Juristische Methodik: Band II: Europarecht [2 ed.] 9783428523412, 9783428123414, 9783428539413

Trotz des Scheiterns des politisch allzu unausgewogenen Verfassungsvertrags bleibt das Europarecht eines der dynamischst

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Juristische Methodik: Band II: Europarecht [2 ed.]
 9783428523412, 9783428123414, 9783428539413

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Juristische Methodik Band II

Europarecht

Von Friedrich Müller Ralph Christensen Zweite, neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage

asdfghjk DUNCKER & HUMBLOT

FRIEDRICH MÜLLER / RALPH CHRISTENSEN

Juristische Methodik II

Juristische Methodik Band II

Europarecht

Von

Friedrich Müller Ralph Christensen Zweite, neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2003

Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12341-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort zur zweiten Auflage Trotz des Scheiterns des politisch allzu unausgewogenen Verfassungsvertrags bleibt das Europarecht eines der dynamischsten Rechtsgebiete. Diese anhaltende Dynamik in der Rechtsetzung und nicht zuletzt in der Judikatur würde es nicht erlauben, das vorliegende Buch nur zu aktualisieren. Das ist, mit Rechtsprechung und Literatur auf dem Stand von Herbst 2006, zwar auf breiter Front geschehen; darüber hinaus aber war das Konzept der Vorauflage an sehr vielen Stellen nicht nur zu präzisieren, sondern auch zu erweitern und thematisch auszubauen. Dogmatisch betraf das so entscheidende Bereiche wie die Schrankensystematik von Grundfreiheiten und Grundrechten, wie das immer wichtiger werdende Gebiet der Staatshaftung, wie die prozessuale Klagebefugnis, wie Gewaltenteilung, Subsidiaritätsprinzip und die Entwicklung der so genannten dritten Säule mit dem Spannungsverhältnis zwischen Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht. Methodische Präzisierungen ergaben sich beispielsweise für das stets problematische Konzept der Wortlautgrenze – zum einen allgemein im Rahmen einer Inferenzsystematik und im Besonderen ausgehend von der Entscheidung Pupino. Das Problem der Rangfolge der Konkretisierungselemente konnte am Beispiel einer Divergenz zwischen EuGH und EuG vertieft diskutiert werden. Ferner ergaben sich im Bereich der Semantik des zentral wichtigen systematischen Arguments vielfältige Differenzierungen. Sie betrafen generell den Einbau der Systematik in eine holistische Konzeption des Rechts und speziell die Rolle von Präjudizien. Auch hat sich das hier vertretene strukturierende Normkonzept, das schon bisher im europäischen Gemeinschaftsrecht ein fruchtbares Terrain vorgefunden hatte, in Gestalt praktischer Analysen des Normbereichs auch auf den Gebieten des Kartellrechts, des Datenschutzes, der Medienkonvergenz und des e-government nachhaltig bewährt. Rechtstheoretisch waren schließlich das Verhältnis von Rechtsquelle und Verfahren sowie die Verknüpfung (europa-)rechtlicher Methodik mit der Medientheorie weiter zu entwickeln. Heidelberg / Mannheim, Januar 2007

F. M. und R. Chr.

Vorwort zur ersten Auflage Teil II der „Juristischen Methodik“ ist technisch unabhängig vom ersten organisiert und selbständig benutzbar. Er entwickelt, aufbauend auf dem Konzept und mit der methodologischen Begrifflichkeit des Grundlagenbandes, Elemente einer Methodik des europäischen Gemeinschaftsrechts – also der Schicht unserer normativen Ordnung, die quantitativ deutlich zunimmt und qualitativ zunehmend dominiert. Von Anfang an hat sich diese Methodik als eine des positiven Rechts verstanden; und zwar von dem demokratisch-rechtsstaatlichen Typus, für den auch das deutsche Grundgesetz einsteht. Ferner vertritt sie seit jeher den mit „Methodik und Methodiken“ benannten Ansatz: den Plural einer Arbeitsreflexion der verschiedenen dogmatischen Teilrechtsgebiete anzustreben – im Rahmen dieser „Juristischen Methodik“ ohne Anspruch auf Vollständigkeit; und zugleich für sie alle eine Basis auszuarbeiten, die dem avancierten Stand der Rechts-, Sozial- und Sprachwissenschaft gewachsen ist. Im ersten Band sind diese Grundlagen anhand des nationalen Öffentlichen Rechts, ausgehend vom Verfassungsrecht, entwickelt worden. Der zweite Teil wendet sich nun den Elementen einer Methodik des Gemeinschaftsrechts zu – und damit nicht einer externen, sondern einem zusehends wichtiger werdenden Teil der deutschen Rechtsordnung. Von seinem supranationalen Ursprung her weist er Besonderheiten und auch besondere Schwierigkeiten auf: so zum Beispiel die Mehrsprachigkeit (bei Gleichrangigkeit der beteiligten Nationalsprachen), die gesteigert komplexe Systematik, die wesentlich größere Bedeutung des teleologischen Arguments oder das deutlicher sichtbare Einwirken methodenrelevanter Normen auf das juristische Entscheidungshandeln. Die Praxis spielt dabei die zentrale Rolle, also die Analyse der Rechtsprechung der Gerichte der Gemeinschaft und ihrer methodischen Vorgehensweisen. Das entspricht der herausgehobenen Bedeutung, welche die Justiz bei der Entwicklung des europäischen Rechts hat. Es wäre aber nicht angemessen, diese neuartige Judikatur mit den hergebrachten Konzepten des Gesetzes- wie des Sprachpositivismus zu untersuchen. Der Ertrag für die Praxis und ihre wissenschaftliche Reflexion ist größer, wenn es mit erneuerten methodologischen Ansätzen geschieht: um den Anforderungen des Rechtsstaats auch im supranationalen Rahmen gerecht zu werden, ohne dabei die Leistungsfähigkeit der (hier zusätzlich mehrdimensionalen) Rechtssprache zu über-

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Vorwort zur ersten Auflage

spannen. Dasselbe gilt für die weitere Aufgabe einer Methodik, demokratische Impulse realisieren zu helfen. Dazu bedarf es aber auch eines fühlbaren weiteren Demokratisierungsschubs in den Institutionen der Europäischen Gemeinschaft. Anfang 2003

F. M. und R. Chr.

Inhaltsverzeichnis

1 Problemstellung: Ein Recht in vielen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

2 Zum gegenwärtigen Stand der Methodik des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . .

24

21 Wortlaut: Verstecken oder Verwerten von Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

211 Strategien, um der Mehrsprachigkeit zu entkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

211.1 Die Auswahl der richtigen Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

211.2 Die Regel des gemeinsamen Nenners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

211.3 Die Unterschätzung des Wortlautarguments durch die Literatur . . . . .

33

212 Verwerten von Mehrsprachigkeit in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . .

36

212.1 Die Bedeutung als Ziel der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

212.2 Die gemeinschaftsbezogene Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

212.3 Ist der nationalsprachliche Wortlaut für den EuGH irrelevant? . . . . . .

44

22 Systematik: Vom Buch zum offenen Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

221 Die Systematik des Gesetzes als Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

221.1 Die objektive Bedeutung des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

221.2 Der Vorgriff auf Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

221.3 Die normative Vorstellung des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

222 Die offene Systematik in der Praxis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

222.1 Von der vertikalen zur horizontalen Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

222.2 Der Begriff der systematischen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

222.3 Strategien systematischer Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

23 Geschichte: Von der Willensmetapher zur Argumentform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

231 Genetische Konkretisierung und Willensmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

231.1 Subjektive Lehre und „droit diplomatique“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

10

Inhaltsverzeichnis 231.2 Rechtsnorm als Willensausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

231.3 Verschwinden und Wiederkehr des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

232 Historische und genetische Konkretisierung in der Praxis des EuGH . . . . . . .

66

232.1 Historische Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

232.2 Genetische Konkretisierung im Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

232.3 Genetische Konkretisierung im Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

24 Zweck: Von der metaphysischen Voraussetzung zur Schlussform . . . . . . . . . . . . . . .

73

241 Zur Einordnung des teleologischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

241.1 Canones und komplexe Schlussformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

241.2 Die Teleologie aus der Sicht der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

241.3 Die Teleologie in der Praxis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

242 Die Begründung des Zwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

242.1 Grammatische Begründung des Zwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

242.2 Systematische Begründung des Zwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

242.3 Entstehungsgeschichtliche Begründung des Zwecks . . . . . . . . . . . . . . . .

88

25 Empirische Argumente als Maßstab oder am Maßstab des Gesetzes . . . . . . . . . . . . .

90

251 Empirische Argumente als blinder Fleck der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

251.1 Der Stellenwert empirischer Argumente aus der Sicht der Literatur .

91

251.2 Verweisungsbegriffe in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . .

93

251.3 Weitere Ansatzpunkte für Normbereichsanalysen beim EuGH . . . . . .

97

252 Anwendungsbeispiele aus der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

252.1 Ein Rechtsproblem verknüpft Sprachverstehen mit Sachverstehen . . . 100 252.2 Besonderheiten bei rechtserzeugtem Normbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 252.3 Fehlerrisiken bei der Normbereichsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 26 Rechtsvergleichende Auslegung zwischen Erfindung und Fortbildung . . . . . . . . . . 113 261 Die Staatshaftung der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 261.1 Haftung der Gemeinschaft für normatives Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 261.2 Qualifizierte Rechtsverletzung als einschränkendes Merkmal . . . . . . . 115 261.3 Haftung der Gemeinschaft für rechtmäßiges Handeln . . . . . . . . . . . . . . . 117 262 Weiterentwicklung des nationalen Staatshaftungsrechts durch den EuGH . . . 119 262.1 Die Grundsätze der Staatshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Inhaltsverzeichnis

11

262.2 Die Ausdehnung der Staatshaftung im Wege der rechtsvergleichenden Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 262.3 Staatshaftung für die Judikative und die Grenzen rechtsvergleichender Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 27 Spielarten der gemeinschaftsrechtlichen Konformauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 271 Formen der gemeinschaftsrechtlichen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 271.1 Primärrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 271.2 Völkerrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 271.3 Gemeinsamkeiten der Fälle von Konformauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 272 Die Konformauslegung in der Praxis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 272.1 Auslegung im Licht der Freizügigkeitsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 272.2 Auslegung von Sekundärrecht im Einklang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 272.3 Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 28 Das Verhältnis der Konformauslegung zum nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 281 Begriff und Struktur gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . 148 281.1 Begriff der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . 148 281.2 Begriff der richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 281.3 Gibt es eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung? . . . . . . . . . . . . . . . . 154 282 Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung . . . . . . . . 156 282.1 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 282.2 Richtlinienkonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 282.3 Zeitlicher Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung

165

29 Die Entwicklung einer europäischen Methodik als Rechtserzeugungsreflexion . . 168 291 Interlegalität im europäischen Rechtsschutzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 292 Das Scheitern einer vertikalen Rechtsanwendungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 293 Die Notwendigkeit einer horizontalen Rechtserzeugungsreflexion . . . . . . . . . . 176 3 Strukturmodell der richterlichen Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 31 Normstruktur: Was heißt Rechtsanwendung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 311 Beobachtung erster Ordnung: Das Wesen des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 311.1 Die Voraussetzung der „objektiven Bedeutung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

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Inhaltsverzeichnis 311.2 Die Konsequenz der Verdoppelung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 311.3 Die Notwendigkeit einer neuen Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 312 Beobachtung zweiter Ordnung: Die Rechtserzeugungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . 193 312.1 Normativität als Vorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 312.2 Das juristische Handeln in der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 312.3 Die Rechtsnorm als Ergebnis juristischen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 32 Legitimationsstruktur: Woran ist praktische Rechtsarbeit zu messen? . . . . . . . . . . . 206 321 Vom „Auslegungsziel“ zu den methodenbezogenen Normen . . . . . . . . . . . . . . . 207 321.1 Die Auslegungstheorie kann kein Ziel juristischer Textarbeit vorgeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 321.2 Charakter des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 321.3 Der EuGH orientiert sich an den methodenbezogenen Normen . . . . . . 211 322 Ist Methodik gesetzlicher Regelung zugänglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 322.1 Der Status methodischer Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 322.2 Führen methodenbezogene Normen in ein Paradox? . . . . . . . . . . . . . . . . 216 322.3 Ist Rationalität entscheidbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 33 Textstruktur: Wie navigiert man im Rechtstext? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 331 Navigieren im Hypertext des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 331.1 Der Begriff des Hypertextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 331.2 Navigieren in Textsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 332 Vom Hypertext zur rechtsstaatlichen Textstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 332.1 Recht als Hypertext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 332.2 Der Legitimationstransfer vom Gesetz auf die Entscheidung . . . . . . . . 234 332.3 Die argumentative Rolle der Canones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

4 Leistung der einzelnen Argumentformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 41 Grammatisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 411 Art. 314 EG und das Problem der Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 411.1 Mehrsprachigkeit und Wörterbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 411.2 Mehrsprachigkeit und Übersetzungsmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 411.3 Mehrsprachigkeit und gemeinsamer propositionaler Gehalt . . . . . . . . . 249

Inhaltsverzeichnis

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412 Grammatische Konkretisierung macht einen sprachlichen Plausibilitätsraum sichtbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 412.1 Risiken der Mehrsprachigkeit im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 412.2 Die gemeinsame Sprache als Kommunikation der Unterschiede . . . . . 255 412.3 Struktur der gemeinschaftsbezogenen Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 42 Systematisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 421 Die Erweiterung der Systematik erster Ordnung durch die Systematik zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 421.1 Zur Semantik des systematischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 421.2 Die wachsende Bedeutung von Vorentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 421.3 Zur Problematik von Präjudizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 421.4 Das Präjudiz im angelsächsischen Rechtskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 421.5 Das Präjudiz im kontinentalen Rechtskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 422 Die Rolle von Vorentscheidungen für die Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 422.1 Das Präjudiz als subsidiäre Rechtsquelle im Rechtserkenntnismodell 293 422.2 Das Präjudiz als Argument in der Rechtserzeugungsreflexion . . . . . . . 296 422.3 Die Bindungswirkung von Entscheidungen des EuGH . . . . . . . . . . . . . . 303 43 Historisches und genetisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 431 Gründe für die eingeschränkte Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 431.1 Autorenfunktion als Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 431.2 Der dynamische und politische Charakter des Gemeinschaftsrechts . 312 431.3 Das Problem von Diversifikation und Mehrsprachigkeit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 432 Genetische Konkretisierung als Kopplung zur Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 432.1 Die Ablösung von der Willensmetapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 432.2 Gesetzgebung, semantisch gesehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 432.3 Der Stellenwert genetischer Konkretisierung in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 44 Teleologisches Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 441 Die Dynamik des teleologischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 441.1 Folgenbetrachtung als empirischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

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Inhaltsverzeichnis 441.2 „Effet utile“ einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . 324 441.3 Gibt es eine Auslegung in dubio pro communitate? . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 442 Legitimität teleologischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 442.1 Begrenzung der Kompetenzen des Gerichtshofs durch Kompetenzen anderer Organe der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 442.2 Begrenzung durch Kompetenzen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . 335 442.3 Berechtigung der Kompetenzüberschreitungskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 45 Normbereichsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 451 Die Verschränkung von Recht und Wirklichkeit in der Normstruktur . . . . . . . 346 451.1 Die Rückkopplung des Gesetzes an reale Entwicklungen . . . . . . . . . . . . 346 451.2 Die wachsende Bedeutung des Normbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 451.3 Der Begriff „Normbereich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 452 Das Problem einer dynamischen Normbereichsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 452.1 Begriff der dynamisch-evolutiven Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 452.2 Anwendungsbeispiele und Verknüpfung mit Teleologie . . . . . . . . . . . . . 378 452.3 Grenzen der dynamischen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 46 Rechtsvergleichendes Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 461 Normative Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 461.1 Art. 6 Abs. 2 EU und die Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . 385 461.2 Art. 288 Abs. 2 EG und rechtsstaatliche Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . 387 461.3 Das Berücksichtigen nationaler Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 462 Struktur der rechtsvergleichenden Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 462.1 Die praktische Vorgehensweise des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 462.2 Die wertende Perspektive der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 462.3 Legitimität und Grenzen rechtsvergleichender Argumentation . . . . . . 395 47 Konformauslegung im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 471 Die primärrechtskonforme Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 471.1 Das Primärrecht als Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 471.2 Normative Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 471.3 Struktur der primärrechtskonformen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

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472 Sekundärrechtskonforme Auslegung von Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 472.1 Beispiele für eine umgekehrte Konformauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 472.2 Legitimität der Methode? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 472.3 Keine Korrektur, sondern nur Bestätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 48 Konformauslegung im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 481 Normative Grundlagen für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . 416 481.1 Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 481.2 Konfliktmechanismus im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 481.3 Konfliktmechanismus im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 482 Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 482.1 Grenzen aus den normativen Grundlagen des Gemeinschaftsrechts . . 426 482.2 Grenzen aus der Systematik des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 426 482.3 Grenzen aus dem nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 5 Rationalität und Überprüfbarkeit der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . 434 51 Normative Vorgaben für die Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt . . . . . . . . . 434 511 Schranken aus allgemeinen Staatszielbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 511.1 Das Rechtsstaatsprinzip als Forderung nach Kontrolle richterlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 511.2 Die Gewaltenteilung als Forderung nach geteilter Rechtsetzung . . . . . 437 511.3 Demokratieprinzip als Forderung nach gesetzlicher Rückbindung juristischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 512 Schranken aus spezifischen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . 440 512.1 Das Grundrecht auf einen fairen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 512.2 Der Anspruch auf Gehör und Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 512.3 Gesetzesbindung und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 52 Geltungsstruktur: Rolle des Gesetzes für die Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 521 Das Gesetz im legalistischen Rechtsstaatsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 521.1 Hat der demokratische Gesetzgeber ein Sinngebungsmonopol? . . . . . 446 521.2 Kann die gemeinsame Sprache die Geltung des Gesetzes garantieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 521.3 Das Scheitern des legalistischen Rechtsstaatsverständnisses . . . . . . . . . 449

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Inhaltsverzeichnis 522 Das Gesetz im sprachreflexiven Rechtsstaatsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 522.1 Die Steuerungskraft des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 522.2 Das Rechtsstaatsprinzip als kommunikative Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 522.3 Was heißt demokratische Genese der Rechtsentscheidung? . . . . . . . . . . 454 53 Die Wortlautgrenze oder das Recht auf Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 531 Die Wortlautgrenze aus der Sicht der europarechtlichen Literatur . . . . . . . . . . 455 531.1 Die Suche nach einer objektiv vorgegebenen Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . 456 531.2 Die normative Wendung sprachlicher Konventionen . . . . . . . . . . . . . . . . 457 531.3 Das Scheitern des sprachlichen Normativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 532 Die Wortlautgrenze in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 532.1 Die Relativierung des einzelsprachlichen Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 532.2 Die Nationalsprache als Argumentationsinstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 532.3 Die Wortlautgrenze als Praxis einer Grenzziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 54 Rangfolge oder das Recht auf Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 541 Die Diskussion von Vorrangregeln in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 541.1 Eine Rechtserkenntnislehre kann keine Vorrangregeln begründen . . . 483 541.2 Sind Vorrangregeln prinzipiell unmöglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 541.3 Vorrangregeln und einzelfallbezogene Gewichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 488 542 Ansätze zu einer Rangfolge in der Praxis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 542.1 Vorrangregeln im Rahmen einer Rechtserzeugungreflexion . . . . . . . . . 491 542.2 Die Praxis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 542.3 Lässt sich das Vorgehen des EuGH verallgemeinern? . . . . . . . . . . . . . . . 502 55 Begründung oder das Recht auf legitime Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 551 Die europäische Begründungstradition zwischen Ableitung und Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 551.1 Die Überschätzung der Semantik in der romanischen Tradition . . . . . 509 551.2 Die Pragmatik der Texte in der deutschsprachigen Tradition . . . . . . . . 510 551.3 Die Pragmatik der Fälle in der angelsächsischen Tradition . . . . . . . . . . 512 552 Von der Semantik des Obrigkeitsstaats zur Pragmatik des Rechtsstaats . . . . . 514 552.1 Von der Rechtsquelle zum Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522

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552.2 Von der Ableitung zur Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 552.3 Defizite in der Begründungsarbeit des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532 56 Positivität, Legalität und Legitimität des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 561 Legalität zwischen Richterrecht und gebundener Rechtserzeugung . . . . . . . . . 535 561.1 Die Richterrechtsdoktrin verfehlt das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 561.2 Die Rolle der Richter bei der Rechtserzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 561.3 Die Abgrenzung von Dezision und gebundener Rechtserzeugung. . . . 537 562 Legitimität: Der Weg zwischen Verdrängen und Fixieren des Gerechtigkeitsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 562.1 Das Ausweichen vor der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 562.2 Das Fixieren der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 562.3 Die Gerechtigkeit als Forderung nach weiteren Argumenten in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 6 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 7 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 8 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609

2 Müller / Christensen

1 Problemstellung: Ein Recht in vielen Sprachen Das Gemeinschaftsrecht wirft ganz neuartige Probleme auf. Zunächst entsteht es aus einer Vielzahl von Rechtskulturen.1 Das heißt, es muss deren jeweilige Stärke zur Geltung bringen, ohne von einer dieser Kulturen dominiert zu werden.2 Zudem existiert dieses Recht in einer Vielzahl von Sprachen. Es will deren Eigenwert respektieren3 und muss dennoch für alle Sprachen ein einziges und verbindliches Recht festlegen. Schließlich handelt es sich um das Recht einer Gemeinschaft im Werden.4 Es muss deswegen eine Dynamik garantieren, ohne die für die Gemeinschaftsbildung unverzichtbare Rechtssicherheit zu vernachlässigen.

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Nicht genug damit, dass sich das Gemeinschaftsrecht und seine Organe in solchen gegensätzlichen Anforderungen bewegen müssen, sind sie außerdem noch den nationalstaatlichen Empfindlichkeiten ausgesetzt. Denn die Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs werden in den Nationalstaaten immer stärker.5 Immer mehr Sachverhalte, die Anknüpfungspunkte für das Gemeinschaftsrecht haben, werden unmittelbar durch dieses geregelt. Hinzu kommen die mittelbaren Auswirkungen. Das europäische Recht ist in einer Phase beschleunigter Expansion. Die Entscheidungssammlung von EuG und EuGH innerhalb eines

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1 Vgl. dazu Mohr, G., Zum Begriff der Rechtskultur, in: Dialektik, Heft 1998 / 3, S. 9 ff.; grundlegend dazu auch Mock, E. / Varga, C. (Hrsg.), Rechtskultur – Denkkultur, 1989, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 35; Stein, P. G., Römisches Recht und Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur, 1996. 2 Ob in der Vielfalt eine Stärke oder eine Schwäche liegt, wird verschieden eingeschätzt: Nach Sloterdijk, P., Falls Europa erwacht, Frankfurt am Main 1994, S. 9 f. und 24, ist die Vorstellung von Europa als „Einheit seiner Differenzen“ oder als „Ensemble seiner Widersprüche“ leer und geistlos. Andere dagegen sehen in der Fähigkeit Europas zum Übersetzen und Verstehen höchst unterschiedlicher Kulturen und Sprachen die spezifische Stärke. Vgl. Morin, E., Europa denken, 1988, sowie Derrida, J., Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, 1992, S. 9 ff., insbesondere 12 f. und 21. 3 Stolleis, M., Der Koloss darf nicht nur marschieren. Wer Recht in Europa schafft, muss auch dessen nationale Traditionen achten, in: FAZ vom 26. 06. 1998, Nr. 145, S. 45. 4 Natürlich werden die Chancen dieses Prozesses in der Politik verschieden eingeschätzt. Für eine eher skeptische Position vgl. Judt, T., Europa am Ende des Jahrhunderts, in: Transit, Europäische Revue, 1995, Heft 10, S. 5 ff.; ders., Europa: Die große Illusion, in: Merkur 572, Heft 11, S. 993 ff., der Europa lediglich als geographisches Phänomen sieht (S. 993). Für einen vorsichtigen Optimismus vgl. Rudolph, E., Europas sterbliche Seele, in: Dialektik 1997, Heft 2, S. 11 ff., 30 f. 5 Vgl. zu der Dynamik dieses Zusammenspiels Schmidt-Jortzig, E., Zur Europatauglichkeit des Grundgesetzes 12 Jahre nach Maastricht. Bewährung oder Reformbedürftigkeit der Europavorschriften in der deutschen Verfassung, in: Dicke, K. u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht, 2005, S. 621 ff.

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1 Problemstellung: Ein Recht in vielen Sprachen

Jahres überschreitet inzwischen den Umfang von zwei Regalmetern. Quantitativ lässt sich der unaufhörliche Strom von Sekundärrecht kaum noch überblicken. Die Frage nach den Rechtsgebieten, die vom Europarecht beeinflusst und geformt werden, muss man mittlerweile mit „alle“ beantworten. Qualitativ ist mit dem vorläufigen Scheitern der Verfassung eine Stockung eingetreten. Wenn es auch insoweit eine Krise gibt, so ist Europa doch noch immer der Hoffnungsträger für die beteiligten Nationen. 3

Was ist die Logik dieser Entwicklung? Erfolgt sie als hierarchische Überordnung des Gemeinschaftsrechts über die nationale Rechtskultur oder entwickelt das Ganze sich eher als ungeregelte Folge der Interaktionen verschiedener Rechtskulturen? Baum oder Rhizom sind Metaphern, welche die Philosophie bereitstellt, um die Extrempunkte eines Spektrums zu bezeichnen.6 Die realen Entwicklungen verlaufen dazwischen. Das europäische Recht entsteht nicht allein dadurch, dass man eine Verfassung formuliert und die Produktion von Sekundärrecht intensiviert. Verfassung und Sekundärrecht müssen in der Wirklichkeit ankommen. Sonst teilen sie das Schicksal mancher Gemeinschaftsverordnung, welche von der Praxis einfach vergessen wurde.

4

Zu Recht wird dieser Vorgang der Europäisierung von der Rechtswissenschaft kritisch begleitet.7 Im Hinblick auf die vom EuGH im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes angestoßenen Entwicklungen spricht man etwa von einer Ersetzung gesetzgeberischer Kontrollmaßstäbe durch europäisches Richterrecht.8 Auch will man die Nivellierung vollzugseffizienter und gewachsener Strukturen des nationalen Rechts verhindern.9 Dazu scheut man auch nicht globale Kritik am „imperialistischen Charakter“ der Rechtsprechung des EuGH10 und seinen „besatzungs6 Vgl. Deleuze, G. / Guattari, F., Rhizom, Berlin 1977, S. 8 ff. Vgl. dazu auch Stingelin, M., Das Netzwerk von Deleuze, 2000, insbesondere S. 15 ff. 7 Vor allem im Hinblick auf die Anforderungen durch das nationale Verfassungsrecht fordert dies Kirchhof, P., ebd. 8 Vgl. dazu Schoch, F., Individualrechtsschutz im deutschen Umweltrecht unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, in: NVwZ 1999, S. 457 ff., 459 sowie ders., Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes, in: DVBl. 1997, S. 289 ff.; Jannasch, A., Vorläufiger Rechtsschutz und Europarecht, in: VBlBW 1997, S. 361 ff.; Sandner, W.: Probleme des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Gemeinschaftsrecht vor nationalen Gerichten, in: DVBl. 1998, S. 262 ff. 9 Salzwedel, J. / Reinhardt, H., Neuere Tendenzen im Wasserrecht, in: NVwZ 1991, S. 946 ff., 947. So spricht etwa Ossenbühl, F., 40 Jahre Bundesverwaltungsgericht, in: DVBl. 1993, S. 753 ff., 761 davon, dass der EuGH mit der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift ein sensibles und flexibles Regelungsinstrument „niedergewalzt“ habe. Ossenbühl bezieht sich hierbei auf die Entscheidung zur Bleirichtlinie, worin der EuGH festgestellt hatte, dass die Bundesrepublik mit den normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften wie TA Lärm die im europäischen Recht vorgegebenen Grenzwerte nicht hinreichend umgesetzt hat. Vgl. dazu EuGH, Mangelhafte Umsetzung von Luftreinhaltungsrichtlinie (Blei), in: NVwZ 1991, S. 868 ff. 10 Vgl. dazu Clever, P., Grundsätzliche Bemerkungen zur Rechtsprechung des EuGH, DAngVers 1993, S. 71 ff.; Dänzer-Vanotti, W., Unzulässige Rechtsfortbildung des Europäi-

1 Problemstellung: Ein Recht in vielen Sprachen

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rechtsähnlichen Interventionen“.11 Von solchen Interventionen kann man aber erst dann sprechen, wenn der EuGH den Rahmen des methodisch Möglichen verlässt. Dann erst wäre die gemeinschaftsrechtliche Einflussnahme illegitim. Interessant wird diese Kritik also, wenn sie am methodischen Vorgehen des Gerichts ansetzt: „Der Europäische Gerichtshof steht außerhalb der Traditionen der nationalen Gerichtsbarkeiten. Er hat sich von Anfang an als Motor der Integration verstanden und ist auch als solcher gefeiert worden. Seinem Verständnis entsprechen die Prinzipien, nach denen er seine Rechtsprechung ausübt. Es sind dies das Gebot praktischer Wirksamkeit, der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften und des effet utile. Diese Argumentationstopoi lassen sich auf die Formel bringen „Der Zweck heiligt die Mittel“ oder „Recht ist, was der Integration nützt“. ( . . . ) Die diesen Argumentationstopoi innenwohnende Dynamik muss notwendig zu Kompetenzübergriffen führen, Begründungsdefizite heraufbeschwören und die Frage nach dem Mandat zur Rechtsfortbildung zum permanenten Problem erheben. Dem Konzept der argumentativen Entscheidung der deutschen Verwaltungsrechtsprechung steht eine Praxis gegenüber, die in maßgeblichen Teilen von der Autorität, nicht von der Rationalität lebt.“12 Tatsächlich ist die Notwendigkeit zur Begründung von Gerichtsentscheidungen eine der wichtigsten Errungenschaften des Rechtsstaates. Richtig ist darüber hinaus auch, dass die Begründungskultur des EuGH in ihrem Niveau hinter dem zurückbleibt, was man von deutschen Gerichten fordert. Das hat zum einen mit seinen historischen Wurzeln in der stark positivistisch geprägten französischen Tradition zu tun. Der Obrigkeit, auch in Form der Justiz, wird dort weniger Misstrauen entgegengebracht, als es auf Grund der deutschen Geschichte naheliegt. Deswegen sind die institutionellen Vorkehrungen zur Mäßigung der richterlichen Gewalt geringer. Zu den historischen Besonderheiten tritt als weiterer Faktor die ungewöhnliche Rolle des EuGH. Er muss eine in vielen Bereichen offene Entwicklung einer Gemeinschaft im Werden begleiten und geht deswegen mit allen starken Festlegungen große Risiken ein. Aber trotz dieser besonderen Bedingungen ist es nötig, auf dem Konzept argumentativer Entscheidung zu bestehen.13 Denn die fraglose Autorität einer gewachsenen demokratischen Tradition kann die Gemeinschaft nicht voraussetzen. Sie muss sich diese vielmehr erst erarbeiten.14 Und gerade dabei kommt dem EuGH eine wichtige Rolle zu. schen Gerichtshofes, in: RIW 1992, S. 733 ff.; Hillgruber, Chr., Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH – Hat Europarecht Methode? in: Danwitz, T. v. u. a. (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 31 ff. 11 Salzwedel, J. / Reinhardt, H., Neuere Tendenzen im Wasserrecht, in: NVwZ 1991, S. 946 ff., 947. 12 Ossenbühl, F., 40 Jahre Bundesverwaltungsgericht, in: DVBl. 1993, S. 753 ff., 761 f. 13 Vgl. dazu Kirchhof, P., Recht sprechen, nicht Recht verschweigen. Öffentliches Abwägen und Begründen müssen im Zentrum der Rechtskultur bleiben, in: FAZ vom 18. 09. 1997, S. 11.

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1 Problemstellung: Ein Recht in vielen Sprachen

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Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass die Abgrenzung zwischen legitimen und illegitimen Formen richterlicher Rechtsfortbildung alles andere als klar und für jeden Juristen einsichtig ist. Zudem steht der EuGH vor neuartigen Problemen, welche die Grenzen des herkömmlichen methodischen Instrumentariums viel schneller sichtbar machen. Das erklärt die Reaktionen eines EuGH Richters auf die scharfe deutsche Kritik: „Derartige Äußerungen mögen teilweise auf fachblinder Fixierung auf einzelne Urteile des Gerichtshofs, auf einer germanozentrischen, auf Abwehr äußerer Einwirkungen gerichteten Sicht des deutschen Rechts, auf mangelhafter Kenntnis des Gemeinschaftsrechts und des Gerichtshofs oder schließlich auf einem überholten Verständnis des Nationalstaats in der modernen Welt beruhen.“15 Trotz der Schärfe wechselseitiger Polemik ist allerdings auch aus der Sicht des EuGH ein sachlicher Kern dieser Debatte nicht zu bestreiten: „Vielmehr müssen sich Gemeinschaft und Gerichtshof der Frage stellen, ob sie nicht selbst zu derartigen Reaktionen beitragen und worauf das beruht. Offenbar ist es dem Gerichtshof nicht durchweg gelungen, seine Urteile als das Ergebnis rationaler Rechtsgewinnung und als Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit im Rahmen der Gemeinschaftsziele darzustellen.“16

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Jedenfalls wirft die aktuelle Entwicklung des Gemeinschaftsrechts die Frage auf, wie weit die Kompetenzen des EuGH reichen. Lässt sich seinem methodischen Vorgehen tatsächlich keine Rationalität bescheinigen? Überschreitet er die dem richterlichen Handeln gezogenen Grenzen? Und was sind eigentlich die normativen Vorgaben, an denen die Arbeit des Gerichts gemessen werden kann? Die Diskussion dieser Fragestellungen erfolgt hier in vier Schritten: Ausgangspunkt ist im ersten Abschnitt der gegenwärtige Stand der Methodik des Gemeinschaftsrechts. Wenn man diesen erfassen will, muss man immanent ansetzen. Zunächst ist das Selbstverständnis der Handlungsträger zu klären, wie es sich etwa in der methodischen Literatur und in zentralen Leitentscheidungen artikuliert. Dann wird die tatsächliche Vorgehensweise des Gerichts beschrieben. Dabei zeigt sich ein Auseinanderfallen von Theorie und Praxis: Den Rechtserkenntnismodellen der Literatur steht die Rechtserzeugungspraxis des Gerichts weitgehend anschlusslos gegenüber. Aus dem Vergleich von Selbstbeschreibung und tatsächlicher Vorgehensweise des Gerichts ergibt sich im zweiten Abschnitt die Fragestellung des systematischen Teils. Wenn die Praxis komplexer ist als das Selbstverständnis, muss man versuchen, das praktische Können in theoretisches Wissen zu überführen. Dies geschieht als Entfaltung eines systematischen Modells, welches Rechtserkenntnis14 Vgl. dazu Gerstenberg, O., Genesis und Geltung. Verfassung und Demokratie ohne Nationalstaat, in: Dialektik 1998 / 3, S. 101 ff.; Derrida, J., Die vertagte Demokratie, in: ders., Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, 1992, S. 81 ff. 15 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der europäischen Gemeinschaften, in: Europarecht 1994, S. 127 ff., 129. 16 Ebd., S. 129.

1 Problemstellung: Ein Recht in vielen Sprachen

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rethorik durch Rechtserzeugungsreflexion ersetzt. Im dritten Teil werden die einzelnen Auslegungsinstrumente, ausgehend von den normativen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts, in ihrer prinzipiellen Leistung dargestellt und die Praxis des EuGH daran gemessen. Auf dieser Grundlage kann dann im letzten Teil die Frage gestellt werden, inwieweit die Praxis des EuGH den Vorgaben argumentativer Rationalität gerecht wird.

2 Zum gegenwärtigen Stand der Methodik des Gemeinschaftsrechts 8

Die Darstellung orientiert sich an den herkömmlichen juristischen Argumentformen. Als Canones der Auslegung werden sie nicht nur in der nationalstaatlichen Tradition, sondern auch vom EuGH verwendet.1 Ergänzend zu diesen anerkannten Formen juristischer Textarbeit wurden aber auch neue Instrumente entwickelt. Dazu zählt etwa die Einbeziehung sogenannter „Wirklichkeitselemente“ in die juristische Argumentation, aber auch die vor allem vom EuGH selbst geschaffene Form der rechtsvergleichenden und gemeinschaftskonformen Auslegung. Innerhalb der einzelnen Abschnitte wird zunächst die Position der methodischen Literatur dargestellt. Darin expliziert sich das theoretische Wissen über das, was die Gerichte praktisch können. Daran schließt sich die Darstellung der praktischen Textarbeit des Gerichts selbst an.

21 Wortlaut: Verstecken oder Verwerten von Mehrsprachigkeit 9

Um in der Wirklichkeit anzukommen, bedarf das Gemeinschaftsrecht einer gemeinsamen Sprache. Nur dann ist es praktikabel. Aber gleichzeitig muss es die Nationalsprachen respektieren. Nur dann ist es für seine Bürger verständlich. Die Sprache wird damit zum entscheidenden Punkt für die Wirkung des Gemeinschaftsrechts. Es muss seine eigene Sprache finden, ohne sich von der seiner Bürger abzukoppeln. Auch hier trifft man wieder auf den Gegensatz von Baum und Rhizom. Eine gemeinsame Sprache kann in der hierarchischen Logik des Baumes als Kunstsprache von oben den Nationalsprachen übergestülpt werden. Aber die von Legaldefinitionen geschlagenen Schneisen werden von der praktischen Kreativität des Sprechens schnell wieder geschlossen. Deswegen ist es vielleicht realistischer, Trampelpfaden zu folgen. Die wirkliche Sprache ist ein Phänomen der dritten Art und entsteht als unbeabsichtigte Nebenfolge aus konkreten Verständigungs1 Damit ist nicht gesagt, dass es eine gemeineuropäische Methodenlehre im Sinn einer Konvergenz nationaler Methodenlehren gebe. Zu dieser Position vgl. Vogenauer, S., Eine gemeineuropäische Methodenlehre des Rechts – Plädoyer und Programm, in: ZEuP 2005, S. 234 ff. und zur Kritik: Riesenhuber, K., Europäische Methodenlehre – Begriff, Inhalte und Bedeutung, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 1 ff., 4. Im hier vorliegenden Band wird die spezifische Methodik des Gemeinschaftsrechts ausgearbeitet, welche zwar mit der allgemeinen Methodik des Rechts viele Überschneidungsbereiche hat; sie hat aber auch zahlreiche Besonderheiten, die sich daraus ergeben, dass eine eigenständige Gerichtsbarkeit mit sehr spezifischen Rechtsproblemen existiert.

211 Strategien, um der Mehrsprachigkeit zu entkommen

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operationen. Ein solcher Trampelpfad könnte die von den Gerichten aus dem Konflikt gegenläufiger Rechtskonzeptionen entwickelte autonome oder gemeinschaftsbezogene Bedeutung von Begriffen sein. Dieser Pfad könnte in einen offenen Prozess der Schaffung einer Sprache des europäischen Rechts einmünden; einer Sprache, die nicht künstlich hergestellt oder erfunden werden kann, sondern die Nebenfolge einer Interaktion unterschiedlicher Rechtskulturen in konkreten Konfliktfällen wäre. 211 Strategien, um der Mehrsprachigkeit zu entkommen

Die klassische Lehre begreift die Sprache als Grundlage für die Ableitung juristischer Entscheidungen. In der richtigen Bedeutung des Gesetzes ist die Entscheidung des Falles vorgegeben. Bedeutung wird damit zum Gegenstand der Erkenntnis. Sie ist objektiv und, was für Juristen entscheidend ist, sie ist normativ. Dementsprechend ist es Ziel der grammatischen Auslegung, diese richtige Bedeutung aufzufinden. Mehrsprachigkeit muss aus dieser Sicht als Gefährdung der Sicherheit des einen Rechts erscheinen. Es gilt, die sprachliche Vervielfältigung schnell zu Gunsten der einzig richtigen Bedeutung zu überwinden.

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Wie kann man in der Situation von Mehrsprachigkeit2 entscheiden, ohne entweder die Vorgaben des Art. 314 EG oder die der Rechtssicherheit zu opfern? Eine Art und Weise dies zu tun, wird von Art. 314 EG jedenfalls ausgeschlossen: Nämlich die, dass eine Sprache bei Divergenzen den Ausschlag gibt.3 Selbst beim EGKS-Vertrag, der ja im Unterschied zu den anderen Verträgen das Französische als Originalsprache zugrunde legt, hat der EuGH diese Regel nicht angenommen.4 Vielmehr hat sich das Gericht auf das Prinzip der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsordnung und den Grundsatz der größtmöglichen Gleichbehandlung der Amtssprachen bezogen.5 Der Grundsatz des Vorrangs der Landessprache ist schon bei völkerrechtlichen Verträgen unanwendbar, weil sonst übereinstimmende Erklärungen gar nicht zustande kommen könnten.6 Erst recht kann dieser Grundsatz für das Gemeinschaftsrecht keine Anwendung finden. Höchstens bei einer einzelfall2 Zu den verschiedenen Facetten der Sprachenregulierung der EU vgl. Schübel-Pfister, I., Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 48 ff. 3 Smit, H. / Herzog, P., The law of the European Communities, 1993, Art. 248, Rn. 5. 4 Vgl. dazu die Auslegung des Begriffs „privilèges“, in: EuGH, Slg. 1960, S. 1163 ff., 1169 (Humblet), oder für Art. 65 EGKS „tendre à“: EuGH, Slg. 1962, S. 401 ff., 430 (Worms / Hohe Behörde). 5 Insoweit war das damalige Vorgehen des Gerichts richtungsweisend für die spätere Auslegung von EG und EU. Vgl. dazu Dickschat, S. A., Problèmes d’interprétation des traités européen résultant de leur plurilinguisme, in: Revue belge de droit international 1968, S. 40 ff., 55. 6 Vgl. Schweitzer, M., in: Grabitz, E. / Hilf, M., Kommentar zur Europäischen Union, Lose-Blatt-Sammlung, Stand: 7. Ergänzungslieferung, 1994, Art. 248, Rn. 7, der insoweit auf die Regelung in Art. 33 IV WVK verweist.

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2 Stand der Methodik – 21 Mehrsprachigkeit

bezogenen Regelung, wie der Handlungsform der Entscheidung, wäre dies ausnahmsweise denkbar. Dann müsste diese Entscheidung in der Landessprache abgefasst sein und es müssten spezielle Umstände für den Vertrauensschutz beim Adressaten vorliegen. Nur unter diesen ganz engen Voraussetzungen wäre es denkbar, dass Art. 314 EG nicht eingreift, weil er entweder mangels Bezug zum Gleichheitsproblem gar nicht berührt ist, oder weil er vom entgegenstehenden Rechtsstaatsprinzip punktuell eingeschränkt wird. Außerhalb dieses speziellen Falls ist ein Vorrang für die jeweilige Landessprache undenkbar. Zwar wird in der Praxis etwa der Richter eines nationalen Gerichts von der Fassung in seiner Landessprache ausgehen. Aber aus der Gleichwertigkeitsentscheidung des Art. 314 EG ergibt sich, dass, sobald auf der grammatischen Ebene die Bedeutung streitig wird, schon der nationale Richter die Beschränkung der Auslegung auf seine Landessprache aufgeben muss: „The Court has often stressed, also this is actually self-evident, that the need for a uniform interpretation and application of community law in all member states precludes the examination of a provision in one of its versions in isolation and that this requirement makes it necessary to interpret it in the light of the other versions if there is any doubt as to its meaning“.7 Art. 314 EG zwingt also den Richter, die scheinbare Gewissheit der eigenen Sprache zu verlassen. Er muss in den unsicheren Raum zwischen verschiedenen Sprachen übersetzen. Wie soll er zur Sicherheit des einen Rechts zurückfinden?

211.1 Die Auswahl der richtigen Bedeutung 12

In der Literatur werden Strategien vorgeschlagen, um ohne evidenten Verstoß gegen Art. 314 EG mit dem Problem der Mehrsprachigkeit fertig zu werden. Entsprechend den einfachen Vorstellungen der von der herkömmlichen Lehre als Standesideologie gepflegten Sprachtheorie gibt es im Regelfall zu einem Begriff genau eine Bedeutung. Die angeblich wenigen Ausnahmen unzuverlässiger Begriffe können katalogisiert und damit vernachlässigt werden. Die Gesamtheit dieser Begriffe bildet das Lexikon einer homogenen Nationalsprache. Unterschiede in den Ausprägungen bei einzelnen Sprechern sind aus Sozialisations„defiziten“ erschöpfend erklärt. Aus dieser Sicht gibt es bei Sprachdivergenzen ein durch die Höchstzahl der Mitgliedstaaten begrenztes Tableau von Bedeutungsvarianten: „Vergleicht man die verschiedenen Sprachfassungen einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts miteinander, so wird man regelmäßig feststellen, dass eine größere Zahl von Fassungen das Gleiche zu besagen scheint, während eine kleinere Zahl hingegen – untereinander übereinstimmend oder nicht – eine abweichende Deutung nahe legt oder nicht eindeutig formuliert ist.“8 Unter diesen Varianten muss eine Auswahl getrof7 Kutscher, H., Methods of interpretation as seen by a judge at the court of justice, in: Court of Justice of the European Communities Judicial and Academic Conference 27 / 28. Sept. 1976, S. 1 ff., 19.

211 Strategien, um der Mehrsprachigkeit zu entkommen

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fen werden. Die von der Literatur vorgeschlagenen Theorien unterscheiden sich dann danach, welches Kriterium die Auswahl steuert. Als Auswahlkriterium kommt zunächst in Betracht, die Bedeutungsvariante zugrunde zu legen, welche sich mehrheitlich aus den verschiedenen Sprachfassungen ergibt. Es könnte für diese Regel sprechen, wenn der EuGH in einem Urteil von 1987 ausführt, dass „eine vergleichende Untersuchung der verschiedenen sprachlichen Fassungen des Art. 8 a Abs. 2 der Verordnung Nr. 2377 / 80 der Kommission und des Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1182 / 71 des Rates zeigt, daß die meisten Fassungen dieser beiden Vorschriften einen einzigen Begriff verwenden ( . . . )“.9 In einem weiteren Urteil hat der EuGH entschieden, dass es dahingestellt bleiben kann,“ob der italienische Ausdruck ( . . . ) die Tierärzte einschließen kann, denn alle sprachlichen Fassungen ( . . . ) des Art. 13 mit Ausnahme der italienischen und der englischen beschränken die Befreiung von Heilbehandlungen ( . . . ); dadurch wird die Behandlung von Tieren aus dem Anwendungsbereich ausgeschlossen.“10

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Auch bei der Auslegung technischer Fachbegriffe spielt die grammatische Konkretisierung in der Rechtsprechung des EuGH eine sehr große Rolle.11 Tatsächlich gibt es auch hier eine größere Anzahl von Entscheidungen, wo die grammatische Konkretisierung klar im Vordergrund des knappen Begründungstextes steht und die anderen Elemente entweder gar nicht oder nur kurz erwähnt werden.12 Man hat in der Literatur deswegen dem EuGH vorgeworfen, sich auf eine bloß formale Wortlautinterpretation zu beschränken.13 Eine genaue Analyse der betreffenden Entscheidungen zeigt aber, dass dieser Vorwurf zu kurz greift. In der Entscheidung Röser argumentiert der EuGH zunächst, dass die deutsche Fassung im Unterschied zu denen der überwiegenden Anzahl der anderen Nationalsprachen nicht eindeutig sei. Entscheidende Überlegung ist dann aber nicht die überwiegende Zahl der anderen Varianten, sondern der Zweck der Vorschrift im Zusammenhang der Marktorganisation für Wein, welcher eine strenge Regelung nötig mache.14 Man kann deshalb folgender Einschätzung zustimmen: „Ein intensives Studium der Urteile verdeutlicht vielmehr, dass der Gerichtshof die sprachlichen Mehrheitsverhältnisse nur als Ansatzpunkt begriffen und deren Ergebnisse anhand übriger Auslegungs-

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8 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 153 unter Bezug auf Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil l, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-20. 9 EuGH, Slg. 1987, S. 3845 ff., 3871 (Moskel). 10 EuGH, Slg. 1988, S. 2685 ff., 2696 (Kommission / Italien). 11 Vgl. dazu Tiedemann, P., Restriktive Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH zum Marktordnungsrecht, in: EuR 1979, S. 393 ff. 12 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1976, S. 241 ff., 253 (Carstens Keramik); EuGH, Slg. 1982, S. 1917 ff., 1930 (Kaders); EuGH, Slg. 1980, S. 3029 ff., 3038 (Mecke); EuGH, Slg. 1986, S. 795 ff., 807 (Röser). 13 Tiedemann, P., Restriktive Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH zum Marktordnungsrecht, in: EuR 1979, S. 393 ff., 400 f. 14 EuGH, Slg. 1986, S. 795 ff., 807 (Röser).

