierte diese Bemerkung mit einem längeren Zitat aus der Greifswalder Rezension. Dadurch wird deren Nähe zur Sichtweise der Württemberger dokumentiert, denn Oetinger rückte auch jetzt nicht von seiner Bewertung der Träume ab. Immerhin hielt er die drei Geisterseher-Begebenheiten, die Kant in den Träumen kolportierte, für neutrale Erzählungen und stellte sie neben Clemms Bericht. Vgl. Oetinger, Beurtheilungen, (wie Anm. 68), S. 106f., 111. Vgl. Herders Rezension zu den Träumen, in: Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen auf das Jahr 1766, 18. Stück. Den 3. Merz; abgedruckt bei Malter, (wie Anm. 12), S. 118– 124; sowie in: Herder, Johann Gottfried, Sämmtliche Werke/ hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 1, Berlin 1877, S. 125–130. Vgl. Malter, (wie Anm. 12), S. 120f. Vgl. ebd., S. 122f. Vgl. ebd., S. 123.

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sie postmortal unter Beibehaltung ihres moralischen Status gänzlich und körperlos einkehren. Von einem eindeutigen Bruch mit dem gesamten Swedenborg ist hier nichts zu spüren. Da Herder die Arcana offenbar nicht selbst gelesen hatte,93 konnte er unterhalb der Abweisung von Swedenborgs Visionen in den Träumen auch keine weiteren Übereinstimmungen und Modifizierungen feststellen. Immerhin riet er von einer Lektüre der Arcana coelestia ausdrücklich ab und empfahl sie nur dem, der „das Haupt einer neueren Dichterischen Sekte werden will“. Die Art, mit der der (ungenannte) Kant den „Schwärmer“ behandele, sei geradezu ein „Muster“ für die Kritik gegenüber solchen und ähnlichen Schriften.94 9. Zwanzig Jahre nach den Träumen erschien in Breslau ein Prüfungsversuch: ob es wol schon ausgemacht sei, dass Swedenborg zu den Schwärmern gehöre, der sich auch ausführlich mit den Träumen auseinandersetzte.95 Dem anonymen Verfasser, ganz offensichtlich einem Anhänger oder wenigstens Sympathisanten Swedenborgs, ging es nicht um die Aufdeckung von Gemeinsamkeiten zwischen Kant und Swedenborg. Er vertrat bereits eine Lesart der Träume, die sich aus den abqualifizierenden Ausführungen im Kapitel „Antikabbala“ speiste. Daher lag sein Interesse daran, Swedenborgs Visionarität gegen Kants strenge Abweisung in Schutz zu nehmen und umgekehrt Kant eine nicht seriöse Argumentation vorzuwerfen. Im ersten „dogmatischen“ Teil der Schrift, so der Rezensent, finde sich 93

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Herder kannte Swedenborg zu dieser Zeit bereits als Hörer der Metaphysik-Vorlesung Kants. Hier war Kant allerdings nur auf die Geisterseherbegebenheiten eingegangen, die er auch in seinem Brief an Charlotte von Knobloch referierte. Die Arcana kannte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Seine Haltung gegenüber Swedenborg war, den Notizen Herders nach zu urteilen, aber eher vorsichtig und unentschlossen. Dieser sei eine „sehr wunderliche Person“, „vielleicht ein Phantast“, aber es sei nicht „alles zu verachten“. Die Unmöglichkeit von Swedenborgs Vorstellungen sei aber nur dann „gewiss, wenn die Seele gar nicht ist“. Deshalb: „non liquet“. Man müsse „vielleicht den Rest behalten; nicht alles ausschütten: so wie partial falsche Beobachtung reinigen und den Grund des Irrtums leichter entdecken“, vgl. Metaphysik Herder, (wie Anm. 71), S. 114. Vgl. ebd., S. 120. Fast 40 Jahre später hielt es Herder, ohne Kant zu nennen, allerdings für „ein überflüssiges gutes Werk“, die „Träume dieses Geistersehers durch neue Träume einer fremden Metaphysik zu erläutern“ und votierte für eine Deutung der Visionen Swedenborgs aus der Person heraus. Vgl. Herder, Johann Gottfried, Emanuel Swedenborg, der größeste Geisterseher des achtzehnten Jahrhunderts, in: Adrastea 3 (1802), S. 350–368, hier: 366. Zur weiteren Beurteilung Swedenborgs durch Herder vgl. Häfner, Ralf, Macht der Willkür und Poesie des Lebens. Herders Swedenborg-Lektüre zwischen Saint-Martin und Friedrich Schiller. In: Groß, Sabine / Sauder, Gerhard (Hg.), Der frühe und der späte Herder. Kontinuität und/oder Korrektur. Heidelberg 2007, S. 399–413. Emanuel Swedenborg’s, weiland Königl. Schwedischen Assessors beim Bergwerkskollegium, der Königl. gelehrten Societät zu Upsala und Königl. Akademie der Wissenschaften zu Stockholm Mitgliedes, der Akademie der Wissenschaften zu Petersburg Korrespondenten. Revision der bisherigen Theologie, sowol der Protestanten als Römischkatholischen. Aus der lateinischen Urschrift übersezt; nebst einem Prüfungsversuche: Ob es wol schon ausgemacht sei, daß Swedenborg zu den Schwärmern gehöre. Breslau 1786, S. III–LIV; der Prüfungsversuch ist auszugsweise abgedruckt in: Malter, (wie Anm. 12), S. 144–157. Johann Salomo Semler befürwortete den Druck dieses Werks, obwohl er sich 1787 in den Unterhaltungen mit Herrn Lavater massiv gegen Swedenborg wandte, vgl. Hornig, Gottfried, Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen 1996, S. 57f.

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nichts außer Skeptizismus gegenüber allem, was „Geist, geistig, Geisterwelt, Zusammenhang irgendeiner geistigen Welt mit der, die wir vermittelst körperlicher Sinne wahrnehmen“, bedeute. Noch sonderbarer als Swedenborg selbst sei aber die plötzliche Wandlung dieses (inkonsequenten) Skeptikers im zweiten „historischen“ Teil der Schrift: Er verwandle sich nun gänzlich in einen „Diktatoriker“ und „völlige[n] Entscheider“ – das sei dem „Charakter eines Vernunftweisen“ nicht angemessen.96 Als Skeptiker entwickele er auf der einen Seite ein „künstliches Hypothesengewebe, durch welches sich Geisterseherei, oder wol gar geistiger Offenbarungszustand einsehen lasse“, und gestehe zugleich ein, dass die Metaphysik von „Geist und geistiger Welt nicht das geringste wisse“. Als Diktatoriker erkläre er auf der anderen Seite „jeden behaupteten Offenbarungszustand [...] nach bloß windigen eitlen Hypothesen der Metaphysik für Phantasterei“.97 Kein echter Philosoph dürfe aber sagen: „Dies oder jenes hab ich nicht gesehen, nicht gehört, nicht unmittelbar erfahren; daher ist es nicht wahr, daher ist es Täuschung, daher nicht möglich“, ohne sich „an den allgemeinen gesunden Menschensinn zu versündigen“.98 Dies widerspricht nach dem Urteil des Rezensenten den Maßstäben der historischen Kritik, die organisch zur „Vernünftelung“ gehören müsse. Wie könne man gegenüber einem „aussergewöhnlichen Mann, den wir mit einem schielenden Ausdruck Geisterseher nennen“ erst eine skeptische, „in geistigen Sphären“ gleichsam agnostische Haltung einnehmen und dann zum „Diktatoriker“ werden!99 Wenn Kant die durch Zeugen beglaubigten Begebenheiten um Swedenborgs Geisterseherei als „Märchen“ abtue, dann habe er dafür keinen ausreichenden historisch-kritischen Grund. Dieses unbegründete Vorurteil habe dazu geführt, dass es Kant gar nicht gelingen konnte, die „Quintessenz“ der Arcana coelestia auf „wenig Tropfen zu bringen“. Er musste die Schrift missverstehen, so wie sicherlich auch die Kritik der reinen Vernunft „von vielen misverstanden und verkant [sic!]“ werde. Ob Swedenborg hingegen ein Schwärmer sei, könne aus der Perspektive des Skeptizismus niemals geklärt werden und müsse „völlig unausgemacht und unentschieden“ bleiben. Dies vermöge ebenso wenig ein „diktatorischer Dogmatismus“, der das voraussetzt, „was noch zuerst erwiesen werden soll“. Dieses Verfahren in den Träumen ist für den Rezensenten nichts weniger als „eine grosse Sünde gegen die Logik“.100

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Vgl. Revision, (wie Anm. 95), S. 148, 152. Die von Johnson in seiner Dissertation konstruierten sprechenden Personen (vgl. Anm. 47) sind zum Teil offenbar der Breslauer Rezension entlehnt. Lediglich der „pragmatische Metaphysiker“ findet sich in diesem Text nicht. Dennoch könnte Johnsons Grundthese mit Hilfe einer zeitgenössischen Interpretation, der Breslauer Rezension, partiell zementiert werden. 97 Vgl. Revision, (wie Anm. 95), S. 149f. 98 Vgl. ebd., S. 150f. 99 Vgl. ebd., S. 151. 100 Vgl. ebd., S. 155f. Wenn Kant Swedenborg als „Unsinn“ abtue, dann müssten auch die Apostel und Propheten der Bibel als „Erzphantasten“ gelten.

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Die Breslauer Rezension sucht nicht Überschneidungen zwischen Swedenborg und Kant, sie sieht aber die starken Widersprüche und sogar mehrere sprechende Personen in den Träumen. Sie beklagt nicht nur die für einen skeptischen Standpunkt erforderliche, hier aber nicht eingehaltene Zurückhaltung gegenüber Swedenborg, sie will auch seine Einordnung in die Schwärmerei vermeiden. Der Rezensent wendet die Abweisung Swedenborgs als „Sünde gegen die Logik“ gegen Kant selbst zurück, der zwischen einem gewissen Verständnis für Swedenborg und einer brüsken (und inkonsequenten) diktatorischen Entscheidung gegen ihn changiert. Die Ambivalenz der Träume wird demnach noch zwanzig Jahre nach den ersten Reaktionen wahrgenommen, auch wenn sich die Position des Rezensenten gegenüber Swedenborgs Lehre von den ersten Rezensionen unterscheidet. Ihm geht es nicht mehr um theologische Differenzen wie Oetinger, Hahn und Clemm, er widmet sich nicht der Spurensuche nach Kants philosophischen Neuansätzen in den Träumen, die bereits Herder wahrgenommen hatte. Der Anonymus nimmt vielmehr den ambivalenten Umgang Kants als des führenden kritischen Philosophen mit Swedenborg in Augenschein. Ziel des Breslauer Rezensenten ist offenbar nicht nur der Schutz der Integrität Swedenborgs, sondern auch die kritische Offenlegung einer prinzipiellen und zugleich nicht schlüssig begründeten Ablehnung der Geisterseherei seitens einer Philosophie, die sich ganz offenbar auf Kant beruft. 10. Der Breslauer Prüfungsversuch wurde 1788 in der Allgemeinen deutschen Bibliothek in einem längeren Aufsatz101 besprochen, denn mittlerweile hatte sich eine Debatte entwickelt, in der es weniger um das Verhältnis zwischen Kant und Swedenborg, als um die Aktivitäten der „Exegetischen und Philanthropischen Gesellschaft“ zu Stockholm ging – Anhänger Swedenborgs, die sich europaweit in Akademikerkreisen bekannt machten und die Verbindung von Swedenborgs Lehre, dem animalischen Magnetismus Franz Anton Mesmers und dem Somnambulismus proklamierten.102 Der anonyme Verfasser der Rezension in der Allgemeinen deut-

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Vgl. Rezension zu: Emanuel von Swedenborg’s, weiland Königl. Schwedischen Assessors beym Bergwerkscollegium, der Königl. Schwedischen gelehrten Societät zu Upsala, und Königl. Academie der Wissenschaften zu Stockholm Mitglieds, der Academie der Wissenschaften zu Petersburg Korrespondenten, Revision der bisherigen Theologie, sowohl der Protestanten, als Römischkatholischen. Aus der lateinischen Urschrift übersetzt; nebst einem Prüfungsversuche: ob es wohl schon ausgemacht sey, daß Swedenborg zu den Schwärmern gehöre?, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 83 (1788), 1. Stück, S. 40–58. 102 Vgl. Sendschreiben der Exegetischen und Philanthropischen Gesellschaft zu Stockholm an die Gesellschaft der vereinigten Freunde zu Straßburg über die einzige genügliche Erklärung der Phänomene des thierischen Magnetismus und Somnambulismus, in: Der Teutsche Merkur (1787), Bd. 4, S. 153–192; sowie die geradezu empörte Reaktion von Klopstock, Friedrich Gottlieb, Antwort an die Société Exégétique & Philanthropique zu Stockholm, in: Berlinische Monatsschrift 1788, Bd. 1, S. 514–517. Vgl. zu der sich besonders in französischen Freimaurerlogen ausbreitenden Kombination aus Swedenborgianismus und Mesmerismus Gabay, Alfred J., The covert Enlightenment. Eighteenth-century counterculture and his aftermath. West Chester 2005; Ders., The Stockholm Exegetic and Philanthropic Society and Spiritism, in: The New Philosophy 110 (2007), S. 219–253; Sawicki, (wie Anm. 8), S. 77 u.ö. Die Debatte um Sweden-

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schen Bibliothek widmete sich aber ganz explizit den Vorwürfen, die der Breslauer Prüfungsversuch gegen die Träume erhoben hatte. Er nahm Kant dagegen in Schutz, Swedenborgs Visionen ungerecht oder diktatorisch einfach nur abgetan zu haben, unterstützte zugleich aber auch dessen Urteil. Denn was man bei Swedenborg finden könne, seien allenfalls „läppische Kindereyen“, die wohl kaum „würdige Gegenstände einer Geisterunterhaltung“ seien könnten.103 Swedenborgs Werke enthielten so viele „läppische Grillen, ewige Wiederholungen und ekelhafte Tautologien“, dass er ohne Zweifel als „Erzphantast“ gelten müsse, „der bey aller seiner Gelehrsamkeit, und Anlage zu richtiger Philosophie und Menschenkenntniß noch eine weit ausschweifendere Einbildungskraft als Vernunft hatte“.104 Allerdings würdigte der Rezensent auch Swedenborgs theologischen Ansatz, der „mit dem, was die bessern Theologen auch wissen und annehmen“, übereinstimme, in der Rechtfertigungslehre etwa mit Johann August Eberhard.105 Für diese Theologie hätte Swedenborg aber keine Offenbarung gebraucht. So schloss sich der Anonymus Kants Urteil über Swedenborg als Geisterseher an und würdigte zugleich einen Teil seiner theologischen Überlegungen, die der Breslauer Prüfungsversuch als „Swedenborgische Reformation“ bezeichnet hatte, die „in der kirchlichen Welt eine Revolution bewirkt“ habe.106 Außerdem machte der Rezensent darauf aufmerksam, dass es der Prüfungsversuch versäumt habe, die Vorteile des Kantschen Systems der „Critik der reinen Vernunft“ für die Rechtfertigung der Visionen Swedenborgs zu nutzen. Zwar sei es nach Kant lediglich möglich, „die ganze Geisterwelt mit der Gottheit an der Spitze“ für eine nur logische Möglichkeit zu halten. Aber Swedenborg könnte sich, wenn ihm Kants Lehre bekannt gewesen sei, darauf zu seiner Rechtfertigung beziehen. Er könnte, so der Rezensent, darauf insistieren, dass seine Visionen alle Merkmale der Realität aufwiesen, und dass es nicht möglich sei, ihnen abzusprechen, unter der „Leitung des Verstandes und der Oberaufsicht der Vernunft gestanden“ zu haben. Da nach Kant alles „Reelle nur innerlich und subjectiv“ sei und von den äußeren Sinnen lediglich wahrgenommen werde, Swedenborgs Visionen aber innerlich geschehen seien, könnten seine Geistergespräche durchaus für „sehr reelle Dinge“ gehalten werden.107 borg und den Swedenborgianismus, die seit dem Ende der 1780er Jahre in mehreren Gelehrtenzeitschriften geführt wurde, muss jedoch einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben. Vgl. Rezension, (wie Anm. 101), S. 46. Vgl. ebd., S. 48, 58. Vgl. ebd., S. 51. Genannt ist hier die „Lehre de imputatione“, also die Lehre von der Zurechnung des Verdienstes Christi zur Gerechtigkeit der Gläubigen vor Gott. Swedenborg lehnte diese Lehre wie die meisten Aufklärer scharf ab, weil sie der Selbstverantwortung und moralischen Autonomie des Einzelnen widersprach, vgl. unten S. 72f. 106 Vgl. Rezension, (wie Anm. 101), S. 52. Einige der von Swedenborg vorgenommenen Abweichungen von der protestantischen Theologie wurden von dem Rezensenten aber auch angegriffen (z.B. seine Trinitätslehre), vgl. insgesamt S. 51–57. 107 Vgl. ebd., S. 42–44. Diese Deutung der KrV könnte durchaus eine Anspielung auf den Vorwurf des „empirischen Idealismus“ sein, den Christian Garve gegen die 1. Aufl. von 1781 vorgebracht hatte – einer der Gründe, die Kant zur Umarbeitung u.a. des Kapitels über die Paralo103 104 105

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Auch wenn der Rezensent daran festhielt, Swedenborg für „eines der merkwürdigsten Phänomene für den Psychologen“108 zu halten, unternahm er einen differenzierten Versuch, erstens Kant gegen Angriffe durch einen offensichtlichen Swedenborgianer in Schutz zu nehmen, zweitens Möglichkeiten einzuräumen, Swedenborgs visionärem Anspruch wenigstens ein subjektives Recht einzuräumen, und drittens sogar inhaltliche Übereinstimmungen der Lehren Swedenborgs, zwar nicht mit Kant, aber mit der theologischen Aufklärung zu betonen. Offenbar ging es dabei um den versachlichenden Versuch, zwischen einer sich auf Kant beziehenden Aufklärung und sich auf Swedenborg berufenden Gruppierungen zu vermitteln, die Swedenborg im Bereich des Mesmerismus sozusagen ‚anwenden‘ wollten. Die Interpretation der Breslauer Rezension, die in den Träumen einen deutlichen Bruch mit Swedenborg entdecken will und diesen Bruch in einem proswedenborgischen Sinne ausformuliert, findet so ihre Entsprechung gleichsam auf der ‚anderen‘, pro-kantischen Seite. 11. Diese Bruchtheorie fand ihre Fortsetzung in einem Aufsatz, den der Züricher Theologe und Lavater-Vertraute Johann Conrad Pfenninger 1788 veröffentlichte.109 Pfenninger bezog sich darin ausdrücklich auf die Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek von 1788 und die Breslauer Revision mit Prüfungsversuch von 1786 und druckte schließlich längere Passagen aus den Träumen nach. Sein Ziel bestand darin, Swedenborgs Lehre angesichts des sich ausbreitenden Swedenborgianismus erneut zu prüfen und der Tatsache nachzugehen, dass sich Kant 22 Jahre zuvor mit Swedenborg befasst habe, um ihn zum „Gegenstück einer philosophischen Phantasiade“ zu machen.110 Indem Pfenninger in den Träumen ein Gegenstück zu Swedenborg erblickte, vertiefte er die Lesart eines Bruchs, die sich bereits im Prüfungsversuch und in der Rezension von 1788 niedergeschlagen hatte, noch weiter. Denn, so bemerkte er, während sich Kants „Kritik der Metaphysik und Gränzscheidung des Vernunftgebiets“ seitdem zu einem „Grad von Reife“ entwickelt habe, der „Deutschlands Denker in Erstaunen – und große Bewegung“ versetzt habe, sei Swedenborgs „System“ das geblieben, was es war. Ja geradezu „merkwürdig“ fand es Pfenninger, dass sich unter den „Metaphysikern“ Kants System und unter den „Revelationisten“ Swedenborgs System „zum Erstaunen schnell weit ausgebreitet haben“: „Ob jemand, der im Jahre 1766. jene

Schrift gelesen, diesen Zustand des Kantianismus und Swedenborgianismus auf 1789. – geweissagt hätte?“111 Mit dieser Deutung dokumentierte Pfenninger, gismen der reinen Vernunft in der 2. Aufl. veranlassten, vgl. dazu etwa Gulyga, Arsenij, Immanuel Kant. Frankfurt/M. 2004, S. 155, 157. 108 Vgl. Rezension, (wie Anm. 101), S. 58. 109 Pfenninger, Johann Conrad [als Verf. ermittelt], Ueber Swedenborg und Swedenborgianismus, in: Ders., Sokratische Unterhaltungen über das Älteste und Neueste aus der christlichen Welt. Bd. 2, Leipzig 1788, S. 383–406. 110 Vgl. ebd., S. 386f. 111 Ebd., S. 387.

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dass sich Kantianismus und Swedenborgianismus mittlerweile als zwei konträre Bewegungen in Philosophie und Theologie entwickelt hatten. Zugleich machte er deutlich, dass 1766, also durch die Lektüre der Träume, solch eine Entwicklung noch nicht abzusehen war, denn das Gegenstück zu Swedenborg war für ihn ja eine „Phantasiade“ Kants. Die später in der „überlieferten Sicht“ vertretene Interpretation führte er demnach weniger auf die Träume selbst, sondern in erster Linie auf eine Entwicklung in den späten 1780er Jahren zurück, die mit der Ausbreitung des Swedenborgianismus und den entsprechenden Gelehrtendebatten zusammenhing. 12. Während die Breslauer Rezension die Hauptbedeutung der Träume in der ungerechtfertigten diktatorischen Entscheidung über Swedenborgs Geisterseherei erblickt und sich hieraus bei einem Teil der Rezipienten die Lesart eines deutlichen Bruchs zwischen Kant und Swedenborg entwickelt hatte, blendete Kants Biograph und Schüler Ludwig Ernst Borowski diesen Aspekt in seiner Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants, die Kant selbst durchgesehen und revidiert hatte, gänzlich aus.112 Stattdessen wird die Begegnung mit Swedenborg rückblickend zu der Gelegenheit, bei der Kant „zugleich die Metaphysik für Kontrebande“ erklärt habe. Fragen des Geistes, der Seele und des commercium animae et corporis überstiegen „alle unsere Einsicht“, und Kant habe die Metaphysiker nun aufgefordert, anstelle des „stolzen ‚Ich weiß, ich kann es demonstrieren!‘ “ ein „vernünftiges Geständnis ‚Ich weiß nicht‘ “ abzulegen. Bei Borowski (und Kant!) kommt der Kritikpunkt der Breslauer Rezension, dass die Träume bei einem non liquet gerade nicht stehengeblieben waren, sondern diktatorisch entschieden hätten, schlichtweg nicht vor. Nach ihrer Lesart gab es in den Träumen keinen radikalen Bruch, sondern eine unentschiedene Zurückhaltung – der „Diktatoriker“ wäre nach Borowski nicht Kants eigene Stimme. Ganz im Gegenteil wird bei Borowski (und Kant) die positive Wendung im letzten Teil der Träume als entscheidend herausgehoben – ein Aspekt, der wiederum in der Breslauer Rezension ganz fehlt: Hier fänden sich nicht nur die „Keime der Kritik der reinen Vernunft und dessen, was K. uns später gab“, auch werde „schon damals die Erwartung einer künftigen Welt an den moralischen Glauben angeknüpft“. Borowski zieht (mit Kant) 1804 also zwei Momente aus den Träumen: eine gegenüber Swedenborg unentschiedene epistemologische Position und den Beginn der Modifikation der Unsterblichkeitserwartung in Kants Moralphilosophie, die – unter neuen epistemologischen Bedingungen – der Hauptgegenstand der Arcana coelestia waren, nämlich ihre Verbindung mit der Vernunftreligion. Die frühen Rezensionen zusammenfassend kann man sagen, dass sie sich entweder im Unklaren darüber waren, worauf die Träume eigentlich abzielten, dass sie die Gemeinsamkeiten zwischen Swedenborgs Geisterwelt und Kants moralischer intelligibler Welt bemerkten oder dass sie Kants Umgang mit Swedenborg für unge112

Auszug abgedruckt bei Malter, (wie Anm. 12), S. 157f.

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rechtfertigt hielten. Erst am Ende der 1780er Jahre trat mit der Ausbreitung eines sich mit Mesmers Magnetismus verbindenden Swedenborgianismus eine neue Entwicklung ein, die eine klare Schnittlinie zwischen Kant und Swedenborg in die Träume zurückverlegte. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die aktive Werbung der „Exegetischen und Philanthropischen Gesellschaft“ für eine Lehre Swedenborgs, die mit Mesmers Lehre angereichert war, in den Augen des informierten Publikums auch deshalb negativ auf Swedenborg zurückfallen musste, weil der Mesmerismus seit 1784 durch eine vernichtende Bewertung einer Kommission der Pariser Akademie der Wissenschaften in manchen Teilen der Öffentlichkeit ‚wissenschaftlich‘ desavouiert war.113 Den frühen Rezensionen aus den 1760er und 1770er Jahren ist demgegenüber die Wahrnehmung der Schrift als missverständlich, ambivalent oder sogar widersprüchlich gemeinsam. Deutlich wurde aber verstanden, dass Kant Swedenborgs Geisterkontakt ebenso zurückgewiesen hatte wie das homo-maximus-Motiv und die exegetische Methode. Es dürfte daher problematisch sein, wie Carl du Prel im Nachhinein einen okkulten Kant zu konstruieren,114 die Möglichkeit okkulter Phänomene etwa über das Wirken des kategorischen Imperativs in die Sinnenwelt zu behaupten oder okkulte Tendenzen in Kants Moralphilosophie insgesamt festzustellen.115 Der mundus intelligibilis und die Doppelbürgerschaft des Menschen in der Sinnenwelt und in der intelligiblen Welt bleiben bei Kant zwar im Bereich der praktischen Vernunft als „assertorisch“ erhalten, aus dem der spekulativen Vernunft sind sie als „problematisch“ fortan ausgeklammert. In der praktischen Vernunft gelten sie als „immanent“, in der theoretischen aber als „transcendent (überschweng113

Godwin, Jocelyn, The Theosophical Enlightenment. New York 1994, S. 151f. Die weitere Verbreitung der Verbindung von Mesmerismus und Swedenborgianismus über die Freimaurerei, den Spiritismus bis hin zum Okkultismus des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts wurde dadurch allerdings nicht verhindert. Vgl. dazu insgesamt Godwin und Gabay, (wie Anm. 102). 114 Vgl. Anm. 8. Auch Paul Bishop betont, dass eine Neigung Kants zu Geistern von spiritistischen Lesern des 19. Jahrhunderts, wie auch von Carl Gustav Jung, aus den Träumen herausgelesen wurde, die den Teil „Antikabbala“ bei ihrer Interpretation schlichtweg ignorierten. Vgl. Bishop, Paul, Synchronicity and Intellectual Intuition in Kant, Swedenborg, and Jung. Lewiston u.a. 2000, S. 239. Diese selektive Lektüre ist damit gleichsam die Umkehrung der „überlieferten Sicht“, die das Kapitel „Antikabbala“ zum Ausgangspunkt ihrer Position macht. 115 Vgl. Florschütz, (wie Anm. 58), S. 136, 147f. 193–197. Eine „bedenkliche Nähe zu parapsychologischen Theorien“ wird Florschütz aber selbst attestiert, vgl. Sawicki, Diethard, Die Gespenster und ihr Ancien régime. Geisterglauben als „Nachtseite“ der Spätaufklärung, in: Neugebauer-Wölk, Monika / Zaunstöck, Holger (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999, S. 380. Johnsons Bemerkung, durch die Berührung mit Swedenborg sei Kant aus einem „charitable agnostic“ zu einem „positive believer“ gegenüber dem Paranormalen geworden, lässt sich auf der Basis der Träume, der Vorlesungen und seiner anderen Schriften kaum belegen, vgl. Johnson, Commentary, (wie Anm. 4), S. 49. Und auch seine These, Kant habe die Grundlage dafür schaffen wollen, angesichts des aufgeklärten Skeptizismus an eine Swedenborgsche Geisterwelt glauben zu können, dass diese Geisterwelt gar als nützliche Illustration der Moraltheorie Kants und als seine private Überzeugung zu gelten habe, ist aus den Quellen nicht begründbar, sondern Spekulation, vgl. Johnson, Lectures, (wie Anm. 6), S. 38.

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lich)“.116 Hier ist das in den Träumen eines Geistersehers aufgestellte Programm der Metaphysik als „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“117 erfüllt. Ein aus den Träumen abgeleiteter eindeutiger und über die okkulte Jenseitsschau hinausgehender Bruch mit dem gesamten Swedenborg in allen Bereichen lässt sich auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Rezensionen aber keinesfalls stützen. Lässt er sich für Kants weiteres Werk wirklich behaupten? Es steht nicht in Frage, dass Kants Abrechnung mit Swedenborgs Behauptung des Geisterkontakts, mit der „Apparenz“ des Großen Menschen und mit der exegetisch-symbolischen Methode eindeutig ist, und es ist späterhin – vor allem in der anonymen Breslauer Rezension und von Heinrich Wilhelm Clemm – lediglich kritisiert worden, dass er es nicht bei einem deutlichen „non liquet“ aufgrund der fehlenden empirischen „Data“ bewenden ließ, die ihn zu einer Entscheidung berechtigt hätten. Die Überschneidungen zwischen Kant und Swedenborg, die mehrere frühe Rezensenten in den Träumen zu erkennen meinten, geben Anlass zu der Frage, ob die kritische Wende Kants tatsächlich mit einer radikalen Distanzierung gegenüber Swedenborg einherging, ob solche Überschneidungen auch später noch vorhanden waren, und, wenn ja, wie sich diese Transformationen beschreiben lassen.

Swedenborg in Kants Eschatologie Direkte Spuren Swedenborgs in Kants publizierten Schriften lassen sich in nur geringem Maße ausmachen. Die wenigen Stellen beziehen sich auf die Ablehnung seiner Auslegungsmethode118 und seiner „analogischen“ Korrespondenzlehre.119 Vorsicht ist hingegen geboten, Swedenborg ohne weiteres unter schwärmerische Gruppen zu subsumieren, wenn sein Name nicht ausdrücklich genannt wird. In seinen Vorlesungen etwa referiert Kant Swedenborg durchweg nicht im Zusammenhang mit „Aberglauben“, Gespenstern, Theurgie, Kabbala, Magie und dem „ganze[n] Wahn der neu platonischen Philosophie“ („ecclectices“), aus dem die „Kunst“ entsprungen sei, „in Gemeinschaft mit solchen Wesen zu treten, wozu Büßung, Tödtung und allerley abergläubische Formeln etc. gehörten“.120 Die genann116 117 118 119 120

KpV. AA V, S. 105. AA II, S. 368. Der Streit der Fakultäten. AA VII, S. 46. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. AA VII, S. 191. Vgl. die Abschnitte zu Baumgartens §§ 796–799 über „andere“ Geister: Metaphysik nach Volckmann. AA XXVIII/1, S. 448, Metaphysik nach Herder, Lose Blätter XXVf., AA XXVIII/1, S. 145–148; Metaphysik L1, (wie Anm. 8), S. 278; Metaphysik L2. AA XXVIII/2.1, S. 593f. Es dürfte daher sehr fraglich sein, hinter der Überschrift „Antikabbala“ in den Träumen die Gleichsetzung von Swedenborgs Lehre und der Kabbala durch Kant zu sehen. Handelt es sich um eine bewusste Kontextualisierung des – nach G. R. Johnson und der Breslauer Rezension – in diesem Kapitel sprechenden (fiktiven) „Diktatorikers“? Vgl. oben S. 55f. sowie Anm. 15 und 47. Oder spielt Kant mit „Antikabbala“ nicht etwa auf Swedenborg an, sondern auf den 1754 von dem Portugiesen Jacques Martinès de Pasqually gegründeten, okkulten und

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ten Gruppen, insbesondere die „neuplatonische Sekte“, werden geradezu im Gegensatz zu Swedenborg als „äußerst verwerflich“ angesehen. In der zweiten Kritik bezeichnet Kant die praktische Vernunft dann als pathologisch, wenn sie wie „Mahomets Paradies und der Theosophen und Mystiker schmelzende Vereinigung mit der Gottheit [...] der Vernunft ihre Ungeheuer“ aufdrängt.121 Es ist durchaus fraglich, ob damit auch Swedenborg gemeint ist.122 Kants hervorragende Kenntnisse der Arcana coelestia123 dürften dies ausschließen, denn Swedenborgs System enthält ausdrücklich keine unio mystica. Auch die höchsten Engel bleiben von Gott selbst getrennt; sie können niemals zur absoluten Vollkommenheit gelangen, die dem Herrn allein zusteht.124 Nur die Vereinigung des göttlichen Wesens des Herrn mit seinem menschlichen Wesen ist eine unio, die Verbindung des Herrn mit dem Menschengeschlecht hingegen eine conjunctio.125 Eine unio mystica existiert für Swedenborg demzufolge nur im Rahmen seiner modifizierten Christologie. Bei der Suche nach Hinweisen auf Swedenborg in Kants Werk fallen zunächst die acht erhaltenen Vorlesungen über Metaphysik in den Blick, in denen die rationale Psychologie auf der Grundlage von Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik verhandelt wird.126 Der deutlichste Hinweis findet sich in L1, einer anonymen Leipziger Vorlesungsnachschrift, die 1821 von dem Historiker und Staatswissenschaftler Karl Heinrich Ludwig Pölitz herausgegeben wurde. Sie wird meist auf die Mitte oder das Ende der 1770er Jahre datiert.127 Hier bezeichnet Kant an der christlichen Kabbala orientierten Freimaurer-Orden Elus Coëns, der in aristokratischen Kreisen Frankreichs verbreitet war? Diesen Vorschlag unterbreitet Ralf Häfner, Macht, (wie Anm. 94), S. 402f.; zu Pasqually vgl. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader. Berlin 2004, S. 24–34. 121 KpV. AA V, S. 120f. 122 Dies implizieren etwa Böhme / Böhme, (wie Anm. 3), S. 248f. 123 Vgl. Anm. 14. 124 Vgl. z.B. AC 2021, 4803. 125 AC 2034. 126 Zur Datierung und Bewertung der Vorlesungen: Naragon, Steve, The Metaphysics Lectures in the Academy Edition of Kant’s gesammelte Schriften, in: Kant-Studien 91 (2000), S. 189–215 (Sonderheft). Die Swedenborg-Rezeption in den Vorlesungen muss in den Zusammenhang mit Kants Rezeption der rationalen Psychologie nach Baumgarten gestellt werden, auf die zweifellos Josef Schmuckers Beobachtung zu den Vorlesungen über die Rationaltheologie übertragen werden kann, dass sich hier nämlich vorwiegend vorkritische Gedanken finden und der Kritizismus eine untergeordnete Rolle spielt, vgl. Schmucker, (wie Anm. 10), S. 32f. 127 Vgl. Naragon, (wie Anm. 126), S. 189; Einleitung zu AA XXVIII/2.2, S. 1345f. Für Paul Menzers Datierung zwischen 1778 und 1780 spricht die Ausführlichkeit des Abschnitts „Rationale Psychologie“ und die inhaltliche Nähe zwischen L1 und der Mitschrift von Mrongovius, die auf das Wintersemester 1782/83 datiert ist. Es ist ein Rätsel, aus welchen Gründen neuere Darstellungen die Vorlesungen kollektiv den späten 1780er oder den frühen 1790er Jahren zuweisen. Vgl. Kiefer, Klaus H., „Die famose Hexenepoche“. Sichtbares und Unsichtbares in der Aufklärung. Kant, Schiller, Goethe, Swedenborg, Mesmer, Cagliostro. München 2004, S. 23; Conrad, Anne, „Umschwebende Geister“ und aufgeklärter Alltag. Esoterik und Spätaufklärung, in: Neugebauer-Wölk / Zaunstöck, (wie Anm. 115), S. 402f. In den entsprechenden Texten aus den 1790er Jahren K2, K3, L2 und Dohna taucht Swedenborg entweder gar nicht oder in einem anderen Kontext auf als bei L1. Schon du Prel hatte L1 wie Pölitz auf 1788–1790 datiert und be-

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unter dem Topos des status post mortem Swedenborgs Lehre in einer ihrer zentralen Aussagen als „sehr erhaben“, weist aber zugleich betont die Möglichkeit ab, irdisch mit Geistern in Kontakt treten zu können.128 Hatte er in der Frühvorlesung nach Herder (1762/64)129 und partiell auch in den Träumen noch eine zurückhaltendere Position vertreten, so erscheinen ihm Swedenborgs Visionen jetzt „contradiktorisch“ und der „Maxime der gesunden Vernunft entgegengesetzt“, die es gebiete, solche „Erfahrungen und Erscheinungen“ nicht zuzulassen, die moralische Handlungen auf das Konto von Geistern zurückführen und auf diese Weise den autonomen Vernunftgebrauch einschränken. Dieses Urteil dehnte er aber nicht auf Swedenborgs Lehre vom postmortalen Leben der Seele aus. Der Körper, so Kant, sei „Hinderniß“ des Lebens und ein „ganz reines geistiges Leben“ nach dem Tod sei die „allerangemessenste“ philosophische Meinung. Die Seele befinde sich aber schon jetzt in der Geisterwelt und dort in Verbindung mit anderen Geistern, und die moralische Qualität dieser Gemeinschaften sei nichts anderes als Himmel und Hölle: Wenn diese Geister „wohldenkende und heilige Wesen“ seien, befinde sich die Seele im Himmel, sei die Gemeinschaft aber „bösartig“, in der Hölle. Solche Gemeinschaften existierten unabhängig von Ort und Körperwelt, nicht im unermesslichen Raum der Weltkörper „in blauer Farbe“, und man werde nach dem Tod nicht auf andere Planeten versetzt, mit denen man jetzt schon in einer wenn auch entfernten Verbindung stehe, sondern die Seele bleibe in dieser Welt, habe aber eine „geistig Anschauung“ von allem. Postmortal werde sie sich dessen lediglich bewusst und ändere nicht ihren Ort, sondern nur ihre Anschauung, die nun rein geistig sei. Der irdische moralische Zustand der Seele bleibe nach dem Tod also unverändert erhalten – „schrecklicher Gedanke für den Bösewicht“. Einen Weltenrichter oder ein Jüngstes Gericht kennen hier weder Kant noch der von ihm zitierte Swedenborg. Es geht nur um die moralische Qualifizierung und damit um das Selbstgericht der Person. Im selben Kontext weist Kant alle anderen Vorstellungen über den postmortalen Status zurück. Eine „lamaische“ Wiedergeburt, Palingenesie, Metamorphose, Metempsychose, den Seelenschlaf der „Hypnopsychisten“, Leibniz’ Theorie von einem postmortalen corpusculum der Monade oder die leibliche Auferstehung lehnt Kant ab.130 tont, die Vorlesung sei sieben Jahre nach der KrV und zwei Jahre vor der KU gehalten worden. Das veranlasste den Kantforscher Benno Erdmann immerhin, L1 als „Rückfall“ hinter die KrV zu betrachten und ihr eine wissenschaftliche Untersuchung schlicht zu verweigern, vgl. du Prel, (wie Anm. 8), S. 18. Neuere Forscher benutzen die Spätdatierung, um ihre These von einer späten Rehabilitierung Swedenborgs durch Kant zu stützen, so vor allem Florschütz, der die Vorlesungen entweder widersprüchlich datiert oder ihre Datierung für irrelevant erklärt und dem es daher nicht gelingt, sie in die philosophische Biographie Kants einzuordnen, vgl. Florschütz, (wie Anm. 58), S. 42, 152–154. 128 Metaphysik L nach Pölitz, (wie Anm. 8), S. 295–300. 1 129 Vgl. Metaphysik nach Herder. AA XXVIII/1, S. 113, 120–122 par. Metaphysik nach Herder Nachträge. AA XXVIII/2.1, S. 904–906. 130 Vgl. Metaphysik nach Dohna [mit großer Wahrscheinlichkeit 1792/93]. AA XXVIII/2.1, S. 689; Metaphysik K2 [Anfang der 1790er Jahre]. AA XXVIII/2.1, S. 769f.; Metaphysik L2

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Diese Grundgedanken, die schon in den ersten beiden Hauptstücken des ersten Teils der Träume im Zusammenhang mit Swedenborg entfaltet werden, tauchen in allen Vorlesungen bis Mitte der 1790er Jahre auf, nun allerdings ohne Namensnennung, und immer wieder wird Swedenborgs Eschatologie zitiert, während gleichzeitig die Möglichkeit von Geisterkontakten abgewiesen wird – eine partielle Aneignung also, die mit der Entkoppelung Swedenborgs von seiner Eschatologie einhergeht. „Schon jetzt“, so Kant auch noch nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, „finden wir uns in der Intelligiblen Welt“, und man habe sich nichts anderes vorzustellen, als dass die Scheidung der Seele vom Körper nur der „Anfang des Intellectuellen und das Ende des sinnlichen Lebens“ sei. Dann beginne die Seele, die Dinge anders anzuschauen, „als sie es in der Verknüpfung mit dem Leibe gewohnt gewesen ist.“ Jeder Mensch könne sich „nach Beschaffenheit seiner Denkungs Art entweder zur Gesellschaft der Seeligen oder der Verdammten“ zählen.131 Der Tugendhafte werde nach seinem Tod „die Dinge an sich selbst“ erkennen, das „vernünftige Reich unter moralischen Gesezzen“, „das Reich Gottes und das Reich der Zweke“ als die eine Welt, in der er sich bereits jetzt befindet, die dann nur der „Form“, aber nicht dem „Inhalt“ nach eine andere Welt sei; „weiter können wir hierin nicht gehen“.132 Auch die letzten Vorlesungen aus den 1790er Jahren halten an diesem Gedanken fest: Das ganze Kapitel über den status post mortem sei zwar nichts weiter „als ein Traum“ und man könne eigentlich „nicht viel“ sagen, „außer was negatives“. Die Notanten vermerken aber dennoch Kants Annahme, „daß unser künftiges Leben ein reines, geistiges Leben sei“, aber nicht als Ortswechsel, da die Seele „kein Verhältnis dem Orte nach zu andern Dingen“ besitze. Der Wechsel „aus der sinnlichen Welt in eine andere ist blos die Anschauung seiner selbst“.133 Der Himmel als „Maximum alles Guten in Ansehung des Wohlbefindens“ und die Hölle als sein Gegenteil sind zwar nichts anderes als „Ideale“; aber die Seele bleibe sich bewusst, „entweder in der Welt der Seeligen oder der Unseeligen“ zu sein.134 Seit der Frühvorlesung nach Herder135 wird der Zustand des jenseitigen Lebens als progressus infinitus, zunehmend nur noch als Fortschritt zum Guten hin, beschrieben.

[vermutlich 1790/91], (wie Anm. 120), S. 592f.; Metaphysik nach Volckmann [sicher 1784/85], (wie Anm. 120), S. 445. Diese Abschnitte in Kants Vorlesungen setzen sich kritisch mit den §§ 784–786 bei Baumgarten auseinander, der die Palingenesie, die Metemsomatose oder Metempsychose dem Modell einer metempsychosis crassa vorzieht, bei dem die Seelen nicht wieder in ein neues commercium mit dem Körper gelangen, vgl. Baumgarten, Alexander Gottlieb, Metaphysica. Ed. IIII. Halae Magdebvrgicae 1757. 131 Metaphysik nach Mrongovius. AA XXIX/1.2, S. 919f. 132 Metaphysik nach Volckmann, (wie Anm. 120), S. 445. 133 Metaphysik L , (wie Anm. 120), S. 592; Metaphysik K , (wie Anm. 130), S. 768. 2 2 134 Metaphysik nach Dohna, (wie Anm. 130), S. 689. 135 Vgl. Metaphysik nach Herder, (wie Anm. 129), S. 117. Baumgarten, dessen § 791 Kant nach Herders Mitschrift als zu weitreichend angesehen hatte, geht dagegen von einer Beförderung der Glückseligkeit oder Unglückseligkeit der Seele bei ihrer Fortdauer aus.

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Diese eschatologischen Gedanken sind nicht nur in dem semi-öffentlichen Raum der Vorlesungen zu finden, aus dem sie die Hörer überliefert haben, sondern auch in den publizierten Schriften Kants. Im Ende aller Dinge (1794) votiert Kant gegen die Apokatastasis und ein unitarisches System für ein dualistisches System mit Himmel und Hölle, in das man entsprechend seines bisherigen Lebenswandels versetzt wird, auch wenn beide Systeme die spekulative Vernunft übersteigen.136 Der moralische Zustand des homo Noumenon, „dessen Wandel im Himmel ist“, ist nicht der Zeit unterworfen, sondern übersinnlich,137 es gibt keinen Richter und kein Weltgericht.138 An deren Stelle setzt Kant einen jenseits der Zeit verlaufenden progressus infinitus hin zum Endzweck,139 in der zweiten Kritik: zur Heiligkeit und zum Höchsten Gut, das kein Geschöpf erreichen kann.140 Das Höchste Gut aber ist nicht nur Objekt und Maxime, sondern der Begriff des moralischen Gesetzes, und es ist nur unter der Voraussetzung des Postulats der Unsterblichkeit möglich.141 Diesen Gedanken wiederholt auch die Religionsschrift: Wer hier zur Vollkommenheit gestrebt habe, könne hoffen, es auch dort zu tun, und wer hier böse war, werde es auch dort sein. Diese „Kinderfragen“142 taugten nicht zum Dogma und dürften auch nicht zu Spekulationen führen,143 sie seien aber dennoch sinnvoll im praktischen Gebrauch, unter anderem im Hinblick darauf, dass alle Sünden vor dem Tod abgegolten werden müssen, weil hier Versäumtes im künftigen Leben nicht nachgeholt werden kann.144 Vor allem der Empirismus und der „Materialism der Persönlichkeit“, den Kant hinter der Annahme einer leiblichen Auferstehung mit Himmelfahrt sieht, wird 136 137 138

Das Ende aller Dinge. AA VIII, S. 329f. Vgl. ebd., S. 333f. Im Ende aller Dinge wird die Liebe als subjektives Handlungsprinzip im Gegensatz zur KpV aufgewertet, wo sie eher unter die Handlungsmaximen hypothetischer Imperative fällt. Das Christentum, so Kant 1794, habe etwas „Liebenswürdiges“ an sich, weil es die Liebe als „Aufnahme des Willens eines Andern“ betone, die zum Ausgleich der menschlichen Unvollkommenheit diene. Im Widerspruch zu dieser Liebe sieht Kant eine Liebe gebietende göttliche Autorität, vgl. ebd., S. 337f. 139 Vgl. ebd., S. 334; Sala, (wie Anm. 9), S. 278–280, moniert, dass der progressus dennoch den Zeitbegriff enthalte, weil er von Veränderungen ausgehe. Damit widerstrebe er aber dem Unsterblichkeitsgedanken. Zugleich impliziere der Gedanke eines weiteren Fortschritts in der Tugend, dass der Mensch sich postmortal in einem „Bewährungszustand“ befindet, dass also auch ein Rückschritt zum Bösen möglich wäre. Dies würde mit dem Gedanken der Glückseligkeit kollidieren. 140 KpV. AA V, S. 123. 141 KpV. AA V, S. 122. Wenn das Höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich ist, muss auch das moralische Gesetz „phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein“, ebd., S. 114. 142 RGblV. AA VI, S. 68f. 143 Das Ende aller Dinge, (wie Anm. 136), S. 329, 334. 144 RGblV. AA VI, S. 68. Im Gegensatz zur Religionsschrift und dem Ende aller Dinge kennt Kant in der KpV keine ausdrückliche Unveränderlichkeit der Gesinnung über den Tod hinaus und keine ausgeprägte dualistische Lehre. Vielmehr hält er hier deutlich abgeschwächter die Kontinuität der „erprüften Gesinnung“ und ein Fortfahren im bisherigen Vorsatz für möglich, was eine „tröstende Hoffnung“ erlaube, vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 278.