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2 Stand der Methodik – 21 Mehrsprachigkeit

methoden belegt und gestützt hat.“15 Die Mehrheitsregel hat der EuGH für die Lösung von Bedeutungsdivergenzen nie übernommen. 15

Als Instrument für eine Auswahl aus einem vorgegebenen Bedeutungstableau wird auch über den Vorrang der den einzelnen Bürger am wenigsten belastenden Variante diskutiert.16 Anknüpfungspunkt ist dabei eine Entscheidung des EuGH,17 worin es um die Abgabe verbilligter Butter an Sozialhilfeempfänger ging. Während die deutsche und niederländische Fassung einen auf den Namen ausgestellten Gutschein verlangten, ließen andere auch Individualisierungen in sonstiger Weise zu. Eine genaue Analyse kann aber die Anwendung dieser Regel nicht nachweisen: „Dabei wird allerdings deutlich, dass der EuGH hier nicht nur auf dem Boden der grammatischen Methode argumentiert, sondern auch teleologische Aspekte einfließen lässt. Das Urteil ist aus diesem Grund eher ein Beleg dafür, dass sich sprachliche Divergenzen zwischen den Textfassungen allein durch Anwendung der grammatischen Methode nicht auflösen lassen.“18 Zwar kann man hier über Einzelheiten streiten. Aber es dürfte sich der Vorzug einer weniger belastenden Regelung wohl aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 7 und dem Subsidaritätsprinzip des Art. 5 EG ableiten lassen. Es wird daher im Ergebnis nicht eine abstrakte Regel über die Bedeutungsauswahl angewendet, sondern entsprechend den Regeln der juristischen Kunst systematisch interpretiert.

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Häufig wird auch erwogen, vom Vorrang der klarsten Fassung auszugehen. Meist wird dabei der Grundsatz „in claris non fit interpretatio“ herangezogen.19 In der Literatur wird teilweise angenommen, dass der EuGH in seinen Entscheidungen der Klarheitsregel folgt.20 Tatsächlich gibt es vor allem in früheren Urteilen des EuGH immer wieder Wendungen, die diese Verständnisweise stützen könnten: „Aus dem Wortlaut der Bestimmung läßt sich wegen der zwischen den verschiede15 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998. 16 Vgl. dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 185 f. 17 EuGH, Slg. 1969, S. 419 ff. (Stauder). 18 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 159. 19 Vgl. Weber, A. in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, 1991 / 1997, Art. 248, Rn. 12. 20 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil l, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-21, mit Beispielen aus der Judikatur bis 1975; Daig, H.-W., Die Gerichtsbarkeit in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft, in: AöR 83 (1958), S. 132 ff., 157. Vgl. zu diesem Problem weiterhin: Bebr, G., The Rambling Ghost of „Cohn-Bendit“: Acte Clair and the Court of justice, in: Common Market Law Review 20 (1983), S. 439 ff.; Mancini, G. S. / Feeling, D. T., From CILFIT to ERT: the Constitutional Dhallenge facing the European Court, in: Yearbook of European Law 11 (1991), S. 1 ff.; Rasmussen, H., The European Court’s Acte Clair Strategy in C. I. L. F. I. T. OR: Acte Clair, of Course! But What does it Mean?, in: European Law Review 10 (1984), S. 242 ff.

211 Strategien, um der Mehrsprachigkeit zu entkommen

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nen sprachlichen Fassungen bestehenden Abweichungen keine klare und einheitliche Auslegung in der streitigen Frage gewinnen. Daher ist bei der Auslegung von der Zielsetzung und vom Gesamtsystem der Durchführungsbestimmung ( . . . ) auszugehen.“21 Selbst noch in jüngerer Zeit finden sich beim EuGH Formulierungen wonach er feststellt, dass die grammatische Konkretisierung zu keinem „eindeutigen Hinweis“ führt, um anschließend zu argumentieren: „Ist eine Bestimmung mehrdeutig, so muß sie nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.“22 Diese Formulierung legt den Umkehrschluss nahe, dass bei Klarheit der Regelung eine solche Auslegung ausgeschlossen wäre. Zunächst ist aber schon unklar, wie dieser Grundsatz verstanden werden soll. Im pragmatischen Sinn könnte man ihn als Ratschlag verstehen, wenn Klarheit herrscht, diese nicht mit Interpretationen zu stören. Diese Regel wäre sinnvoll. Denn man braucht Juristen zur Konfliktentscheidung und nicht zur Erzeugung von Konflikten. Auch beim EuGH kann man die pragmatische Vorgehensweise erkennen, den Wortlaut nur dort zu thematisieren, wo im Verfahren wirklich darum gestritten wurde. Die methodische Literatur versucht aber, diese pragmatische Regel in einem starken semantischen Sinn zu verstehen. Sie sei so aufzufassen, dass es Normtexte gebe, die so klar seien, dass sie nicht mehr interpretiert werden könnten.

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Semantische Behauptungen müssen aber einlösbar sein. Der Begriff „Klarheit“ ist zunächst kein Stichwort der Linguistik.23 Allerdings wurde einer seiner Gegenbegriffe von der sogenannten Philosophie der idealen Sprache24 verwendet. Es ist dies der Begriff der Vagheit. Bis in den Anfang der 70er Jahre hinein wurde er auch in der Linguistik manchmal erwähnt oder diskutiert.25 Aber selbst Max Black, der mit seinem Essay „Vagueness“26 diesen Ausdruck prominent machte, betonte von Anfang an, dass Vagheit nicht eine Eigenschaft bestimmter Worte oder Texte ist. Sie ist vielmehr ein unvermeidliches Merkmal jeder natürlichen, das heißt nicht künstlichen, etwa für die Zwecke der Logik konstruierten Sprache.27 Nur weil Sprache nicht klar und eindeutig ist, kann sie überhaupt auf ständig neu

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EuGH, Slg. 1974, S. 1287 ff., 1293 (Moulijn). Vgl. dazu EuGH, Slg. 1992, S. 2333 ff., 2350 f. (Hamlin Elektronics GmbH). Außerdem wären hier als weitere Urteile aus früherer Zeit zu berücksichtigen EuGH, Slg. 1964, S. 130 ff., 147 (Lepape); EuGH, Slg. 1965, S. 295 ff., 312 (Sgarlata). 23 Vgl. etwa Lewandowski, T., Linguistisches Wörterbuch, 1979, der dieses Stichwort nicht aufweist. Vergleichbare Probleme werden unter dem Stichwort „vager Begriff“ und „Philosophie der idealen Sprache“ behandelt. 24 Vgl. zu diesem Stichwort Lewandowski, T., Linguistisches Wörterbuch, 1979, S. 707 ff. 25 Vgl. dazu etwa Ullmann, S., Semantik, 1973 und Egli, U., Ansätze zur Integration der Semantik in die Grammatik, 1974, S. 35 f. 26 Vgl. Black, M., Vagueness, in: Language and philosophy, 1949. 27 Vgl. dazu Black, M., ebd., sowie ders., Critical thinking, 1952, Kap. „Ambiguity“, sowie Schaff, A., Einführung in die Semantik, 1969, S. 282. 21 22

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2 Stand der Methodik – 21 Mehrsprachigkeit

entstehende Situationen Anwendung finden. Einzig in einer bestimmten Lage kann Sprache für einige Beteiligte hinreichend deutlich sein. Daher ist es nicht sinnvoll, „klare“ Äußerungen oder Texte den „vagen“ entgegenzusetzen. Jeder Text kann prinzipiell interpretiert werden, eine situationsunabhängige Klarheit ist nicht denkbar. Daraus folgt dann aber auch, dass man nicht nach mehr oder weniger Klarheit unterscheiden kann. Auch mehr oder weniger „klar“ sind Texte nicht für sich allein, sondern nur in einer Situation für bestimmte Beteiligte. Und natürlich ist es für diese Beteiligten auch immer ihre eigene Lesart, die ihnen als die klarste gilt. Tatsächlich erscheinen in der Alltagskommunikation die Bedeutungen oft als klar; aber nur deswegen, weil eine Überprüfung dieser Unterstellung entweder nicht erfolgt oder von den Beteiligten auf später verschoben wird. Die Problemlosigkeit der Alltagskommunikation ist aber gerade nicht die Situation, über die Juristen entscheiden müssen. Wenn Juristen angerufen werden, ist Bedeutung schon streitig. Der Text, mit der ihre Arbeit begonnen hat, weist gleichzeitig „zuviel an Klarheit“, nämlich mehrere sich gegenseitig ausschließende Lesarten auf, und „zu wenig an Klarheit“. Denn die Sprache liefert keinen Maßstab für die Entscheidung zwischen den jeweils für sich klaren Lesearten. Semantisch interpretiert, ist die Klahrheitsregel also keine sinnvolle Strategie.28 Wenn der EuGH dieser Regel folgen würde, so wäre dies nur eine sprachliche Fassade für Dezisionismus. 19

Tatsächlich ist die Unterstellung von Teilen der Literatur, dass der EuGH einer semantischen Klarheitsregel folge, auch nicht haltbar. Es gibt viele gegenteilige Äußerungen des Gerichtshofs, wo er sich schon früh gegen eine rein grammatische Auslegung wendet: „Es bleibt zu prüfen, ob dieses aus dem Wortlaut des Gesetzes sowie aus der Ratio legis gewonnene Ergebnis nicht zu anderen Zielen des Vertrages im Widerspruch steht, oder ob es nicht durch andere Erwägungen entkräftet werden kann.“29 Auch sonst hält es der Gerichtshof für angebracht, vor „einer ins einzelne gehenden Auslegung von Art. 60 Nr. 2 des Vertrages die Ziele zu prüfen, von denen sich die Hohe Behörde leiten lassen muß.“30 Der EuGH hat immer wieder formuliert, dass man sich „nicht mit einer wörtlichen Auslegung begnügen“31 könne. In seiner jüngeren Judikatur macht das Gericht deutlich, dass immer dann vom „eindeutigen Wortlaut“ abgewichen werden könne, wenn „andere zwingende Gesichtspunkte für eine weite, über den Wortlaut der Bestimmung hinausgehende Auslegung“32 vorliegen. In einer weiteren Entscheidung von 1988 kehrt der EuGH die Regel „in claris non fit interpretatio“ geradezu um, wenn er formuliert, es kön28 Vgl. als Beispiel für grammatische Mehrdeutigkeit und semantische Eindeutigkeit ARES (Arbeitskreis Recht und Sprache), Zu wenig und zu viel Bedeutung, in: LeGes 2002 / 2, S. 133 ff., 143 f. 29 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1954 / 55, S. 7 ff., 31 (Frankreich / Hohe Behörde). 30 EuGH, Slg. 1954 / 55, S. 81 ff., 97 (Italien / Hohe Behörde). 31 Vgl. EuGH, Slg. 1960, S. 1163 ff., 1194 (Humblet). 32 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1985, S. 2655 ff., 2667 (Kommission / Deutschland).

211 Strategien, um der Mehrsprachigkeit zu entkommen

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ne der Begriff „Rindfleisch“ in einer Verordnung ausschließlich „unter Berücksichtigung seines gewöhnlichen Sinns“ interpretiert werden, weil aus dem entsprechenden Normtext „keine gegenteilige Absicht klar erkennbar wird.“33 Insgesamt ist die grammatische Auslegung für den EuGH ein wichtiges Instrument, aber kein Universalschlüssel für alle Auslegungsprobleme: „Wie der Gerichtshof jedoch in seiner Rechtsprechung betont hat, ist bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.“34 Der EuGH hat im Ergebnis zu Recht den Satz „in claris non fit interpretatio“ als semantische Regel nicht anerkannt.35 Ebenso hat er der vermeintlich „klareren“ Fassung bei Auslegungsdivergenzen keinen Vorrang eingeräumt. Dies wurde beim Begriff der „öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ deutlich, der sowohl im Primärals auch im Sekundärrecht vorkommt.36 Dabei lässt der EuGH die engere oder genauere Fassung bei Bedeutungsdivergenzen trotzdem zurücktreten, wenn sie der teleologischen Auslegung widerspricht.37 Es wird aus diesen Entscheidungen ersichtlich, dass der EuGH einen Vorrang der engeren oder präziseren Bedeutungsvariante nicht anerkennt. Dieses Vorgehen ist angemessen. Nicht nur aus den schon im Völkerrecht anerkannten Gründen, dass mit der Vorrang-Regel für vermeintliche Präzision eine eventuell beabsichtigte Mehrdeutigkeit unterlaufen würde;38 sondern vor allem deswegen, weil mit dieser Regel die Entscheidung des Art. 314 EG für die Gleichwertigkeit der Sprachen verletzt wäre.

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Bedeutet nun die Ablehnung der Klarheitsregel, dass der EuGH über die Semantik des Textes hinausgehen will? Tatsächlich wird dies in der methodischen Litera-

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EuGH, Slg. 1988, S. 169 ff., 205 (Dänemark / Kommission). EuGH, Slg. 1983, S. 3781 ff., 3792 (Merck). Als weitere Entscheidung könnte man hier nennen EuGH, Slg. 1979, S. 1449 ff., 1459 (Kommission / Vereinigtes Königreich): „Wenn auch der Wortlaut des Art. 60 Absatz 2 – für sich allein betrachtet – die Auslegung der Regierung des Vereinigten Königreichs vielleicht rechtfertigt, so ist diese Auslegung doch mit Rücksicht auf Sinn und Zweck der Beitrittsakte sowie deren Zusammenhang mit den Bestimmungen des EWG-Vertrages nicht haltbar. Außerdem würde sie zu unannehmbaren Folgen bezüglich der Gleichheit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf bestimmte grundlegende Regeln für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes führen.“ 35 Zuleeg, M., Die Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: EuR 1969, S. 97 ff., 100. Vgl. dazu auch Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 61 sowie Bisdom, W., Auslegungsgrundsätze des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: 10 Jahre Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Kölner Schriften zum Europarecht, Band 1, 1965, S. 188 ff.; Wilmars, J. M. d., Reflexions sur les methodes d’interpretation de la Cour de Justice des Communautes europeennes, in: CDE 1986, S. 10. 36 Vgl. EuGH, Slg. 1977, S. 1999 ff., 2010 (Bouchereau). 37 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1977, S. 2485 ff., 2491 (Auditeur du Travail); EuGH, Slg. 1979, S. 1837 ff., 1844 (IMCO); EuGH, Slg. 1965, S. 1152 ff., 1168 (Schwarze). 38 Vgl. dazu Dölle, H., Zur Problematik mehrsprachiger Gesetzes- und Vertragstexte, in: RabelsZ 26 (1961), S. 4 ff., 35; Hilf, M., Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973, S. 95. 33 34

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2 Stand der Methodik – 21 Mehrsprachigkeit

tur zum Teil so interpretiert: „Eine vom semantischen Sinngehalt abweichende Auslegung rechtlicher Anordnungen ist dennoch geboten, wenn andere Auslegungsmethoden einen damit nicht in Einklang zu bringenden Willen eines Rechtsetzers überzeugender dokumentieren.“39 Diese Einschätzung beruht aber auf der verkürzten Sprachtheorie der Juristen. Die grammatische Auslegung kann nicht mit der Bedeutung eines Normtextes gleich gesetzt werden. Die Bedeutung eines Normtextes ergibt sich erst nach umfassender Heranziehung aller Konkretisierungselemente und nicht schon bei der isolierten Anwendung des grammatischen. Deswegen geht es hier nicht darum, die Semantik des Textes zu überschreiten, sondern darum, die Semantik des Textes überhaupt erst sinnvoll zu diskutieren. Die Ablehnung der Klarheitsregel zeigt aber, dass der EuGH zu Recht Bedeutungsfragen pragmatisch angehen will.

211.2 Die Regel des gemeinsamen Nenners 22

Als weitere Regel zur Lösung von Bedeutungsdivergenzen wird erwogen, das gemeinsame Minimum der Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen zugrunde zu legen. Eine bestimmte Vorgehensweise des EuGH bei Auslegungsproblemen scheint zunächst in diese Richtung zu deuten. Es handelt sich um die Regel des gemeinsamen Nenners. Danach hat die Auslegung Vorrang, die sich auf die gleichen Bedeutungsvarianten der verschiedensprachigen Wortlaute stützen lässt. Enthält der Wortlaut einer Fassung die Bedeutungsvarianten a und b und eine andere Fassung die Bedeutungsvarianten b und c usw., so ist die gemeinsame Bedeutungsvariante b vorzuziehen. Der Vorteil dieser Regel besteht darin, dass jede nationale Variante in der gemeinsamen Bedeutung berücksichtigt wird. Der Gerichtshof hat diese Regel niemals ausdrücklich formuliert. Immerhin gibt es dazu ein Urteil aus dem Jahr 1981.40 Hier wird eine im Deutschen sehr weite Wendung im Licht der anderssprachigen Wortlaute auf ein gemeinsames Minimum hin ausgelegt. In der Literatur wird aber immer wieder hervorgehoben, dass dieses Urteil ein Einzelfall geblieben ist.41 Trotzdem wird die Regel vom gemeinsamen Nenner als Lösung für das Problem der Bedeutungsdivergenzen immer wieder vertreten. Sie wird häufig damit begründet, dass die Texte nur sprachlich ein je besonderes Dasein aufwiesen. Weil aber die Parteien einen einheitlichen identischen Sinn wollten, könne der scheinbar Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 69. EuGH, Slg. 1982, S. 3239 ff., 3248 (International Flavors and Fragances). 41 Vgl. Weber, A. in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, 1991 / 1997, Art. 248 Rn. 14; Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil l, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-20; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 157. 39 40

211 Strategien, um der Mehrsprachigkeit zu entkommen

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mehrfach zum Ausdruck gekommene Wille nur ein einheitlicher sein.42 Aus dieser sogenannten Einheitsregel folgt aber noch nicht das semantische Postulat einer gemeinsamen Bedeutung als Schnittmenge verschiedener Sprachen. Die meisten Vertreter der Literatur sind im Hinblick auf die explizite Formulierung einer solchen Regel dann auch sehr vorsichtig. Die praktischen Erfahrungen im Völkerrecht sprechen dagegen. Meist wird die semantische Unterstellung als bloße Vermutung formuliert: „Da nur ein einziger Vertrag – wenn auch in verschiedenen sprachlichen Fassungen – vorliegt, wird vermutet, daß die Ausdrücke des Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben.“43 Tatsächlich übernimmt der EuGH die Regel vom gemeinsamen Nenner keineswegs. Demnach müsste er ja nach einem gemeinsamen Minimalgehalt suchen. Das tut das Gericht aber nicht. Dies wird auch in der Methodenliteratur zur Arbeit des EuGH klar gesehen: „Verwenden die Verträge in den verschiedenen offiziellen Fassungen unterschiedliche Begriffe, ist nicht nach dem gemeinsamen Minimum der Vertragsbedeutung zu suchen; die Möglichkeit der Vertragsauslegung erstreckt sich vielmehr, da der Vertragswille auf alle offiziellen Fassungen gerichtet ist, auf den ganzen Inhalt der Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen.“44 Das Gemeinsame-Nenner-Verfahren hilft bei einer echten Bedeutungskonfrontation nicht weiter. Wenn der EuGH eine solche Bedeutungsdivergenz festgestellt hat, schlägt er einen anderen Weg ein. Er trifft die Entscheidung mit Hilfe weiterer Konkretisierungselemente. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Bedeutungsvariante auch in den anderssprachigen Wortlauten möglich ist. Entscheidend sind vielmehr Zweck und Systematik der Regelung.

211.3 Die Unterschätzung des Wortlautarguments durch die Literatur Die Leistung des Wortlauts wird von der europarechtlichen Literatur fast durchgängig unterschätzt:45 „Die Eigentümlichkeiten des Gemeinschaftsrechts bedingen 42 Dölle, H., Zur Problematik mehrsprachiger Gesetzes- und Vertragstexte, in: RabelsZ 26 (1961), S. 4 ff.,27. Zur Formulierung der sogenannten Einheitsregel vgl. auch Mössner, J. M., Die Auslegung mehrsprachiger Staatsverträge, in: Archiv des Völkerrechts, 15 / 3, S. 272 ff., 282 f.: Trotz sprachlicher Vielheit handle es sich um ein in sich homogenes Abkommen. Genauer wäre es, statt von verschiedenen Texten von verschiedenen Sprachfassungen zu sprechen. Aus der Einheit des Textes folge die Einheit des Sinnes. Dies bedeutet für die Auslegung, dass der Vertrag im Lichte aller seiner Sprachen auszulegen ist und keine Fassung isoliert betrachtet werden dürfe. Die Ermittlung dieses einheitlichen Sinnes aus der Mehrheit des sprachlichen Ausdrucks sei die Aufgabe der Auslegung. In diesem Punkt bestehe kein prinzipieller Unterschied zwischen der Interpretation einsprachiger und mehrsprachiger Verträge, da die Auslegung stets die Erhellung des richtigen Sinnes sprachlicher Texte betreffe. 43 Geiger, R., EG-Vertrag. Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1993, Art. 248, Rn 4. 44 Bleckmann, A., Europarecht: Das Recht der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften, 1997, § 8, Rn. 541.

3 Müller / Christensen

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allerdings nicht unbeträchtlich Abweichungen hinsichtlich der Bedeutung und Gewichtung der unterschiedlichen Interpretationsmittel. So kommt dem Wortlautargument wegen der Existenz und prinzipiellen Gleichrangigkeit der verschiedenen Sprachfassungen der auszulegenden Normen eine vergleichsweise eingeschränkte Bedeutung zu.“46 Häufig wird auch gesagt, dass der Gerichtshof mit einer Aussage über den Wortlaut lediglich beginne, diesen Einstieg jedoch schnell hinter sich lasse. Sein Ergebnis finde er dann mit Hilfe anderer Methoden.47 Eine empirische Analyse der EuGH-Rechtsprechung48 zeigt jedoch, dass dies nicht zutrifft. Der EuGH verwendet das Wortlautargument nicht nur sehr häufig, sondern vor allem verwendet er es nicht als bloßen Einstieg. Der Wortlaut steht vielmehr nach Ausschöpfung aller anderen Canones als Argumentationsziel auch wieder am Ende. Eine Inhaltsanalyse der EuGH-Begründungen des Jahrgangs 1999 kommt bezüglich der Einschätzung des Stellenwerts grammatischer Auslegung zu folgendem Ergebnis: „In der Literatur wird überwiegend vertreten, dass der EuGH der grammatischen Auslegungsmethode nur geringe Bedeutung beimesse. Diese Annahme findet sich nach dem Ergebnis der vorliegenden Untersuchung indes nicht bestätigt. So enthalten von den 259 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 nur 75 keine grammatikalische Auslegung, d. h. in 70% der Entscheidungen des Jahrgangs 1999 argumentiert der EuGH mit der grammatikalischen Methode. In der Regel argumentiert der EuGH in einer Entscheidung ein- oder zweimal mit der grammatikalischen Methode. Daneben gibt es jedoch auch Entscheidungen mit drei bis fünf, seltener Entscheidungen mit mehr als fünf grammatikalischen Argumenten. ( . . . ) Die grammatikalische Auslegung ist, bezogen auf alle Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999, unter den ,klassischen‘ Auslegungscanones die häufigste Argumentationsform. Sie wird 569-mal und damit etwa doppelt so häufig verwendet, wie die zweithäufigste Argumentationsform, die teleologische Auslegung, die 234-mal herangezogen wird, und mehr als fünfmal so häufig, wie die systematische und die genetische Auslegung, auf die sich der EuGH 105-, bzw. 114-mal beruft. Historisch argumentiert der EuGH in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 ohnehin nur 20-mal.“49 24

Die eklatante Fehleinschätzung der grammatischen Interpretation erklärt sich aus der eigenartigen juristischen Sprachtheorie: „Bei – vorhandenen – Divergenzen des Wortlauts ist zunächst zu versuchen, die richtige Bedeutung im Sinne einer 45 Vgl. dazu die Darstellung bei Hofmann, Ch., Diskussionsbericht, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 61 ff. So auch Pechstein, M. / Drechsler, C., Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 91 ff., 106. 46 Wegener, B., Art. 220, in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Rn. 11. 47 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 176. 48 Vgl. dazu die grundlegende Untersuchung von Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript. 49 Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript.

211 Strategien, um der Mehrsprachigkeit zu entkommen

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wörtlichen, sprachvergleichenden Interpretation durch einen Vergleich der Sprachfassungen zu eruieren ( . . . ). Ist diese semantische Interpretation nicht zielführend, so ist der Auslegung Ziel und Zweck des Vertrags zugrunde zu legen, wobei vom Prinzip ,in dubio pro communitate‘ auszugehen ist“.50 Die grammatische Auslegung soll demnach zur „richtigen“ Bedeutung führen. Aber den sprachlichen Anforderungen ist schon Genüge getan, wenn die fragliche Äußerung verständlich ist. Ob eine Bedeutung „richtig“ ist, bedarf erst einer normativen Bewertung. Diese kann nicht das Wortlautargument liefern. Sie kann nur im Weg einer detaillierten sprachlichen Analyse aus den Anschlusszwängen eines bestimmten Sprachspiels begründet werden. Diese gegebenenfalls schwierigen Begründungslasten tauchen aber erst gar nicht auf, wenn man auf die alte Art die Frage nach der richtigen Bedeutung schlicht als Problem der grammatischen Auslegung behandelt. So zeigt sich die sprachtheoretische Prämisse, es gehe bei der grammatischen Auslegung um die richtige Bedeutung, als der zentrale Zug der klassischen Lehre. An die Stelle einer sprachlichen Untersuchung tritt die Sprache als Legitimationsinstanz. Daran sieht man deutlich, dass Rechtstheorie und juristische Methodik durchaus kein Glasperlenspiel sind, sondern ihren Ort mitten in der dogmatischen Praxis haben. Ohne Reflexion betreibt man nicht etwa Praxis, sondern man wendet blind eine überholte Theorie an. Das gilt gerade auch für die juristische Methodenlehre, von der man zu Recht sagt, dass sie sich „nicht mit exotischen Randphänomenen beschäftigt, sondern mit dem täglichen Brot der Rechtsanwendung.“51 Die Jurisprudenz hat nicht ausschließlich das Recht zum Gegenstand, sondern repräsentiert auch Teile der anderen Geistes- oder Sozialwissenschaften in ihrem Inneren. Vorliegend geht es um die den juristischen Entlastungsbedürfnissen dienende Sprachtheorie. Die Vorstellung, es gebe „die richtige Bedeutung“, welche die Arbeit der Gerichte stabilisieren könnte, ist in Sprachtheorie und Linguistik längst überholt. Sie hat aber, und deswegen wird sie noch zu diskutieren sein, in der Rechtspraxis eine beträchtliche Entlastungsfunktion. Die Unterschätzung des Wortlautarguments in der Literatur52 erklärt sich aus der simplen Sprachtheoriekonzeption, die hinter der Komplexität der gerichtlichen Praxis weit zurückbleibt. Hier wird der Wortlaut ausgeschaltet, indem man zu viel von ihm verlangt. Die semantische Interpretation soll zu einer Bedeutung führen, und diese soll nicht nur veständlich, sondern auch noch „richtig“ sein. Der Wortlaut kann diese Forderung natürlich nicht erfüllen. Er liefert verständliche Bedeu50 Röttinger, M., Art. 248, in: Grabitz, E. / Hilf, M., Kommentar zur Europäischen Union, Loseblattsammlung, Stand: 7. Ergänzungslieferung, 1994, Rn 3. 51 Langenbucher, K., Vorüberlegungen zu einer europarechtlichen Methodenlehre, in: Ackermann, Th. u. a. (Hrsg.): Tradition und Fortschritt im Recht, Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler, 1999, S. 65 ff., 66. 52 Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Literatur die Rechtsprechung meist impressionistisch anhand einzelner Urteile einzuschätzen versucht. Notwendig ist daher eine Inhaltsanalyse als empirische Grundlage. Vgl. dazu weiter unten im Text sowie Schübel-Pfister, I., Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 170 ff.

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tungen als Lesarten des Normtextes, aber nicht die Einzige richtige, sondern eine Vielzahl von konfligierenden. Daraus kann man aber nicht folgern, er sei als bloßer Einstieg irrelevant. Wenn man den Wortlaut vor die Drohung „richtige Bedeutung oder Leben!“ stellt, dann verliert er im Ernstfall der Argumentation immer sein Leben. Tatsächlich ist er aber als Lieferant von Lesarten und vor allem als Ziel juristischer Argumentation unverzichtbar.

212 Verwerten von Mehrsprachigkeit in der Rechtsprechung des EuGH

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Ein Wortlautargument oder die grammatische Auslegung wird auf der Textoberfläche sichtbar, wenn sich der EuGH ausdrücklich auf den „Wortlaut“ beruft: „Nach Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie besteht die Verpflichtung, die Rückstellungen auf der Passivseite der Gesellschaftsbilanz auszuweisen. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift geht hervor, dass sie die Passivierung von Gewährleistungsrückstellungen vorschreibt, wobei es sich um ihrer Eigenart nach genau umschriebene Lasten handelt ( . . . ).“53 Ein grammatisches Argument liegt auch dann vor, wenn sich der EuGH auf einen genau bezeichneten Normtext beruft: „Nach Art. 42 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes können neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, dass sie auf rechtliche und tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind.“54 Schließlich wird ein grammatisches Argument auch daran erkennbar, dass das Gericht den Wortlaut eines Normtextes zitiert: „Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 729 / 70 werden die Erstattungen bei der Ausfuhr nach dritten Ländern finanziert, die nach den Gemeinschaftsvorschriften im Rahmen der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte gewährt werden.“55

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Die praktische Vorgehensweise des EuGH56 ist weit komplexer als die Rekonstruktionsversuche der Literatur. Das erklärt sich daraus, dass die normative Sprachtheorie der Tradition in der Praxis eben nicht funktioniert. Sobald man versucht, die einzig richtige Bedeutung zu fassen, wird sofort deutlich, dass sie nur einen Ausschnitt aus dem möglichen Spektrum darstellt. Es gibt schon im Verfahren immer mehr als eine Lesart. Es ist also die Wirklichkeit strittiger Verfahren, die den Gerichtshof über die Schranken der herkömmlichen Auffassung hinaustreibt: Von der grammatischen Auslegung zu den anderen Canones, von der Semantik zur Pragmatik und von der bloßen „Erkenntnis“ zur Argumentation. 53 Vgl. EuGH, Slg. 1999, I, S. 5331 ff., Rn. 24. Ähnlich EuGH, Slg. 1999, I, S. 3819 ff., Rn. 17. 54 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 35 ff. (Deutschland / Kommission), Rn. 28; ähnlich EuGH, Slg. 1999, I, S. 1209 ff. (Eddline El-Yassini), Rn. 44. 55 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 39 ff. (Deutschland / Kommission), Rn. 74. 56 Vgl. zur mehrsprachigen Auslegung durch den EuGH Schübler-Pfister, I., Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 227 ff.

212 Verwertung in der Rechtsprechung des EuGH

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212.1 Die Bedeutung als Ziel der Argumentation Ist public policy dasselbe wie öffentliche Ordnung?57 Sind die englische und die deutsche Tradition vergleichbar? Lässt sich also public policy schlichtweg mit öffentliche Ordnung übersetzen? Bedeuten sie das gleiche oder muss ein ganz anderer Ausdruck für beide gefunden werden? Der EuGH war anlässlich einer Vorabentscheidung mit diesem Problem konfrontiert. Es lag folgender Sachverhalt zugrunde:58 Ein Arbeitnehmer französischer Staatsangehörigkeit wurde zum wiederholten Mal wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln im Jahr 1976 von einem englischen Gericht verurteilt. Das Gericht beabsichtigte, dem Minister die Ausweisung nach dem Immigration Act von 1971 zu empfehlen. Dabei tauchte für das Gericht die Frage auf, die es dem EuGH zur Entscheidung vorlegte: Ist der in Artikel 48 Absatz 3 des Vertrages zur Gründung der EWG enthaltene Begriff der ,public policy‘, aus deren Gründen Beschränkungen der in Art. 48 verankerten Rechte gerechtfertigt sein können, dahin auszulegen, a) dass er reasons of state umfaßt, auch wenn kein breach of the public peace or order droht, oder b) in einem engeren Sinne, der die Vorstellung des threatened breach of public peace, order or security umfaßt, oder c) in einem anderen weiteren Sinne?“59

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Folgt man den gängigen Vorstellungen von Übersetzung, dann hätte der EuGH nach dem gemeinsamen Bedeutungskern von „öffentlicher Ordnung“ im deutschen, französischen und englischen Recht zu suchen. Übersetzung wäre dann eine Frage des semantischen Transfers von der einen in die andere Sprache nach Maßgabe der gleichbleibend stabilen Bedeutung. „Vorausgesetzt wird dabei, dass man in letzter Instanz weiß, wie man Einheit und Identität einer Sprache genau und nach strengem Maß bestimmen kann: Ihre Grenzen müssen eine Gestalt haben, über die sich entscheiden lässt.“60 Diese Grenzen sind jedoch nicht verfügbar. Damit kann der EuGH auch nicht auf die von der Literatur behauptete stabile Bedeutung Zugriff nehmen. Welchen Weg findet der EuGH? Wie stellt er sich im Fall der Frage nach öffentlicher Ordnung und public policy dem Problem des Unvollendeten, Unvollständigen der sprachlichen Konstruktionen? Der EuGH formuliert in seiner Entscheidung Pierre Boucherau folgenden Leitsatz: „Die verschiedenen sprachlichen Fassungen einer Gemeinschaftsvorschrift müssen einheitlich ausgelegt werden; falls die Fassungen voneinander abweichen, 57 Scheibler, E., Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof – autonom oder durch Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen, 2004, S. 99, 144 ff. 58 EuGH, Slg. 1977, S. 1999 ff. (Pierre Boucherau). 59 Ebd. 60 Derrida, J., Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 119 ff., 128.

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muß die Vorschrift daher nach dem allgemeinen Aufbau und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.“ Die Bedeutung wird nicht als Substanz vorausgesetzt. Vielmehr bildet sie das Ziel der Argumentation. Erst am Ende des Auslegungsprozesses soll eine gemeinschaftlich einheitliche Bedeutung vorliegen. Dem Gericht ist damit bewusst, dass es die Bedeutung festsetzt. Das Problem der Mehrdeutigkeit versucht das Gericht daher nicht nur auf der Stufe der grammatischen Auslegung zu lösen: es zieht zusätzlich die Systematik und den Zweck zu Rate. Die Vorstellung einer von der Sprache normativ vorgegebenen Bedeutung ist damit verlassen. Der EuGH erkennt zwar, dass der Referenzbereich der öffentlichen Ordnung in den Ländern verschieden ist, gibt aber gleichzeitig an, dass ein Teil dieses Bereiches durch das Gemeinschaftsrechts einheitlich behandelt werden muss. 30

Damit ergibt sich aus der Entscheidung Folgendes: Ausgangspunkt der Spracharbeit des EuGH sind die Gemeinschaftstexte; und zwar nicht nur die sprachliche Fassung, an der sich der Rechtsstreit entzündet hat, sondern sämtliche Versionen der Gemeinschaftssprachen. Jede von ihnen ist im juristischen Sinn authentisch. Der nationale Richter, der das Gemeinschaftsrecht auszulegen hat, kann nicht nur von der sprachlichen Version seines Landes ausgehen, sondern hat sämtliche zu berücksichtigen. Dabei ist die Gleichberechtigung der Sprachen bei der Konkretisierung nicht nur als diplomatische Floskel behauptet, sie ist für die Rechtsarbeit eine tatsächliche Stütze. Auch ist sich der EuGH darüber im klaren, dass er die Bedeutung seiner Texte nicht einfach erkennt, sondern festsetzt. Das Gericht erkennt nicht einfach die Bedeutung des Normtextes.61 Es sucht vielmehr Argumente für die Entscheidung über die Bedeutung. Weist dieses Vorgehen eine verallgemeinerungsfähige Struktur auf? In der Rechtssache 51 / 70 hat der EuGH seine konkrete Entscheidung über Sprache dergestalt gefällt, dass „der Ausdruck ,Schokoladenmasse‘ ( . . . ) dahin auszulegen (ist), dass er ausschließlich genußfertige Schokolade erfaßt, die als solche in den Handel gebracht werden kann.“62

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Juristen machen sich die Bedeutung von Normtexten dadurch klar, dass sie andere Texte zur Bestätigung oder Abgrenzung heranziehen. Der Generalanwalt sagt dies selbst in Hinblick auf seine Festlegung auf die französische Fassung der Verordnung 755 / 67: „Die Auslegung bedarf ( . . . ) einer breiteren Basis“.63 Er bezieht sich dabei auf seine Aussage, dass „sich am französischen Sinn zu orientieren, 61 Man könnte hier auch den allgemeinen Vorbehalt der öffentlichen Sicherheit erwägen, mit dem sich der EuGH bei der Frage der Beschäftigung von Frauen in den nationalen Streitkräften auseinandersetzen musste. Vgl. dazu Scheibeler, E., Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof – autonom oder durch Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen, 2004, S. 159 ff. m. w. N. 62 EuGH, Slg. 1971, S. 121 ff., 130 („Schokolade“). 63 Ebd., S. 140.

212 Verwertung in der Rechtsprechung des EuGH

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( . . . ) deswegen (nahe) liegt, weil im GATT von den Amtssprachen der Gemeinschaft allein Französisch für verbindliche Fassungen gewählt wird.“64 Die „breitere Basis“, auf die der Generalanwalt dann seinen Durchstoß zur Grammatik von „Schokoladenmasse“ stellt, ist die Auslegung nach den altbewährten Canones. An erster Stelle ist dies die historische Auslegung; vom Generalanwalt für die Präferenz der französischen Fassung durch Rückbezug auf den Kontext der GATT-Verhandlungen herangezogen, denen sich die streitige Verordnung verdankt.65 Es ist dies weiter die „systematische Interpretation der Verordnung Nr. 755 / 67“66. In deren Rahmen deutet der Generalanwalt im Übrigen auch ein genetisches Argument an, wenn er darauf hinweist, „die Verordnung Nr. 755 / 67 sei aus handelspolitischen Rücksichten erlassen worden, sie enthalte den Niederschlag einer GATT-Maßnahme, habe aber nicht den Zweck, die Zollnomenklatur zu ändern.“67 Entscheidend ist schließlich eine auf die „Ratio der Verordnung Nr. 755 / 67“ abstellende teleologische Interpretation, die generell im Rahmen der Rechtsprechung des EuGH eine große Rolle spielt.68 All dies dient ihm „zur Bestärkung oder eventuell zur Erschütterung des“ grammatisch „ermittelten Untersuchungsergebnisses“69, nach dem „als Schokolademasse ( . . . ) allein Schokolade anzusehen (ist), d. h. eine Ware, die alle Merkmale der Schokolade aufweist und genußfertig ist.“70 Das heißt, die Canones der Auslegung geben ihm Ebd., S. 140. Siehe dazu im Einzelnen den vom Generalanwalt gegebenen Überblick über die Entstehungsgeschichte der streitigen Verordnung 255 / 67 als Ausformulierung der Tarifstelle 18.06 B des Gemeinsamen Zolltarifs, so wie sie dann vor allem für die Ratio dieser Vorschrift und damit für die teleologische Perspektivierung der Entscheidung im vorliegenden Fall relevant ist, sofern es darum ging, „eine Lücke im Schutz des Marktes für Milch und Milcherzeugnisse“ zu schließen: „Als dies im Jahr 1967 erkannt wurde, machte sich die Gemeinschaft sogleich daran, das Zollzugeständnis für die Tarifstelle 18.06 B im GATT zu ändern. Nach den GATT-Regeln kam eine einseitige Rücknahme jedoch nicht vor Ende 1969 in Frage. Deshalb blieb nur die Möglichkeit, mit Genehmigung der Vertragsparteien des GATT das Zollzugeständnis im Verhandlungswege zu ändern, was bei Vorliegen besonderer Umstände jederzeit zulässig ist. Einen entsprechenden Antrag hat die Gemeinschaft im Juni 1967 im GATT eingebracht und die Kommission zu den notwendigen Verhandlungen bevollmächtigt. Dabei soll es der Kommission im Sommer 1967 gelungen sein, von Großbritannien und der Schweiz, den beiden durch das Zugeständnis unmittelbar begünstigten Vertragsparteien, die Zustimmung zum Erlaß von Zollmaßnahmen zu erlangen, ohne das Ende der Verhandlungen abzuwarten. Insofern galt freilich die Einschränkung, die traditionellen Handelsströme dürften nicht gestört werden. Gestützt auf das erwähnte Einverständnis erging dann am 26. Oktober 1967 die Ratsverordnung Nr. 755 / 67 (Amtsblatt Nr. 260 vom 27. Oktober 1967, S. 4) ,über die Abweichung von Artikel 16 der Verordnung Nr. 160 / 66 in Bezug auf bestimmte Waren der Tarifnummer 18.06 des Gemeinsamen Zolltarifs‘.“ EuGH, Slg. 1971, S. 121 ff., 132 („Schokolade“). 66 Ebd., S. 140 f. 67 Ebd., S. 141. 68 Dazu im Einzelnen Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 198 ff. 69 EuGH, Slg. 1971, S. 121 ff., 140 („Schokolade“). 70 Ebd., S. 142. 64 65

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die Instrumente in die Hand, um die Textbedeutung der streitigen Verordnung zu profilieren. 33

Die Schnittstelle oder der Flaschenhals, durch den der Generalanwalt die Engführung von Sprache auf eine rechtliche Aussage hin zwingt, ist der für seine Festlegung der Grammatik von „Schokolademasse“ entscheidende „Klammerzusatz (,Blöcke, Tafeln, Riegel usw.‘), mit dem der Begriff ,Schokolademasse‘ in Artikel 1 der Verordnung Nr. 755 / 67 versehen ist, und der ( . . . ) ebenfalls eine Anlehnung an den französischen Zolltarif vermuten läßt.“71 Dieses Syntagma ist den verschiedenen Fassungen tatsächlich gemeinsam als jene „Grammatik (Wort und Syntax)“, aus der als Variable die „Bedeutung“ des Normtextes in die Vielfältigkeit seiner sprachlichen Fassungen „entgleitet“. 72 Das heißt aber auch umgekehrt, dass sie dem Generalanwalt als eine solche Variable73, gerade aufgrund von Offenheit und eben nicht aufgrund einer Abgeschlossenheit einer Bedeutung, das Format für die Festlegung auf die Konstante seiner Semantisierung bietet. In sie hinein kann die Festlegung der Bedeutung von „Schokoladenmasse“ erfolgen, indem damit dem rechtsstaatlichen Erfordernis der Rückführung der Interpretation auf den Normtext74 Genüge getan werden kann, ohne gleichzeitig dem Missverständnis anheim zu fallen, die Auslegung nach den Canones gäbe irgendetwas an Bedeutungssubstanzen her.75

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Konkret kommt es dem Generalanwalt für die in dem „Klammerzusatz“ enthaltenen Komponenten darauf an, „daß dieser Zusatz – zumindest was die Konsistenz der Ware angeht – auf typische Fertigprodukte hinweist.“76 Sein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Ausdruck „Blöcke“ als dem unsichersten Kandidaten für die Bedeutungsfestlegung in dieser Reihe. Denn darunter kann man sich, ohne die semantische Phantasie allzu sehr zu strapazieren, lediglich eine zum Transport geEbd., S. 140. Allgemein dazu in Hinblick auf das Problem der Übersetzung Man, P. d., Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 182 ff., 203. 73 Im Sinn der Ausführungen von Wittgenstein, L., Wittgenstein und der Wiener Kreis. Werkausgabe Bd. 3, 1984, S. 220 über „Begriff und Form“: „Die Form des Satzes ergibt sich, beim Absehen von der Bedeutung der Worte, bei ihrer Verwandlung in Variable.“ Wichtig gegen sowohl juristisch als auch linguistisch gern gepflegte Irrtümer weiter: „Die Form ist keine Verallgemeinerung und keine einer Klasse von Sätzen gemeinsame Eigenschaft.“ Fasst man, entsprechend dem hier zuvor für die Rechtssache 51 / 70 Gesagten, die Form als Grammatik auf, dann auch für den umgekehrten Vorgang einer Konstantsetzung durch Semantisierung, Wittgenstein, L., Vorlesungen 1930 – 1935, 1984, S. 29: „Die Grammatik gestattet einige sprachliche Verfahrensweisen und andere nicht; sie bestimmt den Freiheitsgrad“; hier eben der methodischen Setzung von Sprache als Recht. 74 Ausführlich dazu Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski; M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 116 ff. 75 So etwa Hassemer, W., Richtiges Recht durch richtiges Sprechen? Zum Analogieverbot im Strafrecht, in: Grewendorf, G. (Hrsg.) Rechtskultur als Sprachkultur, 1992, S. 71 ff., S. 79. 76 EuGH, Slg. 1971, S. 121 ff., 140 („Schokolade“). 71 72

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dachte Rohform von Schokolade vorstellen. Entsprechend hebt der Generalanwalt darauf ab, dass ein solches Verständnis zwar durchaus im Bereich des Möglichen, keineswegs aber zwingend ist, sofern „Blöcke“, „nicht nur ein zur Lagerung geeignetes Zwischenprodukt darstellen, sondern auch zur Abgabe an den Endverbraucher geeignet sind.“77 Um dem noch ein wenig mehr an Nötigung eines „muß“78 zu geben, zieht der Generalanwalt die „Erläuterungen zum Gemeinsamen Zolltarif (formuliert im April 1970)“ heran, die „doch als Beispiel für Schokolade (also genußfertige Ware) ausdrücklich ,Schokolade in Blöcken‘“ nennen.79 Mit dieser Kontextualisierung ist der Generalanwalt auch schon mitten in seiner „systematischen Interpretation“80, die hier nur in ihren Grundzügen nachgezeichnet zu werden braucht, da es dabei auf die methodische Pointe der Unterwerfung der Sprache unter die Funktion von Recht ankommt. Mit seinem systematischen Argument arbeitet sich der Generalanwalt gewissermaßen aus dem Syntagma des „Klammerzusatzes“ über dessen Verknüpfung mit dem Ausdruck „Schokoladenmasse“ heraus. Deswegen hält er fest, „daß die von den in Artikel 1 hinter vier Gedankenstrichen angegebenen Waren sicher genußfertige Endprodukte darstellen“. Und er zieht dann den Schluss, dass diese Vorgabe „( . . . ) das für die gesamte Regelung entscheidende Kriterium (sei), entscheidend also auch für die Definition ,Schokoladenmasse‘, der sich hinter dem ersten Gedankenstrich findet.“81 Damit hat er semantisch den Boden dafür bereitet, seine Sicht nun auch durch Bezug auf den Kontext all der anderen Vorschriften zu untermauern, die im Zusammenhang mit der Tarifstelle 18.06 B des Gemeinsamen Zolltarifs eine Rolle spielen; vor allem zu der hier in unmittelbarer Konkurrenz stehenden Verordnung Nr. 752 / 67, nach der allenfalls „der Begriff ,Schokoladenmasse‘“ noch „enger zu umgrenzen ist“.82 Und er kann, indem er so das Paket des Textes zur Gleichung „Schokolademasse = genußfertige Schokolade“83 fest geschnürt hat, seine Argumentation mit dem Hinweis auf „die Ratio der Verordnung Nr. 755 / 67“ abrunden. Da es „in dieser Regelung ( . . . ) um die teilweise Rücknahme eines Zollzugeständnisses im Interesse der gemeinschaftlichen Milchmarktordnung (ging)“ „zwing(e)“ sie, um diesem Zweck auch gerecht werden zu können „zweifellos“ auch „zu einer restriktiven Auslegung der in ihr fixierten Ausnahmen,“84 nämlich Ebd., S. 140. „Denn das Wort ,muß‘ drückt doch aus, daß wir von diesem Begriff nicht abgehen können. (Oder soll ich sagen ,wollen‘).“ Wittgenstein, L., Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Bd. 6, 1984, S. 238. 79 EuGH, Slg. 1971, S. 121 ff., 140 („Schokolade“). 80 Zur systematischen Auslegung als Kontextualisierung Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 106 f. 81 EuGH, Slg. 1971, S. 121 ff., 140 („Schokolade“). 82 Ebd., S. 141. 83 Ebd., S. 141. 84 Ebd., S. 141 f. 77 78

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2 Stand der Methodik – 21 Mehrsprachigkeit

„zu der Annahme, sie erfaßten nur Fertigerzeugnisse, während irgendwelche schwer abgrenzbaren und eine Umgehungsgefahr begründenden Mischprodukte außer Betracht bleiben mußten.“85 Auch hier wird also das Ergebnis mit Hilfe von systematischer und teleologischer Auslegung begründet. Damit wird der Ansatz zu einer methodischen Struktur erkennbar.

212.2 Die gemeinschaftsbezogene Bedeutung 36

Die Struktur der vom EuGH geschaffenen gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung zeigt sich etwa bei der Auslegung des Begriffs der öffentlichen Verwaltung.86 In dem betreffenden Fall hatte die belgische Regierung ausgeführt, ,die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung‘ sei ein eindeutiger und genauer Begriff, der wohl nicht auslegungsbedürftig sei. Halte man dennoch eine Interpretation für erforderlich, so müsse auf die Absicht des Gesetzgebers, das heißt auf den Willen der Mitgliedsstaaten bei Ausarbeitung des EWG-Vertrages abgestellt werden. Es bestehe kein Zweifel, dass dessen Zielsetzungen die Befugnis des einzelnen Mitgliedsstaates zur Abgrenzung des öffentlichen Sektors unberührt ließen und dass über die Ziele, den Umfang und die Modalitäten der Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung keine gemeinschaftliche Auffassung bestehe. Folgerichtig müsse angenommen werden, dass sich die Regierungen beim Ausarbeiten des Vertrags das Festlegen der Voraussetzungen für den Zugang zum öffentlichen Dienst hätten vorbehalten wollen.