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durch die „Hypothese des Spiritualismus vernünftiger Weltwesen“ abgewehrt: „wo der Körper todt in der Erde“ bleibt „und doch dieselbe Person lebend“ nach ihrem Geist zum „Sitz der Seligen“ gelangen kann.145 Das Argument des Spiritualismus wird in der zweiten Kritik auf den „Mysticism“ ausgedehnt, um den Empirismus abzuwehren, auch wenn die „Typik“ zugleich auch vor dem „Mysticism der praktischen Vernunft“ warne, der Symbole zum Schema mache und durch nichtsinnliche Begriffe zum „Überschwenglichen“ hinausschweife. Der praktischen Vernunft ist nach Kants strikter Scheidung zwischen Erkenntnis und Glaube am ehesten der Rationalismus der Urteilskraft angemessen, der nichts weiter annimmt als das, was auch die reine Vernunft denken kann. Noch „anrathungswürdiger“ aber ist es, sich vor dem „Empirism der praktischen Vernunft“ zu verwahren, wo sich der „Mystizism“ mit der „Reinigkeit und Erhabenheit des moralischen Gesetzes“ am besten vertrage.146 Denn der Empirismus rottet die Gesinnungssittlichkeit „mit der Wurzel“ aus und degradiert die Menschheit. Er muss deshalb als gefährlicher angesehen werden als die „Schwärmerei“, die niemals ein Dauerzustand „vieler Menschen“ sein kann, auch wenn Kant sie an anderer Stelle als „Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft“147 beschreibt. Im Interesse der Moral votiert Kant dennoch deutlich für einen Mystizismus, der den Empirismus und damit die Degradierung der Moral zu verhindern imstande ist.148 Selbst der einzige zusammenhängende Kommentar zur Religionsschrift von Josef Bohatec kommt an diesem eschatologischen Punkt nicht umhin, an Swedenborg zu erinnern und zu behaupten, „daß Kant an dem ihm durch Swedenborg nahegelegten Spiritualismus immer festgehalten, aber die okkultistischen Auswüchse des letzteren energisch bekämpft hat“.149 Es wundert, dass Bohatec dem einzigen in weiten Teilen theologischen Werk, dessen Lektüre Kant in den Träumen selbst eingestanden hat – den Arcana coelestia Swedenborgs, nicht weiter nachgegangen ist, sondern sich vielfach auf theologische Literatur bezieht, die Kant nicht nach eigenem, sondern nur nach sekundärem Zeugnis gelesen haben soll.150 Seine Unter145

RGblV. AA VI, S. 128. Hinter dem Materialismus sah Kant offenbar den im Gesamtwerk mehrfach zitierten englischen unitarischen Pfarrer Joseph Priestley, der von dem Tod des ganzen Menschen und von einer kompletten Neuschöpfung ausging. Daraus folgerte Kant die Vorstellung einer materiellen Persönlichkeit, die mit dem Tod der Seele ebenfalls aufhöre zu existieren. Freiheit und Unsterblichkeit der Seele, die „Grundpfeiler aller Religion“, würden durch Priestley niedergerissen, „der selbst ein frommer und eifriger Lehrer der Religion ist“ (KrV. B 773); sowie Metaphysik nach Volckmann, (wie Anm. 120), S. 440; Metaphysik K2, (wie Anm. 130), S. 767; Metaphysik nach Mrongovius, (wie Anm. 131), S. 911. 146 KpV. AA V, S. 70f. 147 KpV. AA V, S. 85. 148 Vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 159f. 149 Bohatec, Josef, Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen. Hamburg 1938, S. 471. 150 Vgl. ebd., S. 19–32. Lediglich Johann Daniel Michaelis hat Kant nach Zeugnis aus eigenem Mund selbst gelesen. Die Lektüre des Schweizer reformierten Theologen Johann Friedrich Stapfer ist nicht bewiesen, ebenso wenig die Verarbeitung des pietistischen Königsberger Kate-

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suchung bleibt daher vorwiegend motivgeschichtlich und lässt für die Religionslehre eine empfindliche Lücke, die in der Forschungsgeschichte bisher nicht geschlossen worden ist.151 Es dürfte auf der Hand liegen, dass sich die einst in direkter Referenz auf Swedenborg ausgeführte Eschatologie aus den Träumen und aus der MetaphysikVorlesung L1 als Motiv in Kants Werk erhalten hat. Daher ist es nicht angemessen, von einer späteren Rehabilitierung152 Swedenborgs in den Vorlesungen zu sprechen, sondern von einer partiellen Aneignung von Elementen seiner Lehre in der Moralphilosophie und der Religionslehre. Die Rehabilitierungsthese kann nur aufgestellt werden, wenn lediglich die Bewertung der Person153 Swedenborgs durch Kant betrachtet und nicht die Möglichkeit einer unterhalb dieses Interesses liegenden partiellen Rezeption von Elementen seiner Lehre aus den Arcana coelestia einbezogen wird, während und obwohl Kant an seiner offenen Ablehnung Swedenborgs als Geisterseher festhielt. Außerdem wird die singuläre Qualifizierung der Lehre Swedenborgs als „sehr erhaben“154 in der zum gleichen Zweck spät datierten Vorlesung L1 zur Stützung der Rehabilitierungsthese überinterpretiert. Die Abweisung der Geisterseherei bleibt unverändert bestehen, ja Kant verstärkt sie sogar noch, wenn er Swedenborg um 1790 in einer Vorlesung als „vorsätzliche[n] Betrüger“ bezeichnet, anderenfalls hätte er bei seinen Planetenreisen in den Arcana den erst 1781 entdeckten Uranos wohl schon gekannt und beschrieben.155 Die in den Träumen dargelegte und in den Vorlesungen ausdrücklich mit Swedenborg in Verbindung gebrachte Grundannahme einer dualistischen Welt, deren Doppelbürger der Mensch schon jetzt ist und der er sich postmortal durch den Wechsel in eine raum- und zeitlose Anschauung erst vollauf bewusst wird, bleibt aber ebenso erhalten wie Kants Abweisung der Geisterseherei. Nun geht es keinesfalls darum, aus Kant einen Swedenborgianer geschweige denn einen Gläubigen der Geisterwelt zu machen, sondern die Quellen seiner Philosophie um Swedenborg zu erweitern, ohne allzu generalistisch zu verfahren und dabei durch bloß chismus, Lessings, Semlers und deistischer Schriften, die in der Forschungsgeschichte für die Religionsschrift behauptet worden ist. 151 Vgl. etwa Essen, Georg / Striet, Magnus (Hg.), Kant und die Theologie. Darmstadt 2005. Der Name Swedenborgs wird in diesem aktuellen Sammelband zur Religionslehre Kants nicht erwähnt. 152 So neben du Prel und Florschütz jetzt Kiefer, (wie Anm. 127), S. 23, mit einer unbegründeten kollektiven Spätdatierung aller Vorlesungen. 153 Der Swedenborgianer Robert H. Kirven gelangt nach seiner Analyse zu dem Urteil, dass Kant seine Bewertung Swedenborgs in den Träumen niemals berichtigt habe. Es gebe keine Übereinstimmung zwischen beiden. Dieser Schluss stimmt natürlich hinsichtlich der Bewertung Swedenborgs als Geisterseher mit den Quellen überein, etwaige modifizierende Rezeptionen seiner Lehre werden dabei aber nicht in Betracht gezogen, vgl. Kirven, (wie Anm. 14), S. 118. 154 Vgl. zu einer Exegese des Ausdrucks „erhaben“ bei Kant Bishop, (wie Anm. 114), S. 277. 155 Vgl. Danziger Rationaltheologie nach Baumbach. AA XXVIII/2.2, S. 1325. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Johnson dieser Quelle im Gegensatz zu allen anderen Vorlesungen einen geringeren Quellenwert beimisst. Vgl. Johnson, Lectures, (wie Anm. 6), Punkt 8. Diese Vorlesungsnotiz geht mit den übrigen Äußerungen Kants zur Geisterseherei durchaus konform.

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phänomenologische Vergleiche Übereinstimmungen zu behaupten, die über einzelne Elemente hinausgehen. Die Frage nach dem epistemologischen und ontologischen Status dieser Elemente soll am Ende angesprochen werden.

Swedenborg in Kants Religionslehre Im Folgenden werden einige Beispiele für die Modifizierung von Elementen aus der Lehre Swedenborgs genannt, die sich unmittelbar in Kants Religionsschrift finden. Motivgeschichtler mögen zwar einwenden, dass Kant die folgenden Topoi auch aus anderen Quellen entwickelt haben kann – warum sollte aber nicht auch das Werk dessen betroffen sein, dem er eine eigene Schrift gewidmet und dessen Himmlische Geheimnisse er nach eigenem Zeugnis komplett studiert hat?156 1. Im ersten großen Abschnitt der Religionsschrift unterzieht Kant die orthodoxe Sündenlehre einer eingehenden Kritik. Die Erbsünde geht nicht auf eine Tat in der Zeit der Stammeltern zurück – das ist von allen Vorstellungen die „unschicklichste“.157 Die Sünde besitzt ihren Ursprung nicht in der Zeit, ja der historische Ursprung des Bösen in der Schöpfung ist schlichtweg „nicht bekannt“.158 Vielmehr ist sie in der Vernunft begründet159 und geht auf eine intelligible Tat des Menschen nach seiner intelligiblen Existenz zurück, die die Selbstliebe und ihre Neigungen zu Handlungsmaximen und zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht.160 Dieser Vernunftursprung des Bösen aber bleibt „unerforschlich“, da er aber nicht in der Zeit liegt, nimmt Kant an, dass sich der erste Mensch im „Stand der Unschuld“ befunden hat und der Mensch durch den angeborenen Hang zum Bösen täglich so handelt wie Adam.161 Das Böse besteht aber nicht nur in einem angeborenen, sondern auch in einem erworbenen und zugezogenen Hang.162 Es handelt sich in diesem Sinne um ein „radikales Böses“. Ein historischer Ur156

Es ist unverständlich, warum in der neueren Forschung über die Träume nicht die Himmlischen Geheimnisse, sondern vielfach andere Schriften Swedenborgs herangezogen werden. So verwendet Balke, (wie Anm. 47), die AC gar nicht, sondern zitiert ausschließlich aus Himmel und Hölle und De Coelo. Auch Florschütz, (wie Anm. 58), zieht häufig andere Schriften Swedenborgs heran, die Kant nirgendwo erwähnt. Kants Reaktion in den Träumen wie auch sein gesamtes Rezeptionsverhalten lässt sich auf diese Weise kaum erklären. 157 RGblV. AA VI, S. 40 158 Ebd., S. 78. Gutes und Böses sind für Kant nicht deduzierbar und anthropologisch nicht zu begründen. Indem er den Ursprung des Bösen nicht in der Zeit, sondern in der Vernunft sucht, ihn aber zugleich als unbekannt bezeichnet, bleibt er in gewisser Weise bei der mythologischen Rede von der Sünde stehen. Vgl. Wenzel, Knut, Die Erbsündenlehre nach Kant, in: Essen / Striet, (wie Anm. 151), S. 228, 237f. Auch in Wenzels Aufsatz über das Böse bei Kant taucht an keiner Stelle ein Hinweis auf Swedenborg auf. 159 RGblV. AA VI, S. 41. 160 Vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 209, 181. Das Prinzip der Selbstliebe taugt (wie bei Swedenborg) nicht zum praktischen Gesetz, vgl. KpV. AA V, S. 26. 161 RGblV. AA VI, S. 42f. 162 Vgl. ebd., S. 28f., 32.

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sprung des Bösen würde die Willensfreiheit aufheben, denn alles, was der Mensch tut, tut er aus freier Willkür.163 Da das Böse nicht aus der Kausalität der Natur stammt, sondern intelligibel ist, kann es dem Menschen wegen der gesetzmäßigen Maxime der Willkür auch zugerechnet werden, es ist gleichsam gewählt wegen eines Hanges, der um der Freiheit willen als zufällig angesehen werden muss.164 Die in der Zeit begangenen bösen Taten weisen den Charakter aus, den sich der Täter selbst verschafft hat; die Taten des sinnlichen Menschen entsprechen den Neigungen des intelligiblen Menschen. Darin ist für Kant die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen begründet.165 Swedenborgs Sündenlehre in den Arcana coelestia sagt dem gegenüber nichts anderes. Auch für ihn gibt es keine Erbsünde als Tat der Stammeltern, Sünde ist nicht historisch, sie besitzt als malum hereditarium, als Erbböses, keinen gleichsam genetischen Charakter,166 sondern wird über die Gewohnheit der eigenen Eltern als Neigung angeeignet und wirkt sich auf die innere Beschaffenheit des Menschen aus. Die Sünde liegt im Willen und im Denken eingewurzelt, sie ist nicht in der Tat begründet, sondern im „inneren“, man könnte sagen: intelligiblen, Trieb.167 An mehreren Stellen bezeichnet sie Swedenborg als malum, das eingewurzelt (radicitus oder irradicatus) ist:168 als „Wurzelböses“. Das „radikale Böse“ bei Swedenborg äußert sich in der Ausrichtung der Neigungen zur Selbst- und Weltliebe, nicht zur Gottes- und Nächstenliebe; und diese Neigung ist der ganze Mensch.169 Die Annehmlichkeiten des Lebens (jucunda vitae) sind für den inneren Menschen, der das ewige Leben erlangen will, erst dann schädlich, wenn er sie zu Zwecken (fines), also zu den Gegenständen seiner inneren Neigungen und der daraus resultierenden Handlungen werden lässt.170 Alexander Gottlieb Baumgarten kennt den Begriff des „eingewurzelten“ Bösen als Verderbtheit der Gedankenbildung in einem ähnlichen Wortfeld zwar auch,171 bei Swedenborg, den Kant nach eigenem Zeugnis gelesen hat, taucht er aber häufiger und explizit auf. 163 164 165 166

Vgl. ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 32; Wenzel, (wie Anm. 158), S. 234. Sala, (wie Anm. 9), S. 209. Der Mensch ererbt das Erbböse von seinen Eltern, er wird nicht hinein geboren. In Schuld (culpa) kommt der Mensch nicht wegen des angeerbten Bösen (malum hereditarium), sondern wegen des wirklichen Bösen (malum actuale), vgl. AC 4563. 167 Vgl. AC 313, 3318, 3469, 4317, 4563. Es gibt kein böses Prinzip außerhalb des Menschen selbst, aber: der Mensch bringt das Böse und Falsche nicht aus sich selbst hervor, dies tun böse Geister und Dämonen. Damit sind bei Swedenborg allerdings keine äußerlichen Prinzipien gemeint. Engel und böse Geister sind nichts anderes als menschliche Seelensubstanzen, vgl. AC 154, 761, sowie AC 987. 168 AC 4174, 8403, 8869, 9336, 10173; sowie 1679: falsche eingewurzelte Grundsätze (principia radicata); 2910: das von den Eltern angehäufte Böse wird eingewurzelt (irradicatur) und auf die Nachkommen übertragen. 169 AC 3078, sowie 1568, 2708, 8550 u.ö. 170 AC 3425. 171 Vgl. Bohatec, (wie Anm. 149), S. 269–271. Baumgarten hat die Verbindung malum/radix in den Praelectiones theologicae dogmaticae (Halle 1773), Franz Albrecht Schultz nennt in seiner

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2. Gehört die Erbsünde nicht zur menschlichen Substanz, dann kann es auch keine universale Verdammung geben, die nur durch die Stellvertretungstat Christi wieder aufgehoben werden könnte. Schuld und Verantwortung sind, so Kant, ebenso wie das zugrunde liegende „radikale Böse“ nicht „transmissibel“. Die „a l l e r p e r s ö n l i c h s t e [...] Sündenschuld“ kann anstelle des „Strafbare[n]“ selbst niemand übernehmen.172 Kant betrachtet „die ganze Reihenfolge“ der Existenz des Täters in der Sinnenwelt zwar als Folge seiner Kausalität als Noumenon. Die zu verantwortende Tat kann – obwohl sie wegen ihrer Zeitlichkeit notwendig ist und von vergangenen Taten abhängt – aber nur vom Täter als Subjekt der Bedingungen verantwortet werden.173 Damit entfällt die soteriologische Funktion Christi. Sie würde die Autonomie und Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen aufheben. Die Zurechnung eines fremden Verdienstes oder der göttlichen Gnade auf bloßen Glauben hin kommen für Kant in der Religionsschrift nicht in Frage. Es ist für ihn nicht einzusehen, dass man durch bloßen Glauben seine Schuld als getilgt ansehen könnte.174 Kant betrachtet Christus entweder im Sinne eines Urbildes oder „Ideal[s] der Gott wohlgefälligen Menschheit“175 oder er vertritt eine eher arianische Christologie: Jesus ist kein Christus in orthodoxem Sinne, sondern er ist natürlich gezeugt.176 Er besitzt keine soteriologische, sondern eine exemplarische Funktion als Morallehrer, als der „w e i s e Lehrer“, der göttlich gesinnt, aber „ganz eigentlich“ menschlich ist.177 Aber der historische oder empirische Kirchenglaube an den „Gottmenschen“ ist mit dem „Princip des guten Lebenswandels“ nicht vereinbar, das nur rational sein kann, nicht empirisch.178 Die Geschichte des historischen Jesus selbst ist nur Beispiel und Vorbild für die sittliche Gesinnung.179 Wenn von Vertretern der theologischen Kantforschung der sehr allgemeine und unscharfe Befund erhoben wird, dass Kant die (orthodoxe) Vorstellung des Strafleidens Christi und der Anrechnung des von ihm erworbenen Verdienstes zum Heil des Gläubigen gemeinsam mit der Aufklärung und den Sozinianern verworfen habe,180 so ist hier Swedenborg als konkreter Autor zu ergänzen, den Kant tatsächlich gelesen hat.

Vorlesung Theologia thetico-antithetica (1741/1774) im Anschluss an den Neuplatonismus, Augustin und Leibniz eine limitatio radicalis anstelle des malum radicitum. Swedenborg und Baumgarten kommen damit Kants Wortwahl am nächsten, wobei Swedenborg weitaus mehr Referenzstellen aufweist. Weitere Quellen nennt Bohatec nicht, und er schließt aus, dass Kant die Schriften Martin Luthers gelesen hat, wo der Begriff häufiger vorkommt. 172 RGblV. AA VI, S. 72 [Hervorh. im Original]. 173 KpV. AA V, S. 97f.; Sala, (wie Anm. 9), S. 209. 174 RGblV. AA VI, S. 116. 175 RGblV. AA VI, S. 60f. 176 RGblV. AA VI, S. 63. 177 RGblV. AA VI, S. 65, 80–84. 178 RGblV. AA VI, S. 119f. 179 Vgl. Murrmann-Kahl, Michael, Immanuel Kants Lehre vom Reich Gottes. Zwischen historischem Offenbarungsglauben und praktischem Vernunftglauben, in: Essen / Striet, (wie Anm. 151), S. 265. 180 Vgl. Murrmann-Kahl, (wie Anm. 179), S. 262.

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Denn die soteriologischen Aussagen Kants finden sich in ihren Grundzügen auch in Swedenborgs Arcana coelestia. Die lutherische Rechtfertigungslehre des sola fide gehört hier zu den am heftigsten bekämpften dogmatischen Topoi. Sogar gestorbene Kinder werden nicht durch den bloßen Glauben selig, sondern müssen postmortal vom Herrn selbst erst im Guten der Liebe und im Wahren des Glaubens (in bonis charitatis et veris fidei) unterrichtet werden.181 Das Leiden Christi bedeutet für Swedenborg nicht die Grundlegung eines Verdienstes, durch das die Gläubigen gerechtfertigt oder selig werden können.182 Für Swedenborg kann es bei Menschen aber nur um die Änderung der Neigungen gehen. Der Glaube an ein fremdes Verdienst steht dem geradezu entgegen und verhindert ein in der Praxis der charitas zu führendes Leben, wenn er der Liebe übergeordnet wird.183 3. Anstelle der traditionellen Soteriologie setzt Kant in der Religionsschrift die autonome Sinnesänderung, nicht als „allmählige Reform“ auf der Basis des Fortbestehens unlauterer Maxime, sondern als „Revolution“ im Sinne eines „Übergang[s] zur Maxime der Heiligkeit“. Es geht um die Tugendhaftigkeit nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon), nicht nach dem empirischen Charakter (virtus phaenomenon).184 Nicht die Selbstliebe mit den aus ihr folgenden hypothetischen Imperativen ist fortan Triebfeder, sondern allein das moralische Gesetz mit seinem kategorischen Imperativ. Das böse Prinzip wird dadurch nicht besiegt, aber seine Herrschaft wird gebrochen und es wird eine moralische „Freistatt“ für die Tugendhaften eröffnet, wo diejenigen „Schutz für ihre Moralität finden können“, die die alte moralische Herrschaft verlassen wollen: das Reich Gottes.185 Diese Sinnesänderung ist „Ausgang vom Bösen“ und „Eintritt ins Gute“; sie entspricht dem neutestamentlichen Bild vom Ablegen des alten und Anziehen des neuen Menschen (Eph 4,22–24).186 Auch für Swedenborg kann die Sinnesänderung nicht durch äußeren Zwang geschehen, nur der freie Mensch ist in der Lage, sich vom Bösen weg und zum Tun des Guten und Glauben und Reden des Wahren hin zu bekehren: Ohne frei (liber), freiwillig (spontaneus) und gewillt (voluntarius) zu sein, kann kein Mensch gebessert werden. Zwang ist auf dem Weg der Besserung des Menschen nur als Selbst181

AC 4721. Dass der Mensch allein aus Glaube ohne charitas selig werden könne, ist eine Sinnestäuschung (fallacia sensus), vgl. AC 4663, 5084. Die Polemik gegen die paulinisch-lutherische Rechtfertigungslehre nimmt in Swedenborgs Werk bis zur Vera christiana religio noch deutlich zu, wo sie gar einem Teufel in den Mund gelegt wird (vgl. VCR 71). Luther schwört in der Geisterwelt dem Solifideanismus ab (vgl. VCR 137). 182 AC 2776. Das Leiden bis zum Kreuz ist in Swedenborgs eigentümlicher Christologie der letzte Grad der Versuchung des Herrn vor der Vereinigung des Divinum mit dem Humanum, um sich auf diese Weise selbst zu verherrlichen. 183 Vgl. AC 34, 2027: es geht um eine fides charitatis. 184 RGblV. AA VI, S. 47. Reue, Strafe und der Übergang in den Gnadenstand werden als „Akt der Revolutionierung der Gesinnungsart“ modifiziert, „als Verlassen des Bösen und Übergang ins Gute eodem actu“, vgl. Murrmann-Kahl, (wie Anm. 179), S. 262. 185 RGblV. AA VI, S. 82f. 186 RGblV. AA VI, S. 74.

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zwang (se cogere) zum Guten und als Unterwerfung unter die Gewalt des inneren Menschen möglich, dessen anima göttlichen Ursprungs ist, nicht durch ein Gezwungenwerden (cogi). Nichts, was nicht aus Freiheit geschieht, ist Gott angenehm, er selbst zwingt nicht zum Handeln. Die zum Selbstzwang führende Freiheit entsteht durch ein inneres Gefühl im Gewissen (conscientia). Freiheit, nicht Zwang, ist göttlichen Ursprungs.187 Im Mittelpunkt steht die Autonomie des Menschen, der – wie bei Kant – im sinnlichen Bereich der Kausalität der Natur unterworfen, aber intelligibel frei ist, gut zu werden, und nur durch Freiheit wiedergeboren werden kann, nicht durch Gnade und Glaube. Jeder entscheidet selbst frei über seine Seligkeit.188 Bei Swedenborg besteht sogar die soteriologische Funktion der Inkarnation des Herrn (dominus), des einen Gottes, nicht in der Erlösung der Sünder, sondern in der Gewährleistung der menschlichen Freiheit.189 Freiheit ist die Voraussetzung für die Wiedergeburt, die allerdings von Gott bewirkt wird, nachdem sich der erwachsene Mensch, der im Gegensatz zum Kind Vernunft (ratio) und Urteilskraft (judicium) besitzt, dafür entschieden hat und in der Lage ist, das Wahre und Gute vom Herrn aufzunehmen.190 In Kants Religionsschrift findet sich an dieser Stelle nicht nur der äquivalente Hinweis auf die bloße Hoffnung auf eine überirdische Ergänzung der irdischen moralischen Bemühungen zum Guten durch „höhere Mitwirkung“.191 Die „Revolution in der Gesinnung“ ist auch für Kant nichts anderes als „eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung“ nach Joh 3,5 und Gen 1,2,192 die letztlich „Gottes Werk“ ist.193 Soteriologische ‚Reste‘ sind Kant und Swedenborg gemeinsam.

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AC 1937, 1947, 2873, 2876f., 2880f., 4031. Das Gute und Wahre muss im Willen (voluntas) eingewurzelt (irradicandum) sein, und der Zwang bessert nicht, weil dabei nichts einwurzelt, denn: „coactum enim non est hominis velle, sed liberum est ejus velle“ (AC 7007). 188 AC 9453. 189 Bedingung für die menschliche Freiheit ist ein Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle, Bedingung für die moralische Besserung, Umbildung und Wiedergeburt aber ist seine Freiheit, AC 8209, 5982f., 6308, 6477. Am Beginn der (vierten) christlichen Kirche kam der Herr selbst, um das Verhältnis von Himmel und Hölle wieder so zu ordnen, damit sein Einfluss aufgenommen und von den bösen Geistern nicht mehr gestört werden konnte (vgl. AC 10355). Vgl. Kreuch, Jan, Die Rechtfertigungslehre nach Luthers Schmalkaldischen Artikeln und ihre Kritik in der „Wahren Christlichen Religion“, in: Offene Tore 2001, S. 24f.; Lamm, Martin, Swedenborg: eine Studie über seine Entwicklung zum Mystiker und Geisterseher. Leipzig 1922, S. 282f. 190 AC 677, 2636, 9452. 191 RGblV. AA VI, S. 51f. 192 RGblV. AA VI, S. 47f. 193 Bohatec, (wie Anm. 149), S. 455, interpretiert diese Stelle so, dass die Revolution der Gesinnungsart „wesentlich Gottes Werk“ ist. Die aufgrund der Hindernisse der Sinnesart hingegen nur „allmähliche“ Reform ist durch die Anlage zum Guten aber ebenfalls möglich. Der Redewendung von der Wiedergeburt und der neuen Schöpfung steht allerdings Kants Aussage gegenüber, dass dem Menschen sowohl die Revolution als auch die Reform möglich sein müsse, erstere durch den Akt einer „einzige[n] unwandelbare[n] Entschließung“: die Umkehrung des obersten Grundes seiner Handlungsmaximen, also seines Hanges zum Bösen (RGblV. AA VI, S. 47f.). Diese Interpretation ist daher nur möglich, wenn man die Termini „Wiederge-

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4. So wie Kant die übernatürliche Zurechnung von Gnadenmitteln als Beeinträchtigung der individuellen Autonomie abweist, wendet er sich in der Religionsschrift auch gegen Schwärmerei, Aberglauben, „Illuminatism“ und „Adeptenwahn“, Thaumaturgie, außerordentliche Verstandeserleuchtung und Wunder, die die Vorschriften der Pflicht, die durch die Vernunft „ins Herz des Menschen“ eingeschrieben sind, beschneiden.194 Auch die Riten des Kirchenglaubens – Gebet, Kirchgang, Taufe und Kommunion – bringen keine besonderen Gnadengaben und keine Sündenabwaschung. Sie in die Glaubensartikel aufzunehmen, wäre „Wahn der Religion“, „Afterdienst“ und „Pfaffenthum“ als „usurpirte Herrschaft der Geistlichkeit über die Gemüther“.195 Sakramente und kirchliche Riten haben nur als moralische Haltung eine Bedeutung und erweitern die Idee einer weltbürgerlichen moralischen Gemeinschaft. Wunder hingegen, die der Ordnung der Natur widersprechen, entziehen sich dem menschlichen „Begriff“, und die Vernunft wird „wie gelähmt“, weil sie diejenigen Gesetze, nach denen Gott gegen die „bekannten“ Gesetze „Wunder“ vollbringt, nicht einsehen kann. Auch für Swedenborg – das mag auf den ersten Blick erstaunen – gibt es keine ‚echten‘ Wunder: Wunder erscheinen nur als Wunder, denn die göttliche Allmacht ist der göttlichen Vernunft und Ordnung untergeordnet und vermag nicht gegen sie zu verstoßen. Die Offenbarung, die ihm selbst zuteil geworden sein soll, trennt Swedenborg von seinem Wunderverständnis ab und betrachtet sie als exklusiv und als eine außerordentliche Gnade Gottes, ja er warnt sogar vor Nachahmungsversuchen.196 Für typische konfessionelle Irrtümer hält er hingegen die Auffassung, dass Gott jeden selig machen könne, den Wunderglauben im speziellen, eine unmittelbare Auferstehung der Toten, unmittelbare Offenbarungen und Schutzengel, die vor dem Bösen abhalten und zum Guten antreiben. All dies sind Zwangsmittel (media coacta), durch die der Mensch im Sinne einer Änderung seiner Neigung nicht gebessert wird. Gott gewährleistet lediglich die Willensfreiheit und wirkt durch sie auf den Menschen ein.197 Auch kirchliche Riten wie die Taufe wirken keinen Glauben, keine Seligkeit und keine moralische Wiedergeburt, sie stehen nur für die Fähigkeit dazu.198 An dieser Stelle wird ebenfalls deutlich, dass Kant und burt“ und „neue Schöpfung“ so versteht, wie es Kant durch den Verweis auf Joh 3,5 nahelegt, nämlich als von Gott selbst gewirkte Akte. RGblV. AA VI, S. 84. RGblV. AA VI, S. 194–200. Nur der Herr und niemand sonst kann die himmlischen Geheimnisse und vor allem den inneren Schriftsinn erkennen. Swedenborg ist es lediglich durch göttliche Barmherzigkeit vergönnt worden, mit Engeln und Geistern umzugehen (vgl. AC 5). Im Spätwerk verstärkt sich das exklusive Selbstverständnis Swedenborgs als Träger des neuen Worts und Künder einer neuen Kirche, vgl. VCR 567, 779f., 851. Vgl. Schreiben Swedenborgs an Landgraf Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt, 18.6.1771, in: Benz, Swedenborg, (wie Anm. 12), S. 310f., 157. 197 AC 4031. 198 Die Wiedergeburt geschieht nur durch den Herrn. Die Taufe bezeugt lediglich, dass der Mensch der Kirche angehört und wiedergeboren werden kann. Die Kindertaufe ist möglich, weil sie nur als Zeichen und zum Gedächtnis dient. Vgl. AC 10387, 10390f. 194 195 196

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Swedenborg gleichermaßen die Willensfreiheit gegen jede äußerliche Autorität oder kirchlich vermittelte Zurechnung von außen verteidigen und beide an der Wunderkritik des englischen Deismus und der Leibniz-Wolffschen Philosophie festhalten. 5. Wenn als Voraussetzung der moralischen Entwicklung des Menschen Freiheit gefordert wird, dann müssen alle gesetzlichen Vorschriften als heteronom und als drohender Zwang abgewehrt werden. Davon ist vor allem das Judentum betroffen, das nach dem Verständnis Kants „ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze“ ist. Diese „Zwangsgesetze“ stehen der autonomen Entscheidungspflicht des Einzelnen entgegen und heben sie durch die Forderung nach blinder Befolgung von Regeln geradezu auf. Der „jüdische Glaube“ ist mit seiner nur äußeren Gesetzlichkeit nicht auf der Unsterblichkeit der Seele aufgebaut und hat mit der inneren Gesinnung nichts zu tun. Er enthält daher nach Kants Ansicht überhaupt keinen „Religionsglauben“. Für die „allgemeine Kirche“ werde kein Gott gebraucht, der nur die Befolgung von Geboten, nicht die Änderung der Gesinnung fordere und sich nur um ein „politisches Wesen“ kümmere, nicht aber um das „künftige Leben“. Ein solcher Gott sei ganz sicher nicht „dasjenige moralische Wesen, dessen Begriff wir zu einer Religion nöthig haben“. Die „Zwangsgesetze“ des Judentums zielen lediglich auf einen weltlichen Staat ab, ihre Befolgung oder Übertretung wird irdisch belohnt oder geahndet. Die Vernunftreligion, die Kant in der Religionsschrift vorschwebt, zielt auf eine „allgemeine Kirche“ als Voraussetzung für einen „ethischen Staat Gottes“ ab. Lediglich das Christentum ist dazu in der Lage, weil es so völlig mit dem Judentum gebrochen habe und nach Kants Lesart vor allem auf der Unsterblichkeit und auf der inneren Gesinnung gründet.199 Diese tendenziöse Konstruktion des Judentums bei Kant durchzieht bereits die Arcana coelestia, auch wenn selbstverständlich einzuräumen ist, dass Kant gerade an diesem Punkt auf eine breite Tradition des literarischen Antisemitismus zurückgreifen konnte.200 Die Gründe aber, die Swedenborg zu seiner Sicht des Judentums führten, weichen von denen Kants nicht ab. Sie sind vor allem deshalb auffällig, weil sie innerhalb seines Gesamtkonzept eine ähnliche Funktion besitzen. Es geht nämlich auch bei Swedenborg vor allem um die Moral und um das Gegenüber von äußerlichem Glauben und innerlicher – moralischer – Gesinnung. Jakobs „Kirche“ orientiert sich nicht an innerer, sondern nur an äußerer Gottesverehrung.201 Das Judentum ist mit diesem äußerlichen Glauben lediglich eine rein historische Größe, 199

RGblV. AA VI, S. 124–128. Der Kantforscher Kuno Fischer hat Kants Aversion gegen das Judentum als Argument dafür benutzt, dass Lessing wohl nicht zu seinen religionsphilosophischen Quellen zu zählen ist, vgl. Bohatec, (wie Anm. 149), S. 27. 200 Es ist darum kaum nachvollziehbar, dass Bohatec aus der Übereinstimmung von Kants Sicht des Judentums mit der Semlers eine „direkte Abhängigkeit“ von Semler behauptet, wo doch Swedenborg an diesem Punkt überhaupt nicht erwähnt wird, obwohl die inhaltlichen Parallelen nicht weniger stichhaltig sind – und Kant ihn nach eigener Auskunft gelesen hat, vgl. Bohatec, (wie Anm. 149), S. 460. 201 AC 422, 8588.

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es versteht nur den historischen Sinn des Schriftbuchstabens und ist daher vom wahren Verständnis des Wortes weit entfernt.202 Juden (und Israeliten) wissen nichts um die Unsterblichkeit und das Leben nach dem Tod.203 Das Festhalten am Äußerlichen, Geschichtlichen, Materiellen, ja gleichsam an der niedrigsten irdischen Begierde (cupiditas infima terrestris), am Geiz, führt dazu, dass die Insassen der Hölle der Geizigen, die Swedenborg auf seinen Himmelsreisen beschreibt, vorwiegend Juden sind.204 Die Kirche des Herrn wurde nicht bei den Juden wiederhergestellt, weil sie das Licht der Wahrheit und die Erkenntnisse des Glaubens verfinstert haben, sondern bei den Heiden, die nicht um das Wahre des Glaubens wissen und ihn deshalb auch nicht entweihen können, ja die Wahrheit sei den Juden nach göttlicher Voraussicht nicht enthüllt worden, weil sie sie wegen ihrer materiellen Beschaffenheit nur entweihen können. Deswegen seien sie bis jetzt im Unglauben.205 Wie bei Kant ist das jüdische Gottesverständnis wegen seiner Forderung nach nur äußerlicher Erfüllung von Geboten einem „inneren“ moralischen Gesinnungswandel entgegengesetzt. Das Judentum übertrifft in seiner Neigung zur Selbst- und Weltliebe – bei Swedenborg die typische Bezeichnung für den Gegensatz zur Gottes- und Nächstenliebe – alle anderen Völker.206 6. Ein negativer Einfluss Swedenborgs lässt sich in Kants Hermeneutik der Bibel finden.207 Im Streit der Fakultäten wendet er sich gegen die „allegorisch-mystisch[e]“ Schriftauslegung, die weder philosophisch noch biblisch sei, und er verweist dabei auf Swedenborg, der das ganze Alte Testament als „fortgehende Allegorie (von Vorbildern und symbolischen Vorstellungen)“ betrachtet habe, um eine zukünftige Religion in den Text hineinzulesen und um zu vermeiden, dass der biblische Text als Zeugnis einer vergangenen „wahren Religion“ angesehen wird. Um eine solche Hermeneutik zu vermeiden, schlägt Kant aber nicht eine historische

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AC 878f., 7012. AC 2722, 2724. AC 940f., 1327. Die Juden in der Geisterwelt weinen über ihre Irrtümer, vor allem über ihren Glauben an die Verheißung des irdischen Landes Kanaan und an einen irdischen Messias (vgl. AC 3481). Swedenborg beschreibt Räuber auf dem Planeten Venus, die nicht so barbarisch sind wie die Juden. Diese werfen ihre Opfer den wilden Tieren und den Vögeln zum Fraß vor (vgl. AC 7248). 205 AC 1366, AC 3398, 6963. 206 Die Juden lieben „bis heute“ Silber und Gold nicht wegen irgendeines Nutzzweckes, sondern um des Silbers und Goldes selbst willen (vgl. AC 10407). In Swedenborgs Entwicklung verschärft sich seine Abweisung des Judentums noch weiter, dessen Quelle in der Hurerei Judas mit Thamar zu finden ist. In den Beschreibungen der Geisterwelt werden den Juden alle anderen ‚Religionen‘ vorgezogen: Mohammedaner, Afrikaner, Heiden und alle christlichen ‚Religionen‘, selbst die sonst so scharf attackierten Katholiken. Der Kontakt zwischen Juden und Christen ist in der Geisterwelt untersagt. Vgl. etwa VCR 678, 841, 845; auch AC 2602–2604. 207 Auch Johnson und Magee weisen darauf hin, dass Kant durch Swedenborgs Korrespondenzlehre und symbolische Exegese zur Entwicklung einer Hermeneutik motiviert wurde, die auf die Interpretation der moralischen Erfahrungen von Verpflichtung und Respekt und auf die ästhetischen Erfahrungen des Schönen und Erhabenen abzielt, vgl. Johnson / Magee, (wie Anm. 6), S. XIX.

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Auslegung des Textes vor, vielmehr bezeichnet er die „vorgebliche Mystik der Vernunftauslegungen“, mit der die Philosophie in einzelnen Schriftpassagen einen „moralischen Sinn“ aufspäht, „ja gar ihn dem Texte aufdringt“, als einziges „Mittel, die Mystik (z.B. eines Swedenborgs)“ abzuwenden. Das Übersinnliche muss an die moralische Vernunft geknüpft werden, um einen „Illuminatism innerer Offenbarungen“ zu vermeiden. In einem solchen Fall hätte jeder seine eigene Offenbarung, ein „Probirstein der Wahrheit“ werde damit ausgeschlossen.208 Gegen die schwärmerische Auslegung der Schrift fordert Kant eine „Aufklärung“ auf dem Feld der biblischen Hermeneutik, die sich an der moralischen Essenz von Religion orientiert: Die wirklichen, den Sinnen vorliegenden Welterscheinungen (mit Schwedenborg) für bloßes Symbol einer im Rückhalt verborgenen intelligibelen Welt ausgeben, ist Schwärmerei. Aber in den Darstellungen der zur Moralität, welche das Wesen aller Religion ausmacht, mithin zur reinen Vernunft gehörigen Begriffe (Ideen genannt), das Symbolische vom Intellectuellen (Gottesdienst von Religion), die zwar einige Zeit hindurch nützliche und nöthige Hülle von der Sache selbst zu unterscheiden, ist Aufklärung: weil sonst ein Ideal (der reinen praktischen Vernunft) gegen ein Idol vertauscht und der Endzweck verfehlt wird.209

Damit spricht sich Kant ausdrücklich gegen Swedenborgs Korrespondenzlehre aus, mit der dieser vor allem seine Verfallsekklesiologie und Christologie hinter dem Buchstaben des Schrifttextes erblickte.210 Für Kant geht es aber darum, den Geist der Moralität in der Schrift zu finden und alles, was in ihr für den historischen Glauben noch enthalten „sein mag“, auf die „Regeln und Triebfedern des reinen moralischen Glaubens“ zu beziehen, der nach Kants Verständnis innerhalb des „Kirchenglaubens“ die eigentliche Religion darstellt.211 Die Schrift bleibt zwar auch für Kant alleinige „Norm des Kirchenglaubens“, aber ihr alleiniger Ausleger ist die Vernunftreligion, gepaart mit Schriftgelehrsamkeit.212 Auf diese Weise betont Kant gleichsam die absolute Autorität der Vernunft, während er zugleich das protestantische sola scriptura als Prinzip beibehält. Allerdings: Setzt Kant mit diesem mehrfach wiederholten Gedanken einer moralischen Schriftinterpretation nicht ebenfalls voraus, dass sich hinter dem Schriftbuchstaben ein anderer als der literarische Sinn verbirgt, dessen Auslegung nun lediglich an das scharfe Schwert einer vernünftigen Moralität geknüpft wird? Fordert er nicht auch, die Schrift nur als Symbol eines ‚eigentlichen‘, in diesem Fall: moralischen Gehalts anzusehen? Bewegt er sich damit, zwar in einer anderen Richtung, aber nicht doch auf der gleichen Ebene wie Swedenborg, der durch seine ‚analogische‘ Hermeneutik den Bibeltext vor der historisch-kritischen Methode und vor der Wunderkritik der früheren Aufklärung ‚retten‘ wollte? Signifikanterweise nennt Kant weder hier noch an 208 209 210 211 212

Der Streit der Fakultäten. AA VII, S. 45f. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. AA VII, S. 191f. Vgl. Jonsson, Inge, Swedenborgs korrespondenslära. Stockholm u.a. 1969. RGblV. AA VI, S. 112. RGblV. AA VI, S. 114.

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anderen Stellen die historisch-kritische Methode der Schriftauslegung als Abwehrmittel gegen Swedenborg, sondern eine moralische Hermeneutik, die ebenfalls hinter den Text blickt.

Swedenborg in Kants Moralphilosophie Die von Kant in den Träumen genannte Ähnlichkeit der „Hirngeburten“ ist auch auf dem Feld seiner späteren Moralphilosophie zu beobachten. In den Träumen hatte Kant ja die Geisterwelt nicht per se als undenkbar und unmöglich zerschlagen, er verbannt sie vielmehr aus dem Bereich der Erkenntnis, sie geht ihn „künftig nichts mehr an“213 und verbleibt als mundus intelligibilis im Bereich der praktischen Vernunft. Hier ist sie aber Voraussetzung für seine gesamte Moralphilosophie. Es besteht kein Zweifel, dass Kant, wenn er in der zweiten Kritik die „herrliche Eröffnung“ einer „intelligibelen Welt“ durch die „Realisierung des sonst transscendenten Begriffs der Freiheit“214 preist, nicht von Erkenntnis spricht, sondern von Hoffnung, von einer Idee. Wenn er aber für die von Swedenborg abgeleitete These einer postmortalen Fortdauer der Seele jenseits von Zeit und Raum bei bloßem Anschauungswechsel und unter Beibehaltung ihrer irdischen moralischen Qualität votiert, überschreitet er da nicht sein selbstauferlegtes Schweigegebot aus den Träumen, allerdings ohne die Grenzen der Vernunft zu verletzen? Kant braucht eine intelligible Welt dringend für seine Moralphilosophie, und zwar eine Welt, die nicht ausschließlich mit einem künftigen Jenseits identisch, sondern Heimstatt des Menschen nach seinem „intelligibele[n] Substrat“215 schon während seines irdischen Lebens ist. Es muss hier nicht näher dargelegt werden, wie eng Moralität bei Kant mit Freiheit verknüpft ist, dass Freiheit nur intelligiblen Ursprungs sein kann,216 um nicht der Kausalität der Natur in Raum und Zeit zu unterliegen, dass die Antinomie der Freiheit nur durch die „kosmologische Idee einer intelligibelen Welt“217 aufgelöst werden kann, und schließlich: dass der kategorische Imperativ in seiner rein formalen Gestalt eine Tugendhaftigkeit fordert, die den menschlichen Willen ohne Beimischung sinnlicher Triebfedern in die Pflicht nimmt. Noch in der ersten Kritik hatte Kant die Freiheit im Sinne eines Vermögens, das die Ursache von Erscheinungen in der Sinnenwelt enthält, weder für wirklich noch für möglich, sondern für eine transzendentale Idee gehalten.218 Aber 213 214 215 216

AA II, S. 352. KpV. AA V, S. 94. KpV. AA V, S. 99. Das Gesetz der Autonomie der reinen praktischen Vernunft ist das „Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt“, deren „Gegenbild“ die sinnliche Welt ist. Die natura archetypa, die nur durch die Vernunft erkannt werden kann, entfaltet ihre Wirkung in der natura ectypa und ist Bestimmungsgrund des Willens. Vgl. KpV. AA V, S. 43. 217 KpV. AA V, S. 133. 218 KrV. A 557f./B 585f.

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in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hatte er aus der Freiheit nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes abgeleitet,219 um dann in der zweiten Kritik das apriorische Bewusstsein des moralischen Gesetzes zum „Factum der Vernunft“ zu erklären, das berechtigt, Freiheit gewissermaßen ebenfalls als Faktum der Vernunft anzunehmen220 – eine Tatsache, die als Verzicht auf einen Beweis für die Existenz von beidem gedeutet werden kann.221 Ungeachtet dieser philosophischen Entwicklung zum Faktum kann Freiheit in ihrer Verknüpfung mit dem moralischen Gesetz nur intelligibel begründet werden. Und ohne unsterbliche Seele, intelligible Welt, Gott und Höchstes Gut222 fällt Kants gesamte Moralphilosophie; Moral wäre ein „absurdum pragmaticum“, die Tugend eine „Chimäre“. Ohne die Annahme Gottes würde man wie ein „Narr“223 oder wie ein „tugendhafter Phantast“224 handeln, und die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens wäre ohne eine „andre Welt“ in Frage gestellt.225 Um den mundus intelligibilis vor den ihm offenbar lächerlich erscheinenden Zumutungen der Geister Swedenborgs zu retten, der ja den Zustand der postmortalen Seelen ausladend und bis ins Detail beschrieben hatte, musste Kant in den Träumen mit einem geradezu aggressiv spottenden Gestus jede Möglichkeit eines Geisterkontakts und jede Beschreibbarkeit der Geisterwelt ablehnen, um sie als Voraussetzung seines Systems erhalten zu können und sie gleichzeitig in den Bereich des Unerkennbaren zu verweisen. Davon ist jedoch nicht das System Swedenborgs insgesamt betroffen, auch nicht im Bereich der Moralphilosophie Kants. 1. In der Kritik der praktischen Vernunft nennt Kant drei Gruppen, für die das Sittengesetz gültig ist: Menschen, alle „endliche[n] Wesen“ mit Vernunft und Willen sowie, von beiden unterschieden, das „unendliche Wesen als oberste Intelligenz“.226 Schopenhauer hat vermutet, dass Kant dabei wohl „ein wenig an die lieben Engelein gedacht, oder doch auf deren Beistand in der Überzeugung des 219 220

GMS. AA IV, S. 447f. Vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 203. Das Vermögen der Freiheit ist nicht nur Möglichkeit, sondern auch Wirklichkeit. Das wird durchs moralische Gesetz bewiesen. Das moralische Gesetz als Gesetz der Kausalität durch Freiheit aber bestimmt, was die spekulative Vernunft unbestimmt ließ; es verschafft diesem Gesetz „also zuerst objective Realität“ – das ist das „Creditiv des moralischen Gesetzes“. Vgl. KpV. AA V, S. 47f. 221 Vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 99. 222 Kant unterscheidet ausdrücklich Seele, intelligible Welt und höchstes Wesen und fasst sie unter dem „praktischen Begriffe des höchsten Guts“ zusammen, vgl. KpV. AA VI, S. 133. 223 Vgl. Metaphysik L , (wie Anm. 8), S. 320. 1 224 Vgl. Metaphysik nach Volckmann, (wie Anm. 120), S. 385f.; Sala, (wie Anm. 9), S. 252. 225 Vgl. KU. AA V, S. 446. „Wenn man Gott leugnet, so ist der tugendhafte ein Narr und der Kluge Mann ein Schelm. Klugheit und Sittlichkeit könen im practischen nur Verbunden werden, wenn ich das Daseyn Gottes annehme.“ Vgl. R 4256. AA XVII, S. 485. Die Annahme einer „andre[n] Welt“ ist eine notwendige Hypothese. Sonst droht ein „absurdum practicum“. Vgl. R 5477. AA XVIII, S. 193. Stellen auch bei Sala, (wie Anm. 9), S. 252. In der KU betont Kant am Beispiel Spinozas die „Nichtigkeit“ der Verpflichtung eines moralischen Gesetzes ohne einen transzendenten Endzweck, vgl. ebd., S. 362. 226 KpV. AA V, S. 32.