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Die Kommission führte aus: Art. 48 Abs. 4, der diesen Begriff enthalte, stehe jedoch in sehr engem Zusammenhang mit den übrigen Bestimmungen dieses Artikels, bei denen es sich zweifellos um Normen des Gemeinschaftsrechts handele. Abs. 4 lasse Ausnahmen von der Anwendung dieser Bestimmungen zu und trage damit zur Bestimmung ihrer Tragweite bei; auch ihm müsse daher der Charakter einer Norm des Gemeinschaftsrechts beigemessen werden. Wolle man es dem einzelnen Mitgliedsstaat überlassen, nach seinen eigenen nationalen Kriterien zu definieren, was unter ,Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung‘ zu verstehen sei, so belasse man den Mitgliedsstaaten damit die Befugnis, jeweils für sich die Tragweite des Vorbehalts in Art. 48 Abs. 4 und damit den Umfang des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgrundsatzes ohne jede gemeinschaftsrechtliche Begrenzung oder Kontrolle zu bestimmen. 85 Ebd., S. 142. Siehe etwas eingehender stringent dazu auch die Entscheidungsgründe, ebd., S. 129, Rn. 9. 86 Vgl. als weitere Beispiele den Arbeitnehmerbegriff und den Begriff des Unternehmens, Betriebs oder Betriebsteils. Dazu Scheibeler, E., Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof – autonom oder durch Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen, Berlin 2004, S. 26 ff., 45 ff., 175 ff., 219 ff.

212 Verwertung in der Rechtsprechung des EuGH

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Die Staaten könnten dann diese Fragen je nach ihren Bedürfnissen im Lauf der Zeit verändern, indem sie sich auf die Entwicklung ihres nationalen Begriffs der ,Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung‘ beriefen, was angesichts der anhaltenden Tendenz zur Ausweitung des öffentlichen Sektors in den Mitgliedstaaten die Gefahr einer Verengung des von der Freizügigkeit bestimmten Bereichs mit sich brächte. „Wie sich aus den Erfordernissen sowohl einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts wie auch des Gleichheitsgrundsatzes ergibt, ist den Begriffen einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Erläuterung ihres Sinnes und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Gemeinschaft eine autonome und einheitliche Auslegung zu geben, die unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und der mit der betreffenden Regelung verfolgten Zielsetzung zu ermitteln ist.“87

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Zur Erstellung der gemeinschaftsbezogenen Bedeutung verwendet der EuGH die Ergebnisse anderer Konkretisierungselemente, um damit eine Lesart normativ auszuzeichnen. Oft ist dies das systematische Element.88 Meistens ist es aber neben der Systematik noch eine objektiv teleologische Argumentform, die die Entscheidung trägt.89 Daneben gibt es aber auch Urteile, in denen subjektiv teleologische Argumente, als Ableitungen des Gesetzeszwecks aus den Materialien, beim Festsetzen einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung eine Rolle spielen.90 Im Rahmen eines solchen Vorgehens kann sich der EuGH nicht mehr hinter einer verdinglichten Bedeutungsvariante einer bestimmten Sprachfassung verstecken. Er hat insbesondere die Varianten anzuerkennen, die sich aus den verschiedensprachigen Texten ergeben. Mit der Kreation einer Gemeinschaftsbedeutung entsteht auch die Notwendigkeit, diese zu rechtfertigen. Das erfolgt dadurch, dass die ausgewählte Variante durch die anderen Auslegungselemente begründet wird. Damit wird die Entscheidung nachvollziehbar und überprüfbar.

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Die methodischen Anforderungen, den Wortlaut der verschiedensprachigen Fassungen als gleichermaßen verbindlich zu behandeln, haben beim EuGH zu einem dreistufigen Verfahren geführt. Auf der ersten, der ,innersprachlichen Stufe‘, wird ausgehend vom Wortlaut einer Sprachfassung mit Hilfe normtextbezogenener Auslegungselemente ein Bedeutungsspektrum festgelegt. Auf der zweiten, der ,gemeinschaftssprachlichen Stufe‘, wird aus den divergierenden Bedeutungsspektren eine gemeinschaftliche Bedeutung bestimmt. Auf der dritten Stufe wird das Ergeb-

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EuGH, Slg. 1984, S. 107 ff., 119 (Ekro). Vgl. dazu beispielsweise EuGH, Slg. 1989, S. 2763 ff., 2780 (Hendriksen). 89 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1992, S. 5089 ff., 5105 (Kommission / Dänemark); EuGH, Slg. 1992, S. 3189 ff., 3217 (Redemond Stichting / Hendikus Bartol u. a.); EuGH, Slg.1985, S. 469 ff., 483 (Abels / Bedrijfsvereniging); EuGH, Slg. 1988, S. 6449 ff., 6466 (Huber); EuGH, Slg. 1991, S. 6035 ff., 6045 (Nijs); EuGH, Slg. 1992, S. 2333 ff., 2350 (Hamlin Electronics); EuGH Slg. 1985, S. 2655, 2666 (Kommission / Bundesrepublik Deutschland). 90 EuGH, Slg. 1969, S. 419 ff., 425 (Stauder); EuGH, Slg. 1960, S. 1163 ff., 1194 (Humblet). 87 88

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nis mit Hilfe anderer Konkretisierungselemente gerechtfertigt. Eine Inhaltsanalyse der EuGH-Begründungen des Jahrgangs 1999 konnte zeigen, dass die autonome bzw. einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts in fast 10% aller Entscheidungen eine Rolle spielt.91 Der EuGH formuliert den Grundsatz der autonomen Auslegung heute folgendermaßen: „Für die Gemeinschaftsrechtsordnung besteht jedoch ein offensichtliches Interesse daran, dass jede Bestimmung des Gemeinschaftsrechts unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll, eine einheitliche Auslegung erhält, damit künftige unterschiedliche Auslegungen verhindert werden ( . . . ).“92 Der EuGH begründet seine Vorgehensweise mit der nötigen Einheitlichkeit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts: „Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, sieht der Vertrag Ausnahmen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit nur in den Artikeln ( . . . ) vor. Diese betreffen ganz bestimmte, außergewöhnliche Fälle. Aus ihnen lässt sich kein allgemeiner, dem Vertrag immanenter Vorbehalt ableiten, der jede Maßnahme, die im Interesse der öffentlichen Sicherheit getroffen wird, vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausnimmt. Würde ein solcher Vorbehalt unabhängig von den besonderen Tatbestandsmerkmalen der Bestimmungen des Vertrages anerkannt, so könnte das die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen.“ 93

212.3 Ist der nationalsprachliche Wortlaut für den EuGH irrelevant? 41

Gegen den vom EuGH unter der Vorgabe des Art. 314 EG eingeschlagenen Weg wird allerdings eingewandt, dass damit die grammatische Konkretisierung ihre Bedeutung ganz verliere.94 Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript. EuGH, Slg. 1999, I, S. 3055 ff. (Eco Swiss), Rn. 40. 93 EuGH, Slg. 1999, I, S. 4703 ff. (Sirdar), Rn. 16; vgl. dazu auch EuGH, Slg. 1999, I, S. 3055 ff. (Eco Swiss), Rn. 40 und EuGH, Slg. 1999, I, S. 5051 ff. (Kommission / Deutschland), Rn. 40 sowie EuGH, Slg. 1999, I, S. 6307 ff. (GIE Groupe Concorde u. a.), Rn. 11 ff. 94 Vgl. dazu Weber, A. in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, 1991, Art. 248, Rn. 14 sowie Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 165; ebenso Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 168 ff., der der grammatischen Konkretisierung zwar quantitativ einen großen Stellenwert zuschreibt, aber qualitativ ihre Bedeutung als sehr gering einschätzt. Er kann sich dabei auf weitere Stimmen in der Literatur stützen, vgl. dort S. 169 m. w. N. Vgl. zur Relativierung des Wortlauts unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit auch: Schubarth, M., Die Bedeutung der Mehrsprachigkeit der schweizerischen Gesetze für die höchstrichterliche Rechtsprechung in: LeGes 2001 / 3, S. 49 ff., 52; Schnyder, B., Zur Mehrsprachigkeit der schweizerischen Gesetzgebung im Allgemeinen in: ebd., S. 33 ff., 38 ff. – Vergleichbare Probleme der Republik Südafrika werden erörtert bei Du Plessis, L., Re-Interpretation of Statutes, 2002, S. 214 ff. u. ö. 91 92

212 Verwertung in der Rechtsprechung des EuGH

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Das wird unter Bezug auf Generalanwalt Langrange95 von der Literatur so formuliert: „( . . . ) the rule that all treaty versions were equally authentic really implies that none was.“96 Dieser Eindruck einer Entwertung der Sprachen und eines Bedeutungsverlusts der grammatischen Auslegung97 kommt auch in der Benennung als autonome Bedeutung zum Ausdruck. Wenn aber „autonom“ bedeuten soll: vollkommen unabhängig von den Nationalsprachen, dann ist diese Bezeichnung falsch. Das Behaupten einer fehlenden oder qualitativ geringwertigen Bedeutung der grammatischen Konkretisierung ist abzulehnen. Es fußt, einmal mehr, auf der zu simpel gefassten juristischen Sprachkonzeption und wird in folgendem Argument erkennbar: „Da der EuGH die gemeinschaftsrechtliche Wortbedeutung durch Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden ermittelt, befindet man sich ( . . . ) bei der Angleichung der sprachlichen Fassungen rasch jenseits einer rein textuellen Auslegung und wendet systematische und teleologische Aspekte an.“98 Hier wird wieder deutlich, dass die grammatische Konkretisierung als die umfassende semantische Auslegung fungieren soll. Die traditionelle juristische Theorie setzt einen einfachen und problemlosen Weg von der Ausdruckseite des Zeichens zu seiner Bedeutungsseite voraus. Zwischen Signifikant und Signifikat gibt es nach dieser altehrwürdigen Sicht keine Sperre. Tatsächlich aber setzt eine Auslegung an die Stelle des Signifikanten nicht das reine Signifikat, sondern immer eine Signifikantenkette an die Stelle einer anderen. Interpretieren ist ein komplexer Vorgang, der niemals auf das bloße Besinnen auf die eigene Sprachkompetenz reduziert werden kann. Deswegen ist nicht annehmbar, dass die eigentliche textuelle Auslegung mit der grammatischen Konkretisierung zusammenfällt. Vielmehr sind alle Konkretisierungselemente, die auf das Normprogramm bezogen sind (alle Sprachdaten), für die Bedeutung relevant und befinden sich auf der textuellen Ebene. Fraglich könnte noch sein, ob die Wortlaute der Nationalsprachen damit jede Funktion verlieren. Tatsächlich hat der EuGH aber immer hervorgehoben, dass die nationalsprachlichen Wortlaute der praktische Plausibilitätsraum seiner Auslegung bleiben: „Gemeinschaftsverordnungen sind einheitlich auszulegen. Das verbietet es nach ständiger Rechtsprechung, im Fall von Zweifeln eine Bestimmung in einer Sprachfassung für sich allein zu betrachten, zwingt vielmehr dazu, sie unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in anderen Amtssprachen auszulegen.“99 Der Normtext, dem der EuGH seine Entscheidung zurechnen muss, hat sich also sozusagen als Zeichenkette verlängert um die verschiedenen Formulierungen in den anerkannten Amtssprachen. Die grammatische Auslegung wird damit nicht relativiert, sondern im Gegenteil, in ihrer Bedeutung sogar gestärkt. Das zeigen vor alVgl. EuGH, Slg. 1962, S. 540 ff. (De Geus v. Bosch). Smit, H. / Herzog, P., The law of the European Communities, 1993, Art. 248, Rn. 5. 97 Vgl. dazu Bredimas, A., Methods of interpretation and Community law, European studies in Law, 1978, S. 47 f. 98 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 169 unter Bezug auf Oppermann, Th., Europarecht, 1999, Rn. 580. 99 EuGH, Slg. 1999, I, S. 7877 ff. (Söhl & Söhlke), Rn. 46. 95 96

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lem die praktischen Entscheidungen: „Die erste Voraussetzung für den erweiterten Schutz nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie lautet in der dänischen Fassung dieser Vorschrift ( . . . ), in der deutschen Fassung ,bekannt ist‘, in der griechischen Fassung ( . . . ), in der spanischen Fassung ( . . . ), in der französischen Fassung ( . . . ), in der italienischen Fassung ( . . . ), in der niederländischen Fassung ( . . . ), in der portugiesischen Fassung ( . . . ), in der finnischen Fassung ( . . . ), in der schwedischen Fassung ( . . . ) und in der englischen Fassung ( . . . ).“ Der EuGH fährt nach der Sichtung des ganzen Sprachmaterials dann fort: „Die deutsche, die niederländische und die schwedische Fassung verwenden Begriffe, denen zufolge die Marke ,connue‘ (bekannt) sein muss, ohne den Umfang der erforderlichen Bekanntheit näher anzugeben, während die anderen Sprachfassungen den Begriff ( . . . ) verwenden ( . . . ). Diese Nuance, die keinen wirklichen Widerspruch enthält, ergibt sich aus der größeren Neutralität der in der deutschen, der niederländischen und der schwedischen Fassung verwendeten Begriffe. Mit ihr kann jedoch nicht das Erfordernis einer Bekanntheitsschwelle in Abrede gestellt werden, das im Rahmen einer einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts aus einem Vergleich aller Sprachfassungen der Richtlinie hervorgeht.“100 Natürlich ist das Gemeinschaftsrecht mit der normativen Vorgabe einer immer enger werdenden Gemeinschaft dynamischer als nationale Rechtsordnungen.101 Aber das führt nicht dazu, dass die Teleologie zum zentralen Element der Rechtsarbeit wird. Angesichts der empirischen Befunde einer Inhaltsanalyse ist folgende Einschätzung zu korrigieren: „Der starken Überzeugungskraft des Zielarguments entspricht seine häufige Verwendung: Es dürfte kaum eine Entscheidung des EuGH geben, in der eine Bedeutungsbestimmung nicht wenigstens auch mit dem Zielargument begründet wird. Oft markiert das Zielargument zudem – allein oder in Verbindung mit dem Systemargument – den zentralen Begründungsschritt der Entscheidungen des EuGH.“102 Es gibt sehr viele Entscheidungen ohne das teleologische Argument und dieses ist auch nicht das entscheidende Element. Zwar gibt es tatsächlich eine größere Dynamik und Zielorientiertheit des Gemeinschaftsrechts, aber das verändert nicht den Stellenwert der Teleologie in der praktischen Rechtsarbeit. Zwar geht er meistens zunächst von Sinn und Zweck einer Regelung aus, fragt dann aber in zweiter Linie immer, ob das gefundene Ergebnis noch mit dem Wortlaut in den verschiedenen Fassungen vereinbar ist. Auch hebt der EuGH hervor, dass keinem der nationalen Texte dabei Gewalt angetan werden darf.103Damit hält sich das Gericht im Rahmen der ihm 100 EuGH, Slg. 1999, I, S. 5021 ff. (General Motors), Rn. 20 ff.; vgl. außerdem EuGH, Slg. 1999, I, S. 7747 ff. (Pfennigmann), Rn. 33. 101 Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005, S. 157. 102 Ebd., S. 158. 103 EuGH, Slg. 1986. S. 4011 ff., 4022 (Kommision / Großbritanien). – Für eine andere mehrsprachige Rechtsordnung (die der Republik Südafrika, die 11 Amtssprachen kennt, vgl. Art. 6 Abs. 1 Südafrikanische Verfassung von 1996) entwickelt Du Plessis, L., Re-Interpretation of Statutes, 2002, eindrucksvoll eine dem hier entfalteten Ansatz entsprechende Interpretationslehre. Zur Behandlung mehrsprachiger Gesetzestext, ebd., S. 214 ff., u. ö.

212 Verwertung in der Rechtsprechung des EuGH

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vorgegebenen methodenbezogenen Normen: „Die Bestimmung des Art. 248 EGV, 225 EAGV und S EUV (heute Art. 314 EG) würden leerlaufen, wenn auf einen Textvergleich im Rahmen der grammatischen Auslegungsmethode womöglich ganz verzichtet würde, da von einer Verbindlichkeit und Gleichberechtigung aller sprachlichen Fassungen keine Rede mehr sein kann, wenn diese im Auslegungsprozeß keine Rolle spielen, sondern nur noch das vom Gemeinschaftsgesetzgeber verfolgte Ziel maßgebend ist. Bei diesem Vorgehen würde der Rechtsunsicherheit Tür und Tor geöffnet.“104 Indem der EuGH also die nationalsprachlichen Wortlaute als Zurechnungspunkt und die sich dort ergebenden Bedeutungen als Plausibilitätsspektrum heranzieht, kann er die geforderte Rechtssicherheit gewährleisten. Das Gericht übernimmt zwar nicht einfach eine Bedeutung aus den Einzelsprachen. Aber es verwendet die Bedeutungsunterschiede der Nationalsprachen als Plausibilitätsskala, um die von ihm mit spezifisch juristischen Argumenten festgesetzte Lesart zu überprüfen. Man kann die provokative Aussage von Generalanwalt Langrange also präzisieren: Die Gleichwertigkeit bedeutet, dass nicht eine Sprache allein den Ausschlag geben kann. Eine Einzelsprache kann im Hinblick auf Art. 314 EG nie Determinationsinstanz für die Fixierung der gesamten Bedeutung werden. Aber sie bleibt trotzdem als Überprüfungsinstanz von großer Wichtigkeit. Im Spielraum des Vertretbaren, der sich aus den Bedeutungsunterschieden der einzelnen Sprachen ergibt, kann die vom EuGH mit Hilfe von Zweck und Systematik bestimmte Lesart immer noch scheitern. Eine Inhaltsanalyse der EuGH-Entscheidungen des Jahrgangs 1999 hat die von der Literatur vertretene Auffassung, dass im Rahmen der gemeinschaftsbezogenen Bedeutung die grammatikalische Methode an Relevanz verliere, widerlegt: „Im Gegenteil zeigt die Untersuchung, dass der EuGH den Umstand, dass Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts mit gleicher Verbindlichkeit in verschiedenen Sprachfassungen vorliegen, im Sinne einer erweiterten grammatikalischen Auslegung nutzt und dadurch die grammatikalische Methode in ihrer Bedeutung sogar noch stärkt.“105 Weil also die Wichtigkeit der grammatischen Auslegung nicht ab-, sondern im Gegenteil zunimmt, sollte man nicht von einer „autonomen“, sondern von einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung sprechen. Diese ist autonom weder in dem Sinn, dass sie einer eigenen abgetrennten Sprache angehört, noch in jenem, dass sie rein juristisch und unabhängig von der Sprache begründet wäre. Sie ist aber gemeinschaftsbezogen, weil zwischen die Sprache als Entdeckungszusammenhang für Bedeutungsdivergenzen und die Sprache als Überprüfungsinstanz für Bedeutungsfixierungen die Zwecke der europäischen Vergemeinschaftung treten und die fragliche Lesart vorläufig festlegen.

104 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 171. 105 Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript.

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2 Stand der Methodik – 22 Systematik

22 Systematik: Vom Buch zum offenen Text 43

Die Systematik soll es ermöglichen, das einzelne Auslegungsproblem in den Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung zu stellen. Man kann dabei enge und weite Kontexte unterscheiden. Fraglich ist aber, ob sich bei der Auslegung des Gesetzes ein letzter finden lässt, der die Öffnung des Textes endgültig begrenzt, oder ob man mit dem Problem der Unendlichkeit der Kontexte pragmatisch umgehen muss. 221 Die Systematik des Gesetzes als Buch

Wenn Rechtserkenntnis möglich sein soll, braucht sie einen Gegenstand, mit dem sie übereinstimmt. Dieser Gegenstand wiederum ist als Gesetz nur dann möglich, wenn es für die Öffnung des Textes eine letzte Grenze gibt. Erst diese Grenze definiert den Gegenstand der Erkenntnis. Deswegen muss die herkömmliche Auslegungslehre als Rechtserkenntnislehre behaupten, dass das Ganze der Rechtsordnung mehr sei als die Fluchtlinie der praktischen Arbeit der Gerichte. Dieses Ganze müsste in der systematischen Auslegung für die Erkenntnis vielmehr verfügbar sein. 221.1 Die objektive Bedeutung des Textes 44

Das Problem der Verfügbarkeit der Grenze entfaltet sich ausgehend vom Postulat einer objektiven Bedeutung des Textes. Für die objektive Lehre106 löst die sprachliche Objektivation den Text von den zufälligen Absichten und Vorstellungen ihres Autors ab. Erst auf der Ebene der sprachlichen bzw. rechtlichen Systematik ergibt sich seine objektive Bedeutung. Dem subjektiven Meinen des mit dem „Autor“ gleichgesetzten Gesetzgebers kommt demgegenüber keine oder höchstens eine bestätigende Rolle zu. Ein homogener Wille des Urhebers als Gegenstand der genetischen Auslegung lässt sich aus dieser Sicht nicht oder höchstens im Zeitpunkt der Einigung über den Vertrag bzw. der Verabschiedung des Normtextes feststellen.107 Entsprechend kann das Ziel der juristischen Interpretation nur sein, den objektiven Sinn des Textes zu ermitteln. Die genetische Auslegung hat mit dem (gegenüber dem Willen des Legislators verselbstständigten) „Inhalt“ des Gesetzes nichts zu tun und muss im Konfliktfall hinter die Ergebnisse anderer Konkretisierungselemente zurücktreten. An die Stelle des Willens der Ver106 Vgl. zur objektiven Lehre Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1991, S. 434 ff.; Larenz, K. / Canaris, C.-W., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2001, S. 137 ff.; Wank, R., Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 37 ff. und die historische Darstellung bei Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1983, S. 34 ff. 107 Vgl. dazu die eben genannten Autoren.

221 Die Systematik des Gesetzes als Buch

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tragsparteien bzw. des Gesetzgebers tritt der objektivierte Wille des Gesetzes bzw. des Vertrags. Der Text soll gerade nicht zu den Gedanken eines zufälligen Autors hinführen, sondern dient als Anlass, um den Reichtum der Sprache zu erschließen. Das Gesetz ist dadurch klüger als der Gesetzgeber; oder umgekehrt formuliert, es gilt den Gesetzgeber oder Autor besser zu verstehen, als dieser sich selbst verstand:108 „Die systematische Auslegung bezieht sich auf den Zusammenhang und die Stellung einer Rechtsvorschrift im Gesamtkomplex des Gesetzes oder der Rechtsordnung. Sie untersucht das Verhältnis der auszulegenden Norm zu anderen Bestimmungen desselben Gesetzes oder anderer Gesetze sowie zu den gesamten leitenden Ideen der Rechtsordnung. Es geht bei dieser Auslegungsmethode also darum, den einzelnen Rechtsgedanken als Teil eines Kontextes zu verstehen, ihn in den Sinnzusammenhang des Gesetzes, ja der gesamten Rechtsordnung zu stellen. Treffend bemerkt Zippelius: ,Man muß das Sinnganze ins Auge fassen, wenn man die Bedeutung des einzelnen Elementes bestimmen will.‘ Ausgehend von der Überlegung, dass die Rechtsnormen in einem gedanklichen Zusammenhang miteinander stehen, ist es geboten, die ,Einheit des Rechts‘ zu wahren, d. h. die einzelnen Rechtssätze so auszulegen, dass logische Widersprüche vermieden und Zielkonflikte zu einem gerechten und schonenden Ausgleich gebracht werden; die ausgelegte Norm soll sich daher nach ihrem Sinn und Zweck in den Kontext der gleich- und höherrangigen Normen einfügen.“109

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221.2 Der Vorgriff auf Totalität Lesen kann man einen Text nur, wenn man schon begonnen hat, ihn zu verstehen. Der Leser braucht eine Verständnishypothese. In der herkömmlichen Methodenlehre wird nun diese Hypothese mit dem medialen Paradigma des Buches aufgeladen. Aus dem Wirtschaftsgut wird demnach eine metaphysische Figur, deren Aufgabe darin besteht, das Gleiten der Schrift in definierten Grenzen ruhig zu stellen. Das Buch mit all seinen Enden aus Fußnoten, Randbemerkungen, Lektüren usw. wird zur Sinntotalität gerundet. Diese wiederum soll dann dem Verstehen des Lesers Form und Maß geben. Vor allem die klassische Hermeneutik hat diese Form des Buches zum ontologischen Strukturmoment des Verstehens gemacht: „Der Sinn dieses Zirkels, der al108 Vgl. dazu schon Schleiermacher, F. D. E., Hermeneutik, hrsg. von Kimmerle, H., 1959, S. 87 f. Ausführlich Bollnow, O., Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, in: ders., Das Verstehen, 1949, S. 7 ff., jetzt in: ders., Studien zur Hermeneutik, Bd. 1, Zur Philosophie der Geisteswissenschaften, 1982. Kritisch dazu Esser, J., Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1974, S. 178 (Fn. 160), 257 ff.; Baden, E., Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 105 ff. 109 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 87.

4 Müller / Christensen

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2 Stand der Methodik – 22 Systematik

lem Verstehen zugrunde liegt, hat aber eine weitere hermeneutische Konsequenz, die ich den ,Vorgriff der Vollkommenheit‘ nennen möchte. Auch das ist eine offenbar formale Voraussetzung, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, dass nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt. So machen wir denn diese Voraussetzung der Vollkommenheit immer, wenn wir einen Text lesen, und erst wenn diese Voraussetzung sich als unzureichend erweist, d. h. der Text nicht verständlich wird, zweifeln wir an der Überlieferung und suchen zu erraten, wie sie zu heilen ist. Die Regeln, die wir bei solchen textkritischen Überlegungen befolgen, können hier beiseite bleiben. Worauf es ankommt, ist auch hier, dass ihre rechte Anwendung nicht von dem inhaltlichen Verständnis ablösbar ist.“110 Mit diesem Vorgriff soll nahegelegt werden, dass im Text eine objektive Sinneinheit vorhanden ist, die den Leser zu führen vermag. Dieser Sinn und nicht etwa die Autorenintention ist für den Leser objektiv vorgegebener Bezugspunkt. Aus der Sicht der Leser mag sich der Sinn eines Textes wandeln.111 Aus der Sicht des Textes ist die jeweilige Lesart nur eine unter vielen, welche die Sinnfülle des Textes im Prinzip nie erschöpfen können. Deswegen lässt sich vom Standpunkt der klassischen Hermeneutik her sagen, dass das Werk gerade im Wandel identisch bleibt. 47

Wenn Lesen derart von einer Handlung zu einem passiven Einrücken in ein vordefiniertes Überlieferungsgeschehen umgeformt wird, dann ist der Überlieferungszusammenhang der Tradition umgewandelt in eine Substanz:112 „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.“113 Es ist also die geschichtliche Wirklichkeit als homogene Größe, welche die Vorurteile der Leser als ebenso homogene Größe formt. Dabei werden die wahren von den falschen Vorurteilen durch die Wahrheit des Textes geschieden. Diese ist als unbefragte Autorität einfach gegeben.114 Sie lenkt ein Überlieferungsgeschehen, worin gilt: „Das durch Überlieferung und Herkommen Geheiligte hat eine namenlos gewordene Autorität, und unser geschichtliches endliches Sein ist dadurch bestimmt, daß stets auch Autorität des Überkommenen – und nicht nur das aus Gründen Einsichtige – über unser Handeln und Verhalten Gewalt hat. ( . . . ) Die Wirklichkeit der Sitten z. B. ist und bleibt in weitem Umfange eine Geltung aus Herkommen und Überlieferung. Sie werden in Freiheit übernommen, aber keiGadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 299. Ebd., S. 379. 112 Vgl. Habermas, J., Zur Logik der Sozialwissenschaften, 1985, S. 284. 113 Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 281. 114 Vgl. zur Kritik Habermas, J., Zu Gadamers ,Wahrheit und Methode‘, in: Apel, K.-O. u. a., Hermeneutik und Ideologiekritik, 1971, S. 45 ff. 110 111

221 Die Systematik des Gesetzes als Buch

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neswegs aus freier Einsicht geschaffen oder in ihrer Geltung begründet. Eben das ist es vielmehr, was wir Tradition nennen: ohne Begründung zu gelten.“115 Die Bewahrung des objektiven Sinngehalts ist damit ein Verhalten aus Freiheit,116 woraus sich aber ein homogener Kontinuitätszusammenhang ergibt.117 Wenn in der klassischen Hermeneutik das Prinzip der Dialogizität betont wird,118 so fehlt diesem Dialog die Offenheit.119 Von vornherein wird der vom Leser an den Text gestellten Frage die Teleologie einer in der Sinntotalität vorgegebenen Wahrheit eingelegt: „Der Text fragt, indem er antwortet – der Interpret antwortet, indem er fragt.“120 Durch die immanente Teleologie der „rechten Frage“ wird der Leser dem objektiven Sinn untergeordnet: „Das Vorurteil der Vollkommenheit enthält also nicht nur dies Formale, daß ein Text seine Meinung vollkommen aussprechen soll, sondern auch, dass das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist.“121 Das Entscheiden von Fragen an Hand des Überwiegens von Gründen122 wird zu einer bloßen Entscheidung an Hand von Wissen: Dass die Unentscheidbarkeit die Kehrseite einer Verwirklichung sein kann, gerät so nicht in den Blick.“123 Ein Streit der Interpreten ist aus der Sicht der klassischen Hermeneutik durch die Sache des Textes als vorgegebener Sinntotalität bereits entschieden. An dieser Stelle erscheint dann das allseits bekannte Bild der Horizontverschmelzung,124 wo im Modus des Verweilens im Augenblick die Distanz zwischen Lesersubjekt und Textobjekt verschwindet.125 115 Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 285. Natürlich gibt es zu diesem Substanzialismus in Gadamers Theorie auch subkutan gegenläufige Elemente wie die Diskussion des Phronesis-Gedankens in Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 317 ff. Vgl. dazu Figal, G., Verstehen als geschichtliche Phronesis. Eine Erörterung der philosophischen Hermeneutik, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1992), S. 24 ff. Sehr stark gemacht werden diese Elemente in der Lesart von Warnke, G., Gadamer. Hermeneutics, Tradition and Reason, 1987, etwa S. 170. 116 Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 286. 117 Ebd., S. 286 f. 118 Ebd., S. 364. Vgl. dazu auch Marshall, D. G., Dialogue and Ecriture, in: Michelfelder, D. P. / Palmer, R. (Eds.), Dialogue and Deconstruction. The Gadamer-Derrida-Encounter, 1989, S. 206 ff., 212 ff. zu Einflüssen der jüdischen Dialogphilosophie. 119 Vgl. dazu Waldenfels, B., Antwortregister, 1994, S. 134 f. 120 Ebd., S. 126. 121 Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 299. 122 Ebd., S. 346. 123 Waldenfels, B., Antwortregister, 1994, S. 135. 124 Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 383. 125 Vgl. zu diesem zentralen Kriterium der hermeneutischen Interpretation: Gadamer, H.-G., Gedicht und Gespräch, Frankfurt am Main 1992, S. 180; ders., Wer bin Ich und wer bist Du?, in: Gesammelte Werke Band 9, 1986, S. 383 ff., 451. Zur Kritik der Verpflichtung der Kunst auf Wahrheit vgl. Seel, M., Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, 1985, S. 46, 50, 177. Ebenso gegen den „hermeneutischen Imperialismus“ (Seel, ebd., S. 50) unter Betonung der souveränen Bedeutung der Kunst: Menke, Ch., Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, 1991, S. 124 ff.

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2 Stand der Methodik – 22 Systematik

221.3 Die normative Vorstellung des Buches 49

Die klassische Hermeneutik kommt damit dem Anliegen herkömmlicher juristischer Methodik stark entgegen. Mit ihrem autoritären Begriff von Tradition und ihrem Konzept der Interpretation als Teilhabe an der hermeneutischen Wahrheit wendet sie sich gegen einen drohenden Subjektivismus des Lesens. Die Bindung des Richters an das Gesetz könnte mit diesem objektivistischen Konzept eines Überlieferungsgeschehens einlösbar werden. Wenn Gadamer „methodos“ mit „Weg des Nachgehens“ übersetzt und als Möglichkeit eines „Immer-wieder nachgehen-Könnens“ bestimmt, wird eine Methode zur Strukturierung dieses Vorgangs sichtbar. Der Vorgriff auf Vollkommenheit besagt methodisch, dass man den Text als Buch nehmen muss, welches eine klar abgegrenzte und vollkommene Einheit von Sinn darstellt. Dabei wird dem Leser eine „transzendente Sinnerwartung“126 als Bucherwartung unterstellt, welche dann im hermeneutischen Zirkel mit der geschlossenen Sinntotalität des vorliegenden Buches zunehmend verschmilzt. Der Spielraum möglicher Lektüren ist damit klar fixiert. Es gibt keinen Raum zwischen Leser und Text, sondern der Leser muss in der Sinntotalität des Textes verschwinden. Allein der Text spricht. Er führt in der Interpretation ein Selbstgespräch.

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Um diese Einfalt für den Richter methodisch verfügbar zu machen, muss der hermeneutische Zirkel allerdings mit juristischen Inhalten gefüllt werden. Um die als Ort stabiler Sprache fragwürdig gewordene Semantik doch noch zu retten, führt die herkömmliche Lehre die Gerechtigkeit als Sinnmitte des Rechtstextes ein. Diese dem Wechsel der Namen entzogene reine Bedeutung soll garantieren, dass der Wortlaut des Gesetzes gegenüber der Flut divergierender Interpretationen seine semantische Identität wahren kann. Die Bemühungen, der richterlichen Tätigkeit durch den Rückgang auf die Gerechtigkeit ein festes Fundament zu schaffen, bleiben damit dem Positivismus und seiner deterministischen Textauffassung verhaftet. Ziel einer auf kognitive Strukturen reduzierten Rechtsfindung bleibt die Entscheidung, welche gemessen an der Sinnmitte der Gerechtigkeit die einzig richtige ist.

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Das Gesetz gilt als Buch, dessen Rundung zur Totalität eines geschlossenen Sinnganzen der Rechtskultur als leitender Zweck aufgegeben ist: als geschlossene Kodifikation, welche die verschiedenen Normen mittels einer Systematik zur Einheit des Korpus zusammenzwingt, hatte der Positivismus das Gesetzbuch gefasst. Damit war dieses ein sicherer Garant einer die widerspruchsvollen Strebungen vereinheitlichenden Totalität des gesellschaftlichen Handelns.127 Der Einbruch der Zeit in die in sich ruhende Kodifikation hat diese Funktion bedroht. Für die herkömmliche Lehre bleibt uns aber die Idee des Gesetzbuchs in der Vorstellung einer 126

Gadamer, H.-G., Vom Zirkel des Verstehens, in: Gesammelte Werke, Band 2, S. 57 ff.,

61 f. 127 Vgl. zur positivistischen Herkunft holistischer Einheitsvorstellungen in der Jurisprudenz: Müller, F., Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 92 und öfter.

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unendlichen Totalität von Rechtstexten als Ziel aufgegeben. Diese sollen dadurch zur Totalität werden, dass die schon vor ihnen begründete Totalität des inneren Rechtssystems jede Einschreibung überwacht und als ideale Größe der Gerechtigkeit von der konkreten Einschreibung unabhängig ist.128 Man will die Verfügbarkeit der Rechtsordnung als Sinnganzes dadurch erreichen, dass man das Ganze auf ein Zentrum hin reduziert: Die Gerechtigkeit bzw. die Rechtsidee. Dieses Zentrum garantiere die Kohärenz des Systems und erlaube die Auslegung und Anwendung seiner Elemente im Innern einer Formtotalität als gerechte Lösung des Streitfalls.129

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Die traditionell normative Vorstellung des geschlossenen Textes ist auf dem Weg über die Buchreligionen tief in unserem Alltagsbewusstsein verankert. Aber das heißt nicht, dass sie in der Praxis einlösbar sei. Wenn man in einem Rechtsstreit von dogmatischen Inhalten über methodische Aussagen zu grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen gelangt, findet man dort kein festes Fundament. Man hat damit zwar eine Bewegung im diskursiven Netz des Rechts vollzogen, aber diese führt nicht von der Unsicherheit in die Gewissheit; eher im Gegenteil. In einer pluralistischen Gesellschaft sind die letzten Grundlagen besonders divergent und die diskursiven Vorkehrungen institutioneller Art laufen gerade darauf hinaus, diesen Streit zu vermeiden. Die Gerechtigkeitsvorstellungen liefern keinen letzten Horizont des rechtlichen Wissens, aus dem die Entscheidung konkreter Streitigkeiten deduziert werden könnte. Vielmehr liegt die Leistung des Rechts für die funktionale Differenzierung genau darin, auf dem Weg über die Trennung von Recht und Moral diese letzten Grundlagen aus konkreten Streitigkeiten herauszuhalten. Hinter diesen Stand geht es nicht zurück. Ein archimedischer Punkt, von dem aus man die Einheit des Rechts fixieren könnte, ist nicht verfügbar. Es bleibt für die Gerichte nur eine Fluchtlinie, auf der sie versuchen, Widersprüche in der Rechtsordnung zu vermeiden.

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222.1 Von der vertikalen zur horizontalen Systematik Ausgehend von der normativen Vorstellung des Buches ist die Rolle der Systematik folgendermaßen zu bestimmen: „Die systematische Auslegungsmethode bemüht sich, mittels der Einbeziehung des allgemeinen normativen und des speziel128 Vgl. zum Gedanken des Buches und seiner logozentrischen Implikationen: Derrida, J., Grammatologie, 1983, S. 35 und öfter. 129 Vgl. zu den hier angesprochenen strukturellen Problemen: Derrida, J., Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: ders., Die Schrift und die Differenz, 1976, S. 422 ff., 422 f.

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len Umfeldes des betreffenden Gesetzes von der Stellung der Norm im Regelungsgefüge auf ihren Inhalt zu schließen. Sie beinhaltet sowohl eine im Interesse der Einheit der Gemeinschaftsordnung130 gebotene Ausräumung von Normwidersprüchen als auch eine inhaltliche Anpassung der Norm in das innere System der Gemeinschaftsregelungen. Die auszulegende Norm ist dabei nicht nur im Zusammenhang mit den übrigen Gemeinschaftsnormen untereinander zu interpretieren, sondern bedarf ebenso eines Rückgriffs auf die dem Vertrag zugrundeliegenden Leitlinien wie Grundsätze und deren Präzisierung und Ausgestaltung. In dieser Hinsicht kann die systematische Methode nicht auf ein kontextural-figuratives Verständnis reduziert werden, vielmehr schließt sie Überlegungen über den inhaltlichen Anwendungsbereich der Norm innerhalb der dem Vertrag immanenten Werteordnung mit ein.“131 Dem EuGH wird hier also der Weg vom Textäußeren zu den inneren Werten des Rechts empfohlen. Er darf sich nicht damit begnügen, auf der äußerlichen Ebene Texte zu verknüpfen, sondern muss in die Tiefe vorstoßen. Deswegen verlangt die Literatur vom EuGH eine „vertikale Auslegung“.132 Es handelt sich dabei um eine Forderung, nicht um eine Beschreibung. Die Arbeitsweise des EuGH ist nämlich anders strukturiert: „Diese Untersuchungsebene kann plastisch als ,horizontale Betrachtungsweise‘ bezeichnet werden, in der aufgrund des Sinngehaltes und der Stellung einer Norm der Regelungsgehalt einer anderen Vorschrift abgeleitet wird, d. h. sich die angeführten Normen insoweit auf derselben Normstufe befinden.“133 Tatsächlich ist eine vertikale Arbeitsweise beim EuGH nur dann zu erkennen, wenn man die primärrechtskonforme Auslegung betrachtet. Hier gibt es aber eine Normenhierarchie, so dass eine vertikale Arbeitsweise von oben nach unten geboten ist. Außerhalb dieses speziellen Bereichs ist eine vertikale Arbeitsrichtung dagegen beim Gericht nicht erkennbar. Deswegen die Forderung: „Um auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze für die Interpretation nutzbar zu machen, muss nunmehr die Blickrichtung in die Tiefe gerichtet sein, um die Bedeutung der dem EG-Vertrag vorangestellten allgemeinen Zielbestimmungen auszuloten.“134 54

Natürlich nimmt der EuGH manchmal auch auf die allgemeinen Zielbestimmungen des Vertrages Bezug. Aber diese Zwecke sind nicht homogen und widerspruchsfrei. Zwischen der Wirtschaftsgemeinschaft und dem Europa der Bürger ist 130 Zum Versuch, im internationalen Recht eine angemessene Vorstellung von Einheit zu entwickeln unter Berücksichtigung von Fragmentierung vgl. den Sammelband Zimmermann, A. / Hofmann, R. (Hrsg.), Unity and Diversity in International Law, Berlin 2006. 131 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 177 unter Bezug auf Bleckmann, A., Die systematische Auslegung im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: ders., Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1986, S. 41 ff. 132 Bleckmann, A., Die systematische Auslegung im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: ders., Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1986, S. 41 ff., 44. 133 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 184. 134 Ebd., S. 184.

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durchaus ein Spannungsverhältnis erkennbar. Aber auch wenn der Gesetzgeber dieses mildern oder aufheben würde, könnten die Vertragszwecke den letzten stabilisierenden Kontext des rechtlichen Wissens nicht bieten. Die Gründe dafür sind prinzipieller Art. Sie liegen im Begriff des gesamten Kontexts: „Der gesamte Kontext jedoch ist weder prinzipiell noch in der Praxis beherrschbar. Bedeutung ist kontextgebunden, der Kontext jedoch ist unbegrenzt.“135 Die Unbegrenztheit des Kontextes erscheint zunächst kontraintuitiv, denn unser Blick ist fokussiert. Aber die Fokussierung erfolgt vor einem offenen Horizont, der gerade nicht zu fassen ist: „Der Kontext ist in einem doppelten Sinn unbegrenzt. Erstens steht jeder Kontext einer weitergehenden Beschreibung offen. Im Prinzip gibt es keine Begrenzung, was in einen gegebenen Kontext eingeführt werden oder sich als für die Performanz eines bestimmten Sprechakts als relevant erweisen könnte. Diese strukturale Offenheit des Kontextes ist für alle Disziplinen wesentlich: Der Wissenschaftler entdeckt Faktoren, die vorher als für das Verhalten gewisser Objekte nicht relevant galten; der Historiker bewertet bestimmte Ereignisse unter dem Aspekt neuer oder neu interpretierter Daten; der Literaturkritiker stellt eine Beziehung zwischen einer Passage und einem Text oder Kontext her, die diese in einem neuen Licht erscheinen lassen.“136 Gerade weil die Bedeutung vom Kontext bestimmt wird, ist sie für Veränderungen offen. Und es kommt noch ein zweiter Grund hinzu: „Der Kontext ist auch in einem anderen Sinne nicht beherrschbar: Jeder Versuch zur Kodifizierung des Kontexts kann auf den Kontext, den er beschreiben will, aufgepfropft werden und so einen neuen Kontext schaffen, der sich der vorherigen Formulierung entzieht. Versuche, Grenzen zu beschreiben, ermöglichen immer eine Verschiebung dieser Grenzen; so hat Wittgensteins Ausführung, dass man nicht ,Bu Bu Bu‘ sagen und damit ,wenn es nicht regnet, gehe ich spazieren‘ meinen kann, paradoxerweise die Möglichkeit geschaffen, genau dies zu tun.“137 Der Weg „in die Tiefe“ des Rechts mündet also ins Nirgendwo. Deswegen bleibt dem EuGH gar nichts anderes übrig, als die Rechtssätze horizontal zu vernetzen. Der Kontext einer Bedeutung muss immer neu beschrieben werden. Die Einheit des Rechts ist dabei kein fester Punkt, den man erreichen könnte. Sie liegt vielmehr auf der Fluchtlinie ständig neuer Beschreibungen. Diese Fluchtlinie ist auch nicht Gegenstand einfacher Beobachtung. Sie wird nur dann sichtbar, wenn man die Beobachter beobachtet. Das Heranziehen des Kontextes führt damit nicht zur Sinnmitte des Rechts, sondern in die Beobachtung zweiter Ordnung. Genau diese Konsequenz zeigt sich mit voller Deutlichkeit in der Praxis des EuGH. In der weit überwiegenden Anzahl der Entscheidungen besteht das systematische Argument im Verweis des Gerichts auf seine eigene Rechtsprechung.

135 136 137

Culler, J., Dekonstruktion, 1988, S. 137. Ebd., S. 137. Ebd., S. 138.

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222.2 Der Begriff der systematischen Interpretation 56

Der EuGH bestimmt den Begriff der systematischen Auslegung folgendermaßen: Ein Normtext ist „ausgehend vom gewöhnlichen Sinn der Begriffe in ihrem Kontext“ auszulegen.138 Oder auch „Bedeutung und Umfang“ von nicht im Gesetz definierten Begriffen sind „unter Berücksichtigung des allgemeinen Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und entsprechend dem Sinn, den sie nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch haben, zu bestimmen.“139 Meistens ist die Arbeit systematischen Konkretisierens dem Ziel der Schaffung einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung untergeordnet: Wenn der Wortlaut einer Bestimmung „in seinen verschiedenen sprachlichen Fassungen ( . . . ) zu widersprüchlich und mehrdeutig (ist), als daß sich aus ihm die Antwort auf die streitigen Fragen ergeben könnte“, so muss man nach Ansicht des EuGH „auf den Zusammenhang, in dem er steht, achten“.140 Die Systematik ist für den Gerichtshof sogar zentral: „Ihr herausragender Stellenwert dokumentiert sich darin, dass im Entscheidungszeitraum von 1988 bis 1992 nahezu 75% aller Urteile systematische Ausführungen beinhalten.“141 Auch der EuGH-Richter Kutscher geht davon aus, dass grammatische und historische Auslegung hinter der systematischen zurückbleiben. Zusammen mit der Teleologie stehe die Systematik „bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof derart im Vordergrund, daß es nahe liegt, insofern einen Umschlag von der Quantität in die Qualität anzunehmen.“142 Allerdings ist zu beachten, dass Systematik und Teleologie dabei dem Ziel der Schaffung einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung dienen und insoweit dem Wortlaut untergeordnet sind.

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Wie funktioniert der Einsatz der Systematik in der Praxis des EuGH? In der Mehrzahl der Fälle vollzieht sich diese Art der Konkretisierung als Beobachtung zweiter Ordnung. Das heißt, der EuGH fügt das neue Problem in eine Kette von Entscheidungen ein, die er zu dieser Frage schon getroffen hat: „Im Urteil vom 27. 09. 1988, das einen Streit hinsichtlich des Verständnisses von Art. 5 Nr. 3 des Gerichtsstandsübereinkommens (Begriff der ,unerlaubten Handlung‘) zum Inhalt hatte, begründete der Gerichtshof sein Auslegungsverständnis mit der bisher zu Art. 5 Nr. 1 ergangenen Judikatur.“143 Diese Beobachtung zweiter Ordnung wirft Vgl. EuGH, Slg. 1982, S. 1035 ff., 1048 (Levin). EuGH, Slg. 1988, S. 169 ff., 204 (Dänemark / Kommission). 140 EuGH, Slg. 1979, S. 245 ff., 278 (Niederlande / Kommission); ebenso EuGH, Slg. 1967, S. 293 ff., 300 (Bouchereau); EuGH, Slg. 1981, S. 2465 ff., 2478 (Anklagemyndigheden); EuGH, Slg. 1985, S. 1169 ff., 1182 (Kommission / Vereinigtes Königreich); EuGH, Slg. 1985, S. 1513 ff., 1592 (Parlament / Rat). 141 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 201. 142 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil l, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. 31. 138 139

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Legitimationsfragen auf, die bisher nur unter dem missverständlichen Titel des Präjudizes als Rechtsquelle thematisiert wurden. Erst wenn man sich klar macht, dass das Recht nicht Quellen entnommen, sondern unter einschränkenden Vorgaben vom Gericht geschaffen wird, kann man von der unzulänglichen Metaphysik der „Quellen“ wegkommen und operationale methodische Fragen erörtern. Dies ist hier eine Aufgabe für den späteren systematischen Teil. Jetzt soll zunächst nur festgehalten werden, dass sich in der systematischen Interpretation ein Übergang von der Beobachtung erster zur Beobachtung zweiter Ordnung praktisch schon vollzogen hat. Nur in den Bereichen, wo es noch keine ältere Rechtsprechung als Beobachtungsgegenstand gibt, verwendet der EuGH noch die klassischen textuellen Strategien. Auch sie bedürfen der Darstellung. Im Rahmen der überlieferten Prozeduren systematischer Textbearbeitung hat zunächst eine Abgrenzung zur grammatischen Auslegung zu erfolgen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die Einheit eines Textes keine semantische, sondern eine pragmatische Größe ist. Diese Einheit ist also nicht natürlich gegeben, sondern hängt von der jeweiligen Fragestellung des Interpreten ab. Gewiss liegt systematische Auslegung dann vor, wenn man von einem Normtext mit eigener amtlicher Nummerierung auf einen anderen übergreift. Aber sie kann auch innerhalb eines einzelnen Normtextes erfolgen, wenn in ihm verschiedene Regelungen enthalten sind; sogar innerhalb desselben Satzes, wenn dieser etwa Meinungs- und Pressefreiheit nebeneinander garantiert. Die Abgrenzung wird also durch die aus der Fragestellung folgende Sicht auf die fragliche Texteinheit bestimmt.