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Lesers gezählt“ habe.227 Es ist fraglich, ob Schopenhauers Vermutung mit dem Argument zu entkräften ist, Kant habe lediglich betonen wollen, dass Sittlichkeit auf Vernunft gründe und mit ihr „unzertrennlich“ zusammenhänge.228 Denn wenn man aus Swedenborgs Lehre weiß, dass die „Engelein“ dort keine von Gott geschaffenen Zwischenwesen sind, sondern nichts anderes als die Seelensubstanzen von abgeschiedenen Menschen und Planetenbewohnern,229 dann ergibt sich in diesem Kontext eine andere Lesart der Rede von den „endlichen Wesen“ mit Vernunft und Willen.230 Das Sittengesetz gilt eben auch postmortal für diejenigen Wesen, die im Vergleich zu dem „unendlichen Wesen“ nur endlich sein können, und zwar – wie Kant in seinen moralphilosophischen Schriften vielfach betont – in Gestalt eines progressus infinitus hin zu der für Geschöpfe unerreichbaren Heiligkeit, ein Fortschreiten, das „nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz, und Persönlichkeit“ möglich ist.231 Dies ist zwar nicht „erweislich“. Es gründet auf der Hoffnung als Folge einer „mit Demuth verbundene[n] Selbstschätzung“232 und ist zugleich Postulat der reinen praktischen Vernunft. Das Sittengesetz gilt demnach auch für postmortale Seelen von Menschen und, unter Vorbehalt: von möglichen Planetenbewohnern, die anders als die Tiere Vernunft und Willen besitzen, im Gegensatz zu Gott nicht unendlich, aber – mit Swedenborg – auch keine Menschen mehr sind, sondern Engel und „Geister“. Diese „stille Voraussetzung“ Kants erkannte übrigens auch Schopenhauer, wenn er hinter seiner Rede von den (nichtmenschlichen) „vernünftigen Wesen“ die anima rationalis vermutete, die 227

Vgl. Schopenhauer, Arthur, Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: Ders., Sämtliche Werke/ hg. von Arthur Hübscher. Bd. 4, Leipzig 1938, S. 132. So Sala, (wie Anm. 9), S. 175f. Auch der kritische Kant rechnet noch mit der Existenz von Planetenbewohnern, obwohl keine Aussage über sie getroffen werden kann: „Die Rolle des Menschen ist also sehr künstlich. Wie es mit den Einwohnern anderer Planeten und ihrer Natur beschaffen sei, wissen wir nicht; wenn wir aber diesen Auftrag der Natur gut ausrichten, so können wir uns wohl schmeicheln, daß wir unter unseren Nachbaren im Weltgebäude einen nicht geringen Rang behaupten dürften. [...]“ Idee zu einer allgemeinen Weltgeschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). AA VIII, S. 23. In R 6050 (AA XVIII, S. 435) hält Kant eine „Große Stufenleiter Geschopfe“ zwischen Mensch und Gott für „wahrscheinlich“: „(genii), astralische Geister, Aeonen“. In der KrV (A 27/B 43) ist in eben diesem Sinne von „Anschauungen anderer denkender Wesen“ die Rede, vgl. gleichlautend Vaihinger, Hans, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. Stuttgart / Berlin / Leipzig 1922, Bd. 2, S. 345. 230 Tiere besitzen bei Kant zwar eine Seele, aber nicht Vernunft und Willen. Auch Tierseelen werden möglicherweise ewig fortdauern, aber nur sensitiv, während Menschenseelen die Kräfte ihrer Vernunft und ihres Willens entwickeln können. Tierseelen haben deshalb nicht den Status von „Geistern“ wie der menschliche Geist. Denn Geister sind „specifice denkende immaterielle substanzen, so auch ohne Verbindung mit dem Materiellen denken können“. Dies betonte Kant im Anschluss an Baumgarten in mehreren seiner Metaphysik-Vorlesungen. Vgl. für das Zitat Metaphysik K3 (1794/95). AA XXIX/1.2, S. 1026; sowie Metaphysik L1, (wie Anm. 8), S. 274–276; Metaphysik nach Mrongovius, (wie Anm. 131), S. 907; Metaphysik nach Volckmann, (wie Anm. 120), S. 449f., Metaphysik L2, (wie Anm. 120), S. 594; Baumgarten, (wie Anm. 130), §§ 777, 792–795. 231 KpV. AA V, S. 122. 232 KpV. AA V, S. 128. 228 229

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im Gegensatz zur anima sensitiva und zur anima vegetativa nach dem Tod übrig bleibt. Dieser „transcendenten Hypostase“, so Schopenhauer verwundert, habe Kant doch aber in der Kritik der reinen Vernunft „ausdrücklich und ausführlich ein Ende gemacht“!233 2. In Abweichung von Wolffs intellektualistischer Ethik, in der das Gefühl der Lust als einziger Bestimmungsgrund des Begehrens gilt,234 konstruiert Kant ein moralisches Gesetz, dem Triebfedern weder aus der Sinnlichkeit noch aus dem Streben nach Glückseligkeit beigelegt werden dürfen, weil es sonst keinen Einfluss auf das menschliche Herz gewinnen kann.235 Gute Handlungen im Sinne des moralischen Gesetzes sind nicht wegen ihres Ziels und ihrer Folgen „gut“ – ihnen läge sonst ein hypothetischer Imperativ zugrunde, sondern weil sie als Handlungen nach dem Prinzip eines der Vernunft gemäßen Willens „a n s i c h “ gut und notwendig sind. In diesem Fall basiert die Handlung auf einem kategorischen Imperativ.236 Hypothetische Imperative werden durch sinnlich und empirisch affizierte Handlungsziele determiniert. Sie sind heteronom und „taugen“ nicht zum allgemeingültigen moralischen Gesetz,237 das nicht darauf abzielt, „wie wir uns glücklich ma c h e n , sondern wie wir der Glückseligkeit w ü r d i g werden sollen“.238 Auch Swedenborg vertritt eine Gesinnungsethik, wenn auch im Gegensatz zu Kant auf der Basis einer modifizierten neuplatonischen Seelenlehre.239 Die Seele ist bei Swedenborg in anima, animus und mens geteilt. Der Mensch muss sich, um wiedergeboren zu werden, von allen Einflüssen des am mundus naturalis hängenden animus, der untersten Seelenschicht, befreien und sich hin zur gottähnlichen anima orientieren, die zur Geisterwelt oder zum mundus spiritualis gehört.240 Die mens ist dabei der Ort des Gewissens und der Willensfreiheit. Wahre Tugendhaftigkeit, bei Swedenborg das Tun des Guten und das Glauben des Wahren, wird nur in Freiheit von Sinnlichkeit erlangt. Und eine gute Handlung ist wie bei Kant nicht wegen eines Lohns oder eines Verdienstes „gut“, sondern weil sie an sich gut ist. Sie wird aus Liebe zum Guten und um des Guten willen getan.241 Wahre charitas 233

Vgl. Schopenhauer, (wie Anm. 227), S. 132. Schopenhauer teilte den Verdacht, dass gerade in der KpV der Gedanke vorhanden sei, das ewige Wesen des Menschen sei seine Vernunft. Er sah sich zu nichts anderem in der Lage, als es bei der „Assertion des Gegentheils“ zu belassen. 234 Sala, (wie Anm. 9), S. 91. 235 KpV. AA V, S. 156. Aus dem moralischen Gefühl bei Hutcheson, Shaftesbury, Rousseau und Hume wird bei Kant in der KpV die „Achtung“ vor dem moralischen Gesetz, vgl. Johnson, Commentary, (wie Anm. 4), S. 146f. 236 GMS. AA IV, S. 414 [Hervorh. im Original]. 237 GMS. AA IV, S. 433, 442; KpV. AA V, S. 28, 34, 41. 238 KpV. AA V, S. 130 [Hervorh. im Original]. 239 Vgl. Stengel, Friedemann, Emanuel Swedenborg – ein visionärer Rationalist?, in: Bergunder, Michael / Cyranka, Daniel (Hg.), Esoterik und Christentum. Religionsgeschichtliche und theologische Perspektiven. Leipzig 2005, S. 72f.; Ders., Rationalist, (wie Anm. 22), S. 159f. 240 Der äußere Mensch (entspricht dem animus in Swedenborgs vorvisionärer Seelenlehre) ist höllischen Lustreizen ausgesetzt, der innere (anima) himmlischen (AC 3928). 241 AC 9982–9984. Der Glaube, dass man belohnt wird, wenn man Gutes tut, ist nur bei Erwachsenen schädlich, nicht aber bei denen, die in der Unschuld sind, z.B. Kinder. Die – in dieser Rei-

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besteht etwa nicht darin, Armen und Bedürftigen zu helfen, sondern klug (prudenter) zu handeln; wer einem bösen Armen hilft, bewirkt nämlich Böses.242 Die Art der Ausrichtung der inneren Gesinnung ist Voraussetzung für die Wiedergeburt erst des inneren und dann des äußeren Menschen schon zu Lebzeiten, bevor seine anima aus der Geisterwelt in den Himmel versetzt wird,243 wenn im anderen Leben alle Äußerlichkeiten des Menschen entfernt sind und nur noch seine Gesinnung übrig bleibt.244 Übrigens wird auch in Kants Religionsschrift das Ideal des „Gott wohlgefälligen Menschen“ – Christus, des „göttlich gesinnte[n], aber ganz eigentlich menschliche[n] Lehrers“ – „in uns“, nämlich in unserer Vernunft gesucht, um ihm nachzufolgen.245 Bei Kant wie bei Swedenborg besteht die Anknüpfung für ein tugendhaftes Leben im inneren Menschen: entweder in der anima, die trotz des eingewurzelten Bösen mit göttlichen Überresten (reliquiae)246 versehen ist, die wiederum den Menschen zu Vernunft und Verstand überhaupt erst befähigen, oder in der Vernunft, die sich ebenfalls „in uns“ befindet und zugleich Ort des Urbildes oder der Idee einer Gott wohlgefälligen Menschheit ist. Nicht Fremderlösung, sondern individuelle moralische Qualifizierung durch eine Gesinnung, die sich nicht an sinnlichen Maximen, sondern an universalisierbaren Prinzipien orientiert – das sind auffällige Parallelen zwischen Swedenborg und Kants Moralphilosophie. 3. Nicht von der Sinnlichkeit und nicht von der eigenen Glückseligkeit wird das moralische Gesetz bei Kant abgeleitet, sondern vom Höchsten Gut als einer „unbedingte[n] Totalität,247 von der „Idee des Ganzen aller Zwecke“248 und vom „Endzweck“, der in der dritten Kritik ausdrücklich in den Bereich der praktischen Vernunft verwiesen wird, weil er nicht durch „Datis der Erfahrung“ aus der Natur geschlossen werden kann. Dass die Welt als Schöpfung mit einem Endzweck ausgehenfolge dreigestufte – Liebe im Reich des Herrn zeichnet sich bei Swedenborg allerdings durch Motive aus, die Kant im Interesse der Allgemeinheit des moralischen Gesetzes als „Triebfedern“ für den kategorischen Imperativ gerade ausschließt: eheliche Liebe, Liebe zu Kindern und „gesellschaftliche“ Liebe (amor societatis seu mutuus). Zu den Tugenden, die aus der geistigen Liebe resultieren, zählt Swedenborg gelegentlich noch die Liebe zum Vaterland und zur Kirche [!] (z.B. AC 2039, 3952, 7814). Diese Tugenden sind aber alle im Reich der Zwecke als dem Reich des Herrn gebündelt und führen zu einer Moral, die nicht sich selbst, sondern letztlich das Übergeordnete des Zweckganzen zum Ziel hat. 242 AC 8120f.; auch AC 9119–9122. 243 AC 2979 u.ö. 244 AC 1680: „homo est ibi sicut cogitat et intendit.“ 245 RGblV. AA VI, S. 63–65. Es sei schon „unbegreiflich genug“, dass dieses „Urbild“ in der Seele des schließlich natürlichen Menschen zu suchen ist. Daher hat „man“ es nicht nötig, Jesus einen übernatürlichen Ursprung zuzuschreiben. 246 Diese Überreste des Herrn im Menschen sind Triebe zum Guten und Wahren. Auf ihrer Grundlage können das die Vernunft und das Wissen im Menschen Betreffende (rationalia et scientifica) erleuchtet werden, und der Mensch besitzt durch sie überhaupt die Fähigkeit zu denken und vernünftig zu schließen (cogitare et ratiocinari). Die Überreste machen den Unterschied zum Tier aus. Vgl. AC 530, 560, 565, 857, 1738, 2280. 247 KpV. AA V, S. 108, 110. 248 Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793). AA VII, S. 279.

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stattet und von einem moralischen „Welturheber“ geschaffen ist, kann nur aus einem moralischen Grund behauptet werden.249 Als moralisches Wesen ist der Mensch deshalb selbst „Endzweck“ der Schöpfung (nicht der Natur), und die „Ordnung der Zwecke“ bewirkt, so Kant bereits in Kritik der praktischen Vernunft, dass der Mensch als Subjekt des moralischen Gesetzes und „(mit ihm jedes vernünftige Wesen)“ immer „Zweck an sich selbst“ ist, niemals Mittel.250 In den Arcana coelestia spielt der Begriff des Endzwecks ebenfalls eine zentrale Rolle. Swedenborg hat sein Verständnis des finis in enger Verbindung mit Texten aus der Leibniz-Wolffschen Philosophie entwickelt.251 Wer sich irdisch seine eigene Glückseligkeit als Tugendmotiv vorgestellt hat, der wird nicht in den Genuss der wahren himmlischen Freude kommen, die aus Lust an den Nutzwirkungen im Reich der Zwecke besteht. Alle weltlichen Vergnügungen werden dem Kriterium der Zweckhaftigkeit und der Nutzwirkung unterworfen. Gott sieht nur den Zweck, das eigentliche Leben des Menschen an. In Swedenborgs Geisterwelt werden nicht gute und böse Handlungen belohnt oder bestraft, nur der Zweck und die Absichten (fines) werden angesehen (spectantur), erst danach die aus ihnen resultierenden Handlungen.252 Ziel ist es, den inneren Menschen, der himmlisch orientiert ist, zum Endzweck des irdischen Handelns zu machen.253 Urheber aller Zwecke ist aber bei Swedenborg Gott selbst, der erster und letzter Zweck ist.254 4. In Swedenborgs Lehre fließen bei Gott alle Zwecke intelligibel zusammen im Reich der Zwecke, dem Reich Gottes, in dem eine sinnlich affizierte Moral keine Rolle mehr spielt, sondern die hinter den Ursachen und Wirkungen liegenden Zwecke und das Schöpfungsziel sichtbar sind. Hier entfalten sich nur noch „Nutzwirkungen“, die individuellen und göttlichen Zwecke sind auf höchster Ebene vereint und in eins gebracht: regnum Domini est regnum finium et usuum.255 249 250

KU. AA V, S. 453–455; RGblV. AA VI, S. 5f. KpV. AA V, S. 131; KU. AA V, S. 428, 435f. Die in Klammern gesetzte Erweiterung dürfte nicht nur den Welturheber einschließen, sondern wie oben (S. 79) „nichttierische“ Intelligenzen wie Seelen, Engel [oder Planetenbewohner]. Noch in der KrV hatte Kant die „Ordnung der Zwecke“ zugleich als „Ordnung der Natur“ bezeichnet (B 425). 251 Vgl. Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22), S. 171, 174, 179, 190f. Christian Wolff, einer der wichtigsten Autoren für Swedenborg, spricht in der Psychologia Rationalis (3. Aufl. Frankfurt a.M. / Leipzig 1740), § 689, vom finis ultimus. 252 AC 1936, 2303, 3078, 4839. Da im Jenseits kein Gericht gehalten wird, ist auch nicht von Lohn oder Strafe die Rede, sondern vom „Betrachten“ in dem Sinne, dass sich die moralische Haltung des irdischen Menschen dort offenbart und er sich damit selbst in Himmel oder Hölle versetzt. Der Herr betrachtet nur Endabsicht oder (End-) Zweck (finis) der Handlung. Ist der (End-) Zweck gut, ist alles andere auch gut, ist der (End-) Zweck böse, ist auch alles andere böse. Vgl. AC 1317. 253 AC 3928. 254 AC 3702. Die Ursachen entsprechen der Geisterwelt, die Wirkungen entfalten sich im mundus naturalis. 255 AC 696. Das gleiche Wortfeld: 3645, 3796, 6574. AC 9828 setzt das regnum Domini mit dem mundus spiritualis gleich. Vgl. auch AC 1097, 3646. Vgl. auch Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22), S. 191. Oetinger übersetzt: „[…] das Reich des Herrn ist ein Reich der Endzwecke und der Nuzbarkeiten“, vgl. Oetinger, Swedenborgs Philosophie, (wie Anm. 57), S. 67.

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Dieser in den Arcana coelestia so zentrale Terminus besitzt als Supplement zur zweiten Formel des kategorischen Imperativs256 auch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als „herrliche[s] Ideal“257 eine exponierte Stellung und ist sicherlich aus dem „corpus mysticum der vernünftigen Wesen“ als Bezeichnung der moralischen, intelligiblen Welt in der ersten Kritik258 entwickelt worden. Kant dürfte den Begriff des Reichs der Zwecke, der etwa bei Leibniz nicht vorkommt und den er von Leibniz’ Reich der Gnade ausdrücklich absetzt, von Swedenborg übernommen haben.259 Bereits in den Träumen hatte er aus der Hypothese eines mundus intelligibilis die „Regel des allgemeinen Willens“, einen „fremden Willen“ und die moralische Einheit der Menschheit als Faktum gezogen, auch wenn er die epistemologische Aussagbarkeit der Geisterwelt wie auch die Spekulationen über die Gemeinschaft mit ihr am Beispiel Swedenborgs zugleich strikt zurückwies.260 Der mundus intelligibilis als eine Gemeinschaft von Geistern bleibt als Basis der Moralität bei Kant aber bestehen.261 In der Kritik der reinen Vernunft macht die „systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen“ die intelligible moralische Welt aus, das regnum gratiae, das Baumgarten unter ausdrücklichem Hinweis auf Leibniz als pneumatische Welt bezeichnet. Diese Einheit führt in der ersten Kritik noch zur zweckmäßigen Einheit aller Dinge, also nicht nur der intelligiblen, sondern auch der sinnlichen, und sie vereinigt die praktische und die spekulative Vernunft in einer einzigen Idee.262 Auch in den Reflexionen bezeichnet Kant zu dieser Zeit das Reich der Natur selbst noch als Reich der Zwecke. Hier erscheint das „Reich der Sitten“ überdies synonym mit dem (moralischen) Reich der Zwe256

Schönecker, Dieter / Wood, Allen W. (Hg.), Immanuel Kant „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Ein einführender Kommentar. Paderborn u.a. 2002, S. 160f. Sala, (wie Anm. 9), S. 192. Kant hat den Begriff des Reichs der Zwecke der 3. Formel des kategorischen Imperatives von der Autonomie als Variante hinzugefügt, um die Lehre vom Menschen als Gesetzgeber des universalen moralischen Gesetzes mit der Lehre vom Menschen als Zweck an sich selbst zu vereinbaren. 257 GMS. AA IV, S. 462f. 258 KrV. B 836. Der Begriff des corpus mysticum bezieht sich bei Baumgarten aber auf die (einzelne) moralische Person als ganzer Geist, nicht auf die Gemeinschaft mehrerer Geister; vgl. Baumgarten, (wie Anm. 130), § 742. 259 Lediglich an drei Stellen im Gesamtwerk von Leibniz findet sich der Begriff des „Reichs der (End-) Zweckursachen“, das dem „Reich der Wirkursachen“ gegenübergestellt wird. Vgl. dazu Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22), S. 191f. Dafür verweist Kant mehrfach auf Leibniz’ Begriffe „Reich der Natur“ und „Reich der Gnade“, wobei er das „Reich der Gnade“ gerade nicht als „Reich der (End-) Zweck-Ursachen“, sondern als „Reich der Zwecke“ bezeichnet. Vgl. Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790). AA VIII, S. 250; Vorlesungen über Moralphilosophie [Mrongovius II] (1784/85), AA XXIX/1.1, S. 629 (auch: S. 610). 260 Vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 44. 261 So auch Jedan, Christoph, De disciplinering van de ervaringsdrift. Kants kritiek op Swedenborgs esoteric, in: Groniek 38 (2005), S. 260. 262 KrV. B 843; Baumgarten, (wie Anm. 130), § 389. Swedenborg hat sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen regnum gratiae und regnum naturae bei Leibniz auseinandergesetzt, in den AC ist das regnum gratiae jedoch nicht enthalten, vgl. Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22), S. 191.

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cke. Die Moraltheologie ermöglicht den Begriff eines Oberhaupts im Reich der Sitten – aus dem höchsten Wesen wird das Höchste Gut. Was Physikotheologie, Ontotheologie und Kosmotheologie nicht vermögen, das macht die Moraltheologie möglich.263 Gott ist Ursache, Schöpfer und „Baumeister“ einer Welt, die zugleich Reich der Natur und Reich der Zwecke ist, aber in der „Civitas Dei“ zusammengefasst ist, im „Himmelreich“, wo die Natur gänzlich mit dem moralischen Gesetz in Übereinstimmung gebracht wird.264 Nur durch eine intelligente Weltursache ist es möglich, Leibniz’ prästabilierte Harmonie nicht nur auf Körper und Seele, sondern auch auf die Übereinstimmung zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Gnade als dem Reich der Zwecke auszudehnen und eine Harmonie zwischen Natur und Freiheit anzunehmen.265 Und nur durch die Moral kann einer „Verbindung der Zweckmäßigkeit aus Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können, objectiv praktische Realität verschafft“ werden.266 In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird das Reich der Zwecke als „Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“ verstanden, als ein „Ganzes aller Zwecke“.267 Nur „vernünftige Wesen“, die zugleich gesetzgebend und den moralischen Gesetzen unterworfen sind, können darin Mitglied werden; hier fallen Privatzwecke und Allgemeinzwecke zusammen – man dürfte die Anknüpfung an Rousseaus volonté générale an dieser Stelle durch Swedenborg ergänzen.268 Auch nach der Differenzierung der Teleologie269 in eine physische und eine moralische in der Kritik der Urteilskraft bleibt das Reich der Zwecke apriorischer

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R 6247. AA XVIII, S. 527. Sala, (wie Anm. 9), S. 114, macht darauf aufmerksam, dass durch die Setzung des Oberhaupts im Reich der Zwecke bzw. Sitten die Autonomie des Menschen relativiert wird, der in diesem Reich zwar gesetzgebend, aber doch nur Untertan ist. Kant kann jedoch nicht umhin, sich in der Moral immer wieder auf Gott zu berufen (vgl. KpV. AA V, S. 82; GMS. AA IV, S. 433f.; Moralphilosophie Mrongovius, [wie Anm. 259], S. 629). 264 R 6149, 6159. AA XVIII, S. 469, 471. Vgl. dementsprechend in den Vorlesungen über Rationaltheologie (Mrongovius, 1783/84), AA XXVIII/2.2, S. 1294: „Wir stellen uns Gott als Regierer im Reiche der Zwecke und als Schöpfer im Reiche der Natur vor und betrachten uns in Ansehung dessen nach unserem ganzen Dasein.“ 265 Über eine Entdeckung, (wie Anm. 259), S. 250. 266 RGblV. AA VI, S. 5. 267 GMS. AA IV, S. 433; Moralphilosophie Mrongovius, (wie Anm. 259), S. 629. Der Mensch gehört sowohl zur intelligiblen Welt nach seiner Freiheit als auch zur Natur nach seiner Unterworfenheit unter deren Gesetze, vgl. KpV. AA V, S. 87. 268 So Johnson, Influence, (wie Anm. 6), S. 26–33. Kant hat Rousseau nach Johnson dort „verlassen“ und sich Swedenborg zugewandt, wo Rousseau die Herkunft der Moral aus der Sinnlichkeit behauptet. 269 Der Qualifizierung der Physikotheologie als einer missverstandenen physischen Teleologie, die höchstens als theologische Propädeutik denkbar ist (KU. AA V, S. 442), steht allerdings die immer wieder vorgebrachte These gegenüber, die Idee eines höchsten Wesens stecke in uns. Dies werde dann deutlich, wenn die theoretische Berechtigung der Physikotheologie zur Annahme unseres Strebens und Gottes selbst angefragt wird (ebd., S. 437). Auch bezögen sich

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Grundsatz für die teleologische Beurteilung der „Existenz der Dinge“.270 Die Hauptbedingung dafür, die Welt als System von Endzwecken anzusehen, besteht darin, Gott als obersten Grund im Reich der Zwecke anzuerkennen. Dies geht aber nun nicht mehr aus der physischen, sondern aus der moralischen Teleologie hervor, die den „Mangel“ der physischen Teleologie ergänzt, während erstere lediglich eine Dämonologie begründen kann.271 Während die Teleologie als physische Teleologie aus der Erkenntnis verbannt wird, gerät sie als moralische Teleologie in den praktischen Bereich und unterliegt den erkenntnisbeschränkenden Kriterien der praktischen Vernunft – die der theoretischen durch die Primatslehre allerdings vorgeordnet ist. Das Reich der Zwecke bezieht sich aber auch nach dieser Trennung auf beide Bereiche der Vernunft, obwohl eine epistemologische Differenz eingebaut worden ist. Verschiedene Interpreten272 haben ein Schwanken Kants in der Frage festgestellt, ob das Reich der Zwecke als durch Tugendhaftigkeit erreichbares Ideal zu gelten hat oder schon jetzt existiert. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird es mit dem mundus intelligibilis als einer „reinen Verstandeswelt“ identifiziert, zu der wir als vernünftige Wesen schon jetzt gehören und die auf der Basis von Kants Phänomenalismus der Sinnenwelt als Ding an sich schon jetzt entspricht.273 Auf dieser Ebene liegen die Notizen, die ein Hörer der Metaphysikvorlesung Kants 1784/85, also zur Zeit der Abfassung der Grundlegung, zum status post mortem anfertigte: Nun können wir sagen: der Tugendhafte ist schon hier im Himmel nur er ist sich deßen nicht bewußt, denn er erkennt die Dinge an sich selbst, und das vernünftige Reich unter moralischen Gesezzen betrachtet ist: das Reich Gottes und das Reich der Zweke, und er ist ein wahres Glied im Reich der Zweke, der Uebergang in die andre Welt würde blos die Anschauung seyn, das heißt in eine andre Welt kommen diese ist nur der Form nach eine andre, dem Inhalt nach aber immer dieselbe Welt, weiter können wir hierin nicht gehen.274

Hier erstreckt sich das Reich der Zwecke auf beide Welten. Wer bereits in seinem irdischen Leben die moralischen Gesetze erfüllt, befindet sich in dem Reich, das er postmortal durch einen Wechsel der Anschauung in einer anderen Form wahrnehmen wird. Mehr möchte Kant hier nicht aussagen, aber auch nicht weniger. Das alle Naturzwecke auf eine verständige Weltursache, ein Prinzip als obersten Grund im Reich der Zwecke (ebd., S. 444). 270 KU. AA V, S. 433–436, 438f. Zum Verständnis des Zweckbegriffs und zur Neubewertung der Teleologie in der KU vgl. Wahsner, Renate, Mechanism – Technizism – Organism. Der epistemologische Status der Physik als Gegenstand von Kants Kritik der Urteilskraft, in: Gloy, Karen / Burger, Paul (Hg.), Die Naturphilosophie im Deutschen Idealismus. Stuttgart-Bad Canstatt 1993, S. 1–23. 271 KU. AA V, S. 444f. Die Zwecke der Natur können a priori nicht eingesehen werden. 272 Nachweise bei Schönecker / Wood, (wie Anm. 256), S. 158f., und – bezogen auf den mundus intelligibilis und das Höchste Gut – Sala, (wie Anm. 9), S. 276, 280f., 312. 273 Vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 276. In der KrV (A 811) wird die intelligible Welt ganz anders als „eine für uns künftige Welt“ angenommen; vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 312. 274 Vgl. Metaphysik nach Volckmann, (wie Anm. 120), S. 445.

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Reich Gottes ist das Reich der Zwecke – bei Swedenborg: regnum Domini est regnum finium, nicht regnum gratiae wie bei Leibniz. Diese singuläre Stelle, die das Reich der Zwecke mit dem lediglich als Anschauungswechsel verstandenen postmortalen Zustand verbindet, ist ein klares Zitat der Auffassungen, die Kant seinem Studium Swedenborgs entnommen hat.275 Offen bleibt hier allerdings, ob denn der „Lasterhafte“ nach seinem Tod etwa nicht das Reich der Zwecke nach seiner eigentlichen Form sehen werde, ob es gleichsam die Möglichkeit gibt, durch die Übertretung der moralischen Gesetze seinen Zweck zu verfehlen und bereits jetzt in einen Raum jenseits des Reichs der Zwecke zu gelangen. Dann wäre das Reich der Zwecke nicht universal, sondern eng an die Moral geknüpft und nur den Tugendhaften vorbehalten. An anderen Stellen wird das Reich der Zwecke demgegenüber eindeutig als ein Ideal bezeichnet, das durch die Befolgung der Regeln des kategorischen Imperativs noch zustande kommen kann, obwohl man so handeln soll, als existierte es bereits jetzt:276 Die Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke, die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur. Dort ist das Reich der Zwecke eine theoretische Idee zu Erklärung dessen, was da ist. Hier ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäß zu Stande zu bringen.277

Hier erscheint die intelligible Welt nur als Voraussetzung für das Reich der Zwecke; und nur diejenigen Intelligenzen werden seine Glieder, die sich vom moralischen Gesetz leiten lassen. Der Mensch ist von göttlicher Seite lediglich mit der Fähigkeit ausgestattet, sich für das Reich der Zwecke als „würdig“ zu erweisen.278 Wenn das Reich der Zwecke aber nicht nur mit dem mundus intelligibilis, sondern auch mit der „Idee einer moralischen Welt“ und mit dem corpus mysticum aus der ersten Kritik279 identisch wäre, als dessen Glieder wir uns bereits jetzt vorzustellen haben und die von allen Zwecken und Hindernissen abstrahiert, dann kommt es zu

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Vgl. oben S. 63ff. In der Volckmann-Mitschrift taucht der Name Swedenborgs zwei Seiten später, aber ebenfalls im Abschnitt über den status post mortem auf. Auf den möglichen zweiten eschatologischen Ausgang – die Hölle – wird ab S. 446 verwiesen. Himmel und Hölle werden mit dem progressus infinitus verknüpft: „In der künftigen Welt können wir uns also nur einen Fortschritt zur Seeligkeit oder zum Elende denken, daß alles auf einem Haufen seyn wird [eine Apokatastasis – F. S.] können wir uns gar nicht vorstellen.“ 276 GMS. AA IV, S. 438f., sowie S. 462. 277 GMS. AA IV, S. 443. 278 Vgl. Vorlesungen über Natürliche Theologie nach Volckmann (1783/84), AA XXVIII/2.2, S. 1217: „[…] Nur konnte Gott ihm überwiegende Motive und Kräfte dazu geben, daß er dem göttlichen Ratschluß gemäß sich als ein Mitglied im großen Reich der Zwecke würdig machen sollte.“ Vgl. gleichlautend: Vorlesungen über die philosophische Religionslehre nach Pölitz (1783/84), ebd., S. 1113. 279 KrV. A 808/B 836.

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Kollisionen.280 Kants Schwanken in dieser Frage wird meines Erachtens in der Religionsschrift aufgelöst. Zweck (finis) der Schöpfung ist bei Swedenborg die Menschheit, weil sie als seminarium coeli die Basis für den Engelshimmel und das regnum Domini ist.281 In Kombination mit Swedenborgs Auffassung von der Willensfreiheit wird das Reich des Herrn, das nach seinem Verständnis mit dem Reich der Zwecke zusammenfällt, nur durch eine in Freiheit vollzogene Entscheidung des inneren Menschen für eine nichtsinnliche moralische Qualifizierung betreten. Wer seine Neigungen nicht am Endzweck, sondern an den Sinnen, in Swedenborgs Sprachgebrauch: an der Selbstund Weltliebe, ausrichtet, befindet sich und wird sich (postmortal) – wie bei Kant282 – in der Hölle befinden. Was für Swedenborg die Vergeistigung der einmal körperlich gewordenen Menschheit innerhalb des homo maximus bedeutet, wandelt Kant, so meine These, in der Religionsschrift zu einer Verdiesseitigung und löst damit sein von den Interpreten beobachtetes „Schwanken“ auf, ob das Reich der Zwecke nur als Ideal oder als bereits diesseitige Heimstatt der Tugendhaften zu verstehen ist. Schon 1784 hatte Kant in geschichtsteleologischer Absicht die Geschichte der Menschheit als „Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur“ betrachtet, der eine innerlich und äußerlich „vollkommene Staatsverfassung“ hervorbringen werde und zugleich die Hoffnung nähre, dass alle Menschheit ihre „Keime“ auf Erden erfüllen kann.283 Bereits hier sind implizit beide Reiche in eins gesetzt: Der progressus infinitus bewegt sich zum Höchsten Gut auf Erden hin, und es wird die Hoffnung auf eine moralische Teleologie geäußert, die nicht auf eine andere, sondern auf diese Welt abzielt. In der Religionssschrift reformuliert Kant den Reich-Gottes-Gedanken auf der Basis der protestantischen Vorstellung von der ecclesia invisibilis und begründet damit eine folgenreiche Wirkungsgeschichte: das Reich Gottes wird nunmehr als „moralisch bestimmte Gemeinschaft unter der göttlichen moralischen Weltregierung“ verstanden.284 Zu ergänzen wäre hier, dass es ja auch bei Swedenborg eine „Neue Kirche“, nämlich die des Neuen Jerusalem ist, der die maßgebliche soteriologisch-eschatologische Funktion zukommt. Und auch diese Kirche wird nicht 280

Schönecker / Wood, (wie Anm. 256), S. 159, fragen sich etwa, ob Mitglieder im Reich der Zwecke auch unmoralisch handeln können. Dann existierte dieses Reich bereits jetzt, auch wenn die Regeln des kategorischen Imperativs noch nicht verwirklicht sind. 281 AC 2039, 6697, 7069, 9237, 9941. Swedenborg hat seine Theorie des Schöpfungsplans in enger Anlehnung an Nicolas Malebranche entwickelt, vgl. dazu Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22), S. 178–180. 282 Vgl. oben S. 62ff. 283 Idee zu einer allgemeinen Weltgeschichte […], (wie Anm. 229) S. 27, 30. Mit dieser Vorstellung dürfte nicht das Reich der Zwecke gemeint sein, denn auch der ideale Staat kennt das Recht des Zwangs. Für Kant ist aber nur eine sittliche Ordnung gültig. Vgl. Schönecker / Wood, (wie Anm. 256), S. 160. 284 Murrmann-Kahl, (wie Anm. 179), S. 261, 266f., sieht hierin eine über Schleiermacher und Troeltsch bis zu Wilhelm Hermann reichende Wirkungsgeschichte mit der Gegenreaktion durch Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich begründet.

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institutionell, sondern innerlich verstanden. Bei Kant ist es das Reich Gottes „in euch“, ein „schönes Ideal“, das durch die unsichtbare Kirche oder die Tugendgesellschaft vorbereitet wird und die intelligible Welt der schon jetzt moralisch Handelnden verdiesseitigt.285 Durch kontinuierliches Fortschreiten und Annäherung an das Höchste Gut – ein verdiesseitigter progressus infinitus – kann das Reich Gottes auf Erden entstehen, wenn es auch noch „in unabsehlicher Ferne“286 ist: Der Kirchenglaube wird dann zu einem für alle einleuchtenden Vernunftglauben,287 der Tod hört auf, die Unsterblichkeit hebt an, „dem einen zum Heil, dem andern zum Verderben“, „der Statthalter auf Erden“ tritt „mit den zu ihm als Himmelsbürger erhobenen Menschen in eine Klasse“ ein, und so ist „Gott alles in allem“.288 Das Reich der Natur und das Reich der Zwecke (hier als Ideal) werden letztlich zusammengeführt, wobei Gott, der nach allgemeinen Gesetzen in beiden Reichen regiert, als Urheber dieser Zusammenführung die geforderte sittliche, auch von seinem eigenen Willen unabhängige Autonomie synergetisch zu ergänzen scheint: Es bedarf eines Gottes, um der Überzeugung „Gewicht und Nachdruck auf mein Herz“ zu verleihen, dass die Gotteserkenntnis die Moral vollenden „muß“.289 Und nur Gott selbst kann der „Urheber seines Reichs“ sein, Menschen bleibt nur die Rolle der „Urheber der Organisation“,290 ja sie sind bei ihrer Berufung in diesen „ethischen Staat“ trotz ihrer Freiheit der göttlichen Gesetzgebung „unbedingt“ unterworfen.291 Swedenborg setzt als Zielpunkt der Schöpfung die Vergeistigung des ‚guten‘ Teils der Menschheit im Reich der Zwecke – und die des ‚schlechten‘ in der Hölle, damit eine vollkommene Harmonie entstehen kann, zu der die Existenz des Bösen notwendig ist.292 Kant behält sein moralphilosophisches Unsterblichkeitspostulat mit einer ebenfalls dualistischen Eschatologie bei, aber das Reich der Zwecke (Sitten) und das Reich der Natur werden in einem dritten Ort zusammengeführt und nicht vergeistigt: im Reich Gottes auf Erden.

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RGblV. AA VI, S. 135f., 152f. RGblV. AA VI, S. 155. Der dem Kirchenglauben zugrunde liegende „historische Glaube“ ist an sich tot und wird erst durch die moralische Schriftinterpretation lebendig. Der Offenbarungsglaube aber dient bei Kant nur noch dazu, die Alleinherrschaft des Vernunftglaubens abzusichern, vgl. MurrmannKahl, (wie Anm. 179), S. 264f., 296. 288 RGblV. AA VI, S. 136. 289 Vgl. Religionslehre nach Pölitz, (wie Anm. 278), S. 1088, 1115f. 290 RGblV. AA VI, S. 152. Kant erklärt (ebd., S. 143) damit die Vereinbarkeit von Schöpfung und Freiheit für die spekulative Vernunft zu einem „undurchdringliche[n] Geheimniß“. Vgl. auch Bohatec, (wie Anm. 149), S. 562f. 291 RGblV. AA VI, S. 142f. 292 Zur Ableitung dieses Gedankens der varietas harmonica von Leibniz’ principium identitatis indiscernibilium vgl. Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22), S. 179; Jonsson, Drama, (wie Anm. 23), S. 119, 263.

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Die Grenze zwischen Kant und Swedenborg Abschließend soll die Frage nach der substantiellen Differenz zwischen Swedenborg und Kant in ontologischer und epistemologischer Hinsicht gestellt werden. Swedenborg behauptet den ontologischen Status des mundus intelligibilis und der aus ihm abgeleiteten Ethik mit dem Hinweis auf eine außerordentliche Offenbarung, die ihm der Herr selbst gewährt habe. Seinen vorvisionär unternommenen Versuch, die Unsterblichkeit der Seele empirisch-wissenschaftlich zu beweisen,293 hat er damit aufgegeben und durch eine Theophanie ersetzt, die sich dem Beurteilungsvermögen der Vernunft und der Erfahrung nach Kants Verständnis entzieht, die man also nur glauben kann oder nicht. Hinter seinen Schilderungen verbirgt sich ein durchweg neuplatonisch und aus dem philosophischen Rationalismus vor allem Leibniz’, Wolffs und Malebranches inspiriertes System,294 das von Kant zweifellos in den Arcana coelestia erkannt worden ist. Bei Kant ist der ontologische Status der Postulate der praktischen Vernunft, der in der zweiten Kritik noch ausgebaut wird295 – Gott, Unsterblichkeit, Freiheit und damit verknüpft: des mundus intelligibilis – von der spekulativen Erkenntnis streng geschieden. Aber: Die Kategorien der Noumena besitzen (nicht in der theoretischen, sondern) in der praktischen Vernunft objektive Realität.296 Durch das praktische Gesetz wird die noumenale Welt erkannt, sofern Sicherheit besteht, „dass unseren transzendenten Ideen eine objektive Realität entspricht“, obwohl dies keine Erkenntnis im spekulativen Sinn bedeutet.297 Und Postulate sind keine theoretischen Dogmen, sondern Voraussetzungen in praktischer Hinsicht, sie erweitern die spekulative Vernunft, indem sie ihren Ideen durch die praktische Vernunft objektive Realität geben. Dies berechtigt die spekulative Vernunft zu Begriffen, die sie aus sich selbst nicht zulässt. Die Postulate besitzen zwar keine korrespondierende Anschauung und theoretisch keine objektive Realität, aber für die praktische Vernunft sind die postulierten Objekte wahr und wirklich, sie besitzen „o b j e c t i v e und, obgleich nur praktische, dennoch unbezweifelte R e al i t ä t “ , sind „hinreichend beglaubigt“, für die praktische Vernunft immanent und im Begriff des Höchsten Guts vereinigt, während sie für die spekulative nur transzendent waren.298 Schwärmerei entsteht nur dort, wo die Postulate der praktischen Vernunft 293

Swedenborg, Emanuel, Prodromus philosophiae ratiocinantis de infinito. Dresdae & Lipsiae 1734, S. 268: „[...] ut ipsis sensibus animae immortalitas demonstretur“. 294 Vgl. dazu vor allem Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22); Jonsson, Drama, (wie Anm. 23). 295 Vgl. Sala, (wie Anm. 9), S. 55. 296 KpV. AA V, S. 11. 297 Sala, (wie Anm. 9), S. 128. Für Kant steht das Fürwahrhalten des Postulats „keinem Wissen“ nach, auch wenn in der Ethik die Möglichkeit eines Gegenstands aus praktischen Gründen postuliert wird und dessen Möglichkeit nicht theoretisch angesichts der postulierten Objekte, sondern angesichts des postulierenden Subjekts zu gelten hat. Vgl. auch KpV. AA V, S. 47. 298 KpV. AA V, S. 132, 134, 49, 121. Sala, (wie Anm. 9), S. 313, macht zu Recht auf die Zweideutigkeit dieses Wahrheitsverständnisses aufmerksam, die darin liegt, dass die postulierten Begriffe zwar nicht gewusst werden können, aber dennoch wahr und ihre Objekte wirklich sein

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für Erkenntnis gehalten werden. „Übersinnliche Wesen (als Gott)“ dürfen nur „praktisch“ angenommen werden, und diese Annahme darf nicht zum „Schwärmen“ führen.299 Die Realität der Begriffe der praktischen Vernunft bleibt außerhalb der Erkenntnis und erweitert sie zugleich, sie ist ihr durch die Primatslehre sogar übergeordnet, weil das gesamte menschliche Leben zuerst von moralischem Interesse ist.300 Den „leeren Platz“ des Intelligiblen, den die spekulative Vernunft als Mangel aufweist, füllt „reine praktische Vernunft durch ein bestimmtes Gesetz der Causalität in einer intelligibelen Welt (durch Freiheit), nämlich das moralische Gesetz“.301 Giovanni B. Sala hat diese Ansätze als Versuche Kants bezeichnet, dem „Glauben eine Art von Erkenntnis“ zuzusprechen – sie seien allerdings allesamt gescheitert.302 Wo Swedenborg durch außerordentliche Offenbarung die Erkenntnis ins „Übersinnliche“ erweitert, hat Kant die praktische Vernunft, die mit ihren Postulaten ebenfalls die Erkenntnis erweitert, wenn auch – wie er immer wieder betont – nur in praktischer Hinsicht. Beide Ansätze führen aber in ihrer Konsequenz zu einer Gleichsetzung von Religion und Moral,303 deren Prägung durch lutherischpietistische oder calvinistisch-pietistische Einflüsse im Falle Kants ausgesprochen fraglich ist, wie bereits Bohatec herausgearbeitet hat.304 Der Glaube an eine überirdische Zurechnung oder an die Wirksamkeit übersinnlicher Gnadengüter entfällt bei beiden zugunsten einer auf intelligibler Freiheit und auf einem Reich der Zwecke basierenden Vernunftreligion. Es ist dabei zu bedenken, worin eigentlich die grundstürzende Differenz zwischen einer Wirklichkeit, die dem irdischen oder äußeren Menschen nicht zugänglich ist und nur durch Offenbarung erkannt werden kann, und einer Wirklichkeit besteht, die gleichfalls nicht erkannt, aber dennoch für real, hinreichend beglaubigt, wahr und wirklich zu halten (zu hoffen und zu glauben) ist und die überdies die Grundlage jeden moralischen Handelns bildet. Ohne Zweifel sind die barocken Auslegungen des Alten Testaments, die „kindische“ Figur des homo maximus und die phantastischen Beschreibungen der Geisterwelt bei Swedenborg schon dem Kant der Träume ausgesprochen fremd; aber das dualistische Weltsystem und die sollen. Dies wirkt sich sogar auf den Gottesbeweis aus, der nicht theoretisch, aber im Sinne der Postulate praktisch geführt werden kann (vgl. ebd., S. 61). In der KpV erscheint der moralische Beweis als Postulat, in der KU (§ 87) wird er zum moralischen Beweis des Daseins Gottes (vgl. ebd., S. 282). In Zum ewigen Frieden (1795) wird ein Postulat dann wieder als a priori gegebener und nicht beweisbarer „praktischer Imperativ“ definiert (vgl. ebd., S. 310; AA VIII, S. 418). 299 KpV. AA V, S. 56f. 300 KpV. AA V, S. 119–121. 301 KpV. AA V, S. 49. 302 Sala, (wie Anm. 9), S. 294. 303 Bei Kant führt die Moral zur Religion, indem sie den „Endzweck aller Dinge“ mit der Freiheit verbindet. Auf diese Weise wird eine objektiv reale Verbindung zwischen der Zweckmäßigkeit der Freiheit und der Natur geschaffen. Vgl. RGblV. AA VI, S. 5. 304 Bohatec, (wie Anm. 149), S. 16.

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dualistische Eschatologie mit der daraus folgenden Ethik, die Swedenborgs Lehre zugrunde liegen, sind es nicht. Doch diese Übereinstimmung impliziert eine deutliche Grenze; sie ist nicht beim ontologischen Status, sondern beim epistemologischen Zugang zum Intelligiblen gezogen. Swedenborgs Name fällt in Kants Werk nach den Träumen insgesamt kaum noch, und wenn, dann mit negativer Konnotation. Dennoch sind Elemente seiner Lehre bei Kant immer wieder festzustellen – ein Phänomen, das als negative Rezeption bezeichnet werden kann, wenn man wie die meisten zeitgenössischen Rezensenten in den Träumen anstelle eines eindeutigen Bruchs mit Swedenborg eher eine Ambivalenz oder gar Gemeinsamkeiten mit seiner Lehre erkennt. Dass Swedenborgs Lehre sich eben gerade nicht unmittelbar aus theosophischen, hermetischen oder kabbalistischen Quellen speist, sondern in enger Anlehnung an die rationalistische Philosophie entwickelt worden ist, an Leibniz, Wolff, Malebranche, bietet eine Erklärung dafür, warum Kant ausgerechnet nach seiner Lektüre der Arcana die Grundlagen der Leibniz-Wolffschen Schulmetaphysik aus dem Bereich der Erkenntnis verbannte und gegen ihre Methode seine kritische Erkenntnislehre entwickelte. Offenbar erkannte er in Swedenborg eine mögliche Konsequenz der rationalistischen Philosophie, speziell eine Art spiritistische Konkretion des Leibnizschen Monadenmodells „in the imagination of a poet and a prophet“.305 Wenn Kant den Erkenntnisanspruch der „Träumer der Vernunft“ verwarf, die sich nach den Kriterien seiner Metaphysik als „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ mit ihren Spekulationen über den kosmologischen Zusammenhang des Universums und über das commercium corporis et animae306 beständig über die Grenzen der Vernunft hinaus bewegte, meinte er auch die Basis für die Geisterseherei aufzuheben. Gleichzeitig modifizierte er die rationale Psychologie und auch Swedenborgs Geisterweltlehre innerhalb der Postulatenlehre und in einer Vernunftreligion, die nicht ‚erkannt‘, sondern letztlich nur durch das Fürwahrhalten der Objekte eben jener Postulate erreicht werden kann, das für Kant mit einer „mehr und mehr auch theoretisch begründete[n] Überzeugung von der Realität des Übersinnlichen“307 einherging. Es dürfte angemessen sein, die metaphysische Kantinterpretation vom Anfang des 20. Jahrhunderts ernstzunehmen, die mit Max Wundt die kritische Philosophie Kants in der Theologie und diese in der (Moral-) Religion gipfeln sah und den Kern der Philosophie in der Offenbarung Gottes in der Welt erblickte.308 Swedenborg dürfte als wichtige Quelle auf diesem Weg keinesfalls zu unterschätzen sein. 305

Vgl. Jonsson, Inge, Visionary Scientist. The Effects of Science and Philosophy on Swedenborg’s Cosmology. West Chester 1999, S. 63. 306 Zum commercium bei Swedenborg und in der rationalistischen Philosophie Stengel, Rationalist, (wie Anm. 22), S. 158–166, 175–178. 307 Vgl. Wundt, Max, Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1924, S. 316; so auch Sala, (wie Anm. 9), S. 333. 308 Vgl. Wundt, (wie Anm. 307), S. 435, 372.

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Schon Hans Vaihinger hat darauf aufmerksam gemacht: Man dürfe das „positive Verhältnis Kants zu Swedenborg“, das „auch in der kritischen Zeit noch gelegentlich hindurchbricht“, weder übertreiben noch „a limine“ abweisen oder ganz hinweg leugnen, auch wenn Swedenborgs Einflüsse von Kant in praktische Ideen gewendet würden und hier dann nicht mehr „Mysticismus“ seien.309 Vaihinger wandte sich mit dieser Äußerung gegen die eingangs genannten zeitgenössischen Bestrebungen am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts, einen okkulten oder mystischen Kant zu konstruieren, wie es besonders Carl du Prel versucht hatte. Für Vaihinger war es hingegen klar, dass Kant den „modernen Mysticismus, soweit er sich an seinen Rockschössen festhalten will, energisch von sich geschüttelt“ hätte.310 Obwohl sich Kant tatsächlich an vielen Stellen gegen den Mystizismus als Schwärmerei abgegrenzt hat, wurde er jedoch gelegentlich auch von Zeitgenossen in diesen Kontext eingeordnet. Im Anhang zum Streit der Fakultäten druckte Kant auszugsweise einen an ihn gerichteten Brief eines ehemaligen Schülers, des Mediziners Carl Arnold Wilmans, ab, der auf dessen philosophischer Dissertation De similitudine inter Mysticismum purum et Kantianam religionis doctrinam (Halle 1797) beruhte.311 Ausgehend von Kants Zweiweltenlehre, nach der der Mensch sowohl für das Reich der Sinne als auch für das Reich der Sitten als einer „Welt, die wir nicht kennen“, bestimmt ist, entwickelte Wilmans eine scharfe Diastase zwischen dem „Ist“ der Welt der Sinne, die der Verstand sich selbst erschaffe, und dem „Soll“ des Reichs der Sitten, in dem die Vernunft als praktisches Vermögen des freien Willens herrscht. Das moralische Gesetz nun, das im „innern Wesen“ des Menschen verankert sei, mache den Menschen erst zum Menschen. Und es sei nicht nur zu fragen, so Wilmans, ob nach dem „Tode des Menschenkörpers“ sein Verstand sterbe und nunmehr der Vernunftgebrauch beginne, sondern auch, ob man diese Idee im Interesse der Moralität nicht auch auf den Verstand übertragen sollte. Dessen ungeachtet trage die Idee eines moralischen Reiches mit einem moralischen Welturheber zur Entstehung von Religion als Gefühl und Erkenntnis der göttlichen Gebote als Pflichten bei. Dies habe er, Wilmans, bei Kant herausgelesen, 309

Vaihinger, Kommentar, (wie Anm. 229), S. 431, 512f.; Ders., Rezension zu Immanuel Kant’s Vorlesungen über Psychologie/ hg. von Carl du Prel, in: Erdmann, Benno: Bericht über die neuere Philosophie bis auf Kant für die Jahre 1888 und 1889, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 4 (1891), S. 721–723. Vaihinger weist hier ausdrücklich auf die Gemeinsamkeiten zwischen Kant und Swedenborg in der Zweiweltentheorie der Träume und bei dem corpus mysticum in der KrV hin (vgl. oben S. 84), hält letzteres aber für den Beleg der Wandlung der „grobdogmatischen Vorstellungen“ Swedenborgs in Ideen der praktischen Vernunft bei Kant – im Gegensatz zu seinem Kommentar zur KrV. Dort wird es als Beleg für das positive Verhältnis Kants zu Swedenborg aufgeführt. Zu Vaihinger vgl. auch den Beitrag von Wouter J. Hanegraaff in diesem Band. 310 Du Prel reagierte auf diesen Vorwurf Vaihingers mit der Bemerkung, „man“ möge ihm wohl die „Originalität absprechen“, weil er sich nur „an Kants Rockschöße halte“. Er werde aber „nachweisen“, „daß diese Rockschöße in der Tat existieren“, vgl. du Prel, (wie Anm. 8), S. 26. 311 AA VII, S. 70–75.

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als er eine „Classe von Menschen“ kennenlernte, die sich „Mystiker“ nennen, aber als „Separatisten“ bezeichnet würden. Sie praktizierten keinen Gottesdienst und verwürfen alles, was nicht in Pflichterfüllung bestehe. Sie bezeichneten sich als Christen, wiewohl sie die Bibel nicht als Gesetzesbuch betrachteten, sondern nur von einem „inneren, von Ewigkeit her in uns einwohnenden Christenthum“ sprachen. Wilmans habe die „Moral und die Religionslehre“ der beschriebenen Mystiker untersucht und „im Wesentlichen ganz Ihre [Kants] Moral und Religionslehre“ wiedergefunden, mit dem Unterschied, dass sie das innere Gesetz für eine „innere Offenbarung“ und Gott für dessen Urheber hielten. Der Bibel würde von ihnen durchaus ein göttlicher Ursprung zugesprochen, jedoch erst nach dem Nachweis, dass die biblischen Vorschriften mit dem inneren Gesetz identisch seien. Die Heilige Schrift sei eben kein Gesetzbuch, sondern die „historische Bestätigung“ ihrer inneren Offenbarung – kurzum: „diese Leute“, so Wilmans, „würden (verzeihen Sie mir den Ausdruck!) wahre Kantianer sein, wenn sie Philosophen wären“. Unter ihnen gebe es aber nur selten Mitglieder höherer Stände und Gelehrte, sondern Kaufleute, Handwerker und Landbauern, „aber nie einen Theologen“, denn denen seien sie ein „Dorn im Auge“, obwohl sie ihnen nichts anhaben könnten. Von den Quäkern unterschieden sie sich nicht in den Religionsgrundsätzen, sondern darin, dass sie sich gesellschaftlich nicht absonderten. Wilmans habe unter ihnen niemals „Schwärmerei“ ausmachen können, sondern nur „freies, vorurtheilloses Räsonnement und Urtheil über religiöse Gegenstände.“ Es ist fraglich, ob Kants Anmerkung zu diesem Brief als ironische Fußnote zu interpretieren ist:312 Von Wilmans, einem „jungen Mann“, der sich jetzt den „Arzneiwisenschaften“ widme, sei wohl auch in anderen Fächern „viel zu erwarten. Wobei ich gleichwohl jene Ähnlichkeit meiner Vorstellungsart mit der seinigen unbedingt einzugestehen nicht gemeint bin.“ Hier ist nicht die Rede von den Mystikern und ihrer von Wilmans geschilderten Lehre, sondern von dem, was Wilmans selbst aus Kants Schriften herauszulesen gemeint hatte, und dies macht mehr als zwei Drittel des Briefes aus. Etwas anderes geht aus der knappen Bemerkung Kants nicht hervor. Aber immerhin ist der Entwurf eines Briefes überliefert, in dem sich Kant gegen die Behauptung eines gänzlichen Unterschieds zwischen Vernunft und Verstand und die Betrachtung des Verstands als eines „materiellen Wesen[s]“ durch Wilmans aussprach. In eine solche Behauptung könne er, Kant, sich „schlechterdings [...] nicht versetzen“.313 Daraus geht hervor, dass Kant sich nicht gegen Wilmans’ „Mystiker“ wandte, sondern gegen ein Missverständnis seiner Lehre als Diastase zwischen der Vernunft und einem materiell und sinnlich aufgefassten Verstand durch Wilmans. Die von ihm dargestellten Mystiker scheint 312 313

So Bishop, (wie Anm. 114), S. 225. Dennoch gab er Wilmans den rätselhaften Rat, seine gewagten Behauptungen zu modifizieren, damit sie „vielleicht“ auf ein „drittes haltbareres Princip [zwischen Vernunft und Verstand – F. S.] etwa führen“. Entwurf eines Schreibens an Carl Arnold Wilmans, nach dem 4.5.1799. AA XII, S. 281f.

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Kant in keine der beiden Fronten, gegen die sich der Streit der Fakultäten richtete, den „seelenlosen Orthodoxism“ und den „vernunfttödtenden Mysticism“ (als Schwärmerei),314 eingeordnet zu haben. Aus welchem Grund hätte Kant das Schreiben auch abdrucken sollen, ohne sich in der Anmerkung von Wilmans und den „Separatisten“ zu distanzieren? Gegen Orthodoxismus und Mystizismus (als Schwärmerei) setzte Kant ja die „wahre Religionslehre“, die auf der biblischen Glaubenslehre und dem „Kriticism der praktischen Vernunft“ beruht. Sie wirkt mit „göttlicher Kraft auf aller Menschen Herzen zur gründlichen Besserung“ hin und vereinigt sie „in einer allgemeinen (obzwar unsichtbaren) Kirche“.315 Ein Widerspruch zu den „Mystikern“ Wilmans’ mit ihrer inneren Offenbarung lässt sich hieraus kaum konstruieren, und Kants Position zu den Riten der vorfindlichen Kirche sind aus der Religionsschrift hinlänglich bekannt. Waren Wilmans’ Separatisten nach seinem Urteil etwa „vernünftige“, nicht „vernunfttödtende“ Mystiker? Die Rezeption der Kantischen Religionslehre und Moralphilosophie in „mystischen“ Kreisen des ausgehenden 18. Jahrhundert war indes keine Einzelheit. Wilmans hatte auf eine Arbeit des mit Kant korrespondierenden Göttinger Theologieprofessors Christoph Friedrich Ammon zurückgegriffen, der sich als Vertreter eines von ihm selbst so genannten „Offenbarungsrationalismus“ bezeichnete. Ammon hatte sich ebenfalls mit der Verwandtschaft zwischen zeitgenössischen Mystikern und der moralischen Schriftauslegung bei Kant befasst.316 Zu den Vorläufern dieser Mystiker zählte er dabei ausdrücklich die Lehre Kaspar von Schwenckfelds, Andreas Karlstadts, Valentin Weigels und Jakob Böhmes vom „inneren Worte“. Während Karlstadt und Schwenckfeld die innere Offenbarung gegen den lutherischen Dogmatismus verteidigt hätten, habe auch Weigel betont, dass die „ewige Seele“ den Heiligen Geist durch das „Einblasen Gottes“ besitze, dass also alle Erkenntnis aus dem Menschen selbst und nicht aus Büchern käme. Die Erkenntnis der Dinge komme auch bei Böhme nur zustande, wenn der Geist Gottes die „Signatur“ öffne, ansonsten bleibe alles Geredete, Gelehrte und Geschriebene „stumm“. Die Parallele zu Kant sei, so Ammon, zwar noch niemals gezogen worden, erscheine aber nichtsdestoweniger vorteilhaft. Die innere Offenbarung der Mystiker entspreche Kants aller Erfahrung vorhergehendem Sittengesetz, das in „den Tiefen unserer Vernunft“ eingeschrieben sei, uns die lebendige „Wirksamkeit des Moralgesetzes“ als „Wille der Gottheit“ aufdränge und zur Religion führe (1). Während für die Mystiker alle diejenigen, die diese „himmlische Weisheit“ nicht besitzen, nur „Lehrer des Buchstabens und der Historien“ seien, erkläre Kant allen Ge314 315 316

Der Streit der Fakultäten. AA VII, S. 59. Ebd., S. 59. Ammon, Christoph Friedrich, Ueber die Aehnlichkeit des inneren Wortes einiger neueren Mystiker mit dem moralischen Worte der Kantischen Schriftauslegung als Ankündigung der ersten Vertheilung des neuen homiletischen Preißes für das Jahr 1796. Göttingen 1796. Den Hinweis verdanke ich Bishop, (wie Anm. 114), S. 225. Die Erforschung der mystischen Gruppen, die Wilmans und Ammon konkret vor Augen hatten, ist ein Desiderat.

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schichtsglauben [in der RGblV – F. S.] für „todt“ (2). So wie die Mystiker nicht nur das äußere [moralische – F. S.] Wort, sondern die gesamte Theologie und Religion auf das „innere, himmlische Wort“ zurückführten, so leite Kant seine moralische Schriftauslegung als Deutung der äußeren [Schrift-] Offenbarung aus dem Moralgesetz ab, das der Grund aller Religion ist (3). Die Mystiker neigten zwar zum zuweilen staatsgefährdenden Schwärmertum, indem sie „Gefühle und Bilder ihrer Imaginationen für reelle Gegenstände und Wirkungen aus einer übersinnlichen Welt“ ausgaben, diesen Äußerungen des „Mysticismus“ sei aber durch Kants Untersuchungen von den „Grenzen der menschlichen Vernunft so sehr vorbeugt worden“, dass sie nicht mehr „täuschen“ könnten. Die Begriffe der Schwärmer seien durch die „Feuerprobe der Kritik“ zu „Sittengesetz, Pflicht und Tugend geläutert“ worden, „höheren Geistern“ sei der „Weg abgeschnitten“. Durch die Vernunft offenbare sich die Vernunft nach Kant nunmehr „unmittelbar“ und nicht mehr durch subjektive Theophanien, Phantasie und Visionen. In der kritischen Moralphilosophie und Religionslehre erblickt Ammon demnach eine ‚Kantianisierung‘ der mystischen Tradition durch ihre „Läuterung“ und Konzentration auf den ‚wahren‘ Kern: das innere Wort der vernünftigen Offenbarung, das zur Moral führt und – wie bei Kant – Visionen und direkte Kontakte zur übersinnlichen Welt als subjektive Imaginationen interpretiert. Kant als Erfüller und Vollender des Mystizismus von Karlstadt bis Böhme! Die Verbindung Kants mit dem Mystizismus war früher schon einmal hergestellt worden, wenn auch in einem anders akzentuierten Kontext. Johann Georg Hamann hatte bereits 1781 Kants Rede vom Ideal der einen Vernunft – Gott – in der ersten Kritik als ein „Ideal ihrer mystischen Einheit“ bezeichnet und gemeint, dass die Kritik wegen dieses Ideals auch „Mystik“ hätte heißen können. Stimmte er auf der einen Seite mit Kant in dessen Kritik an der spekulativen Theologie überein, so kritisierte Hamann vor allem Kants Diktion einer „von Materie leeren Formalität“ als Mystik. Kant konnte Hamanns Mystik-Vorwurf offenbar deshalb nicht verstehen, weil er Mystik wie später im Streit der Fakultäten als „vernunfttötend“, mithin als Schwärmerei auffasste, oder mit ihrem Begriff eine intellektuelle Anschauung verband, die er durch seine Unterscheidung von Verstand und Sinnlichkeit für ausgeschlossen hielt – eine Entscheidung, die Wilmans nach seinem Brief ausdrücklich nicht in Kants Schriften erkannt hatte. Hamann verband mit seinem Mystik-Begriff hingegen eine gegenüber der Materie feindliche, die Leibhaftigkeit des Lebens negierende, rein formale Geistigkeit, die nicht nur ein intellektuelles Gebäude ist, sondern über verschiedene Stufen zur Gottesschau führen konnte, die sich der Sprache aber verschließt. Nach Hamanns Verständnis zielte Kants transzendentale Theologie dagegen auf eben dieses Ideal ab, ja Kant schwärme „ärger als Plato in der Intellectualwelt, über Raum und Zeit“. Dass Kant seine Kritik in einen Einheitsbegriff, also in ein Ideal der Vernunft münden ließ, war für Hamann

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nichts anderes als eine „mystische Synthese“, und Kants Philosophie galt ihm auch weiterhin als eine Spielart des Platonismus.317 Bei der Rezeption Kants in diesen Kontexten spielte der Name Swedenborgs keine Rolle mehr. Aber die Ambivalenz, die von manchen schon in den Träumen erkannt wurde und Kant etwa in den Augen von Oetinger und Hahn als Parteigänger Swedenborgs erscheinen ließ, setzte sich noch in Kants kritischer Phase wirkungsgeschichtlich fort. Die Vereinnahmungen durch Zeitgenossen, die sich selbst als Mystiker verstanden und eine mystische Tradition konstruierten, die sie in Kant zugleich als erfüllt und überwunden betrachteten, unterschieden sich natürlich grundsätzlich von den paranormalen oder okkultistischen Bestrebungen der „Grenzwissenschaft“ der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis hin zu Carl Gustav Jung, der sich als Kantianer in einem swedenborgischen Sinne verstand.318 Für Kants „mystische“ Parteigänger war es aber um das moralische Gesetz als innere Offenbarung und zugleich um eine von der ritualisierten Kirchenreligion abgewandte moralische Gesinnungs- und Vernunftreligion gegangen. Diese Rezeptionsstränge zeigen, wie und in welche ambivalenten Kontexte Kants Philosophie von seinen Zeitgenossen bis in die Moderne eingeschrieben wurde.

Schluss War Swedenborg – ein „Zwillingsbruder“ Kants? Auf keinen Fall der dunkle, „andere“, ins Unbewusste Verdrängte wie bei Böhme/Böhme. Dafür sind Versatzstücke und Ähnlichkeiten der „Hirngeburten“ mit der swedenborgischen Lehre bei Kant zu deutlich erkennbar. Und ein radikaler Bruch mit dem gesamten Swedenborg ist in den Träumen nicht sichtbar. Es ist natürlich keine Frage, dass Kant ein für alle mal aus der Erkenntnis verbannt, was Swedenborg aus der Geisterwelt berichtet, und dass er den visionären Behauptungen empirischer übersinnlicher Erfahrungen eine Erkenntnislehre entgegensetzt, die solche Erfahrungen ausschließt. Die epistemologische Schranke ist fundamental. Für okkulte Phänomene ist hier – wie auch im Bereich der praktischen Vernunft – fortan kein Platz mehr: Geister wirken nicht in diese Welt.319 Ich meine jedoch mit Lewis White Beck,

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Vgl. Bayer, Oswald, Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart-Bad Cannstadt 2002, S. 47–52; Schoberth, Wolfgang, Geschöpflichkeit in der Dialektik der Aufklärung. Zur Logik der Schöpfungstheologie bei Friedrich Christoph Oetinger und Johann Georg Hamann. Neukirchen-Vluyn 1994, S. 171, 196–202. 318 Vgl. dazu den Beitrag von Paul Bishop in diesem Band. 319 Anders Florschütz, (wie Anm. 58). Die Forderung, es sei nicht nötig, (wie G. R. Johnson) einen Gegensatz zwischen Kant und Swedenborg zu konstruieren, ist daher ebenso zu kurz gegriffen wie das Argument, Kant habe die Grenze zwischen seiner „erleuchteten Wissenschaft“ und der esoterischen Sicht Swedenborgs nicht so resolut gezogen, wie gemeinhin angenommen. Vgl. Jedan, (wie Anm. 261), S. 251, 261. Jedan verzichtet auch darauf, den von ihm als „esoterisch“

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dass man nicht nur zwischen einer offiziellen und einer privaten Philosophie bei Kant unterscheiden muss, sondern kaum umhin kann, eine ganze Reihe von Prinzipien seiner vorkritischen Philosophie und – das wäre zu ergänzen – eben auch Elemente aus Swedenborgs Lehre noch in seiner kritischen Phase festzustellen, und zwar im Umfeld der Postulate der praktischen Vernunft, als regulative Prinzipen oder als Gegenstände des vernünftigen Glaubens.320 Diese Elemente finden sich im Rahmen seiner Zweiweltentheorie „in der Fassung eines doppelten ontologischen Status“321 auf der Seite der praktischen Vernunft, während sie von der theoretischen Vernunft epistemologisch abgeschnitten sind. Auf diese Weise bleibt dennoch ein Stück Swedenborg in Kant konserviert, nicht abgetrennt oder verdrängt, sondern – vielleicht bewusst – umgeformt und einverleibt.

bezeichneten Charakter der Lehre Swedenborgs im Kontext eines schlüssigen Esoterikbegriffs näher als esoterisch zu definieren. 320 Beck, Lewis White / Meerbote, Ralf u.a. (Hg.), Kant’s Latin Writings. Translation, Commentaries and Notes. 2. Aufl. New York u.a. 1992, S. 3–5. Manche dieser vorkritischen Argumente stünden geradezu explizit den Positionen von Kants offizieller Philosophie gegenüber. Beck verweist sogar auf die zuweilen vertretene Ansicht, Kant habe die Wahrheit der monadologischen Metaphysik noch behauptet, nachdem er die Erkenntnis von Noumena bereits bestritten hatte, und er habe privat dem Glauben an die Geisterwelt angehangen, noch nachdem er Swedenborg in den Träumen attackiert hatte. Letzteres bewegt sich freilich auf der Ebene der bloßen Spekulation und findet keinen Anhalt innerhalb der schriftlichen, stets distanzierten Äußerungen Kants zu diesem Thema. Den Hinweis auf Beck verdanke ich Johnson / Magee, (wie Anm. 6), S. XXI. Florschütz weist ebenfalls auf die Trennung zwischen Kants öffentlicher und persönlicher Philosophie hin und führt sie auf die philosophische Ambivalenz zwischen „rationalem Ethos und metaphysischer Ethik“ zurück. Da in Florschütz’ Ansatz die (unklar datierten) Vorlesungen überbewertet werden, gelingt es ihm nicht, die Modifikation einzelner Elemente herauszuarbeiten. Vgl. Florschütz, (wie Anm. 58), S. 70. Bereits Alois Riehl hielt (1876) die Beschäftigung mit Swedenborg und insbesondere seine Zweiweltentheorie für „private Vorstellungen“ des pietistisch erzogenen Kant, vgl. Vaihinger, Rezension, (wie Anm. 309), S. 721. 321 Sala, (wie Anm. 9), S. 217.

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Träume eines Geistersehers – Polemik gegen die Metaphysik oder Parodie der Popularphilosophie? Skizze In der Forschungsliteratur wird Kants 1766 erschienenes Buch über Swedenborg, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, vorwiegend als ein skeptischer, gleichsam im Stil Humes verfasster Angriff auf die dogmatische Metaphysik der „Leibniz-Wolffschen“ Schule in der merkwürdigen Gestalt einer Kritik an Swedenborgs angeblichen hellseherischen Fähigkeiten und Visionen einer geistigen Welt angesehen.1 Diese Interpretation gründet sich vor allem auf das dritte Kapitel des ersten Teils der Träume, das mit „Antikabbala. Ein Fragment der gemeinen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt aufzuheben“ überschrieben ist. Ich möchte dagegen behaupten, dass dieses Kapitel nicht als ernsthafte Präsentation der eigenen Meinung Kants gelesen werden sollte, sondern als eine Parodie der Popularphilosophen der Berliner Aufklärung, deren Standpunkt Kant nur vorübergehend einnahm, um seine tatsächliche Ansicht der kritischen Untersuchung zu unterwerfen. An anderer Stelle habe ich bereits erörtert, dass die Träume mehrere sprechende Autoren und Personen und verschiedene philosophische Sichtweisen enthalten.2 1

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Der Urtext dieser „überlieferten Sicht“ (received view) dürfte Ernst Ludwig Borowski mit seiner Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants [...], von Kant selbst genau revidiert und berichtigt. Königsberg 1804, S. 221–225, zuzuschreiben sein. Vgl. Gross, Felix, Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von L.E. Borowski, R.B. Jachmann und A.Ch. Wasianski. Darmstadt 1980. Nach meinem Wissen handelt es sich bei Borowski um die erste Erörterung des Ortes der Träume in der Entwicklung von Kants Denken. Die Kanonisierung der „überlieferten Sicht“ geschah durch Fischer, Kuno, Geschichte der neueren Philosophie. 6. Aufl. Heidelberg 1928, Bd. 4: Immanuel Kant und seine Lehre. Teil 1: Entstehung und Grundlegung der kritischen Philosophie. Fischers Interpretation wurde seitdem häufig und fraglos von allen bedeutenderen Kantforschern wiederholt. Eine umfangreiche Liste derjenigen Forscher, die sich der „überlieferten Sicht“ hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kant und Swedenborg angeschlossen haben, ist enthalten in: Johnson, Gregory R., A Commentary on Kant’s Dreams of a Spirit-Seer. Diss. phil. Washington: The Catholic University of America 2001, S. 297–299. Vgl. Johnson, Commentary, (wie Anm. 1), besonders Kap. 4 und 8. Alison Laywine vertritt die Ansicht, dass Kant in den ersten zwei Kapiteln der Träume mit der „angenommenen Stimme“ eines „unkritischen Metaphysikers“ spricht, vgl. Laywine, Alison, Kant’s Early Metaphysics and the Origins of the Critical Philosophy. Atascadero 1993, S. 85. Nach Laywine ist der unkritische Metaphysiker aber der frühe Kant selbst. Wir sollten Kapitel I.1 der Träume als Wiedergabe von Kants früher Metaphysik lesen. Kapitel I.2 sollte als swedenborgische reductio ad absurdum der früheren Metaphysik Kants verstanden werden. Laywine vertritt weiter die Ansicht, dass der echte Kant in der Person des antimetaphysischen Skeptikers des Kapitels I.3 der Träume auftrete, vgl. ebd., S. 85. Schließlich meint sie, dass die „angenommene Stimme“ des

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Kapitel I.1 der Träume ist eine Zusammenfassung von Kants früher Metaphysik. Kapitel I.2 stellt den Versuch Kants dar, eine zentrale Unzulänglichkeit seiner frühen Metaphysik aufzugreifen. Auf diese Unzulänglichkeit war Kant durch Rousseau hingewiesen worden, der ihn zu der Frage brachte, wie das Reich der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit mit dem deterministischen Reich der physischen Natur in Einklang gebracht werden könnte.3 In den Träumen wird die Antwort gegeben, dass Freiheit und Determiniertheit in demselben Kosmos nicht miteinander versöhnt werden können. Deshalb müssen wir den Kosmos in das Reich der Natur und das Reich der Freiheit aufteilen: in die materielle und in die geistige Welt. Die ersten zwei Kapitel der Träume sind nicht nur durch ihr gemeinsames Argument miteinander verbunden, sondern auch durch ihre Autor-Person, die ich den „ironischen Metaphysiker“ nenne. In apologetischer Absicht kniet der ironische Metaphysiker vor den populären antimetaphysischen Vorurteilen nieder, bringt aber trotzdem seine Argumente vor. Er ist ein Metaphysiker, weil er sich der metaphysischen Berufung tief verpflichtet fühlt, die er als Suche nach der Erkenntnis des Unbedingten, des Übersinnlichen und des letzten Wahren begreift. Er ist ein Ironiker, weil er einen hoch entwickelten Sinn für die Gefahren und Fallen der metaphysischen Nachforschung besitzt. Die Autor-Person des Kapitels I.3 der Träume nenne ich den „aufgeklärten Skeptiker“. Der ironische Metaphysiker vertritt eine dualistische Metaphysik, der aufgeklärte Skeptiker ist seinem Wesen nach ein epikureischer Materialist. Der ironische Metaphysiker möchte über die Erklärung empirischer Phänomene hinausgehende spekulative metaphysische Hypothesen riskieren, der aufgeklärte Skeptiker ist ein „wissenschaftlicher“ Empirist. Der ironische Metaphysiker ist demütig, weil er sich seiner Grenzen bewusst ist. Er verstärkt die Schlussfolgerungen seiner Argumente, indem er die allgemeinen Maßstäbe der Gewissheit herabsenkt. Der

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unkritischen Metaphysikers in Kapitel I.4 wiederkehre, der hier seine Irrtümer bekennt, nachdem er durch den antimetaphysischen Skeptiker gezüchtigt worden ist, vgl. ebd., S. 85. Ich stimme mit Laywine darin überein, dass die Person und die Perspektive von Kapitel I.1 der Träume Kants frühe Metaphysik darstellt. Aber ich stimme nicht ihrer These zu, dass Kapitel I.2 als swedenborgische reductio ad absurdum der frühen Metaphysik Kants zu betrachten ist. Außerdem halte ich den antimetaphysischen Skeptiker in Kapitels I.3 nicht für Kants eigene Person. In wesentlicher Übereinstimmung mit ihr befinde ich mich hinsichtlich ihrer Interpretation von Kapitel I.4. Vgl. Johnson, Gregory R., Kant’s Early Metaphysics and the Origins of the Critical Philosophy, in: Studia Swedenborgiana 11 (1999), S. 29–54. Susan Shell stellt das Problem wie folgt dar: „Die ‚Reflexionen‘ [Kants Notizen über Rousseau 1764–1765 – G.R.J.] [...] hinterlassen uns zwei Prinzipien der Welt-‚Einheit‘, zwei Kräfte der ‚Attraktion“, deren Beziehung zueinander ungelöst bleibt: ein ‚natürliche[r] instinkte des thätigen wohlwollens‘, der in der sexuellen Lust (und Ungleichheit) wurzelt, und ein nicht-instinktives ‚Wohlwollen‘, das mit der freien Gemeinschaft von Gleichen verbunden ist (AA XX, S. 165f.). Ersteres ist ‚indeterminiert‘ und destabilisierend, aber auch dynamisch; zweiteres ist determiniert und an das zeitlose Konzept eines vollkommenen moralisch-politischen Ganzen angebunden.“ Vgl. Shell, Susan, Kant’s Political Cosmology, in: Williams, Howard Lloyd (Hg.), Essays on Kant’s Political Philosophy. Chicago 1992, S. 105 [Übers. F.S.].

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aufgeklärte Skeptiker hingegen ist hochmütig, weil er sich seiner Grenzen nicht bewusst ist und die Schlussfolgerungen seiner Argumente abschwächt, indem er sich in enorme innere Widersprüche verwickelt. Im vierten Kapitel des ersten Teils der Träume – und durch den Rest des Buches hindurch – kehrt der ironische Metaphysiker wieder und versucht, den Inhalt seiner eigenen anmaßenden Theorie von der Gemeinschaft der Geister4 zu verteidigen, die in Kapitel I.2 dargelegt wird, aber nun auf moralischen und pragmatischen anstatt auf metaphysischen und spekulativen Grundlagen.

1. Was ist Popularphilosophie? Die deutsche Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts war eine locker organisierte Bewegung, die drei Generationen von Philosophen, Theologen, Journalisten, Verlegern, Medizinern, Juristen und anderen nachdenklichen Männern umfasste, die sich der Aufgabe verschrieben hatten, den Zustand der Menschheit durch populäre Aufklärung zu verbessern. Sie verstanden Aufklärung als Reform und Verbreitung von Erziehung, als Ausbreitung von Toleranz und Gedankenfreiheit, als Befreiung des Geistes von Unwissenheit und Voreingenommenheit, als Förderung des wissenschaftlichen Fortschritts und seiner Anwendung auf die Probleme der Menschheit und als Kultivierung der Manieren, der Moral und des Geschmacks. Der Bewegung gehörten solche Philosophen an wie Johann Erich Biester (1749–1816), Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821), Christian Garve (1742– 1798), Johann Jakob Engel (1741–1802), Johann August Eberhard (1739–1809), Ernst Platner (1744–1818) sowie der Buchhändler, Essayist, Romancier und Zeitungsherausgeber Friedrich Nicolai (1733–1811). Zwei Mitglieder der Berliner Akademie teilten die Ideale und den intellektuellen Stil der Popularphilosophen: Johann Georg Sulzer (1720–1779) und der außerordentlich profilierte Johann Heinrich Samuel Formey (1711–1797). Mendelssohn stand mit den Popularphilosophen in Kontakt und teilte viele ihrer Ideen, er war aber ein Denker von deutlich höherem Kaliber. Mit den Popularphilosophen und ihren Zielen waren außerdem verbunden: die Theologen und Kirchenmänner Johann Joachim Spalding (1714–1804), Johann Samuel Diterich (1721–1797), Wilhelm Abraham Teller (1734–1804), Johann Friedrich Zöllner (1753–1804) und der Oberkonsistorialrat Friedrich Gedike (1754– 1803), die Juristen und Staatsmänner Karl Franz von Irwing (1728–1801) und Christian Wilhelm von Dohm (1751–1821), die Mediziner Karl Wilhelm Möhsen

4

Vgl. AA II, S. 350.

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(1722–1795), Christian Gottlieb Selle (1748–1800) und Kants Schüler und Freund Markus Herz (1748–1803).5 Das wichtigste Sprachrohr der Popularphilosophie waren Nicolais Briefe, die neueste Literatur betreffend und die Allgemeine Deutsche Bibliothek, die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste und die Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Biesters Berlinische Monatsschrift, die Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen und später Feders Philosophische Bibliothek sowie Eberhards Philosophisches Magazin. Die Popularphilosophie vermied weitgehend strenge und technische philosophische Abhandlungen und bevorzugte Medien, die der Masse verständlicher waren, einschließlich des belletristischen Essays, des philosophischen Romans, der oftmals die Briefform von Rousseaus Julie nachahmte, sowie Paraphrasen, Lehrbücher und Sammlungen von Epigrammen und Aphorismen. Obwohl die Ziele der Popularphilosophen im wesentlichen übereinstimmten, ist es schwer, ihre Ideen zu charakterisieren, denn sie waren bewusst philosophische Eklektiker, die mehr mit der Anwendung der Philosophie auf die Welt als mit Fragen der systematischen Konsistenz befasst waren. Obwohl die meisten Popularphilosophen allerdings im Leibniz-Wolffschen Rationalismus ausgebildet waren, betrachteten sie systematische metaphysische Angelegenheiten als eine schwülstige, irrelevante Pedanterie und schreckten daher nicht vor Versuchen zurück, den Leibniz-Wolffschen Rationalismus mit Elementen des Empirismus nach Locke und Hume sowie mit der schottischen common-sense-Philosophie von Reid, Oswald und Beattie zu vermischen.6 Ihr gemeinsames philosophisches Anliegen war die Etablierung der Vernunft als Schiedsrichterin und Prüfstein aller öffentlichen Diskurse, daher war ihre Devise die „allgemeine Menschenvernunft“, die recta ratio oder der „gesunde Menschenverstand“ und der sensus communis oder der „gemeine Menschenverstand“, eine besonders formbare Auffassung, die für rationalistische, empiristische und fideistische Interpretationen offen war. Als gemeinsamer Nenner ist aber die Vorstellung von der Vernunft zu bezeichnen, die gleichermaßen intersubjektiv und kritisch aufgefasst wurde. 5

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Nützliche englischsprachige Überblicke über die deutsche Popularphilosophie liefern: Beck, Lewis White, Early German Philosophy. Kant and His Predecessors. Cambridge 1969, S. 321– 324; Beiser, Frederik, The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge 1987, Kap. 6f., besonders S. 165–169. Zum institutionellen Rahmen der Popularphilosophie vgl. Birsch, Günther, The Berlin Wednesday Society, in: Schmidt, James (Hg.), What is Enlightenment? Eighteenth-Century Answers and Twentieth-Century Questions. Berkeley 1996; Brunschwig, Henri, Enlightenment and Romanticism in Eighteenth-Century Prussia. Chicago 1974, besonders Kap. 2: The Machinery of the Aufklärung; Dülmen, Richard van, The Society of the Enlightenment. The Rise of the Middle Class and Enlightenment Culture in Germany. New York 1992. Zur schottischen common-sense-Philosophie vgl. Kühn, Manfred, Scottish Common Sense in Germany 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy. Kingston / Montreal 1987.

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Die Popularphilosophen verehrten die moderne Naturwissenschaft und tendierten in der Metaphysik zu Newtonschen oder epikureischen Spielarten des Materialismus. In der Moral zielten sie darauf ab, als Ziel des menschlichen Handelns die irdische Glückseligkeit und als Kriterium des Guten das „moralische Gefühl“ zu betrachten. In der Religion bewegten sie sich zum Deismus und zur Neologie, scheuten aber – wenn auch nur aus Gründen der Vorsicht – einen völligen Agnostizismus oder Atheismus. Sie bekämpften auch alle Gestalten von religiösem Enthusiasmus und Okkultismus, die sie als Quelle von Fanatismus, Intoleranz und Blutvergießen begriffen und die sie mit Spott und Sarkasmus attackierten. In der Anthropologie neigten sie zur psychologischen, physiologischen und auch mechanistischen Beschreibung von spirituellen Phänomenen. Sie setzten eine große Hoffnung in den wissenschaftlichen und technischen Forschritt und verteidigten die Toleranz und die Gedankenfreiheit. Allerdings wandelte sich ihr Populismus in Elitismus, wenn sie die Fragen der politischen Philosophie aufwarfen, denn die meisten hatten sich mit dem aufgeklärten Despotismus Friedrichs des Großen arrangiert, vielleicht aus Furcht, vielleicht aber auch aufgrund ihres Wunsches, die Aufklärung mit Gewalt durchzusetzen.7

2. Warum der aufgeklärte Skeptiker nicht Kants eigene Stimme ist Wenn zunächst meine Diagnose zutrifft, dass der aufgeklärte Skeptiker als Popularphilosophen zu identifizieren ist, dann kann dieser nicht Kants eigene Stimme sein. Denn Kant hegte eine jahrelange Verachtung gegenüber der Popularphilosophie. Beispielsweise drückte er in einem Brief an Lambert vom 31. Dezember 1765, als die Träume entweder gerade in der Presse oder bereits frisch gedruckt waren, klar seine Missachtung der Popularphilosophie aus: Sie klagen mein Herr mit Recht über das ewige Getändel der Wizlinge und die ermüdende Schwatzhaftigkeit der itzigen Scribenten vom herrschenden Tone, die weiter keinen Geschmak haben, als den, vom Geschmak zu reden. Allein mich dünkt, daß dieses die Euthanasie der fal7

Gotthold Ephraim Lessing war wie Mendelssohn ein Denker von weitaus größerem Format als die Popularphilosophen, für deren behagliches Verhältnis zum Despotismus er besondere Verachtung übrig hatte. Am 25. August 1769 schrieb er an Nicolai: „Sonst sagen Sie mir von Ihrer Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts. Sie reduciert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen, als man will. Lassen Sie es aber doch einmal einen in Berlin versuchen, über andere Dinge so frei zu schreiben, als Sonnenfels in Wien geschrieben hat; lassen Sie es ihn versuchen, dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen, als dieser sie ihm gesagt hat; lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme erheben wollte, wie es itzt sogar in Frankreich und Dänemark geschieht: und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist.“ Briefe von und an Lessing 1743–1770, hg. v. Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Georg Braungart und Klaus Fischer. Frankfurt/M. 1987 (Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden; Bd. 11/1), S. 622f.

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schen Philosophie sey, da sie in läppischen Spielwerken erstirbt und es weit schlimmer ist, wenn sie in tiefsinnigen und falschen Grübeleyen mit dem Pomp von strenger Methode zu Grabe getragen wird. Ehe wahre Weltweisheit aufleben soll, ist es nöthig, daß die alte sich selbst zerstöhre, und, wie die Fäulnis die vollkommenste Auflösung ist, die iederzeit vorausgeht, wenn eine neue Erzeugung anfangen soll, so macht mir die Crisis der Gelehrsamkeit zu einer solchen Zeit, da es an guten Köpfen gleichwohl nicht fehlt, die beste Hofnung, daß die so längst gewünschte große revolution der Wissenschaften nicht mehr weit entfernet sey.8

Dieselben Ansichten wiederholt Kant im Vorwort der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1781, wo er den metaphysischen und methodologischen Eklektizismus der Popularphilosophen als Zynismus darstellt, der aus der Enttäuschung über die fruchtlosen Schwankungen der Philosophie zwischen Dogmatismus und Skeptizismus geboren worden sei: Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentism, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften, aber doch zugleich der Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung derselben […]. Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann. Auch fallen jene vorgebliche Indifferentisten, so sehr sie sich auch durch die Veränderung der Schulsprache in einem populären Ton unkenntlich zu machen gedenken, wofern sie nur überall etwas denken, in metaphysische Behauptungen unvermeidlich zurück, gegen die sie doch so viele Verachtung vorgaben. (A X)

Im selben Vorwort verteidigt Kant später seinen trockenen und scholastischen Stil gegenüber den üblichen Einwänden der Popularphilosophen unter Berufung auf die unvermeidlich „unpopulare“ Beschaffenheit der ersten Philosophie und erklärt geradezu zum Trotz, dass „diese Arbeit keineswegs dem populären Gebrauche angemessen werden könnte“ (A XVIII). Ganz am Ende der Kritik kehrt Kant zur Popularphilosophie zurück und charakterisiert ihre Betonung des sensus communis als methodologischen Naturalismus und dessen Mangel an wissenschaftlicher Stringenz als bloße Misologie, auf Grundsätze gebracht, welches das Ungereimteste ist, die Vernachlässigung aller künstlichen Mittel, als eine eigene Methode angerühmt, seine Erkenntniß zu erweitern.

Den Popularphilosophen empfiehlt er dann, die Demut der gewöhnlichen Menschen anzunehmen, die der gemeinen Vernunft [folgen], ohne sich ihrer Unwissenheit als einer Methode zu rühmen, die das Geheimniß enthalten solle, die Wahrheit aus Demokrits tiefem Brunnen herauszuholen (A 855/B 883).

Im Vorwort der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten greift Kant 1785 die Popularphilosophen an, weil sie

8

AA X, S. 56f.

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das Empirische mit dem Rationalen dem Geschmacke des Publicums gemäß nach allerlei ihnen selbst unbekannten Verhältnissen gemischt zu verkaufen gewohnt sind, die sich Selbstdenker, andere aber, die den bloß rationalen Theil zubereiten, Grübler nennen.9

Einige Abschnitte später erklärt Kant, dass die Philosophie, „welche jene reine[n] Principien unter die empirischen mischt, den Namen einer Philosophie nicht“ verdiene.10 Kant räumt ein, dass die Grundlagen der Moralphilosophie für die „Popularität und Angemessenheit zum gemeinen Verstande“11 geeigneter sind als die Grundlagen der Metaphysik, aber er weist das methodisch unkritische Vorgehen der Popularphilosophen zurück.12 Noch ausführlicher kritisiert Kant die Popularphilosophie in der zweiten Auflage der ersten Kritik 1787: Die „Kritik der Vernunft […] kann niemals populär werden“ (B XXXIV). Kant lobt auch Christian Wolff als „Urheber des bisher noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland“. Er habe uns gezeigt, „wie durch gesetzmäßige Feststellung der Principien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei“, und zwar im Gegensatz zur „geschwätzigen Seichtigkeit unter dem angemaßten Namen der Popularität“ (B XXXVf.). Kant meint weiter, dass nur die Kritik der spekulativen Vernunft einen Skandal verhüten könne, der die zwangsläufige Folge sein werde, wenn die Popularphilosophie mit ihrer Popularisierung des metaphysischen Dogmatismus bei den Massen erfolgreich sei. Das Projekt der dogmatischen Metaphysik will die vorrationalen, praktischen Überzeugungen des gemeinen Mannes über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit auf theoretischer Basis rekonstruieren. Die erste Kritik zeigt aber, dass dieses Projekt zum Scheitern verurteilt ist. Sein Scheitern wird den Glauben an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit niederreißen und „Materialism, Fatalism, Atheism, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und Aberglauben, die allgemein schädlich werden können“, die Tür öffnen (B XXXIV).13 Der Skandal, der durch die wahllose Popularisierung der Schulmetaphysik ausgelöst wird, wird wahrscheinlich die Hüter der öffentlichen Ordnung dazu veranlassen, die Gedankenfreiheit und deren Äußerung zu beschneiden. Dieses Ende kann nur vermieden werden, wenn die Vernunft eine präventive Selbstzensur ausübt und dadurch ihre Interessen wieder in Harmonie mit den Interessen der öffentlichen Ordnung bringt. Diese Selbstzensur schließt die Bewahrung der „unpopula9 10 11 12 13

GMS. AA IV, S. 388. GMS. AA IV, S. 390. AA IV, S. 391. GMS. AA IV, S. 391f. Diese Argumentationslinie ist deutlich von Friedrich Heinrich Jacobis These beeinflusst, dass Philosophie nur zum Nihilismus führt, wenn sie versucht, ihre Grundlagen den Auffassungen des common sense anzupassen. Zur Beziehung zwischen Kant und Jacobi vgl. Beiser, (wie Anm. 5), Kap. 2 und 4.

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ren“ Natur der ersten Philosophie ein. Einige Gestalten des göttlichen Feuers können und sollen nicht vom Olymp herabgebracht werden. Die Kritik der reinen Vernunft verkörpert genau diese präventive Selbstzensur der Vernunft. In der Kritik der praktischen Vernunft fordert Kant: „Consequent zu sein, ist die größte Obliegenheit eines Philosophen“, und dann beobachtet er: Die alten griechischen Schulen geben uns davon mehr Beispiele, als wir in unserem synkretistischen Zeitalter antreffen, wo ein gewisses Coalitionssystem widersprechender Grundsätze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit erkünstelt wird, weil es sich einem Publicum besser empfiehlt, das zufrieden ist, von allem etwas und im ganzen nichts zu wissen […].14

In einem Brief an Borowski vom März 1790 macht Kant für die Ausbreitung der Schwärmerei die von den Popularisierern angeheizte „allgemein ausgebreitete Lesesucht“ verantwortlich, die sich damit begnüge, „gleichsam den Rahm der Wissenschaften in Registern und summarischen Auszügen abzuschöpfen“.15 Als Heilmittel gegen den Geist des Dilettantismus verschreibt er den Geist der Gründlichkeit. Ihrerseits waren die Popularphilosophen gegen die kritische Philosophie fast einstimmig feindlich eingestellt. Nach Frederik Beiser gehörten sie gewöhnlich zu den bittersten Gegnern Kants. Mehr als zwei Jahrzehnte attackierten sie seine Philosophie in unzähligen Traktaten, Rezensionen und Aufsätzen. Es gab auch Zeitungen, die sich dem Kritizismus Kants widmeten, etwa Feders Philosophische Bibliothek und Eberhards Philosophisches Magazin. […] In den 1780er und 1790er Jahren bildeten die Popularphilosophen und die Glaubensphilosophen einen einzigen Chor, der vereint war, indem er Kant einer einzigen Anklage bezichtigte: des Hume’schen Solipsismus oder des Nihilismus. […] Allerdings kann es sich keine Geschichte der Philosophie Kants nach der ersten Kritik erlauben, die Popularphilosophen zu ignorieren. Sie bildeten die große Mehrheit von Kants frühen Gegnern, und der größte Teil seiner frühen Polemik war unmittelbar gegen sie gerichtet.16

Kurzum, wenn der aufgeklärte Skeptiker ein Popularphilosoph ist, gibt es einen guten Grund zu bezweifeln, dass er der Sprecher der eigenen Ansichten Kants ist. Und es gibt einen guten Grund, sein Porträt gründlich nach Elementen der Parodie zu durchsuchen. Obwohl die gesamten Träume anonym veröffentlicht wurden, gibt es zweitens gute Gründe, den ironischen Metaphysiker der Kapitel I.1 und I.2 mit dem Kant der früheren Phasen seiner Laufbahn zu identifizieren. Da Kapitel I.1 der Träume Kants frühe Metaphysik zusammenfasst und Kapitel I.2 als natürliche Weiterentwicklung dieser Ideen dargestellt wird, ist der ironische Metaphysiker die Person, durch die der frühe Kant spricht. Implizit in Kapitel I.3 und explizit in Kapitel I.4 der Träume wird, wie wir sehen werden, die Person des aufgeklärten Skeptikers dennoch als eine Maske enthüllt, die sich der ironische Metaphysiker aufgesetzt 14 15 16

KpV. AA V, S. 24. AA XI, S. 141. Beiser, (wie Anm. 5), S. 167f. [Übers. F.S.].

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hat, um eine Selbstkritik seines Standpunkts anzubieten – eine Selbstkritik, die aber nicht entworfen wird, um die Hypothese der Geisterwelt zu zerstören, sondern um sie auf neue Fundamente zu schieben. Der aufgeklärte Skeptiker ist also nicht Kants Maske, sondern eine Maske, die von Kants Maske angezogen wird. Während drittens die Ironie des ironischen Metaphysikers schmeichlerisch und unsicher ist und dazu dient, seine Positionen durch die Dämpfung ihrer Anmaßungen zu stützen, wird die Ironie des aufgeklärten Skeptikers als ungeschminkt und unbefangen dargestellt. Sie dient dazu, sowohl seine Positionen als auch seine Anmaßungen zu untergraben. Darüber hinaus sind die Argumente des aufgeklärten Skeptikers konsequenterweise ganz offenkundig fragwürdig. Wenn die „überlieferte Sicht“ (received view)17 richtig wäre, würden wir genau das Gegenteil erwarten: Kant würde seinen Gegner nicht mit einer schmeichlerischen und heilsamen Ironie und seine eigene Position nicht mit einer ungeschminkten, selbstzerrüttenden Ironie ausgestattet haben. Und er würde nicht offensichtlich fragwürdige Argumente zur Untermauerung seiner eigenen Position dargeboten haben. Worin besteht dann aber die Funktion des Kapitels I.3 der Träume? Ich behaupte, dass sein Zweck darin besteht, die Hypothese von der Geisterwelt dem Maßstab der aufgeklärten rationalistischen Kritik in Gestalt eines Vorspiels zu unterziehen, um sie danach so zu rekonstruieren, dass sie gegenüber solch einem Kritizismus immun ist. Aber warum wird diese Kritik mit fragwürdigen Argumenten und einer selbstzerrüttenden Ironie dann kompromittiert? Wenn Kant dachte, dass die Position des aufgeklärten Skeptikers gänzlich selbstzerrüttend wäre, hätte er sie schließlich überhaupt nicht für notwendig gehalten, um die Hypothese von der Geisterwelt auf neuen Grundlagen zu rekonstruieren. Offensichtlich musste Kant die Position des aufgeklärten Skeptikers mit all ihren Mängeln berücksichtigen, und zwar als hinreichend mächtig, um die Hypothese der Geisterwelt, wenn schon nicht umzustürzen, dann aber doch von ihren Fundamenten zu schieben. Aber welchen Aspekt der Position des aufgeklärten Skeptikers nahm Kant ernst? Sowohl der ironische Metaphysiker als auch der aufgeklärte Skeptiker benutzen zwei Konzepte: den sensus communis und die Erfahrung. Der ironische Metaphysiker appelliert an den sensus communis, um seine Hypothese von der Geisterwelt zu stützen, und der aufgeklärte Skeptiker appelliert an ihn, um sowohl die Metaphysiker als auch die Geisterseher als Schwärmer anzugreifen, die aus ihrer eigenen eigentümlichen Intuition einen sensus privatus konstruieren. Beide appellieren auch an die Erfahrung: der Metaphysiker, um seine Hypothese von der Geisterwelt zu begründen, der Skeptiker, um sie umzustürzen. Ich möchte die Lesart vorschlagen, dass Kant die Sache des aufgeklärten Skeptikers bei seiner Zurückweisung von Enthusiasmus und Illuminismus teilt, wenn er alle Vorstellungen an die Erfahrungen und an den sensus communis bindet. Beispielsweise bezieht sich Kant in demselben Brief an Lambert von 1765, in dem er 17

Vgl. Anm. 1.

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seinen Spott über die Popularphilosophie ausgießt, geradezu religiös auf den „Probierstein der allgemeinen menschlichen Vernunft“.18 Wegen dieses „Probiersteins“ hielt es Kant für notwendig, die Hypothese von der Geisterwelt auf der Grundlage der intersubjektiv verfügbaren und nachweisbaren Erfahrung zu rekonstruieren: durch die Erfahrung der moralischen Pflicht der praktischen Vernunft. Hieraus lässt sich die pragmatische Wende in Kapitel I.4 der Träume erklären, wo nahe gelegt wird, dass nicht die theoretische, sondern die praktische Vernunft uns einen Grund dafür bietet, daran zu glauben, dass es so etwas wie die Geisterwelt Swedenborgs wirklich gibt.

3. Gemeine versus Geheime Philosophie Kapitel I.3 der Träume besteht aus neun Abschnitten. Die Überschrift „Anti-Kabbala – Ein Fragment der gemeinen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt aufzuheben“ spiegelt passend die Überschrift von Kapitel I.2: „Ein Fragment der geheimen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt zu eröffnen“. Durch die Bekanntgabe eines Fragments der „gemeinen“ Philosophie nimmt die Überschrift sowohl die Diktion der Popularphilosophie und ihre dahinter liegende Bezogenheit auf den sensus communis offen vorweg. Die Überschrift ist also voller Ironie. Erstens steht ihre empiristische Selbstcharakterisierung als „gemeine Philosophie“ ihrer elitistischen Zurückweisung der Geisterseherei als einem bloßen Aberglauben der „gemeinen“ Menschen gegenüber. Zweitens besteht das Ziel der „gemeinen Philosophie“ genau darin, eine weitere Gemeinschaft zwischen der natürlichen Welt mit der Geisterwelt aufzulösen, während das Ziel der „geheimen Philosophie“ darin besteht, diese Gemeinschaft nicht etwa zu verbergen, sondern zu eröffnen. Die Konstruktion der neuen Autorperson beginnt bei den ersten Worten des Kapitels, und zwar mit einer Frage: Aristoteles sagt irgendwo: Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne. Mich dünkt, man sollte wohl den letzteren Satz umkehren und sagen können: wenn von verschiedenen Menschen ein jeglicher seine eigene Welt hat, so ist zu vermuthen, daß sie träumen.19

Diese Passage begründet klar die Bezogenheit des aufgeklärten Skeptikers auf den sensus communis. Zwei Punkte sind an diesem Zitat dennoch rätselhaft. Erstens ist das Zitat auffällig locker, unklar und ungelehrt: „Aristoteles sagt irgendwo […]“. Zweitens stellt Aristoteles diese Behauptung an keiner Stelle auf. Vielmehr handelt es sich um das Zitat des Diels-Kranz-Fragments 89 von Heraklit: „[Heraklit sagt:] 18 19

AA X, S. 55. AA II, S. 342. Kant verwendet dieses Zitat auch in der Anthropologie von 1798, schreibt es aber keinem Autor zu, vgl. AA VII, S. 190.

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Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt [koinon kosmon], doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab an seine eigene [idion].“20 Bemerkenswert ist ferner die eher gleichgültige und oberflächliche Art, mit der der letzte Satz einfach verkehrt wird, um etwas anderes auszusagen, wo doch immerhin die Autorität des Aristoteles aufgerufen wird. Art und Gebrauch dieses Zitats sind nach Eva Brann typisch für die philosophes der französischen Aufklärung. Sie verwendeten die klassischen Philosophen, um ihre sehr modernen Anliegen zu unterstützen und bedienten sich dabei „einer zweckdienlichen Lockerheit bei ihrem Studium und ihrer Auslegung: Sie wurden entschärft, indem sie benutzt, aus dem Kontext genommen und in Etikette umgemünzt wurden“.21 Branns Ansicht trifft ebenso auf die deutsche Popularphilosophie zu. Der Abschnitt erörtert weiter, dass die zeitgenössischen scholastischen Metaphysiker, die von Wolff und Crusius verkörpert werden, ständig den sensus communis durchkreuzen: Sie sind „Luftbaumeister der mancherlei Gedankenwelten […], deren jeglicher die seinige mit Ausschließung anderer ruhig bewohnt“. Wolff beschäftigt sich wenig mit Erfahrung, sondern mehr mit „erschlichenen Begriffen“, und Crusius mit der „magische[n] Kraft einiger Sprüche vom Denklichen und Undenklichen“.22 Der Skeptiker rät Geduld mit dem „Widerspruche ihrer Visionen […] bis diese Herren ausgeträumt haben“: Denn wenn sie einmal, so Gott will, völlig wachen, d.i. zu einem Blicke, der die Einstimmung mit anderem Menschenverstande nicht ausschließt, die Augen aufthun werden, so wird niemand von ihnen etwas sehen, was nicht jedem andern gleichfalls bei dem Lichte ihrer Beweisthümer augenscheinlich und gewiß erscheinen sollte, und die Philosophen werden zu derselbigen Zeit eine gemeinschaftliche Welt bewohnen, dergleichen die Größenlehrer schon längst inne gehabt haben, welche wichtige Begebenheit nicht lange mehr anstehen kann, wofern gewissen Zeichen und Vorbedeutungen zu trauen ist, die seit einiger Zeit über dem Horizonte der Wissenschaften erschienen sind.23

Während die dogmatischen Metaphysiker Träumer in ihren eigenen Welten sind, so sind die quantitativen Naturwissenschaftler, verkörpert durch Mathematiker und Physiker, weitgehend wach und bewohnen eine gemeinsame Welt. Der aufgeklärte Skeptiker betrachtet die quantitativen Wissenschaften als Modell der intersubjektiv beweisbaren und nachprüfbaren Erkenntnis, der die Philosophen nacheifern sollten. Er ist, kurz gesagt, der Anwalt dessen, was später zu der Bezeichnung „Szientismus“ gelangte: der Einsatz der Methoden der Naturwissenschaften in der Philosophie und in den Humanwissenschaften. Es ist daher eine selbstzerrüttende Ironie, wenn er die Passage mit einer Berufung auf das Schreckgespenst der modernen 20 21 22 23

Diels, Hermann (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. 4. Aufl. Berlin 1922, Bd. 1, S. 95. Brann, Eva T.H., The Roots of the Enlightenment, in: Rushder, William / Masugi, Ken (Hg.), The Ambigous Legacy of the Enlightenment. Lanham 1995, S. 13. AA II, S. 342. AA II, S. 342.

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Wissenschaft, auf die besondere Providenz („so Gott will“) und auf Ziele beginnt, die eine Transformation der Philosophie auf der Basis astrologischer „Zeichen und Vorbedeutungen“ prophezeien, die „über dem Horizonte der Wissenschaften erschienen sind“. Auf diese Weise erweist sich der skeptische Widerstand gegen den Aberglauben selbst als nicht weniger abergläubisch.

4. Träumer der Vernunft versus Träumer der Empfindung Der zweite Abschnitt behauptet eine Affinität zwischen den „Träumern der Vernunft“ und den „Träumern der Empfindung“, die auch diejenigen mit einschließt, „so bisweilen mit Geistern zu thun haben“. Die Verwandtschaft beruht auf der Tatsache, dass beide Gruppen von Träumern behaupten, Dinge zu sehen, die „kein anderer gesunder Mensch sieht“ und „ihre eigene Gemeinschaft mit Wesen haben, die sich niemanden sonst offenbaren, so gute Sinne er auch haben mag“.24 Der Skeptiker beginnt dann seine kritische Analyse der Träumer: Es ist auch die Benennung der Träumereien, wenn man voraussetzt, daß die gedachte Erscheinungen auf bloße Hirngespenster auslaufen, in so fern passend, als die eine so gut wie die andere selbst ausgeheckte Bilder sind, die gleichwohl als wahre Gegenstände die Sinne betrügen.25

Es ist erwähnenswert, dass die Analyse des Skeptikers mit der ausdrücklichen Voraussetzung beginnt, dass die Träumer der Vernunft und der Empfindung lediglich träumen, dass ihre Visionen und Erscheinungen bloße Wahnvorstellungen sind, die als Produkte der Einbildung des Gehirns erklärt werden müssen. Aber der ironische Metaphysiker aus Kapitel I.2 der Träume stellt ausdrücklich die Vermutung in Frage, dass die „Träume“ der Geisterseher nur Träume sind. Er legt stattdessen nahe, dass ihre Visionen echte symbolische Einflüsse aus einer übersinnlichen Welt sein könnten. So beginnt der Skeptiker seine Behandlung der Geisterseher, indem er eben das annimmt, was er beweisen muss: dass nämlich die geistigen Visionen nichts anderes sind als psychologische Ereignisse. Kurzum: Die gesamte Kritik des aufgeklärten Skeptikers betrachtet gegen seinen Gegner das erst zu Beweisende als einen feststehenden Fakt. Dies stellt die Interpreten vor eine Alternative. Wenn sie Kant mit dem aufgeklärten Skeptiker identifizieren wollen, dann müssen sie daraus schließen, dass Kant ein bemerkenswert armseliger Geist war, und zwar in der Tat so armselig, dass er nicht einmal eine berechtigte Kritik an einer Position anzubringen vermochte, die er selbst gerade im vorhergehenden Kapitel autorisiert hatte. Wenn wir uns hingegen nicht so schnell anmaßen wollen, bessere Denker zu sein als Kant, dann müssen wir die Möglichkeit bedenken, dass er absichtlich eine 24 25

AA II, S. 342. AA II, S. 342f.