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Die Systematik als Verknüpfung von Texten würde auch die primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts, die völkerrechtskonforme Auslegung, die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation nationalen Rechts und sogar noch die rechtsvergleichende erfassen. Weil aber bei all diesen Methoden zur systematischen Textverknüpfung jeweils noch ein weiterer Aspekt in Form von Normenkontrolle oder gerichtlicher Normtexterzeugung hinzutritt, werden sie im vorliegenden Band getrennt dargestellt. Es bleiben damit hier nur die systematische Verknüpfung von Normen derselben Regelungsebene, bzw. auf verschiedener Regelungsebene, aber ohne normkontrollierenden Aspekt übrig.

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222.3 Strategien systematischer Interpretation Die systematische Auslegung verknüpft mindestens zwei Normtexte zu einem Argument. Auf der Textoberfläche wird dies durch Nennung der betroffenen Normtexte meist ersichtlich:144 „Dieses Allgemeininteresse ( . . . ) wird im Übrigen 143 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 177, unter Bezug auf EuGH, Slg. 1988, S. 5565 ff., 5584 f. (Kalfelis). 144 Manchmal wird das systematische Argument aber auch mit der Frage nach der praktischen Wirksamkeit einer anderen Regelung eingeleitet. Vgl. dazu EuGH, in: EuZW 2004, S. 350 ff.

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dadurch belegt, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie abweichend von Art. 3 Abs. 1 c vorsehen können ( . . . ).“145 Häufig ist auch schon die Richtung der Argumentation angedeutet: „Art. 16 der Verordnung Nr. 1408 / 71 ist eine Sonderregelung, die von der allgemeinen Regelung in Art. 13 Abs. 2 a der Verordnung abweicht.“146 Nachdem der Untersuchungsgegenstand damit nun feststeht, kann die Frage gestellt werden, welche Strategien der EuGH zur Textverknüpfung verwendet. 61

Eine grundlegende Form systematischer Auslegung, die auch der EuGH verwendet147, liegt darin, Widersprüche in der Bedeutungsfixierung zu vermeiden.148 Dabei kann die Berücksichtigung der Systematik häufig Widersprüche oder Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen Regelungen aufweisen, sie nicht immer lösen. Dazu bedarf es dann weiterer Argumente aus Entstehungsgeschichte, Zweck, usw.149 Trotzdem sind der Aufweis von Widersprüchen und der Hinweis auf die Notwendigkeit, sie zu vermeiden, die wichtigste Leistung der Systematik. Gemeinhin wird dieser Grundsatz als Beobachtung erster Ordnung formuliert: „Ihm zufolge haben gleichlautende Begriffe ein und derselben Rechtsordnung – mögen sie in einem engeren oder weiteren Textzusammenhang stehen – grundsätzlich auch den gleichen Inhalt.“150 Weil Texte eine Bedeutung aber nicht einfach „haben“, muss der Grundsatz für die Strukturierung des Materials durch den Beobachter formuliert werden. Das wird beim EuGH auch deutlich, wenn er sagt: „Diese Bestimmungen sind gleichlautend und müssen einheitlich ausgelegt werden, ohne dass es einer Unterscheidung zwischen Art. 9 des EGKS-Protokolls einerseits und Art. 9 der EWG- und EAG-Protokolle andererseits bedarf.“151 Im Gegenschluss hat man dann bei unterschiedlichen Formulierungen die Option unterschiedlicher Bedeutungszuweisung.152 Trotzdem gibt es die Möglichkeit, bei gleicher Formulierung unterschiedlich zu interpretieren, wenn dafür besondere Gründe sprechen. So lehnt es der EuGH ab, den Begriff „Sonderlasten“ in Art. 4 EGKSV 145 Vgl. EuGH, Slg. 1999, I, S. 2779 ff. (Windsurfing Chiemsee), Rn. 27; vgl. auch EuGH, Slg. 1999, I, S. 3499 ff. (Rechberger u. a.), Rn. 46: „Da nämlich eine Pflicht zur Ausdehnung des Schutzes auf Verträge ( . . . ) keine Grundlage in Art. 9 der Richtlinie findet ( . . . ), kann der in Art. 7 vorgesehene Schutz der Verbraucher nicht auf einen Zeitraum ausgedehnt werden, in dem die Garantieregelung noch nicht eingeführt sein musste.“ 146 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 3219 (Gómez Rivero), Rn. 22. 147 Vgl. etwa EuGH, Slg. 1965, S. 1 ff., 14 (Officine Elettro meccaniche); EuGH, Slg. 1992, S. 3423 ff., 3464 (Paletta). 148 Vgl. etwa zu den Voraussetzungen unter denen eine einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrecht zu erfolgen hat EuGH Rs. 133 / 99 Rn. 26. 149 Dies verkennt z. B. EuG, Urt. vom 30. 11. 2004 – T-168 / 02 – Internationaler Tierschutz-Fonds / Kommission. Hier wird die Lösung des Widerspruchs in die Systematik hineinprojiziert. Überzeugende Kritik bei Epiney, A., Neue Rechtsprechung des EuGH, in: NVwZ 2006, S. 407 ff., 409. 150 Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 78. 151 EuGH, Slg. 1963, S. 417 ff., 432. 152 EuGH, Slg. 1981, S. 2781 ff., 2794 (Analog Devices).

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gleichbedeutend mit den Worten „besondere Lasten“ in Art. 67 § 3 EGKSV aufzufassen, weil Widersprüche im weiteren Textzusammenhang gegen eine solche Verständnisweise sprechen.153 Oder er unterscheidet den Begriff „Organe“ in Art. 215 EWGV von dem Begriff „Organe“ in Art. 4 Abs. 1 EWGV.154 Auch „höhere Gewalt“ soll in unterschiedlichen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts keinen identischen Inhalt haben.155 In den nationalen Rechtsordnungen ist diese Strategie als funktionsdifferente Auslegung bekannt. Sie bestätigt wiederum, dass die Einheit der Rechtssprache eben kein Gegenstand der Beobachtung ist, sondern nur als Anforderung an die Aktivität der Gerichte gelten kann. Immer dann, wenn es gewichtige Gegengründe gibt, ist das Ziel der Einheitlichkeit zu suspendieren. Eine andere Arbeitsmethode des Gerichts liegt darin, aus der Stellung einer Regelung innerhalb eines bestimmten Kapitels Konsequenzen abzuleiten. 156 Zur Profilierung des Regelungsumfangs kommen aber nicht nur benachbarte Vorschriften in Betracht, sondern es können auch weiter entfernt liegende Normtexte Ansatzpunkte bieten.157 Die hierbei leitende Vermutung lässt sich etwa folgendermaßen formulieren: „Die Norm A darf daher nicht so ausgelegt werden, dass sie auch nur teilweise mit dem Sachverhalt übereinstimmt, der von der Vergleichsnorm B geregelt wird. Aus dem Inhalt der Norm B kann somit negativ auf den Inhalt der Norm A geschlossen werden und umgekehrt. Das Ideal besteht bei dieser Form der Anwendung der systematischen Auslegungsmethode darin, den Inhalt der Norm A mit präzisen Begriffen zu umreißen, die den gesamten Inhalt der Norm umfassen, aber nicht in die Regelungsmaterie der Norm B hinübergreifen.“158 Wichtig ist diese Strategie bei der Wahl von Rechtsgrundlagen für eine Maßnahme. Der Gerichtshof hat hierfür den Grundsatz aufgestellt, die Heranziehung der Rechtsgrundlage müsse auf objektiven und gerichtlich nachprüfbaren Umständen beruhen. Ein Bezug auf mehrere Grundlagen müsse die Ausnahme bleiben und komme dann nicht in Betracht, wenn das jeweilige Rechtsetzungsverfahren verschiedene Ratsmehrheiten voraussetze.159 Auch wenn eine Rechtsgrundlage Harmonisierungen EuGH, Slg. 1961, S. 1 ff., 45 (De Gezamen lijke Stehen kolenmijnen). EuGH, Slg. 1992, S. 6211 ff., 6248 (Sgeem und Etroy). 155 EuGH, Slg. 1993, S. 5061 ff., 5091 (An Bord Bainne und Inter-Agra). 156 Vgl. etwa EuGH, Slg. 1964, S. 1251 ff., 1275 (Costa / ENEL); EuGH, Slg. 1976, S. 91 ff., 100 (Manghera). 157 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1969, S. 193 ff., 201 (Kommission / Italienische Republik); EuGH, Slg. 1971, S. 69 ff., 81 (Sirena). 158 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 178; vgl. etwa EuGH Rs. 159 / 00 Rn. 26 ff. 159 EuGH, Urteil vom 29. 04. 2004 – C-38 / 01 – Kommission / Rat. Vgl. dazu auch EuGH, in: EuZW 2004, S. 660 ff. = EWS 2004, S. 479 ff. – Spanien und Finnland / Europaparlament und Rat: Unbegründetheit der Nichtigkeitsklage gegen eine Richtlinie, Zulässigkeit der Heranziehung des Art. 71, 137.2 EG wegen des parallelen Rechtsetzungsverfahrens. Vgl. zu diesem Kontext auch Tabakrichtlinie: EuGH, in: EuZW 2005, S. 147 ff. = EWS 2005, S. 36 ff. – Arnold André (Art. 95 EG als richtige Rechtsgrundlage, Verhältnismäßigkeit, Begründungsgebot und Art. 28 EG) sowie EuGH, in: EWS 2005, S. 40 ff. – Swedish Match AB. Zur 153 154

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2 Stand der Methodik – 22 Systematik

ausschließt oder nur Mindestregeln zulässt, führt eine Kombination mit einer weiteren Grundlage die Gefahr der Umgehung mit sich. Genauso gilt dies, wenn die Möglichkeit nationaler Alleingänge unterschiedlich nach Rechtsgrundlagen ausgestaltet ist. Dieselbe Argumentationsstrategie im Rahmen der Systematik verwendet der EuGH auch, um den Anwendungsbereich der Vertragsverletzungsklage von der Nichtigkeitsklage abzugrenzen. Vertragsverletzungsklagen sind unzulässig, wenn die Vertragsverletzung davon abhängt, dass eine Bestimmung des Sekundärrechts rechtswidrig ist. Diesen Umstand hätten privilegierte Klagebefugte wie die Kommission nach Art. 230 EG anfechten können. Die inzidente Normkontrolle nach Art. 241 EG kommt damit im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EG nicht zum Zuge, weil die privilegierten Klagebefugten diese Möglichkeit vorher nicht wahrgenommen haben. Hierher gehört auch das Verhältnis von Grundfreiheiten und Grundrechten der Gemeinschaft. Man kann die Beziehung dieser beiden Regelungsgruppen nicht im Weg einer globalen Abwägung bestimmen. Erst wenn man die tatbestandlichen Beziehungen genau entfaltet hat, kann man daran gehen, die Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken – Schranken der Grundfreiheiten näher zu bestimmen.160 Schließlich kann man im Sekundärrecht Durchführungsverordnungen in Übereinstimmung mit den dazugehörigen Grundverordnungen konkretisieren.161 Weitere Strategien der systematischen Auslegung hängen von den rechtlichen Vorgaben für das Gericht ab. So kann man im Einzugsbereich der Grundrechte von mehreren möglichen Interpretationen die am wenigsten belastende wählen.162 Auch der Grundsatz einer engen Auslegung von Ausnahmevorschriften wird vom EuGH nur dort verwendet, wo ein Zusatzargument im Rahmen einer vorgängigen systematischen Analyse dies fordert.163 63

Natürlich gibt es auch Defizite in der Verwendung der systematischen Auslegung. Ein Beispiel dafür ist die bisherige Rechtsprechung zum Subsidiaritätsgrundsatz des Art. 5 Abs. 2 EG. Der EuGH schließt hier aus der Ermächtigung der Möglichkeit, mehrere Rechtsgrundlagen heranzuziehen, wenn mehrere untrennbar verknüpfte Ziele verfolgt werden, ohne dass eine interne Hierarchie vorliegt, vgl. EuGH, Slg. 2002, I-12049, Rn. 35; ergänzend dazu EuGH, Slg. 2002, I-11453, Rnn. 108 f. – British American Tobacco: eine Doppelabstützung dürfe nicht dazu führen, dass der „Wesenskern“ des jeweiligen Rechtsetzungsverfahrens beeinträchtigt wird. 160 Vgl. dazu Schultz, A., Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV, 2005, S. 104 ff. 161 EuGH, Slg. 1973, S. 15 ff., 22 (Gesellschaft für Getreidehandel); EuGH, Slg. 1972 S. 1 ff., 12 (Westzucker); EuGH, Slg. 1971, S. 145 ff., 154 (Tradax). 162 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1969, S. 419 ff., 425 (Stauder), EuGH, Slg. 1978, S. 169 ff., 179 (Lührs); EuGH, Slg. 1988, S. 169 ff., 206 (Dänemark / Kommission). 163 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1989, S. 2763 ff., 2781 (Henriksen); EuGH, Slg. 1985, S. 207 ff., 245 (Piraiki-Patraiki); EuGH, Slg. 1984, S. 2027 ff., 2033 (Kommission / Griechenland); EuGH, Slg. 1975, S. 297 ff., 307 (Bonsignore); EuGH, Slg. 1991, S. 2925 ff., 2960 (Ert); EuGH, Slg. 1986, S. 1651 ff., 1686 (Johnston); EuGH, Slg. 1992, S. 5973 ff., 6013 (Kommission / Deutschland); EuGH Rs. 287 / 00 Rn. 47 ff.

222 Die offene Systematik in der Praxis des EuGH

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Gemeinschaft zur Harmonisierung in einem bestimmten Bereich auf die Notwendigkeit eines gemeinschaftsweiten Vorgehens.164 Damit wird ein Automatismus etabliert, der die Systematik nicht ausschöpft. Eine Harmonisierung könnte nämlich auch durch ein Handeln der Mitgliedstaaten erreicht werden. Erst wenn dies ausgeschlossen ist, darf man das Argument als gesättigt betrachten. Man kann dies an der Formulierung des Generalanwalts Léger erkennen: „Da ein Ziel der Harmonisierung vorgegeben ist, können die vom Rat ergriffenen Maßnahmen zur Erreichung dieses Zieles schwerlich als eine Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes kritisiert werden.“165 Hinter dem Wort „schwerlich“ verbirgt sich die Leerstelle des fehlenden Arguments und dies lässt das Subsidiaritätskriterium leer laufen.166 Ein Prozess der Aushöhlung des Kriteriums zeigt sich auch, wenn der EuGH aus einem von der Kompetenznorm geforderten hohen Schutzniveau und der Uneinheitlichkeit nationaler Regelungen auf die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Regelung schließt. Damit wird die Möglichkeit nationaler Alleingänge zu Gunsten höherer Schutzstandards in allen Optimierungsbereichen ausgeschlossen. Das wäre eine Folgerung, die der EuGH als explizite nicht akzeptieren könnte. Deswegen greift auch hier seine Argumentation zu kurz. In diesem Bereich ist zu hoffen, dass eine Verdichtung der Judikate und ihre interne Vernetzung zu einer Präzisierung der Begründungsstruktur in einer genaueren Analyse der Systematik führt. Das in der Verfassung geplante Klagerecht der nationalen Parlamente bezüglich der Subsidiarität könnte diesen Vorgang beschleunigen.Insgesamt verwendet der EuGH die systematische Interpretation als horizontale Vernetzung von Rechtstexten. Eine vertikale Auslegung von einer im Material angeblich zu beobachtenden Einheit der Rechtsordnung her findet sich bei ihm gerade nicht. Zwar kommt das Wort „Gesamtsystematik“ in Urteilen des Gerichtshofs gelegentlich vor.167 Aber auch unter diesem Titel findet man nicht den Versuch einer alternativlosen Formulierung der Einheit des Rechts. Schon die Komplexität des Gemeinschaftsrechts schützt vor einer derartigen Verdinglichung. Man findet unter diesem Stichwort vielmehr immer nur Abgrenzungen der Rolle von verschiedenen Titeln innerhalb eines Vertrages, also eine legitime und auch notwendige Strategie. Damit zeigt sich auch im Bereich der systematischen Konkretisierung, dass der EuGH in seiner praktischen Arbeit über den engen Rahmen des herkömmlichen Rechtserkenntnismodells hinausgeht. Allerdings wirft der Übergang von der Systematik erster Ordnung zur Systematik zweiter Ordnung Legitimitätsfragen auf, die im dritten Teil dieses Bandes zu diskutieren sind. 164 Vgl. dazu RS. C-377 / 98, C-491 / 01, C-103 / 01 und C-154 und 155 / 04. Diese Entscheidungen sind jeweils auf Art. 95 EG gestützt. Rechtsgrundlage der Richtlinie in RS. C-84 / 94 ist Art. 118a EG. Ausnahme: Die Verordnung in RS. C-242 / 99 basiert auf Art. 42 EG. 165 EuGH, RS. C-84 / 94, Rn. 129 f. Vgl. dazu auch Calliess, Ch., Urteilsanmerkung zu EuGH, RS. C-84 / 94, in: EuZW 1996, S. 757 ff. 166 Vgl. dazu Calliess, Ch., Urteilsanmerkung zu EuGH, RS. C-84 / 94, in: EuZW 1996, S. 757 ff., 758. 167 Vgl. EuGH, Slg. 1974, S. 359 ff., 369 (Kommission / Französische Republik).

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2 Stand der Methodik – 23 Geschichte

23 Geschichte: Von der Willensmetapher zur Argumentform 64

Historische und genetische Elemente sind jeweils Anleitungen zum Bilden von „Links“ im Hypertext des Rechts. Aber sie führen in unterschiedliche Kontexte. Historische Konkretisierung leitet hin zu Vorläufernormen, genetische Konkretisierung in die Materialien.168 Beide werden hier in demselben Abschnitt dargestellt, weil ihnen im Verhältnis zu den anderen Canones im Gemeinschaftsrecht ein geringeres Gewicht zukommt.169

231 Genetische Konkretisierung und Willensmetaphysik

In seiner Praxis geht der EuGH davon aus, dass der Stellenwert der genetischen Konkretisierung von den methodenbezogenen Normen bestimmt wird. Diese entnimmt er dem Gemeinschaftsrecht und nur bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge dem Völkerrecht.170

231.1 Subjektive Lehre und „droit diplomatique“ 65

Die subjektive Auslegungslehre könnte geeignet sein, den grundlegenden Doppelcharakter des Gemeinschaftsrechts zu erfassen, welcher darin besteht, dass es 168 Die Unterscheidung beider Elemente wird in der europarechtlichen Literatur meist übersehen, weil man das Recht nicht als Hypertext wahrnimmt, sondern von einer seit langem überholten Willensmethaphysik ausgeht. Vgl. dazu Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 23 ff., 136 ff.; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 246 ff.; Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 143 ff. 169 Insoweit besteht in der Methodenliteratur zum Gemeinschaftsrecht weitgehend Einigkeit. Vgl. dazu Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnungen von Justiz und Hochschule, Teil I, hrsg. vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. 23; ders., Über den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, in: EuR 1981, S. 392 ff., 393; Plender, R., The interpretation of Community acts by reference to the intentions of the authors, in: Yearbook of European Law 1982, S. 57 ff., 102; Bredimas, A., Methods of Interpretation and Community Law, 1978, S. 64; Ewert, H. A., Der Beitrag des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Entwicklung eines Europäischen Sozialrechts, 1987, S. 54; Blank, J., Europäische Fusionskontrolle im Rahmen der Art. 85, 86 des EWG-Vertrages, 1991, S. 97; Streil, J., Das Verfahren vor dem EuGH: Direkte Klagen: Vertragsverletzungsverfahren: Allgemeines, in: Beutler, B. / Bieber, R. / Pipkorn, J. / Streil, J., Die Europäische Union, 1993 (4. Aufl.), S. 247; Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 142; Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 151; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 262. 170 In der Literatur wird gefordert, der EuGH müsse bei der Auslegung des noch nicht vergemeinschafteten Teils des Vertragsrechts völkerrechtliche Methoden anwenden. Vgl. dazu Pechstein, M. / Drechsler, C., Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 91 ff., 107 ff.

231 Genetische Konkretisierung und Willensmetaphysik

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einerseits diplomatisches Recht zwischen den Staaten und andererseits die Verfassung einer Gemeinschaft im Werden ist: „Si la première caractéristique du droit communautaire, le plurilinguisme que l’on vient d’évoquer, n’est nullement unique parmi les systèmes juridiques éxistants, sa deuxième particularité le distingue nettement des autres législations multilingues. C’est qu’il se présente comme «droit diplomatique». Soit dit dès à présent que cela ne veut pas dire qu’il est nécéssairement créé par des diplomates. Le concept est fort bien décrit par le Conseil d’État français dans son Rapport public 1992, spécialement consacré au droit des Communautés européennes (Études & Documents No 44). On y lit: « . . . le droit européen est un droit diplomatique. La législation est issue de longues et lentes négociations entre États souverains, et, comme on sait, un traité ne vaut que par les arrièrepensées de ses signataires»“171 Wenn dieser Doppelcharakter des Gemeinschaftsrechts als diplomatisches Recht und Verfassungsrecht einer Gemeinschaft bei der Formulierung der Gesetze in der jeweiligen Nationalsprache eine wichtige Rolle spielt, muss das auch in der Auslegungspraxis der europäischen Gerichte berücksichtigt werden. In der europarechtlichen Literatur wird dazu die Meinung vertreten, einzig die subjektive Auslegungslehre sei in der Lage, diese Aufgabe zu lösen. Sie verwendet die genetische Konkretisierung, um den Willen des Autors zu bestimmen: „Vermittels dieser Methode erforscht der Auslegende den wahren Willen des historischen Vertragsoder Gesetzgebers, bemüht sich also um eine möglichst genaue Kenntnis dessen, was die Schöpfer mit dem Erlass der Norm erreichen wollten.“172 Die Bedeutung des Textes wird dann mit dem Willen des Gesetzgebers gleichgesetzt: 173 Normen gelten hier als Willensausdruck eines gebietenden Subjekts. Entscheidend soll die Feststellung sein, welchen besonderen Sinn eine historisch bestimmte Personengruppe mit den gewählten Worten verbunden hat. Die Vorstellungen, Absichten und Wertorientierungen dieser Personen sind möglichst genau zu ermitteln174: „Zu betonen ist, daß nach der hier vertretenen Meinung bei der Auslegung von Rechtsvorschriften auf den historischen Willen abzustellen ist. Demnach muß ein Rechtsetzer jenen Sinngehalt gegen sich gelten lassen, der seiner Äußerung nach Maßgabe von Kommunikationsregeln zu ihrem Entstehungszeitpunkt beizumessen ist. Die Festlegung auf die Ermittlung des historischen Willens wird schon durch das Verständnis von Rechtsnormen als durch Kommunikationsregeln zum Ausdruck gebrachte Willenserklärungen nahegelegt. Denn nur die zum Entstehungszeitpunkt 171 Gallas, T., La rédaction Législative multiliugue duns L’Union européenne: bilan et perspectives, in LeGes 2001 / 3, S. 115 ff., 117. 172 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 247. 173 Vgl. zur Kritik an der Ermittlung eines psychologischen Willens des Gesetzgebers und entsprechender Beweiserhebung: Gropp, M., Die Rechtsfortbildung contra legem – Ein Beitrag zur rechtstheoretischen Erforschung der Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung im Privatrecht, 1974, S. 75; Clauss, K., Zum Begriff der Unklarheit, in: JZ 1960, S. 306 ff., 308, Fn. 29. 174 Vgl. dazu Honsell, Th., Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 172 f., m. w. N.

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2 Stand der Methodik – 23 Geschichte

maßgeblichen Umstände können einem Rechtsetzer bei der Erklärung seines Willens als von ihm berücksichtigt zugesonnen werden. In Systemen grundsätzlich abänderbarer Normen – wie dem Gemeinschaftsrecht und der österreichischen Rechtsordnung – spricht außerdem für ein Abstellen auf den ,historischen Wille‘, daß die Aufhebung und Änderung von Rechtsvorschriften grundsätzlich den dafür zuständigen Rechtsetzungsorganen vorbehalten ist. Sofern diese Organe keine Änderung der Rechtslage vornehmen, ist darin ein Einverständnis mit dem Willen und den Wertungen des historischen Gesetzgebers zu sehen.“175 231.2 Rechtsnorm als Willensausdruck Aber kann man wirklich die Bedeutung eines Textes mit dem Willen seines Autors gleichsetzen? 67

Bei der Vorstellung, hinter dem Gesetz stehe ein formierender Wille, den der Normtext erst nachträglich verkörpert, wird die Sprache auf ein bloßes Ausdrucksmedium ohne Eigengewicht reduziert.176 Wenn man dieses vom Repräsentationsgedanken behauptete Modell eines vorausdrücklichen Willens und seiner nachträglichen Verkörperung ernst nimmt, muss man die Frage stellen, welche Seite bei dieser Verknüpfung die eigentlich formierende ist. Diese Frage betrifft das grundlegende Problem einer Lehre, nach der die Textbedeutung durch die Absicht des Textproduzenten festgelegt wird. Eine Absicht ist immer etwas Bestimmtes, und eine bestimmte Absicht kann man nur im Rahmen einer bestimmten Sprache haben.177 Das heißt, dass die Absicht nicht vom Sprachsystem unabhängig ist, sondern sich in dieses einschreibt.178 Daher kann man nicht von einer vorausdrücklichen Intention auf die Bedeutung des Textes schließen, sondern nur umgekehrt von der Bedeutung eines Textes zurück auf die Intention.179 Die Bedeutung eines Textes kommt nicht, wie die subjektive Auslegungslehre es voraussetzt, so zustande, dass der Textproduzent irgendwelche bedeutungsverleihenden Akte ausführt, sondern die Intentionalität des Textproduzenten muss an ein bestimmtes System 175 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 26 f., m. w. N. 176 Vgl. zur Kritik an dieser Reduktion: Derrida, J., Die Stimme und das Phänomen, 1979, S. 79 ff.; vgl. weiterhin Lyotard, J.-F., Der Widerstreit, 1987, S. 229 (Nr. 188). 177 Vgl. dazu Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, 1984, Randbemerkungen unter § 38. Auch §§ 337 ff., 358. Zusammenfassende Darstellung bei Savigny, E. v., Die Philosophie der normalen Sprache, 2. Aufl., 1980, S. 36 ff. Kurze Darstellung der sprachphilosophischen Kritik am sinnkonstitutiven Subjekt auch bei Wellmer, A., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 1985, S. 48 ff., 77 ff. 178 Vgl. dazu Derrida, J., Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff., 150. 179 Vgl. dazu auch Frank, M., Das individuelle Allgemeine, 1985, S. 251 ff., wo am Beispiel der Position Hirschs gezeigt wird, dass der Rekurs auf „authorial meaning“ keineswegs auf die Individualität des Autors zurückführt.

231 Genetische Konkretisierung und Willensmetaphysik

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sprachlicher Bedeutungen180 anknüpfen. Aus diesem Grund kann der gesetzgeberische oder auktoriale Wille nicht als archimedischer Punkt außerhalb der Sprache angesehen werden, welcher gegenüber der Vielfalt der Interpretationen den identischen Textsinn wahrt.181 Der vorausdrückliche Wille kann sich mit dem Normtext nur nach Maßgabe einer Ordnung verknüpfen. Diese Ordnung muss als Struktur formulierbar sein und ist damit auf Bedeutung und Sprache verwiesen.182 Damit kommt die angeblich äußerliche sprachliche Form der vorgeblich reinen Innerlichkeit des Willens zuvor. Wittgenstein hat dementsprechend an verschiedenen Sprachspielen gezeigt, dass es nicht möglich ist, Meinen oder Wollen als sprachunabhängigen Akt zu vollziehen.183 Das Wollen ist kein privater Akt reiner Innerlichkeit, sondern wird Subjekten im Kommunikationsprozess aufgrund bestimmter Kriterien zugeschrieben, die ihrerseits ein Sprachspiel eigener Art darstellen.184 Als Ursprung seines Ausdrucks kommt der Wille immer zu spät. Tatsächlich hat die auktoriale Intention nie einen rein individuellen Status, sondern kann nur einer sprachlichen Konvention folgend formuliert werden, deren Kontext sie nie vollständig überblickt.

231.3 Verschwinden und Wiederkehr des Autors Die Technik der Auslegung will eine Hierarchie zwischen dem Gesetz und Urteil als abgeleitetem Text herstellen. Danach soll der Richter nicht seinen Willen an die Stelle des Willens des Gesetzgebers setzen. Nun ist aber jedes Lesen eine Sinnverschiebung. Denn der Leser versteht den Text meist aus einer völlig neuen bzw. anderen Lebenssituation heraus; oder wie man neuerdings formuliert: Er propft den Text auf einen neuen Kontext auf. Verhindern lässt sich diese Produktivität des Lesens nicht. Das ist heute unumstritten. Aber vielleicht lässt sie sich erschweren, bremsen oder in ihrer Gewalt, die sie dem Text antut, teilen und kontrollieren. Als Bremsklötze für die Geschwindigkeit der Sinnvermehrung kommen drei Instanzen in Frage: Der Autor, der Text und der Vorgang des Lesens. Der heutige Ansatz liegt beim Leser. Die Bezeichnungen dafür sind verschieden: Rezeptions180 Vgl. zu diesem Problem die grundlegende Auseinandersetzung Derridas mit Husserl: Derrida, J., Die Stimme und das Phänomen, 1979, S. 54 f. und öfter. 181 Vgl. dazu auch Frank, M., Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 25 ff. 182 Vgl. als knappe Darstellung der bei Derrida, J., Die Stimme und das Phänomen, 1979, entwickelten Kritik: Frank, M., Was ist Neostrukturalismus?, 1983, insbes. S. 288 ff. Dort auch die Parallelisierung der Position Derridas zur sprachanalytischen Position Tugendhats im Hinblick auf die Kritik an einem vorsprachlichen Bewusstsein. 183 Vgl. dazu Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, 1984, § 552, § 665. Vgl. auch zur Grammatik von „Meinen“, „Wollen“ u. ä. §§ 36, 540, 661, 693. Vgl. dazu auch Busse, D., Historische Semantik, 1987, S. 119 ff. 184 Vgl. dazu Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 22 mit Verweis auf Wittgenstein.

5 Müller / Christensen

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2 Stand der Methodik – 23 Geschichte

ästhetik, reader orientated criticism oder Konstruktivismus. Man kommt damit auf eine Wahrheit zurück, die schon Lichtenberg formulierte, wenn er das Lesen als Picknick bezeichnete, zu dem der Autor die Wörter und der Leser die Bedeutung beisteuert. Wenn man den Vorgang des Lesens so ins Zentrum rückt, heißt das natürlich nicht, dass Autor und Text verschwinden. Sie treten nur als Ursprung bzw. Gegenstand der Bindung des Lesers zurück. Sie tauchen aber als Widerstände für dessen Konstruktionen wieder auf. Denn der Leser ist bei der Konstruktion der Bedeutung nicht frei. Er wird in seiner Lesetechnik durch seine Ausbildung und die jeweilige Kultur formiert. Mitreden über die Bedeutung darf er erst als „projektierter Leser“, „informierter Leser“, „Modell-Leser“, „Superleser“, usw. Um mitreden zu können, muss er die Materialien kennen. 69

Die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts vom Völkerrecht über diplomatisches Recht zum normalen Staatsrecht185 kann durch eine subjektive Auslegungslehre nicht verhindert werden. Die Materialien sind und bleiben ein wichtiger Bezugspunkt der Auslegung. Aber sie können die Entwicklung einer Rechtsordnung nicht auf dem Stand dessen einfrieren, was man in den Willen ihrer Autoren hineinlegen will. Dadurch, dass die Materialien zwar wichtig, aber eben nicht allein bestimmend sind, kann der EuGH zwischen dem, was diplomatisch möglich ist und der Dynamik einer Entwicklung zum normalen Verfassungsrecht praktische Kompromisse finden.

232 Historische und genetische Konkretisierung in der Praxis des EuGH

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In der Rechtsprechung des EuGH sind genetische und historische Konkretisierung klar voneinander geschieden.186 Deren Vermischung in der europarechtlichen Literatur187 liegt an der herkömmlichen Willenstheorie, welche das Gericht jedenfalls in seiner Praxis nicht teilt.

185 Vgl. dazu grundlegend Haltern, U., Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, in: Verwaltungsarchiv 2005, S. 311 ff.; ders., Integration Through Law, in: Wiener, A. / Diez, T. (Hrsg.), European Integration Theory, 2004, S. 177 ff., 182; ders., Integration durch Recht, in: Bieling, H. J. / Lerch, K. (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 2005, S. 399 ff. Die Gründe, warum die nationalen Gerichte mit dem EuGH kooperiert haben, untersucht Alter, K., Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence: A Critical Evaluation of Theories of Legal Integration, in: Slaughter, A.-M. / Sweete, A. S. / Weiler, J. (Hrsg.), The European Court and National Courts – Doctrine and Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, 2001, S. 227 ff. Zur dynamischen Fortentwicklung satzungsmäßiger Kompetenznorm durch die Organe völkerrechtlicher Organisationen allgemein vgl. Aston, J. D., Sekundärgesetzgebung internationaler Organisationen zwischen mitgliedstaatlicher Souveränität und Gemeinschaftsdisziplin, 2005, S. 180 ff. 186 EuGH, Rs 292 / 99, Rn. 42 f. Hier verweist der Gerichtshof mit dem „historischen Zusammenhang“ auf die ursprüngliche Fassung der Vorgängerrichtlinie. 187 Wegener, B., Art. 220, in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Rn. 12.

232 Historische und genetische Konkretisierung in der Praxis des EuGH

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232.1 Historische Konkretisierung Die historische Konkretisierung von Vorläufernormen spielt im jungen Gemeinschaftsrecht naturgemäß eine geringe Rolle. Allerdings werden ihre Möglichkeiten mit der Zeit zunehmen. Wenn im argumentativen Relevanzhorizont Vorläuferbestimmungen ersichtlich sind, zieht sie der EuGH zu Auslegungszwecken heran: „Um die Bedeutung dieser Bestimmung festzustellen, ist sie mit dem vormaligen Art. 106 EWG-Vertrag (später Art. 73 h Abs. 1 EG-Vertrag ( . . . )) zu vergleichen, den sie ersetzt.“188 Dort, wo sich die Möglichkeit historischer Konkretisierung bietet, wendet der EuGH Argumentationsmuster an, die aus der nationalen Methodenkultur bekannt sind. Im Sekundärrecht wird die historische Konkretisierung möglich, wenn Vorgängerverordnungen oder Richtlinien existieren.189 „Der Begriff des Schutzgebietes wurde nämlich durch die Richtlinie 91 / 683 in die Richtlinie 77 / 93 eingefügt, und im Anschluss an diese Änderung wurde durch die Richtlinie 92 / 76 eine Liste der Gebiete aufgestellt, die als Schutzgebiete i.S.d. Art. 2 Abs. 1 h der Richtlinie 77 / 93 anerkannt wurden. Das Einfuhrverbot nach Anhang III Teil B der Richtlinie 77 / 93 hängt somit unmittelbar von der Anerkennung eines Schutzgebietes auf Grund der Richtlinie 92 / 76 ab.“190 Die anzuwendende Verordnung oder Richtlinie erweitert oftmals frühere Regelungen. Häufig wird die Vorgängerregelung im Bereich von Richtlinien durch die nachfolgende aber auch verändert und ergänzt. Diese vor allem im Sekundärrecht zu beobachtende Entwicklung ist eine Quelle von zusätzlichen Argumenten. Dabei interpretiert der EuGH eine neue Bestimmung so, dass die Kontinuität der Rechtsstruktur gewahrt wird. Das heißt, wenn die anderen Konkretisierungselemente mehrere Möglichkeiten eröffnen, ist der Lesart der Vorzug einzuräumen, welche den Zusammenhang am besten gewährleistet.191 Wenn aber der Normtext vom Gesetzgeber verändert wird, dann ist die Kontinuitätsregel suspendiert und es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass diese Veränderung zu einer neuen Lesart führen muss.192 So führt der EuGH zur Frage des Entzugs einer Trennungszulage für EGBeamte folgende Argumentation ins Feld: „Schon die Tatsache, daß vorliegend das Wort ,Umkreis‘ durch das Wort ,Entfernung‘ ersetzt worden ist, läßt einwandfrei erkennen, daß die Verfasser des Textes von dem Begriff der ,Luftlinie‘ (der in dem Wort ,Umkreis‘ klar zum Ausdruck kam) abgehen und demgegenüber den Begriff der (Straßen- oder Schienen-)Strecke einführen wollten.“193

EuGH, Slg. 1999, I, S. 3845 ff. (ED), Rn. 16. Vgl. Lutter, M., Die Auslegung angeglichenen Rechts, in: JZ 1992, S. 593 ff., 599; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 255. 190 EuGH, Slg. 1999, I, S. 439 ff. (Battital), Rn. 34. 191 EuGH, Slg. 1969, S. 43 ff., 51 (Klomp). 192 Vgl. Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 138 f. 193 EuGH, Slg. 1961, S. 239 ff., 261 f. (Simon). 188 189

5*

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2 Stand der Methodik – 23 Geschichte

232.2 Genetische Konkretisierung im Primärrecht 72

Die Texte des Gemeinschaftsrechts unterliegen einer mehrsprachigen Redaktion.194 Diese liefert für die genetische Auslegung zunächst einmal eine größere Fülle von Material, damit aber auch den Ansatzpunkt für mehr Lesarten. Die Frage, ob darin für die Rechtsarbeit eine Last oder ein Gewinn liegt, wird in der Literatur folgendermaßen beantwortet: „Mehrsprachigkeit ist beides: Last und Gewinn. Die Frage ruft nach einer differnzierten Antwort, wobei an der Tagung selbst die Meinung dominierte, die mehrsprachige Gesetzesredaktion sei – über ihre staatspolitische Bedeutung hinaus – für die Gesetzgebungsarbeit insgesamt ein Gewinn: Sie führt dazu, dass der Formulierung von Erlasstexten generell mehr Beachtung geschenkt wird, und hilft, inhaltliche Unklarheiten und Inkongruenzen rechtzeitig zu entdecken. Anderseits kann sie aber auch zusätzliche und mindestens zum Teil willkommene Auslegungsmöglichkeiten schaffen.“195

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Bei der genetischen Konkretisierung ist für die Häufigkeit des Befunds dagegen zwischen dem Primär- und dem Sekundärrecht zu unterscheiden. Im Primärrecht ist zu berücksichtigen, dass die Vorarbeiten zu den Verträgen, soweit überhaupt vorhanden, nicht alle veröffentlicht sind und damit unter dem Gesichtspunkt eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht verwertet werden können.196 Aber es gibt von den jeweiligen Regierungen amtliche Erklärungen, die im Ratifikationsverfahren den Parlamenten vorgelegt wurden. Die Heranziehung dieser Materialien wird in der Literatur als Möglichkeit gefordert,197 um über eine sachliche Kongruenz dieser Erklärungen zu einem einheitlichen Verständnis der Vertragsschließenden zu gelangen. Dementsprechend hat ein Generalanwalt angesichts des Fehlens sonstiger Materialien auf diese Erklärungen Zugriff genommen: Man könne darin die gemeinsame Lesart der Vertragsparteien erkennen, denn es könne einer Regierung 194 Vgl. dazu Gallas, T., La rédaction législative multilingue dans l’Union européenne: bilan et perspectives in: LeGes 2001 / 3 S. 115 ff.; Allgemein zu den Schwierigkeiten aber auch großen Vorteilen einer mehrsprachigen Gesetzesredaktion: Caussignac, G., La rédaction législative bilingue dans le canton de Berne, in: ebd., S. 59 ff., Loertscher, D., La rédaction législative plurilingue dans le canton de Fribourg, in ebd., S. 77 ff., Frizzoni, W., Die mehrsprachige Gesetzesredaktion im Kanton Graubünden, in: ebd., S. 85 ff., Zufferey, J.-P., La rédaction législative bilingue dans le canton du Valais, in: ebd., S. 91 ff. 195 Mader, L., Die mehrsprachige Gesetzesredaktion: Last oder Gewinn?, in: LeGes 2001 / 3 S. 9 ff., 10. 196 Vgl. dazu Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005, S. 168; Neri, S. / Sperl, H., Traité instituant la Communauté Economique Européene. Travaux préparatoires, Déclarations interprétatives des six Gouvernements, Documents parlementaires; 1960. 197 Vgl. Ophüls, C.-F., Über die Auslegung der Europäischen Gemeinschaftsverträge, in: Greiß, F. / Meyer, S. W. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für Alfred Müller-Armack, 1961, S. 279 ff., 287; Strauss, W., Der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften, in: Recht und Wirtschaft im nationalen und überregionalen Recht, 1964, S. 203 ff., 217; Plender, R., The interpretation of Community acts by reference to the intentions of the authors, in: Yearbook of European Law 1982, S. 57 ff., 66 ff.

232 Historische und genetische Konkretisierung in der Praxis des EuGH

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nicht unterstellt werden, bewusst abweichende Positionen zu artikulieren.198 Natürlich will man gerne glauben, dass Regierungen nicht lügen. Als Zurechnungsregel ist dies insoweit plausibel. Auch der EuGH selbst hat in der Rechtssache Humblet auf die Erklärungen der Regierungen zugegriffen. Allerdings hat das Gericht darin gerade keine einheitliche Lesart gefunden.199 Diese Unergiebigkeit hat sich auch in der Folgezeit gezeigt. Zwar wurden diese Texte zur Bestätigung von Ergebnissen herangezogen, die mittels anderer Konkretisierungselemente gefunden wurden.200 Aber diese Aussagen haben in der Auslegung des EuGH nie ein großes Gewicht gewonnen.201 Zu Recht sieht die Literatur die Ursachen darin, dass die Zielrichtung dieser Äußerungen primär innenpolitisch ist, und sie im Übrigen mit dem dynamischen Charakter einer stetig wachsenden Gemeinschaft nicht in Einklang zu bringen ist.202 Im Übrigen sind natürlich zu späterem Primärrecht durchaus Materialien veröffentlicht, die das Gericht heranziehen kann. Trotzdem zeigen sich auch in diesem Bereich manchmal Mängel. So wurde etwa 1992 das Subsidiaritätsprinzip als Instrument zur Kompetenzbegrenzung ins Gemeinschaftsrecht eingeführt. Es gilt als architektonisches Prinzip Europas und als „wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer föderalen Verfassung der europäischen Gemeinschaft“.203 Auch die weiteren am Entstehungsprozess beteiligten Organe schreiben dem Prinzip einen großen Stellenwert als Gegengewicht zu den zentralen Kompetenzen zu.204 Zur Entstehungsgeschichte gehört auch, dass die Erwartungen des Europäischen Rats von EdinEuGH, Slg. 1955 / 56, S. 197 ff., 254 (Fédération Charbonnière de Belgique). EuGH, Slg. 1960, S. 1163 ff., 1194 f. (Humblet). 200 EuGH, Slg. 1961, S. 281 ff., 311 (Niederrheinische Bergwerks AG). 201 Vgl. Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil l, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. 1-22. Vgl. zur Diskussion von entsprechenden Stellungnahmen im Völkerrecht Heymann, M., Einseitige Interpretationserklärungen zu multilateralen Verträgen, 2005, S. 113 ff. 202 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 252. 203 Schmidhuber, P. M. / Hitzler, G., Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWGVertrag – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer föderalen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: NVwZ 1992, S. 720 ff. 721. Auch Blanke, H. J., Das Subsidiaritätsprinzip als Schranke des Europäischen Gemeinschaftsrechts?, in: ZG 1991, S. 133 ff., 139 bezeichnet die Subsidiarität als „Leitlinie einer künftigen Gemeinschaftsverfassung“. Vgl. außerdem Pernice, I., in: DVBl. 1993, S. 909 ff., 915 f.; Herzog, R., Vortrag des damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts am 16. 02. 1993 in Brüssel, abgedruckt in: Hierl, H., Europa der Regionen, 1995, S. 122 ff.; Pipkorn, J., Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag über die Europäische Union – rechtliche Bedeutung und gerichtliche Überprüfbarkeit, in: EuZW 1992, S. 697 f. 204 Der damalige Kommissionspräsident Delors benannte die Notwendigkeit eines „ständigen Gegengewicht(s) gegen die natürliche Tendenz zur Verstärkung der zentralen Exekutivgewalt“, Delors, J., in: EG-Nachrichten vom 22. 01. 1990; vgl. auch die Auswertung der Verhandlungspositionen der Gemeinschaftsorgane bei Calliess, Ch., Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, 1999, S. 52 ff. 198 199

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burgh sehr klar formuliert sind. Denn dieser ging bei der Einführung des Subsidiaritätsprinzips 1992 davon aus, der Gerichtshof werde die Auslegung dieses Grundsatzes wie auch seine Einhaltung durch die Gemeinschaftsorgane streng überwachen.205 Diese Materialien wurden vom Gerichtshof bei seinen bisherigen Entscheidungen nicht angemessen ausgewertet.206

232.3 Genetische Konkretisierung im Sekundärrecht 75

Im Sekundärrecht besteht nach Art. 253 EG eine explizite Begründungspflicht, deren Zweck vor allem in der Erleichterung gerichtlicher Kontrolle liegt.207 Eine Auswertung aller Urteile im Zeitraum von 1988 bis 1992 hat gezeigt, dass in mehr als der Hälfte der betreffenden Fälle diese Materialien tatsächlich herangezogen wurden.208 Als weitere Quelle für Argumente kommen die einseitigen Erklärungen von Regierungen in Betracht, die im Rahmen des Rechtssetzungsverfahrens zu Protokoll gegeben wurden. Das Gericht hat zu dieser Frage folgendermaßen Stellung genommen: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs können ( . . . ) derartige einseitige Erklärungen nicht für die Auslegung eines Rechtsakts der Gemeinschaft herangezogen werden, da die allgemeine Geltung der von den Gemeinschaftsorganen erlassenen Normen nicht durch Vorbehalte oder Einwendungen der Mitgliedstaaten bei ihrer Ausarbeitung relativiert werden kann.“209 In der Literatur wird in dieser Stellungnahme eine vollkommene Ablehnung dieser Argumentationsquelle gesehen. Gerechtfertigt wird das mit dem Hinweis, dass eben ein einzelner Mitgliedstaat „schlichtweg nicht Gesetzgebungsorgan“ sei.210 Eine abweichende Ansicht will dagegen auch diese Texte heranziehen; jedenfalls dann, wenn sie unwidersprochen geblieben sind und insofern den Rückschluss auf einen Kollektivwillen erlauben.211 Beide Positionen überzeugen nicht. Denn der EuGH hat das 205 Vgl. dazu Europäischer Rat von Edinbourgh, 11.-12. 12. 1992, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ratsdokument SN / 456 / 92, S. 4. 206 Vgl. dazu Albin, S., Das Subsidiaritätsprinzip in der EU, in: NVwZ 2006, S. 629 ff., 631. 207 Vgl. EuGH, Slg. 1958 / 59, S. 89 ff., 114 (Nold); EuGH, Slg. 1963, S. 141 ff., 155 (BRD / Kommission); EuGH, Slg. 1989, S. 2789 ff., 2808 (Kasa Fleischhandel); EuGH Rs. 92 / 00, Rn, 52; EuGH Rs. 206 / 00, Rn. 44; EuG T-13 / 99, Rn. 193. 208 Lutter, M., Die Auslegung angeglichenen Rechts, in: JZ 1992, S. 593 ff., 600; Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 148. 209 EuGH, Slg. 1985, S. 427 ff., 436 (Kommission / Dänemark); ebenso EuGH, Slg. 1970, S. 47 ff., 57 (Kommission / Italien). 210 Vgl. Pechstein, M., Die Bedeutung von Protokollerklärungen zu Rechtsakten der EG, in: EuR 1990, S. 249 ff., 253. 211 Vgl. Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 153.