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offenkundig fragwürdige Argumentation vorlegt, vielleicht als Parodie, vielleicht als Schulbeispiel in den typischen Grenzen der aufgeklärten Popularphilosophie. Der Skeptiker fährt dann fort, uns vor der Annahme zu warnen, die zwei Arten des Träumens seien in ihrem Ursprung so ähnlich, dass wir die eine benutzen können, um die andere zu erklären: […] allein wenn man sich einbildet, daß beide Täuschungen übrigens in ihrer Entstehungsart sich ähnlich gnug wären, um die Quelle der einen auch zur Erklärung der andern zureichend zu finden, so betrügt man sich sehr.26

Diese Aussage macht nicht deutlich, welche Form des Träumens gemeint ist. Sie führt zu der Schlussfolgerung, dass die Herkunft der einen Art des Traumes kein Licht auf die jeweils andere zu werfen vermag. Dies wirft wiederum die Frage nach der Bedeutung des Buchtitels auf: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. In diesem Motto scheint ja das Versprechen zu liegen, dass man die eine Art von Träumen durch den Bezug auf die andere erklären kann.

5. Psychologie und Physiologie der Geisterseherei Der Skeptiker verschreibt sich im Rest des zweiten Abschnittes und in den Abschnitten 3 bis 8 dem Vorschlag einer Deutung, die die Geisterseherei gänzlich als psychologische und physiologische Abnormalität herabsetzt. Erstens sieht der Skeptiker einen Unterschied zwischen dem eigentlichen Träumer und dem „wachende[n] Träumer“. Träumer und Tagträumer sind gleichermaßen in „Erdichtungen und Chimären“ befangen, die von ihrer „fruchtbare[n] Einbildung aus[ge] heckt“ worden sind. Der Unterschied besteht nun darin, dass der wachende Träumer sich wenigstens peripher seiner Sinneseindrücke aus der äußeren Welt bewusst ist. Darum kann er seine Tagträume infolge der ständigen Verfügbarkeit der wirklichen Welt als Tagträume im Sinne eines Kontrastbegriffs einschätzen. Wie lebendig seine Imagination auch sein mag, „die wirkliche Empfindung seines Körpers“ erlaubt es ihm, zwischen inneren und äußeren Räumen zu unterscheiden. Daher lokalisiert er seine Tagträume in sich selbst, nicht außerhalb in der objektiven Welt. Er betrachtet sie als seine eigenen Schöpfungen, nicht als objektive Realitäten. So vermischt er niemals Phantasie und Realität. Der eigentliche Träumer ist hingegen durch den Schlaf von den äußeren Sinneseindrücken abgeschnitten. Er hört überdies auf, sich seines eigenen Körpers und daher auch der Grenzen zwischen den inneren und äußeren Räumen bewusst zu sein. Ihm fehlt aus diesem Grund der Kontrastbegriff und das periphere Bewusstsein des Körpers, das nötig ist, um die Chimären seiner Imagination in sich selbst zu lokalisieren und als eigene Schöpfungen 26

AA II, S. 343.

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zu betrachten. Stattdessen missversteht er seine Träume als Realitäten, so lange er schläft. In Abschnitt 3 behauptet der Skeptiker, dass die Geisterseher sich von allen Tagträumern nicht im „Grade“, sondern in der „Art“ unterscheiden. Tagträumer sind sich schließlich darüber im Klaren, dass ihre Phantasien keine äußeren Realitäten sind. Geisterseher erfahren die Produkte ihrer Imagination dagegen als äußere Realitäten. Aber wie? Der Skeptiker weist die Behauptung zurück, der Geisterseher würde lediglich eine anormal lebendige Einbildungskraft besitzen, denn dies allein erklärt nicht den bemerkenswerten Vorgang, in dessen Zuge innere, subjektive Bilder der Imagination als reale Objekte in der äußeren, objektiven Welt erfahren werden. Der Skeptiker wendet sich auch gegen Pseudo-Erklärungen, die Geistererscheinungen lediglich mit Fieberträumen vergleichen, denn solch eine Deutung erklärt nicht, wie genau die Täuschung vor sich geht. In Abschnitt 4 erklärt der Skeptiker, dass der Verstand uns nicht nur die Gegenstände vorstellt, sondern auch ihren Ort im Raum. Er legt dann eine physikalische Erklärung vor, wie die Seele die inneren Bilder, die durch die Sinneswahrnehmung verursacht werden, in den äußeren Raum versetzt. Abschnitt 5 eröffnet eine analoge Erklärung für den Ort des Schalles und behauptet, dass ähnliche Interpretationen auch hinsichtlich der anderen drei Sinne angestellt werden können. In Abschnitt 6 wendet der Skeptiker seine Analyse zur Deutung unseres Bewusstseins auf die Beobachtung an, dass einige Vorstellungen reine Erfindungen der Einbildungskraft sind, die nur in uns existieren. Zu diesem Zweck wählt er das cartesianische Prinzip zu seinem Ausgangspunkt, daß alle Vorstellungen der Einbildungskraft zugleich mit gewissen Bewegungen in dem Nervengewebe oder Nervengeiste des Gehirnes begleitet sind, welche man ideas materiales nennt.27

Die Vorstellungen äußerer Gegenstände werden von Schwingungen begleitet, die von den Gegenständen selbst mitgeteilt werden. Die äußeren Quellen dieser Schwingungen erlauben es der Seele, die Vorstellungen in die äußere Welt zu versetzen. Folglich ist die Vorstellung des Baumes vor meinem Fenster von einer entsprechenden materialen Idee begleitet, die aus physischen Bewegungen in meinem Nervengewebe und in meinem „Nervengeiste“ besteht. Die Seele besitzt die Kraft zu bestimmen, welche Erschütterungen von äußeren Gegenständen herrühren, und sie vermag dann, die entsprechenden Vorstellungen in der äußeren Welt zu lokalisieren. Im Falle meiner Vorstellung eines rein erfundenen Wesens wie dem Einhorn besitzt die begleitende materiale Idee hingegen keine Beziehung zu irgendeinem äußeren Objekt, sie kann vielmehr nur auf die Kraft der Imagination zurückgeführt werden. Deshalb verortet die Seele solche Vorstellungen im inneren Raum

27

AA II, S. 345.

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der Imagination. Durch diesen Mechanismus kann sich ein Tagträumer gleichzeitig innerer und äußerer Vorstellungen bewusst sein, ohne beide jemals zu vermischen. In Abschnitt 7 wendet der Skeptiker sein System bei der Deutung derjenigen „Art von Störung des Gemüths“ an, die man den Wahnsinn und im höhern Grade die Verrückung nennt. […] Das Eigenthümliche dieser Krankheit besteht darin: daß der verworrene Mensch bloße Gegenstände seiner Einbildung außer sich versetzt und als wirklich vor ihm gegenwärtige Dinge ansieht.28

Der Skeptiker vertritt die Ansicht, wenn durch irgend einen Zufall oder Krankheit gewisse Organen des Gehirnes so verzogen und aus ihrem gehörigen Gleichgewicht gebracht seien, […] so ist der focus imaginarius [wo die Seele ein Bild lokalisiert] außerhalb dem denkenden Subject gesetzt, und das Bild, welches ein Werk der bloßen Einbildung ist, wird als ein Gegenstand vorgestellt, der den äußeren Sinnen gegenwärtig wäre.29

Der Skeptiker fährt fort, dass die erste „Bestürzung“ nach der Wahrnehmung eines Produkts der Einbildungskraft den Wahn mit der ganzen „Lebhaftigkeit“ der realen Erfahrung durchtränken wird. Diese Art Wahn kann jeden der äußeren Sinne befallen, denn sie alle rufen „Bilder in der Einbildung hervor“. In Abschnitt 8 erläutert der Skeptiker, warum ähnliche Merkmale bei allen diesen Wahnvorstellungen wiederkehren: Es sei auch sehr wahrscheinlich, dass die Erziehungsbegriffe von Geistergestalten dem kranken Kopfe die Materialien zu den täuschenden Einbildungen geben, und daß ein von allen solchen Vorurtheilen leeres Gehirn, wenn ihm gleich eine Verkehrtheit anwandelte, wohl nicht so leicht Bilder von solcher Art aushecken würde.30

Damit wird allerdings nicht erklärt, woher die genannten populären Vorurteile über Geistergestalten stammen, aber es erscheint unwahrscheinlich, dass ihre Herkunft aus der Geisterseherei für möglich gehalten würde. Der Skeptiker vertritt ebenfalls in Abschnitt 8 die Ansicht, dass der Visionär seine Wahnvorstellungen nicht mit Hilfe der Vernunft verbannen kann, weil seine Sinne, nicht aber sein Verstand irregeleitet sind. Denn nur die Wahnvorstellungen der Vernunft können durch Vernunft geheilt werden. Am Ende von Abschnitt 7 bietet der Skeptiker eine allgemeine Schlussfolgerung aus seiner Darstellung an: Es ist alsdann kein Wunder, wenn der Phantast manches sehr deutlich zu sehen oder zu hören glaubt, was niemand außer ihm wahrnimmt, imgleichen wenn diese Hirngespenster ihm erscheinen und plötzlich verschwinden, oder indem sie etwa einem Sinne, z.E. dem Gesichte, vorgaukeln, durch keinen andern, wie z.E. das Gefühl, können empfunden werden und daher durchdringlich scheinen. Die gemeine Geistererzählungen laufen so sehr auf dergleichen Be-

28 29 30

AA II, S. 346. AA II, S. 346. AA II, S. 347.

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stimmungen hinaus, daß sie den Verdacht ungemein rechtfertigen, sie könnten wohl aus einer solchen Quelle entsprungen sein. Und so ist auch der gangbare Begriff von geistigen Wesen, den wir oben aus dem gemeinen Redegebrauche herauswickelten, dieser Täuschung sehr gemäß und verläugnet seinen Ursprung nicht: weil die Eigenschaft einer durchdringlichen Gegenwart im Raume das wesentliche Merkmal dieses Begriffes ausmachen soll.31

Diese Passage ist sorgfältig konstruiert und sehr ergiebig. Drei Punkte sind bemerkenswert: Erstens zieht der Skeptiker seine Schlussfolgerung, nachdem er seine Darstellung über die Maschinerie der Seele fortgesetzt hat. Er behauptet, dass die „gemeinen Geistererzählungen“ auf „Hirngespenster“ zurückgehen oder „auslaufen“, auf Wahnvorstellungen oder Geistesgestörtheiten der Einbildungskraft, die durch Verletzungen oder Krankheiten des Gehirns hervorgerufen worden sind. Diese reduktionistische Erklärung überrascht aber nicht, denn der Skeptiker beginnt ja schon bei der „Voraussetzung“, dass alle solche „gedachte Erscheinungen auf bloße Hirngespenster auslaufen“.32 Wie ich oben dargelegt habe, beruht diese stillschweigende Voraussetzung darauf, das erst zu Beweisende als bereits feststehenden Fakt zu betrachten und es gegen die Position des Metaphysikers vorzubringen. Der ist zwar bereit zuzugeben, dass Geisterseher durchaus geistig anormal sein können. Aber er möchte daraus nicht den Schluss ziehen, dass solche Abnormalitäten notwendigerweise auch bedeuten, dass Geister bloß reine Hirngespinste sind. Zweitens scheint der Gebrauch von „gemein“ und verwandten oder gleichbedeutenden Wörtern systematisch angelegt zu sein. Dies verleiht der Rhetorik des Skeptikers einen ironischen, sich selbst untergrabenden Akzent. Der Skeptiker behauptet als Popularphilosoph, ein Fragment der „gemeinen“ Philosophie zu eröffnen, doch sein Resümee besteht darin, dass die „gemeinen Geistererzählungen“ uns die „ungemeine“ Rechtfertigung anbieten, sie auf Wahnvorstellungen der Einbildungskraft zu reduzieren. Dasselbe Schicksal erwartet den „gangbare[n] Begriff von geistigen Wesen, den wir oben aus dem gemeinen Redegebrauche herauswickelten“. Der Popularphilosoph wird auf diese Weise als ein Elitist offenbart, der die Philosophie benutzt, um den Geisterglauben des gemeinen Mannes zu diagnostizieren, hinwegzudeuten und als irrational abzutun, während der ironische Metaphysiker, der sogenannte Luftbaumeister, die Philosophie benutzt, um die innere Rationalität des Geisterglaubens zu erläutern. Die Anmaßungen des Skeptikers werden so zu Gunsten des Metaphysikers untergraben. Drittens bezieht sich der Skeptiker auf den „gangbare[n] Begriff von geistigen Wesen, den wir oben aus dem gemeinen Redegebrauche herauswickelten“. Die „Herauswickelung“ dieses Begriffs von geistigen Wesen „oben“ weist auf die Bestrebungen des ironischen Metaphysikers in Kapitel I.1 der Träume zurück, und 31 32

AA II, S. 347. AA II, S. 342f.

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das „wir“ derjenigen Personen, die diese „Herauswickelung“ versucht haben, erklärt eine Einheit zwischen dem ironischen Metaphysiker und dem aufgeklärten Skeptiker. Doch führt diese Einheit nicht zu einer gemeinsamen Identität, denn der Skeptiker sagt „wir“, nicht „ich“. Aber welche Art von Einheit existiert dann zwischen ihnen, wenn sich sowohl ihre Rhetorik als auch ihre philosophischen Ansichten unterscheiden? Ich möchte meinen, dass die Maske des aufgeklärten Skeptikers am Ende von Abschnitt 7 (und später in Abschnitt 9) verrutscht und sich dahinter das Gesicht des ironischen Metaphysikers zeigt. Der aufgeklärte Skeptiker ist lediglich eine Maske, die sich der ironische Metaphysiker aufgesetzt hat. Dies wird in Kapitel I.4 der Träume ausdrücklich erklärt, wo der ironische Metaphysiker zu der Aussage gelangt, dass er die Maske des Skeptikers als Instrument benutzt hat: „[…] jetzt

setze ich mich in die Stelle einer fremden und äußeren Vernunft und beobachte meine Urtheile sammt ihren geheimsten Anlässen aus dem Gesichtspunkte anderer“.33 Aber warum sollte der ironische Metaphysiker die Maske des aufgeklärten Skeptikers aufgesetzt haben? Vielleicht weil er dem folgen möchte, was Kant später in der Kritik der Urteilskraft im Einklang mit dem sensus communis oder dem gemeinen Menschenverstand einen Prozess nennen wird, der drei Maximen folgt: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.“34 Die Aneignung der fremden und äußeren Perspektive des aufgeklärten Skeptikers durch den Metaphysiker ist ein Versuch, der zweiten Maxime zu folgen, deren Ziel in der Selbstkritik besteht. Ich meine daher, dass Kapitel I.3 der Träume dem Bestreben des ironischen Metaphysikers zu verdanken ist, seine Hypothese von der Geisterwelt der Selbstkritik zu unterwerfen.

6. Excursus: Phantasterei in Kants Versuch über die Krankheiten des Kopfes Es ist bemerkenswert, dass die Auffassung des aufgeklärten Skeptikers von den psychologischen und physiologischen Ursachen der Phantasterei in den Abschnitten 4 bis 8 im Wesentlichen mit Kants Ansicht identisch ist, die sich in seinem seltsamen anonymen Versuch über die Krankheiten des Kopfes findet.35 Der einzige Unterschied besteht in geringfügigen terminologischen Abweichungen. Außerdem ist die Darstellung in den Träumen sorgfältiger und ausführlicher ausgearbeitet. Schwächt dies meine Behauptung ab, dass der aufgeklärte Skeptiker nicht Kants eigene Perspektive repräsentiert, gesetzt den Fall, dass Kant die Ansicht des 33 34 35

AA II, S. 349. AA V, S. 295. Vgl. AA II, S. 257–271, besonders 264–267.

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Skeptikers im Versuch verteidigt? Ich meine, dass der Versuch über die Krankheiten des Kopfes mit meiner These aus folgendem Grund übereinstimmt: Die Streitfrage zwischen dem ironischen Metaphysiker der ersten beiden Kapitel der Träume und dem aufgeklärten Skeptiker aus Kapitel I.3 dreht sich nicht um den Mechanismus, aus dem die Phantasterei entsteht. Vielmehr kann und soll sich der Metaphysiker die Darstellung des Skeptikers vollständig aneignen, denn der Metaphysiker muss erklären, wie übersinnliche Einflüsse im sensorium der Seele als äußere Realitäten erfahren werden. Der Unterschied zwischen dem Metaphysiker und dem Skeptiker betrifft ihre Interpretation des epistemologischen Status der Phantasterei. Der Metaphysiker glaubt, dass ihre Wurzel durchaus wirkliche symbolische Einflüsse aus dem übersinnlichen Bereich sein können, Einflüsse, für die abnormale Gehirne besonders empfänglich sind und die irrtümlicherweise als Erscheinungen von äußeren Realitäten erfahren werden. Der Skeptiker ist hingegen nicht bereit, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass kranke Geister ideale Gefäße für wirkliche Einflüsse sein können. Stattdessen behandelt er alle paranormalen Erfahrungen lediglich als Symptome einer psychischen Krankheit. Der Versuch über die Krankheiten des Kopfes enthält allerdings keinen Beweis dafür, dass Kant mit dieser reduktionistischen Interpretation der Phantasterei übereinstimmt. Es ist gut möglich, dass Kant die psychologische und physiologische Beurteilung der geistigen Visionen durch den Skeptiker teilt, aber nicht mit seiner Beurteilung ihres epistemologischen Status übereinstimmt. Die Parallelen zwischen dem Versuch über die Krankheiten des Kopfes und Kapitel I.3 der Träume liefern daher keinen Beweis, dass der aufgeklärte Skeptiker Kants eigene Stimme ist. Wie verhält sich der Versuch über die Krankheiten des Kopfes zu den Träumen, wo doch sein Inhalt und sein Stil klar darauf verweisen, dass er sich in der gedanklichen Entwicklung befindet, die zu den Träumen hinführt? Die Rousseausche Revolution, der die Veröffentlichung von Emile und dem Gesellschaftsvertrag im Jahre 1762 den ausschlaggebenden Impuls gaben, war voll im Gange, als Kant im Spätsommer oder Frühherbst 1763 die Bände der Arcana Coelestia erhielt. Unter Rousseaus Einfluss schiffte sich Kant unter einem sokratischen „zweiten Segel“ ein und wandte sich von einer Philosophie ab, die ihr Gewicht auf die theoretische Betrachtung des Kosmos legte, hin zu einer Philosophie, die der praktischen Vernunft und der Selbsterkenntnis, d.h. der Reflexion der menschlichen Voraussetzungen den Vorrang gab. Die erste Frucht dieser anthropologischen Wende in Kants Denken sind die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, die im Oktober 1763 vollendet waren und im Januar 1764 publiziert vorlagen. Im zweiten Abschnitt dieses kleinen Buches befindet sich Kants erste Reflexion über die Natur des philosophischen Charakters. Im Anschluss an Aristoteles behauptet Kant, dass es sich

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beim melancholischen Temperament um das anthropologische Substrat der Philosophie handelt.36 Hierbei handelt es sich auch um den ersten Text, in dem Kant über die Geisteskrankheiten und über die ein wenig unehrenhaften Vettern der Philosophie reflektiert: über die Schwärmerei und die Phantasterei, die zusammen mit Fanatismus, „Grillenfängerei“ und Hypochondrie als Degenerationen des melancholischen Temperaments sowie als Neigungen bestimmter „Nationalcharaktern“ betrachtet werden (vgl. Abschnitte 2 und 4). Aus welchem Grund hegte Kant ein solches Interesse an Schwärmerei und Phantasterei und an deren Beziehung zur Philosophie? Obwohl Kants Hinwendung zum Anthropologischen genügend Ansporn geben würde, um solche Fragen aufzuwerfen, sollten zwei weitere Faktoren nicht übersehen werden. Beispielsweise dürfte die Eigenart des Charakters von Rousseau Kant Anlass zum Nachdenken gegeben haben. Dies dürfte auch auf Kants komplizierte Beziehung zu dem „Enthusiasten“ Hamann zutreffen, der Kants vielversprechenden Studenten Herder für die Sache der Gegenaufklärung gewann.37 Schließlich ist es mehr als wahrscheinlich, dass Swedenborgs Arcana Coelestia, die Kant wahrscheinlich zu dieser Zeit zu lesen begann, der Grund für seine Überlegungen über Schwärmerei, Phantasterei und Wahnsinn und über deren Verwandtschaft mit der Philosophie gewesen sein dürften.38 Kants nächste Publikation offenbart ebenfalls sein Interesse am Enthusiasmus. Es handelt sich um einen kurzen Bericht über den sogenannten „Ziegenpropheten“, den galizischen Schwärmer Jan Pawlikowicz Komarnicki, der im Januar 1764 in der Gegend von Königsberg auftauchte, begleitet von einem Jungen und einer bunt gemischten Viehherde. Kants Herausgeber Johann Jakob Kanter veranstaltete einen Ausflug, um dieses Spektakel zu beobachten. Kant nahm daran teil. Seine kurze Notiz erschien in der folgenden Ausgabe von Hamanns Königsbergischen Gelehrten und Politischen Zeitungen39 zusammen mit der Ankündigung weiterer Werke aus seiner Hand. In der nächsten Ausgabe erschien der Versuch über die Krankheiten des Kopfes. Trotz seines witzigen literarischen Stils ist dieser Aufsatz ein ernsthafter Versuch, verschiedene Geisteskrankheiten zu klassifizieren und zu erörtern. Kant schenkt hier der Erklärung von Schwärmerei und Phantasterei besondere Aufmerksamkeit. Die Annahme ist wohlbegründet, dass Kant dabei Swedenborg vor Augen stand, obwohl er ihn nicht namentlich nannte. Sicherlich erwähnt Kant in diesem Aufsatz 36 37 38

39

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VII,15,1154b, 10–18; sowie das pseudo-aristotelische Werk Problemata, XXX, und Cicero, Gespräche in Tusculum, I, XXXIII,80. Zu Hamanns Beziehung zu Herder und Kants Reaktion vgl. Zammito, John H., The Genesis of Kant’s Critique of Judgement. Chicago 1992, Einleitung und Kap. 1. Vgl. Johnson, Gregory R., The Kinship of Kant and Swedenborg, in: The New Philosophy 99 (1996), S. 407–423; ders., The Tree of Melancholy. Kant on Philosophy and Enthusiasm, in: Firestone, Chris L. / Palmquist, Stephen R. (Hg.), Kant and the New Philosophy of Religion. Bloomington 2006, S. 43–61. AA II, S. 489.

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nicht die Möglichkeit des „göttlichen“ Wahnsinns, aber er lehnt ihn auch nicht ab. Vielmehr enthält er sich aller Spekulationen über den epistemologischen Status solcher Visionen, vielleicht weil er solche Spekulationen für unpassend hielt, vielleicht auch, weil er diese Sache damals noch nicht ausreichend durchdacht hatte. Jedenfalls enthält der Versuch keine Anhaltspunkte, die meiner Interpretation der Träume widersprechen.

7. Zusammenfassung und Überleitung zum nächsten Kapitel Abschnitt 9 schließt das Kapitel ab und leitet zum nächsten über. Er enthält eine Bestandsaufnahme der vorgebrachten Argumente und zieht aus ihnen Schlussfolgerungen. Die Ausführungen sind besonders dicht und voller Ironie. Die Folge, die sich aus diesen Betrachtungen ergiebt, hat dieses Ungelegene an sich, daß sie die tiefe Vermuthungen des vorigen Hauptstücks ganz entbehrlich macht, und daß der Leser, so bereitwillig er auch sein mochte, den idealischen Entwürfen desselben einigen Beifall einzuräumen, dennoch den Begriff vorziehen wird, welcher mehr Gemächlichkeit und Kürze im Entscheiden bei sich führt und sich einen allgemeineren Beifall versprechen kann.40

Die Ansicht des Skeptikers wird gerühmt, weil sie die Ansicht des Metaphysikers gegenstandslos macht, denn selbst der sorgfältigste, verständnisvollste und vorurteilsfreieste Leser wird die Ideen des Skeptikers vorziehen. Warum? Weil sie wahr sind? Wir wissen es nicht. Wahrheit wird nirgendwo erwähnt. Die Ideen des Skeptikers werden aber gerühmt, weil sie für die Entscheidungsfindung bequemer und förderlicher sind und weil sie „allgemeineren Beifall“ versprechen. Aber schnelle und bequeme Entscheidungen sind nicht notwendigerweise auch wahre Entscheidungen. So erscheint es als ein schwaches Lob, die Eigenschaften des Skeptikers zu rühmen, über die Wahrheit aber zu schweigen. Es ist sogar etwas verdächtig, dass der Skeptiker sein eigenes Projekt mit schwachem Lob bedenkt. Dies ruft den Verdacht auf den Plan, ob hier nicht bereits ein Wechsel der Personen stattgefunden hat. Die Aussicht auf „allgemeineren Beifall“ erscheint hingegen als ein echter Vorteil, den der Skeptiker vor dem Metaphysiker hat – und der Metaphysiker selbst würde dies zugeben, denn er schreibt dem sensus communis ebenfalls Autorität zu. Kant fährt dann fort, die Vorteile des Ansatzes des Skeptikers aufzuzählen: Denn außer dem, daß es einer vernünftigen Denkungsart gemäßer zu sein scheint, die Gründe der Erklärung aus dem Stoffe herzunehmen, den die Erfahrung uns darbietet, als sich in schwindlichten Begriffen einer halb dichtenden, halb schließenden Vernunft zu verlieren, so äußert sich noch dazu auf dieser Seite einiger Anlaß zum Gespötte, welches, es mag nun ge-

40

AA II, S. 347.

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gründet sein oder nicht, ein kräftigeres Mittel ist als irgend ein anderes, eitele Nachforschungen zurückzuhalten.41

Hier wird der Ansatz des Skeptikers ebenfalls mit zweideutigem Lob bedacht. Andererseits wird sein mit Erfahrungsbegriffen verknüpftes Vorgehen aufrichtig gepriesen. Aber dieses Bemühen ist, um dem Metaphysiker gerecht zu werden, auch in den Kapiteln I.1 und I.2 der Träume durchgehend sichtbar. Ferner wird der Ansatz des Skeptikers für die Gelegenheiten gelobt, die er dem Spott bietet, der wiederum als eine Methode zur Abschreckung „eitele[r] Nachforschungen“ gepriesen wird, ob das „Gespötte“ nun berechtigt ist oder nicht. Dieses Lob ist aber dennoch seltsam, denn wenn einer die Wahrheit zum Ziel hat, dann sollte er Methoden vermeiden, die dieselben Ergebnisse erbringen, ob sie nun berechtigt sind oder nicht. Wir sollten daher gegenüber diesem Lob auf der Hut sein, denn es lässt den Skeptiker eher als engstirnigen Parteigänger aufklärerischer Dogmen als als vorurteilslosen Wahrheitssucher erscheinen. Abschnitt 9 fährt fort: Denn auf eine ernsthafte Art über die Hirngespenster der Phantasten Auslegungen machen zu wollen, giebt schon eine schlimme Vermuthung, und die Philosophie setzt sich in Verdacht, welche sich in so schlechter Gesellschaft betreffen läßt.42

Hier wird der Ansatz des Skeptikers als Weg empfohlen, dem „Verdacht“ und den „schlimme[n] Vermuthungen“ auszuweichen, welche derjenigen Philosophie begegnen, die paranormale Phänomene ernst nimmt. Diese Verdächtigungen und Zweifel wurden natürlich seitens der preußischen Kirche und der Berliner Aufklärung gehegt. Beide waren gegenüber den Erforschungen im paranormalen Bereich intolerant. Aber diese Verdächtigungen und Zweifel müssen nicht wohlbegründet sein; die Wahrheit kann sich schließlich auf der Seite des Erforschers des Paranormalen finden. Es mag deshalb eine Motivation eher durch die Furcht vor Verfolgung als durch die Liebe zur Wahrheit vorliegen, wenn den Verdächtigungen und Zweifeln begegnet wird. Dieses Motiv wirft daher selbst schwerwiegende Zweifel auf. Es ist nicht gerade eine uneingeschränkte Vertrauensbekundung, wenn man sagt, dass der Ansatz des Skeptikers in Wirklichkeit zwar nicht zur Wahrheit führt, aber dafür ganz sicher nicht irgendwelche intoleranten Leute in Berlin beleidigt. Dem würde eindeutig eine Position vorzuziehen sein, die sowohl zur Wahrheit führt als auch Verfolgung vermeidet. Der nächste Satz bestätigt meinen Verdacht, dass es in Abschnitt 9 einen Wechsel der Personen gibt: Zwar habe ich oben den Wahnsinn in dergleichen Erscheinung nicht bestritten, vielmehr ihn, zwar nicht als die Ursache einer eingebildeten Geistergemeinschaft, doch als eine natürliche

41 42

AA II, S. 347f. AA II, S. 348.

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Folge derselben damit verknüpft; allein was für eine Thorheit giebt es doch, die nicht mit einer bodenlosen Weltweisheit könnte in Einstimmung gebracht werden?43

„Oben“ bezieht sich sicherlich auf das Ende des Kapitels I.2, wo die Gemeinschaft mit der Geisterwelt mit Junos Geschenk an Tiresias verglichen wird: Es ist nicht durch Wahnsinn hervorgerufen, aber mit Sicherheit die Ursache einer Form des Wahnsinns. Das „ich“, das für dieses Argument in Anspruch genommen wird, ist sicher der ironische Metaphysiker. Wenn in Abschnitt 7 die Maske des Skeptikers nur verrutscht, dann fällt sie hier vollständig. Sie enthüllt den ironischen Metaphysiker, der sich die Maske des Skeptikers aufgesetzt hat, um sein Projekt dem Kritizismus zu unterwerfen, sich aber währenddessen nicht einiger Hiebe auf seine Kritik erwehren kann. Sobald der Metaphysiker seine Maske absetzt, zieht er auch seine Handschuhe aus, um das Kapitel mit einem rohen Sarkasmus abzuschließen: Daher verdenke ich es dem Leser keinesweges, wenn er, anstatt die Geisterseher für Halbbürger der andern Welt anzusehen, sie kurz und gut als Candidaten des Hospitals abfertigt und sich dadurch alles weiteren Nachforschens überhebt.44

Hier löst der Metaphysiker auf, was er vorher angedeutet hat: Der Empirismus des Skeptikers ist nur ein Mittel, durch das die engstirnigen Parteigänger Phänomene kurz und bündig zurückweisen, die ihre festgelegte Denkweise anfechten. Der Metaphysiker fährt fort: Wenn nun aber alles auf solchen Fuß genommen wird, so muß auch die Art dergleichen Adepten des Geisterreichs zu behandeln von derjenigen nach den obigen Begriffen sehr verschieden sein, und da man es sonst nöthig fand, bisweilen einige derselben zu b r e n n e n , so wird es jetzt gnug sein, sie nur zu p u r g i r e n .45

Durch eine allzu bekannte Dialektik der Aufklärung findet sich der Skeptiker selbst in der Gesellschaft der Ketzer- und Hexenbrenner wieder. Dies ist eindeutig nicht die Selbstcharakterisierung eines Parteigängers des aufgeklärten Skeptizismus, denn obwohl aufgeklärte Skeptiker häufig ebenso intolerant waren wie Inquisitoren und Hexenjäger, würden sie doch niemals selbst darauf hingewiesen haben. Der Abschnitt schließt dann: Auch wäre es bei dieser Lage der Sachen eben nicht nöthig gewesen, so weit auszuholen und in dem fieberhaften Gehirne betrogener Schwärmer durch Hülfe der Metaphysik Geheimnisse aufzusuchen. Der scharfsichtige Hudibras hätte uns allein das Räthsel auflösen können, denn nach seiner Meinung: wenn ein hypochondrischer Wind in den Eingeweiden tobt, so kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt, geht er abwärts, so wird ein F-, steigt er aber aufwärts, so ist es eine Erscheinung oder eine heilige Eingebung.46

43 44 45 46

AA II, S. 248. AA II, S. 348. AA II, S. 348 [Hervorh. im Original]. AA II, S. 348.

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Die Botschaft ist klar: Der aufgeklärte Skeptizismus macht eine ernsthafte wissenschaftliche Untersuchung des Paranormalen überflüssig. Wie? Indem er sie durch einen reduktionistischen Materialismus ersetzt, der seine Gegner mit fäkalsprachlichen Versen verspottet – eine Methode, die intellektuell so abwegig ist, dass nicht etwa ihre Parteigänger, sondern nur ihre Feinde sie mit solch unverschämten Begriffen verteidigen würden. Nun zu einer Bilanz der Argumentation des Skeptikers. Sein Ansatz, den Mechanismus der Geisterseherei zu erklären, ist genial. Er kann vom ironischen Metaphysiker verwendet werden, ohne dass er seine Behauptung zurücknehmen muss, dass die Geisterseher einen wirklichen Einfluss aus der übersinnlichen Welt empfangen können. Aber der Versuch des Skeptikers, Geistererscheinungen auf bloße Erfindungen einer gestörten Einbildungskraft zu reduzieren, betrachtet das erst zu Beweisende als feststehend, noch bevor es bewiesen worden ist – gegen die differenzierte Ansicht des Metaphysikers, der darauf hinweist, dass auch dann, wenn jemand zugibt, Geisterseher seien geisteskrank, nicht notwendig zu schlussfolgern ist, ihre Visionen könnten nicht auf einen wirklichen Einfluss zurückgeführt werden. Nichtsdestoweniger erscheint der Metaphysiker trotz der fragwürdigen Natur des Arguments des Skeptikers im letzten Abschnitt mit einer Litanei von zweifelhaftem Lob erneut. Der Ansatz des Skeptikers wird aus folgenden Gründen gerühmt: Erstens bietet er eine Entscheidungsfindung an, die leichter und förderlicher ist. Zweitens verspricht er Ergebnisse, die für den sensus communis akzeptabler sind. Drittens sind seine Schlussfolgerungen eng an die Erfahrung gebunden. Viertens bietet er die Gelegenheit, seine Gegner zu verspotten, ob dieser Spott gerechtfertigt ist oder nicht. Fünftens besteht keine Gefahr, die Verdächtigungen und die Zensur der Kirche und des aufgeklärten Establishments auf sich zu ziehen. Sechstens erlaubt er uns, alle paranormalen Behauptungen ohne die Mühe weiterer Nachforschungen zurückzuweisen und die Geisterseher zwar nicht dem Scheiterhaufen, aber dem Irrenhaus zu überantworten. Von all diesen Punkten hat nur der zweite und der dritte etwas mit dem Streben nach Wahrheit zu tun. Diese beiden Punkte sind außerdem die einzigen, die nicht von Sarkasmus oder Ironie begleitet sind. Daher erscheint die Folgerung angemessen, dass der Skeptiker und der Metaphysiker nur hier übereinstimmen. Da wir den Metaphysiker außerdem in Kapitel I.4 neue, intersubjektiv nachprüfbare und auf Erfahrung beruhende Grundlagen für den Glauben an die Geisterwelt legen sehen, ist das Fazit begründet, dass er seine ursprüngliche Hypothese in dieser Hinsicht für unzureichend gehalten und deshalb die Kritik des Skeptikers ernst genommen hat.

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8. Schluss Die Argumentationsstruktur der Träume ist dialektisch. Der ironische Metaphysiker aus Kapitel I.1 und I.2 legt die These dar: eine dualistische Weltsicht, die von Swedenborg abgeleitet wird. Der aufgeklärte Skeptiker aus Kapitel I.3 stellt die Antithese dagegen: ein skeptischer, reduktionistischer, epikureischer Materialismus, der trotz seiner selbstzerrüttenden Rhetorik und seiner fragwürdigen Argumente die Grundlagen von Kants swedenborgischer Metaphysik in gewisser Weise untergräbt. Der pragmatische Metaphysiker aus Kapitel I.4 der Träume, der Kants am stärksten durchdachte Urteile äußert, bildet dann die Synthese: Während er die wesentliche Gültigkeit des Gehalts des metaphysischen, swedenborgischen Standpunkts voraussetzt, billigt er die Macht der skeptischen Kritik an der angeblich dogmatischen Form der Argumente des Metaphysikers, um dann vorzuschlagen, das swedenborgische System des Metaphysikers auf der Grundlage nicht der theoretischen, sondern der praktischen Vernunft zu rekonstruieren. Auf diese Weise fällt Kant, nachdem er den dogmatischen Bannkreis verlassen hatte, gleichsam zurück und legt eine erneute Verteidigung seiner swedenborgisch beeinflussten Lehre auf moralisch-praktischen Grundlagen vor. Das Außergewöhnlichste an der Argumentationsstruktur der Träume besteht darin, dass Kants swedenborgische metaphysische Vision nicht zusammenbricht, nachdem ihre dogmatischen Grundlagen entfernt worden sind. Sie bleibt sozusagen mitten in der Luft in der Schwebe, während Kant neue Fundamente unter sie schiebt. Um diese frei schwebende Tat zu verstehen, muss die „überlieferte Sicht“ der Begegnung Kants mit Swedenborg neu überdacht werden.

MONIQUE DAVID-MÉNARD (Paris)

Swedenborg in der Kritik der reinen Vernunft

Von der akademischen Kantforschung wurde bisher in der Regel die Ansicht vertreten, dass die kritische und transzendentale Philosophie auf Kants Auseinandersetzung mit Leibniz und Hume zurückzuführen ist. Kant selbst schrieb 1783 in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können: Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab.1

Wird dennoch Kants Träumen eines Geistersehers von 1766, seinem Buch über den Geisterseher Swedenborg, eine gewisse Rolle bei der Entstehung seines philosophischen Systems zugeschrieben, dann geschieht dies gewöhnlich in der praktischen Philosophie. Beispielsweise wird die Triebstruktur, die mit dem kategorischen Imperativ zusammenpasst, untersucht, aber die Abhängigkeit der reinen Vernunft von Kants Interesse für die Schwärmerei im theoretischen Werk wird nicht erwähnt. Oder die Verwandtschaft zwischen Metaphysik und Schwärmerei wird nur allgemein behauptet. So bemerken Hartmut und Gernot Böhme: „Das Sehertum ist quasi die Erfahrungsbasis der Metaphysik, wie die Metaphysik ihrerseits zeigt, daß Sehertum möglich ist.“2 Und sie behaupten aufgrund ihrer Lektüre der Träume zugleich, dass Kant „mit Dämonen, Träumen, Geistern nichts mehr zu tun haben“ wollte.3 Die kritische Philosophie wird also als Rückzug auf sicheres Terrain betrachtet. Diese Bemerkungen lassen jedoch ungeklärt, warum Kant in den Jahren 1763 und 1764 – also bevor er sich für die Schriften Swedenborgs interessierte – zwei verschiedene Forschungsfelder bearbeitete: den Wahn einerseits und die Logik der Negation andererseits. Im Jahre 1763 erschien der Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, 1764 der Versuch über die Krankheiten des Kopfes und die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Der Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen setzt zwei verschiedene Verneinungen: Der Widerspruch ist die Destruktion eines Gedankeninhalts. Er ist aber bloß formell und hat mit der Realität nichts zu tun. Im Gegenteil ist der sogenannte „reale Widerstreit“, „die reale Repugnanz“ oder reale Opposition eine algebraische Bestimmung, die etwas Reales 1 2 3

AA IV, S. 260. Böhme, Hartmut / Böhme, Gernot, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M. 1985, S. 258. Ebd., S. 261.

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konstituiert. Alles, was als real bestimmt werden kann, muss durch den realen Widerstreit konstituiert werden. Und wenn irgendeine Idee eine solche Negation ausschließt – zum Beispiel die Idee Gottes, die keine Begrenzung enthalten kann –, dann ist es auch unmöglich, dass sie als Begriff etwas Reales bestimmt. Scheinbar hat diese Problematik der Negation mit den Überlegungen zur Schwärmerei und zum Wahn nichts zu tun.4 Im Versuch über die Krankheiten des Kopfes findet sich eine Einteilung der Geistesstörungen, die den Verstand, das Urteil oder die Sinne trüben und verwirren. Die Sinne haben auch mit dem Gefühl zu tun, also mit der Einbildungskraft, von der Kant in der dritten Schrift spricht. Der gemeinsame Punkt zwischen dem Text über die Krankheiten des Kopfes und dem Text über das Schöne und Erhabene lässt sich leicht verstehen: Der moralische Sinn des Erhabenen ist vom Fanatismus nicht weit entfernt und der Fanatismus hat wiederum mit einer der Krankheiten des Kopfes zu tun. Also sind die beiden Texte, die im Jahre 1764 erschienen sind, miteinander verwandt. Man kann anmerken, dass der Fanatismus in den anthropologischen und moralischen Schriften Kants sehr nahe bei der Schwärmerei steht. Und man könnte behaupten, dass Schwärmerei die theoretische Entfaltung der fanatischen Einfühlung ist. Was hat dies aber mit der Negation zu tun? Die Antwort auf diese Frage wird erst 1766 in den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, gegeben: So wie die negative Größe den Formalismus des logischen Widerspruchs vermeidet, indem sie ein Reales bestimmt, so vermeidet der „wachende Träumer“ die grenzenlose Ausdehnung seiner Einbildung, indem er „Etwas“ von seinen Erdichtungen unterscheidet. Daher können die nämliche Bilder ihn im Wachen wohl sehr beschäftigen, aber nicht betrügen, so klar sie auch sein mögen. Denn ob er gleich alsdann eine Vorstellung von sich selbst und seinem Körper auch im Gehirne hat, gegen die er seine phantastische Bilder in Verhältniß setzt, so macht doch die wirkliche Empfindung seines Körpers durch äußere Sinne gegen jene Chimären einen Contrast oder Abstechung, um jene als von sich ausgeheckt, diese aber als empfunden anzusehen.5

Wird nicht die reale Opposition zum Instrument, um dem endlosen und spitzfindigen Spiel des kraftlosen Widerspruchs zu entgehen, ebenso wie der wachende Traum, in dem ein „Etwas“ den Kontrast gegenüber der Ausbreitung der schwärmerischen Einbildung erlaubt?

4

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In der Vorrede zum Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen findet sich der Vergleich von Widerspruch und Metaphysik mit Wahn und Blendwerk. Es scheint sich auf den ersten Blick allerdings nur um einen rhetorischen Effekt zu handeln, den man hier, am Anfang des Buches, kaum verstehen kann: „[…] weil hier gelehrter Unsinn nicht so leicht wie sonst das Blendwerk von Gründlichkeit zu machen vermag. […] Denn was die metaphysische Intelligenzen von vollendeter Einsicht anlangt, so müßte man sehr unerfahren sein, wenn man sich einbildete, daß zu ihrer Weisheit noch etwas könnte hinzugethan, oder von ihrem Wahne etwas könnte hinweg genommen werden.“ AA II, S. 70. AA II, S. 343.

Swedenborg in der „Kritik der reinen Vernunft“

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Der Gegenstand wird in diesem Kontexte zum ersten Mal als das dargestellt, was die grenzenlose Ausdehnung der wahnsinnigen Einbildungskraft oder des wahnsinnigen Raisonnierens der Vernunft ermöglicht. Das ist vielleicht das wichtigste an der Verbindung zwischen der Beschreibung der Krankheiten des Kopfes und dem neuen Begriff der Negation: „Etwas“ ist als etwas Reales bestimmt, wenn es die endlose Ausdehnung der Einbildung oder der formalen Logik begrenzt. Mit diesem Begriff des Gegenstands können wir der Kritik der reinen Vernunft begegnen. Ist Kants Beziehung zu Swedenborg nur eine Jugendaffäre, die für den Aufbau der kritischen und transzendentalen Philosophie keine wichtige Rolle spielt, oder ist diese Auseinandersetzung mit einem Theosophen eine der bedeutendsten Fragen, die nicht nur für die praktischen und anthropologischen Schriften Kants, sondern auch für die Entdeckung einer neuen Art des Philosophierens entscheidend ist? Inwieweit kann man die erste Kritik als eine konzeptionelle Trennung von Swedenborgs Denken verstehen? Der Name Swedenborgs ist in diesem Buch nicht auffindbar. Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit Swedenborgs Themen nicht abwesend. Der durchgehende Kampf mit Swedenborg soll hier als eine der wichtigsten Quellen für die Teilung zwischen Analytik und Dialektik, für die neue Theorie der Negation und der Modalität und für das Konzept des Erkenntnisgegenstandes insgesamt dargestellt werden. Mit einem anderen Denker zu kämpfen, ist vielleicht notwendig, um eine neue Art der Philosophie erfinden zu können. Ein solcher Kampf ist nicht eine einfache Abhängigkeit, sondern vielmehr eine Nachbarschaft, die zu einer neuen begrifflichen Problematik führt. Swedenborgs Denken und seine schwärmerische Erfahrung wurden für Kant eine Gefahr, deren theoretische Möglichkeit er begreifen wollte. In diesem Prozess des Verstehens verwandelte sich seine Idee der Philosophie selbst.

1. Die Neue Theorie der Modalität Der Kern der Auseinandersetzung in der ersten Kritik besteht in dem neuen Konzept der Modalität: Die Prinzipien der Denkart Swedenborgs werden unter der Überschrift des ersten und des zweiten „Postulats des empirischen Denkens überhaupt“ präzise beschrieben: Möglichkeit und Wirklichkeit.6 Erstens: „Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.“ Und zweitens: „Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich.“ 6

KrV A 218/B 265f.

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Diese beiden neuen Bestimmungen sind notwendig, um einem Denker wie Swedenborg einen Status zu verleihen. Swedenborg heißt nun nicht mehr „Schwedenberg“ wie in den Träumen eines Geistersehers,7 er wird jetzt unter „einige“ subsumiert.8 Kants Denkansatz wird 1781 in der ersten Kritik genauso präzise dargestellt wie 1766 in den Träumen. Er befindet sich zwischen den zwei neu bestimmten Modalitäten der Möglichkeit und der Wirklichkeit: Eine Substanz, welche beharrlich im Raume gegenwärtig wäre, doch ohne ihn zu erfüllen (wie dasjenige Mittelding zwischen Materie und denkenden Wesen, welches einige haben einführen wollen), oder eine besondere Grundkraft unseres Gemüths, das Künftige zum voraus anzuschauen (nicht etwa bloß zu folgern), oder endlich ein Vermögen desselben, mit andern Menschen in Gemeinschaft der Gedanken zu stehen (so entfernt sie auch sein mögen): das sind Begriffe, deren Möglichkeit ganz grundlos ist, weil sie nicht auf Erfahrung und deren bekannte Gesetze gegründet werden kann und ohne sie eine willkürliche Gedankenverbindung ist, die, ob sie zwar keinen Widerspruch enthält, doch keinen Anspruch auf objective Realität, mithin auf die Möglichkeit eines solchen Gegenstandes, als man sich hier denken will, machen kann.9

Swedenborg zwingt Kant, die Begriffe der Möglichkeit und der Wirklichkeit neu zu begreifen. Erstens befasst sich Swedenborg nicht mit den formalen Bedingungen der Erfahrung, die den Begriffen allein eine objektive Gültigkeit verschaffen können. Er vernachlässigt also die Mittelstufe der Erfahrung, die noch leer ist, aber trotzdem unausweichliche Bedingung einer Erfahrung ist, die mit Inhalt gefüllt wird. Zweitens sind nach Kants Behauptung die Empfindungen, das heißt die Stoffe oder Inhalte seiner Erfahrungen, unfähig, sich nach den transzendentalen Prinzipien einzuordnen. Hier geht es nicht um die Leere der Erfahrung, denn Swedenborg hat tatsächlich Empfindungen und Gedanken, aber deren Inhalt kann nicht durch die Prinzipien des reinen Verstandes geordnet werden. Deshalb ist seine materiale Erfahrung leer oder unwirklich. Also sind schon hier zwei der vier Bestimmungen der Leere aus der „Tafel des Nichts“ zu finden: ens rationis und ens imaginarium.10 Die „Gefahr Swedenborg“ lässt den Philosophen aber noch etwas anderes entdecken. Bemerkenswert ist nämlich, dass die Art, wie Swedenborg seine vorgeblichen Empfindungen ohne apriorische Regeln beschreibt, es unbegreiflich macht, dass die Formen der Zeit und des Raumes eine doppelte Funktion übernehmen. Ein und dieselbe Synthesis ist erforderlich, wenn Zeit und Raum mit den empirischen Wahrnehmungen und Empfindungen, also für die Wirklichkeit, mitgedacht werden und wenn sie in der Mathematik der Zahlen und des Raumes als 7

8 9 10

„Es lebt zu Stockholm ein gewisser Herr Schwedenberg ohne Amt oder Bedienung von seinem ziemlich ansehnlichen Vermögen.“ Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik. AA II, S. 354. KrV A 222/B 270. A 221f./B 270. KrV A 290/B 347.

Swedenborg in der „Kritik der reinen Vernunft“

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trennbare Formen, also für die Möglichkeit, entwickelt werden. Swedenborg verbindet seine Empfindungen auf eine Weise, die es unmöglich macht, diese Homogenität der Synthesis empirisch oder mathematisch zu erklären. Umgekehrt waren Swedenborgs Behauptungen für Kant die Gelegenheit, um die Rolle der Zeit und des Raumes in diesen zwei Fällen besser zu verstehen. Als Bestandteile der empirischen Erscheinungen treten Raum und Zeit nicht als solche auf. Trotzdem besitzen sie dieselbe formelle Notwendigkeit und folgen denselben Regeln, wenn sie, wie in der Mathematik, erkennbar und vom Stoff der Erfahrungen ununterscheidbar sind. Nur der Irrtum bzw. der Wahn Swedenborgs erlauben es, den Status dieser Eigenschaft des Raumes und Zeit klar zu machen, nämlich dass sie als solche nicht erscheinen können. Gegen diese Beobachtung könnte zweifellos der Einwand erhoben werden, dass hinter Kants neuer Theorie der Modalität eine Auseinandersetzung nicht nur mit Swedenborg, sondern mit Leibniz zu sehen ist. Tatsächlich sind Leibniz und Swedenborg seit den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) sehr oft in Kants Texten miteinander verbunden. Zum Beispiel spricht er in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von der „dogmatisch schwärmende[n] Wißbegierde“ der Metaphysiker.11 Dieser Ausdruck gilt für Leibniz ebenso wie für Swedenborg, ohne dass ihre Namen genannt werden müssen. Und wenn Kant in einer Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe, die der sogenannten „Tafel des Nichts“ beigefügt ist, das Nichts im transzendentalem Sinne auslegt, wird ebenfalls auf Leibniz und Swedenborg abgezielt: Nichts, d.i. ein Begriff ohne Gegenstand, wie die Noumena, die nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden können, obgleich auch darum nicht für unmöglich ausgegeben werden müssen (ens rationis), oder wie etwa gewisse neue Grundkräfte, die man sich denkt, zwar ohne Widerspruch, aber auch ohne Beispiel aus der Erfahrung gedacht werden und also nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden müssen.12

Aus den vorangegangenen Ausführungen ist deutlich geworden, dass Kant sich bei der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit nur mit Swedenborg auseinandersetzt. Leibniz vermischt nach Kants Urteil diese beiden Bestimmungen nicht, vielmehr führt er die Möglichkeit zum Konzept zurück. Allein Swedenborg verbindet seine Empfindungen und Wahrnehmungen unwirklich, das heißt „schlecht geordnet“. Also besteht das Ziel der ersten Kritik darin, Leibniz und Swedenborg ganz klar zu unterscheiden, während im Jahre 1766 dieser Unterschied noch undenkbar war. Als Kant seine ängstliche Begegnung mit den Erzählungen über Swedenborgs Wunder hatte, die ihn dazu veranlasste, das seltsame Buch Arcana coelestia zu kaufen, glaubte er noch, was er in seinem Brief an Mendelssohn am 8. April 1766 äußerte, dass nämlich Leibniz und Swedenborg, philo-

11 12

KrV A XIII. KrV A 289f./B 347.