232 Historische und genetische Konkretisierung in der Praxis des EuGH

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Heranziehen dieser Texte nicht grundsätzlich abgelehnt; sondern lediglich entschieden, von diesen Texten her ein Ergebnis nicht zu korrigieren, das er mit Hilfe grammatischer und systematischer Konkretisierung gewonnen hat. Das entspricht der rechtstaatlichen Rangfolge der Konkretisierungselemente. Umgekehrt kann jedoch auch ein solcher Text keinen Schluss auf einen Kollektivwillen zulassen, da ein Gesetz mit einem solchen schlichtweg nichts zu tun hat. Deswegen dürfte das Gericht wohl so zu verstehen sein, dass diese Materialien dann herangezogen werden können, wenn sie nicht im Widerspruch zu den Ergebnissen von systematischer und grammatischer Argumentation geraten. Häufigster Anknüpfungspunkt im Sekundärrecht sind die Begründungserwägungen: „Einleitend ist festzustellen, dass mit der Verordnung Nr. ( . . . ) gemäß ihrer ersten Begründungserwägung Maßnahmen zum Schutz des Gemeinschaftsmarktes für Sauerkirschen erlassen werden sollen ( . . . ).“212 Häufig hat die genetische Auslegung dabei eine die anderen Konkretisierungselemente bestätigende Rolle: „Diese Auslegung wird durch den Bericht zu dem Übereinkommen vom 26. Mai 1989 (ABl. 1990 C 189, S. 35) bestätigt ( . . . ).“213 Der EuGH leitet aber auch entstehungsgeschichtliche Argumente aus dem Vergleich verschiedener Vorschläge der Rechtsetzungsorgane ab: „Während der ursprüngliche Richtlinienvorschlag der Kommission vorsah, dass die Richtlinie ,auf die Rechte, die am 31. Dez. 1994 nicht erloschen sind‘, anwendbar ist, hat das Europäische Parlament diesen Vorschlag geändert und eine Neufassung eingebracht, die im Wesentlichen in die endgültige Fassung der Richtlinie übernommen worden ist.“214

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Zur Entstehungsgeschichte gehören aber auch Erklärungen von Rat oder Kommission, die neben den Begründungserwägungen in sonstiger Weise veröffentlicht wurden. In der Literatur wird zum Teil eine Berücksichtigung solcher Erklärungen als Materialien im Gesetzgebungsprozess gefordert.215 Die Stellungnahme des Gerichtshofs ist umstritten. Häufig wird behauptet, der EuGH habe die Heranziehung dieser Texte abgelehnt.216 Tatsächlich hat das Gericht aber nur gesagt, dass diese Erklärungen keine Handlungen mit Gesetzeskraft sind und den Inhalt des Gesetzes nicht fixieren können.217 Wenn man allerdings mit der das Lesen traditionell begleitenden Metaphysik an dieses Problem herangeht, mag man darin eine Ablehnung der subjektiven Willenstheorie sehen. Tatsächlich hat der EuGH aber lediglich den Stellenwert dieses Arguments im Gesamtprozess der

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EuGH, Slg. 1999, I, S. 2423 ff. (Luksch), Rn. 15. Vgl. EuGH, Slg. 1999, I, S. 2543 ff. (Coursier), Rn. 30. 214 Vgl. EuGH, Slg. 1999, I, S. 3939 ff. (Butterfly Music), Rn. 19. 215 Vgl. Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 28 f. m.w.N. 216 So Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 258 unter Berufung auf EuGH, Slg. 1991, S. 745 ff., 776 ff. (Antonissen). 217 Vgl. dazu ebd., S. 778 f.; sowie die Schlussanträge des Generalanwalts Warner in EuGH Slg. 1978, S. 927 ff., 956 f. (Commissionaires Réunis). 212 213

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Konkretisierung bestimmt und klargestellt, dass es im Konfliktfall hinter grammatischen und systematischen Elementen zurücktreten muss. Deswegen ist es auch konsequent und nicht verwunderlich, dass das Gericht diese Materialien immer dann mit heranzieht, wenn Wortlaut und Systematik dies zulassen.218 Das verkennt Anweiler, wenn er schreibt: „Die Protokollerklärung findet also allein deshalb Berücksichtigung, weil sie die vom EuGH bereits ermittelte Auslegung unterstützt. Der historischen Methode kommt in diesem Fall also keine für das Auslegungsergebnis – dieses stand bereits nach der wörtlichen Auslegung fest – eigenständige Bedeutung mehr zu.“219 Wie schon gezeigt, muss das sprachnormierende Moment der Festsetzung einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung durch andere Konkretisierungselemente gerechtfertigt werden. Diese liefern in diesem Fall die Materialien. Das Missverständnis Anweilers folgt daraus, dass er die der vergangenen Metaphysik des Lesens angehörige Frage nach dem Ziel der Auslegung mit dem tatsächlichen Problem der Rangfolge der Konkretisierungselemente kontaminiert. 78

Insgesamt bietet die Arbeit des EuGH mit historischer und genetischer Konkretisierung ein differenziertes Bild. Einerseits gibt es immer wieder Formulierungen des Gerichtshofs, mit denen auf die herkömmliche Willensmetaphysik Bezug genommen wird. So formuliert das Gericht, dass es die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung und Auslegung „gebietet, sie (die Vorschrift) nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Licht ihrer Fassung in allen vier Sprachen auszulegen.“220 Andererseits spielt die Willensmetapher in der praktischen Textarbeit des Gerichts aber keine Rolle. Dort wird vielmehr eine solide, in die Details gehende Arbeit an der Sprache durchgeführt. Auch hier gilt also wieder der Befund, der schon aus der nationalen Tradition bekannt ist, dass nämlich das explizite Wissen hinter dem impliziten Können der Gerichte zurückbleibt. Die herkömmliche Literatur, die mit ihren Konstruktionen in den alteuropäischen medialen Grenzen einer Vorstellung des Buches als geschlossener Sinneinheit verweilt, ist für ein Überwinden dieses Abstands wenig hilfreich. Dort wird von einer untergeordneten Rolle dieses Elements gesprochen, nur weil es vom Gericht nicht als für den Inhalt des Gesetzes definitorisch angesehen wird.221 Tatsächlich setzt das Gericht aber die genetische Konkretisierung, dort wo es die methodenbezogenen Normen des Rechtstaates zulassen, ausgesprochen häufig und gründlich ein. Als Gegenstand der Kritik ist hier also weniger die praktische Arbeit des EuGH zu betrachten als vielmehr die übertriebenen Erwar218 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1988, S. 843 ff., 852 (Kommission / Italien); EuGH, Slg. 1992, S. 177 ff., 199 (Egle). 219 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 260. 220 EuGH, Slg. 1969, S. 419 ff., 425 (Stauder). Weitere Nachweise bei Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 25 u. 137. 221 Wegener, B., Art. 220, in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Rn. 12.

241 Zur Einordnung des teleologischen Arguments

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tungen an die genetische Konkretisierung, die im Rahmen der Wissenschaft zum Ausdruck kommen.

24 Zweck: Von der metaphysischen Voraussetzung zur Schlussform Dem teleologischen Argument kommt in der Rechtsprechung des EuGH ein besonderer Stellenwert zu: „Die fortschreitende Integration als Ziel der Gemeinschaften führt zu einer besonderen Gewichtung der systematischen und teleologischen Methode. Allgemein räumt der EuGH derjenigen Auslegung den Vorzug ein, die die Verwirklichung der Vertragsziele am meisten fördert und die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften sichert.“222 Die Literatur geht davon aus, dass die teleologische Argumentation das dynamische Moment in der Entwicklung der Rechtsprechung sei: „Im Wege stark teleologisch geprägter Auslegung hat der EuGH immer wieder ,kühne Sprünge nach vorn‘ gewagt, wie bei der Rechtsprechung zur Drittwirkung bestimmter Normen der Verträge, zum unbedingten Vorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts oder zum Umfang der Außenkompetenz der Europäischen Gemeinschaft.“223 Je nach Einstellung zum Gemeinschaftsrecht wird die Zweckauslegung dann als Instrument einer immer enger werdenden Gemeinschaft gefeiert oder als Gefahr für die nationalstaatliche Eigenständigkeit verdammt. Bevor man zu diesem Streit Stellung nehmen kann, muss man zunächst die Sicht der Literatur an der tatsächlichen Vorgehensweise des EuGH überprüfen, um so Struktur und Stellenwert des Arguments zu bestimmen.

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241 Zur Einordnung des teleologischen Arguments

Das Arbeiten mit dem Zweckargument wirft mehrere Fragen auf. Zunächst geht es um die Einordnung der Teleologie: Gehört sie als eines der Elemente zu den Canones oder vielmehr zu den mehrgliedrigen Schlussformen? Dann erhebt sich die Frage nach dem Stellenwert: Ist das Zweckargument zentral oder dem Wortlaut unterzuordnen? Und schließlich wird zum Teil mit einem Gesamtzweck des Rechts argumentiert, der von anderen bestritten wird.

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241.1 Canones und komplexe Schlussformen Neben den eingliedrigen Canones verwendet der EuGH noch komplexere Schlussformen. Zu nennen ist hier etwa der Umkehrschluss.224 Dieser ist zwar zu222 223 224

Streinz, R., Europarecht, 1999, Rn. 498. Oppermann, Th., Europarecht, 1999, S. 256, Rn. 685. Vgl. dazu Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 159 ff. m.w.N.

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2 Stand der Methodik – 24 Zweck

nächst nur die Folgerung, die zu ziehen ist, wenn man eine erwünschte Regelung im Gesetzestext nicht findet; der EuGH begründet ihn jedoch häufig mit zusätzlichen Argumenten: „Angesichts der unterschiedlichen Regelung, die zwei immerhin vergleichbare Sachbereiche im Vertrag gefunden haben, ist jedoch weiterhin zu prüfen, ob sich Rechtsetzungsbefugnisse der Hohen Behörde nicht stillschweigend aus anderen Bestimmungen des Vertrages (a) oder aus seinem Gesamtzusammenhang (b) herleiten lassen.“225 Häufig wird aber der Umkehrschluss einfach als die normale Lesart unterstellt.226 Eine zusätzliche Rechtfertigung ergibt sich meist aus dem „zwangsläufig technischen und detaillierten Charakter“ einer Regelung.227 Manchmal begründet der EuGH diesen Schluss auch mit dem Ausnahmecharakter einer Vorschrift, wenn dieser feststeht.228 Allerdings hält das Gericht den Umkehrschluss aus einer Ausnahmevorschrift nicht für zwingend.229 Schließlich können auch historische Erwägungen den Umkehrschluss tragen.230 Aufgabe dieser Art des Folgerns ist es, nachzuweisen, dass „von einer Rechtsvorschrift nur der von ihr ausdrücklich erwähnte Tatbestand erfasst ist.“231 Die Notwendigkeit zum Umkehrschluss ergibt sich in solchen Konstellationen daraus, dass es von den übrigen Konkretisierungselementen her durchaus möglich wäre, die Vorschrift auf ähnliche oder vergleichbare Fälle anzuwenden; und dies ohne der Sprache über das für eine Bedeutungsfestlegung unumgängliche Maß hinaus Gewalt anzutun oder gegen die Gesetze logischen Folgerns zu verstoßen. Im Gegensatz zu einer semantischen Vervielfachung des Regelungsumfangs durch den Analogieschluss geht es beim Umkehrschluss um eine semantische Verknappung. Es handelt sich also um ein Ausschlussargument. 82

Auch der Analogieschluss wird vom EuGH verwendet.232 Zumeist wird er im Sekundärrecht durchgeführt, um dort eine Vorgabe des Primärrechts als die maßgebliche Lesart aufzuerlegen.233 Die Analogie dient dann als ein Mittel gemeinschaftsrechtskonformer Durchsetzung des Primärrechts. Damit befindet sich der EuGH im Einklang mit den methodischen Traditionen der Mitgliedsländer. Der Analogieschluss setzt eine Lücke im geschriebenen Gesetzestext sowie eine 225 EuGH, Slg. 1960, S. 681 ff., 708 ff. (Regierung der Italienischen Republik / Hohe Behörde). 226 EuGH, Slg. 1962, S. 395 ff., 417 (Worms). 227 EuGH, Slg. 1980, S. 617 ff., 629 (Ferwerda); vgl. auch EuGH, Slg. 1983, S. 1681 ff., 1696 (EGKS). 228 EuGH, Slg. 1963, S. 187 ff., 199 (Schlieker); EuGH, Slg. 1986, S. 1651 ff., 1684 (Johnston). 229 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1976, S. 153 ff., 159 f. (Süddeutsche Zucker). 230 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1977, S. 2059 ff., 2070 f. (Aima). 231 Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 157. 232 Vgl. dazu allgemein Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 164 ff. m.w.N., z. B. EuGH, Slg. 1986, S. 1339 ff., 1366 (Les Verts), sowie EuGH, Slg. 1993, S. 1093 ff., 1109 (Weber) m.w.N. 233 Vgl. EuGH, Slg. 1986, S. 3477 ff., 3511 (Klensch); EuGH, Slg. 1985, S. 3997 ff., 4022 (Krohn).

241 Zur Einordnung des teleologischen Arguments

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gleichartige Interessenlage voraus. Er bedarf einer besonderen Begründung. Die „Lücke“ im Gesetzestext kann entweder aus einem nicht vollständig realisierten Plan des Gesetzgebers oder deswegen angenommen werden, weil ein höherstufiges Prinzip eine Regelung forderte. Im Bereich des Eingriffshandelns ist eine solche Analogie wegen des aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Gesetzesvorbehalts und der funktionellen Gewaltenteilung verboten. Der Richter darf sich nicht zum Gesetzgeber erster Stufe machen, das heißt, er darf keine Normtexte produzieren. Denn die Konkretisierung der Verfassung zu Normtexten ist Aufgabe der Parlamente. Er ist nur Gesetzgeber zweiter Stufe; das heißt, er sagt, was der Normtext für den Fall bedeutet. Er füllt das vom Gesetzgeber geschaffene Textformular aus und vollendet so die Rechtserzeugung, die vom Parlament begonnen wurde. Der juristische Entscheider darf aber im Bereich der Eingriffsverwaltung nicht unter Konkretisierung von Verfassungsprinzipien oder in Vollendung des gesetzgeberischen Plans Normtexte setzen. Nur zugunsten des Bürgers kann er im Rahmen der systematischen Auslegung höherstufige Vorschriften heranziehen, um einschränkende Merkmale in den Voraussetzungen des einfachen Gesetzes zu überwinden. Dabei bleibt er an die Wortlautgrenze gebunden. Auch der Größenschluss wird vom EuGH verwendet:234 „Wenn der Gerichtshof Herrn Kegall ein Anwartschaftsrecht auf die Übernahme in eine Planstelle nach dem Statut zuerkannt hat, obwohl ihm dies zu keiner Zeit förmlich und ausdrücklich versprochen worden ist und obwohl das Inkrafttreten des Statuts seinerseits weniger unmittelbar bevorstand, so muß den Klägern – argumentum a fortiori – ein gleicher, ja noch stärkerer Anspruch auf die Zulassung zum Statut zuerkannt werden.“235 Beim Größenschluss wird von der Möglichkeit eines weitergehenden Eingriffs oder einer stärkeren Bindung auf die Zulässigkeit eines geringfügigeren Eingriffs oder einer schwächeren Bindung geschlossen. Dieser Schluss wird gemeinhin als argumentum a maiore ad minus oder auch maius minus continet bzw. als argumentum a fortiori formuliert. Allerdings überbrückt er nur eine quantitative Verschiedenheit bei qualitativ gleicher Bindung oder bei qualitativ gleichem Eingriff. Weitergehende Unterschiede vermag er nicht zu überwinden.

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Schließlich verwendet der EuGH auch die teleologische Reduktion, um einen möglichen weiteren Wortsinn auf den Bereich eines teleologischen Arguments einzuschränken.236 Allerdings scheitert eine solche reduzierende Auslegung häufig an Wortlaut, Textzusammenhang oder einer Präzisierung des fraglichen Zwecks.237

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234 Vgl. dazu Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 170 sowie EuGH, Slg. 1957, S. 83 ff., 129 (Algera); EuGH, Slg. 1971, S. 411 ff., 426 (Fruit Company). 235 EuGH, Slg. 1957, S. 83 ff., 129 (Algera). 236 EuGH, Slg. 1980, S. 3557 ff., 3571 (Sorasio); EuGH, Slg. 1991, S. 2971 ff., 2984 f. (Piageme); EuGH, Slg. 1991, S. 745 ff., 777 ff. (Antonissen). 237 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1970, S. 1055 ff., 1062 (Getreide- und Futtermittel Handelsgesellschaft); EuGH, Slg. 1974, S. 359 ff., 369 (Kommission / Französische Republik), wo der Gerichtshof eine Reduktion der Klagbefugnis der Kommission in Art. 169 EWGV ablehnt, und in derselben Entscheidung eine Reduktion der Bestimmungen des EWGV über die

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2 Stand der Methodik – 24 Zweck

Es handelt sich bei der Reduktion um eine einengende Argumentation im Unterschied zu den ergänzenden und erweiternden Argumentationsformen etwa der Analogie und des Größenschlusses. Diese sind „produktiv“. Das heißt, sie schaffen dem Normtext ein Mehr an Sinn. Die Reduktion produziert nicht. Sie verbraucht einen möglichen Sinn, ähnlich wie im Grunde auch der Umkehrschluss. Dieser schneidet eine mögliche Semantisierung des Schweigens von Normtexten ab. Man könnte ihn als eine Desemantisierung betrachten. Ähnlich wie beim Umkehrschluss geht es bei der Reduktion darum, gegen ein Ausschöpfen der Semantik und ein Ausreizen der Logik die methodischen Grenzen zur Geltung zu bringen, auf welche die fragliche Vorschrift vor allem mit ihrem Textzusammenhang, den erkennbar mit ihr verbundenen Zwecken und ihrer Geschichte beschränkt bleiben sollte. 85

Bei der Handhabung der Teleologie durch den Gerichtshof ist zunächst eine Ambivalenz festzustellen. Manchmal erscheint der Zweck ohne nähere Begründung. Hier könnte man die traditionelle Lesart der Wertungsjurisprudenz einführen und den Zweck als grundlegende Voraussetzung des Rechts begreifen. Andererseits wird der Zweck vom EuGH zumeist mit Hilfe der anderen Canones begründet, so dass seine isolierte Verwendung eher als kontextuell verkürzte Argumentation erscheint. Diese Ambivalenz gilt es vorab zu klären. 241.2 Die Teleologie aus der Sicht der Literatur

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Die traditionelle Methodenliteratur sieht im Recht ein Instrument zur Verwirklichung staatlicher Zwecke. Im deutschen Rechtskreis wurde das vor allem von der sogenannten Wertungsjurisprudenz ausbuchstabiert. Allerdings ist die instrumentelle Sicht des Rechts unterkomplex. Sie übersieht bereits die funktionale Differenzierung zwischen Recht und Politik. Vor allem aber macht die Sprache und macht der rechtliche Kommunikationsprozess jeden Instrumentalismus zunichte. Zwecke kann man nur in der Sprache formulieren und verfolgen. Sie liegen ihr nicht im Sinn eines Repräsentationsmodells zu Grunde. Man sieht das schon daran, wie die herkömmliche Lehre die Zwecke des Gesetzes formuliert: es wird einfach eine bestimmte naheliegende Lesart des Normtextes zum Zweck des Gesetzes ernannt. So ist es etwa der Zweck einer Schadenersatznorm, dem Geschädigten zu einem Ersatzanspruch zu verhelfen. Dieses Vorgehen ist nicht nur zirkulär, sondern führt vor allem auch zu einem Voluntarismus, der willkürlich einzelne Lesarten als grundlegende Zwecke des Rechts auszeichnet.

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Das Risiko dieser Vorgehensweise wird noch erhöht, wenn man der teleologischen Auslegung Vorrang einräumt238 und sie sogar zur Grenze vertretbarer Freizügigkeit der Arbeitnehmer unter Berufung auf die Gesamtsystematik des Vertrags gleichfalls vermeidet. Vgl. weiterhin EuGH, Slg. 1973, S. 27 ff., 71 ff. (Niederlande / Kommission), EuGH, Slg. 1984, S. 1051 ff., 1062 f. (St. Nikolaus Brennerei); EuGH, Slg. 1978, S. 2517 ff., 2527 f. (Hirsch); EuGH, Slg. 1990, S. 2725 ff., 2747 (Lancray).

241 Zur Einordnung des teleologischen Arguments

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Rechtsansichten macht: „Um eine sichere Abgrenzung zwischen Rechtsanwendung und Rechtssetzung zu gewährleisten und dem Gewaltenteilungsprinzip Beachtung zu verschaffen, darf im Wege der Auslegung die objektiv erkennbare Zielsetzung des Gesetzes nicht verfehlt werden. Diese bildet eine Grenze für die Rechtsanwendung in allen ihren Erscheinungsformen.“239 Auch wenn man den Zweck nicht einfach behauptet oder aus einer Paraphrasierung des Normtextes gewinnt, sondern ihn mit Hilfe der Canones ableitet, liegt hier das Willkürrisiko darin, dass dieser Zweck an die Stelle der Wortlautgrenze tritt. Aus der instrumentellen Sicht wird so eine Instrumentalisierung des Rechts für die jeweiligen politischen Zwecke des Zeitgeistes. Dieser kann sich dann in der europarechtlichen Literatur zum Telos des Gemeinschaftsrechts überhöhen: „Das erklärtermaßen mit der Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verfolgte Ziel der Vertragsstaaten war die Gründung einer an einem liberalen Wirtschaftsmodell hin ausgerichteten Gemeinschaft, die eine bestmögliche Faktormobilität und optimale Verwertung der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte gewährleisten sollte. Das primäre Interesse galt zunächst einer schrittweisen Annäherung der nationalen Wirtschaftspolitiken, um eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität und eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung zu fördern (Art. 2 EWGV). Man kommt nicht umhin, die Grundkonzeption als vom klassischen Neo-Wirtschaftsliberalismus geprägt anzusehen.“240

241.3 Die Teleologie in der Praxis des EuGH Die Verwendung des teleologischen Arguments wird auf der Textoberfläche eines EuGH-Urteils kenntlich, wenn dort nach „Sinn und Zweck“, „Ziel“ oder dem „Geist“ des Gesetzes gefragt wird.241 „Nach Art. 64 § 2 a und b der Verfahrensordnung des Gerichts haben prozessleitende Maßnahmen insbesondere zum Ziel, den ordnungsgemäßen Ablauf des schriftlichen Verfahrens oder der mündlichen Verhandlung zu gewährleisten und die Beweiserhebung zu erleichtern sowie die Punkte zu bestimmen, zu denen die Parteien ihr Vorbringen ergänzen sollen oder die eine Beweisaufnahme erfordern ( . . . ).“242 Auch die Wendung „Zweck“ er238 Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 10, Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 343 ff., BydIinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1991, S. 556 f. 239 Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 11. 240 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 223. 241 Vgl. Bleckmann, A., Rechtsquellen, in: Dauses, M. (Hrsg.): Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, Band I, 1997, Rn. 15, Fn. 23, 25, 26. 242 EuGH, Slg. 1999, I, S. 4287 ff. (Hüls / Kommission), Rn. 123. Diese Beispiele ließen sich leicht verlängern, vgl. etwa noch: „( . . . ) doch widerspricht es dem Art. 905 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2454 / 93 zu Grunde liegenden Ziel der Billigkeit, dem Abgabenschuldner

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2 Stand der Methodik – 24 Zweck

scheint häufig auf der Textoberfläche eines teleologischen Arguments: „Da in der Richtlinie nicht angegeben wird, was unter ,Ausnahmefällen‘ zu verstehen ist, ist dieser Ausdruck im Licht des mit der Richtlinie verfolgten Zweckes auszulegen, wonach die Jahresabschlüsse ( . . . ) ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaften zu vermitteln haben ( . . . ).“243 Eine weitere Wendung, die teleologische Argumentation anzeigt, ist „sollen“: „Diese Rechtsprechung beruht namentlich auf der Erwägung, dass die Klagefristen die Rechtssicherheit gewährleisten sollen, indem sie verhindern, dass Gemeinschaftshandlungen mit Rechtswirkungen zeitlich unbeschränkt in Frage gestellt werden können ( . . . ).“244 Ein weiteres Indiz ist das Wort „dient“: „Unstreitig dient die Anerkennungsrichtlinie insbesondere der gegenseitigen Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Facharztes ( . . . ).“245 Weitere Indizien für teleologische Auslegung sind die Wendungen „könnte“ oder „kann“ bzw. „kann nicht“ oder „wenn ( . . . ) muss“: „Könnte eine Partei vor dem Gerichtshof erstmals ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel ( . . . ) vorbringen ( . . . ), so könnte sie den Gerichtshof ( . . . ) mit einem Rechtsstreit befassen, der weiterreicht als der, den das Gericht zu entscheiden hatte. Im Rahmen eines Rechtsmittels ist die Zuständigkeit des Gerichtshofes also darauf beschränkt, die vom Gericht vorgenommene Würdigung des im ersten Rechtszug erörterten Vorbringens zu überprüfen ( . . . ).“246 Die Wendung „könnte“ oder „kann“ ist natürlich auch als Negation verwendbar: „Dass ein Antragssteller seinen Antrag ( . . . ) auf eine konkrete Verordnungsbestimmung stützt ( . . . ), kann die damit befasste Behörde nicht von ihrer Verpflichtung befreien zu prüfen ( . . . ).“247 die Zollschuld aufzubürden ( . . . ) und ihn dadurch in eine Lage zu bringen, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, außergewöhnlich ist.“ EuGH, Slg. 1999, I, S. 1209 ff. (Eddline El-Yassini), Rn. 29. 243 EuGH, Slg. 1999, I, S. 5331 ff. (DE + ES Bauunternehmung), Rn. 31; vgl. auch EuGH, Slg. 1999, I, S. 5087 ff., Rn. 58: „Zum anderen steht der Zweck der Richtlinie, den freien Zugang zu den Informationen über die Umwelt zu gewährleisten und jede Beschränkung dieses freien Zugangs zu verhindern, eine Auslegung entgegen, die einzelne davon abhalten könnte, einen Antrag auf Information zu stellen.“ 244 EuGH, Slg. 1999, I, S. 5363 ff. (AssiDomän Kraft Products u. a.), Rn. 61; vgl. auch EuGH, Slg. 1999, I, S. 5003 (De Haan), Rn. 34: „Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden ( . . . ). Diese Fristen sollen nämlich lediglich eine zügige und einheitliche Einwendung der technischen Modalitäten für die buchmäßige Erfassung der Eingangs- und Ausfuhrabgaben durch die zuständigen Verwaltungsbehörden sicherstellen ( . . . ).“ 245 EuGH, Slg. 1999, I, S. 1103 ff. (Carbonari u. a.), Rn. 38. 246 EuGH, Slg. 1999, I, S. 8683 ff. (Imperial 2 und Unifrigo), Rn. 42; vgl. dazu auch EuGH, Slg. 1999, I, S. 4069 ff. (Alexopoulou), Rn. 41. 247 EuGH, Slg. 1999, I, S. 7877 ff. (Söhl & Söhlke), Rn. 89; vgl. auch EuGH, Slg. 1999, I, S. 7773 ff. (Kommission / Italien), Rn. 39: „Der Streitgegenstand kann allerdings nicht auf Verpflichtungen ausgedehnt werden, die sich aus der Richtlinie 75 / 442 n. F. ergeben, jedoch keine Entsprechung in der Richtlinie 75 / 472 a. F. finden, da dies ein Verstoß gegen für den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zur Feststellung der Vertragsverletzung wesentliche Formvorschriften darstellen würde.“ Beispiel für eine „wenn-muss“-Erwägung: „Wenn die

241 Zur Einordnung des teleologischen Arguments

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Der EuGH leitet den Zweck des Gesetzes entweder aus den Materialien oder aus der Systematik ab und behandelt die Teleologie damit als mehrgliedriges Argument.248 Häufig geschieht dies mit Hilfe der systematischen Auslegung: „Wie sich aus den Art. 2 und 3 der Richtlinie ergibt, bezweckt die Regelung für die Stoffe aus der Liste I, die Verschmutzung der Gewässer durch diese Stoffe zu beseitigen ( . . . ).“249 So wird aus der Existenz von Nichtigkeitsklage und Schadenersatzklage der Zweck von Art. 230 EG abgeleitet, dass eine Nichtigkeitsklage gegen nicht-rechtsverbindliche Berichte einer Gemeinschaftseinrichtung ausgeschlossen sei. Zwar könne ein solcher Bericht zu einer Rufschädigung und Ähnlichem führen, aber über die Schadenersatzklage lasse sich dies auffangen. Eine Nichtigkeitsklage sei demnach nur gegen rechtsverbindliche Akte möglich.250 Aber auch die Entstehungsgeschichte und der Wortlaut werden zur Begründung der Teleologie verwendet.251 Die Gewinnung aus den Materialien ist vor allem für das Sekundärrecht typisch. Dabei spielt besonders bei Richtlinien die Präambel eine zentrale Rolle: „Hier zeigt sich ein weiterer deutlicher Unterschied zwischen der Methodik nach deutschem Verständnis und der europäischer Prägung. Dieser Unterschied lässt sich wie bei der grammatikalischen Auslegung auch hier mit den unterschiedlichen Gegebenheiten erklären. In der Präambel, die Teil des Richtlinientextes ist, wird eine umfassende Erläuterung der Beweggründe zum Richtlinienerlass geboten, der in seinem Umfang und Inhalt fast an eine Kurzkommentierung erinnert und der sich in deutschen Gesetzestexten in dieser Form nicht findet. Zwar finden sich auch bei den Gesetzesmaterialien zu nationalen Vorschriften Ausführungen, die einer Kommentierung gleichkommen, im Übrigen sind die meisten Richtlinienbestimmungen im Vergleich zu den großen Kodifizierungen auf nationaler Ebene noch sehr jung. Zudem regeln sie üblicherweise nur einzelne spezielle Rechtsfragen, die fest umrissene Sachverhalte betreffen. Ein Eigenleben der Regelung selbst, das über die ursprünglichen Zielvorstellungen des Normgebers hinausgeht, entwickelt sich üblicherweise erst im Laufe der Zeit als Reaktion auf geänderte Umstände.“252

Kommission also befugt ist, den von ihr dem Rat vorgelegten Vorschlag über die zu treffenden Maßnahmen zu ändern, muss ihr auch eine ausreichende Frist dafür zur Verfügung stehen, die ihr offen stehenden Vorgehensweisen zu prüfen.“ EuGH, Slg. 1999, I, S. 8157 ff., Rn. 24. 248 Exemplarisch EuGH Rs. 92 / 00 Rn. 48 ff.; EuGH 356 / 00 Rn. 43; EuGH Rs. 417 / 00 Rn. 47 ff. 249 EuG, Urteil vom 13. 07. 2004 – T-29 / 03 – Communidad Autonome de Andalucia / Kommission. 250 EuGH, Slg. 1999, I, S. 7837 ff. (Kommission / Deutschland), Rn. 5. 251 Für die Wortlautbegründung vgl. z. B. EuGH, Slg. 1999, I, S. 1209 ff. (Eddline El-Yassini), Rn. 29; EuGH, Slg. 1999, I, S. 4287 ff. (Hüls / Kommission), Rn. 123; als Beispiel für eine historische Begründung der Teleologie vgl. etwa EuGH, Slg. 1999, I, S. 7773 ff. (Kommission / Italien), Rn. 39. 252 Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 35.

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Dabei ergeben sich Überschneidungen mit anderen Methoden.253 Soweit der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung von Sekundärrecht auf Vorschriften des Primärrechts zurückgreift, überschneidet sich die Methode mit der vertragskonformen Auslegung. Bereits in der Rechtssache „Ciechelski“ 254 hatte der Gerichtshof festgestellt, dass eine Verordnung im Zweifel so auszulegen sei, wie es den primärrechtlich festgelegten Zielen (in diesem Fall denen der Artikel 48 – 51 EWGV) am ehesten entspricht. Als weiteres Beispiel kann hier das Urteil in der Rechtssache „Baccini“255 dienen, in der das Gericht ausführte: „Somit hängt die Antwort auf die erste Frage ( . . . ) davon ab, ob der Umstand, daß ein anderer Mitgliedstaat als der, in dem ein Wanderarbeitnehmer arbeitet, diesem eine Invaliditätsrente zahlt, die aufgrund und im Rahmen der genannten Gemeinschaftsverordnungen (Anm.: EWG Nr. 1408 / 71 und Nr. 574 / 72) berechnet wurde und gewährt wird, unter Berücksichtigung der Ziele des Vertrages zum Wegfall seines Anspruchs ( . . . ) führen kann. ( . . . ) Zwar dürfen den Wanderarbeitnehmern nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Ausgleich für die Vorteile der sozialen Sicherheit, die sie aufgrund der Gemeinschaftsverordnungen erwerben und die sie ohne diese nicht erhalten könnten, Beschränkungen auferlegt werden; das mit den Art. 48 bis 51 EWG-Vertrag verfolgte Ziel würde jedoch verfehlt, wenn die Anwendung dieser Verordnungen zum Wegfall oder zur Kürzung von Sozialleistungen führen würde, die einem Arbeitnehmer allein aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zustehen. Es würde nämlich den Zielen der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag zuwiderlaufen, wenn ( . . . ).“

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Aber auch außerhalb der Konformauslegung kann die Systematik zur Quelle von Zweckargumenten werden. Beispielsweise verknüpft der EuGH in dem Urteil „Continental Can“256 bei der Auslegung von Art. 86 EWGV (jetzt Art. 82 EG) Erwägungen, die sich auf das Verhältnis von Art. 85 EWGV (jetzt Art. 81 EG) zu Art. 86 EWGV (jetzt Art. 82 EG) und die Stellung der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften im Vertrag beziehen, mit Argumenten, die aus der Bestimmung über die Vertragsziele in Art. 3 lit. f) EGV und Art. 2 EGV hergeleitet werden. Der Gerichtshof führt aus, dass auf „Geist, Aufbau und Wortlaut von Artikel 86 sowie auf System und Ziele des Vertrages zurückgegriffen werden“ müsse. Ähnlich arbeitet er im Sekundärrecht in der Rs. „Van Haaster“.257 Er sucht die Antwort auf die Frage des vorlegenden Gerichts angesichts des Fehlens einer ausdrücklichen Bestimmung in der Verordnung „im Rahmen der vom Vertrag selbst aufgestellten Grundsätze anhand der Zielsetzungen der Verordnung“. Sie ergibt sich den Aus253 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 200 ff. 254 EuGH, Slg. 1967, S. 239 ff., 250 (Ciechelski); vgl. auch den Schlussantrag des Generalanwalts Lamothe in der EuGH, Slg. 1970, S. 1125 ff., 1159 (Internationale Handelsgesellschaft mbH gegen Einfuhr- und Vorratstelle für Getreide und Futtermittel). 255 EuGH, Slg. 1982, S. 1063 ff., 1076 (Baccini). 256 EuGH, Slg. 1973, S. 215 ff., 244 (Continental Can). 257 EuGH, Slg. 1974, S. 1123 ff., 1133 f. (Van Haaster).

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führungen des EuGH nach „aus der allgemeinen Systematik der Verordnung“.258 Es handelt sich dabei um Anwendungsfälle der objektiv-teleologischen Auslegung. Die Systematik dient zur Bestimmung von „Sinn und Zweck“ einer Vorschrift.259 Weiterhin ist für die Arbeit des EuGH mit der Teleologie kennzeichnend, dass er nicht von einem Zweck ausgeht, der dem Recht angeblich zu Grunde liegt. Diese instrumentelle Sicht würde in der hochkomplexen europäischen Rechtsordnung auch sofort als Fremdkörper wirken. Das Zweckargument ist für den EuGH vielmehr ein sinnvoller Teil juristischer Kommunikation, aber nicht die fundierende Schicht des Rechts. Das wird auch daran deutlich, dass er die Teleologie nicht als wichtigstes Element und Grenze der Interpretation behandelt, sondern sie vielmehr bei der Schaffung einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung dem Wortlaut unterordnet. Auch eine Argumentation mit dem Zweck der europäischen Rechtsordnung insgesamt kann dem EuGH nicht unterstellt werden. Wenn das Gericht undifferenziert von Sinn und Zweck des Vertrages redet, geht es tatsächlich nicht um einen Gesamtzweck, sondern um etwas anderes: In der Rechtssache „Kommission gegen Italien“260 stellte der Gerichtshof allgemein auf „Sinn und Zweck des EG-Vertrages“ ab, um das Verhältnis zwischen dem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EGV (Art. 226 EG) und dem Verfahren bei der Beihilfenaufsicht nach Art. 93 II EGV (Art. 88 II EG) zu klären. Er stellte dabei fest, dass das Beihilfenaufsichtsverfahren der Kommission bei der Entscheidung über die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt zwar einen weiten Beurteilungsspielraum einräumt, dies jedoch niemals, wie sich aus Sinn und Zweck des Vertrages ganz allgemein ergebe, zu einem Ergebnis führen dürfe, welches mit seinen besonderen Vorschriften, in diesem Fall Art. 95 EGV (Art. 90 EG), in Widerspruch steht.261 Demnach ergab sich anhand der ratio legis des Vertrages, die eine widerspruchsfreie Beachtung aller im konkreten Fall einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften verlangt, dass die in Art. 226 EG und Art. 88 II EG vorgesehenen Aufsichtsverfahren parallel nebeneinander geführt werden können, um das Gemeinschaftsrecht umfassend vor Vertragsverletzungen durch die Mitgliedstaaten zu schützen. Bei dieser Argumentation handelt es sich wohl um einen Fall der „effet utile“ – Auslegung.

258 Siehe auch EuGH, Slg. 1976, S. 455 ff., 472 (Defrenne): Für die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 119 EGV (jetzt Art. 141 EG) „ist auf das Wesen des Grundsatzes des gleichen Entgelts, auf das Ziel dieser Bestimmung und auf ihren Platz im System des Vertrages abzustellen“. 259 Vgl. Constantinesco, L.-J., Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Band I, 1977, S. 820; Ewert, H. A., Der Beitrag des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Entwicklung eines europäischen Sozialrechts, 1987, S. 51; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 202. 260 EuGH, Slg. 1980, S. 1533 ff., 1546 f. (Kommission / Italien). 261 Ebd., S. 1547.

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2 Stand der Methodik – 24 Zweck 242 Die Begründung des Zwecks

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Gebunden bleibt die Rechtserzeugung mittels teleologischer Auslegung dadurch, dass sie als zusammengesetzte juristische Schlussform zunächst eine Begründung des fraglichen Zwecks voraussetzt. „Die teleologische Interpretation ist kein selbständiges Element der Konkretisierung, da Gesichtspunkte von ,Sinn und Zweck‘ der zu deutenden Vorschrift nur insoweit heranzuziehen sind, als sie mit Hilfe der anderen Elemente belegt werden können. Das Unterstellen einer Ratio, die unter keinem anderen Konkretisierungsgesichtspunkt nachweisbar ist, disqualifiziert sich als normgelöste subjektive ,Wertung‘ oder ,Abwägung‘. Die Frage nach dem ,Sinn und Zweck‘ der zu konkretisierenden Norm bildet jedoch eine unterscheidbare und damit selbständige Fragestellung bei jeder Arbeit mit grammatischen, historischen und systematischen sowie mit den über die Canones hinaus entwickelten Elementen der Konkretisierung. In deren Rahmen und durch sie kontrolliert kann das Argument aus dem ,Telos‘ der (in der Regel noch nicht abschließend erarbeiteten) Vorschrift brauchbare zusätzliche Hilfsgesichtspunkte bieten.“262 Aus dieser Grundstruktur der teleologischen Auslegung ergibt sich ihre Problematik. Auch sie führt keineswegs zur Sicherheit, sondern erbringt eine widersprüchliche Vielfalt von Ergebnissen. Damit ist die teleologische Interpretation zugleich einer prinzipiellen Unbestimmtheit in Bezug auf das mit ihr verfolgte Ziel ausgesetzt. Sie kann sich angesichts der vielen divergierenden Zwecke, die sich in einer pluralistischen und hoch differenzierten Gesellschaft mit der Regelung anstreben lassen, nicht ihrer Wirkungen sicher sein. Sie kann also selbst wieder nur eine Möglichkeit setzen. Und diese definiert sich logisch bekanntlich nur negativ dadurch, dass sie nicht notwendig ausgeschlossen ist. Die Kunst der teleologischen Auslegung besteht darin, methodisch nachvollziehbar mit ihrer eigenen Mehrdeutigkeit fertig zu werden und diese nicht durch ein päpstliches Werturteil zu überspielen.

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Die Herleitung des Zwecks entscheidet über die Einordnung des teleologischen Arguments. Wird er aus Wortlaut oder Systematik abgeleitet, spricht man von der objektiv teleologischen Auslegung. Wird der Zweck aus den Materialien bezogen, heißt die Methode subjektiv teleologische Interpretation. In einer Inhaltsanalyse der EuGH-Begründungen des Jahrgangs 1999 kommt eine empirische Untersuchung zu dem Ergebnis, dass der EuGH in 44 Fällen den Zweck aus den Begründungserwägungen ableitet, in 39 Fällen aus früheren Entscheidungen, in 13 Fällen aus dem Wortlaut und in 12 Fällen aus der Systematik. Allerdings wird auch angemerkt, dass der EuGH in der Mehrheit der Fälle (195) die Herleitung des Zwecks nicht begründet. Natürlich muss hier nicht jedes Mal ein Defizit in der Argumentation vorliegen. Die fehlende Begründung kann sich aus dem pragmatischen Relevanzhorizont ergeben. Wenn dieser Zweck im Verfah-

262

Müller, F., Juristische Methodik, 1997, Rn. 364.

242 Die Begründung des Zwecks

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ren nicht umstritten war, ist seine Herleitung nicht nötig. Andernfalls ist ein teleologisches Argument ohne Begründung des Zwecks fehlerhaft.

242.1 Grammatische Begründung des Zwecks Über den Wortlaut kann man den Sinn von konkreten Einzelvorschriften263 ohne Rückgriff auf andere Normen bestimmen.264 Diese Art der Argumentation zählt zur objektiv teleologischen Auslegung. Als Beispiel kann hier das Urteil in der Rs. „Rheinmühlen“265 dienen, in welcher der Gerichtshof Art. 177 EGV (jetzt Art. 234 EG) interpretiert. Er führt aus: „Art. 177 ist von entscheidender Bedeutung dafür, daß das vom Vertrag geschaffene Recht wirklich gemeinsames Recht bleibt; er soll gewährleisten, daß dieses Recht in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft immer die gleiche Wirkung hat. Auf diese Weise soll er unterschiedliche Auslegungen des Gemeinschaftsrechts verhindern, das die nationalen Gerichte anzuwenden haben; doch zielt er darauf ab, diese Anwendung selbst zu gewährleisten, da er dem nationalen Richter die Möglichkeit gibt, die Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben können, dem Gemeinschaftsrecht im Rahmen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zur vollen Geltung zu verhelfen. Jede Lücke in dem so geschaffenen System würde daher sogar die Wirksamkeit von Vertragsvorschriften und des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts in Frage stellen. In diesem Sinne sind die Vorschriften des Artikels 177 zu würdigen, nach denen jedes nationale Gericht ohne Unterschied den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersuchen kann, wenn es dessen Entscheidung zum Erlaß seines Urteils für erforderlich hält.“ Hier wird ein Zweck behauptet, der vom Gerichtshof nicht aus Systematik oder Materialien begründet wurde. Seine Existenz lässt sich aber durch die grammatische Auslegung der Vorschrift nachweisen. Wenn ein Gericht eine Frage über die Interpretation von Gemeinschaftsrecht oder die Gültigkeit von Sekundärrecht dem EuGH vorlegen kann bzw. muss, führt dies regelmäßig zu einer Entscheidung. An diese haben sich dann – obwohl nicht ausdrücklich im EG-Vertrag geregelt – die Mitgliedstaaten wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und wegen Art. 10 EG zu halten; Gerichte, die davon abweichend urteilen möchten, haben in nachfolgenden Verfahren die Frage erneut dem EuGH vorzulegen. Dass dies der Einheitlichkeit und damit der praktischen Wirksamkeit von EG-Recht in allen Mitgliedstaaten dient, liegt auf der Hand. 263 So Bleckmann, A., Rechtsquellen, in: Dauses, M. (Hrsg.), Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, Band I, 1997, Rn. 16; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 214. 264 Z.B. EuGH, Slg. 1961, S. 281 ff., 308 (Niederrheinische Bergwerks AG): Hauptzweck des Art. 37 EGKSV; EuGH, Slg. 1974, S. 153 ff., 163 f. (Sotgiu): Zweck des Art. 7 der VO (EWG) Nr. 1612 / 68; EuGH, Slg. 1980, S. 119 ff., 130 (Camera Care): Zweck des Art. 3 Abs. 3 der VO (EWG) Nr. 17 / 62. 265 EuGH, Slg. 1974, S. 33 ff., 38 (Rheinmühlen).

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2 Stand der Methodik – 24 Zweck

Diese Art der Argumentation kann vor allem dann angebracht sein, wenn es um die unmittelbare Anwendbarkeit der Vorschrift geht.266 Dabei hält es der Gerichtshof durchaus für möglich, dass eine Vorschrift mehrere Ziele hat. So stellte er in der Sache „Defrenne“267 fest, dass Art. 119 EGV (jetzt Art. 141 EG) einen doppelten Zweck verfolgt. Zum einen solle die Bestimmung mit Rücksicht auf den unterschiedlichen Entwicklungsstand der Sozialgesetzgebung in den einzelnen Mitgliedstaaten verhindern, dass die Unternehmen in Mitgliedstaaten, die den Grundsatz der Entgeltgleichheit schon verwirklichen, im innergemeinschaftlichen Wettbewerb gegenüber den Unternehmen benachteiligt werden, die in Staaten ansässig sind, welche die Lohndiskriminierung zum Nachteil der weiblichen Arbeitskräfte noch nicht beseitigt haben. Zum anderen diene die Vorschrift den sozialen Zielen der Gemeinschaft, die sich nicht auf eine Wirtschaftsunion beschränke, sondern, wie die Präambel des Vertrages hervorhebe, zugleich durch gemeinsames Vorgehen den sozialen Fortschritt sichern und die ständige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der europäischen Völker anstreben solle. Aus dieser zweifachen, zugleich wirtschaftlichen und sozialen Zweckrichtung des Art. 119 EGV (Art. 141 EG) folgert der Gerichtshof, dass der Grundsatz des gleichen Entgelts zu den Grundlagen der Gemeinschaft gehört.268 242.2 Systematische Begründung des Zwecks

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Die allgemeinen Ziele der Gründungsverträge dienen als Auslegungsmaßstab, um den Sinngehalt anderer Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu ermitteln.269 Sie bilden mit den sektoriellen, spezifischen Zielen ein einheitliches System, welches qualitativer oder hierarchischer Differenzierung in seinem Inneren nicht zugänglich ist – abgesehen von der Tatsache, dass die sektoriellen Zwecke spezieller sind, da sie im Regelfall Konkretisierungen der allgemeinen darstellen. Sektorielle Ziele dienen der Verwirklichung bzw. sind eine Konkretisierung der allgemeineren Zielsetzungen im Ersten Teil des Vertrages. Der Gerichtshof zieht sie zur Ermittlung des Sinns vor allem in den Urteilen zum Wettbewerbsrecht, vorzugsweise in Verbindung mit den allgemeinen Zielen heran. In dem Urteil „Continental Can“270 führt der EuGH aus: „Für die Entscheidung dieser Frage muss auf 266 Vgl. EuGH, Slg. 1976, S. 455 ff., 472 (Defrenne): „Bei der Beantwortung der Frage nach der unmittelbaren Geltung von Art. 119 ist ( . . . ) auf das Ziel dieser Bestimmung ( . . . ) abzustellen.“ 267 EuGH, Slg. 1976, S. 455 ff., 473 (Defrenne). 268 Ebd. 269 Zuleeg, M., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, Bd. 1, 1991, Art. 2, Rn. 3; Schweitzer, M. / Hummer, W., Europarecht, 1993, 1995, S. 254. Zur ökonomischen Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts vgl. Kirchner, Ch., Die ökonomische Theorie, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 24 ff., 27 f. 270 EuGH, Slg. 1973, S. 215 ff., 244 f. (Continental Can).

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Geist, Aufbau und Wortlaut von Artikel 86 sowie auf System und Ziele des Vertrages zurückgegriffen werden. ( . . . ) Der Wahrung der Grundsätze der Artikel 2 und 3 EWG-Vertrag und der Erreichung der dort aufgezeigten Ziele dienen die in den Artikeln 85 bis 90 enthaltenen allgemeinen Vorschriften für die Unternehmen. Art. 85 betrifft Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, während Artikel 86 das einseitige Tätigwerden eines oder mehrerer Unternehmen zum Gegenstand hat. Auf verschiedenen Ebenen streben die Artikel 85 und 86 das gleiche Ziel der Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt an. ( . . . ) Jedenfalls können die Artikel 85 und 86 nicht in einander widersprechendem Sinne ausgelegt werden, da sie der Verwirklichung desselben Zieles dienen.“ Der Gerichtshof greift also zur Interpretation einer Einzelbestimmung regelmäßig auf den Regelungszweck des Kapitels zurück, in dem diese verortet ist.271 Ferner behandelt er beispielsweise unter Berücksichtigung der mit der Harmonisierung im Bereich der Mehrwertsteuer verfolgten grundlegenden Ziele der Richtlinie Nr. 83 / 182 die Förderung der Freizügigkeit und des Warenverkehrs sowie das Verbot der Doppelbesteuerung.272 Ein weiteres Beispiel ist das Urteil „Roquette Frères“ von 1980273, in dem der EuGH die vorgelegte Frage „im Lichte der Ziele, die mit der Einführung des Währungsausgleichs im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik durch die Verordnung Nr. 974 / 71 verfolgt wurden, wie auch der Bestimmungen des Vertrages über diese gemeinsame Agrarpolitik, insbesondere der Artikel 39, 40 und 43 (heute Art. 33, 34 und 37 EG)“ beantwortet. Nach der Rechtsprechung des EuGH steht Art. 2 EGV (jetzt Art. 2 EG) an der Spitze der vertragsprägenden allgemeinen Grundsätze und beschreibt die Aufgabe der Gemeinschaft.274 Der Vorschrift kommt zwar kein Vorrang gegenüber den sonstigen Zielbestimmungen und Handlungsermächtigungen des Vertrages zu, da sie selbst keine Kompetenznorm darstellt.275 Dennoch hat der Gerichtshof ihr insoweit Verbindlichkeit zuerkannt, als die Organe der Gemeinschaft verpflichtet sind, von ihrem Entscheidungsspielraum – neben den übrigen Grenzen aus dem Gemeinschaftsrecht, wie denen des Art. 5 EG – stets im Sinn und nach Maßgabe der Gemeinschaftsziele Gebrauch zu machen.276 Die in Art. 2 EG genannten Ziele sind 271 Ähnlich Bleckmann, A., Rechtsquellen, in: Dauses, M. (Hrsg.), Handbuch des EGWirtschaftsrechts, Band I, 1997, Rn. 24 mit Hinweis auf EuGH, Slg. 1964, S. 385 ff., 396 (Unger) für die Arbeitnehmerfreizügigkeit. 272 EuGH, Slg. 1991, S. 1943 ff., 1971 (Ryborg). 273 EuGH, Slg. 1980, S. 2917 ff., 2935 (Roquette Frères). 274 EuGH, Slg. 1974, S. 359 ff., 369 f. (Kommission / Frankreich). 275 Zuleeg, M., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, Bd. 1, 1991, Art. 2, Rn. 2; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 209. 276 Vgl. EuGH, Slg. 1969, S. 277 ff., 284 (Kommission / Italien); Zuleeg, M., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, Bd. 1, 1991, Art. 2, Rn. 18.