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sophisch betrachtet, untrennbar seien.13 Die Ausführungen der ersteren Kritik hatten das Ziel, diese Trennung philosophisch in die Tat umzusetzen.

2. Die Konstruktion der ersten Kritik: Dialektischer Konflikt versus realer Konflikt (1781) als Erbschaft von Schwärmerei versus wachender Traum (1766) Die Gliederung der Kritik der reinen Vernunft in vier Teile ist allgemein bekannt: die Transzendentale Ästhetik, die Analytik des Verstandes, die Dialektik der reinen Vernunft und die Methodologie. Gewöhnlich wird die Lektüre mit dem ersten Kapitel begonnen. Kant schreibt aber selbst in der „Dialektik“, dass diese Ordnung vielleicht nicht genügend ist: Man kann aber auch umgekehrt aus dieser Antinomie einen wahren, zwar nicht dogmatischen, aber doch kritischen und doctrinalen Nutzen ziehen: nämlich die transscendentale Idealität der Erscheinungen dadurch indirect zu beweisen, wenn jemand etwa an dem directen Beweise in der transscendentalen Ästhetik nicht genug hätte.14

Bedeutet dies, dass die Theorie des Erkenntnisgegenstandes umgekehrt zu verstehen ist? Wenn die Lektüre der Kritik mit der Dialektik begonnen wird – Kant sagt „umgekehrt“ –, dann können Ästhetik, Analytik und Dialektik nicht mehr getrennt werden. Ästhetik und Analytik sind vielmehr das Resultat der Beschränkung der dialektischen Vernunft. Die Philosophie beginnt mit einer „dogmatisch schwärmende[n]“ Tätigkeit. Wenn man zeigen kann, dass der Wahn der Vernunft, obwohl er Wahn ist, dennoch einer Logik folgt, kann man auch verstehen, dass die Logik, die uns einen realen Gegenstand vermittelt, eine leichte Veränderung der dialektischen Logik der Vernunft ist. Die dialektische Logik in der Antinomie heißt „dialektische Verneinung“ und die Logik, die einen realen Gegenstand aus dem dialektischen Objekt der Vernunft formt, heißt bereits seit dem Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) „realer Conflictus“,15 „realer Widerstreit“16 oder „reale Entgegensetzung“.17 Im Jahre 1781 werden die 13 14 15

16 17

AA X, S. 69–73 = Lettre à Moïse Mendelssohn du 8 avril 1766, in: Œuvres philosophiques. Paris 1980, Bd. I, S. 599. KrV A 506/B 534. „In der Natur giebt es viel Beraubungen aus dem Conflictus zweier wirkenden Ursachen, deren eine die Folge der andern durch reale Entgegensetzung aufhebt.“ Versuch den Begrifff der negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen. AA II, S. 184. „[…] so kann ein realer Widerstreit nur statt finden, in so fern eine andere Bewegkraft mit ihr in Verknüpfung sich gegenseitig die Folge aufheben“. Vgl. ebd., S. 175f. „Es ist die Frage: ob Unlust lediglich ein Mangel der Lust, oder ein Grund der Beraubung derselben, der an sich selbst zwar was Positives, und nicht lediglich das contradictorische Ge-

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gleichen Begriffe in die Kategorien der Qualität eingeordnet und Realität, Negation, Limitation genannt. Sie beziehen sich auf dieselbe Problematik der Beschränkung wie 1766. Jeder Gegenstand wird als real konstituiert, wenn er als eine intensive Größe bestimmt und durch einen Konflikt von Kräften, von Empfindungen oder von Gedanken usw. gedacht werden kann. In den Kategorien der Qualität spielt die Negation eine entscheidende Rolle. Die Folge einer Opposition von Größen kann als „Null“ bestimmt werden. Der dieser Determination entsprechende Gegenstand ist jedoch keinesfalls ein Nichts. Er ist vielmehr ein Reales, das für die algebraische Formel eine „Null“ ist. Etwas als „Null“ zu bestimmen, heißt, dieses Etwas als real zu denken. Ein Reales ist dadurch als eine negative Größe determiniert. Und wenn die algebraische Summe der Kräfte, Empfindungen, Gedanken usw. nicht null ist, dann tritt die dritte Kategorie der Qualität, die Limitation, in Kraft. Aus diesem Grunde ist eine enge Verbindung der Kantischen Überlegungen zwischen 1763 und 1781 auszumachen. Das Konzept der negativen Größe stellt ein Bindeglied dieses kontinuierlichen Zusammenhangs dar. Dadurch kann aber weder vollständig verstanden werden, was eine „umgekehrte Darstellung“ des transzendentalen Idealismus bedeutet, noch inwieweit die Auseinandersetzung mit Swedenborg den Kern dieser Umkehrung darstellt. In den Träumen eines Geistersehers behauptet Kant, dass der wachende Träumer einem Menschen ähnlich ist, der seine Vernunft ausübt und trotzdem in seiner Vorstellung mancherlei imaginäre Ideen und Phantasmen entwickelt. In den Gedanken des Visionärs wird dennoch ein „Contrast oder Abstechung“ gemacht.18 Aber der Schwärmer ist bei der Entfaltung seiner Einbildung zu keiner Beschränkung fähig. Die Prüfung durch den Kontrast fehlt. Also nennt Kant nicht dasjenige „Gegenstand“, was von jemandem direkt wahrgenommen wird, sondern das, was bei der unendlichen Entfaltung der Einbildung einen Kontrast einführt. Der reale Konflikt ist die logische Formel dieses Erlebnisses des Kontrastes. Deshalb ist es wichtig, die Texte über die negativen Größen (1763) und über den Schwärmer (1766) gemeinsam zu lesen und zu verstehen. In der Kritik der reinen Vernunft wird die Problematik des Kontrastes weitergeführt, indem der logische Inhalt des Konstrastes zwischen bloß imaginärer Denkart – zwar der Vernunft – und Erkenntnis genauer bestimmt wird. Es handelt sich jetzt nicht nur um das Erlebnis des „Contrastes oder der Abstechung“, sondern auch um die Logik des Kontrastes, die eine Erkenntnis herzustellen vermag. Der Kontrapunkt aber zwischen Schwärmer und erwachendem Träumer wird zum Kontrapunkt zwischen Vernunft und Verstand: Den Vernunftschlüssen fehlt die Kontrastfunktion, die es dem Verstand allein erlaubt, den Wahn der Vernunft zu beschränken. Wenn die logische Prüfung des Kontrastes fehlt, folgt die Vernunft nur einer

18

gentheil von Lust, ihr aber im Realverstande entgegengesetzt sei, und also ob die Unlust eine negative Lust könne genannt werden.“ Vgl. ebd., S. 180. AA II, S. 343.

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sogenannten „dialektischen Verneinung“. Eine dialektische Verneinung ist die logische Struktur der unendlichen Antinomie von Aussagen über die Welt als Ganzes, bei der die Verneinung unfähig ist, einen Gegenstand durch den realen Konflikt zu bilden. Erinnern wir uns an Kants Ausdruck im siebenten Abschnitt des Antinomie-Kapitels, wo er erklärt, dass zwei entgegengesetzte Sätze beide falsch sein können, wenn die Verneinung, die diese Entgegensetzung ausdrückt, in ihrer logischen Macht nichts konstituiert. Die logische Bestimmung der unendlichen Entfaltung des Raisonnierens der Vernunft besteht also in der dialektischen Opposition: Also können von zwei dialektisch einander entgegengesetzten Urtheilen alle beide falsch sein, darum weil eines dem andern nicht bloß widerspricht, sondern etwas mehr sagt, als zum Widerspruche erforderlich ist.19

Und die Lösung der Antinomie besteht darin, dass der Unterschied zwischen einem „Nichts“ und einem „Etwas“ bestimmt werden kann: Es bleibt also kein Mittel übrig, den Streit gründlich und zur Zufriedenheit beider Theile zu endigen, als daß, da sie einander doch so schön widerlegen können, sie endlich überführt werden, daß sie um Nichts streiten, und ein gewisser transscendentaler Schein ihnen da eine Wirklichkeit vorgemalt habe, wo keine anzutreffen ist.20

Die logische Bestimmung der unendlichen Entfaltung des Raisonnierens der Vernunft ist also die dialektische Entgegensetzung. Der Widerspruch besitzt keine ontologische Macht, vielmehr verfügen der reale Konflikt oder die Kategorie der Negation und der Limitation über eine transzendentale Macht. Also ist die transzendentale Analytik als die Veränderung der dialektischen Regel der Vernunft zu betrachten, wenn das konstituierende Vermögen der Negation nicht mehr außer Gelegenheit ausgeübt wird. Seit 1763 – genauer gesagt schon seit 1762, als Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren erschien – bewegen sich Kants Reflexionen um das logische Mittel und um den Kontrast zwischen einem Wahn, der durch eine neue Art Verneinung einer Beschränkung fähig ist, und einem Wahn, der dieser Beschränkung unfähig bleibt. Und die Logik der Verneinung macht es möglich, den Unterschied zwischen Swedenborg und Leibniz zu bestimmen. Die Problematik der Kontrastunfähigkeit galt 1766 für Leibniz ebenso wie für Swedenborg. Kant drückte dies in seinem Brief an Mendelssohn vom 8. April 1766 so aus: Auch dann, wenn seine Erzählungen von und über Swedenborg nicht mehr so verwirrend sind, behauptet er, dass der Unterschied zwischen Idealismus und Schwärmerei unbestimmbar bleibt. Aber dank des logischen Mittels, die dialektische Verneinung, die dem Verstand „nichts“ erkennen zu geben vermag, und die reale Verneinung als eine Kategorie der Qualität, die dem Verstand ein „etwas“ vermittelt, voneinan19 20

KrV A 504/B 532. KrV A 501f./B 529f.

Swedenborg in der „Kritik der reinen Vernunft“

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der zu unterscheiden, erhielt Kant das Instrument, Leibniz und Swedenborg begrifflich zu trennen.

3. Besitzt die Schwärmerei keine Logik? Zum Schluss möchte ich folgende These aufstellen: Um die Texte Kants als fortdauernde Debatte mit Swedenborg zu lesen, sollte nicht mehr danach gefragt werden, ob Kant gegen Swedenborg Recht hat oder ob Swedenborg trotz des Kantischen Verdikts sogar als der „wahre“ Aufklärer anzusehen ist. Das Problem besteht nicht mehr darin, ob Prophetie und Religion eine höhere Wahrheit repräsentieren als Rationalismus. Die Säkularisierung des Denkens oder die „Laienphilosophie“ – Freud spricht von der „Laienanalyse“21 – ist die Entfernung von einem Glauben, der sich mit einer begrifflichen Erfindung verwandelt. Nicht alle Formen von Glauben können eine derartige Verwandlung vollführen. Und es gibt auch andere Verwandlungen eines vorläufigen Glaubens als philosophische Entstellung. Die Logik – bei Kant, wie zu sehen war: die Logik der Negation – wurde zu seinem Instrument, mit dem er seine zuerst ängstliche und leidenschaftliche Begegnung mit Swedenborgs Gestalt und Denkart modifizierte. Die logische Operation entspringt aus dem Bestreben, sich von einem vorläufigen Glauben zu entfernen, und zwar auch dann, wenn diese Entfernung teilweise eine Missdeutung dessen nach sich zieht, von dem er sich entfernt hat. Natürlich gäbe es über diese Begegnung ohne Begegnung zwischen Kant und Swedenborg noch etwas anderes zu sagen,22 etwas, das Kant nicht klar auszusprechen vermochte: Swedenborgs Erleben und Denkart sind nicht nur als ein Mangel an Verstand zu deuten. Sein Wahnsinn besitzt auch eine Logik oder, besser ausgedrückt, eine Anordnung. Das kann man mit Freuds Traumdeutung so interpretieren. Ein Wahnsinn verfügt wie ein Traum über einen inneren Aufbau, der anders strukturiert ist als der Aufbau oder die Logik des Verstandes.23 Die Bedingung, um die „Traumarbeit“ zu verstehen, besteht darin, zuerst die Vorstellung aufzugeben, dass die Logik, die für die Wachen und für den Verstand gilt, als Urbild anzusehen ist. Auf dem Wege dieser methodischen „Aufgabe“ kann man andere Regeln entdecken, die nicht mehr für die Erkenntnis einer „realen Welt“ als Ziel des Gedankens gelten. Also besitzen die Prinzipien des Verstandes für einen Wunsch oder eine Begierde keinesfalls die Rolle eines Urbildes. Traum und Wahnsinn sollten hinfort nicht mehr als ein Mangel an Verstand begriffen werden. Wenn man die Logik 21 22

23

Freud, Sigmund, Die Frage der Laienanalyse. Leipzig / Wien / Zürich 1926. David-Ménard, Monique, L’Évidence d’un délire expliquée par l’évidence de la Moralité: Kant et Swedenborg, in: Le Cahier du Collège International de Philosophie, n°3. Paris 1987, S. 89– 108; Dies., La folie dans la raison pure. Kant lecteur de Swedenborg. Paris 1997. Freud, Sigmund, Die Traumdeutung, hg. v. Alexander Mitscherlich. Frankfurt/M. 2000, Bd. 2, Kapitel VI.

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des Verstandes und der Vernunft mit der Anordnung des Traums und des Wahnsinns vergleicht, ergibt sich demnach noch eine andere Aufgabe als die, die Kant vor Augen hatte. Dennoch hat Kant erfahren und begrifflich gezeigt, dass sich die Logik der Vernunft in der Nähe der Gefahr des Wahnsinns entwickelt. Dank seiner Philosophie, dank des transzendentalen Begriffs der Verneinung und der Modalität erhält diese Nähe einen philosophischen Sinn. Wenn man also Kant anders als Platon oder Erasmus liest, kann man behaupten, das seine Philosophie die Entdeckung einer Methode ist, sich vom Wahnsinn zu entfernen. Die Hauptthemen seiner Philosophie und vielleicht die Hauptthemen der Philosophie überhaupt sind als von dieser Quelle abhängig zu verstehen. Vielleicht bleibt die theoretische Einbildungskraft der Philosophie dieser Quelle verpflichtet, auch wenn es zuweilen gelingt, sich von dieser Quelle zu entfernen. In diesem Falle handelt es sich meiner Ansicht nach etwa um den „Laiengedanken“ oder um die Säkularisierung der Philosophie.

PAUL BISHOP (Glasgow)

Schwärmerei und Geisterseherei, Aufklärung und analytische Psychologie: Kant und Swedenborg aus der Sicht von C. G. Jung Es war eine schöne, windstille Mondnacht. Im Zimmer rauschte, klopfte und knisterte es; von außen tönten Schläge an die Mauern. Ich hatte das Gefühl, es sei etwas in der Nähe. Ich öffnete mit Mühe die Augen. Da sah ich neben mir auf dem Kopfkissen den Kopf einer alten Frau, das rechte Auge, weit aufgerissen, mich anstarrend. Die linke Gesichtshälfte fehlte bis zum Auge. Das kam so plötzlich und unerwartet, daß ich mit einem Satz aus dem Bett flog, Licht machte und bei Kerzenschimmer in einem Lehnstuhl den Rest der Nacht verbrachte.

Wer wissen will, wie die Geschichte weiter geht, der muss den Beitrag nachschlagen, den C. G. Jung (1875–1961) mit Fanny Mosers Spuk: Irrglaube oder Wahrglaube (1950) beisteuerte. Dort berichtet der Schweizer Psychologe und Psychoanalytiker über seine schauerlichen Erfahrungen während seiner Übernachtungen in einem alten Cottage in Buckinghamshire, England.1 Wer glaubt heutzutage noch an Geister? Einer, der vielleicht noch daran glauben würde, wäre eben C. G. Jung, der ja viele Erfahrungen mit dem Okkultismus gemacht haben soll (darunter auch einige in der Anwesenheit von Sigmund Freud). Jemand, der sicherlich an Geister geglaubt hat – oder zumindest an die Existenz und an die Fortdauer der Seele – war Emanuel Swedenborg, der auch an den Heiligen Geist (in einem gewissen Sinne, weil er die Trinitätslehre der großen christlichen Konfessionen ablehnte) und an das Leben nach dem Tode glaubte.2 Warum war Swedenborg wichtig für Jung? Und in welcher Hinsicht? Wie kam es dazu, dass Jung darüber hinaus die Meinung vertrat, dass Immanuel Kant selber, wenn er zu Jungs Lebzeiten noch gelebt hätte, ohne Zweifel Spiritist gewesen wäre? Was sind die Verknüpfungspunkte zwischen Schwärmerei und Geisterseherei, Aufklärung und analytischer Psychologie? Um die Beantwortung dieser Fragen geht es mir in diesem Beitrag.

I In der Debatte um die Beziehung zwischen der Ratio und dem Irrationalen, zwischen Philosophie und Religion, um die seit den Anfängen der Aufklärung im 17. und ihrem Höhepunkt im 18. Jahrhundert – auch heute – viel Streit tobt, wirken Kant und Swedenborg immer noch als Stellvertreter jeweils der Aufklärung bzw. 1

2

Jung, Carl Gustav, Gesammelte Werke, hg. v. Lilly Jung-Merker, Elisabeth Ruf und Leonie Zander. 20 Bde. Olten / Freiburg i.Br. 1960–1983, Bd. 18/i, §774. (Weiterhin zitiert mit der Abkürzung GW.) Benz, Ernst, Emanuel Swedenborg. Visionary Savant in the Age of Reason [deutsch 1948]. West Chester 2002, S. 461–466. Vgl. VCR §185.

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der religiösen Schwärmerei. Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seien folgende zwei (und zwar sehr unterschiedliche) Beispiele genannt. Erstens: In der Philosophie der Aufklärung, so Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973), erleben wir das Verschwinden des Subjekts: „Subjekt und Objekt“, beteuern sie, „werden beide nichtig“ und „die Weltherrschaft über die Natur wendet sich gegen das denkende Subjekt selbst, nichts wird von ihm übriggelassen“. Dies sei, so die Exponenten der Frankfurter Schule, „die Rechnung“, die „d[em] in den Sparten der Wissenschaft vor den Träumen eines Geistersehers gesicherten Denken“ präsentiert wird.3 Sich vor der Geisterseherei zu schützen, birgt also seine eigene Gefahr. Zweitens: In der Abhandlung über das sexuelle Leben von Kant, die dem (allerdings fiktiven!) Philosophen Jean-Baptiste Botul (1896–1947) zugeschrieben ist, werden einige Seiten Kants Lektüre von Swedenborgs Arcana coelestia gewidmet. Die Träume eines Geistersehers, resümiert Botul, bilden „einen regelrechten Angriff gegen einen schwedischen Phantasten namens Swedenborg, der seine Begegnungen mit den Geistern der Verstorbenen erzählt. Kant ist gegen diesen Swedenborg. Ganz dagegen. Das heißt, ganz daneben“, und (nur halb?) satirisch wird zwischen dem Mittagsdämon der christlichen Kirchenväter und der melancholischen acedia nach dem üppigen Mittagessen, zu denen Kant in seinem Haus in Königsberg einlud, eine Parallele gezogen.4 Freilich sind diese beiden Beispiele Texten entnommen, die sich – jeweils auf ihre eigene Weise – gewissermaßen außerhalb des philosophischen Mainstream befinden. Beide weisen aber auf ein Thema hin, das im Mittelpunkt eines Projekts zur Erforschung der Bedeutung der modernen Esoterik für die europäische Aufklärung steht: das Thema Kant und Swedenborg. Diese Auseinandersetzung des Philosophen der (deutschen) Aufkärung schlechthin mit dem schwedischen Philosophen und Geisterseher, auf dessen Schriften sich die sogenannte „Kirche von Neu Jerusalem“ beruft, hat C. G. Jung zeitlebens fasziniert. Aber nicht nur ihn. Und die intellektuellen Beziehungen zwischen Kant und Swedenborg bilden immer noch einen regen Forschungsgegenstand. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde das heiße Eisen (unter anderen) von dem deutschen Philosophen Hans Leisegang (1890– 1951)5 sowie von dem Sohn des bekannten Psychologen Hermann Ebbinghaus, Julius Ebbinghaus (1885–1981),6 und mehrmals von dem großen Theologen und

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5 6

Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M. 1988 [1944], S. 32. „[…] constitue une attaque en règle contre un illuminé suédois nommé Swedenborg, qui raconte ses rencontres avec les esprits des morts. Kant est contre ce Swedenborg. Tout contre. C’est-à-dire trop près […].“ Botul, Jean-Baptiste, La Vie sexuelle d’Emmanuel Kant. Paris 2000, S. 52–57. Leisegang, Hans, Kant und die Mystik, in: Philosophische Studien 1 (1949), S. 4–28. Ebbinghaus, Julius, Kant und Swedenborg. Vortrag gehalten auf der Deutsch-schwedischen Tagung, Rostock, November 1940 [veröffentlicht in: Jahrbuch des Auslandsamtes der deut-

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Kirchenhistoriker (und Swedenborg-Biographen) Ernst Benz (1907–1978) aufgegriffen.7 Nach dem Artikel von Liliane Weissberg8 sowie den monographischen Arbeiten zu diesem Thema von Monique David-Ménard9 und von Gottlieb Florschütz10 ist die Kant-Swedenborg-Beziehung in den letzten paar Jahren unter anderen von Michelle Grier hinsichtlich des Begriffs der „spiritual intuition“11 und von Gregory R. Johnson im Hinblick auf den positiven Einfluss Swedenborgs auf die kantische Moralphilosophie12 untersucht worden. Auch in Arbeiten, die sich nur indirekt mit der Kant-Swedenborg-Frage beschäftigen, taucht das Thema in einer Art und Weise auf, die für ihre andauernde Bedeutung Zeugnis ablegt. In ihrer inzwischen berühmt gewordenen Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung über die Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Das Andere der Vernunft (1983), verorten Hartmut und Gernot Böhme „den Ursprung der kritischen Philosophie“ in Kants Auseinandersetzung mit Swedenborg. „Wir vermuten“, so schreiben sie, „daß Kant in Swedenborg eine Art Zwillingsbruder, das Gegenbild seiner selbst erblickte, von dem sich zu trennen für ihn lebenswichtig war“.13 Auf diese These von Böhme und Böhme, Kant habe „eine Verwandtschaft zwischen Schwärmertum und Metaphysik entdeckt, vor der er zurückgeschreckt“ sei, ist John H. Zammito in seiner wegweisenden Untersuchung der „Geburt der Anthropologie“ in den Werken Kants und Herders (2002)

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11 12

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schen Dozentenschaft 1943, S. 80–94], in: Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden. Hildesheim 1968, S. 58–79. Benz, Ernst, Immanuel Swedenborg als geistiger Wegbahner des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 19 (1941), S. 1–32; ders., Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs. Frankfurt/M. 1947. Aber vgl. auch ders., Swedenborg und Lavater. Über die religiösen Grundlagen der Physiognomik, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 57 (1938), S. 153–216; und ders., Das mysteriöse Datum. Zu Kants Kritik an Swedenborg, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 61 (1942), S. 217–255. Weissberg, Liliane, Catarcticon und der schöne Wahn, in: Poetica 18 (1986), S. 96–116. David-Ménard, Monique, La folie de la raison pure. Kant lecteur de Swedenborg. Paris 1990. Florschütz, Gottlieb, Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant. Swedenborg und die okkulten Phänomene aus der Sicht von Kant und Schopenhauer. Würzburg 1992 (übers. als Swedenborg and Kant: Emanuel Swedenborg’s Mystical View of Humankind, and the Dual Nature of Humankind in Immanuel Kant. West Chester 1993). Grier, Michelle, Swedenborg and Kant on Spiritual Intuition, in: McNeilly, Stephen (Hg.), On the True Philosopher and the True Philosophy. Essays on Swedenborg. London 2003, S. 1–20. Johnson, Gregory R., Swedenborg’s Positive Influence on the Development of Kant’s Mature Moral Philosophy, in: McNeilly, (wie Anm. 11), S. 21–38. Vgl. auch ders., Kant on Swedenborg in the Lectures on Metaphysics. Part 1: 1760s–1770s, in: Studia Swedenborgiana 10/1 (Oktober 1996); ders., Kant on Swedenborg in the Lectures on Metaphysics. Part 2: 1780s– 1790s, in: Studia Swedenborgiana 10/2 (Mai 1997) [Online: http://www.baysidechurch.org]; und die Einführung in Johnson, Gregory R. / Magee, Glenn Alexander (Hg.), Kant on Swedenborg. Dreams of a Spirit-Seer an Other Writings. West Chester 2002, S. xi–xxvi. Böhme, Hartmut / Böhme, Gernot, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M. 1985, S. 251.

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etwas näher eingegangen.14 Und in einem vor kurzem erschienenen Artikel (2006), dessen Titel auf eine Stelle in der Kritik der praktischen Vernunft anspielt, wo Kant davor warnt, „die Theologie zur Zauberlaterne von Hirngespinstern zu machen“,15 ist Stefan Andriopoulos zum Schluss gekommen, dass die in den Träumen eines Geistersehers analysierten Begriffe der ‚Erscheinung‘ und des ‚Geistes‘ als eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Formulierung von Kants kritischer Philosophie sowie für Schopenhauers und Hegels Systementwürfe

fungieren, und dass aus beiden „Diskursfelder[n]“ – „d[er] lebhafte[n] wissenschaftliche[n] Debatte über Geistererscheinungen und de[m] philosophische[n] Idealismus“ – eine „implizite Theorie zeitgenössischer Medien“ hervorging, „welche die phantasmagorischen Bilder der um 1800 populären Laterna magica in ihrem paradoxen Oszillieren zwischen ‚Schein‘ und ‚Wirklichkeit‘ thematisiert“.16 Es handelt sich also um eine unerledigte Aufgabe, zu der auch Jung zu seiner Zeit seinen Senf gegeben hat.

II Auf die berühmte Geschichte, nach der Swedenborg eine hellseherische Vision eines großen Brandes hatte, der am Abend des 19. Juli 1759 in der schwedischen Hauptstadt Stockholm ausbrach und während der ganzen Nacht andauerte, weist Jung in seinem 1951 an der Eranos-Tagung in Ascona gehaltenen Vortrag mit dem Titel Über Synchronizität sowie in seiner ausführlicheren Abhandlung Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge hin, die zusammen mit einer Monographie des Schweizer Physikers Wolfgang Pauli, Der Einfluss archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler, in dem Band Naturerklärung und Psyche (1952) erschienen ist.17 Diese Geschichte dient Jung als Beispiel eines – wie er es ausdrückt – „synchronistischen“ Ereignisses. Jedoch reicht sein Interesse an der Geschichte von Swedenborg und dem großen Brand von Stockholm in seiner intellektuellen Entwicklung noch weiter zurück. Vor dem Zofingia-Verein, dem schweizerischen studentischen Verband, dem Jung im Jahre 1895 als Student beitrat und als dessen Vorsitzender der an die Universität in Basel angeschlossenen Gruppe er während des Wintersemesters 1897/1898 fungierte, referierte er schon im Mai 1897 in einem Vortrag mit dem Titel Einige 14 15 16

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Ebd., S. 258; Zammito, John H., Kant, Herder, and the Birth of Anthropology. Chicago / London 2002, S. 124–125, 188–189, 194–208. KpV. AA V, S. 141. Andriopoulos, Stefan, Die Laterna magica der Philosophie. Gespenster bei Kant, Hegel und Schopenhauer, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 80 (2006), S. 173–211. Vgl. Über Synchronizität und Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge: GW, Bd. 8, § 959–987 und § 816–958.

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Gedanken über Psychologie über Swedenborgs hellseherische Leistung, wobei er sich auf Kants Brief an Charlotte von Knobloch vom 10. August 1763 bezog.18 Aus diesen Vorträgen sowie aus dem von seiner Sekretärin, Aniela Jaffé, zusammengestellten autobiographischen Werk Erinnerungen, Träume, Gedanken (1961) geht hervor, dass sich Jung als Student heftig für Bücher über Geistererscheinungen, über Spiritismus, „über objektive psychische Phänomene“ interessierte – kurzum, für den Okkultismus. „Ich las“, so heißt es in Erinnerungen, Träume, Gedanken, „die ganze damals erreichbare Literatur über Spiritismus“,19 darunter Johann Karl Friedrich Zöllner (1834–1882) und Sir William Crookes (1832–1857), aber auch frühere Schriftsteller der Romantik wie etwa Carl Adolph Adam von Eschenmayer (1768–1862), Johann Karl Passavant (1790–1857), Justinus Kerner (1786–1862), Joseph Görres (1776–1848) und – last but not least – „sieben Bände“ von Swedenborg. Zu diesen „sieben Bänden“ Swedenborgs, die Jung als Student las, mögen wohl die Arcana coelestia gehört haben, eine Arbeit, mit der auch Kant vertraut war.20 Ab 1895 soll Jung spiritistische Experimente in dem Pfarrhaus seines Vaters in Klein-Hüningen (in der Nähe von Basel) unternommen haben und im Sommer 1898 nahm er an spiritistischen Séancen mit seiner Kusine, Hélène Preiswerk, teil, über die er später in Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene (1902) berichtete. In dieser medizinischen Dissertation entdeckte Jung „den zureichenden Grund für das seltsame Krankheitsbild“ seiner Kusine „in der aufkeimenden Sexualität“ und die Wurzel „[ihrer] ungeheuerlichen Ideen“ in „d[em] ahnungsvolle[n] sexuelle[n] Gefühl des Weibes, de[m] Traum der Fruchtbarkeit“ (GW, Bd. 1, §120), was ja sehr nach Freud klingt (und ihrer Familie wahrscheinlich kaum gefallen haben wird). Nichtsdestoweniger wähnte er sich, auch bei mehreren anderen Gelegenheiten Zeuge von verschiedenen okkulten Ereignissen – nicht zuletzt von einigen in Freuds Wohnung in Wien – gewesen zu sein.21 Laut F. X. Charet sei sogar die ganze Psychologie von Jung auf der Grundlage des Spiritismus gebaut.22

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Jung, Carl Gustav, Die Zofingia-Vorträge [Ergänzungsband, 1], Zürich und Düsseldorf 1997, §129 (Weiterhin zitiert mit der Abkürzung ZL). Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Aufgezeichnet und hg v. Aniela Jaffé. Olten / Freiburg i.Br. 1990, S. 106. Vgl. Über spiritische Erscheinungen (1905), GW, Bd. 18/i, §697–740. In Jungs Bibliothek in der Seestraße 227 in Küsnacht finden sich nur noch die folgenden zwei Werke: Abrégé des ouvrages d’Emanuel Swedenborg. Contenant la doctrine de la nouvelle Jérusalem Céleste, hg. v. Daillant de la Touche. Stockholm / Strasbourg 1788, und Swedenborg, Emanuel, Journal of Dreams and Spiritual Experiences in the Year 1744. Bryn Athyn 1918. Vgl. C. G. Jung Bibliothek. Katalog Küsnacht-Zürich 1967, S. 74. Erinnerungen, (wie Anm. 19), S. 111–114; vgl. 159–60. Zur weiteren Diskussion vgl. Bishop, Paul, Synchronicity and Intellectual Intuition in Kant, Swedenborg, and Jung. Lewiston u.a. 2000, S. 125–127. Charet, F. X., Spiritualism and the Foundations of C. G. Jung’s Psychology. Albany 1993.

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Am 4. Juli 1919 hielt Jung einen Vortrag an der British Society for Psychical Research – damals, wie jetzt, mit Sitz in der englischen Hauptstadt London. In seinem Vortrag beteuerte Jung: Das Spukhaus ist auch in den aufgeklärtesten und intellektuellsten Städten noch nicht ausgestorben, sowenig wie der Bauer aufgehört hat, an die Behexung seines Viehes zu glauben.23 In der Tat: viele Jahre später in seinem Beitrag zur Ufologie, Ein moderner Mythus. Von Dingen die am Himmel gesehen werden (1958), macht Jung deutlich, wie sehr für ihn heidnische und mittelalterliche Glaubensweisen – vor allem in seiner Heimat, in der Schweiz – noch am Leben waren: Mittelalter, Antike und Vorzeit sind nicht etwa ausgestorben, wie die ‚Aufgeklärten‘ meinen, sondern leben fröhlich weiter in beträchtlichen Bevölkerungsteilen. Älteste Mythologie und Magie gedeihen wie je mitten unter uns und sind nur den relativ wenigen unbekannt geworden, welche sich durch ihre rationalistische Bildung vom ursprünglichen Zustand entfernt haben. (GW, Bd. 10, §700)

Mit Freude berichtete Jung davon, wie er eines Tages im Hause eines ländlichen „Strudels“ auf ein Zauberbuch mit einer modernisierten Fassung der Merseburger Zaubersprüche und einer Zauberformel, die Göttin Venus heraufzubeschwören, stieß. Dabei fragte er sich, ob seine Landsleute an Wotan auch heute noch glauben: Wer nicht weiß, daß in schweizerischen Gauen immer noch – Aufklärung hin und her – ‚Wuotens Heer‘ umgeht, würde mich der größten Willkürlichkeit bezichtigen, wenn ich den Angsttraum eines Städters auf einsamer Alp auf die ‚säligen Lüt‘ bezöge, wo er doch von Menschen umgeben ist, denen das ‚Doggeli‘ und der nächtliche Heerzug eine gefürchtete, wennschon uneingestandene und angeblich unbekannte Wirklichkeit bedeuten. Es braucht ja so wenig, um den scheinbaren Abgrund, der zwischen der Vorwelt und der Gegenwart klafft, zu überbrücken. Unsere Identität mit dem momentanen Gegenwartsbewußtsein ist aber so groß, daß wir das ‚zeitlose‘ Sein der psychischen Grundlagen vergessen. (GW, Bd. 10, §701)

Von diesen und anderen Fällen sagte Jung, dem es anscheinend leicht fiel, heidnische Bräuche noch für gültig zu halten: Für alle, die mit diesen Hintergründen auch nur halbwegs bekannt und davon mehr oder weniger berührt sind, besteht die zwar ungeschriebene, aber um so strenger befolgte Konvention: ‚Davon spricht man nicht!‘ Infolgedessen wird höchstens davon gemunkelt, aber keiner steht dazu, denn niemand will für so dumm gehalten werden. Aber in der Wirklichkeit liegt der Fall ganz anders. (GW, Bd. 10, §700)

Und wie ganz anders der Fall in der Wirklichkeit liegen soll, hatte er in seinem Vortrag an der Londoner Society for Psychical Research erklärt. „Gerade im Zeitalter des Materialismus“, so hieß es dort, gerade in „dieser unvermeidlichen Folge der rationalistischen Aufklärung“ habe der Geisterglaube „eine Wiederbelebung auf höherer Stufe erlebt“. Damit meint Jung nicht so sehr Swedenborg oder „einen Rückfall in die Dunkelheit des Aberglaubens“, sondern eher „ein intensives wis23

Jung, Carl Gustav, Die psychologischen Grundlagen des Geisterglaubens (1919), GW, Bd. 8, §571. Vgl. Psychologie und Spiritismus, GW, Bd. 18/i, §746–756.

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senschaftliches Interesse, als ein Bedürfnis, mit dem Lichte der Wahrheit dieses düstere Chaos zweifelhafter Tatsachen zu erhellen“ (GW, Bd. 8. §571). Das heißt, dass Jung ausgerechnet die Wissenschaft, dieses Produkt der „rationalistischen Aufklärung“, einsetzen will, um zu einer Aufklärung über die Aufklärung zu kommen und um deren Grenzen aufzuzeigen. Er schreckt sogar nicht davor zurück, selber von einer Aufklärung – wortwörtlich von einer „Erhellung“ – zu reden. Diese Aufklärung über ist immerhin in einem gewissen Sinne eine Aufklärung gegen die Aufklärung. Die Forschungen von Crookes, Myers, Wallace, Zöllner (und später von J. B. Rhine) stellen, so Jung, „eine Reaktion des menschlichen Geistes gegen die materialistische Weltanschauung“ dar (GW, Bd. 8, §572) – eine Reaktion, zu der auch er gehören wollte. Dennoch ist Vorsicht geboten. Jung beschreibt „de[n] Seelenglauben“ als „ein Korrelat zum Geisterglauben“ (GW, Bd. 8, §577; vgl. §586), aber was heißt hier „Seele“? In diesem Zusammenhang bedeutet der Ausdruck „Seele“, dessen sich auch Freud öfters bedient hat, etwas völlig anderes als das, was Christen, seien sie katholischer, evangelischer oder swedenborgianischer Prägung, damit meinen. Denn für Jung wie auch für Freud ist das Wort „Seele“ gleichbedeutend mit „Psyche“: es handelt sich um einen psychologischen, nicht um ein religiösen Begriff. Daher interpretiert Jung die Geister als etwas letztendlich Psychologisches, nicht als einen Beweis für ein Leben nach dem Tod (wie im Fall von Swedenborg): Die Geister sind Komplexe des kollektiven Unbewußten, welche entweder an die Stelle einer verloren gegangenen Anpassung treten, oder eine ungenügend gewordene Einstellung eines ganzen Volkes durch eine neue zu ersetzen trachten. Die Geister sind also entweder krankhafte Gedanken oder noch unbekannte neue Ideen. (GW, Bd. 8, §597)

Das heißt, es gibt Geister, insofern es Archetypen gibt. Damit wäre Swedenborg nicht einverstanden gewesen – aber kehren wir zunächst einmal zu Jungs Lektüre von Swedenborg zurück.

III In Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge dient Swedenborgs Vision vom Stockholmer Brand als ein Beispiel eines synchronistischen Ereignisses. Als […] in Swedenborgs Bewußtsein die Vision von einem Brand in Stockholm entstand, da wütete dort auch ein entsprechendes Feuer, ohne daß das eine mit dem anderen in einem irgendwie nachweisbaren oder auch nur denkbaren Zusammenhang gestanden hätte. (GW, Bd. 8, §902)

Auch wenn Jung sich nicht anheischig machen wollte, „die archetypische Beziehung in diesem Fall aufzuzeigen“ (und zwar wohlweislich, weil es sie nicht gibt),

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weist Jung darauf hin, „daß die Biographie Swedenborgs gewisse Ereignisse berichtet, welche ein merkwürdiges Licht auf seinen psychischen Zustand werfen“. Er nimmt an, „daß bei [Swedenborg] eine Herabsetzung der Bewußtseinsschwelle bestand, welche das ‚absolute Wissen‘ “ – ein Begriff, der aus der Mottenkiste des deutschen Idealismus stammt – „zugänglich machte“. Der Stockholmer Brand, so Jung, „fand gewissermaßen auch in [Swedenborg] statt“, was ihn zu folgender Bemerkung veranlasst: Für die unbewußte Psyche scheinen Raum und Zeit relativ zu sein, das heißt, das Wissen befindet sich in einem raum-zeitlichen Kontinuum, in welchem Raum nicht mehr Raum und Zeit nicht mehr Zeit ist. (GW, Bd. 8, §902)

Die Art von Erkenntnis, zu der man in der Synchronizität gelangt, ist eine Erkenntnis, die außerhalb von Zeit und Raum ist. Das heißt, sie ist eine Erkenntnis, die Kant für uns ausschließt. Unter den verschiedenen Definitionen der Synchronizität, die Jung in seinen Werken anbietet, ragt eine hervor: die Synchronizität sei die Gleichzeitigkeit eines gewissen psychischen Zustandes mit einem oder mehreren äußeren Ereignissen, welche als sinngemäße Parallelen zu dem momentanen subjektiven Zustand erscheint und – gegebenenfalls – auch vice-versa. (GW, Bd. 8, §850)

Kurz gesagt, sie ist eine „sinngemäße Koinzidenz“ (GW, Bd. 8, §827).24 Wichtig ist, dass es sich bei der Synchronizität „nicht um Ursache und Effekt“ handelt, sondern um „eine Art von Gleichzeitigkeit“: Um des Merkmals der Gleichzeitigkeit willen habe ich den Ausdruck Synchronizität gewählt, um damit einen hypothetischen Erklärungsfaktor, der ebenbürtig der Kausalität gegenübersteht, zu bezeichnen. (GW, Bd. 8, §840)

„Das heißt“, führt Jung weiter aus, „es scheint, als ob Raum und Zeit in einem Zusammenhang mit psychischen Bedingungen stünden oder als ob sie an und für sich gar nicht existierten und nur durch das Bewußtsein ‚gesetzt‘ wären“. Was wiederum heißt, dass „an sich Raum und Zeit […] aus Nichts [bestehen]“; „sie sind daher“, schlussfolgert Jung, „wesentlich psychischen Ursprungs, was wohl der Grund ist, der Kant bewogen hat, sie als Kategorien a priori aufzufassen“ (GW, Bd. 8, §840).25 24

25

Auf die verschiedenen Definitionen der Synchronizität geht Roderick Maine in seiner Studie The Rupture of Time ein. Zu Recht identifizert Maine drei Hauptaspekte von diesem Begriff (vgl. §974); vgl. Maine, Roderick, The Rupture of Time. Synchronicity and Jung’s Critique of Modern Western Culture. Hove / New York 2004, S. 13f., 45–47. Philosophisch gesehen ist diese Schlussfolgerung natürlich falsch: für Kant sind die Kategorien nicht psychischen, sondern logischen Ursprungs, sie gehören der transzendentalen Logik an, und außerdem sind der Raum und die Zeit keine Kategorien – sie sind die Formen der Sinnlichkeit und als solche gehören sie zur transzendentalen Ästhetik. Hier sieht man Jung dabei, den Fehler des „Psychologismus” zu begehen, d.h., er hat die Philosophie (und besonders die

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Warum führt Jung dieses Beispiel des Stockholmer Brandes auf? Zumindest ein Grund dafür, dass er diesen Fall für „wohlbeglaubigt“ hält, liegt nicht zuletzt darin, dass Kant ihn in den Träumen eines Geistersehers erwähnt (vgl. GW, Bd. 8, §902, Fn. 66). Ein anderer Grund mag darin gesehen werden, dass ihn dieser Fall schon in seiner Studentenzeit faszinierte. Er taucht in seinem zweiten Zofingia-Vortrag auf, und hier, wie auch in seinem ersten, im November 1896 gehaltenen Vortrag mit dem Titel Über die Grenzgebiete der exakten Wissenschaft, zitiert er wiederholt aus Kants Träumen eines Geistersehers und aus dessen Vorlesungen. Kant habe, so Jung, „die Aussagen Swedenborgs auf ihre Richtigkeit geprüft und ist ihnen sine ira et studio völlig gerecht geworden“ (ZL, §105). Erstaunlicherweise behauptete Jung: „Lebte [Kant] heutzutage, so wäre er gewiß Spiritist“ (ZL, §105). Diese letzte Bemerkung aber hat Jung selbst nicht ausgeklügelt, sondern sie stammt von dem Spiritisten Carl du Prel (1839–1899), einem Mann, der, wie Jung uns wissen lässt, „eines genaueren Studiums“ würdig ist (ZL, §109). Denn die Quelle für Jungs Zitate aus Kants Vorlesungen in seinen eigenen Präsentationen vor dem Zofingia-Verein war die Ausgabe einiger Metaphysik-Vorlesungen Kants, die Carl du Prel im Jahre 1889 unter dem Titel Vorlesungen über Psychologie zusammen mit einer Einleitung über „Kants mystische Weltanschauung“ herausgab.26 In seiner Einleitung stellt du Prel die These auf, „Kant hat in seiner ‚Psychologie‘ die moderne mystische Philosophie antizipiert“;27 „die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ [hat] den mystischen Gedanken schon zu ihrer logischen Voraussetzung“;28 mehr noch: „in [Kants] Philosophie finden sich in intuitiver Form die Knospen, die seither zu Blüten sich entfaltet haben“,29 zu Blüten wie etwa du Prels Philosophie der Mystik (1884) sowie seiner Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften (1894–1895) (die letztere erwähnt Jung in seiner zweiten Zofingia-Vorlesung [ZL, §130]). Die „noumenale“ Welt Kants war zu einer numinosen verkommen! Als Student las Jung, seinen Erinnerungen, Träume, Gedanken zufolge, Kants Träume eines Geistersehers – und gleich danach du Prel, „der diese Ideen“ – so Jung – „philosophisch und psychologisch ausgewertet hatte“.30 Es stellt sich heraus, und wie könnte es denn anders gewesen sein, dass du Prels Auffassung von Kant als Mystiker auf Kritik stieß. Drei Jahre nach der Veröffentlichung der du Prel’schen Ausgabe der Vorlesungen über Psychologie erschien Paul von Linds Kant’s mystische Weltanschauung. Ein Wahn der modernen Mystik (1892), und

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Logik) auf die Psychologie und universell geltende logische Normen auf psychologische Auffassungsnormen reduziert. Prel, Carl du (Hg.), Immanuel Kants Vorlesungen über Psychologie. Leipzig 1889. Der Text dieser Ausgabe basiert auf Kants womöglich in den den Jahren zwischen 1778/1779 und 1792/1793 gehaltener Vorlesung L1, die von dem Dozenten für Jura und Begründer der Leipziger Staatsbibliothek, K. H. Ludwig Pölitz, im Jahre 1821 erstmals veröffentlicht wurde. Du Prel, Vorlesungen, (wie Anm. 26), S. x. Ebd., S. xx. Ebd., S. xviii. Erinnerungen, (wie Anm. 19), S. 106.

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eine regelrechte Schlammschlacht fand in den Seiten diverser Zeitschriften wie etwa Sphinx: Monatsschrift für Seelen- und Geistesleben, Philosophische Monatshefte und Die Zukunft statt. Später um die Jahrhundertwende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert wurde die Frage der Einstellung Kants zur Seelenwanderung und ähnlichen Fragen ernsthaft in den Seiten sowohl des New-Church Review als auch der Kant-Studien diskutiert. Dass Jung seine Kant-Interpretation von du Prel übernahm, hatte für die analytische Psychologie drei Konsequenzen. Erstens: In den Zofingia-Vorlesungen wird du Prel benutzt, um Jungs Kritik am Materialismus zu untermauern. Der Antimaterialismus du Prels tritt in seiner „Einleitung: Kants mystische Weltanschauung“ sehr stark ans Licht und muss Jung dementsprechend beeinflusst haben, besonders da, wo du Prel den Materialismus der Mystik gegenüberstellt: Das Dogma und die Voraussetzung des Materialismus ist, dass es in der ganzen Welt nichts Übersinnliches, sondern nur Materie gibt; alles, was in die Erfahrung tritt, kann demnach nur Modifikation der Materie sein, der menschliche Geist z.B. nur Modifikation des Gehirns. Diese Anschauung lässt für Mystik keinen Raum. – Die Voraussetzung der Mystik dagegen ist, dass Sinnlichkeit und Wirklichkeit – von den Materialisten für identisch gehalten – sich nicht decken, dass es neben der sinnlich wahrnehmbaren Welt noch eine andere gibt, neben der sinnlichen Erkenntnisweise noch eine andere, neben den Kräften und Gesetzen der sinnlichen Welt noch andere Kräfte und Gesetze.31

In seiner zweiten Zofingia-Vorlesung vertrat Jung eine ähnlich harte Linie gegen den Materialismus, besonders da, wo er sich ereiferte: „In das Läuten der Schandglocke über dem materialistischen Deutschland wird sich bald das inoffizielle homerische Gelächter der Nachwelt mischen“ (ZL, §135). Später warf Jung Freud Dogmatismus, Anti-Okkultismus und vor allem Materialismus vor. Einmal sogar erläuterte Jung den Unterschied zwischen Psychoanalyse und analytischer Psychologie dadurch, dass es Freud an dem Begriff des Geistes – vielleicht auch an dem Begriff der Geister? – mangele.32 Dass Jung ständig auf seinen eigenen antimaterialistischen Standpunkt pocht, mag etwas überraschen, hat doch die analytische Psychologie von einem alchemistischen Standpunkt aus die Materie wieder aufgewertet.33 31 32

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Prel, Carl du, Einleitung. Kants mystische Weltanschauung, in: Vorlesungen, (wie Anm. 26), S. xix–xx. Jung, Carl Gustav, Der Gegensatz Freud und Jung (1929), GW, Bd. 4, §776. Vgl. ders., Sigmund Freud als kulturhistorische Erscheinung (1932) (GW, Bd. 15, §71). Siehe auch Bishop, Paul, Jung’s Reception of Freud’s Traumdeutung, in: Castein, Hanne / Görner, Rüdiger (Hg.), Dream Images in German, Austrian and Swiss Literature. München 2002, S. 40–54. So beharrt Jung auf der Bedeutung des Stoffes: „Schließlich ist ja auch der menschliche Körper aus dem Stoffe der Welt gemacht, und an solchem Stoffe werden die Phantasien offenbar; ja, ohne diesen sind sie überhaupt unerfahrbar“ (Zur Psychologie des Kindarchetypus, GW, Bd. 9/i, §290). „ ‚Zuunterst‘ “ – wie Jung es aphoristisch ausdrückt – „ist daher Psyche überhaupt ‚Welt‘ “ (GW, Bd. 9/i, §291). In Der Geist Mercurius (1943/1948) heißt es sogar, dass es unmöglich sei, „jenen ungebärdigen und evasiven Mercurius von der Autonomie des Stoffes zu lösen“, denn der „Projektion klebt immer etwas vom Projektionsträger an“ (GW, Bd. 13, §286).

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Zweitens: Seine Lektüre von du Prel ist auch der Grund für Jungs stolze, wenn auch etwas verblüffende Behauptung, er sei Kantianer, und die analytische Psychologie sei auf den Prinzipen der kritischen Philosophie gebaut. Dieser Behauptung begegnet man oft in Jungs Schriften, ohne dass er genau erklärt, inwiefern die analytische Psychologie mit den Grundprinzipien der kritischen Philosophie übereinstimmt. Und wo er den Versuch unternimmt, gewisse Parallelen aufzuzeigen, tauchen bald Probleme auf. Drittens: mit der Übernahme der du Prel’schen These, „die ‚Träume‘ seien von der Aufklärung falsch gedeutet worden“,34 setzt Jungs Aufklärungs-Kritik ein. Diese Kritik taucht an verschiedenen Stellen in seinen Schriften auf, etwa im Vortrag vor dem Kulturbund in Wien im Jahre 1932 – 1934 als Vom Werden der Persönlichkeit – veröffentlicht, wo Jung behauptet, „die Aufklärung, welche die Natur und die menschlichen Institutionen entgöttert hat“, habe „den einen Gott des Schreckens, der in der Seele wohnt, übersehen“ (GW, Bd. 17, §302). In Nach der Katastrophe (1945) klagte Jung darüber, wie mit einem bloßen Aufklärungsakt […] zwar die Naturgeister ungültig geworden [sind], nicht aber die entsprechenden psychischen Faktoren, wie zum Beispiel die Suggestibilität, die Kritiklosigkeit, die Ängstlichkeit, die Neigung zum Aberglauben und Vorurteil.

Denn „[d]as Heer [der Dämonen], das sich zur Zeit eines Paracelsus noch fröhlich in Bergen, Wäldern, Gewässern und menschlichen Behausungen tummelte“, sei „unter dem Einfluß zunehmender wissenschaflicher Aufklärung bis auf klägliche Reste zusammengeschrumpft und schließlich gar verschwunden“ (GW, Bd. 10, § 431). Und an mehreren Stellen bezog sich Jung auf Goethes Faust, wo der Berliner Philosoph Friedrich Nicolai mit seinem Auftritt in der ersten Walpurgisnacht als „Proktophantasmist“ (d.h. als „Arsch-Hirngespinstler“) satirisch behandelt wird:

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Laut einer Version der Archetypen-Theorie sind die Archetypen Beweis dafür, dass die „instinktiv-archaische Grundlage unseres Geistes […] eine objektive, vorgefundene Gegebenheit“ bildet; Archetypen wären daher mit „d[er] anererbte[n] Struktur und funktionelle[n] Disposition des Gehirns oder irgendeines anderen Organs“ vergleichbar, denn wie „der Körper seine Entwicklungsgeschichte hat, von deren verschiedenen Stufen er noch deutliche Spuren an sich trägt, so auch die Psyche“ (Symbole der Wandlung [1952], GW, Bd. 5, §38). Auf diese Auffassung des Archetypen kommt Jung später zurück, als er den Archetypus definiert als „eine Tendenz zu [einer] Art Vorstellungsbildung“, die „sich praktisch überall und zu allen Zeiten antreffen“ lässt und „als solche eine Erbanlage der menschlichen Psyche dar[stellt]“ (Symbole und Traumdeutung [1964], GW, Bd. 18/i, §523). Auf diese Weise Archetypus und Gehirnstruktur gleichzusetzen, wäre wohl eine materialistische Auffassung; ebenso materialistisch, aber auf eine andere Art und Weise, ist folgender Hinweis Jungs: „Es gibt so viele Archetypen, als es typische Situationen im Leben gibt. Endlose Wiederholung hat diese Erfahrungen in die psychische Konstitution eingeprägt […] als Formen ohne Inhalt, welche bloß die Möglichkeit eines bestimmten Typus der Auffassung und des Handelns darstellen“. Diesem Modell zufolge gilt die Regel: „wenn sich im Leben etwas ereignet, was einem Archetypus entspricht“, wird dieser „aktiviert“. Der Begriff des kollektiven Unbewußten (1936), GW, Bd. 9/i, §99. Du Prel, Einleitung, (wie Anm. 31), S. lix.

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Paul Bishop Ihr seid noch immer da! nein, das ist unerhört. Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt! Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel; Wir sind so klug, und dennoch spukt’s in Tegel.35

Gerade auf diese Stelle spielt Jung in Zur Psychologie des Kindarchetypus (1940) an, wenn er bemerkt, wie „der wissenschaftliche Intellekt […] immer wieder einmal in aufklärerische Allüren [verfällt] und […] mit dem Spuk endlich aufzuräumen [hofft]“.36 Wir sind so klug, dachte Jung, und dennoch hat’s gebrannt – in Stockholm […].

IV Den Hintergrund zur heutigen Forschung über Kant und Swedenborg insgesamt bildet der Begriff des sogenannten „covert Enlightenment“ oder „mystical Enlightenment“ – so heißt jedenfalls der gedankengeschichtliche Terminus, den Clarke Garrett in seinem Artikel Swedenborg and the Mystical Enlightenment in Late Eighteenth-Century England (1984) geprägt37 und den Alfred J. Gabay in seiner vor kurzem veröffentlichten Monographie The Covert Enlightenment: EighteenthCentury Counterculture and Its Aftermath (2005) ausgearbeitet hat.38 Auf eine gewisse Art und Weise existiert dieses „covert“ oder „mystic Enlightenment“ auch heute noch. Denn in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts fand der „New-

35

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Goethe, Johann Wolfgang von, Faust I, Z. 4158–4161 (gr. ʌȡȦțIJȩȢ = „Hinterteil“). Hintergrundinformationen zur Satire in dieser Szene liefert W. E. Weber, der im Kommentar von Albrecht Schöne zitiert wird: Der Aufklärungsphilosoph Friedrich Nicolai (1733–1811), der „gegen Aberglauben, Mysticismus, Gespenster und ähnliche Phantome mit blindem Eifer gefochten hatte, erlebte im Februar 1791 das Malheur, daß ihm nach heftigen Gemüthsaffectionen, wahrscheinlich in Folge des vielen Sitzens und hämorrhoidalischer Beschwerden, allerlei Erscheinungen vor Verstorbenen und Lebenden […] vorkamen und sich vor ihm stunden- und tagelang herumbewegten. Bereits in früheren Jahren hatte Nicolai gegen Schwindel und Congestionen des Bluts nach dem Kopfe die Ansetzung von Blutigeln am After erprobt gefunden, und auch bei jenen Visionen ward endlich am 20. April des bezeichneten Jahres dem unbescheidenen Geisterspuke durch Verordnung des nämlichen Mittels ein Ziel gesetzt [vgl. Nicolai, Friedrich, Beispiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen’, in: Neue Berlinische Monatsschrift (Mai 1799), S. 321–360]“, vgl. Weber, Wilhelm Ernst, Goethe’s Faust, Halle 1836, S. 110–111, in: Goethe, Johann Wolfgang von, Sämtliche Werke: Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Albrecht Schöne. 40 Bde, Bd. 7/ii, Faust: Kommentare. Frankfurt/M. 1994, S. 358. GW, Bd. 9/i, §267; vgl. GW, Bd. 6, §116, GW, Bd. 8, §309 und §710, GW, Bd. 11, §750. Garrett, Clarke, Swedenborg and the Mystical Enlightenment in Late Eighteenth-Century England, in: Journal of the History of Ideas 45 (1984), S. 67–81. Gabay, Alfred J., The Covert Enlightenment. Eighteenth-Century Counterculture and Its Aftermath. West Chester 2005. Im Gegensatz dazu vgl. das vor ein paar Jahren erschienene Buch über Spinoza und die radikale Aufklärung: Israel, Jonathan, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750. Oxford 2001.

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Age“-Jung seinen Höhepunkt,39 und von manchem Vertreter der heutigen „Counterculture“, dem „New Age“, wird Jung bis jetzt ins Feld geführt.40 Der „New-Age“-Jung dient als Beispiel eines Phänomens, das im 18. Jahrhundert wohl bekannt war. Für dieses Phänomen wurde der Begriff der „Schwärmerei“ (auf englisch: enthusiasm) geprägt. Wie das sogenannte „covert Enlightenment“ eine Reaktion auf die Aufklärung darstellt, so bildet die Aufklärung selbst eine Bewegung, die sich die Aufgabe stellt, auf das Problem der Schwärmerei eine Antwort zu geben. Der Enthusiasmus oder die Schwärmerei bildet das Problem schlechthin der europäischen Aufklärung: man findet Erörterungen zu diesem Thema bei Voltaire (1694–1778), bei den Enzyklopädisten und bei Leibniz (1646–1716) in den Nouveaux Essais sur l’entendement humain (1702–1703). Im angelsächsischen Sprachraum gab es eine Tradition der Schwärmerei-Kritik, die man bei Méric Casaubon (1599–1671) in seinem Treatise concerning Enthusiasme (1655) und Henry More (1614–1687) in Enthusiasmus Triumphatus (1656), bei John Locke (1632–1704) in seinem Essay concerning Human Understanding (1689) und bei Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) findet.41 Schon von der Etymologie des Wortes her – aus dem Griechischen entheos, „voll von Gott“ – ist sein religiöser Sinn deutlich erkennbar. Darüber hinaus kam der Begriff der „Schwärmerei“ im deutschsprachigen Gebiet oft ins Gespräch, und er taucht auch gelegentlich bei Kant auf, der sich mit diesem Problem während vieler Jahre beschäftigte.42 In seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) definierte er „de[n] Fanatiker (Visionär, Schwärmer)“ als „ein[en] Verrückte[n] von einer vermeinten unmittelbaren Eingebung und einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels“ – „[d]ie menschliche Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk“ (KGS, Bd. 2, S. 267). In der dritten Kritik (1790) be39

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Ende der achtziger Jahre erschien zum Beispiel ein Artikel in der österreichischen Nachrichtenzeitschrift Profil über zwei New-Age-Anhänger, Mirabelle und René Coudris, die behaupteten, mit dem 1961 gestorbenen Jung in direktem Kontakt zu stehen. Auf die Abqualifizierung ihrer Aktivitäten von der Erbengemeinschaft C. G. Jungs als „unseriös“ antwortete René Coudris wie folgt: „Die sagen, das ist nicht C. G. Jung, der da spricht. Wir sagen, er hat sich weiterentwickelt, er steht jetzt auf einer anderen Qualitätsstufe“. Siehe Schmiederer, Ernst / Skalnik, Christian, Die neue Heilsleere, in: Profil, Bd. 19, Nr. 9 (29. Februar 1988), S. 73–78. Zur weiteren Diskussion siehe Gess, Heinz, Vom Faschismus zum Neuen Denken. C. G. Jungs Theorie im Wandel der Zeit. Lüneburg 1994, besonders Kapitel 1: „Die Renaissance von C. G. Jung im New Age und die Prämissen der Lehre C. G. Jungs“, S. 7–14; wie auch Tacey, David, Jung and the New Age, London / New York 2001. Locke, John, An Essay concerning Human Understanding [1689], hg. v. Peter H. Nidditch. Oxford 1975, 4. Buch, Kapitel 19: „Of Enthusiasm“, S. 697–706: „Enthusiasm […] ris[es] from the conceits of a warmed or over-weening brain“ (§7; S. 699); und Coleridge, Samuel Taylor, Biographia Literaria, hg. v. George Watson. London / New York 1965 [1817], S. 16: „The German word for fanaticism (such at least was its original import) is derived from the swarming of bees, namely, schwärmen, Schwärmerey.“ Für Kants vollständigste Definition der Schwärmerei, siehe seinen Brief vom März 1790 an seinen zukünftigen Biographen Ludwig Ernst Borowski (1740–1831), der 1790 unter dem Titel Über Schwärmerei und die Mittel dagegen selbständig veröffentlich wurde, AA XI, S. 141– 143.

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schrieb er die Schwärmerei als „ein[en] Wahn […], über alle Gränze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d.i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen), zu wollen“ (KGS, Bd. 5, S. 275). Und in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) wird „Schwärmerei“ mit der „Geisterseherei“ gleichgesetzt, und beide werden mit der „Illusion“ identifiziert, die in einem „Betrug des inneren Sinnes“ besteht (KGS, Bd. 7, S. 161). Auch wenn die ganze Geschichte der Schwärmerei oder des Enthusiasmus sehr komplex ist, wie Ronald Knox in seiner Studie gezeigt hat,43 lässt sich ein Werk herausgreifen, das gerade das veranschaulicht, was in der ganzen jahrzehntelangen Debatte im 17. und 18. Jahrhundert auf dem Spiel steht: der 1708 veröffentlichte Letter concerning Enthusiasm des englischen Philosophen Anthony Ashley Cooper, des Grafen von Shaftesbury (1671–1713).44 Vor dem Hintergrund der religiösen Verfolgung in Frankreich, besonders der durch die katholische Kirche veranlassten Vertreibung vieler, nach London auswandernder Protestanten aus Südfrankreich fragte sich Shaftesbury – und die Frage bleibt ja höchst aktuell: Wie kann man dem religiösen Fanatismus Einhalt gebieten? Wie soll man mit ihm umgehen, um ihm ein Ende zu setzen? Was zunächst als ein rein philosophisches Problem in Form einer Reihe von epistemologischen Fragen anfängt – Was sind unsere Erkenntnisquellen? Können wir jemals Gewissheit erlangen? Wo liegen die Grenzen der menschlichen Vernunft? – wird bald heikel, wenn jemand glaubt, ihm sei direkt von Gott befohlen worden, etwas zu tun (ein Buch zu schreiben, einen Anschlag zu verüben oder einen Krieg anzufangen). Was aber tun mit dem Fanatismus? Denn die Verfolgung macht genau denselben Fehler, den der Enthusiasmus, den die Schwärmerei begeht, d.h. sie wird intolerant.45 Die einzige Art und Weise, so Shaftesbury, um die Schwärmerei zu bekämpfen, ist eine eher unkonventionelle Methode – der Einsatz von wit und good humour, gegen die der Fanatismus, von welcher Art auch immer, sich nicht wehren kann.46 Deshalb sind Cartoons, egal, ob sie den Propheten Mohammed oder den

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44

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Knox, Ronald A., Enthusiasm. A Chapter in the History of Religion with special reference to the XVII and XVIII Centuries. Oxford 1950. Vgl. Klein, Lawrence E. / La Vopa, Anthony J. (Hg.), Enthusiasm and Enlightenment in Europe, 1650–1850 = Huntington Library Quarterly: Studies in English and American History and Literature 60/1–2 (1998), besonders La Vopa, Anthony J., The Philosopher and the Schwärmer. On the Career of a German Epithet from Luther to Kant. S. 85–115. A Letter concerning Enthusiasm, in: Cooper, Anthony Ashley, 3rd Earl of Shaftesbury, Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times [1711], hg. v. Philip Ayres. 2 Bde, Oxford 1999, Bd. 1, S. 5–81. Seit kurzem übrigens liegt dieser Brief in französischer Übersetzung mit ausführlichem Kommentar vor. Vgl. Shaftesbury, Letter sur l’enthousiasme, hg. v. Claire Crignon-de Oliveira. Paris 2002. Hier liegt vielleicht die Verwandtschaft zwischen Schwärmerei und Metaphysik, die – laut Böhme und Böhme – Kant so sehr erschreckte. Vgl. auch: Sensus Communis. An Essay on the Freedom of Wit and Humour, in: Shaftesbury, Characteristicks, (wie Anm. 44), Bd. 1, S. 35–81. Sogar Kant definiert den Menschen als „ein thier, das lacht“. R 2978. AA XVI, S. 597.

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Papst karikieren, so wichtig, und die ganze Tradition des philosophischen Lachens, von Demokrit bis hin zu Nietzsche, warnt uns davor, uns vor denjenigen zu hüten, die nicht zu lachen wissen. Genau diese Methode setzt Kant in seinen Träumen eines Geistersehers ein, was jedoch von vielen – darunter, so scheint es, auch C. G. Jung – übersehen wird. Obwohl das Problem der Schwärmerei gravierende gesellschaftliche und politische Konsequenzen hat, bleibt es ein ausgesprochen philosophisches Problem. Epistemologisch handelt es sich um die Frage der Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Nach seinen Erfahrungen in London im Jahre 1745, bei denen Swedenborg glaubte, in direkten Kontakt mit Geistern zu treten, entwickelte er ein komplexes theologisches System. Auf den ersten Seiten der Arcana coelestia erscheint die Behauptung auf eine mystische Sicherheit für seine Weltsicht: […]daher vorläufig kund werden mag, daß vermöge der göttlichen Barmherzigkeit des Herrn mir (E. Swedenborg) vergönnt worden ist, schon einige Jahre lang fortwährend und ununterbrochen im Umgang mit Geistern und Engeln zu sein, sie reden zu hören, und wieder mit ihnen zu reden; daher staunenswerte Dinge im anderen Leben zu hören und zu sehen gegeben worden, die nie zu eines Menschen Kenntnis, noch in seine Vorstellung gekommen sind.47

Diese Erfahrungen basieren genauso wie seine hellseherische Vision des großen Stockholmer Brandes auf dem Prinzip einer nichtsinnlichen Erkenntnis. Worum es geht, behandelt Kant in einer seiner Vorlesungen über die Metaphysik: Wir können uns aber einen Verstand denken, der die Dinge erkennt, so wie sie sind, aber durch Anschauung. Ein solcher Verstand ist intuitiv. Es kann einen solchen Verstand geben; nur der menschliche ist es nicht. Diese Definition hat Anlaß gegeben zur mystischen Vorstellung des Verstandes. Denken wir uns nämlich den menschlichen Verstand als ein Vermögen, Dinge durch Anschauung zu erkennen, so wie sie sind; so ist dies ein mystischer Verstand; z.E. wenn wir glauben, daß in der Seele ein Vermögen intellectueller Anschauungen liege; so ist solches ein mystischer Verstand. Wir haben ein Vermögen, Dinge zu erkennen, so wie sie sind, aber nicht durch Anschauung, sondern durch Begriffe.48

Auf den intuitiven Verstand ließe sich der Spruch Kafkas über die Hoffnung anwenden: zwar gibt es ihn – aber nicht für uns.49 An einer Stelle in den Träumen beschreibt Kant „ein[en] Hauptbegriff in Schwedenbergs Phantasterei“ wie folgt: Die körperliche Wesen haben keine eigene Subsistenz, sondern bestehen lediglich durch die Geisterwelt, wiewohl ein jeder Körper nicht durch einen Geist allein, sondern durch alle zusammengenommen. Daher hat die Erkenntniß der materiellen Dinge zweierlei Bedeutung, einen äußerlichen Sinn in Verhältniß der Materie aufeinander und einen innern, in so fern sie als Wirkungen die Kräfte der Geisterwelt bezeichnen, die ihre Ursachen sind. So hat der Körper des Menschen ein Verhältniß der Theile untereinander nach materiellen Gesetzen; aber in so fern er durch den Geist, der in ihm lebt, erhalten wird, haben seine verschiedene Gliedmaßen 47 48 49

AC 5. Metaphysik L1. AA XXVIII/1, S. 241. Vgl. Politzer, Heinz, Unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns. Ein verschollener Vortrag über Franz Kafka, in: Neue Rundschau 104/4 (1993), S. 157–167 (S. 166).

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und ihre Funktionen einen bezeichnenden Werth für diejenige Seelenkräfte, durch deren Wirkung sie ihre Gestalt, Thätigkeit und Beharrlichkeit haben. Dieser innere Sinn ist den Menschen unbekannt, und den hat Schwedenberg, dessen Innerstes aufgethan ist, den Menschen bekannt machen wollen.50

Aber den Grundsätzen der kritischen Philosophie zufolge lässt sich das Innerste des Menschen nicht auftun, und der Traum unseres Geistersehers stellt sich als der Traum von unmittelbarer Erkenntnis heraus – als ein Traum, der nicht in Erfüllung gehen kann. Diese Position macht Kant unmissverständlich klar – d.h. unmissverständlich, wenn man das Buch als ein Ganzes, als ein architektonisch Strukturiertes liest – in den Träumen eines Geistersehers. Gibt es Geister? „Man kann demnach die Möglichkeit immaterieller Wesen annehmen ohne Besorgnis, widerlegt zu werden“, schreibt Kant, aber er fügt hinzu: „wiewohl auch ohne Hoffnung, diese Möglichkeit durch Vernunftgründe beweisen zu können“.51 „Ich gestehe, daß ich sehr geneigt sei, das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten, und meine Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen“, beteuert er, aber er geht sofort weiter: „Alsdenn aber wie geheimnisvoll wird nicht die Gemeinschaft zwischen einem Geiste und einem Körper?“52 Gibt es eine Geisterwelt? „Diese immaterielle Welt kann also als ein für sich bestehendes Ganze angesehen werden, deren Theile untereinander in wechselseitiger Verknüpfung und Gemeinschaft stehen, auch ohne Vermittelung körperlicher Dinge“, usw., usw., aber er sagt auch: „Übrigens ist die Berufung auf immaterielle Prinzipien eine Zuflucht der faulen Philosophie“.53 An einer anderen Stelle heißt es: „Es ist demnach so gut als demonstrirt, oder es könnte leichtlich bewiesen werden, wenn man weitläuftig sein wollte, oder noch besser, es wird künftig, ich weiß nicht wo oder wenn, noch bewiesen werden“ – nochmals erinnert Kants ironischer Stil an den Satzbau Kafkas – daß die menschliche Seele auch in diesem Leben in einer unauflöslich verknüpften Gemeinschaft mit allen immateriellen Naturen der Geisterwelt stehe, daß sie wechselweise in diese wirke und von ihnen Eindrücke empfange, deren sie sich aber als Mensch nicht bewußt ist, so lange alles wohl steht.54

Es ist anzumerken, was gleich danach kommt: „Andererseits ist es auch wahrscheinlich, daß die geistige Naturen unmittelbar keine sinnliche Empfindung von der Körperwelt mit Bewußtsein haben können, weil sie mit keinem Teil der Materie zu einer Person verbunden sein“, und der Satz geht weiter – viel, viel weiter.55 Schließlich und vor allem sieht Kant in der Schwärmerei eine Gefahr für die Moral: 50 51 52 53 54 55

AA II, S. 363f.; Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, hg. v. Rudolf Malter. Stuttgart 1976, S. 71. AA II, S. 323; Malter, (wie Anm. 50), S. 12. AA II, S. 327; Malter, (wie Anm. 50), S. 18–19. AA II, S. 330f.; Malter, (wie Anm. 50), S. 22, 24. AA II, S. 333; Malter, (wie Anm. 50), S. 26f. AA II, S. 333; Malter, (wie Anm. 50), S. 27.

Kant und Swedenborg aus der Sicht von C. G. Jung

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Daher scheint es der menschlichen Natur und der Reinigkeit der Sitten gemäßer zu sein: die Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohlgearteten Seele, als umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der andern Welt zu gründen.

Denn [s]o ist auch der moralische Glaube bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustande angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt.56

Erkenntnis und Moral hängen demnach untrennbar zusammen, aber anders, als sich Swedenborg vorstellte. In den Träumen eines Geistersehers wird Kants philosophisches Hauptprojekt von der Metaphysik insgesamt als „eine[r] Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ umrissen.57 Aber er verwendet auch wit and humour, um seine polemischen Zwecke zu erreichen, wovon drei Stellen als Beispiele dienen können. Erstens, wo er dem Satz, „wie viel Dinge gibt es doch, die ich nicht einsehe“, den folgenden hinzufügt, „wie viel Dinge gibt es doch, die ich alle nicht brauche“;58 zweitens, wo er über Tyge Brahé (1546–1601) die Anekdote erzählt, dass der berühmte dänische Astronom einmal meinte, zur Nachtzeit nach den Sternen den kürzesten Weg fahren zu können, woraufhin ihm sein Kutscher soll geantwortet haben: „Guter Herr, auf den Himmel mögt Ihr Euch wohl verstehen, hier aber auf der Erde seid Ihr ein Narr.“;59 und drittens, am Ende des dritten Hauptstücks im ersten Teil, wo Kant aus dem Hudibras (1663–1678), dem satirischen Epos von Samuel Butler (1612–1680), der auch die Religion aufs Korn nimmt, folgende Stelle zitiert: Wenn ein hypochondrischer Wind in den Eingeweiden tobet, So kommt es darauf ein, welche Richtung er nimmt, Geht er abwärts, so wird daraus ein F[urz], Steigt er aber aufwärts, so ist es eine Erscheinung oder heilige Eingebung. As wind in th’ hypocondries pent Is but a blast if downward sent; But if it upwards chance to fly Becomes new light and prophecy.60

56 57 58 59

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AA II, S. 373; Malter, (wie Anm. 50), S. 84. AA II, S. 368; Malter, (wie Anm. 50), S. 76–77. AA II, S. 369; Malter, (wie Anm. 50), S. 78. AA II, S. 341; Malter, (wie Anm. 50), S. 39. Möglicherweise dient dieser Anekdote über Tyge Brahé eine von Platon sowie von Diogenes Laertius erzählte Geschichte über Thales (Theaetet 174a; Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 1.xxxiv) als Vorlage. Aber der Astronom kommt auch in dem von Kant zitierten Hudibras von Samuel Butler vor, wo von Sir Hudibras erzählt wird: „In mathematics he was greater / Than Tychoe Brahe or Erra Pater“ (The First Part, Canto I, Z. 119–120; siehe Anm. 60). AA II, S. 348; Malter, (wie Anm. 50), S. 48; vgl. The Second Part, Canto III, Z. 773–776, in: Butler, Samuel, Hudibras. Parts I and II and Selected Other Writings, hg. v. John Wilders and

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Toilet humour im Dienst der Metaphysik also. Damit knüpft Kant (über Butler) auch an ein satirisches Motiv an, das dem kynischen Philosophen Demetrius aus Sunium zuzuschreiben ist (wenn man dem 91. Brief Senecas61 Glauben schenkt – sind doch die Kyniker im allgemeinen bekannt als Meister in der Kunst, wie man eine Blähung abgehen lässt).62 Es läuft durch Kants Text hindurch eine ganze Verdauungs-Metaphorik: Kant spielt auf Leibniz an: „Leibnizens scherzhafter Einfall, nach welchem wir vielleicht im Kaffee Atomen verschluckten, woraus Menschenleben werden sollen, wäre nicht mehr ein Gedanke zum Lachen“;63 es ist vom „Brennen“ und vom „Purgieren“ (die Vernunft muss ja rein sein!) die Rede,64 von der Bearbeitung eines „undankbaren Stoff[es]“,65 von „eitle[m] Wissen, welches den Verstand aufbläht“.66 Überall macht die literarische Qualität des Textes sich bemerkbar, von den Zitaten aus Horaz und Vergil bis hin zum abschließenden Zitat aus dem französischen Aufklärer und Kirchenfeind, Voltaire, dessen Candide empfiehlt: „Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten“.67 Wie Kants russischer Biograph Arsenij Gulyga richtig erkannt hat, sind die Träume „ein glänzendes Beispiel der Kantischen Kunst der Ironie“.68 Obwohl Kant als Ironiker oft unterschätzt wird, setzte er allerdings seine ironischen Stilmittel auch in anderen Texten ein, etwa in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) und in der Abhandlung zum Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte (1786).69

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Hugh de Quehen. Oxford 1973, S. 180. In Hudibras heißt es weiter: „So when your speculations tend / Above their just and useful end, / Although they promise strange and great / Discoveries of things far-fet, / They are but idle dreams and fancies“ (Z. 777–781; S. 181). Zur allgemeinen Einführung in diesen großen satirischen Text des 17. Jahrhunderts in England siehe Wasserman, George R., Samuel „Hudibras” Butler. Boston 1976. Seneca, Brief XCI; in: Seneca, Epistles 66–92. Cambridge / London 1920, S. 444f. Vgl. das Kapitel „Méthodologie du pétomane“, in: Onfray, Michel, Cynismes. Portrait du philosophe en chien. Paris 1990, S. 75–82. AA II, S. 327; Malter, (wie Anm. 50), S. 17f. AA II, S. 348; Malter, (wie Anm. 50), S. 48. Ähnlich bedient sich Shaftesbury einer klinischen Metapher in seinem Letter: „There are certain Humours in Mankind, which of necessity must have vent“ [Es gibt gewisse Körpersäfte, denen man notwendigerweise freien Lauf lässt]. Und er warnt davor, „Shou’d Physicians endeavour absolutely to allay those Ferments of the body, and strike in the Humours which discover themselves in such Eruptions, they might, instead of making a Cure, bid fair perhaps to raise a plague“ [Sollten Ärzte versuchen, jene Gärungen des Körpers zu stillen und die Körpersäfte zu bekämpfen, die sich in solchen Eruptionen befinden, würden sie riskieren, anstatt ein Heilmittel zu schaffen, eine Seuche über das Land zu bringen] (Characteristicks, (wie Anm. 44), Bd. 1, S. 12f.). AA II, S. 367; Malter, (wie Anm. 50), S. 75. AA, II, S. 368; Malter, (wie Anm. 50), S. 77. AA II, S. 373; Malter, (wie Anm. 50), S. 85. Gulyga, Arsenij, Immanuel Kant. Eine Biographie. Frankfurt/M. 2004 [1977], S. 238. Gulyga, (wie Anm. 68), S. 77, 238. Zu Kant als Ironiker, siehe S. 235: „Hegel, der gegen die Romantiker polemisierte, forderte die Rückkehr zu einem sokratischen Verständnis von Ironie. Wenn er gewollt hätte, hätte er sich dabei auf Kant stützen können“.

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Kants Urteil über Swedenborg fällt in den Träumen eines Geistersehers deutlich negativ aus, und die Schwärmerei wird in diesem Text, wie auch in all seinen anderen, verurteilt. Dennoch oder gerade deswegen hat sich Kant um die stilistischen Aspekte seines kleinen Buches sehr bemüht, und er hat versucht, genau den wit and humour einzusetzen, den Shaftesbury empfohlen hat. Lassen wir beiseite, dass einige Bemerkungen uns heutzutage als nicht besonders gelungen scheinen mögen. In seiner Rezension der Träume in der Allgemeinen deutschen Bibliothek hat Moses Mendelssohn (1729–1786) den „scherzenden Tiefsinn, mit welchem dieses Werkchen geschrieben ist“, hervorgehoben und gelobt, aber exakt im Stil der Geisterseher-Schrift hinzugefügt, dieser scherzende Tiefsinn lasse „den Leser zuweilen in Zweifel, ob Herr Kant die Metaphysik hat lächerlich, oder die Geisterseherey glaubhaft machen wollen“.70 Ein Leser, der den Scherz nicht verstanden hat, war C. G. Jung.

V Was hat es mit Kants Kritik an Swedenborg auf sich? Warum verstand sich Kant als philosophischer Gegner Swedenborgs – ja, warum musste er sich so verstehen? Es gibt ja drei Aspekte, die dermaßen grundlegend sind, dass man sie in jedem Textbuch finden sollte; man findet sie z.B. in dem zweiten Band von Wolfgang Röds Weg der Philosophie. Wegen ihrer unmissverständlichen Klarheit zitiere ich ihn hier. Erstens, es geht um die Erkenntnistheorie: Swedenborg soll über telepathische Fähigkeiten verfügt haben, und er beanspruchte, mit einem Geisterreich jenseits der Welt der Dinge in Verbindung zu stehen. Kant sah in diesem Anspruch ein Seitenstück zum Glauben der spekulativen Metaphysiker an die Erkennbarkeit einer transzendenten Realität.71

Stattdessen wird für Kant die Metaphysik, in die er „verliebt“ ist, zu „eine[r] Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“. Zweitens, es geht um die (mangelnde) logische Kohärenz spiritistischer Erklärungen: Auch die Möglichkeit telepathischer Phänomene sollte Kant nicht in dogmatischer Weise leugnen, sondern er fragte, wie eine nicht durch Zusammenhänge der körperlichen Welt vermittelte Kommunikation zwischen Geistern begreiflich zu machen wäre. Die Annahme, dass es tatsächlich telepathische Erfahrungen gebe, genügt nicht; entscheidend ist, ob es eine Erklärung der behaupteten Tatsache gibt. Die vorgebliche Verbindung zwischen angenommenen geisti-

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Mendelssohn, Moses, Rezension, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek. Bd. 4, 2. Stück, Berlin / Stettin 1767, S. 281; abgedruckt in Malter, (wie Anm. 50), S. 118. Röd, Wolfgang, Der Weg der Philosophie. Bd. 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996, S. 144f.

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gen Substanzen kann aber nach Kant in keiner Weise erklärt werden, und dies reicht aus, um sie in Frage zu stellen.72

Und drittens, es geht um die Moral: „Zum Glauben an rein geistige Wesen, namentlich an die menschliche Seele, können allenfalls moralische Gründe veranlassen, doch darf eine solche moralisch bedingte Überzeugung nicht als Erkenntnis betrachtet werden“.73 Übrigens: es ist auch eine moralische Frage, ob man irrationelle Thesen verbreiten sollte, was in sich die Gefahr birgt, den Irrationalismus selbst zu verbreiten. Dennoch: Egal, wie sehr Jungs Fehlinterpretation an Kants eigenen Intentionen vorbeirauscht, findet in den Träumen eines Geistersehers schon eine wichtige Gedankenkonfrontation statt. Denn das Prinzip, das Kant in seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) aufstellt, stimmt doch: „Auch in den allerunsinnigsten Meinungen, welche sich bei den Menschen haben Beifall erwerben können, wird man jederzeit etwas Wahres bemerken“ (KGS, Bd. 1, S. 227). Insofern man zwischen Kants Metaphysik und Swedenborgs Theologie Parallelen ziehen könnte, ließe sich auf eine wichtigere Parallele zwischen der kritischen Philosophie überhaupt und dem Christentum (oder zumindest einem Christentum von swedenborgischer Färbung) schließen. Damit wird der Weg gebahnt für eine Kant-Kritik, die Nietzsches Vorwürfe – Kant sei „ein hinterlistiger Christ zu guter Letzt“ gewesen,74 seine Philosophie sei eine „Philosophie der Hintertüre“,75 der kategorische Imperativ rieche „nach Grausamkeit“,76 das Christentum sei „eine Metaphysik des Henkers“77 – ernst nimmt, ausbaut und weiterentwickelt. Darüber hinaus bildet die Kant-Swedenborg-Beziehung – mit der Hilfe der Terminologie Jungs – eine Fallstudie für die Psychoanalyse, besonders hinsichtlich der psychologischen Typologie. Bei Kant wird das Bewusste betont, bei Swedenborg im Gegenteil das Unbewusste (wenn man den Bereich der Offenbarung in Traum oder in Vision so bezeichnen darf), so dass Kant (auf eine introvertierte Weise) Gott als (innere) Idee vorstellt, dagegen konzipiert Swedenborg (auf eine extravertierte Weise, die die Inhalte des Unbewussten auf die Außenwelt projiziert) Gott als eine (visionäre) Wirklichkeit. Für die Kant-Swedenborg-Diskussion und für all ihre philosophischen, psychologischen und metapsychologischen Aspekte kann Jung eine Art common ground bieten, den man sonst nirgendwo findet. 72 73

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Ebd., S. 145. Eben dasselbe Problem birgt Jungs Begriff der Synchronizität, den er als „einen hypothetischen Erklärungsfaktor“ beschreibt. Aber was wird damit eigentlich erklärt? Ebd., S. 145. Vgl. Das Ende aller Dinge (1794): „[…] weise ist, so zu handeln, als ob ein andres Leben und der moralische Zustand, mit dem wir das gegenwärtige endigen, sammt seinen Folgen beim Eintritt in dasselbe unabänderlich sei“ (AA VIII, S. 300). Nietzsche, Friedrich, Götzen-Dämmerung, in: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta. München 1966, Bd. 2, S. 961, §6: Die „Vernunft“ in der Philosophie. Ebd., S. 999f., § 16: Streifzüge eines Unzeitgemäßen. Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral, in: Werke, (wie Anm. 74), Bd. 2, S. 806, § 6: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, (wie Anm. 74), S. 977, § 7: Die vier grossen Irrtümer.

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Ein Wort noch zur Vorstellung des Himmels bei Swedenborg, wie er ihn in seinen Visionen erfuhr.78 In seinem Buch Die wahre christliche Religion (Vera Christiana Religio) (1771) stellt Swedenborg das Prinzip auf, dass es uns in der nächsten Welt auf eine ähnliche Art und Weise gehen wird, dass nämlich: der Mensch nach dem Tode ebensosehr Mensch ist, und zwar so ganz Mensch, daß er nicht anders weiß, als daß er noch in der vorigen Welt sei; er sieht, hört, spricht, wie in der vorigen Welt; er wandelt, läuft, sitzt wie in der vorigen Welt; er liegt, schläft und erwacht wie in der vorigen Welt; er ißt und trinkt wie in der vorigen Welt; er genießt des ehelichen Vergnügens wie in der vorigen Welt; mit einem Wort, er ist in aller und jeder Beziehung Mensch. Daraus erhellt, daß der Tod keine Auslöschung, sondern eine Fortsetzung des Lebens ist, und daß er bloß ein Übergang ist.79

In der nächsten Welt, so Swedenborg, wird in Gruppen, Schulen und Akademien ständig über die Fragen der Religion debattiert.80 In der nächsten Welt wird Musik gespielt, es werden Lieder gesungen und es wird sogar Sport getrieben, darunter auch Fußball (!).81 Auf diese Auffassung des Jenseits kann man die von Ludwig Feuerbach (1804–1872) geäußerte Kritik am Christentum anwenden: Insofern das religiöse Bewußtsein alles zuletzt wieder setzt, was es anfangs aufhebt, das jenseitige Leben daher zuletzt nichts andres ist als das wiederhergestellte diesseitige Leben, so muß konsequent auch das Geschlecht wiederhergestellt werden,82

allerdings mit einem großen Unterschied zwischen Swedenborg und dem orthodoxen Christentum, denn fürs letztere gilt der Satz: „wie der jenseitige Körper ein unkörperlicher Körper, so ist notwendig das dortige Geschlecht ein differenzloses, d.i. geschlechtloses Geschlecht“.83 Aber es gehört zu den eigentlichen Verdiensten Swedenborgs, dass er versuchte, die Sexualität mit der Religion dadurch zu vereinen, dass er in seiner Vorstellung des Nachlebens für die Verbindung wahrer „ehelicher“ Partner und für die Liebe Platz zu finden wusste. Für Swedenborg ist der Sex etwas wahrlich Himmlisches, wie er in seinem Buch Über die Eheliche Liebe (De Amore Conjugiali) (1768) einigermaßen skandalös ausführt.84 In dieser Hinsicht ließe sich eine weitere 78 79 80

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84

Zu Swedenborgs Visionen insgesamt, vgl. Benz, Swedenborg, (wie Anm. 2), S. 275–325, Kapitel 22: Swedenborg’s Visions. VCR 792. Vgl. Gabay, (wie Anm. 38), S. 14. Vgl. Benz, Swedenborg, ( wie Anm. 2), S. 315–316. Vgl. zum Beispiel Swedenborgs Diskussion mit einem Akademiker, der in einem südwestlichen Teil des Universums wohnt, bevor er in die Hölle geht, VCR § 35; die Beschreibung von Vögeln, Tieren, Bäumen und Getreide im Himmel, VCR 78; und seine Begegnung mit jeweils drei Schülern von Aristoteles, Descartes und Leibniz sowie mit Christian Wolff während einer Vision, VCR 696. VCR 745. Feuerbach, Ludwig, Das Wesen des Christentums, in: Werke in sechs Bänden, hg. v. Erich Thies. Frankfurt/M. 1976, Bd. 5, S. 199–200. Ebd., S. 200. Als Beweis wird der Brief des Hieronymus an Theodora (Brief 75) aufgeführt. Auf die Frage der Sexualität im Leben nach dem Tode geht das Neue Testament kurz ein, vgl. Mt 22,30. Vgl. Benz, Swedenborg, (wie Anm. 2), S. 406–424, Kapitel: Marriages in Heaven.

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Verbindung zur Jungschen Psychologie herstellen, auch wenn Jung selber diesen Weg nicht betrat. Denn etwa in seiner Studie Die Psychologie der Übertragung (1946) versuchte Jung, das Erotische am Symbolischen sowie das Symbolische an der Erotik aufzudecken: In der „alchemischen Hochzeit“ des Rosarium philosophorum zum Beispiel – besonders in der coniunctio des alchemischen Königs und der alchemischen Königin, sowie in der Hervorbringung des alchemischen Steines, des „Lapis“ – sah Jung eine allegorische Darstellung des therapeutischen Verfahrens (allerdings mit der Gefahr, einige boundary issues entstehen zu lassen). In Aion: Beiträge zur Symbolik des Selbst (1951) ging er „d[en] geistigen bzw. ‚mystischen‘ Implikationen des Geschlechtstriebes“ nach (GW, Bd. 9/ii, §357); ja, in Mysterium coniunctionis (1955–1956) heißt es sogar, „Sexualität schließt den Geist nicht aus, et vice-versa, denn in Gott sind alle Gegensätze aufgehoben“ (GW, Bd. 14/ii, §274). Jungs Lektüre der Träume Kants lässt sich am besten unter der Kategorie dessen verstehen, was der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom ein „misprision“, d.h. ein kreatives Missverständnis nennt. Das Problem der Schwärmerei hat deutliche sozio-politische Konturen, die Shaftesbury dazu bewogen, seinen Letter concerning Enthusiasm zu verfassen, und in dieser Hinsicht bleibt der Kampf der Aufklärung gegen die Schwärmerei aktueller den je. Schon 1796 hatte Schiller vor den Konsequenzen der Schwärmerei, die er hier Phantasterei nennt, gewarnt: Der Phantast verleugnet also nicht bloß den menschlichen – er verleugnet allen Charakter, er ist völlig ohne Gesetz, er ist also gar nichts und dient auch zu gar nichts. Aber eben darum, weil die Phantasterei keine Ausschweifung der Natur sondern der Freiheit ist, also aus einer an sich achtungswürdigen Anlage entspringt, die ins Unendliche perfektibel ist, so führt sie auch zu einem unendlichen Fall in eine bodenlose Tiefe und kann nur in einer völligen Zerstörung sich endigen.85

Darüber hinaus bleibt die Frage der Schwärmerei auch philosophisch, sprich erkenntnistheoretisch gesehen, aktuell, wie die Begegnung zwischen Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger im Jahre 2004 in der Katholischen Akademie in Bayern zeigte. In seiner Stellungnahme behauptete der einstige Kardinal, jetzt Benedikt XVI, mit der ihm eigenen Treffsicherheit: Tatsache ist […], dass unsere säkulare Rationalität, so sehr sie unserer westlich geformten Vernunft einleuchtet, nicht jeder Ratio einsichtig ist, dass sie als Rationalität, in ihrem Versuch, sich evident zu machen, auf Grenzen stößt.86

85 86

Schiller, Friedrich von, Werke in drei Bänden, hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München 1966, Bd. 2, S. 606. Zur Debatte 1 (2004), Katholische Akademie in Bayern; online unter der Adresse: http:// www.kath-akademie-bayern.de/contentserv/www.katholische.de/index. Zur weiteren Diskussion siehe Assheuer, Thomas, Auf dem Gipfel der Freundlichkeiten, in: Die Zeit 05/2004 (22. Januar 2004), S. 38.

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Hier verweist Ratzinger vor allem auf kulturelle Grenzen, aber es heißt auch, dass tief inmitten der Aufklärung eine Aporie verborgen liegt, die es zu entdecken und mit der es umzugehen gilt. Seit der Auseinandersetzung Kants mit den Fragen, die Swedenborgs theologisches System und sein Anspruch auf mystische Erfahrung aufwarfen und die auf die analytische Psychologie C. G. Jungs Einfluss ausübten, hat die Suche nach den Grenzen der Rationalität und der menschlichen Vernunft an ihrer Bedeutung und Dringlichkeit nichts eingebüßt. Zum Schluss: Noch ein Wort Goethes (und zwar ein politisch unkorrektes Wort), diesmal über den Gedanken der Unsterblichkeit, mit dem er sich intensiv auseinandersetzte: „Die Beschäftigung mit Unsterblichkeitsideen“, äußerte er sich gegenüber Eckermann am 25. Februar 1824, ist für vornehme Stände und besonders für Frauenzimmer, die nichts zu tun haben. Ein tüchtiger Mensch aber, der schon hier etwas Ordentliches zu sein gedenkt und der daher täglich zu streben, zu kämpfen und zu wirken hat, läßt die künftige Welt auf sich beruhen und ist tätig und nützlich in dieser.87

Oder wie uns Faust gegen Ende des Zweiten Teils zuruft: Der Erdenkreis ist mir genug bekannt, Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, Sich über Wolken seinesgleichen dichtet! Er stehe fest und sehe hier sich um; Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen! Was er erkennt, läßt sich ergreifen. Er wandle so den Erdentag entlang; Wenn Geister spuken, geh’ er seinen Gang, Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück, Er, unbefriedigt jeden Augenblick!88

87 88

Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Fritz Bergemann. Frankfurt/M. 1981, S. 85. Goethe, Faust II, Z. 111441–11452.

WOUTER J. HANEGRAAFF (Amsterdam)

Swedenborg aus der Sicht von Kant und der akademischen Kantforschung Obwohl Immanuel Kants Träume eines Geistersehers vor 240 Jahren veröffentlicht worden sind, sucht man bis heute fast vergeblich nach Kant-Spezialisten, die die Mühe auf sich genommen haben, sich genauso ernst mit dem namentlichen Gegenstand der Träume – Emanuel Swedenborg und seinen Arcana Coelestia – zu befassen, wie Kant es selbst getan hat. Wir wissen, dass Kant die teuren 8 Quartbände der Arcana nicht nur gekauft, sondern auch erhebliche Zeit mit einem sorgfältigen und aufmerksamen Studium verbracht hat.1 Erstaunlicherweise scheinen die meisten Kant-Gelehrten fast eineinhalb Jahrhunderte jedoch angenommen zu haben, es reiche zum Verständnis der Träume aus, lediglich das zu kennen, was Kant selbst über Swedenborg geschrieben hat. Fast keiner von ihnen scheint auch nur einen flüchtigen Blick auf Swedenborgs Schriften geworfen zu haben, und auch die üppige Sekundärliteratur über Swedenborg – einschließlich kritischer und nicht-apologetischer Studien wie die von Martin Lamm2 und anderen – wurde und wird noch immer fast völlig ignoriert. Der erstaunliche Mangel an kritischer Distanz in der Sekundärliteratur über die Träume – das heißt ihre Tendenz, Kant selbst für die höchste Autorität über seinen eigenen Text zu halten –, und das fast völlige Fehlen einer Hermeneutics of suspicion, wo dies doch so offensichtlich angebracht wäre, hat dazu geführt, dass das Verhältnis des deutschen Philosophen zum schwedischen Naturwissenschaftler und Visionär bis heute erklärungsbedürftig ist. Für eine genaue, kapitelweise Lektüre von Kants Träumen und seiner Behandlung von Swedenborg und seinen Arcana Coelestia muss hier auf meine kleine Monographie Swedenborg, Oetinger, Kant: Three Perspectives on the Secrets of Heaven verwiesen werden.3 Ich werde hier lediglich meine Hauptgesichtspunkte kurz zusammenfassen und mit einem Überblick über die Behandlung Swedenborgs in der akademischen Kant-Literatur seit dem 19. Jahrhundert fortfahren.

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AA II, S. 318 („Vorbericht“) und S. 359f. (II.2). Lamm, Martin, Emanuel Swedenborg. The Development of his Thought. West Chester 2000 [schwedisch 1915, deutsch 1922]. Hanegraaff, Wouter J., Swedenborg, Oetinger, Kant. Three Perspectives on the Secrets of Heaven. West Chester 2007.

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1. Kants Träume eines Geistersehers Der Hintergrund für Kants Interesse an Swedenborg, der durch sein Schreiben an Fräulein von Knobloch (10. August 1763) dokumentiert ist, ist wohl bekannt und braucht hier nicht im Detail wiederholt zu werden.4 Gleichermaßen gut bekannt ist, dass wir aus erhaltenen Studentennotizen erfahren, wie Kant sich gelegentlich auf Swedenborg bezog und offenbar gut mit den Arcana Coelestia vertraut war. Kant scheint Swedenborg in einer teils herablassenden und teils respektvollen Weise erwähnt zu haben.5 Kants Behandlung Swedenborgs in den Träumen kann in acht Punkten zusammengefasst werden (für eine detailliertere Besprechung muss auf die oben genannte Monographie verwiesen werden). (a) Methodischer Agnostizismus. Der Hauptpunkt des ersten Kapitels ist wesentlich für das Buch als Ganzes: Kant argumentiert, dass es zwar nicht irrational sei, die theoretische Möglichkeit immaterieller Wesen anzunehmen, dass es aber unmöglich sei, die tatsächliche Existenz solcher Wesen entweder zu beweisen oder zu widerlegen. Kant wiederholt dieses Prinzip des „methodischen Agnostizismus“ durch die ganze Abhandlung hindurch. Zum Beispiel betont er in Teil I, Kapitel 4, dass jeder einzelne Fall von Swedenborgs „Gehörtem und Gesehenem“ zwar zweifelhaft, es aber dennoch möglich sei, dass die Geisterwelt existiere: man kann zwar alles Mögliche über geistige Wesen denken, man kann aber nichts über sie wissen. Dies kulminiert in der wichtigen Passage am Ende des ersten Teils,6 wo er gleichsam das Buch der positiven Metaphysik schließt, das ihn in seinen Schriften bisher beschäftigt hat, und ein neues Buch öffnet, das ihn schließlich zu seinen späteren Kritiken führen wird. (b) Kants Schwäche für Metaphysik. An verschiedenen Stellen in den Träumen gesteht Kant, dass er selbst eine gewisse Schwäche für metaphysische Träume hat; und wenn er erklärt, wie natürlich solche Träume sind, gebraucht er wiederholt ganz spezifisch swedenborgische Formulierungen. Seine Erörterung über die Ver-

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Kants Brief an Fräulein von Knobloch (AA X, S. 43–48), abgedruckt in: Kant, Immanuel, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, hg. v. Rudolf Malter. Stuttgart 1976, S. 99–106. Das Original des Briefes ist nicht mehr erhalten. Sein Inhalt wurde erstmals von Ludwig Ernst Borowski (1740–1831) als Anhang zu seiner Kant-Biographie von 1804 veröffentlicht. Zu den frühen Debatten über die Korrektheit des Datums 1763 vgl. die detaillierte Diskussion in: Benz, Ernst, Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs. Frankfurt/M. 1947, S. 241–271; ein weiterer und endgültiger Beweis wird vorgestellt von Johnson, Gregory R. / Magee, Glenn Alexander (Hg.), Kant on Swedenborg. Dreams of a Spirit-Seer an Other Writings. West Chester 2002, S. 183f., Anm. 2. Meines Wissens hält nur Courtès, F. (Hg.), Rêves d’un visionnaire. Paris 1977, S. 38–44, den Brief für eine Fälschung. Vgl. meine Erörterung zu dem Brief in Hanegraaff, (wie Anm. 3), S. 87–89. Vgl. die Beilagen in Malter (wie Anm. 4) und die Erörterung in Johnson / Magee, (wie Anm. 4), Teil 1 und 2; Hanegraaff, (wie Anm. 3), S. 102–104. AA II, S. 352.