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mit dem Bestehen und dem Funktionieren der EG verknüpft. Ihre Verwirklichung muss das Ergebnis der Errichtung des Gemeinsamen Marktes und der fortschreitenden Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten sein. Ferner soll das Erreichen der Ziele durch eine Wirtschafts- und Währungsunion und das Durchführen der in Art. 3 und 3a EGV (jetzt Art. 4 EG) genannten gemeinsamen Politiken sichergestellt werden, die – entgegen ihrem Wortlaut, der von Mitteln zur Erreichung der Zwecke des Art. 2 EGV spricht – ihrerseits anerkannte Ziele des Gemeinschaftsrechts sind.277 99

Dabei greift der Gerichtshof nur selten isoliert auf Art. 2 EGV zurück.278 Beispielsweise in der Rs. „Walrave und Koch“279 nahm er auf das Merkmal des „Wirtschaftslebens“ in Art. 2 EGV Bezug, um festzustellen, dass auch Regelungen von primär sportlichen Betätigungen dem Gemeinschaftsrecht unterfallen. Art. 3 EGV hingegen wird gelegentlich allein herangezogen.280 In der Regel wird Art. 2 EGV in Verbindung mit Art. 3 EGV (Art. 3 EG) als Auslegungsmittel bzw. -maßstab verwendet281. Dabei gebraucht der EuGH zumeist die Formulierung, dass eine Einzelvorschrift im Licht der „Ziele der Art. 2 und 3 EGV“ auszulegen ist282, stellt mithin beide Vorschriften auf eine Stufe.283 Als Hauptzweck der Art. 2 und 3 EGV stellt das Gericht die Realisierung des Gemeinsamen Marktes heraus.284

277 Vgl. EuGH, Slg. 1987, S. 3697 ff., 3715 f. (Giménez Zaera); EuGH, Slg. 1971, S. 411 ff., 427 (International Fruit Company). 278 Bleckmann, A., Rechtsquellen, in: Dauses, M. (Hrsg.): Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, Band I, 1997, Rn. 16; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 210; Buck, C., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1998, S. 204, demzufolge sich diese Aussage auch auf die Präambel erstreckt. 279 EuGH, Slg. 1974, S. 1405 ff., 1418 f. (Walrave und Koch); es ging in diesem Urteil vor allem um die unmittelbare Anwendbarkeit der Arbeitnehmer- und der Dienstleistungsfreiheit in Bezug auf kollektive Regelungen des Arbeits- und Dienstvertragsrechts. Insoweit erkannte der Gerichtshof erstmals eine begrenzte horizontale Direktwirkung (Drittwirkung) der genannten Grundfreiheiten an. 280 EuGH, Slg. 1962, S. 871 ff., 882 (Kommission / Großherzogtum Luxemburg und Königreich Belgien); EuGH, Slg. 1971, S. 263 ff., 275 (Kommission / Rat); EuGH, Slg. 1971, S. 411 ff., 427 (International Fruit Company); EuGH, Slg. 1982, S. 4089 ff., 4100 (Trinon). 281 Z.B. EuGH, Slg. 1973, S. 215 ff., 245 f. (Continental Can), hier stellte der Gerichtshof ferner ausdrücklich die Verbindlichkeit des Art. 3 EGV fest (kein rechtlich unverbindlicher Programmsatz); EuGH, Slg. 1982, S. 4005 ff., 4023 (Buy Irish); Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 210; Bleckmann, A., Rechtsquellen, in: Dauses, M. (Hrsg.): Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, 1997, Band 1, Rn. 16. 282 EuGH, Slg. 1982, S. 1409 ff., 1431 f. (Schul); EuGH, Slg. 1988, S. 1213 ff., 1235 (Drexl). 283 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 210. 284 Vgl. EuGH, Slg. 1982, S. 1409 ff., 1431 f. (Schul); EuGH, Slg. 1988, S. 1213 ff., 1235 (Drexl).

242 Die Begründung des Zwecks

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Als weiterer Fall ließe sich auch die in diesem Band an anderer Stelle unter dem Titel „sekundärrechtskonforme Auslegung von Primärrecht“ dargestellte Argumentation des Gerichtshofs begreifen, soweit dabei teleologische Aspekte eine Rolle spielen. Wie dort gezeigt, ist eine Auslegung des höherrangigen Primärrechts in Übereinstimmung mit dem auf niedrigerer Stufe stehenden abgeleiteten Gemeinschaftsrecht weder in der Rechtsprechung nachweisbar noch legitim. Allerdings kommt den dort dargestellten Urteilen insoweit Bedeutung zu, als man sie als Beispiel für teleologische Konkretisierung ansehen kann. Die Hinweise des Gerichtshofs auf das Verständnis eines Begriffs im Sekundärrecht sind somit allein dahin zu verstehen, dass der EuGH zum Nachweis einer bestimmten Lesart aufzeigt, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber beim Erlass von Sekundärrecht offenbar vom selben Verständnis ausgegangen ist. Insoweit ist dies eine legitime Argumentation. Weiterhin legt der EuGH eine Einzelbestimmung eines Sekundärrechtsakts im 100 Hinblick auf die Ziele des gesamten Aktes aus.285 So interpretierte er z. B. in der Sache „Roquette Frères“ Einzelvorschriften der Verordnung Nr. 974 / 71 im Licht des Zwecks dieser Verordnung, die den Währungsausgleich im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik einführte.286 Als Begründung der Zweckerwägung durch die Systematik ist es auch anzusehen, wenn der EuGH sich auf die eigene Rechtsprechung beruft. Wenn die Auslegung der entsprechenden Artikel oder Normtexte schon früher vorgenommen worden ist, dient der Verweis auf diese Entscheidungen der Arbeitsersparnis: „Der Gerichtshof hat demgemäß ( . . . ) im Urteil vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache C-133 / 94 (Kommission / Belgien, Slg. 1996, I-2223, Randnr. 42) entschieden, dass mit den in Art. 4 Absatz 2 erwähnten Kriterien und / oder Schwellenwerten das Ziel verfolgt wird, die Beurteilung der konkreten Merkmale eines Projekts zu erleichtern, damit bestimmt werden kann, ob es der Prüfungspflicht unterliegt ( . . . ).“287 Der abkürzende Verweis auf die eigene Rechtsprechung an Stelle der direkten Beobachtung der Systematik kommt vor allem dort vor, wo es eine solche stabile Rechtsprechung schon gibt: „Die Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht erfordert nach ständiger Rechtsprechung ( . . . ) nicht notwendigerweise eine förmliche und wörtliche Übernahme ihrer Bestimmungen in eine ausdrückliche, besondere Vorschrift, sondern ihr kann durch einen allgemeinen rechtlichen Kontext Genüge getan werden, wenn dieser tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie hinreichend klar und bestimmt gewährleiste (vgl. insbesondere Urteil vom 15. März 1990 in der Rechtssache Kommission / Niederlande, Slg. 1990, I-851, Randnr. 6).“288

EuGH Rs 63 / 00 Rn. 26 ff. EuGH, Slg. 1980, S. 2917 ff., 2935 (Roquette Frères). 287 Vgl. daneben auch EuGH, Slg. 1999, I, S. 5613 ff. (WWF u. a.), Rn. 37. 288 EuGH, Slg. 1999, I, S. 5051 ff. (Kommission / Deutschland), Rn. 33. Vgl. dazu auch die entsprechenden Wendungen in EuGH, Slg. 1999, I, S. 5087 ff. (Kommission / Deutschland), Rn. 22. 285 286

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2 Stand der Methodik – 24 Zweck

242.3 Entstehungsgeschichtliche Begründung des Zwecks 101

Die Präambeln der Gründungsverträge sind Bestandteile des jeweiligen Vertrags und teilen dessen Rechtsnatur als primäres Gemeinschaftsrecht. Sie haben mithin eine eigenständige rechtliche Bedeutung.289 Sie geben jedoch in erster Linie die gemeinsamen Überzeugungen der Vertragsparteien bei Vertragsschluss wieder. Bezugnahmen auf die Präambel stellen potenziell sowohl Elemente der genetischen als auch der systematischen Konkretisierung des Telos, das heißt sowohl der subjektiv- als auch der objektiv-teleologischen Auslegung dar. Ausschlaggebend für die Zuordnung muss aber der Inhalt dieser Erklärungen sein. Deswegen wird der Bezug auf die Präambel im Folgenden als subjektiv-teleologische Interpretation eingeordnet. Auf die Präambel greift der Gerichtshof allerdings nur selten zurück, um die Ziele des Gemeinschaftsrechts zu ermitteln.290 In diesen Fällen handelt es sich meist um für die Weiterentwicklung des Gemeinschaftsrechts wichtige Grundsatzentscheidungen wie „van Gend & Loos“291, „Consten / Grundig“292 und „Defrenne“.293 Der EuGH verwendete die Präambel in „van Gend & Loos“, um zu belegen, dass der Gründungsvertrag mehr darstellt als nur ein Abkommen zwischen den vertragschließenden Staaten, welches allein zwischen diesen wechselseitige Verpflichtungen begründet – denn die Präambel richtet sich auch an die „Völker“, nicht allein an die Regierungen der Mitgliedstaaten. In der Rechtssache 32 / 65 „Italien gegen Kommission“294 berief sich der Gerichtshof zur Feststellung, ob die Verordnung Nr. 19 / 65 gegen Art. 85 Abs. 1 und Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 und 3 lit. f) EWGV (heute Art. 81 Abs. 1 und Abs. 3 EGV) verstoße, neben weiteren systematischen Argumenten auf die „in der Präambel zum Vertrag niedergelegten Grundsätze“. Von ihnen her müssten die gesamten Bestimmungen des Art. 85 EWGV ausgelegt werden.295 In der Rechtssache „National Panasonic“296 stützte sich der EuGH auf Absatz 4 der Präambel des Vertrages, ebenso zog er in dem Urteil „Trinon“297 unter anderem auch diesen Absatz 289 Zuleeg, M., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, Bd. 1, 1991, Präambel, Rn. 1. 290 Bleckmann, A., Rechtsquellen, in: Dauses, M. (Hrsg.): Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, Band I, 1997, Rn. 16. 291 EuGH, Slg. 1963, S. 1 ff., 24 (Van Gend & Loos). 292 EuGH, Slg. 1966, S. 321 ff., 388 (Consten). 293 EuGH, Slg. 1976, S. 455 ff., 473 (Defrenne); in allen drei Urteilen ging es um die Auslegung von Primärrecht, in „van Gend & Loos“ sowie „Defrenne“ um dessen unmittelbare Anwendbarkeit. 294 EuGH, Slg. 1966, S. 457 ff., 483 (Italien / Kommission). 295 Der Gerichshof zieht dabei naheliegend vor allem die Ziele der „Beseitigung der bestehenden Hindernisse“ und die Gewährleistung eines „redlichen Wettbewerbs“ heran, die bei der Herstellung eines einheitlichen Marktes notwendig sind. 296 EuGH, Slg. 1980, S. 2033 ff., 2057 (National Panasonic). 297 EuGH, Slg. 1982, S. 4089 ff., 4100 (Trinon).

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der Präambel des EG-Vertrages heran, um festzustellen, dass „die Gemeinschaft auch die Aufgabe hat, einen ausgewogenen Handelsverkehr und einen redlichen Wettbewerb zu gewährleisten, und dass die Verwirklichung dieser Ziele Verpflichtungen und Zwangsmaßnahmen für die Verkehrsunternehmen der Gemeinschaft bringen kann“. In den genannten Urteilen bezog sich der Gerichtshof jedoch regelmäßig nicht allein auf die Präambel, sondern vor allem auch auf Art. 2 und 3 EGV, welche die allgemeineren Formulierungen der Präambel konkretisieren.298 Auch die Präambeln des EAG-Vertrags299 und des Vertrags zur Gründung der EGKS300 werden zur Auslegung von deren Bestimmungen vom Gerichtshof verwendet, spielen jedoch eine eher unbedeutende Rolle.301 Zur Klärung der Ziele des Sekundärrechts greift der EuGH regelmäßig auf die 102 Zwecke der Vorschrift, die sich in den Begründungserwägungen der Präambeln der Rechtsakte finden, zurück302: „Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die ( . . . ) Richtlinien ( . . . ) die Ausübung des Niederlassungsrechts der Unternehmen erleichtern sollen, die in den Sektoren Versicherung ( . . . ) tätig sind (siehe zweite Begründungserwägung der Richtlinie ( . . . ) und erste Begründungserwägung der Richtlinie ( . . . )) ( . . . ) um diese Ziele zu erreichen, besteht der Gegenstand der Richtlinien ( . . . ) in einer wesentlichen, notwendigen und ausreichenden Harmonisierung ( . . . ) (siehe fünfte Begründungserwägung dieser beiden Richtlinien).“303 Ebenso: „Einleitend ist festzustellen, dass mit der Verordnung Nr. ( . . . ) gemäß ihrer ersten Begründungserwägung Maßnahmen zum Schutz des Gemeinschaftsmarktes für Sauerkirschen erlassen werden sollen ( . . . ).“304 Darüber hinaus werden die Präambeln auch punktuell herangezogen, um die Ratio einer bestimmten Regelung zu finden.305 Häufig werden zur Begründung des Zwecks im Sekundärrecht auch genetische mit historischen Argumenten verbunden: „Um die Bedeu298 Vgl. Beutler, B. / Bieber, R. / Pipkorn, J. / Streil, J., Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, 1993, S. 46; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 213. 299 EuGH, Slg. 1978, S. 2151 ff., 2175 (Objektschutz von Kernmaterial). 300 EuGH, Slg. 1980, S. 907 ff., 1004 (Valsabbia). 301 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 213. 302 EuGH, Slg. 1971, S. 577 ff., 587 f. (Bagusat); EuGH, Slg. 1972, S. 961 ff., 968 ff. (Brunner); EuGH, Slg. 1974, S. 1017 ff., 1023 f. (Henck); EuGH, Slg. 1974, S. 1217 ff., 1230 (Roquette); EuGH, Slg. 1979, S. 2305 ff., 2312 (Lentes); EuGH, Slg. 1979, S. 2663 ff., 2682 (Union Laitière Normande); EuGH, Slg. 1981, S. 1805 ff., 1829 f. (Rewe); EuGH, Slg. 1981, S. 2311 ff., 2330 (Broekmeulen); EuGH, Slg. 1992, S. 3317 ff., 3347 (Kommission / Deutschland); EuGH, Slg. 1971, S. 216 ff., 222 (Simet); EuGH Rs 63 / 00 Rn. 26 ff. 303 Vgl. EuGH, Slg. 1999, I, S. 1879 ff. (Försäkringsaktiebolaget Skandia), Rn. 37 u. 39. 304 EuGH, Slg. 1999, I, S. 2423 ff. (Luksch), Rn. 15. 305 EuGH, Slg. 1969, S. 349 ff., 356 (Markus & Walsh); EuGH, Slg. 1972, S. 961 ff., 968 f. (Brunner); EuGH, Slg. 1972, S. 1091 ff., 1096 f. (Aimer); EuGH, Slg. 1979, S. 3639, 3648 (Nehlsen); EuGH, Slg. 1981, S. 1469 ff., 1484 f. (Cattaneo Adorno); EuGH, Slg. 1991, S. 1 ff., 21 f. (Eddelbüttel).

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2 Stand der Methodik – 25 Empirische Argumente

tung dieser Bestimmung festzustellen, ist sie mit dem vormaligen Art. 106 Abs. 1 EWG-Vertrag (später Art. 73 h Abs. 1 EG-Vertrag ( . . . )) zu vergleichen, den sie ersetzt.“306 103

Die teleologische Konkretisierung einer Vorschrift vollzieht sich in zwei Schritten. Zunächst ist das Telos zu bestimmen, sodann ist damit zu argumentieren. Dabei ist die Vorgehensweise dann objektiv-teleologisch, wenn „Sinn und Zweck“ der zu konkretisierenden Vorschrift anhand von Grammatik oder Systematik ermittelt werden; sie ist subjektiv-teleologisch bei der Gewinnung des Telos aus den Materialien, also aufgrund historischer oder genetischer Argumente. Die Prozedur ist mithin nur legitim, soweit „Sinn und Zweck“ des zu behandelnden Normtexts anhand anderer Konkretisierungselemente belegt werden. Das Unterstellen einer Ratio, die unter keinem anderen Gesichtspunkt nachweisbar ist, disqualifiziert sich als normgelöste subjektive „Wertung“ oder „Abwägung“.307 Die im Traditionellen verharrende Literatur ordnet die Teleologie den Canones zu und sieht sie damit als eingliedriges Argument einer Verknüpfung von Normtext und zu Grunde liegendem Zweck. Da der Zweck als das Wichtigste am Recht gilt, ist der Stellenwert des teleologischen Arguments zentral; und es soll sogar möglich sein, mit einem Gesamtzweck der Rechtsordnung zu argumentieren. Der EuGH sieht demgegenüber die Teleologie in einleuchtender Weise als mehrgliedriges Argument, welches nicht zentral ist, sondern dem Wortlaut untergeordnet werden muss. Eine Argumentation mit dem Gesamtzweck des Gemeinschaftsrechts vermeidet er. Der EuGH entwickelt das Zweckargument damit von einer traditionell methaphysischen Voraussetzung hin zu einer überprüfbaren Schlussform. Trotzdem bleibt, vor allem wenn sich das teleologische Argument mit der speziellen Dynamik des Gemeinschaftsrechts verbindet, im systematischen Teil die Frage der Legitimität noch zu untersuchen.

25 Empirische Argumente als Maßstab oder am Maßstab des Gesetzes 104

Sprache ist ein Verständigungsprozess zwischen Subjekten in der Welt. Davidson hat diese Struktur als Triangulation zwischen Sprecher, Hörer und Welt bezeichnet. Sie wirkt auch im Recht. Wenn es um das Verstehen von Texten geht, kann man die Wirklichkeit nicht ausklammern. Jede Rechtsnorm enthält typische Annahmen über die Wirklichkeit, und diese Annahmen vernetzen die Rechtsarbeit mit den empirischen Wissenschaften. Empirische Referenzen sind zwar nicht der Maßstab des Gesetzes. Sonst wäre das Recht an die Macht verkauft. Aber sie müssen nach dem Maßstab des Gesetzes berücksichtigt werden. Sonst wäre das Recht wirkungslos. 306 307

EuGH, Slg. 1999, I, S. 3845 ff. (ED), Rn. 16. Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005.

251 Empirische Argumente als blinder Fleck der Methodik

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251 Empirische Argumente als blinder Fleck der Methodik

Trotz ihrer großen Wichtigkeit werden empirische Argumente in der Jurispru- 105 denz oft als Schmuggelware gehandelt. Sie erscheinen als Folgenbetrachtung im Rahmen der Teleologie, als sogenanntes argumentum ad absurdum, als Rechtsprinzip der Praktikabilität und manchmal sogar noch als Natur der Sache. Aber auch in ihrem Recht hat die europäische Gemeinschaft ein Interesse daran, dass fremde Waren offen deklariert werden. Deswegen muss die Verwertung empirischer Diskurse in der juristischen Arbeit genau untersucht werden. 251.1 Der Stellenwert empirischer Argumente aus der Sicht der Literatur In der europarechtlichen Literatur wird die Notwendigkeit eines sachgemäßen 106 Auslegungsergebnisses mit grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien begründet. Dieses Ziel soll mit Hilfe zweier Instrumente erreicht werden: „(1) Natur der Sache. Zur Frage, ob eine Regelung sachgemäß ist, muss der zu regelnde Sachbereich einer genauen strukturellen Analyse unterzogen werden. Eine Lösung ist dann sachgerecht, wenn sie den Strukturen der Sache entspricht. Die Strukturen eines Lebensbereichs werden daher auch mit dem Begriff ,Natur der Sache‘ bezeichnet. Es ist also eine Interessenanalyse und -abwägung erforderlich. (2) Konsequenzen der Regelung. Ein weiteres Kriterium der Sachgemäßheit einer Norm ist die Beachtung ihrer Konsequenzen. Dies wird mit dem Begriff ,reductio ad absurdum‘ bzw. ,argumentum ad absurdum‘ beschrieben. Dabei werden die praktischen Auswirkungen der einzelnen Interpretationsergebnisse auf für die Norm typische Sachverhalte geprüft. Die hierdurch gewonnenen Ergebnisse sind dann am bestehenden Wertungskonsens und den Erwartungen der Beteiligten zu messen.“308 Die beiden genannten Instrumente sind jedoch ungeeignet. Die Natur der Sache scheitert daran, dass kein Sprecher den privilegierten Zugang zur Realität hat. Deswegen wird sie von den streitenden Parteien jeweils gegensätzlich eingeschätzt werden, ohne dass ein sicherer Maßstab zur Entscheidung verfügbar wäre. Wenn der Richter durch eigene Entscheidung den fehlenden Maßstab substituiert, steht er in der Gefahr des Übergriffsfehlers. Das heißt, er setzt Alltagstheorien an die Stelle von differenziertem Wissen. Die Folgenbetrachtung kann sich aber auch zu schnell von der juristischen Fragestellung entfernen. Dies führt dann zum Unterwerfungsfehler, der ein zu anderen Fragestellungen entwickeltes empirisches Wissen (Expertise) an die Stelle juristischer Maßstäbe setzt. Das Konzept Normbereich will demgegenüber empirisches Wissen unter der 107 verantwortlichen Vorgabe juristischer Fragestellungen heranziehen: „Der Ausschnitt sozialer Wirklichkeit in seiner Grundstruktur, der bei der Auslegung zu be308 Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 8 unter Bezug auf die Positionen von Larenz, Bydlinski, Canaris und Engisch mit den jeweiligen Nachweisen eben dort.

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2 Stand der Methodik – 25 Empirische Argumente

rücksichtigen ist, wird als Normbereich gekennzeichnet. Beispiele: Skiunfälle ereignen sich häufig so, daß ein von hinten kommender schnellerer Skifahrer einen vor ihm fahrenden, überraschend ausschwingenden Skifahrer anfährt. Für die Beurteilung der Schuldfrage grundlegend ist die Überlegung, daß nur der von hinten Kommende den vor ihm Fahrenden beobachten kann, nicht umgekehrt. Auch ist dem Skifahren eigentümlich, nach links und rechts auszuschwingen, und nicht, eine gerade Spur zu halten. Deshalb liegt die Verantwortung für die Vermeidung eines Zusammenstoßes bei dem von hinten kommenden Skifahrer. – Zur sozialen Wirklichkeit der nichtehelichen Lebensgemeinschaft gehört im Normalfall, daß ,aus einem Topf gewirtschaftet wird‘, d. h. dass die Kosten gemeinsam getragen und Vermögensgegenstände gemeinsam angeschafft werden. Sie gehören zu der der Vorschrift zugrundeliegenden Interessenlage. – Bei der Veranstaltung von Rundfunksendungen (Fernsehen und Hörfunk) durch private Veranstalter ist wesentlich, daß sie zwecks Erzielung hoher Werbeeinnahmen darauf angewiesen sind, ,möglichst massenattraktive, unter dem Gesichtspunkt der Maximierung der Zuschauer- und Hörerzahlen erfolgreiche Programme zu möglichst niedrigen Kosten zu verbreiten. Sendungen, die nur für eine geringere Zahl von Teilnehmern von Interesse sind und die oft – wie namentlich anspruchsvolle kulturelle Sendungen – einen hohen Kostenaufwand erfordern, werden in der Regel zurücktreten, wenn nicht gänzlich fehlen‘ (BVerfGE 73, 155 / 6). Geht es um die rechtliche Behandlung einerseits der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und andererseits privater Veranstalter (z. B. von der Vergabe von Sendelizenzen, bei der Finanzierung durch Gebühren), müssen diese Umstände berücksichtigt werden.“309 In der Strukturierenden Rechtslehre werden diese Wirklichkeitselemente abkürzend als Realdaten bezeichnet. Innerhalb der Systematik des Modells heißen sie „sekundär vermittelte Sprachdaten“. Denn natürlich kann man nicht auf die Realität als solche, sondern nur auf sprachliche Konstruktionen zugreifen. Sekundär vermittelt sind sie deswegen, weil hier eine Besinnung auf die eigene Sprachkompetenz noch weniger als sonst in Betracht kommt. Es wird mit dieser Begrifflichkeit betont, dass es um eine Vernetzung des juristischen Diskurses mit dem Wissen empirischer Disziplinen geht.310 108

Teilweise wird die Möglichkeit, vom Normtext aus auf typisierte Annahmen über die Wirklichkeit zuzugreifen, in der methodischen Literatur als unzulässige Rechtsfortbildung kritisiert. So wenn der EuGH aus dem Begriff der Berufsausbildung folgert, dass bestimmte Vergünstigungen auch für Kinder von Wanderarbeitern zu gelten haben. Der Kritik ist insoweit Recht zu geben, als diese FolSchmalz, D., Methodenlehre für das juristische Studium, 1990, S. 113, Rn. 254. Natürlich denkt man hier zuerst an Soziologie, Naturwissenschaften und Psychologie. Aber speziell im Bereich des Medienrechts ist etwa auch die Medientheorie zu nennen, und in sehr vielen Bereichen bedarf man der Betriebswirtschafts- oder Volkswirtschaftslehre als wissenschaftlicher Perspektive. Vgl. dazu am Beispiel des Umweltrechts: Unnerstall, H., Anforderung an die Kostendeckung in der Trinkwasserversorgung nach der EU-Wasserrahmenrichtlinie, in: NVwZ 2006, S. 528 ff. 309 310

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gerung sicher nicht einfach im Begriff der Berufsausbildung steckt. Aber sie wird damit noch nicht zur unzulässigen Rechtsfortbildung, solange der EuGH, geleitet von der Fragestellung des Normprogramms, typische Annahmen über Umfang und Ausdehnung dieses sozialen Feldes in seine Entscheidung einbezieht.311 Erst wenn die Einbeziehung empirischer Zusammenhänge sich von der Vorgabe des Normprogramms ablöst, handelt es sich um normgelöste Rechtsfortbildung. Ein Beispiel dafür ist die Erasmus-Entscheidung.312 Hier vertritt der EuGH die Auffassung, Aktionsprogramme der europäischen Gemeinschaft für Studenten könnten auf Art. 128 EWGV gestützt werden. Aber auch bei einem sehr weiten Verständnis des Begriffs Berufsausbildung unter Heranziehen soziologischer Informationen ist dieses Ergebnis mit diesem Normtext nicht zu begründen. Allerdings nicht deswegen, weil dieser Artikel nicht auf die Wirklichkeit verwiese, sondern weil er von seinem Normprogramm her eine Beschränkung auf „allgemeine Grundsätze enthält, die konkrete Förderungsprogramme nicht zu tragen vermögen.“313 Aber daraus kann man noch nicht schließen, dass der EuGH „stets“ unzulässige Rechtsfortbildung betreibe, „die er als bloße Interpretation der Vorschriften des primären Gemeinschaftsrechts ausgibt.“314 Denn in der Regel orientiert der Gerichtshof seine empirischen Analysen strikt an den Grenzen des Normprogramms. Entscheidungen, die diesen Rahmen verlassen, gibt es durchaus, aber sie bleiben Ausnahmefälle.

251.2 Verweisungsbegriffe in der Rechtsprechung des EuGH Die Notwendigkeit, auf die Wirklichkeit zuzugreifen, stellt sich bei jeder Ent- 109 scheidung. Aber es gibt Bereiche im Gemeinschaftsrecht, welche den Bezug des Rechts auf typisierte Annahmen über die Wirklichkeit besonders offenkundig machen. So sind Verweise auf Marktgesetzlichkeiten und die ökonomischen Nachbarwissenschaften im Kartellrecht vollkommen unvermeidbar. Dabei wird das Konzept Normbereich auch in der Dogmatik aufgenommen.315 Einer der vielen Kon311 So auch Classen, C. D., Bildungspolitische Förderungsprogramme der EG – Eine kritische Untersuchung der vertragsrechtlichen Grundlagen, in: EuR 1990, S. 10 ff., 15. 312 EuGH, Slg. 1989, S. 1425 ff. (Kommission / Rat). Zur entsprechenden Kritik an der Arbeitsweise des EuGH mit dem Begriff Berufsausbildung vgl. Hillgruber, Chr., Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH – Hat Europarecht Methode?, in: Danwitz, T. v. / Heintzen, M. / Jaestaedt, M. / Korioth, S. / Reinhardt, M. (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 31 ff., 39. 313 Vgl. dazu Classen, C. D., Bildungspolitische Förderungsprogramme der EG – Eine kritische Untersuchung der vertragsrechtlichen Grundlagen, in: EuR 1990, S. 10 ff., 15 ff. 314 Hillgruber, Chr., Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH – Hat Europarecht Methode? in: Danwitz, T. v. / Heintzen, M. / Jaestaedt, M. / Korioth, S. / Reinhardt, M. (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 31 ff., 39.

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2 Stand der Methodik – 25 Empirische Argumente

texte ist dabei die Begründung für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch zu hohe Preise. Das Risiko liegt darin, dass die Kartellbehörden über die Missbrauchskontrolle hinaus zur Preisgestaltung übergehen.316 Die Schwierigkeiten dieser Abgrenzung prägen auch die geplante Reform von Art. 82 EG.317 Für eine Entscheidung benötigt man wissenschaftlich haltbare Theorien zur Feststellung des Preishöhenmissbrauchs.318 Am Beispiel des so genannten Gewinnbegrenzungskonzepts319 lassen sich die Probleme der Verwendung ökonomischer Theorien im Rechtskontext gut verfolgen. So lange noch keine gesicherten ökonomischen Theorien über die Angemessenheit eine Gewinnmarge und die Bestimmung der zu berücksichtigenden Kosten vorliegt,320 ist die Verwendung des Konzepts fragwürdig. Man kann die Ergebnisse weder voraussehen, noch nachvollziehen: „Methodisch handelt es sich dann um einen so genannten Übergriffsfehler, namentlich die Verwendung einer Theorie aus einer Parallelwissenschaft (hier: der Ökonomie) durch den Juristen, die nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht“.321

315 Vgl. dazu grundsätzlich Kuhn, T., Kooperative Aspekte von Gemeinschaftsunternehmen im europäischen Kartellrecht, im Erscheinen 2006. 316 Vgl. dazu die Verfahren zu den Roaming-Gebühren in Deutschland und dem Vereinigten Königreich, Pressemitteilungen vom 26. 07. 2004 (IP / 04 / 994) und 10. 02. 2005 (IP / 05 / 161). Während zunächst kartellrechtliche Missbrauchsverfahren eingeleitet wurden, beabsichtigt die Kommission nun offenbar eine Regulierung. Siehe dazu Pressemitteilung vom 28. 03. 2006 (IP / 06 / 386). Dazu auch zwei neuere parallele Kommissions-Entscheidungen: COMP / A.36.570 / D3 – „Sundbusserne v. Port of Helsingborg“, Entscheidung vom 23. 07. 2004, Rn. 124 und Fall COMP / A.36.568 (D3-“Scandlines Sverige AB v. Port of Helsingborg“), ebenfalls vom 23. 07. 2004, Rn. 146. 317 Vgl. dazu Lowe, P., Anti-Trust Reform, in: Europe: A Year In Practice, Vortrag bei der IBA / European Commission Conference am 11. 03. 2005 in Brüssel, unter http: / / europa.eu.int / comm / competition / speeches / text / sp2005_003_en_pdf. In der Literatur wird seit längerem eine wissenschaftlich seriöse Analysebasis gefordert. Vgl. etwa Ridyard, P., Article 82, Price Abuses-Toward a more Economic Approach, sowie ders., Exclusionary Pricing and Price Abuse Under Article 82 – An Economic Analysis, in: European Competition Law Review 2002, S. 286 ff. 318 Vgl. dazu Kuhn, T., Preishöhenmissbrauch (excessive pricing) im deutschen und europäischen Kartellrecht, in: Wirtschaft und Wettbewerb 2006, S. 578 ff., 579 ff. 319 Vgl. zur Verwendung dieser Theorie EuGH, Urteil vom 14. 02. 1978, Rs. 27 / 76, Slg. 1978, S. 207 ff., 305 – „United Brandes“. Zur Kritik aus der Sicht der ökonomischen Theorie vgl. Lind, G. / Walker, G., The (mis)use of Profitability Analysis in Competition Law Cases, in: ECLR 2004, S. 439 ff., 442 ff. 320 Das ergibt sich aus Ridyard, P., Exclusionary Pricing and Price Abuse Under Article 82 – An Economic Analysis, in: European Competition Law Review 2002, S. 286 ff.; Lind, G. / Walker, G., The (mis)use of Profitability Analysis in Competition Law Cases, in: ECLR 2004, S. 439 ff. 321 Kuhn, T., Preishöhenmissbrauch (excessive pricing) im deutschen und europäischen Kartellrecht, in: Wirtschaft und Wettbewerb 2006, S. 578 ff., 591. Grundsätzliche Entwicklung dieser Probleme bei Kuhn, T., Kooperative Aspekte von Gemeinschaftsunternehmen im europäischen Kartellrecht, im Erscheinen 2006.

251 Empirische Argumente als blinder Fleck der Methodik

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Anknüpfungspunkt für Normbereichsanalysen ist meist die in Regelungskom- 110 plexen enthaltene Grundterminologie.322 Diese Begriffe sind nicht nur sehr umstritten, sondern meist auch so genannte Verweisungsbegriffe, die man ohne den Wirklichkeitsbezug gar nicht handhaben kann.323 Sie finden sich vor allem bei den Ausdrücken, die den Handlungsbereich der Grundfreiheiten324 kennzeichnen, und natürlich auch beim Diskriminierungsverbot sowie bei den Leitbegriffen der europäischen Grundrechte. Zu Beginn war das Europarecht ein Wirtschaftsverfassungsrecht und hat sich über die Grundsätze dieses Rechtsgebiets entwickelt.325 In jüngerer Zeit ist der Anteil der Entscheidungen mit explizitem Grundrechtsbezug gewachsen und liegt bei 3 % für die Jahre 2000 bis 2004.326 Allerdings zeigt die Vielfalt der Grundrechtsbezüge, dass sich die Gemeinschaft von einer wirtschaftlichen zu einer politischen wandelt. So legt der EuGH etwa Begriffe wie „Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen“ unter Berücksichtigung des „jeweiligen Stand(s) der Forschung“ aus.327 Besonders deutlich ist die Verknüpfung der dogmatischen Entwicklung mit Realelementen beim Datenschutz. Im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde dieses Recht aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens in Art. 8 EMRK entwickelt. Auch im Gemeinschaftsrecht ist der Datenschutz aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens abgeleitet, aber durch eine Vielzahl von Richtlinien schon eigenständig profiliert. Hier zeigt sich die Verknüpfung mit der technischen und sozialen Seite der neuen Medien, welche der EuGH in seinem Urteil „Österreichischer Rundfunk“ auch verwertet.328 Damit beansprucht er grundsätzlich „eine Aus322 Vgl. dazu Taube, M., Das Diskriminierungs- und Behinderungsverbot für „relativ marktstarke“ Unternehmen, 2006, S. 60 ff. 323 Vgl. etwa zu Unterscheidungskraft im Markenrecht EuGH Rs. 299 / 99, Rn. 59 ff.; EuG Rs. T 199 / 99, Rn. 24 ff. Ein Begriff, der sowohl reale als auch rechtsvergleichende Elemente beinhaltet, ist der Rechtsbegriff der Region. Vgl. dazu Bretz, K. G., Föderalismus und Regionalismus in Deutschland, Spanien und der Europäischen Union, 2005, S. 353 ff. 324 Vgl. dazu im Kontext des freien Warenverkehrs EuGH, Urteil vom 08. 07. 2004 – C-166 / 03 – Kommission / Frankreich; EuGH, in: EuZW 2004, S. 530 ff. – Kohlpharma; EuGH, in: EuZW 2004, S. 600 ff. – Schreiber; EuGH, in: EuZW 2004, S. 442 = EWS 2004, S. 377 ff. – Greenham; EuGH, in: EWS 2004, S. 373 ff. – Kommission / Frankreich; EuGH, in: EWS 2004, S. 380 ff. – Kommission / Italien; EuGH, in: EuZW 2005, S. 54 ff. – Kommission / Niederlande; EuGH, Urteil vom 29. 04. 2004 – C-150 / 00, Kommission Österreich; EuGH, in: EuZW 2004, S. 375 ff. – Kommission / Deutschland; EuGH, in: EuZW 2004, S. 413 ff. – Weigel; EuGH, in: EuZW 2004, S. 439 ff. = EWS 2004, S. 221 ff. – Karner. 325 Everling, U., in: Stern, G. (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 167 ff., 170 f. 326 Schwarze, J., Der Schutz der Grundrechte durch den EuGH, in: NJW 2005, S. 3459 ff., 3460. Damit liegt der Grundrechtsanteil immer noch niedrig. Die entsprechenden Klagen waren vor allem Vorabentscheidungsverfahren und weniger als die Hälfte Direktklagen. 327 EuGH, Slg. 1987, S. 1227 ff., 1273 (Kommission / Deutschland). 328 Vgl. dazu Siemen, B., Datenschutz als europäisches Grundrecht, 2006, S. 212 ff.

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legung von Rechtsbegriffen, die auf die gesellschaftliche Entwicklung gestützt wird.“329 Von der großen Anzahl gemeinschaftsrechtlicher Verweisungsbegriffe soll hier nur das Diskriminierungsverbot näher angesprochen werden. Bei der Anwendung des Art. 141 EGV (Art. 119 EGV a. F.) – der den Grundsatz des gleichen Entgelts für gleiche bzw. gleichwertige Arbeit festschreibt – ist es häufig unklar, unter welchen Voraussetzungen zwei Personen tatsächlich eine gleichwertige Arbeit verrichten. Der EuGH hatte sich in der Rs. C-309 / 97 in diesem Zusammenhang mit einem derartigen Problem zu befassen: Es ging um die Frage, ob Personen, die zwar grundsätzlich eine anscheinend identische Tätigkeit verrichten – in diesem Fall eine psychotherapeutische Behandlung –, jedoch eine unterschiedliche Ausbildung absolviert haben – hier Medizin- bzw. Psychologiestudium –, die gleiche Arbeit i. S. des Art. 141 EGV (Art. 119 EGV a. F.) leisten. Der EuGH ging zunächst davon aus, dass dabei vor allem die Art der Aufgaben, die den verglichenen Arbeitnehmergruppen übertragen werden können, die an die Ausübung der Tätigkeit geknüpften Ausbildungserfordernisse und die Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen seien. Die Berufsausbildung stelle nicht nur einen Umstand dar, der eine unterschiedliche Vergütung rechtfertigen könne, sondern sie gehöre vielmehr schon zu den Kriterien, die für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 141 EGV (Art. 119 EGV a. F.) zu berücksichtigen sind. Da sich aber im vorliegenden Fall die psychotherapeutische Tätigkeit von Ärzten einerseits und Psychologen andererseits hinsichtlich der Art und Weise der Behandlung unterscheide und Ärzte zudem auch noch andere Tätigkeiten ausüben dürften, sei schon das Vorliegen einer „gleichen Arbeit“ i. S. des Art, 141 EGV (Art. 119 EGV a. F.) zu verneinen. 111

Die Frage des Vorliegens einer Diskriminierung auf Grund des Geschlechts ist oft dann problematisch, wenn es um indirekte Diskriminierungen geht: Die also nicht auf das Geschlecht, sondern auf andere Merkmale abstellen, jedoch im Ergebnis wie eine Diskriminierung auf Grund des Geschlechts wirken. Der EuGH präzisierte in der Rs. C-167 / 97 die Methode für das Feststellen des Vorliegens einer solchen indirekten oder mittelbaren Diskriminierung: Zunächst sei in jeder Gruppe (weibliche und männliche Arbeitnehmer) der Anteil der Personen zu ermitteln, der von der streitigen Regelung erfaßt ist, und dann seien die entsprechenden Zahlen zu vergleichen. Selbst wenn sich daraufhin ein erheblich höherer Anteil des einen Geschlechts ergebe, der von der streitigen Regelung betroffen sei, könne die Maßnahme durch ein legitimes Ziel der Sozialpolitik gerechtfertigt sein, dies aber nur unter der Voraussetzung ihrer Verhältnismäßigkeit. Das Gewähren eines Schutzes vor sozial ungerechtfertigter Entlassung nur unter der Bedingung einer vorherigen 2-jährigen Anstellung bei demselben Arbeitgeber könne zwar einem berechtigten Ziel der Sozialpolitik, nämlich der Förderung von Einstellungen, die329 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1986, S. 1283 ff., 1300 (Reed) im Zusammenhang mit dem Begriff ,Ehegatte‘ und der Frage, ob ein nicht verheirateter Partner in bestimmten Fällen den Ehegatten gleichgestellt werden müsse.

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nen. Dem Mitgliedstaat obliege aber die Beweislast dafür, dass dieses Ziel nichts mit einer Diskriminierung auf Grund des Geschlechts zu tun hat und mit anderen Mitteln nicht hätte erreicht werden können. In Zusammenhang mit dem Verbot der Altersdiskriminierung hat der EuGH330 das Problem einer Vorwirkung einer Diskriminierungsrichtlinie331 nicht thematisiert und stattdessen dargelegt, dass die Nichtanwendbarkeit einer Richtlinie kein zwingendes Argument gegen einen Gemeinschaftsverstoß ist. Der Anwendungsbereich des Vertrages ist vielmehr stets zu prüfen. Wenn dieser eröffnet ist, bedarf es für die Differenzierung eines sachlichen Grundes, der auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen muss. Die Parallele zur so genannten neuen Formel des Bundesverfassungsgerichts liegt auf der Hand.332 Es entsteht damit eine Übereinstimmung zwischen dem deutschen und dem europäischen Gleichbehandlungsrecht.333

251.3 Weitere Ansatzpunkte für Normbereichsanalysen beim EuGH Normbereichsanalysen sind auf der Textoberfläche von EuGH-Urteilen oft daran 112 zu erkennen, dass auf die praktische Wirksamkeit334 einer Regelung abgestellt wird. So etwa in dem Urteil Habermann-Beltermann:335 Die Klägerin wird als Altenpflegerin bei der Beklagten für Nachtarbeit eingestellt. Dabei wissen die Parteien nicht, dass die Klägerin schwanger ist. Nach § 8 MutterschutzG ist für Schwangere Nachtarbeit verboten. Daher könnte der Arbeitsvertrag nach § 134 BGB nichtig oder nach § 119 BGB anfechtbar sein. Der EuGH meint, dass beide Möglichkeiten nicht mit der europarechtlich garantierten Gleichberechtigung im Arbeitsleben vereinbar seien. Dabei bestätigt das Gericht zunächst seine Judikatur, nach der die nationalen Gerichte verpflichtet sind, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen. Die Beendigung eines Arbeitsvertrags wegen Schwangerschaft betrifft nur Frauen und ist daher eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.336 330 EuGH, Urt. v. 22. 11. 2005 – C-144 / 04, in: NJW 2005, S. 3695 ff. = EuZW 2006, S. 17 ff. 331 Die Darstellung der komplexen Rechtsprechung dazu bei Streinz, R., Europarecht, 7. Auflage 2005, Rdnr. 460 und 447 ff. 332 Vgl. BVerfGE 55, S. 72 ff., 88 ff. 333 Vgl. dazu Richter, T. / Bouchouaf, S., Das Verbot der Altersdiskriminierung als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts – der Beginn eines umfassenden europäischen Antidiskriminierungsrechts?, in: NVwZ 2006, S. 538 ff., 541. 334 Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 16. 02. 2006 – C-502 / 04 (Torun / Stadt Augsburg), in: NVwZ 2006, S. 556 ff., 557, Rdnr. 20. 335 EuGH: Verstoß gegen Nachtarbeitsverbot für Schwangere und Anfechtung des Arbeitsvertrags, in: NJW 1994, S. 2077.

7 Müller / Christensen

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Diese ist nach Ansicht des Gerichtshofs hier nicht zulässig, weil es sich um einen unbefristeten Arbeitsvertrag handelte. Die Verhinderung der Klägerin sei demgegenüber vorübergehender Natur. Um die praktische Wirksamkeit des Diskriminierungsverbotes zu gewährleisten, sei daher die Beendigung des Arbeitsvertrages aufgrund der Schwangerschaft der Klägerin für unzulässig zu erklären. Die praktische Wirksamkeit ist ein häufiger Ansatzpunkt. So wäre das in einer Verordnung vorgesehene Betretungsrecht „nutzlos, wenn sich die Bediensteten der Kommission darauf beschränken müßten, die Vorlage von Unterlagen oder Akten zu verlangen, die sie schon vorher genau bezeichnen können. Ein solches Recht impliziert vielmehr auch die Befugnis, nach anderen Informationsquellen zu suchen, die noch nicht bekannt oder vollständig bezeichnet sind. Ohne eine solche Befugnis wäre es der Kommission unmöglich, die für die Nachprüfung erforderlichen Informationen einzuholen, falls die betroffenen Unternehmen die Mitwirkung verweigern oder eine obstruktive Haltung einnehmen.“337 In der Rechtssache C-53 / 02 und der Rechtssache C-217 / 02338 geht es um die sich aus einer Richtlinie ergebende Pflicht zur Aufstellung von Abfallbewirtschaftungsplänen. Diese müssten nicht unbedingt eine geografische Karte enthalten, auf welcher der genaue Standort festgelegt ist; allerdings folge aus der rechtlichen Wirksamkeit der Richtlinie, dass die Kriterien für die Lage von Beseitigungsorten in den Plänen definiert werden müssen; gehe es doch in der Bestimmung um die Festlegung „geeigneter Flächen“, so dass die Behörden in der Lage sein müssten, auf der Grundlage der in den Plänen enthaltenen Kriterien zu bestimmen, ob sich eine Anlage in den Plan einfügt. 113

Ein weiteres Indiz für die Durchführung einer Normbereichsanalyse seitens des Gerichts ist es, wenn der EuGH von der „praktischen Handhabung des Gesetzes“339 oder von der „Praktikabilität“ 340 spricht. So geht der Gerichtshof davon aus, dass eine Lösung „im Lichte von Ziel und Zweck der gemeinsamen Marktorganisation unter Berücksichtigung praktischer und verwaltungstechnischer 336 Vgl. dazu außerdem EuGH, in: NZA 2005, S. 399 ff. = EuZW 2005, S. 119 ff. – Sass; EuGH, in: NZA 2004, S. 595 ff. = EuZW 2004, S. 318 ff. – Haackert; EuGH, in: NVwZ 2004, S. 1103 ff. = NZA 2004, S. 783 = EUZW 2004, S. 476 ff. = EWS 2004, S. 333 ff. – Elsner-Lakeberg; EuGH, Urteil vom 09. 12. 2004 – C-19 / 02 – Hlozek; EuGH, Urteil vom 30. 09. 2004 – C-319 / 03 – Briheche; EuGH, in: FPR 2004, S. 275 ff. = NVwZ 2004, S. 973 – K. B.; EuGH, in: EuZW 2004, S. 210 ff. = EWS 2004, S. 140 ff. – Debra Allonby; EuGH, Urteil vom 08. 06. 2004 – C-220 / 02 – Österreichischer Gewerkschaftsbund. 337 EuGH, Slg. 1989, S. 2859 ff., 2926 (Hoechst). 338 Vgl. dazu EuGH, in: NVwZ 2004, S. 842 ff. = EuZW 2004, S. 406 – Commune de Braine-le-Château, Tillieut. 339 Kaiser, J., Zur Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des EWG-Vertrages auf Gruppen von Kartellverträgen, 1964, S. 17 f. m. w. N. sowie Schwarze, J., Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1976, S. 19 f. 340 Vgl. dazu Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1982, S. 1177 ff., 1180 m. w. N.

252 Anwendungsbeispiele aus der Rechtsprechung des EuGH

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Gesichtspunkte zu suchen“ ist.341 Oder er legt den Begriff der Durchführung in Art. 155 EWGV unter anderem aufgrund der „Anforderung der Praxis“ weit aus.342 Aber die Folgerungen aus den Anforderungen der Praxis bzw. der Praktikabilität 114 finden ihre Grenzen an den Maßstäben des Normprogramms.343 Der EuGH stellt dazu fest: „Es trifft zwar zu, daß bei allen gerichtlichen Entscheidungen ihre praktischen Auswirkungen sorgfältig erwogen werden müssen; dies darf aber nicht so weit gehen, daß die Objektivität des Rechts gebeugt“ wird.344 Im Kontext einer funktionsdifferenten Auslegung einer Tarifierungsvorschrift führt das Gericht aus: „Sicherlich ist es in praktischer Hinsicht unbefriedigend, daß diese beiden Regelungen für die Bestimmung der Veranlagungsgrundlage von Abschöpfung einerseits und Zoll andererseits von unterschiedlichen Gesichtspunkten ausgehen; es ist jedoch nicht Sache des Gerichtshofes, hier für Abhilfe zu sorgen und im Wege der Auslegung den Inhalt der im einen oder anderen Fall anwendbaren Vorschrift zu ändern, denn hierfür ist ausschließlich der Gemeinschaftsgesetzgeber zuständig.“345 Auch sonst können praktische Schwierigkeiten die Auslegung „einer Verordnung, wie sie sich aus ihrem Wortlaut und ihrer Zielsetzung ergibt, nicht in Frage stellen“.346

252 Anwendungsbeispiele aus der Rechtsprechung des EuGH

Der Zugriff des EuGH auf den Normbereich ist im Bereich der dynamisch-evolutiven Auslegung besonders sichtbar. Hier sollen aber zunächst Notwendigkeit und Struktur des Arguments an Hand ganz normaler Entscheidungen dargestellt werden.347 Die dynamisch-evolutive Interpretation ist insoweit ein Sonderfall, als EuGH, Slg. 1974, S. 121 ff., 129 (Hannoversche Zucker). EuGH, Slg. 1975, S. 1279 ff., 1302 (Rey Soda). 343 EuGH, Urteil vom 15. 07. 2004 – C-424 / 02 – Kommission / Großbritannien. Der EuGH hat hier eine Vertragsverletzung aufgrund des Nichtergreifens der erforderlichen Maßnahmen durch den Mitgliedsstaat festgestellt. Es ging darum, der Behandlung von Altölen im Weg der Aufbereitung Vorrang einzuräumen, was von einer Richtlinie der Gemeinschaft gefordert wurde. Dabei hat der EuGH der Möglichkeit der Geltendmachung technischer, wirtschaftlicher und organisatorischer Sachzwänge klare Grenzen gezogen. 344 EuGH, Slg. 1976, S. 455 ff., 480 (Defrenne). 345 EuGH, Slg. 1972, S. 231 ff., 242 (Interfood). Vgl. dazu auch Schwarze, J., Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1976, S. 93 ff. 346 EuGH, Slg. 1992, S. 3423 ff., 3465 (Paletta). Vgl. dazu auch Schwarze, J., Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1976, S. 170 f., 207 f. 347 Vgl. dazu als aktuelles Beispiel etwa den EuGH zur Erwerbstätigkeit osteuropäischer Prostituierter in den Niederlanden, in: NVwZ 2002, S. 326 ff., insbesondere S. 330 f. Vgl. dazu aus neuerer Zeit EuG, Slg. 2001, II, S. 2823 ff. (Martinez). Diese Entscheidung wird in der Literatur folgendermaßen kommentiert: „Der Ansatz des Gerichts, der sich ausschließlich auf faktische Elemente stützt, um die Frage nach dem Vorliegen eines geeigneten Anfechtungsobjekts zu beantworten, vermag zu überzeugen ( . . . )“. Vgl. dazu Epiney, A., Neuere 341 342

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sie verstärkt Legitimitätsfragen aufwirft. Deswegen wird sie erst im systematischen Teil zu diskutieren sein.

252.1 Ein Rechtsproblem verknüpft Sprachverstehen mit Sachverstehen 115

Ein für den EuGH häufiges Rechtsproblem sind Wettbewerbsverzerrungen durch Vertriebssysteme. Auf Ersuchen der Rechtsbank von Koophandel Antwerpen in der Rechtssache 31 / 80 vom 11. 12. 1980 hatte das Gericht darüber zu entscheiden, ob Vereinbarungen über ein „selektives Vertriebssystem“ „geeignet sind“, „den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen ( . . . ) und (ob sie) eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken“; mit anderen Worten, ob solche Vereinbarungen mit Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag unvereinbar sind.348 Entgegen dem Vertriebssystem verkauft ein Parfümeriegroßhändler Haarpflegemittel einer bestimmten Marke und wird deswegen von der Herstellerfirma verklagt. Der Großhändler hätte, so der Vorwurf, „sich diese Erzeugnisse durch Mitwirkung an einer Vertragsverletzung beschafft“. Und dies sei „mit redlichen Handelsbräuchen unvereinbar“. Folglich müsse man dem beklagten Großhändler untersagen, „die genannten Erzeugnisse zum Verkauf anzubieten, zu verkaufen oder sich zu beschaffen.“ Die Firma L’Oréal bindet den Vertrieb der fraglichen Produkte daran, dass diese nur von den dafür bestallten „Friseurberater(n) verkauft werden dürfen“ und hat dieses auch auf den Produkten selbst „ausdrücklich vermerkt“. Die beklagte „Großhändlerin im Parfümeriesektor“ gehört nicht zu diesem Kreis.349 Die Beklagte beruft sich demgegenüber auf die Handelsfreiheit. Das „selektive Vertriebssystem“, das die Herstellerfirma für die fraglichen Produkte etabliert habe, „sei wegen Verstoßes gegen die gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften rechtswidrig.“350 Die Klägerin wiederum bezieht sich auf ein Schreiben der Kommission, die über die Rechtswidrigkeit zu befinden hat, in dem diese feststellt, dass „wegen des geringen Anteils, den L’Oréal auf dem Markt für Parfümerie-, Schönheits- und Toilettenartikel in den einzelnen Ländern besitze, und in Anbetracht der großen Zahl von konkurrierenden Unternehmen vergleichbarer Größe“ hier „nicht nach Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag gegen das Vertriebssystem von L’Oréal einzuschreiten“ sei.351

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Hier setzt die Vorlagefrage an.352 Es geht um die Ausnahmen von Art. 85. Zwar bestimmt dieser Normtext in Absatz 1, dass „mit dem Gemeinsamen Markt ( . . . ) Rechtsprechung des EuGH u. a. zum allgemeinen Verwaltungsrecht, in: NVwZ 2002, S. 1429 ff., 1431. 348 EuGH, Slg. 1980, S. 3775 ff. (L’Oréal). Zur Entwicklung diese Rechtsgebiets vgl. Reinhardt, P., Paradigmenwechsel im EG-Wettbewerbsrecht?, 2005. 349 Ebd., S. 3777, 3786. 350 Ebd., S. 3778. 351 Ebd. 352 Vgl. ebd., S. 3378, 3787 unter 1.

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alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen (unvereinbar und verboten sind), welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken“. In besonderen, begründeten Fällen jedoch „können“ nach Absatz 3 demgegenüber, „die Bestimmungen des Absatzes 1 ( . . . ) für nicht anwendbar erklärt werden auf – Vereinbarungen oder Gruppen von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, – Beschlüsse oder Gruppen von Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen, – aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen oder Gruppen von solchen,

die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne dass den beteiligten Unternehmen a) Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind, oder b) Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.“353 Genau das nimmt die klagende Firma L’Oréal für sich in Anspruch. Und genau das bestreitet die beklagte Großhandelsfirma für das in Frage stehende „selektive Vertriebssystem“. Unstrittig ist zwischen den Parteien, dass dieses gewisse Einschränkungen im Handels- und Warenverkehr mit sich bringt, sofern es den Kreis derjenigen einschränkt, die die von ihm betroffenen Produkte vertreiben dürfen. Streitig ist indes, ob diese Einschränkungen tatsächlich zur „Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ notwendig sind und ob sie nicht wettbewerbsverzerrend wirken. Damit stellt sich für den EuGH die Frage: „Kommt das System paralleler Allein- 117 vertriebsvereinbarungen zwischen Hersteller und Alleinimporteuren, das an selektive Vertriebsnetze zwischen den von ihnen ausgewählten Einzelhändlern gekoppelt ist, auf angeblichen qualitativen und quantitativen Auswahlkriterien beruht und sich nur auf einige Parfümerieartikel aus dem ganzen Warenprogramm bezieht, für eine Freistellung im Sinne von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages von Rom in Betracht, und trifft dies – gemeinschaftsrechtlich gesehen – im vorliegenden Fall für die L’Oréal NV (Brüssel) und die L’Oréal SA (Paris) zu?“354 Hauptsächlich „qualitativ“, dass hieße „ja“, denn wie anders sollte man die von Abs. 3 geforderten Kriterien etwa einer „Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung“ oder der „Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ ver353 354

Art. 85 EWG-Vertrag, hier zit. als Art. 81 der konsolidierten Fassung. EuGH, Slg. 1980, S. 3775 ff., 3778 (L’Oréal) unter Ziffer 1.

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stehen, ganz zu schweigen von einer „angemessene(n) Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn“. Hauptsächlich „quantitativ“, das hieße „nein“. Denn hier würde es sich dann um eine bloße Ausdehnung über den gesamten Markt handeln; also um das Festschreiben einer beherrschenden, alle anderen aus dem Spiel drängenden Position, die auf nichts anderes hinausläuft als auf „eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“, auf eine „Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes“, oder eine „Aufteilung der Märkte oder Versorgungsquellen“, also „die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden.“ 118

Die Klägerin führt daher einige Sachverhaltsmerkmale an, die eine qualitative Auslegung ihres selektiven Vertriebssystems belegen sollen. Die „für den Verkauf ihrer Haarpflegeerzeugnisse vorgenommene Auswahl der Friseure (erfolge) einzig und allein aufgrund objektiver Kriterien qualitativer Art ( . . . ), die den Verkauf der Erzeugnisse unter sachgemäßen Bedingungen gewährleisten sollen“. Dazu gehören etwa „die notwendige Unterstützung für die Anwendung und Beratung“, die „Gestaltung der Haarpflege in einem Salon“, die Verpflichtung zur Teilnahme „an den von L’Oréal veranstalteten Fachinformationstagungen“, eine „systematische Prüfung ( . . . ) über die Anwendung“ usf.355 Dies diene der Qualitätssicherung und dem Schutz des Verbrauchers vor unsachgemäßer Handhabung der Produkte. Und um dies auch in der Praxis zu gewährleisten, seien die Friseurberater eben verpflichtet, „die fraglichen Erzeugnisse nur an andere zugelassene Kerastase-Friseurberater abzugeben.“356 Quantitativ seien nur 2556 Friseure von 18000 in Belgien betroffen. Eben das aber ist nach Ansicht der beklagten Großhandelsfirma der springende Punkt. Denn es habe ja gerade den „Ausschluß einer beträchtlichen Anzahl von Friseuren, die alle erforderlichen Qualifikationen aufwiesen, zur Folge.“ Was die Qualität der Produkte, ihre fachgerechte Handhabung sowie den Schutz des Verbrauchers angehe, so gälten hier die einschlägigen nationalen Regelungen, denen die Friseure von Berufs wegen unterworfen sind. Die vom Hersteller für sich in Anspruch genommenen Aspekte seien daher bloß ein Vorwand dafür, sich in Hinblick auf das fragliche Produkt eine marktbeherrschende Stellung zu sichern und somit „für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten“, wie es Art. 85 Abs. 3 EWG-Vertrag ausdrücklich als Verhinderungsgrund für eine Freistellung vermerkt. Daraus folgt: „Die von L’Oréal angewandten angeblich objektiven Auswahlkriterien stellen in Wirklichkeit versteckte quantitative Kriterien dar.“357 Schon in der Fragestellung dieses Falls wird die enge Verknüpfung von Rechtsund Sachelementen deutlich. Es geht nicht um die Anwendung von Recht „auf die Tatsachen“. Vielmehr stellt sich schon bei der Rechtsfrage das Problem, welche typischen Annahmen der Rechtssatz über seine Wirklichkeit macht. 355 356 357

Ebd., S. 3778. Ebd., S. 3779. Ebd., S. 3781.

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Es handelt sich um eine Untersuchung des Normbereichs. Folglich tritt der 119 EuGH auch gar nicht erst in eine Beweisaufnahme ein.358 Es geht ihm nicht darum, ob das umstrittene Vertriebssystem, so wie es als Sachverhalt dem nationalen Gericht zur Entscheidung vorlegt wurde, entweder nach dem Abs. 1 oder aber nach Abs. 3 des Art. 85 EWG-Vertrag einzuordnen ist. Das ist Sache des nationalen Gerichts. Der EuGH arbeitet nur die typischen Annahmen über die Wirklichkeit heraus, die dem Rechtssatz zu Grunde liegen. In diesem Sinn entwickelt er mit seiner Festlegung des Art. 85 auf einen Normbereich die Struktur, die das Gericht des Mitgliedstaats dann bei der empirischen Analyse leiten kann. Der EuGH argumentiert denn auch folgerichtig vom Normtext her. Dazu hält er in seinen Entscheidungsgründen unter Berufung auf die eigene Judikatur zunächst fest, dass „selektive Vertriebssysteme ein mit Artikel 85 Absatz 1 vereinbarer Bestandteil des Wettbewerbs (seien), sofern die Auswahl der Wiederverkäufer aufgrund objektiver Kriterien qualitativer Art erfolgt, die sich auf die fachliche Eignung des Wiederverkäufers, seines Personals und seiner sachlichen Ausstattung beziehen, und sofern diese Voraussetzungen einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden.“359 Damit konkretisiert der Gerichtshof als erstes die in Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag aufgeführten Anforderungen. Im zweiten Schritt konkretisiert er die Einschränkungen. Abs. 3 (a) verlangt, dass die durch das Vertriebssystem auferlegten Beschränkungen de facto unerlässlich sind. Denn die Notwendigkeit einer Produktbetreuung lässt sich leicht behaupten; es bleibt aber zu prüfen, ob diese eine über übliche Serviceleistungen hinausgehende Reglementierung des Vertriebs unbedingt erforderlich macht. Dem baut der EuGH mit der weiteren Konkretisierung von art. 85 EWG-Vertrag Abs. 3 (a) und (b) vor. Im Hinblick auf (a): „Um die tatsächliche Art dieser ,qualitativen‘ Kriterien für die Auswahl festzustellen, muß außerdem geprüft werden, ob die Eigenschaften des fraglichen Erzeugnisses zur Wahrung seiner Qualität und zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs ein selektives Betriebssystem erfordern und ob diese Ziele nicht bereits durch eine nationale Regelung des Zugangs zum Beruf des Wiederverkäufers oder der Verkaufsbedingungen des betreffenden Erzeugnisses erreicht werden.“ Mithin, ob sie „unerlässlich“ sind. Und das Gericht präzisiert im Hinblick auf (b): „Schließlich ist zu ermitteln, ob die aufgestellten Kriterien nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist.“ Tun sie dies, „so fällt das Vertriebssystem unter das Verbot des Artikels 85 Absatz 1“, wie der EuGH zur Demarkation des Normbereichs speziell von Absatz 3 festhält. Und dafür, ob sie es tun oder nicht, „muß anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände und insbesondere auch im Hinblick auf die Auswirkungen der Vereinbarung ( . . . ) festgestellt werden, ob die Vereinbarung unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell den Warenverkehr zwischen Mitgliedsstaaten beeinflussen kann.“360 Das heißt, „um ( . . . ) beurteilen zu können, Vgl. ebd., S. 3778. Ebd., S. 3790 f. Siehe zu allem auch die entsprechenden, ins Einzelne gehenden Ausführungen des Generalanwalts, ebd., S. 3796 ff. 360 Ebd., S. 3791. 358 359

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ob eine Vereinbarung wegen der Wettbewerbsstörungen, die sie bezweckt oder bewirkt, als verboten anzusehen ist, muss der Wettbewerb betrachtet werden, wie er ohne die fragliche Vereinbarung bestehen würde.“361 Damit begründet der EuGH seine bislang systematisch gewonnene Grenzziehung für den Normbereich auch noch teleologisch. Zentrales Argument ist der Regelungszweck des Abs. 1 als einer gegen alle „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes“ gerichteten Garantie des freien Handels. Die Auswahl der empirischen Fragestellungen ist damit vom Normprogramm her gesteuert, für das Verständnis des Textes aber umgekehrt auch unverzichtbar.

252.2 Besonderheiten bei rechtserzeugtem Normbereich 120

Der Normbereich besteht nicht immer aus Konstruktionen naturwissenschaftlicher, ökonomischer, psychischer oder sozialer Daten. Häufig sind die in die Entscheidung zu integrierenden Tatsachen vielmehr rechtlich geschaffen bzw. überformt.362 Man spricht dann von einem ganz oder zum Teil rechtserzeugten Normbereich. Im europäischen Gemeinschaftsrecht kann dabei das Problem gegenläufiger Festlegungen im nationalen Recht entstehen. Das ist etwa in der Rechtssache C-376 / 92 vom 13. Januar 1993 der Fall, in welcher der EuGH über ein Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Düsseldorf zu urteilen hatte. Eine Selbstbedienungsgroßhandelskette verkauft Uhren der gehobenen Luxusklasse. Die Herstellerfirma, Cartier, weigert sich daraufhin, die kostenlose Herstellergarantie zu übernehmen; und zwar mit der Begründung, dass die Handelskette Metro nicht zum Kreis der von ihr bestallten Vertragshändler gehöre. Hierauf verklagt Metro die Firma Cartier auf das Erbringen dieses kostenlosen Service. Zur Begründung dieser Klage macht die Firma Metro unter anderem geltend, das von Cartier etablierte Vertriebssystem sei ohnehin rechtswidrig. Allein dieser Aspekt soll hier interessieren, da er genau das Problem einer dem einzelstaatlichen Recht gegenläufigen Festlegung des Normbereichs betrifft. Es stellt sich wieder die Frage nach dem Vertriebssystem. Der Generalanwalt nimmt ausdrücklich auf die oben erörterte Entscheidung des EuGH in der Rechtssache 31 / 80 Bezug indem er feststellt, „dass selektive Vertriebsbindungen ( . . . ) als mit Artikel 85 Absatz 1 vereinbar anzusehen sind, wenn die Auswahl der Händler auf Anforderungen beruht, die mit der Natur des Erzeugnisses zusammenhängen, und aufgrund objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt, die sich auf die fachliche Eignung des Wiederverkäufers, seines Personals und seiner sachlichen Ausstattung beziehen“. Wobei „diese Gesichtspunkte ( . . . ) im übrigen einheitlich und ohne Diskriminierung für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer angewendet werden 361 362

Ebd., S. 3792. Vgl. dazu etwa EuGH, in: NVwZ 2002, S. 326 ff., 330.

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( . . . )“.363 Demgemäß wäre dann eigentlich auch „die Errichtung einer selektiven Vertriebsbindung für Erzeugnisse, die wie die Cartier-Uhren zur Kategorie der Luxuserzeugnisse gehören, ohne weiteres gerechtfertigt“, sofern dies eine „wichtige Voraussetzung für die Förderung des Image und des kaufmännischen Ansehens des Erzeugnisses“364 darstellt. Fraglich wird die so weit eigentliche klare Sache durch ein weiteres Kriterium 121 der Rechtmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme, das im Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf ins Spiel gebracht wurde. Das Kriterium der „Lückenlosigkeit“ bedeutet, dass ein nicht gebundener Händler vertriebsgebundene Ware nur durch Beteiligung an einem Vertragsbruch eines gebundenen Händlers beschaffen kann. Die Lückenlosigkeit muss sowohl theoretisch als auch praktisch bestehen.365 Von der klagenden Großhandelskette Metro wurde das Argument einer fehlenden Lückenlosigkeit des Vertriebssystems der Firma Cartier mit Blick auf die erwünschte Rechtsfolge einer Verpflichtung zu kostenlosen Garantieleistungen ins Feld geführt. Cartiers System lasse nämlich zu, dass auch andere als die anerkannten Vertragshändler die Uhren der Firma vertreiben. Das OLG Düsseldorf geht diesbezüglich „davon aus, dass in Drittländern eine vertraglich abgesicherte und praktisch auch eingehaltene Vertriebsbindung für Cartier-Uhren fehle und dass diese somit in großem Umfang legal auf den Markt der Gemeinschaft kommen könnten, wo Metro sie frei verkaufen könne.“ Stellt man das in Rechnung, so wird es zur entscheidenden Frage, ob damit die Bindung durch das Vertriebssystem Cartiers überhaupt hinfällig wird. „Komme man ( . . . ) zu dem Ergebnis, daß der Umstand, daß Dritte sich die Ware tatsächlich beschaffen und sie sodann frei verkaufen könnten, und sogar die bloße Tatsache, daß sie einer solchen Tätigkeit nachgehen könnten, genüge, um die Vertriebsbindung zu Fall zu bringen, dann müsste bzw. könnte der Klage von Metro stattgegeben werden. Komme es hingegen auf Importe aus Drittländern, in denen schon theoretisch oder wenigstens praktisch Lückenlosigkeit nicht bestehe, nicht an, so sei die Klage von Metro abzuweisen“.366 Das OLG ist damit in der gemeinschaftsrechtlichen Verlegenheit, sich darüber klar werden zu müssen, „ob die Lückenlosigkeit des selektiven Vertriebssystems in den Ländern außerhalb der Gemeinschaft eine Voraussetzung für die Rechtswirksamkeit des Systems innerhalb der EWG sei.“ Das Ersuchen nach Vorabentscheidung macht klar, dass dies eine Frage nach dem Normbereich ist: „Ist einer die Anwendung des Artikels 85 Absätze 1 und 2 EWG-Vertrag ausschließenden EG-Vertragsbindung für Produkte des gehobenen Bedarfs (Uhren der gehobenen Preisklasse und Luxusklasse) die Anerkennung schon aus dem Grund zu versagen, dass in Ländern außerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine Vertriebs363 EuGH, Slg. 1994, S. 15 ff., 21 (Metro), mit ausdrücklichem Verweis auf die „wohlbekannte ständige Rechtsprechung“ im „Urteil vom 11. Dezember 1980 in der Rechtssache 31 / 80 L’Oréal Slg. 1980, S. 3775 ff. (L’Oréal)“. 364 EuGH, Slg. 1994, S. 15 ff., 21 (Metro). 365 Ebd. 366 Ebd., S. 35.

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bindung durch entsprechende Vertragsgestaltungen nicht oder nicht vollkommen besteht, so dass dort die in der EG gebundenen Waren von Systemfremden frei erworben und legitim auf den Markt gebracht werden können?“367 122

Der EuGH hätte einfach „nein“ sagen können. Dem Gemeinschaftsrecht ist die Frage nach der Lückenlosigkeit von Vertriebssystemen völlig „fremd“.368 Dieses Konzept ist überhaupt „erst vor dem Hintergrund des deutschen Rechts verständlich“ und wurde hier für „Klagen wegen unlauteren Wettbewerbs (Unterlassungsund Schadensersatzklagen) gegen Dritte entwickelt ( . . . ), die Erzeugnisse vertreiben, die Gegenstand einer Alleinvertriebsvereinbarung sind, oder zu Preisen verkaufen, die unterhalb der vom Hersteller vertraglich vorgeschriebenen Preise liegen.“ Und „es wurde in der Folgezeit auf Klagen gegen Außenseiter eines selektiven Vertriebssystems ausgedehnt.“369 Und selbst wenn man hier darauf hinweisen kann, dass das Konzept der Lückenlosigkeit in „Verfahren wegen unlauteren Wettbewerbs“ im Hinblick auf Art. 85 EWG-Vertrag eine Rolle spielen kann, so „bedeutet (dies) nicht, „dass umgekehrt bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Vereinbarung nach Artikel 85 EWG-Vertrag zu prüfen wäre, ob die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, dass diese Vereinbarung Außenseitern im Wege einer Klage wegen unlauteren Wettbewerbs entgegengehalten werden könnte.“370 Wollte sich der EuGH also unter Verweis hierauf mit einem schlichten „Nein“ aus der Affäre ziehen, so käme das einem Übergriffsfehler zumindest recht nahe. Er würde seine einmal gewonnene Rechtsauffassung der Sache schlicht überstülpen. Normbereichsanalyse heißt aber auch, die Konkretisierung von Rechtsnormen in Rücksicht auf die Sache zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Immerhin könnte das deutsche Recht hier auf einen gemeinschaftsrechtlich relevanten Gesichtspunkt für die Festlegung des Art. 85 im Normbereich aufmerksam machen.

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Der EuGH geht diesen methodisch einwandfreien Weg, im Hinblick auf die „Errichtung eines selektiven Vertriebssystems“ doch eigens „zu prüfen, ob die mangelnde Lückenlosigkeit des Systems seine Rechtmäßigkeit beeinträchtigen kann.“371 Dem Gericht ist klar, dass dies nicht nur ein Problem der normativen Gestaltung der Sache ist, sondern auch und gerade ein Problem der Rechtserzeugung von der Sache her. Deswegen ist „unabhängig von der Bedeutung des Kriteriums im innerstaatlichen Recht“ noch einmal die Frage zu stellen, „ob auf Gemeinschaftsebene eine selektive Vertriebsbindung als mit Artikel 85 Absatz 1 unvereinbar anzusehen ist.“372 Der EuGH weiß zwar darum, „dass weder die Kommission noch der Gerichtshof die Lückenlosigkeit jemals zu den Voraussetzungen gezählt 367 368 369 370 371 372

Ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 38, Rn. 25. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22.

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haben, von denen die Rechtmäßigkeit einer selektiven Vertriebsbindung abhängt.“373 Aber: „Was zählt, ist vielmehr die Erwägung, dass die Übertragung dieses Kriteriums auf den Bereich des Artikels 85 EWG-Vertrag durch kein wirkliches Erfordernis zum Schutze des Wettbewerbs gerechtfertigt erscheint.“374 Und das Gericht kommt dem damit eröffneten Begründungsbedarf auch nach: Von der Sache her, was den genannten „Bereich“ angeht, ebenso wie vom Recht her, was das genannte „Erfordernis“ angeht. Von der Sache her bedenkt der Generalanwalt zunächst, dass eine unvollständige 124 Lückenlosigkeit von selektiven Vertriebssystemen in so hochkomplexen wirtschaftlichen Zusammenhängen wie dem heutigen Handel nahezu unvermeidlich ist. Daher „ist es ganz normal, dass Vertriebssysteme ein gewisses mehr oder minder hohes Maß an Lückenhaftigkeit aufweisen“.375 Der Sache tut es also keinen Abbruch, wenn man auf das Kriterium der Lückenlosigkeit verzichtet. Es besteht kein Bedarf, hier um der Sache willen mit den Mitteln des Rechts einzugreifen. Das gilt „insbesondere für den europäischen Markt“: „Hier kann es einem Hersteller sehr wohl gelingen, ein selektives Vertriebssystem in nur einigen Staaten zu errichten, in denen seine Erzeugnisse in größerem Maße bekannt und in den Augen der Verbraucher angesehen sind und wo es deshalb leichter ist, Händler zu finden, die bereit sind, die Verpflichtungen und Belastungen auf sich zu nehmen, die mit einer selektiven Vertriebsvereinbarung verbunden sind, während der Vertrieb in anderen Staaten zumindest in einem bestimmten Zeitraum durch nicht vertriebsgebundene Händler erfolgt.“376 Wäre es so weit also gar nicht notwendig, das Kriterium der Lückenlosigkeit in 125 die Bestimmung des Normbereichs von Artikel 85 EWG-Vertrag mit einzubeziehen, so verstärkt sich dieser Befund im Licht von dessen Regelungszweck. Es wäre hiernach sogar widersinnig. Denn „wollte man unter Berücksichtigung dieses tatsächlichen Hintergrunds die Rechtmäßigkeit einer selektiven Vertriebsbindung von ihrer Lückenlosigkeit auf europäischer Ebene oder gar weltweit abhängig machen, so würde man Gefahr laufen, das freie Spiel des Wettbewerbs zu verhindern, statt es zu schützen.“377 Dies gibt der Normtext, der sich diesen Schutz angelegen sein lässt, schon in seinem Aufbau zu erkennen. Die Rechtmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme ist, wie die eingehenden Erwägungen des EuGH zum Normbereich in der Rechtssache 31 / 80 zeigen, von vornherein eine heikle Angelegenheit. Nicht nur, dass sie lediglich Ausnahme sein soll; und nicht nur, dass sie sehr anspruchsvollen Kriterien unterworfen wird. Diese sind mit Absatz (a) und (b) zudem selbst noch einmal einer strengen Rückversicherung ausgesetzt. Alles also, was hier eine zusätzliche Hermetik in die selektiven Vertriebssysteme brächte, würde dem ge373 374 375 376 377

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 23.

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meinschaftsrechtlichen Zweck zuwiderlaufen. Denn „die Lückenlosigkeit zu einer wesentlichen Voraussetzung zu erklären“ hieße, „die Autonomie der Parteien in beträchtlichem Umfang einschränken“; hieße auch, „ein Element der Starrheit in die Handelsbeziehungen hineinzubringen“. Es würde so nicht nur die Konkurrenz in unerwünschter Weise behindern, sondern wäre auch für den an einem selektiven Vertriebssystem interessierten Hersteller selbst von Nachteil. Ihm „würde ( . . . ) grundlos ein wichtiger Trumpf im Wettbewerb zwischen den Marken aus der Hand genommen, wenn man es ihm unmöglich machen würde, die selektive Vertriebsform zu wählen, nur weil es ihm nicht gelingt, eine bestimmte Anzahl von Verkäufen durch Systemfremde zu verhindern:“378 Und das ist in der „wirtschaftlichen Realität“ schlechterdings unmöglich. Läuft also das Kriterium der Lückenlosigkeit dem Regelungszweck zuwider, so ist umgekehrt der Verzicht auf dieses förderlich, wenn man bedenkt, „daß in wirtschaftlichen Sektoren, in denen alle größeren Hersteller sich für den Vertrieb selektiver Vertriebssysteme bedienen, die Möglichkeit von Verkäufen durch Systemfremde auch eine günstige Wirkung haben kann; diese Möglichkeit wirkt wie ein Sicherheitsventil, da sie, ohne daß die Rechtmäßigkeit der selektiven Vertriebssysteme in Frage gestellt wird, gleichwohl dazu führt, Erscheinungen einer übertriebenen Starrheit, insbesondere bezüglich der Preise einzuschränken, indem sie einem begrenzten Parallelhandel seitens systemfremder Händler einen kleinen Spalt öffnet.“379 Und bezüglich eines möglichen Schadens bleibt es den Herstellern unbenommen, ihre Interessen mit den „Rechtsinstrumente(n)“ des „innerstaatliche(n) Vertragsrecht(s)“ zu wahren.380 Sie wären also dem freien Spiel der Handelskräfte keineswegs schutzlos ausgeliefert. Somit besteht hier auch kein eigener gemeinschaftsrechtlicher Handlungsbedarf. 126

Wollte man durch das Kriterium der Lückenlosigkeit die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme aufbessern, „so bestünde die Gefahr, dass man zu einer Therapie gelangte, die schlimmer ist als die Krankheit selbst, in dem Sinne, dass, um die Störungen der selektiven Vertriebsbindung durch Systemfremde zu beseitigen, die gesamte Vertriebsbindung nach Artikel 85 Absätze 1 und 2 für ungültig erklärt würde“.381 Man würde normtextgelösten Argumenten aus dem Sachbereich folgen, „wollte man die Rechtswirksamkeit eines selektiven Vertriebssystems nach Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag von seiner Lückenlosigkeit abhängig machen.“ Außerdem hätte dies „die paradoxe Folge, dass die starrsten und geschlossensten Vertriebssysteme nach Artikel 85 günstiger behandelt würden als die flexibleren und dem Parallelhandel stärker geöffneten Vertriebssysteme.“382 Von daher bleibt dem EuGH auch nur die folgende Konsequenz: „Einer die Anwendung des Artikels 85 Absätze 1 und 2 EWG-Vertrag ausschlie378 379 380 381 382

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 38, Rn. 26.

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ßenden EG-Vertriebsbindung für Produkte des gehobenen Bedarfs (Uhren der gehobenen Preisklasse und Luxusklasse) ist die Anerkennung nicht schon aus dem Grund zu versagen, dass in Ländern außerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine Vertriebsbindung durch entsprechende Vertragsgestaltung nicht oder nicht vollkommen besteht, so dass dort die in der Europäischen Gemeinschaft gebundenen Waren von Systemfremden frei erworben und legitim auf den Gemeinsamen Markt gebracht werden können.“383

252.3 Fehlerrisiken bei der Normbereichsanalyse Die Frage nach der Entwicklung und Konsolidierung des Gemeinschaftsrechts 127 auch entgegen nationalstaatlichen Regelungen stellt sich für den EuGH besonders dann, wenn die Gewährung übergreifenden Rechtschutzes in Frage steht. In der Rechtssache 61 / 65 vom 30. Juni 1966 ging es um die sozialen Belange von Wanderarbeitern; und in der Rechtssache C-54 / 96 vom 17. September 1997 um die Belange einer Dienstleistungsgesellschaft, die gegen nationalstaatliche Regelungen durchzusetzen waren. In beiden Fällen war allerdings zunächst einmal die Berechtigung der jeweiligen einzelstaatlichen Institutionen nach Artikel 177 EWG-Vertrag zu prüfen, den EuGH zu einer Vorabentscheidung anzurufen. Dabei handelte es sich um den „Begriff ,Gericht‘ im Sinne von Artikel 177 EWG-Vertrag“.384 Im ersten Fall ging es darum, ob das niederländische „Scheidsgericht“ ein solches sei.385 Im zweiten war darüber zu befinden, ob die deutschen „Vergabeüberwachungsausschüsse“ ein solches darstellen.386 In beiden Verfahren erhob sich diese Frage deswegen, weil diese Institutionen in den nationalstaatlichen Regelungen ausdrücklich „nicht als Gerichte im eigentlichen Sinne“387 bezeichnet werden. Hier zeigt sich das Risiko des Unterwerfungsfehlers. Ein solcher läge dann vor, 128 wenn man entgegen dem Normprogramm des Gemeinschaftsrechts den rechtserzeugten Sachbereich der Nationalstaaten einfach übernehmen würde. Der EuGH stellt zunächst fest, dass „zwar ( . . . ) das Scheidsgericht kein Gericht im Sinne der niederländischen Gerichte (sei), doch sei keineswegs auszuschließen, daß es als Gericht im Sinne von Artikel 177 EWG-Artikel angesehen werden müsse.“388 Und für eine solche Frage der „Auslegung dieses Vertrags“ sei der EuGH nun einmal zuständig. Das Gericht belässt es jedoch nicht dabei. Als in der Rechtssache C-54 / 96 die Frage nach dem Normbereich von Art. 177 abermals aufgeworfen wird, gibt es sich mit dem in der Rechtssache 61 / 65 erarbeiteten Ergebnis nicht 383 384 385 386 387 388

Ebd., S. 40 f. Vgl. EuGH, Slg. 1966, S. 377 ff., 585 (Vaassen-Göbbels). Vgl. ebd., S. 588. Vgl. EuGH, Slg. 1997, S. 4961 ff., 4970 (Dorsch Consult). Vgl. ebd., S. 4971; EuGH, Slg. 1966, S. 377 ff., 588 (Vaassen-Göbbels). EuGH, Slg. 1966, S. 377 ff., 588 (Vaassen-Göbbels).

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einfach zufrieden. Der EuGH weist zwar darauf hin, dass der „Umstand“, dass „das nationale Recht“ die in Rede stehenden Institutionen „als ,gerichtsähnliche Einrichtungen‘ und nicht als Gerichte im eigentlichen Sinne bezeichnet“, „an und für sich nicht ausschlaggebend (ist), da der Begriff des Gerichts im Sinne von Artikel 177 ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff ist, unter den der Gerichtshof (gelegentlich) auch Stellen subsumiert hat, die nach nationalem Recht keine Gerichte waren“.389 Er ist sich aber seiner methodischen Sorgfaltspflichten sehr wohl bewußt, wenn er für die aktuell anstehende Rechtssache C-54 / 96 dies nicht einfach fortzuschreiben gedenkt, sondern feststellt, dass dennoch „das Wesen der Stelle und die Art und Weise, wie sie ihre Aufgaben wahrzunehmen hat, im einzelnen untersucht werden (müssen), vor allem um festzustellen, ob die Stelle jeweils die organisatorischen und funktionellen Merkmale aufweist, von denen es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs abhängt, ob eine Stelle, die kein Gericht ist, dennoch unter Artikel 177 fallen kann.“390 129

Normbereichsfragen sind solche der normativen Überformung der in Gestalt der strittigen Sachverhalte auftretenden Wirklichkeit. Entsprechend sind sie aus den Texten des Rechts zu klären, das heißt methodisch anhand der Konkretisierung der einschlägigen Normtexte. Die Fragestellung des Normprogramms leitet den Zugriff auf die empirischen Tatsachen. Und so macht sich der EuGH zunächst in der Rechtssache 54 / 66 daran, das niederländische Scheidsgericht auf jene Merkmale hin zu überprüfen, die es zum Kandidaten für den Referenzbereich von Artikel 177 machen könnten. Ausgangspunkt ist der Umstand, „daß beide Rechtsordnungen verschiedene Herrschaftsbereiche haben. Die Gerichts- und Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten beruht im großen und ganzen zwar auf gemeinsamen Grundsätzen, ist aber doch von historischen Zufälligkeiten oder unterschiedlichen Rechtsauffassungen beeinflusst. Daher könnte der Fall eintreten, daß Sie (gemeint: der EuGH) im Interesse einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Vertrages eine Institution als ,Gericht‘ im Sinne von Artikel 177 qualifizieren, der das Recht des eigenen Staates nicht ausdrücklich diese Eigenschaft verleiht.“391 Hier wird nun das umgekehrte Risiko des Übergriffsfehlers sichtbar. Der läge vor, wenn man entgegen dem Normprogramm des Gemeinschaftsrechts den rechtserzeugten Sachbereich des Nationalstaates nicht berücksichtigen würde. Entscheidend ist dabei der gemeinschaftsrechtsbezogene Begriff des Gerichts im Text von Art. 177. Der EuGH sucht daher wegen der für Art. 314 erforderlichen nationalsprachlichen Basis der gemeinschaftsrechtsbezogenen Bedeutung seine Orientierung in „den in den einzelnen Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung geltenden Grundsätzen“.392 Er versichert sich so der „grundlegenden Eigenschaften derjeni389 EuGH, Slg. 1997, S. 4961 ff., 4971 (Dorsch Consult) mit ausdrücklichem Verweis dafür auf das „Urteil vom 30. Juni 1966 in der Rechtssache 61 / 65 (Vaassen-Göbbels, Slg. 1966, S. 377 ff., 584). 390 EuGH, Slg. 1997, S. 4961 ff., 4971 (Dorsch Consult). 391 EuGH, Slg. 1966, S. 377 ff., 611 (Vaasen-Göbbels). 392 Ebd., S. 611 f.

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gen Organe ( . . . ), die Streitfälle ( . . . ) zu entscheiden haben“393, das heißt der „nach Einrichtung, Tätigkeit und Aufgaben ( . . . ) gewöhnlichen Merkmale der Rechtsprechungsorgane“.394 Und er untersucht anhand der „Verfahrensvorschriften des Scheidsgericht“395, ob solche Merkmale sich in diesen Bestimmungen wieder finden.396 Im Einzelnen ergibt sich dabei Folgendes: Was den Kompetenzbereich betrifft, 130 so seien die „Rechtsprechungsbefugnisse klar von der Verwaltungstätigkeit getrennt“.397 Es handelt sich also um ein unabhängiges Organ. Was die Besetzung angeht, so ist der Umstand, „daß die Mitglieder des Scheidsgericht nicht notwendigerweise Berufsrichter oder überhaupt Juristen sein zu müssen scheinen ( . . . ), ohne Bedeutung“. Nicht nur, dass dies „eine auf dem Gebiet der sozialen Gesetzgebung normale Erscheinung“ ist.398 Es kommt allein auf die Ausstattung mit der nötigen Amtsgewalt an. Diese haben die Mitglieder des Scheidsgericht zweifellos, da sie nicht nur Entscheidungen bindend fällen, sondern auch endgültig.399 Das Scheidsgericht ist so „für alle Rechtsstreitigkeiten in Angelegenheiten der Krankenversicherung der Bergbauangestellten eine zwingend vorgeschriebene Instanz.“ Es „wurde geschaffen, um in erster und letzter Instanz Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung dieses besonderen Systems zu entscheiden.“400 Was das Verfahren seiner Urteilsfindung angeht, so haben die entsprechenden Vorschriften nicht nur „unverkennbar justizförmigen Charakter“. Die Entscheidungen ergehen auch, wie es sich für ein ordentliches rechtsförmiges Vorgehen gehört, „in Form von Urteilen“.401 Diese werden „nach Rechtsnormen und nicht nach Billigkeit“ gefällt.402 Alles in allem spricht also nichts dagegen, das Scheidsgericht als „Gericht eines Mitgliedstaats“ zu betrachten. Es „stellt tatsächlich die einzige gerichtliche Instanz auf diesem Gebiet dar“, gemeint ist die Krankenversicherung der Bergbauangestellten. „Wenn nicht rechtlich, so jedoch tatsächlich tritt es an die Stelle der staatlichen Gerichte, denen sonst die Rechtsstreitigkeiten auf diesem Gebiet übertragen sind.“403 Zwar setzt sich der EuGH mit seiner Anerkennung des Scheidsgericht als „Gericht eines Mitgliedstaats“ im Sinn von Art. 177 EWG-Vertrag über die einzelstaatliche „Rechtsnatur“ dieser Institution hinweg und lässt gewissermaßen die Tatsachen von dessen gerichtlicher Verfassung dafür sprechen.404 Er beruft Ebd., S. 612. Ebd., S. 595. 395 Siehe ebd., S. 588 ff. und zu deren Würdigung ausführlich S. 596 ff. 396 Siehe die entsprechenden Ausführungen des Generalanwalts EuGH, Slg. 1966, S. 377 ff., 612 (Vaasen-Göbbels). 397 Ebd., S. 595. 398 Ebd., S. 595. 399 Vgl. dazu ebd., S. 596, 613. 400 Ebd., S. 596. 401 Ebd., S. 595. 402 Ebd., S. 596. 403 Ebd., S. 596. 393 394

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sich dabei aber nicht auf irgendeine ominöse „Natur der Sache“. Vielmehr erreicht er sein Ergebnis durch eine selbst wieder normativ angeleitete empirische Untersuchung anhand des entsprechenden Normtextes, in dem die fragliche Institution gründet; also durch eine Analyse des Normbereichs. 131

So verfährt der Gerichtshof auch in der Rechtssache C-94 / 96. Hier hatte sich die Frage nach dem Charakter der Einrichtung, die sich an den EuGH wendet, im Rahmen eines Streits um die Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge gestellt. Betroffen ist der „Vergabeüberwachungsausschuss“, der nach deutschem Recht „als ,gerichtsähnliche Einrichtung‘ und nicht als Gericht im eigentlichen Sinne bezeichnet“ wird.405 Der EuGH stellt zunächst noch einmal klar, dass dies „an und für sich nicht ausschlaggebend (ist), da der Begriff des Gerichts im Sinne von Artikel 177 ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff ist“.406 Er merkt zudem an, dass er sich „aus Gründen der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts ( . . . ) nicht nach dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten bestimmen (kann)“.407 Das Gericht knüpft an die Entscheidung in der Rechtssache 61 / 65 an, mit dem „Ergebnis, dass die vorlegende Instanz die Merkmale eines Gerichts im Sinne von Artikel 177 aufweise.“408 In der Vorentscheidung war ausschlaggebend gewesen, dass das fragliche Scheidsgericht „eine nach niederländischem Recht ordnungsgemäß gebildete Einrichtung (war), die über Streitsachen zu entscheiden hatte; das Streitverfahren vor ihm ( . . . ) Vorschriften (unterlag), die den für die allgemeinen Gerichte geltenden entsprachen“ und dass „es ( . . . ) nach Rechtsnormen zu entscheiden (hatte)“.409 All das rechtfertigt „die Qualifizierung einer vorlegenden Stelle als Gericht im Sinne des EG-Vertrages nicht nach ihrer Bezeichnung, sondern ihren wesentlichen Merkmalen (wie gesetzliche Grundlage, ständige Einrichtung, obligatorische Gerichtsbarkeit, Existenz transparenter Verfahrensvorschriften und Anwendung von Rechtsnormen)“.410 Auf dieser entscheidungsreifen Grundlage kann sich die abschließende Subsumtion vollziehen. Der Vergabeüberwachungsausschuss wurde auf der gesetzlichen Grundlage des § 57c Absatz 7 HGrG errichtet411, und zwar nicht nur als eine „ständige ( . . . ) Einrichtung“412, sondern darüber hinaus als „die einzige Stelle ( . . . ), die die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Vergabeprüfstelle überprüft“413, und zwar „bindend“.414 Für 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413 414

Vgl. ebd., S. 596. EuGH, Slg. 1997, S. 4961 ff., 4971 (Dorsch Consult) m. N. Ebd., S. 4971. Ebd., S. 4971, Fn. 20. Ebd., S. 4971. Ebd. Ebd., S. 4972, 4992 f., Rn. 23. Vgl. ebd., S. 4973, 4992 f., Rn. 24. Vgl. ebd., S. 4973, 4992 f., Rn. 25. Vgl. ebd., S. 4972, 4994 f., Rn. 28. Vgl. ebd., S. 4972, 4994 f., Rn. 29.

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seine Entscheidungsfindung „(ist) der Ausschuss „verpflichtet ( . . . ), die Vergabevorschriften anzuwenden, die in den Richtlinien der Gemeinschaft und den zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechtsverordnungen enthalten sind.“ Diese Arbeit ist gesetzesförmigen Verfahrensvorschriften unterworfen. Kurzum, „der Vergabeüberwachungsausschuss des Bundes wendet daher Rechtsnormen an.“415 Und was seine Mitglieder angeht, so sind diese gemäß § 57c Absatz 2 HGrG „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“, sofern überhaupt „der Vergabeüberwachungsausschuss gemäß § 57c Absatz 1 HGrG seine Tätigkeit unabhängig und in eigener Verantwortung ausübt“.416 Es bleibt also nur der Schluss, dass der Vergabeüberwachungsausschuss des Bundes „als Gericht im Sinne von Artikel 177 zu betrachten“ ist.417 Damit hat der EuGH im Ergebnis sowohl einen Unterwerfungs-418 als auch einen Übergriffsfehler419 vermieden. 26 Rechtsvergleichende Auslegung zwischen Erfindung und Fortbildung Die rechtsvergleichende Auslegung spielt in der Methodenkultur der Mitglied- 132 staaten noch keine erhebliche Rolle. Für die Praxis der Gerichte ist sie zu zeitraubend und voraussetzungsvoll. Wenn sie überhaupt anerkannt wird, ist sie meistens wissenschaftlichen Monographien vorbehalten.420 Dabei kann sie wichtige Perspektiven liefern.421 Der Vergleich mit anderen Rechtskulturen macht Stärken und Schwächen der eigenen Lösung sichtbar. Damit werden Spielräume für Alternativen deutlich, und die Lesart der nationalen Texte kann sich innerhalb der sonst anerkannten methodischen Grenzen verschieben. Die Art. 6 Abs. 2 und 288 EG machen diese Methode nun aber für die Gerichte der Gemeinschaft verpflichtend. Im internationalen Privatrecht und im europäischen Privatrecht ist Rechtsvergleichung schon heute unvermeidbar. In den anderen vom Gemeinschaftsrecht beeinEbd., S. 4972, 4995 f., Rn. 33. Ebd., S. 4972, 4995 f., Rn. 35. 417 Ebd., S. 4972, 4996 f., Rn. 38. 418 Siehe dazu EuGH, Urteil vom 15. 07. 2004 – C-424 / 02 – Kommission / Großbritannien; Urteil vom 27. 05. 2004 – C-398 / 02 – Kommission / Spanien; EuGH, Urteil vom 18. 11. 2004 – C-420 / 02 – Kommission / Griechenland; EuGH, in: NVwZ 2005, S. 432 ff. = EuZW 2005, S. 95 ff. – Kommission / Niederlande; EuGH, in: NVwZ 2005, S. 76 ff. = EuZW 2005, S. 63 ff. – Siomab; EuGH, in: NVwZ 2005, S. 309 ff. = EuZW 2005, S. 216 ff. – EUWood-Trading. 419 Vgl. dazu EuGH, in: NVwZ 2004, S. 841 ff. = EuZW 2004, S. 187 ff. – Kommission / Österreich. 420 Zum Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung des europäischen Privatrechts vgl. Schwartze, A., Die Rechtsvergleichung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 5 ff., 8 ff. 421 Zum Einsatz von Rechtsvergleichung und Lehre des europäischen Privatrechts vgl. Schwartze, A., Die Rechtsvergleichung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 5 ff., 19 ff. 415 416

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flussten Gebieten wird Rechtsvergleichung auch immer wichtiger werden. Damit wird es nötig, . . . das Potenzial und die Risiken dieser Figur besser einzuschätzen. Als Bespiel soll hier das vom EuGH entwickelte Staatshaftungsrecht dienen.

261 Die Staatshaftung der Gemeinschaft

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Nach ständiger Rechtsprechung wird die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft ausgelöst, wenn der Kläger die Rechtswidrigkeit des dem betreffenden Organ vorgeworfenen Verhaltens, das in Ausübung einer Amtstätigkeit gesetzt wurde, das Vorliegen eines Schadens und das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden nachweisen kann.422 261.1 Haftung der Gemeinschaft für normatives Handeln Besondere Bedeutung in rechtlicher, aber vor allem in praktischer Hinsicht haben Haftungsprozesse im Bereich von normativen Rechtsakten.