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standeswaage7 erlaubt uns zu schließen, dass Kant die Arcana nicht nur aus philosophischen Gründen gekauft hat, sondern auch, weil ein Teil von ihm gern von dem Leben nach dem Tod überzeugt sein möchte.8 In dieser Hoffnung wurde er natürlich enttäuscht. (c) Metaphysik und Swedenborgianismus. Das metaphysische Konzept eines mundus intelligibilis, entwickelt in Teil I, Kap. 2, wird von Kant logisch „aus dem Begriffe von der geistigen Natur überhaupt“9 deduziert, ist aber eindeutig swedenborgisch: Die Beschreibungen klingen so, also ob sie direkt aus den Arcana Coelestia entnommen worden sind. Man muss dabei aber natürlich im Gedächtnis behalten, dass Swedenborg seinerseits stark von Leibniz und Wolff beeinflusst war.10 Kants Besprechung macht deutlich, wie schwierig es ist, die Leibniz-Wolffsche Schulmetaphysik und Swedenborgs Welt der Geister und Engel überhaupt auseinanderzuhalten. (d) Influx und Imagination. Kant argumentiert, dass es theoretisch möglich ist (obwohl es niemals bewiesen werden kann), dass ein wirklicher geistiger Einfluss in Sehern wie Swedenborg wirksam ist. Wenn es einen solchen Einfluss gäbe, würde dieser aber unvermeidlich so stark mit den Chimären der persönlichen Einbildungskraft des Visionärs vermischt sein, dass es nie möglich sein würde, diesen Kern von den „groben Blendwerken“ zu unterscheiden, die ihn umgeben.11 Kant wiederholt verschiedene Male, dass bei der Beurteilung der Geistergeschichten die unbezweifelte Präsenz solcher chimärischen Illusionen kein ausreichendes Argument dafür ist, die mögliche Präsenz eines echten geistigen Einflusses ganz auszuschließen.12 (e) Visionen und Wahnsinn. Wenn wir nun – als eine theoretische Hypothese – die Realität solcher geistigen Erscheinungen annehmen, werden sie ein außergewöhnlich sensitives Seelenorgan bei dem Seher erfordern; und solch eine Sensitivität muss als eine Krankheit betrachtet werden, die den Visionär dazu bringt, Halluzinationen zu sehen. Wenn daher eine geistige Welt überhaupt existiert, könnte man eine visionäre Erkenntnis von ihr nur gewinnen, indem man einen Teil der Urteilskraft verliert, den man für unsere Welt braucht. Oder mit anderen Worten: ein wirklicher Visionär kann man nur sein, wenn man ein wenig verrückt ist.13 (f) Kants Verständnis von Swedenborgs Lehre. Kant vermittelt dem Leser in Kapitel II.1 eine sachliche und ziemlich korrekte Beschreibung von Swedenborgs visionären Zuständen, von seinem Konzept des inneren und äußeren Sinnes, von 7 8 9 10

11 12 13

AA II, S. 348f. Hanegraaff, (wie Anm. 3), S. 96. AA II, S. 333. Über die Bedeutung der Leibniz-Wolffschen Metaphysik für Swedenborg sind sich alle Spezialisten einig; siehe z.B. die vielen Belege in Jonsson, Inge, Visionary Scientist. The Effects of Science and Philosophy on Swedenborg’s Cosmology. West Chester 1999. AA II, S. 340. AA II, S. 340f. Hanegraaff, (wie Anm. 3), S. 94.

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der Art und Weise von Swedenborgs Kommunikation mit Engeln, von der NichtRäumlichkeit der Engelsgesellschaften, von der Abhängigkeit der materiellen von geistigen Wesen, von der Art, wie engelhafte Realitäten dem Visionär erscheinen, vom „Großen Menschen“ und von der illusionären Natur des Raums. (g) Kants Sorge um seine Reputation. Kant ist bei seinem Interesse an Swedenborg extrem defensiv und tief besorgt angesichts möglicher negativer Wirkungen auf seine eigene Reputation als Philosoph. Zum Beispiel ist er in Kapitel II.1 sehr damit beschäftigt, die Möglichkeit zu vermeiden, dass die Leser ihn der „Leichtgläubigkeit“ verdächtigen könnten. Er versucht, seine Leser von der unglaubwürdigen Behauptung zu überzeugen, dass die ganze Frage der Geistergeschichten für ihn unwichtig sei und er selbst sich ganz „gleichgültig“ gegenüber dieser Materie verhalte. Und indem er betont, dass viele vernünftige Menschen ebenfalls an solchem Aberglauben interessiert gewesen seien, hofft Kant, sich in ausreichend guter Gesellschaft zu befinden, um „vor dem Spott gesichert“ zu sein und „nicht für unklug gehalten zu werden“.14 (h) Kants Rhetorik. Schließlich bietet Kant oft nur bloße Rhetorik anstelle sachlicher Demonstration und rationaler Argumentation. Dies geschieht in drei verschiedenen Situationen. Erstens, immer wenn er darum besorgt ist, was seine Leser über ihn denken könnten, greift er zu einer anti-okkulten Rhetorik als Strategie, um sich selbst von Swedenborg zu distanzieren. In Kapitel I.3 geht er sogar so weit, zu behaupten, es sei ganz in Ordnung, gewisse Meinungen zu verteidigen und andere zurückzuweisen, nicht auf Grund rationaler Argumente, sondern einfach weil sie „allgemeineren Beifall“ versprechen.15 Zweitens gebraucht er rhetorische Mittel, um die rationale Seite von Swedenborg herunterzuspielen und um ihn schwärmerischer darzustellen als er tatsächlich ist. Ein besonders gutes Beispiel ist das „gothic“ Vorwort der Träume: seine Verweise auf das grenzenlose „Schattenreich“, „das Paradies der Phantasten“ mit seinen „hypochondrische[n] Dünste[n], Ammenmärchen und Klosterwunder[n]“16 erinnern ganz offensichtlich an Horace Walpoles Castle of Otranto (1764), passen aber überhaupt nicht zu einem so trockenen und rationalistischen Visionär wie Swedenborg. Drittens, und das ist vielleicht der wichtigste Punkt, greift Kant manchmal zu rhetorischen Kunstgriffen, um logische Lücken in seiner eigenen Argumentation zu verbergen. Das deutlichste Beispiel steht am Ende von Kapitel I.3: Obwohl Kant sehr viel Sorgfalt aufgewendet hat, um die theoretische Möglichkeit eines wirklichen geistigen Einflusses zu beweisen und er diesen Punkt oft wiederholt, wird solch ein Einfluss nun plötzlich als ein nur faul stinkender „hypochondrischer Wind in den Eingewieden“17 zurückgewiesen.

14 15 16 17

AA II, S. 356, 349; vgl. Hanegraaff, (wie Anm. 3), S. 98. AA II, S. 34. AA II, S. 31. AA II, S. 348; vgl. Hanegraaff, (wie Anm. 3), S. 94f.

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2. Nach den Träumen Die früheste Rezeptionsgeschichte der Träume zeigt bereits einige der Muster auf, die immer wiederkehrend zweieinhalb Jahrhunderte beibehalten werden sollten. Johann Gottfried Herder billigte Kants Art, mit Schwärmern umzugehen;18 Moses Mendelssohn kritisierte den Ton des Buches, den er für einen so ernsten Gegenstand wie die Metaphysik für unangemessen hielt,19 und der Locke’sche Empirist Johann Georg Heinrich Feder betonte ebenfalls den übermäßig unakademischen Ton der Träume.20 Interessanterweise äußerte Feder auch die Vermutung, dass der Autor – er wusste noch nicht, dass es Kant war – Swedenborg in Wirklichkeit vielleicht mehr schuldete, als er sich bemühte einzugestehen: „Würde er aber wohl jetzt im Stand seyn, so scharfsinnig ihn zu tadeln, wenn er nicht durch ihn erst ein kleines System sich gebauet hätte?“21 Dieser Verdacht scheint durch Fragmente von Kants Vorlesungen aus den Jahrzehnten nach den Träumen bekräftigt zu werden. Einige von ihnen enthalten nur flüchtige Verweise auf Swedenborg ohne größere Bedeutung; anders ist es aber mit der Erörterung eines möglichen Zustands nach dem Tod in der sogenannten „Metaphysik L1“. Nachdem er die Idee des Überlebens des Geistes in körperlicher Form zurückgewiesen hat, fährt Kant fort, die Möglichkeit eines Überlebens als „reiner Geist“ in spezifisch swedenborgischen Begriffen zu beschreiben, mit ständiger Betonung der nichträumlichen Natur von Himmel und Hölle.22 Aus diesen Passagen kann man nur schließen, dass die These von einem Überleben als reiner Geist für Kant einer Annahme des Weltbildes von Swedenborgs gleichkommt: er unterscheidet hier überhaupt nicht zwischen der metaphysischen Lehre als solcher und Swedenborgs Lehre als einer spezifischen Version von ihr, sondern behandelt beide vielmehr synonym. Er folgert, dass diese Ansicht über die andere Welt, obwohl sie nicht bewiesen werden kann, als eine notwendige Hypothese der Vernunft betrachtet werden soll, die dem Gegner entgegengesetzt werden kann. An dieser Stelle erwähnt er Swedenborg als einen Autor, dessen Denken in diesem Bereich „sehr erhaben“23 ist. Der Rest der Erörterung stimmt mit den Träumen überein. Man kann daraus schließen, dass Swedenborg für Kant zu dieser Zeit für die Lehre

18

19 20

21 22 23

Herder, Johann Gottfried, Rezension der Träume eines Geistersehers, in: Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen auf das Jahr 1766, 18 (3.3.1766), abgedruckt in: Malter, (wie Anm. 4), S. 118–124. Mendelssohn, Moses, Rezension, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek. Bd. 4, 2. Stück. Berlin / Stettin 1767, S. 281, in: Malter, (wie Anm. 4), S. 118. Feder, Johann Georg Heinrich, Rezension, in: Compendium Historiae Litterariae novissimae Oder Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten 21 (1766), S. 308f., abgedruckt in: Malter, (wie Anm. 4), S. 125–127. Ebd., S. 126. Metaphysik L1. AA XXVIII/1, S. 298–301. Ebd., S. 298.

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vom reinen Geist als solchem stand und dass er seine Lehre als eine mögliche, wenn auch unbeweisbare metaphysische Position betrachtete. In der „Metaphysik Mrongovius“ (1781–1782) ist im Wesentlichen dieselbe Argumentation, aber verdichteter und ohne explizite Erwähnung Swedenborgs zu finden. Das swedenborgische Konzept der himmlischen Gesellschaften wird hier als eine „herrliche Vorstellung“ bezeichnet. Derselbe Stoff wird mit sehr ähnlichen Schlussfolgerungen in der „Metaphysik Volckmann“ (1784–1785), wo Swedenborg aber nicht erwähnt wird und Kant wiederum den Unterschied zwischen Wahrheit und Erkenntnis betont, behandelt: auch wenn Geister wirklich existieren, muss eine vernünftige Person doch nicht an sie glauben.24 In der „Metaphysik L2“, „K2“ und „Dohna“ findet man nur Variationen über dasselbe Thema; Swedenborg wird weder positiv noch negativ erwähnt, sondern nur als ein Autor, der bestimmte Positionen einnimmt, die von Kant erörtert werden. Schließlich bezieht sich Kant in dem sogenannten „Fragment einer späteren Rationaltheologie nach Baumbach“ (1789–1790 oder 1790–1791) auf Swedenborgs Ansichten über die Bewohner anderer Planeten, ein Thema, das in den Träumen nicht berührt wird. Und nun weist er Swedenborg ganz einfach als einen absichtlichen „Schwindler“ zurück.25 Aber anders, als man auf den ersten Blick schließen könnte, widerspricht dies nicht der respektvollen Erwähnung der Weltsicht Swedenborgs in der „Metaphysik L1“ und den anderen oben genannten Vorlesungen. An diesem Punkt kann ich Gregory Johnson nicht zustimmen, der die Ansicht vertritt, dass Kant Swedenborg in allen Vorlesungen eine positive Anerkennung entgegenbringt und sich daher gezwungen sieht, die Zuverlässigkeit oder Authentizität des Baumbach-Fragments in Frage zu stellen.26 Eine andere Erklärung ist meiner Meinung nach überzeugender. Nach 1766 dachte Kant völlig negativ über Swedenborg und seine visionären Ansprüche. Der wesentliche Punkt ist, dass die positiven Verweise in den Vorlesungsnotizen sich alle auf die von Swedenborg verteidigte metaphysische Weltsicht an und für sich beziehen. Kant findet sie tatsächlich „sehr erhaben“ und „herrlich“, aber das bedeutet weder, dass sie wahr ist (denn das können wir einfach nicht wissen), noch dass Swedenborgs Visionen als Beweis für sie akzeptiert werden können (im Gegenteil, wie wir gesehen haben) – geschweige denn, dass dies irgendeine positive Meinung über Swedenborg als Person oder als Visionär implizieren würde. Aus dieser Perspektive gesehen verschwindet der offensichtliche Gegensatz zwischen dem Baumbach-Fragment und den anderen Vorlesungsnotizen wie Schnee in der Sonne: Alle späteren Aussagen Kants sind nicht nur kompatibel mit den Träumen, sie erfolgen selbstverständlich aus der grundlegenden Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Wahrheit.

24 25 26

Metaphysik Volckmann. AA XXVIII/1, S. 448. Danziger Rationaltheologie nach Baumbach. AA XXVIII/2.2, S. 1325. Vgl. Johnson / Magee, (wie Anm. 4), Teil 2.

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3. Das Verhältnis Kant – Swedenborg Von entscheidender Wichtigkeit für Kants Behandlung von Swedenborg ist die Tatsache, dass Kant über Methode, Swedenborg aber über Wahrheit spricht: Kant versucht zu begründen, wie Menschen zuverlässiges Wissen erlangen können, während Swedenborg sein Wissen einfach dem Leser präsentiert. Die beiden Perspektiven sind also völlig verschieden: die eine ist epistemologisch, die andere ontologisch. Die Kant-Swedenborg-Forschung hat meistens die Tatsache übersehen, dass Swedenborgs Perspektive wesentlich in völliger Übereinstimmung mit Kants grundlegender Epistemologie war. Swedenborg und Kant sind sich darüber einig, dass es für Menschen unmöglich ist, die Wahrheit über den Himmel aus sich selbst heraus zu entdecken: Unsere gewöhnlichen menschlichen Fähigkeiten sind dazu einfach unzulänglich. Aber während Kant daraus die Schlussfolgerung zieht, dass wir deshalb keine Erkenntnis über eine himmlische Wirklichkeit erlangen können, behauptet Swedenborg, dass die Kluft von der anderen Seite überbrückt worden ist, das heißt, durch Gott selbst. Kant und Swedenborg stimmen darin überein, dass Menschen die Wahrheit nicht entdecken können. Swedenborg behauptet aber, anders als Kant, dass sie den Menschen offenbart werden kann. Er glaubt, das zu wissen, weil es ihm selbst widerfahren ist. Wir beginnen nun zu sehen, wie nah sich die zwei Gegenspieler wirklich sind. Denn während Swedenborg keine Mühe gehabt hätte, Kants epistemologische Restriktionen zu akzeptieren, hatte Kant seinerseits ebensowenig Probleme mit Swedenborgs Ontologie! Im Gegenteil: wir haben gesehen, dass er sich persönlich zu Swedenborgs metaphysischer Weltsicht, wie sie in den Arcana Coelestia dargestellt ist, hingezogen fühlte. Sie liefert eine „erhabene“ Perspektive auf das Leben nach dem Tod; eine Perspektive überdies, die sich theoretisch als wahr erweisen könnte und an die Kant heimlich gern glauben würde. Aber dies alles einmal zugestanden, nahmen Kants aufklärerische Instinkte entschieden überhand und überstimmten seine menschlich-allzumenschlichen Sehnsüchte. Wir sollten uns auf das beschränken, was wir wissen, nicht auf das, was wir gern glauben möchten. Die rationalen Grundlagen unseres geliebten Glaubens müssen der kritischen Prüfung unterworfen werden, und wenn sie sich als nicht überzeugend erweisen, müssen wir sie als fromme Illusionen zur Seite legen. Der aufgeblasenen Arroganz derjenigen, die sich selbst als Gottes erwählte Repräsentanten aufführen, muss durch die nüchterne, vielleicht enttäuschende, aber zuverlässige Stimme der Vernunft widersprochen werden. Je größer die Ähnlichkeit zwischen zwei Positionen tatsächlich ist, desto stärker fühlt man gewöhnlich das Bedürfnis, die eigene Position abzugrenzen. Und das genau geschah in Kants Reaktion auf Swedenborg. Er hatte einen Autor gelesen, dessen Werk eine höchst rationalistische, aufklärerische Perspektive an den Tag legte,

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ziemlich ähnlich seiner eigenen, und in dessen Weltbild er außerdem etwas sehr Vertrautes erkannte: die idealistische Leibniz-Wolffsche Metaphysik, die ihn so viele Jahre beschäftigt hatte. Es muss für Kant schockierend gewesen sein, erkennen zu müssen, dass die Behauptung einer positiven Erkenntnis metaphysischer Wirklichkeiten dazu führte, dass diese das bequeme und seriöse Reich der abstrakten Begriffe verließen, um die sehr konkrete Form einer swedenborgischen Lehre über Seelen und Geister anzunehmen. Denn, wie es Henri Delacroix schon 1904 formuliert hat: der einzige Unterschied [gegenüber der Metaphysik der Wolffschen Schule] ist, dass Swedenborg an eine reale, empirische Kommunikation zwischen der sinnlichen und der intelligiblen Welt glaubte, während die normale Metaphysik nur die Möglichkeit solch eines Austauschs annahm.27

In Swedenborgs Fall hatte der Traum der Vernunft das geschaffen, was Kant nur als Ungeheuer ansehen konnte: das Gespenst einer „gothic world“ von „hypochondrische[n] Dünste[n], Ammenmärchen und Klosterwundern“, kurz: die Welt des Okkulten. Das Gespenst musste um jeden Preis exorziert werden, gerade weil es Kant im Hinblick auf seine früheren Beschäftigungen so „ungemein ähnlich“28 war. Dies erklärt nicht nur, warum er die Mühe auf sich nahm, Swedenborg mit einer solchen Intensität zu studieren und zu kritisieren, sondern auch, warum die Träume die bei weitem emotionalste aller seiner Schriften sind. Wir haben gesehen, dass Kant sehr bemüht ist, von den Vertretern des „seriösen“ Aufklärungsdiskurses akzeptiert zu werden. Er hat sich klar gemacht, dass er, wenn er Swedenborg ernst nimmt – das heißt, wenn er ihn in den Bereich des akzeptierten und akzeptablen akademischen Diskurses hineinzieht – Gefahr läuft, auf diese Weise zusammen mit Swedenborg selbst von seinen Kollegen aus diesem Bereich ausgegrenzt zu werden. Um die Strategie zu verstehen, durch die er diese Gefahr abzuwenden versucht, ist es nützlich, einen Blick auf die drei wichtigsten „Ausschließungsprozeduren“ zu werfen, die nach Michel Foucaults L’ordre du discours (1971) den menschlichen Diskurs strukturieren. Foucaults erste Dimension, das Verbot, ist für unseren Gegenstand nicht relevant. Ganz interessant ist aber seine zweite Prozedur: die Unterscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“. Kants Problem ist, dass er zugestehen muss, dass Swedenborgs Weltbild wahr sein könnte. Er kann es nur als falsch zurückweisen, indem er positive Aussagen über einen Bereich – den metaphysischen – macht, der für die menschliche Vernunft eben nicht zugänglich ist. Foucaults zweite Prozedur lässt Kant also im Stich. Deshalb nimmt er Zuflucht zu der dritten Prozedur, der Unterscheidung zwischen Vernunft und Wahnsinn: Swedenborgs Weltbild könnte zwar wahr sein, Swedenborg selbst aber ist verrückt! Nur auf dieser Basis kann er erfolgreich aus dem philoso27 28

Delacroix, Henri, Kant et Swedenborg, in: Revue de métaphysique et de morale 12 (1904), S. 566. AA II, S. 359.

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phischen Diskurs ausgeschlossen werden, während Kant selbst eingeschlossen bleibt und die Stimme der Vernunft gegen die Ausschweifungen des Wahnsinns repräsentieren kann. Kants Strategie hat sich als erfolgreich erwiesen. Philosophiehistoriker haben seitdem angenommen, sie könnten die Träume verstehen, ohne den Gegenstand des Buches, Swedenborg, weiter erforschen zu müssen. Ob eine solche Haltung im streng wissenschaftlichen Sinne vernünftig ist, ist allerdings zweifelhaft; dass sie aber den Interessen des Aufklärungsprojekts gedient hat, ist ganz gewiss.

4. Swedenborg aus der Sicht der akademischen Kant-Forschung Um einen Eindruck zu gewinnen, wie Swedenborg von der offiziellen akademischen Kant-Forschung wahrgenommen worden ist, wurden zunächst alle Ausgaben der Kant-Studien durchgesehen, von der ersten Auflage von 1897 bis zur Gegenwart. Das Ergebnis war sehr enttäuschend. Der einzige Artikel, der Kant und Swedenborg gewidmet ist, ist ein anonymes Stück einer einzigen Seite in Jahrgang 4 (1900), sicherlich aus der Feder des Herausgebers der Kant-Studien, Hans Vaihinger.29 Er sieht einige Anzeichen dafür, dass Kant von Swedenborg beeinflusst wurde und ihm einige Wertschätzung entgegen gebracht habe, betont aber, dass Swedenborgianer und Spiritualisten dazu neigen, dies alles stark zu übertreiben. Darüber hinaus wurde während der 110 Jahre ihrer Existenz kein einziger Artikel über Kant und Swedenborg in den Kant-Studien publiziert. Ein Beitrag von Max Heinze wurde mehrmals angekündigt, scheint aber niemals das Tageslicht erblickt zu haben. Die Jahresindices, die während der ersten Dekaden zusammengestellt wurden, erlauben es, einige verstreute Referenzen auf Swedenborg in Artikeln und Buchbesprechungen zu finden, es handelt sich aber nicht um Erörterungen von einem nennenswerten Gehalt. In Band 28 (1923) finden wir gleichwohl eine recht komische Besprechung der Swedenborgbiographie Martin Lamms30 von Albert Goedeckemeyer: „In der Zeit der Papiernot und hohen Druckkosten“, so schreibt er, „ist es einigermassen erstaunlich, einem Werke von diesem Umfange über einen solchen Gegenstand zu begegnen“.31 Der Rezensent kann sich einfach nicht dazu durchringen, Swedenborgs Ideen irgendeiner Erörterung zu würdigen, und er schließt klagend: „Es ist doch eine merkwürdige Zeit, die für solche Werke Bedürfnis hat.“32 Mehrere Tage der systematischen Durchsicht der Sekundärliteratur über Kant haben kaum ermutigendere Ergebnisse erbracht. Biographien und allgemeine Stu29 30 31 32

Anonymus, Kant und Swedenborg, in: Kant-Studien 4 (1900), S. 134. Lamm, (wie Anm. 2). Goedeckemeyer, Albert, Besprechung von Martin Lamm, Swedenborg (1922), in: Kant-Studien 28 (1923), S. 439. Ebd., S. 440.

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dien über Kants Werk begrenzen sich fast immer auf ein paar allgemeine Sätze über den „Schwärmer“, „Phantast[en]“, „Wundermann“, „Hellseher“, „Nekromanten“, „Totenbeschwörer“, „Fanatiker“, „Spiritisten“ und sogar „Magier“ Swedenborg, der offenbar für weit unter der Würde eines Philosophen von Kants Statur gehalten wird. Zum Beispiel beschreibt Kronenbergs Biographie von 1897, wie Kant [Swedenborg] „tief unter sich erblickt“,33 und Karl Vorländer sieht Kants Standpunkt in den Träumen mit „siegesgewisser Überlegenheit“ ausgestattet.34 Dass Swedenborg als Wissenschaftler und rationalistischer Naturphilosoph bekannt war,35 wird nur äußerst selten erwähnt, und fast niemand nimmt die Mühe auf sich, einen auch nur flüchtigen Blick auf Swedenborgs Schriften oder auf die Sekundärliteratur über ihn zu werfen. Interessanterweise ist eine der wenigen Ausnahmen von diesem Muster auch eine der frühesten. In seiner großen Studie über Kant und sein Werk hat Kuno Fischer Kant und Swedenborg ein ernsthaftes Kapitel gewidmet. Er scheint Swedenborgs eigene Werke nicht eingesehen zu haben, stellte aber einige Fakten über seinen Hintergrund als Wissenschaftler und Bergwerksassessor dar. Er lieferte auch eine detaillierte Diskussion über den Knobloch-Brief und das Datum seiner Abfassung sowie über den Inhalt und die Struktur der Träume. Die tiefe Ambivalenz der Träume entging seiner Aufmerksamkeit aber völlig, und auch er interpretierte Kants Haltung als die einer souveränen Überlegenheit: „Swedenborg und die Metaphysiker waren für Kant […] wie zwei Fliegen, die er mit einer Klappe schlagen konnte. Er schlug lachend zu.“36

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Kronenberg, Moritz, Kant. Sein Leben und seine Lehre, München 1897, S. 161–163: „Für Kant stand es natürlich von vornherein fest, dass man es hier mit einem von jenen Visionären und Schwärmern zu thun habe, wie er sie bereits in seiner Schrift ‚Über die Krankheiten des Kopfes‘‚ geschildert hatte. [...] So sehr sieht Kant den Geisterseher Swedenborg wie seine Genossen, die Metaphysiker, unter sich, dass er mit ihnen nur spielt und sie bald mit ernsthafter Ironie, bald mit launigem Humor behandelt, sie zuweilen nicht nur mit galligem Spott, sondern mit den schärffsten Laugen cynischen Witzes übergiesst. Einen solchen Ton schlägt nur derjenige an, welcher den Gegenstand seiner Betrachtung tief unter sich erblickt.“ Vorländer, Karl, Immanuel Kant. Der Mann und das Werk, hg. v. Rudolf Malter. 2. Aufl. Hamburg 1977, S. 167: „Man muss [die Träume] selbst lesen, um die Mischung von behaglicher Ironie, keckem Witz und heiterer, ja übermütiger Laune zu empfinden, die der Stimmung siegesgewisser Überlegenheit entspringt.“ Inge Jonsson schreibt ganz zu recht, dass wir Swedenborgs intellektuelles Unternehmen heute „wahrscheinlich als ein extremes Beispiel für aufklärerische Vernunftsverehrung und wissenschaftliche Arroganz betrachten würden, möglicherweise sogar als einen Vorläufer solcher materialistischen Systeme, wie sie die radikale Französischen Aufklärung mit La Mettrie’s L’homme machine“ schuf, wenn Swedenborg schon um 1734 gestorben wäre. Jonsson, (wie Anm. 10), S. 43 [„we would probably have regarded his project as an extreme example of the worship of reason of the Enlightenment and of scientific arrogance, possibly also as a precursor of such materialistic systems as the radical French Enlightenment produced in La Mettrie’s L’homme machine (The Man Machine, 1748)“]. Fischer, Kuno, Immanuel Kant und seine Lehre. 1. Theil: Entstehung und Grundlegung der kritischen Philosophie. 4. Aufl. Heidelberg 1898, S. 276.

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Hans Vaihingers kurzer Artikel in den Kant-Studien von 1900 stimmt mit den Aussagen über Swedenborg überein, die in seinem großen Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft (1881/92) verstreut aufgefunden werden können. Band 1 erwähnt Swedenborg nur in einer Fußnote: „als verschwiegenes Vorbild aller Schwärmerei steht für Kant immer Swedenborg da“.37 Band 2 enthält einige etwas längere Erörterungen, die hier von Interesse sind. Vaihinger stellt fest – und er benutzt dabei dieselbe Formulierung wie in den Kant-Studien – dass ein Einfluss Swedenborgs auf Kant „nicht a limine abzuweisen ist“: Wenn [du Prel] den Zusammenhang Kants mit Swedenborg stark übertreibt, so darf man darum doch nicht in den entgegengesetzten Fehler verfallen, das positive Verhältnis Kants zu Swedenborg ganz hinwegzuleugnen, das auch in der kritischen Zeit noch gelegentlich hindurchbricht.38

Die interessantesten Ausführungen finden sich auf den Seiten 511–513 über Kants Unterscheidung zwischen „organische[m] oder physische[m] Anschauen durch den Körper“ einerseits, und „pneumatische[m] oder mystische[m] Anschauen durch den Geist“ andererseits. Menschliche Wesen haben nur die erstere Art des Sehvermögens, aber dass der Mensch jene ihm versagte pneumatische Anschauung doch einmal erwerben werde, das ist nach Kant nicht ausgeschlossen. Es besteht sogar die Unsterblichkeit des Menschen eben in jener Erwerbung, in der Veränderung der sinnlichen raumzeitlichen Anschauung in die geistige unzeitliche und unräumliche Anschauung, und das sei eben ‚die andere Welt‘; dieselbe sei also nicht ein anderer Ort, sondern nur eine andere Anschauung eben dieser Welt.39

Vaihinger behauptet, dass diese spezifisch swedenborgische Hypothese, die in den Träumen halb ernst besprochen wird, auch in den Vorlesungen über Metaphysik und in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft gefunden werden kann, „wo Kant jene Annahme als ‚transscendentale Hypothese‘ zulässt, ja geradezu empfiehlt“, und die Hypothese vorbringt, dass dieses Leben nichts als eine blosse Erscheinung, d.h. eine sinnliche Vorstellung von dem rein geistigen Leben, und die ganze Sinnenwelt ein blosses Bild sei, welches unserer jetzigen Erkenntnissart vorschwebt, und wie ein T r a u m an sich keine objective Realität habe: dass, wenn wir die Sachen und uns selbst anschauen sollen, wie sie sind, wir uns in einer Welt geistiger Naturen sehen würden.40

Diese „reale Welt“ ist das zeitlose corpus mysticum, das in den Träumen mit einem „geistigen Körper“ oder einer „Geistersocietät“ angedeutet wird. Vaihinger räumt 37 38 39 40

Vaihinger, Hans, Commentar zu Kants Kritik der Reinen Vernunft. Stuttgart 1881, Bd. 1, S. 128 [Anmerkung]. Vaihinger, Hans, Commentar zu Kants Kritik der Reinen Vernunft. Stuttgart / Berlin / Leipzig 1892, Bd. 2, S. 431 [Anmerkung]. Ebd., S. 512 [Hervorh. im Original]. Ebd., S. 512 [Hervorh. im Original].

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ein, dass es wahrscheinlich von Swedenborg stammt. Er fährt mit einer Kritik an Autoren wie Jung-Stilling, du Prel und Schopenhauer fort, die solche Äußerungen missbraucht hätten, um Kant in einen Mystiker zu verwandeln. Jawohl, schlussfolgert er, es gibt tatsächlich einen Einfluss von Swedenborg auf Kant, aber […] der wild gährende Most des Swedenborg’schen Mysticismus ist bei Kant zu dem edeln, milden und doch kräftigen Wein des Kriticismus abgeklärt. […] Vollends als Kant [...] seit der Mitte der siebenziger Jahre den specifischen Kern seines Kriticismus ausbildete [...] war für ihn fortan jedes ernstliche Eingehen auf Swedenborg’sche Phantasien gänzlich ausgeschlossen. Dass Kant eine Zeit lang jenen Phantasien sein Ohr geliehen hatte, wirkte von da ab gewissermassen wie eine Schutzimpfung gegen alle ernstlichen Anfälle der Swedenborg’schen Krankheit. Wenn Kant noch in der Kr. d. r. V. von dem corpus mysticum usw. spricht [...], so ist dieser Gedanke selbst nicht Mysticismus, denn jene grobdogmatische Vorstellung eines Swedenborg ist an jener Stelle zu ‚einer blossen, aber doch praktischen Idee‘ im Sinne Kants gemildert. Wenn ein etwas drastischer Vergleich gestattet ist, so kann man sagen: so wenig Theerderivate noch selbst Theer sind, so wenig sind diese ‚Ideen‘ des Kriticismus mit jenen Dogmen des Mysticismus noch identisch. Die Kantische Erfahrungswelt, wie sie durch die ‚Analogien der Erfahrung‘ geregelt ist, schliesst jedes Durchbrechen des gesetzmässigen Naturzusammenhanges durch uncontrolirbare ‚Spirits‘ aus, und Kant würde den modernen Mysticismus, soweit er sich an seinen Rockschössen festhalten will, energisch von sich geschüttelt haben.41

Notieren wir uns am Schluss, dass Vaihinger ebenfalls keinen Hinweis darauf gibt, Swedenborgs Schriften oder irgendwelche Sekundärliteratur über ihn zur Kenntnis genommen zu haben. Nach meinem Wissen war Julius Ebbinghaus der erste Kant-Forscher von Rang, der sich die Mühe gemacht hat, Swedenborg zu lesen. 1940 hielt er einen Vortrag bei einer Deutsch-Schwedischen Tagung in Rostock, der erst 1968 veröffentlicht wurde. Der Kontext ist bedeutend: ein Treffen zwischen Gelehrten aus Deutschland und dem neutralen Schweden, das (wie er schreibt) beabsichtigte, „dem Verständnis von Nation zu Nation den Weg zu bereiten“,42 war 1940 natürlich politisch delikat. Ebbinghaus beginnt also ganz diplomatisch, indem er beschreibt, dass Kant und Swedenborg, der berühmte Deutsche und der berühmte Schwede [...] wie zwei Brückenpfeiler südlich und nördlich der Ostsee [sind], von denen aus die Brücke der geistigen Verbindung zwischen unseren Ländern zu schlagen, eine wahre Verlockung [sein muss].43

Ebbinghaus hatte sich offensichtlicht klargemacht, dass er nicht nur Swedenborg mit einem gewissen Respekt besprechen musste, sondern dass auch eine gute Vorbereitung notwendig war: Bei der Anrede eines Publikums voller schwedischer Intellektueller, die vielleicht mit Swedenborg durchaus vertraut waren, konnte er 41 42

43

Ebd., S. 513 [mit Anmerkung, Hervorh. im Original]. Ebbinghaus, Julius, Kant und Swedenborg, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden. Hildesheim 1968 [Erstausgabe: Jahrbuch des Auslandsamtes der deutschen Dozentenschaft (1943), S. 80–94], S. 59. Ebd., S. 58.

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nicht das Risiko eingehen, ihn zu besprechen, ohne seine Werke auch gelesen zu haben. Und tatsächlich finden wir reichlich Bezugnahmen auf spezielle Abschnitte der Arcana Coelestia, die er wirklich studiert zu haben scheint. Das Ergebnis war aber ziemlich ironisch, denn während Ebbinghaus gewillt gewesen zu sein scheint, Swedenborgs Metaphysik wenigstens auf der Basis von Kants Zusammenfassung in den Träumen einigen Kredit zu geben, verschwand dieser Kredit völlig, nachdem er selbst Swedenborgs ausführliche Beschreibungen darüber gelesen hatte, wie die verschiedenen Teile des „Großen Menschen“ durch Engelsgesellschaften gebildet werden: Selbst wenn man jenes Bild des grössten Menschen geschluckt hat, in dem die Guten sich in die edleren Körperteile teilen, während die schlechten natürlich an den Stellen ihr Leben fristen, deren Bezeichung aus Gründen der Dezenz unmöglich ist, so ist das nur ein kleiner Anfang von dem, was einem alles bevorsteht.44

Ebbinghaus fährt fort, indem er eine Reihe von recht amüsanten Beispielen liefert und endlich die unvermeidliche Schlussfolgerung über „diese Herabschraubung dantesker Visionen auf das Niveau von Jahrmarktströdel“ zieht: Es mag mit unserem Vermögen, in die Welt der Geister zu schauen, stehen, wie es will – aber wenn einer sich dieser Fähigkeit rühmt, bloss um uns aufzureden, dass wir uns nach dem Tode in einer Welt von solchen Fratzen herumtreiben werden, wie es die ist, von der uns Swedenborg mit ebensoviel eigensinniger Konsequenz wie sorgloser Geschwätzigkeit zu berichten weiss, so ist es nicht verwunderlich, dass er seinen Kredit und wir unsere Geduld verlieren.45

Kurz: während die Vernachlässigung von Swedenborgs Werk durch Kant-Forscher vielfach dazu geführt hat, dass sie Kants negative Bewertungen für bare Münze genommen haben, führte Ebbinghaus’ Bemühung, ihn auch wirklich zu studieren, zu einem noch weitaus negativeren Schluss. Nach Ebbinghaus’ Text müssen wir wieder mehrere Jahrzehnte auf einen KantGelehrten warten, der zu Swedenborg Stellung nimmt. Alison Laywines Studie Kant’s Early Metaphysics and the Origins of the Critical Philosophy wurde 1993 veröffentlicht und ist als der bei weitem umfangreichste Versuch eines Kant-Spezialisten zu betrachten, Swedenborgs Rolle in Kants Entwicklung zu bewerten. Laywine hat Swedenborgs Werke studiert, aber ihre Kenntnis der Sekundärliteratur beschränkt sich auf Toksvigs Biographie.46 In ihrem ersten Kapitel erörtert sie „vier konkurrierende Lager von Lesern“47 der Träume. Das erste Lager besteht nach ihrer Analyse aus denen, „die auf die eine oder andere Weise voraussetzen, dass Kant eine dauerhaft positive Haltung gegenüber der Metaphysik als einer Wissenschaft von den übersinnlichen Dingen hatte“, dass „Kant selbst ein Schüler 44 45 46 47

Ebd., S. 74. Ebd., S. 75. Toksvig, Signe, Emanuel Swedenborg. Scientist and Mystic. London 1948. „[...] four rival camps of readers“; vgl. Laywine, Alison, Kant’s Early Metaphysics and the Origins of the Critical Philosophy. Atascadero 1993, S. 15.

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Swedenborgs war“ und dass er „einige von Swedenborgs Ideen in seine eigene Metaphysik einarbeitete“.48 Erstaunlicherweise schließt Laywine Vaihinger in diese Kategorie ein, zusammen mit – wie sie es formuliert – „einer merkwürdigen Mischung aus Mystikern, Quacksalbern und Scharlatanen“,49 angeführt von Tafel und du Prel. Dies verzerrt ganz offensichtlich Vaihingers Position, und tatsächlich ist Laywine’s Erörterung seiner Perspektive seltsam unangemessen.50 In ihrem vierten Kapitel diskutiert sie Swedenborg selbst, dessen Name, so schreibt sie, „den Klang von Halloween an sich hat“51 und den sie später wenn schon nicht als Wahnsinnigen, dann aber doch als „unausgeglichen“ diagnostiziert.52 Sie fährt mit einer von Toksvig stammenden, ziemlich adäquaten Skizze von Swedenborgs Leben und Entwicklung fort und beendet ihre Erörterung seines Werks mit dem – an sich plausiblen – Resümee, dass „sich der Inhalt von Swedenborgs Angelologie insgesamt kaum von Leibniz’ natürlicher Theologie unterscheidet“.53 Laywines Interpretation der Träume in ihrem 5. Kapitel würde eine detailliertere Erörterung erfordern als hier möglich ist; ihre mehrfach wiederholte Gesamtthese ist, dass Swedenborgs Werk Kant die „Gefahren und Torheiten“ bewusst machte, die in der Metaphysik entstehen, „wenn man die normalen raumzeitlichen Bedingungen, unter denen Körper unseren Sinnen gegeben sind, auf immaterielle Substanzen anwendet“,54 oder anders formuliert: Swedenborgs Werk ließ Kant erkennen, dass Swedenborg und gleichermaßen er selbst fälschlicherweise „immaterielle Substanzen so behandelt hatten, als ob sie unter die Sinne fallen könnten“.55 Laywines Folgerungen mögen ein wenig einseitig erscheinen, sie basieren aber sicher auf einem ernsten Studium sowohl Swedenborgs als auch Kants. Das kann gewiss nicht über Martin Schönfelds Auseinandersetzung in The Philosophy of the Young Kant: The Precritical Project (2000) gesagt werden. Das Buch präsentiert sich als eine großangelegte Untersuchung des vorkritischen Kant, kulminierend in den Träumen, und man meint doch erwarten zu dürfen, dass der Autor eines sol48

49 50 51 52

53 54

55

„Readers in the first camp presuppose one way or another that Kant had some kind of enduring commitment to metaphysics as a science of supersensible things. They argue that Kant himself was a student of Swedenborg and that he incorporated some of Swedenborg’s ideas into his own metaphysics.“ Ebd. „[…] an odd assortment of mystics, quacks and charlatans“, ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 16–18. „The name Emanuel Swedenborg has the ring of Hallowe’en to it.“ Ebd., S. 55. „Swedenborg is usually thought of either as a lunatic or as a mystic concerned foremost with individual spirituality. […] It is more than likely that Swedenborg was unbalanced; but even if so, that cannot be the whole story, since Swedenborg’s project was too well conceived to be the fruit of lunacy alone.“ Ebd., S. 61. „[…] the content of Swedenborg’s angelology differs hardly at all from the natural theology of Leibniz.“ Ebd., S. 68. „But what could the visions of Swedenborg possibly teach Kant? – Everything about the dangers and follies of subjecting immaterial substances in metaphysics to the ordinary spatio-temporal conditions under which bodies are given to the senses.“ Ebd., S. 55. „Swedenborg and the early Kant both treated immaterial substances as though they could fall under the senses.“ Ebd., S. 101.

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chen Werkes seine Hausaufgaben gründlich gemacht hat. Tatsächlich stellt das Buch jedoch einen großen Schritt zurück dar. Schönfeld scheint nicht einmal einen flüchtigen Blick auf Swedenborgs Schriften geworfen zu haben: Alle seine Informationen über Swedenborg stammen aus zweiter Hand, besonders von Laywine; und sogar Laywine hat er schlecht gelesen. Das entsprechende Kapitel nimmt nur 15 der 240 Buchseiten ein und erstaunlicherweise sind nur 10 von ihnen den Träumen gewidmet. Schönfelds These ist, dass sie die reductio ad absurdum von Kants vorkritischem Projekt darstellen. Nachdem er Kants Polemik mit Fichtes Polemik gegen Schmid, Hegels gegen Fries und die Romantiker sowie Marx und Engels’ gegen Bruno Bauer verglichen hat, schreibt Schönfeld, was die Polemik der Träume von diesen anderen Werken unterscheidet, besteht darin, daß Kant nicht einen Philosophen oder Theologen attackiert, sondern einen Mystiker und schwedischen Bergwerksassessor. Er attackierte nicht eine im übrigen respektable Theorie, sondern ein fürchterliches Gebräu aus Fantastischem und Okkultem.56

Trotz seiner Bezugnahmen auf Laywine ist sich Schönfeld offensichtlich nicht über den internationalen Ruf Swedenborgs als Wissenschaftler und Naturphilosoph im Klaren. Er ist vielmehr davon überzeugt, dass er die Werke des (wie er formuliert) „selbststilisierten Magiers“ Swedenborg überhaupt nicht einzusehen braucht. Der Rest des Kapitels ist dementsprechend oberflächlich und verdient hier keine ausführliche Diskussion. Im 21. Jahrhundert ist Manfred Kuehns große Kant-Biographie von 2001 nach wie vor repräsentativ für das Standardmuster, nach dem Kant noch immer als die zentrale Autorität über seinen eigenen Text angesehen wird, kombiniert mit einer „blissful ignorance“ gegenüber der primären und sekundären Swedenborg-Literatur. Aber es ist vielversprechend, Kuehns Biographie mit derjenigen von Manfred Geier (erschienen 2003) zu vergleichen. Sein Kapitel „Ich weiss nicht, ob es Geister gibt: Reise durch das Schattenreich“57 zeigt sich durchaus als wohl informiert, und Geier hat sich die Mühe gemacht, einige der primären und sekundären Quellen in Augenschein zu nehmen.

5. Zum Schluss Dieser Aufsatz hat sich auf diejenige Literatur konzentriert, die den akademischen Kant-Forschern und Philosophiehistorikern am besten bekannt sein könnte und von 56

57

„What distinguished the polemics of the Dreams from these other works is that Kant did not assail a philosopher or theologian, but a mystic and assessor at the Swedish board of mines. His target was not an otherwise respectable theory, but a dreadful concoction of the fantastic and the occult.“ Schönfeld, Martin, The Philosophy of the Young Kant. The Precritical Project. Oxford 2000, S. 235. Kühn, Manfred, Kant. A Biography. Cambridge 2001; Geier, Manfred, Kants Welt. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 97–127.

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ihnen ernst genommen wird; aber es existieren natürlich noch weitere Studien wie besonders die bis heute leider unveröffentlichte Dissertation von Gregory Johnson, der seinen Ansatz in diesem Band selbst präsentiert. Jedenfalls sollte deutlich geworden sein, dass das, was die meisten akademischen Philosophiehistoriker über die Problematik Kant/Swedenborg heute wissen und verstehen, bestenfalls skizzenund lückenhaft und oftmals sachlich ganz inkorrekt ist. Es bleibt zu hoffen, dass diese Situation sich nach 240 Jahren endlich bessern wird. Man halte von Swedenborg und seinen Ideen, was man will, aber gegen eine sachliche und gut informierte Behandlung seines Verhältnisses zu Kant gibt es aus akademischer Sicht nun einmal keine Argumente.

Personenregister

Acton, Alfred 3, 9 Adorno, Theodor Wiesengrund 134 Ammon, Christoph Friedrich 95f. Aristoteles 16, 24, 108f., 116f., 153 Arrhenius, Svante August 6 Baader, Franz Xaver von 2, 63 Barth, Karl 88 Bauer, Bruno 171 Baumbach, Rudolf 68, 162 Baumgarten, Alexander Gottlieb 26, 28, 39, 62f., 65, 70f., 80, 84 Beattie, James 102 Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) 154f. Benz, Ernst VII, 135, 153, 158 Berzelius, Jöns Jakob 1 Biester, Johann Erich 101f. Bilfinger, Georg Bernhard 21, 28 Blomberg, Hermann Ulrich von 19 Böhme, Jakob 49, 95, 96 Borowski, Ludwig Ernst 13f., 20f., 31, 60, 99, 106, 145, 158 Botul, Jean Baptiste 134 Brahé, Tycho 149 Bultmann, Rudolf 88 Butler, Samuel 149f. Camerarius, Elias 51 Casaubon, Méric 145 Cassirer, Ernst 14 Cicero, Marcus Tullius 117 Clemm, Heinrich Wilhelm 50f., 54, 57, 62 Cohen, Hermann 37 Coleridge, Samuel Taylor 145 Cordemoy, Géraud de 24, 25 Crookes, William 137, 139 Crusius, Christian August 29f., 39, 48, 50, 109 Cuno, Johann Christian 54 Dante Alighieri 19

Darwin, Charles Robert 4 Demetrius 150 Descartes, René 22–25, 153 Diterich, Johann Samuel 101 Dohm, Christian Wilhelm von 101 Dohna-Lauck auf Wundlacken, Heinrich 63–65, 162 Ebbinghaus, Hermann 134 Ebbinghaus, Julius 36, 38, 40, 134, 168f. Eberhard, Johann August 58, 101f., 106 Eckermann, Johann Peter 155 Einstein, Albert 28 Engel, Johann Jakob 101 Engels, Friedrich 171 Erasmus von Rotterdam 132 Ernesti, Johann August 39 Eschenmayer, Carl Adolph Adam 137 Euler, Leonhard 26 Feder, Johann Georg Heinrich 46, 53, 101f., 106, 161 Feuerbach, Ludwig 153 Fichte, Johann Gottlieb 171 Fischer, Kuno 37, 75, 99, 166 Formey, Johann Heinrich Samuel 101 Freud, Sigmund 131, 133, 137, 139, 142 Friedrich II. von Preußen 17, 103 Friedrich Wilhelm I. von Preußen 32 Fries, Jakob Friedrich 171 Garve, Christian 58, 101 Gedike, Friedrich 101 Goethe, Johann Wolfgang von 2, 143f., 155 Görres, Joseph 2, 137 Goya, Francisco de 16, 30 Habermas, Jürgen 154 Hahn, Philipp Matthäus 50–53, 57, 97 Hamann, Johann Georg 38, 96f., 117

174 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 20, 33, 136, 171 Henschen, Salomon Eberhard 6 Heraklit 16, 29, 108 Herder, Johann Gottfried 37, 50, 53f., 57, 62, 64f., 135, 117, 161 Hermann, Wilhelm 88 Herz, Markus 102 Hieronymus, Sophronius Eusebius 153 Horaz 17, 150 Horkheimer, Max 134 Hume, David 17, 21f., 33, 81, 99, 102, 106, 123 Hutcheson, Francis 81 Irwing, Karl Franz von 101 Jacobi, Friedrich Heinrich 105 Jaffé, Aniela 137 Jerusalem, Friedrich Wilhelm 52 Jung, Carl Gustav VIII, 61, 97, 133f., 136–145, 147, 151f., 154f. Jung-Stilling, Johann Heinrich 2, 168 Kafka, Franz 147f. Kanter, Johann Jakob 117 Karlstadt, Andreas 95f. Kellgren, Johan Henrik 1 Kepler, Johannes 4 Kerner, Justinus 137 Klopstock, Friedrich Gottlieb 57 Knobloch, Charlotte von 55, 137, 158, 166 Komarnicki, Jan Pawlikowicz 117 Kronenberg, Moritz 166 Laertius, Diogenes 149 Lambert, Johann Heinrich 103, 107 Lavater, Johann Caspar 2, 52, 55, 59 Leibniz, Gottfried Wilhelm 4, 10, 13, 17, 19f., 39–41, 48, 64, 71, 75, 83–85, 87, 89f., 92, 99, 102, 123, 127, 130f., 145, 150, 153, 159, 164, 170 Leisegang, Hans 134 Lessing, Gotthold Ephraim 68, 75, 103 Lind, Paul von 141

Locke, John 14, 18–20, 22, 33, 102, 145, 161 Lovén, Christian 6 Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt 38, 74 Luther, Martin 71, 73 Malebranche, Nicolas 48f., 88, 90, 92 Marx, Karl 33, 171 Mendelssohn, Moses 14, 17, 30, 38, 43, 45, 53, 101, 103, 127f., 130, 151, 161 Mesmer, Franz Anton 57, 61 Michaelis, Johann Daniel 67 Möhsen, Karl Wilhelm 101 More, Henry 145 Moser, Fanny 133 Mrongovius, Christoph Coelestin 19, 63, 65, 67, 80, 84f., 162 Myers, Frederic 139 Nathorst, Alfred Gabriel 6 Newton, Isaac 4, 17, 19, 43, 48, 103 Nicolai, Friedrich 101–103, 143f. Nietzsche, Friedrich 147, 152 Oetinger, Friedrich Christoph 38, 46–54, 57, 83, 97, 157f. Oswald, James 102 Pasqually, Jacques Martinès de 62 Passavant, Johann Karl 137 Pauli, Wolfgang 136 Pfenninger, Johann Conrad 59 Platner, Ernst 101 Platon 132, 149 Ploucquet, Gottfried 51 Plutarch 16 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 63f., 89, 141 Preiswerk, Hélène 137 Prel, Carl du 37, 61, 63, 68, 93, 141–143, 167f., 170 Priestley, Joseph 67 Reid, Thomas 102 Rhine, Joseph Banks 139 Riehl, Alois 98

175 Rousseau, Jean-Jacques 30, 33, 37, 44, 81, 85, 100, 102, 116f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 2 Schiller, Friedrich 154 Schleiermacher, Friedrich 88 Schmid, Carl Christian Erhard 171 Schopenhauer, Arthur 79–81, 136, 168 Schubert, Gotthilf Heinrich von 2 Schultz, Franz Albrecht 70 Schwenckfeld, Kaspar von 95 Selle, Christian Gottlieb 102 Semler, Johann Salomo 55, 68, 75 Seneca, Lucius Annaeus 150 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl of 16f., 30, 81, 146, 150f., 154 Spalding, Johann Joachim 32f., 101 Spinoza, Baruch de 79, 144 Stapfer, Johann Friedrich 67 Stroh, Alfred Henry 3, 6 Sulzer, Johann Georg 101 Tafel, Johann Friedrich Immanuel 1–3, 170 Teller, Wilhelm Abraham 101

Thales von Milet 149 Tillich, Paul 88 Troeltsch, Ernst 88 Vaihinger, Hans VII, 80, 93, 98, 165, 167f., 170 Vergil 150 Volckmann, Johann Wilhelm 62, 65, 67, 79f., 86f., 162 Voltaire, François Marie Arouet de 17, 52, 145, 150 Wallace, Alfred Russel 139 Walpole, Horace 160 Weber, Wilhelm Ernst 144 Weigel, Valentin 95 Wilmans, Carl Anton 93–96 Wolff, Christian 10, 13, 17, 19–21, 23–32, 39–41, 46, 48, 50, 75, 81, 83, 90, 92, 99, 102, 105, 109, 153, 159, 164 Wundt, Max 92 Zöllner, Johann Friedrich 101 Zöllner, Johann Karl Friedrich 137, 139