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Bereits im sog. „Schöppenstedt“-Urteil hat der Gerichtshof die Möglichkeit der Amtshaftung in diesem Umkreis anerkannt. Generalanwalt Roemer stellte bei seiner rechtsvergleichenden Analyse in den Schlussanträgen zunächst fest, dass eine Amtshaftung aufgrund normativer Akte in Frankreich und in Belgien durchaus möglich sei und dass sie auch in Italien und in der Bundesrepublik nicht prinzipiell ausgeschlossen werde; und zwar sofern man nicht nur auf das eigentliche Gesetzesrecht abstelle, welches in manchen Mitgliedstaaten (Frankreich, Niederlande, Belgien, Luxemburg) der richterlichen Kontrolle prinzipiell entzogen sei, sondern auch das Verordnungsrecht, d. h. Rechtsetzungsakte der Exekutive, in die Untersuchung miteinbeziehe. 423 Der Generalanwalt betonte anschließend, dass ein wertendes Vorgehen angezeigt sei, bei dem vor allem die speziellen Vertragsziele und die Besonderheiten der Gemeinschaftsstruktur berücksichtigt werden müssten. Dabei sei zum einen zu beachten, dass innerhalb der Gemeinschaft die parlamentarische Kontrolle schwach ausgebildet ist. Zum anderen könne berücksichtigt werden, dass nach der Fassung des Art. 34 EGKSV ein Schadensersatz bei der Annullierung allgemeiner Entscheidungen, also normativer Akte, im Bereich der EGKS durchaus in Betracht komme. Der Gedanke einer Haftung für legislatives Unrecht sei dem Gemeinschaftsrecht mithin nicht völlig fremd. Daneben sei zu beachten, dass Gemeinschaftsverordnungen auch nach dem System des EG-Vertrages (Art. 177, 184 EGV) der Kritik privater Betroffener keineswegs völlig entzogen seien. Schließlich sei auch an den in der EuGH-Rechtsprechung wiederholt unterstrichenen Grundsatz zu erinnern, nach welchem Bestimmungen über den Rechts422 423

Lageard, S., in: Lenz, C. O. (Hrsg.), EGV-Kommentar 1999, Art. 288, Rn. 10. EuGH, Slg. 1971, S. 975 ff., 990 (Schöppenstedt).

261 Die Staatshaftung der Gemeinschaft

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schutz, zu denen Art. 215 EGV zweifellos gehöre, nicht restriktiv interpretiert werden dürften. Der Generalanwalt schlug im Ergebnis vor, den Grundsatz der Amtshaftung424 als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen. Dem folgte der Gerichtshof. Die grundsätzliche Anerkennung einer Haftung der Gemeinschaft für das normative Handeln ihrer Organe – insbesondere auch des Rates – ist aus rechtspolitischen Gründen sowie im Hinblick auf die effektive Durchsetzung des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft zu begrüßen. Dies hat auch einen präventiven Effekt, der allerdings nicht das gesetzgeberische Handeln lähmen darf. Folglich ist ein Mittelweg zu wählen. Der Gerichtshof hat in dem SchöppenstedtUrteil daher für normatives Handeln eine strengere Haftungsvoraussetzung anerkannt: „Da es sich um einen Rechtsetzungsakt handelt, der wirtschaftspolitische Entscheidungen einschließt, kann die Haftung der Gemeinschaft für den Einzelpersonen durch diesen Akt etwa entstandenen Schaden nach den Vorschriften von Artikel 215 Absatz 2 des Vertrages nur durch eine hinreichend qualifizierte Verletzung einer höherrangigen, dem Schutz der Einzelnen425 dienenden Rechtsnorm ausgelöst werden.“426 Das einschränkende Kriterium ist somit die hinreichend qualifizierte Verletzung, ein dogmatisches Konkretisierungselement.

261.2 Qualifizierte Rechtsverletzung als einschränkendes Merkmal In der nachfolgenden Rechtsprechung hat der Gerichtshof zunächst nicht erken- 135 nen lassen, in welchem Sinn er das Kriterium der „qualifizierten Rechtsverletzung“ verstanden wissen will. So ist insbesondere im Fall „CNTA“ die Haftung schlicht mit der Feststellung bejaht worden, die Kommission habe „ohne durch ein zwingendes öffentliches Interesse dazu veranlaßt worden zu sein, keine Übergangsmaßnahmen zum Schutz des berechtigten Vertrauens der betreffenden Unternehmen vorgesehen.“427 Erst in dem „HNL“-Urteil kam es zu einer Konkretisierung der Judikatur bezüglich dieses Merkmals.428 Generalanwalt Capotorti setzte sich zunächst erneut mit der Möglichkeit der Gemeinschaftshaftung für normatives Unrecht auseinander und wies u. a. auf „Schöppenstedt“ hin, dessen Ergebnis er bekräftigte.429 Anschließend prüfte er das Vorliegen des Kriteriums der hinreichenden Qualifizierung und gelangte nach einer rechtsvergleichenden Analyse zu dem Ergebnis, die Haftung eines Staates für rechtswidrige Handlungen nach den gemeinsamen Grundsät424 Zur Haftungsbegründung vgl. Gromitsaris, A., Rechtsgrund und Haftungsauslösung im Staatshaftungsrecht, 2005, S. 189 ff. 425 Vgl. Reiling, M., Zu individuellen Rechten im deutschen und im Gemeinschaftsrecht, 2005, 3. Kap. Annex. 426 Ebd., S. 984 f. 427 EuGH, Slg. 1975, 533 ff. (CNTA / Kommission). 428 EuGH, Slg. 1978, S. 1209 ff., 1212 ff. („HNL“). 429 Ebd., S. 1229.

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zen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen setze nicht voraus, dass der Schaden einen bestimmten Umfang erreiche; und ferner, dass grundsätzlich jeder Inhaber des verletzten Rechts Anspruch auf Ersatz habe, auch wenn er zu einer großen Personengruppe gehöre, sofern diese nur individuell bestimmbar sei.430 Capotorti schlug in diesem Zusammenhang vor: „Sollte der Gerichtshof im Wege einer ,fortentwickelten‘ Auslegung den Begriff der hinreichend qualifizierten Verletzung ausbauen und annehmen, daß die hinreichende Qualifiziertheit (entgegen der Ansicht des Generalanwalts) an den Umfang des Schadens anknüpft, wäre es zweckmäßig, eine allgemeine Formel aufzustellen, durch die die Grenzen des tragbaren Schadens bestimmt werden.“ Im Ergebnis plädierte Capotorti für eine Haftung der Gemeinschaft.431 136

Der Gerichtshof betonte nunmehr die Notwendigkeit einer Haftungseinschränkung im Bereich des wirtschaftspolitischen Handelns unter rechtsvergleichender Berufung auf gemeinsame Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten. Trotz vielfacher Unterschiede läßt sich nach Auffassung des EuGH doch feststellen, dass in diesem Bereich die Haftung der öffentlichen Gewalt nur ausnahmsweise und unter besonderen Umständen gegeben sei. Diese Einschränkung beruhe auf der Erwägung, „daß die gesetzgebende Gewalt selbst dann, wenn ihre Handlungen richterlicher Kontrolle unterworfen sind, bei ihrer Willensbildung nicht jedesmal durch die Möglichkeit von Schadensersatzklagen behindert werden darf, ( . . . ).“ Dementsprechend führt der Gerichtshof weiter aus: „Auf einem Rechtsetzungsgebiet wie dem vorliegenden, das durch ein für die Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik unerläßliches weites Ermessen gekennzeichnet ist, kann die Haftung der Gemeinschaft somit nur ausgelöst werden, wenn das handelnde Organ die Grenzen seiner Befugnisse offenkundig und erheblich überschritten hat.“432 Bei der Bestimmung der Voraussetzungen, die nach dieser Judikatur neben der Verletzung einer höherrangigen Norm noch gegeben sein müssen, seien die Grundsätze zu berücksichtigen, nach denen sich in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten die Haftung der öffentlichen Gewalt für Schäden bestimmt, die den Einzelnen durch den Erlass von Rechtsvorschriften zugefügt werden. Somit betonte der Gerichtshof in dem „HNL“-Urteil erstmals den Bezug zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Mitgliedstaaten i.S. des Art. 288 Abs. 2 EG.433 Er stellte neben der Schwere der Verletzung kumulativ auf die Erheblichkeit ihrer Auswirkungen ab.434 Ebd., S. 1237. Zur Haftungsbegrenzung vgl. Gromitsaris, A., Rechtsgrund und Haftungsauslösung im Staatshaftungsrecht, 2005, S. 189 ff. 432 Ebd., S. 1224 f. 433 Seitdem verweist der Gerichtshof auf diese Entscheidung, vgl. EuGH, Slg. 1984, S. 4057 ff. (Biovilac). 434 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 345. 430 431

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Im konkreten Fall hielt der Gerichtshof die Voraussetzung nicht für gegeben, obgleich er in vorausgehenden Urteilen festgestellt hatte, dass die angegriffene Verordnung gegen Art. 40 Abs. 3 u. Abs. 2 EGV und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße. Auch in den „Isoglukose“-Urteilen vom 5. Dezember 1979 ist die Haftung der 137 Gemeinschaft trotz vorausgehender Ungültigkeitserklärung der eine Produktionsabgabe für Isoglukose einführenden Verordnung verneint worden, weil ein qualifizierter Rechtsverstoß nicht vorliege. Allerdings stellte der Gerichtshof dort, anders als im „HNL“-Urteil, vor allem auf die Schwere der Verletzung ab, an der es fehle.435 Ferner hat er in zwei weiteren Entscheidungen eine Haftung der Gemeinschaft für gesetzgeberisches Verhalten mit dem Hinweis verneint, dass der Gesetzgebungsakt lediglich mit einem „technischen Fehler“ behaftet sei.436 In den Urteilen vom 4. Oktober 1979437 hat der EuGH dagegen erstmals das 138 Vorliegen eines qualifizierten Verstoßes ausdrücklich bejaht. Ebenso in dem viel beachteten „Mulder“-Urteil438. Dort stellte er fest, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber die Grenzen seines Ermessens offenkundig und erheblich überschritten habe, weil die streitige Verordnung (vom Gerichtshof in einem früheren Urteil entschieden) wegen Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes ungültig war. Dabei sprach er von der „besonderen Lage einer klar abgrenzbaren Gruppe von Wirtschaftsteilnehmern“, obwohl mehrere tausende von (in diesem Fall) Milcherzeugern von der nicht erfolgten Milchquotenverteilung betroffen waren. Das Gericht hat der Klägerin allerdings einen Ersatzanspruch nur in Höhe von 60% der ihr an sich zustehenden Quoten zugesprochen, weil die nachträglich erlassene Verordnung insoweit keinen qualifizierten Rechtsverstoß enthalte.439

261.3 Haftung der Gemeinschaft für rechtmäßiges Handeln In der Rechtssache „Compagnie d’Approvisionnement“ hatten die Kläger hilfs- 139 weise geltend gemacht, sie hätten einen „außergewöhnlichen und besonderen“ Schaden erlitten. Deshalb sei die Haftung der Gemeinschaft auch dann begründet, wenn keine rechtswidrige Handlung vorliege. Der EuGH hat diese Rüge mit folgenden Erwägungen abgewiesen: „Eine Haftung für einen legalen Rechtsetzungsakt kann in einer Lage wie der vorliegenden nicht in Betracht kommen, weil die Maßnahmen der Kommission im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse lediglich

435 Gilsdorf, P. / Oliver, P., Art. 215, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auflage, 1991. 436 EuGH, Slg. 1989, S. 1553 ff. (Roquette / Kommission). 437 EuGH, Slg. 1963, S. 213 ff. (Plaumann / Kommission). 438 EuGH, Slg. 1973, S. 125 ff. (Schröder / Bundesrepublik Deutschland). 439 EuGH, Slg. 1973, S. 125 ff., 143 (Schröder / Bundesrepublik Deutschland).

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die Folgen mindern sollten, die sich ( . . . ) aus dem Beschluß ( . . . ) ergaben, den Franken abzuwerten.“440 140

Ein ähnliches Argument hatten die Kläger in der Rechtssache „Biovilac“ vorgebracht, welches wie folgt verworfen wurde: „Hierzu genügt der Hinweis, daß einer Klage auf Schadensersatz wegen rechtswidrigen normativen Handelns nach Artikel 215 EWG-Vertrag nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann stattgegeben werden kann, wenn der vom Kläger geltend gemachte Schaden die Grenzen der wirtschaftlichen Risiken, die der Tätigkeit in dem betroffenen Sektor innewohnen, überschreitet. Dieser Grundsatz hätte erst recht zu gelten, wenn im Gemeinschaftsrecht eine Haftung für rechtmäßiges Handeln zugelassen werden sollte. Im vorliegenden Fall sind diese Grenzen nicht überschritten worden.“441

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In allen geschilderten Fällen sah der Gerichtshof davon ab, zu entscheiden, ob grundsätzlich eine Haftung für rechtmäßiges Handeln auf Gemeinschaftsebene existiert. In der Rechtssache „De Boer Buizen“ scheint er jedoch die Möglichkeit einer solchen Haftung in Erwägung zu ziehen. Rechtsvergleichend ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass eine solche Haftungsform nur in einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bekannt ist und sich dort unter ganz bestimmten historischen Gegebenheiten entwickelt hat. Deshalb ist ihre Übertragung in das Gemeinschaftsrecht über Art. 288 Abs. 2 EG vorsichtig zu behandeln, da es angesichts der Struktur und der Fortentwicklung der Gemeinschaft häufig zu Änderungen der rechtlichen Situation kommt, die den Wirtschaftsteilnehmern notwendigerweise Opfer auferlegen. Das Schrifttum hat sich daher ebenfalls zurückhaltend geäußert.442

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Die Frage gewinnt allerdings unter dem Aspekt des Grundrechtsschutzes eine besondere Note. Vor allem im Hinblick auf den Eigentumsschutz hat der Gerichtshof bereits anerkannt, dass dieses Grundrecht nicht nur vor Entziehungen, sondern auch vor unverhältnismäßigen Eingriffen in die Vorrechte des Eigentümers, die das Eigentum in seinem Wesensgehalt antasten, geschützt ist.443 Aus diesem Konzept dürfte sich unter gewissen Voraussetzungen, vor allem, wenn der Gesichtspunkt der Aufopferung einschlägig ist, eine Pflicht zur Entschädigung ergeben, beispielsweise bei diskriminierender Subventionspraxis.444

EuGH, Slg. 1972, S. 391 ff., 409 (Comagnie d’Approvisionnement). EuGH, Slg. 1984, S. 4057 ff., 4080 f. (Biovilac); ähnlich die abweisende Begründung in EuGH, Slg. 1986, S. 1913 ff., 1922 (Clemessy). Zur Haftung der Gemeinschaft für rechtmäßiges Handeln vgl. Görgens, S., Die außervertragliche Haftung der Europäischen Gemeinschaft für Verletzungen des WTO-Rechts durch ihre Organe, 2006, S. 187 ff. 442 Gilsdorf, P. / Oliver, P., Art. 215, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auflage, 1991, Rn. 89 m. zahlreichen w. N. 443 EuGH, Slg. 1979, S. 3727 ff. (Hauer). 444 Gilsdorf, P. / Oliver, P., Art. 215, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, 4. Auflage, 1991, Rn. 89. 440 441

262 Weiterentwicklung des nationalen Staatshaftungsrechts

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262 Weiterentwicklung des nationalen Staatshaftungsrechts durch den EuGH

Der EuGH hat die Grundsätze des Staatshaftungsrechts nicht nur auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene entwickelt. Über die mit der mitgliedstaatlichen Umsetzung von Richtlinien verbundenen Probleme hat seine Rechtsprechung auch starke Auswirkungen auf das nationale Staatshaftungsrecht.

262.1 Die Grundsätze der Staatshaftung Der EuGH hatte bereits in mehreren Urteilen anerkannt, dass die Beseitigung 143 einer Vertragsverletzung nach Abschluss des Vorverfahrens im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 226, 227 EG) nicht zu einer Unzulässigkeit der Klage der Kommission führen muss, da das EuGH-Urteil als Grundlage für eine Haftung des Staates gegenüber Dritten dienen kann.445 Das sog. „Francovich-Urteil“446 stellte dann den Anfang der Entwicklung eines gemeinschaftsrechtlich begründeten Schadensersatzanspruchs dar. In diesem Urteil hat der EuGH einen solchen Haftungsanspruch bejaht. Der Entscheidung lag eine Richtlinie zugrunde, die dem Arbeitnehmer auf Gemeinschaftsebene einen Mindestschutz bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers gewährleisten sollte.447 Der italienische Staat hatte diese Richtlinie nicht umgesetzt. Herr Francovich, Frau Bonifaci und andere waren Arbeitnehmer in verschiedenen Unternehmen, die in Konkurs fielen. Sie erlitten Ausfälle, weil wegen der Nichtumsetzung der Richtlinie eine Absicherung nicht bestand. Der Gerichtshof verneinte die erste Vorlagefrage – ob die Kläger gegen den 144 Staat Ansprüche aus der Richtlinie selbst hätten – angesichts der mangelnden Bestimmtheit des Kreises der möglichen Anspruchsgegner, da es den Mitgliedstaaten freigestellt war, in welcher Weise das Sicherungssystem ausgestaltet werden sollte.448 Die unmittelbare Anwendung kann nicht nur an der Bestimmtheit scheitern, sondern auch an der Dreieckswirkung einer Belastung anderer Bürger. Die unmittelbare Gültigkeit von Richtlinien, die nicht auf ein rein vertikales oder rein horizontales Verhältnis zurückgeführt werden können, sondern eine „Dreiecksstruktur“ aufweisen, ist angesichts der grundsätzlichen Ablehnung der unmittelbaren Wirkung von einzelnen verpflichtenden Bestimmungen in der Richtlinie 445 EuGH, Slg. 1973, S. 101 ff., 112 (Kommission / Italien); EuGH, Slg. 1986, S. 1759 ff. (Kommission / Italien); EuGH, Slg. 1990, S. 125 ff. (Kommission / Griechenland). 446 EuGH, Haftung eines Mitgliedstaates bei Nichtumsetzung einer Richtlinie, in: NJW 1992, S. 165 ff. 447 Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers vom 20. 10. 1980, ABl. L 283, S. 23. 448 EuGH, Slg. 1991, S. 5357 ff., 5412 (Francovich).

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2 Stand der Methodik – 26 Rechtsvergleichende Auslegung

durch die Gerichte problematisch. Häufig bezwecken die Richtlinienbestimmungen zwar auch den Schutz Einzelner, aber die Gewährleistung dieses Schutzes geht mit der Belastung anderer Privater einher. Typisches Beispiel sind die anlagenbezogenen Standards, die auf der einen Seite den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und auf der anderen den Umweltschutz fördern, aber nur durch die Auferlegung von entsprechenden Pflichten gegenüber dem Anlagenbetreiber verwirklicht werden können. In der Rechtssache C-201 / 02449 hat sich der EuGH zum ersten Mal ausdrücklich zu dieser Frage erklärt. Angesichts der direkten Wirkung der UVPRichtlinie unterscheidet der EuGH zwischen staatlichen Verpflichtungen, die unmittelbar im Zusammenhang mit einer Belastung von Privaten stehen, und solchen, die allein negative Auswirkungen auf Rechte Dritter entfalten. Eine unmittelbare Wirkung sei immer dann ausgeschlossen, wenn sich die staatliche Aktivität darauf beschränkt, den Einzelnen zu belasten. Hier ginge es um die klassische vertikale Wirkung der Richtlinie zu Lasten Einzelner. Hingegen sei die Möglichkeit einer unmittelbaren Wirkung dann zu bejahen, wenn die Regelung primär den Staat zu einem bestimmten Verhalten verpflichte und Private nur mittelbar betroffen seien. 145

Die vorlegenden Gerichte warfen daher die Frage auf, ob und in welchem Umfang der Staat für Schäden haftet, die durch eine Verletzung seiner gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verursacht werden. Dieses Problem war nach Auffassung des EuGH „unter Berücksichtigung des allgemeinen Systems und der wesentlichen Grundsätze des EWG-Vertrages zu prüfen“.450 Der Gerichtshof leitete hieraus den Grundsatz der Staatshaftung ab451: „Der EWG-Vertrag hat eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von den nationalen Gerichten anzuwenden ist. Rechtssubjekte dieser Rechtsordnung sind nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch der einzelne, dem das Gemeinschaftsrecht, ebenso wie es ihm Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen kann. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der EWG-Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die der EWG-Vertrag dem Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt (Urteile vom 5. Februar 1963 in der Rechtssache 26 / 62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1, und vom 15. Juli 1964 in der Rechtssache 6 / 64, Costa, Slg. 1964, 1251).452 Nach ständiger Rechtsprechung müssen die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden haben, die volle Wirkung dieser Bestimmungen gewährleisten und die Rechte schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem einzelnen verleiht (vgl. insbesondere die Urteile vom 9. März 1978 in der Rechtssache 106 / 77, Simmenthal, Slg. 1978, 629, Randnrn. 14 / 16, und vom 19. Juni 1990 in der Rechtssache C-213 / 89, Factortame, 449 450 451 452

EuGH, in: NVwZ 2004, S. 593 ff. = EWS 2004, S. 232 ff. – Delena Welss. Ebd., S. 5413. Ebd., S. 5413 f. Wenn der EuGH diese Urteile zitiert, folgt in der Regel etwas sehr Grundlegendes!

262 Weiterentwicklung des nationalen Staatshaftungsrechts

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Slg. 1990, I-2433, Randnr. 19). Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu erlangen, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist. Die Möglichkeit einer Entschädigung durch einen Mitgliedstaat ist vor allem dann unerläßlich, wenn die volle Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wie im vorliegenden Fall davon abhängt, daß der Staat tätig wird, und der einzelne deshalb im Falle der Untätigkeit des Staates die ihm durch das Gemeinschaftsrecht zuerkannten Rechte vor den nationalen Gerichten nicht geltend machen kann. Der Grundsatz einer Haftung des Staates für Schäden, die dem einzelnen durch dem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, folgt somit aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung.“ Damit war ein Ausgangspunkt für die Staatshaftung die eigenständige Qualität 146 der Gemeinschaftsrechtsordnung. „Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Ersatz dieser Schäden findet auch in Artikel 5 EWG-Vertrag eine Stütze, nach dem die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht zu treffen haben. Zu diesen Verpflichtungen gehört auch diejenige, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beheben (zu der ähnlichen Bestimmung des Artikels 86 des EGKS-Vertrages s. das Urteil vom 16. Dezember 1960 in der Rechtssache 6 / 60, Humblet, Slg. 1960, 1163). Es ist nach alledem ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts, daß die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind.“453 Der Haftungsgrund kommt also aus dem Gemeinschaftsrecht selbst. In dem Urteil ging es um den Fall der Nichtumsetzung einer Richtlinie, und der Gerichtshof ging davon aus, dass die Voraussetzungen von der Art des Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht abhängen. Bei einer Verletzung des Art. 249 Abs. 3 EG entstehe die Pflicht zur Haftung unter drei Voraussetzungen: Erstens müsse das Ziel der Richtlinie die Verleihung von Rechten an einzelne enthalten; zweitens müsse der Inhalt dieser Rechte auf Grundlage der Richtlinie bestimmt werden können; und drittens bedürfe es eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht und dem Schaden, der dem Bürger entstand. Bezüglich der Geltendmachung des Anspruchs und der weiteren Voraussetzun- 147 gen verwies der Gerichtshof auf das innerstaatliche Recht, das für die Zwecke des Gemeinschaftsrechts modifiziert werden müsse: „Hiervon abgesehen hat der Staat die Folgen des verursachten Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben. Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung ist es nämlich Sache der nationalen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und das Verfahren für die Klagen auszugestalten, die den 453

EuGH, Slg. 1960, S. 1163 ff. (Humblet).

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2 Stand der Methodik – 26 Rechtsvergleichende Auslegung

vollen Schutz der dem einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten soll (Urteile vom 22. Januar 1976 in der Rechtssache 60 / 75 Russo, Slg. 1976, 45, vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache 33 / 76, Rewe, Slg. 1976, 1989, und vom 7. Juli 1981 in der Rechtssache 158 / 80, Rewe, Slg. 1981, 1805). Auch dürfen die im Schadensersatzrecht der einzelnen Mitgliedstaaten festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, daß sie es praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, die Entschädigung zu erlangen (zu dem ähnlichen Bereich der Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben s. insbesondere das Urteil vom 9. November 1983 in der Rechtssache 199 / 82, San Giorgio, Slg. 1983, 3595).“454 Das warf im deutschen Recht die Frage auf, welches traditionelle Haftungsinstitut für die Gewährung eines solchen Anspruchs in Frage kommen konnte, und ob dieser Anspruch vor deutschen Gerichten einklagbar sein sollte. Aus dem Zusammenhang und der Systematik des Urteils war aber erkennbar, dass diejenigen nationalen Gerichte für die Entscheidung eines derartigen Anspruchs zuständig sein sollten, die auch bisher für Staatshaftungsansprüche zuständig waren.455 Motivation für dieses Urteil dürfte die Steigerung des „effet utile“-Gedankens gewesen sein, die Schaffung eines weiteren Druckmittels gegenüber den einzelnen Mitgliedstaaten, neben dem Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 226, 227 EG.456 148

Die in „Francovich“ aufgestellten Grundsätze bestätigte der Gerichtshof später vor allem im Urteil „Faccini Dori“457 und in der Rechtssache „Wagner Miret gegen Fondo de Garantía Salarial“.458 In dem Ausgangsverfahren des letztgenannEuGH, Slg. 1983, S. 3595 ff., 3608 (San Giorgio). Das sind gem. §§ 40 II VwGO, 71 II GVG die Landgerichte. Man diskutierte als mögliche Anspruchsgrundlagen folgende Institute: § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG, Enteignungsgleicher Eingriff, Art 288 Abs. 2 EG, aus dem EG-Vertrag abzuleitender Rechtsanspruch. Zum – durch EuGH-Urteile „Brasserie du Pêcheur“ und „MP Travel Line“ inzw. überholten Streit in der Literatur – Streinz, R., Staatshaftung für Verletzungen primären Gemeinschaftsrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, in: EuZW 1993, S. 599 ff.; Taupitz, J., Staatshaftung gegenüber leichtfertigen Urlaubern im Konkurs des Reiseveranstalters?, in: BB 1993, 2169 ff., 2171, Fn. 259 für die Anwendung des § 839 BGB; für die Anwendung einer EG-vertraglichen Grundlage: Prieß, H.-J., Die Haftung der EG-Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, in: NVwZ 1993, S. 118 ff. 456 Zur Kritik am Urteil: Fischer, H. G., Staatshaftung nach Gemeinschaftsrecht, in: EuZW 1992, 41 ff.; Geiger, J., Die Entwicklung eines europäischen Staatshaftungsrechts: Das Francovich-Urteil des EuGH und seine Folgen, in: DVBl. 1993, 465 ff.; Götz, V., Europäische Gesetzgebung durch Richtlinien – Zusammenwirken von Gemeinschaft und Staat, in: NJW 1992, 1849 ff.; Hailbronner, K., Staatshaftung bei säumiger Umsetzung von EG-Richtlinien, in: JZ 1992, S. 284 ff.; Ossenbühl, F., Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, in: DVBl. 1992, S. 993 ff. 457 EuGH, Slg. 1994, S. 3325 ff. (Faccini Dori). 458 EuGH: Schadensersatzpflicht eines Mitgliedstaates wegen mangelhafter Umsetzung einer Richtlinie, in: EuZW 1994, S. 182 ff., m. Anm. Böhmer. 454 455

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ten Urteils schien sich dem Vorlagebeschluss entnehmen zu lassen, dass die nationalen Vorschriften nicht in einem der Richtlinie konformen Sinn ausgelegt werden und daher nicht sicherstellen können, dass den leitenden Angestellten die in der Richtlinie vorgesehenen Garantien zugute kommen. Eine richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts verbot sich daher. Der EuGH zog daraus folgenden Schluss: „Für diesen Fall ergibt sich aus dem Urteil Francovich, daß der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet ist, leitenden Angestellten die Schäden zu ersetzen, die ihnen dadurch entstanden sind, daß die Richtlinie 80 / 987 / EWG in bezug auf sie nicht durchgeführt worden ist.“

262.2 Die Ausdehnung der Staatshaftung im Wege der rechtsvergleichenden Auslegung In nachfolgender Rechtsprechung präzisierte der EuGH den im Francovich-Ur- 149 teil entwickelten Haftungstatbestand. In dem Urteil „Brassérie du Pêcheur / Factortame III“459 verwies er als Grundlage des Haftungsanspruchs auch darauf, dass die Haftung eines Staates für rechtswidrige Akte all seiner Organe – auch denen der Legislative – ein allgemeiner Grundsatz sei, auf den auch Art. 288 Abs. 2 EG verweise. In dem Ausgangsrechtsstreit begehrte eine elsässische Brauerei von der Bundesrepublik Deutschland Ersatz des Schadens, der ihr dadurch entstanden war, dass sie in den Jahren 1981 bis 1987 ihr Bier, welches nicht dem Reinheitsgebot entsprach, nicht nach Deutschland einführen durfte. Dieses Einfuhrverbot war vom EuGH bereits zuvor als gemeinschaftsrechtswidrige Einfuhrbeschränkung nach Art. 28 EG (früher Art. 30 EGV) qualifiziert worden. Die Kläger in der Sache Factortame, die Anteilseigner von Fischereifahrzeugen sind, verlangen von der britischen Krone Schadensersatz, weil sie durch eine Änderung der Schiffsregistriervorschriften gehindert wurden, sich in das neue Register eintragen zu lassen. Der EuGH hatte die britische Regelung wegen der Bindung an die Staatsbürgerschaft für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt. Mit ihrer ersten Frage wollten die beiden vorlegenden Gerichte im wesentlichen wissen, ob der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem einzelnen durch diesen Staaten zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, auch dann gilt, wenn diese dem nationalen Gesetzgeber zuzuschreiben sind. Der Gerichtshof bestätigte und präzisierte dann die Francovich-Grundsätze: „Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß, wie der Gerichtshof bereits im Urteil vom 19. November 1991 in den Rechtssachen C-6 / 90 und C-9 / 90 (Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357, Randnr. 37) festgestellt hat, es ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist, daß die Mitgliedstaaten zum Ersatz der Schäden verpflichtet sind, die dem einzelnen durch Verstöße gegen das Gemein459

EuGH, Slg. 1996, S. 1029 ff. (Brasserie du pêcheur).

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schaftsrecht entstehen, die diesen Staaten zuzurechnen sind. Nach ständiger Rechtsprechung stellt die dem einzelnen eingeräumte Möglichkeit, sich vor den nationalen Gerichten auf unmittelbar anwendbare Vertragsvorschriften zu berufen, nur eine Mindestgarantie dar und reicht für sich allein nicht aus, um die uneingeschränkte Anwendung des Vertrages zu gewährleisten ( . . . ). Diese Möglichkeit, die der Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften den Vorrang gegenüber nationalen Vorschriften verschaffen soll, ist nicht in allen Fällen geeignet, dem einzelnen die Inanspruchnahme der Rechte zu sichern, die ihm das Gemeinschaftsrecht verleiht, und insbesondere zu verhindern, daß er aufgrund eines einem Mitgliedstaat zuzurechnenden Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht einen Schaden erleidet. Wie sich aus dem Urteil Francovich u. a. ergibt, wäre die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts aber in Frage gestellt, wenn der einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt worden sind, eine Entschädigung zu erlangen.“460 Dies gelte für Verstöße gegen unmittelbar wirkendes Gemeinschaftsrecht als dessen Ergänzung und für Verstöße gegen nicht unmittelbar wirkendes Gemeinschaftsrecht als Ersatz für die fehlende Direktwirkung und zur Folgenbeseitigung.461 150

Die deutsche Regierung trug vor, dass ein Entschädigungsanspruch nur durch die Gesetzgebung eingeführt werden könne, eine Anerkennung durch Richterrecht wäre mit der Gewaltenteilung zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft sowie dem nach dem EGV vorgesehenen institutionellen Gleichgewicht unvereinbar. Darauf antwortete der Gerichtshof, die Frage des Bestehens und des Umfangs der Haftung eines Staates für Schäden, die sich aus einem Verstoß gegen EG-Recht ergeben, betreffe die Auslegung des EGV, falle also in die Zuständigkeit des EuGH.462 Zum Bestehen und Umfang der Haftung führte er sodann erneut rechtsvergleichend aus: „Soweit der Vertrag keine Vorschriften enthält, die die Folgen von Verstößen der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht ausdrücklich und genau regeln, hat der Gerichtshof in Erfüllung der ihm durch Artikel 164 des Vertrages übertragenen Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern, über eine solche Frage nach den allgemein anerkannten Auslegungsmethoden zu entscheiden, insbesondere indem er auf die Grundprinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung und gegebenenfalls auf allgemeine Grundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, zurückgreift. Auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, verweist auch Artikel 215 Absatz 2 des Vertrages im Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft für den durch deren Organe oder Bedienstete in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden. Dieser in Artikel 215 des Vertrages ausdrücklich aufgestellte Grund460 461 462

EuGH, Slg. 1991, S. 5357 ff., 5409 (Francovich). Ebd., S. 5411 ff. Ebd., S. 5412.

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satz der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft ist nur eine Ausprägung des in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geltenden allgemeinen Grundsatzes, daß eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht. Dieser Vorschrift ist außerdem die Verpflichtung der öffentlichen Stellen zu entnehmen, den in Ausübung ihrer Amtstätigkeit entstandenen Schaden zu ersetzen. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß in einer großen Anzahl von nationalen Rechtsordnungen das Staatshaftungsrecht entscheidend im Wege der Rechtsprechung entwickelt worden ist. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen hat der EuGH bereits in Francovich ausgeführt, daß der Haftungsgrundsatz aus dem Wesen der Gemeinschaftsrechtsordnung folgt. Daraus ergibt sich, daß der Grundsatz für jeden Fall des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht unabhängig davon gilt, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß begangen hat. Im übrigen kann in Anbetracht des Grunderfordernisses der Gemeinschaftsrechtsordnung, das die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts darstellt (vgl. insbesondere Urteil vom 21. Februar 1991 in den Rechtssachen C-143 / 88 und C-92 / 89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest, Slg. 1991, I-415, Randnr. 26), die Verpflichtung zum Ersatz der dem einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstandenen Schäden nicht von den internen Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten auf die Verfassungsorgane abhängen. Wie der Generalanwalt in Nummer 38 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, wird im Völkerrecht der Staat, dessen Haftung wegen Verstoßes gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung ausgelöst wird, ebenfalls als Einheit betrachtet, ohne daß danach unterschieden wird, ob der schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen ist. Dies gilt um so mehr in der Gemeinschaftsrechtsordnung, als alle staatlichen Instanzen einschließlich der Legislative bei der Erfüllung ihrer Aufgaben die vom Gemeinschaftsrecht vorgeschriebenen Normen, die die Situation des einzelnen unmittelbar regeln können, zu beachten haben. Der Umstand, daß der zur Last gelegte Verstoß nach den internen Vorschriften dem nationalen Gesetzgeber zuzurechnen ist, ist daher nicht geeignet, die mit dem Schutz der Rechte des einzelnen, der sich auf das Gemeinschaftsrecht beruft, verbundenen Erfordernisse und vorliegend das Recht, vor den nationalen Gerichten Ersatz des durch diesen Verstoß entstandenen Schadens zu erlangen, in Frage zu stellen.“463 Bezüglich der Anspruchsgrundlage und der Voraussetzungen der Haftung hat 151 das Urteil ebenfalls mehr Klarheit gebracht und für das deutsche Staatshaftungsrecht neue Maßstäbe gesetzt. Voraussetzung der Haftung des Mitgliedstaats ist demnach erstens, dass die Rechtsnorm, gegen die verstoßen wurde, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen; zweitens, dass der Verstoß hinreichend qualifiziert – also offenkundig und erheblich – ist; und drittens, dass zwischen dem Verstoß 463 EuGH, Slg. 1991, S. 415 ff., 543 f. (Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest).

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gegen die den Staat treffende Verpflichtung und dem entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht. Bei Erfüllung dieser Kriterien ist der Anspruch begründet. Jedenfalls bedarf es nicht eines vorherigen Urteils des EuGH, der den Verstoß feststellt. Zwar liefert ein solches Urteil ein entscheidendes Indiz, aber sein Vorliegen ist nicht notwendig.464 152

Zum ersatzfähigen Schadensumfang stellt der EuGH klar, dass eine Beschränkung auf Schäden an bestimmten Rechtsgütern nicht zulässig ist. Wenn der entgangene Gewinn nicht ersatzfähig wäre, so würde gerade in Streitigkeiten wirtschaftlicher Natur „die Entschädigung praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert“. Solche Widersprüche zum Grundsatz der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts haben dann bei der Rechtsanwendung außer Betracht zu bleiben.465 Auch sei der Anspruch nicht von einem Verschulden des mitgliedstaatlichen Organs abhängig, jedenfalls soweit die Voraussetzungen über die der hinreichenden Qualifikation des Verstoßes hinausgehen.466 Eine Beschränkung der zeitlichen Wirkung seiner Urteile hinsichtlich früherer Fälle lehnte der Gerichtshof ausdrücklich ab.467

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In seinem Urteil im Fall „MP-TravelLine“468 hat der EuGH diese Praxis erwartungsgemäß bestätigt. Dort verlangten Touristen, die durch den Konkurs des Reiseveranstalters geschädigt wurden, von der Bundesrepublik Deutschland Schadensersatz. Die BRD hatte versäumt, die sogenannte Pauschalreiserichtlinie 469, deren Art. 7 die Mitgliedstaaten verpflichtete, bei Zahlungsunfähigkeit oder Konkurs von Reiseveranstaltern die Rückreise der Verbraucher und die Erstattung der gezahlten Beträge sicherzustellen, rechtzeitig in nationales Recht umzusetzen.470 Der EuGH präzisierte auf den Einwand der Bundesrepublik hin, es fehle an einem hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, dass ein solcher in jedem Fall vorliege, in dem ein Staat keinerlei Maßnahmen zur Erfüllung seiner Rz. 93. Zu beachten ist, dass der EuGH diese – gemeinschaftsrechtswidrigen – Einschränkungen des nationalen Staatshaftungsrechts nur insoweit kritisieren kann, als es um Entschädigungsansprüche für Verstöße gegen Gemeinschaftsnormen geht. Nur insoweit kann der EuGH die Nichtanwendung dieser Einschränkungen verlangen. Für rein nationale Sachverhalte enthält diese Entscheidung keine Aussage. Zu den beachtlichen Auswirkungen dieses Urteils auf das Staatshaftungsrecht vgl. u. a. Ehlers, D., Die Weiterentwicklung des Staatshaftungsrechts durch das europäische Gemeinschaftsrecht, in: JZ 1996, S. 776 ff.; Brödermann, E., Staatshaftung bei Verletzung europäischen Gemeinschaftsrechts, in: MDR 1996, S. 342 ff. 466 Rn. 79. 467 Rn. 97 – 100. 468 EuGH, Haftung eines Mitgliedstaates wegen unterlassener Richtlinienumsetzung, in: EuZW 1996, S. 654 ff. 469 Richtlinie 90 / 314 / EWG vom 13. 06. 1990, ABl. L 158, 59. 470 Vgl. auch OLG Köln, Schadensersatzanspruch wegen verspäteter Umsetzung der EGRichtlinie über Pauschalreisen, in: RIW 1998, S. 970 f., zur Begrenzung der Erstattungsansprüche auf insolvenzbedingte Leistungsstörungen. 471 Rn. 26. 464 465

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Pflicht zur fristgemäßen Umsetzung von Richtlinien aus Art. 249 Abs. 3 EG ergriffen hatte.471 In den Urteilen „British Telecommunications“ 472 und „Denkavit“473 ließ der Gerichtshof eine Staatshaftung daran scheitern, dass der betroffene Mitgliedstaat das unzureichende Ergebnis seiner Umsetzungsgesetzgebung nicht hatte vorhersehen können. Drei weitere Male beschäftigte sich der EuGH mit der Pauschalreiserichtlinie unter staatshaftungsrechtlichen Gesichtspunkten474, wobei er die „Brasserie-“ und „MP-Travelline“-Rechtsprechung bestätigte. Hinzuweisen ist besonders auf das Urteil „Rechberger“, worin das Gericht zur mangelhaften Umsetzung Stellung nimmt. Es hebt mit deutlichen Worten den Schutzzweck des Art. 7 Pauschalreiserichtlinie hervor und stellt klar, dass ein Mitgliedstaat sich auch nicht mit praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Norm entschuldigen könne, da der Gemeinschaftsgesetzgeber nun einmal ein solches System vorgesehen habe.475 In der Rechtssache „Konle“476 ging es unter anderem um die Erfüllung der ge- 154 meinschaftsrechtlichen Schadensersatzpflicht bei einem bundesstaatlich organisiertem Mitgliedstaat, in diesem Fall Tirol für Österreich. Der Gerichtshof entschied, das Urteil darüber, ob ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht hinreichend qualifiziert sei, um die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats gegenüber Einzelnen zu begründen, obliege grundsätzlich den nationalen Gerichten. Ferner könne ein bundesstaatlich aufgebauter Mitgliedstaat seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen auch dann erfüllen, wenn nicht der Gesamtstaat den Ersatz der einem Einzelnen durch gemeinschaftsrechtswidrige innerstaatliche Maßnahmen entstandenen Schäden sicherstellt.477 262.3 Staatshaftung für die Judikative und die Grenzen rechtsvergleichender Auslegung Im Rahmen einer traditionellen Rechtserkenntnislehre ist eine Staatshaftung bei 155 richterlicher Entscheidung kaum zu begründen. Eine „falsche Erkenntnis“ ist ein

472 EuGH, Falsche Umsetzung einer Richtlinienvorschrift und Entschädigungspflicht des umsetzenden Mitgliedstaates, in: EuZW 1996, S. 274 ff. 473 EuGH, Körperschaftssteuer auf Gewinne von Tochtergesellschaften, in: EuZW 1996, S. 695 ff. 474 EuGH, Schutz bei Zahlungsunfähigkeit des Pauschalreiseveranstalters, in: EuZW 1998, S. 440 ff. m. Anm. Tonner; EuGH, Begriff der Pauschalreise im Sinne der Richtlinie 90 / 314 / EWG, in: EuZW 1999, S. 219 ff.; EuGH, Mangelhafte Umsetzung der Pauschalreise-Richtlinie, in: EuZW 1999, S. 468 ff. m. Anm. Tonner. 475 Rn. 63 des Urteils. 476 EuGH: Konle gegen Republik Österreich, in: EuGRZ 1999, S. 329 ff. 477 Leitsätze 2 und 3 des Urteils EuGH, Slg. 1999, S. 3099 ff. (Konle).

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Irrtum und weil Erkenntnis im Recht schwierig ist, kann man dies nur im Extremfall der Rechtsbeugung für vorwerfbar halten. Im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion (gemäß einem der Grundansätze der Strukturierenden Rechtslehre) kann man dagegen die richterlichen Pflichten zu einzelnen Schritten ausdifferenzieren: Der Richter muss die vorgetragenen Argumente verarbeiten, den Relevanzhorizont von Vorentscheidungen beachten, usw. In diesem Rahmen lässt sich ein Anknüpfen an richterliches Handeln viel differenzierter begründen. Genau in diesem Kontext vollzieht der EuGH deutlich den Übergang von einer Rechtserkenntnislehre zu einer Rechtserzeugungsreflexion. Damit fügt sich diese Form der Staatshaftung in die Systematik der bisher schon entwickelten Linien der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung ein.478 Schon bisher bestand der Anspruch auf Entschädigung unabhängig davon, welches mitgliedstaatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht begangen hat479. Außerdem dient auch in diesem Fall die Schadensersatzverpflichtung der Disziplinierung der Obergerichte, die es ansonsten in der Hand hätten, Urteile des EuGH und Gemeinschaftsrecht zu ignorieren480. Insoweit sind aber auch die mitgliedstaatlichen Gerichte wie alle anderen staatlichen Organe an das Gemeinschaftsrecht gebunden481. Auf diese Weise nimmt der EuGH den nationalen Obergerichten zwar faktisch ihre Letztinstanzlichkeit, allerdings dient dies in erster Linie einer Verbesserung des Individualrechtsschutzes482. Unter Berücksichtigung der Weiterentwicklung der FrancovichRechtsprechung kommt daher eine Haftung prinzipiell in Betracht. 156

Allerdings stellt sich die Frage, ob einer solchen Haftung mitgliedstaatlicher Gerichte im deutschen Recht nicht § 839 II 1 BGB entgegensteht. Gemäß § 839 II 478 EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“, Rs. 173 / 03 „Traghetti del Mediterraneo“, Rn. 30; Deckert, M., Zur Haftung des Mitgliedstaates bei Verstößen seiner Organe gegen europäisches Gemeinschaftsrecht, in: EuR 1997, S. 203 ff., 205; Detterbeck, S. / Windthorst, K. / Sproll, H-D., Staatshaftungsrecht, 2000, § 6, Rn. 26; Grabitz, E. / Hilf, M. / Bogdandy, A. v., Das Recht der Europäischen Union, 2005, Art. 288, Rn. 153; Henrichs, Ch., Haftung der EGMitgliedstaaten für Verletzung von Gemeinschaftsrecht, 1995, S. 114 f.; Kenntner, M., Ein Dreizack für die offene Flanke: Die neue EuGH-Rechtsprechung zur judikativen Gemeinschaftsrechtsverletzung, in: EuZW 2005, S. 235, 236; Krieger, H., Haftung des nationalen Richters für Verletzung des Gemeinschaftsrechts – Das Urteil Köbler des EuGH, in: JuS 2004, S. 855, 857; Oberwexer, W., Anmerkung zu EuGH Rs. C-224 / 01, in: EuZW 2003, S. 726; Seltenreich, S., Die Francovich-Rechtsprechung des EuGH und ihre Auswirkungen auf das deutsche Staatshaftungsrecht, 1997, S. 130 ff. 479 EuGH, Slg. 1996, I-1029 „Brasserie du Pêcheur / Factortame III“ Rn. 32; Slg. 2003, I-10239 „Köbler“ Rn. 31; Geiger, R., EUV / EGV Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 4. Auflage, 2004, Art. 10 EG, Rn. 47. 480 Kenntner, M., Ein Dreizack für die offene Flanke: Die neue EuGH-Rechtsprechung zur judikativen Gemeinschaftsrechtsverletzung, in EuZW 2005, S. 235 ff., 237. 481 Kissel, O. R. / Meyer, H., Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Auflage, 2005, § 121 Rn. 11 a; Henrichs, Ch., Haftung der EG-Mitgliedstaaten für Verletzung von Gemeinschaftsrecht, 1. Auflage, 1995, S. 114. 482 EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“ Rn. 33 f.

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1 BGB ist ein Beamter, der bei einem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht verletzt, für den daraus entstandenen Schaden nur dann verantwortlich, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht. Auch Richter sind Beamte in diesem Sinn. Sollten Richter eines letztinstanzlichen Gerichts bei ihrer Entscheidung eine Straftat begehen, müsste auch im deutschen Recht eine inhaltliche Kontrolle dieser Entscheidung in einem Staatshaftungsprozess möglich sein. Seinem Regelungsgegenstand nach soll § 839 II 1 BGB die Haftung für richterliches Unrecht somit zwar begrenzen, nicht aber von vornherein kategorisch ausschließen483. Es besteht auch eine Amtspflicht der Richter, Gemeinschaftsrecht anzuwenden,484 unabhängig von der früher umstrittenen Frage, ob Gemeinschaftsrechtsnormen des Primärrechts gegenüber nationalem Recht Geltungs-485 oder Anwendungsvorrang486 haben. Die Einschränkung ist auch kein gemeinschaftsrechtlicher Grundsatz. Die Ge- 157 meinschaftsrechtsordnung kennt ein ausdrückliches Richterspruchprivileg mit dieser Zielsetzung im Rahmen der Haftung nach Art. 288 II EG nicht. Als den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsgrundsatz hat er nur mittelbare Bedeutung im Rahmen der rechtsvergleichenden Auslegung. Alle Rechtsordnungen der EG-Mitgliedstaaten kennen im Grundsatz eine Haftung für judikatives Unrecht487. Unterschiedlich gehandhabt wird hingegen die Begrenzung dieser Haftung. Während die deutsche Rechtsordnung eine Haftung nur in strafrechtlich relevanten Fällen zulässt, tritt ein Fall der Staatshaftung in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich allein dann ein, wenn das Gericht mit seiner Entscheidung gegen Art. 5 bzw. 6 EMRK verstößt488. Eine andere Haftungsbegrenzung dahingehend, dass letztinstanzliche Gerichte von der Haftung aus483 Vgl. Jaenicke, G., „Haftung des Staates für rechtswidriges Verhalten seiner Organe – Bundesrepublik Deutschland“, in: Mosler, H., Haftung des Staates für rechtswidriges Verhalten seiner Organe – Internationales Colloquium, veranstaltet vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht –, 1. Auflage, 1967, S. 128; SchöndorfHaubold, B., Die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von EG-Recht durch nationale Gerichte, in: JuS 2006, S. 112 ff. 115. 484 Callies, Ch. / Ruffert, M. / Wegener, B., Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1. Auflage, 1999, Art. 220, Rn. 19; Papier, H. J. § 839, Rn. 98, in: Rebmann, K. / Säcker, F. / Rixecker, R., Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 5, Schuldrecht, Besonderer Teil III, §§ 705 – 853, 4. Auflage, 2004; Streinz, R., EUV / EGV Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1. Auflage, 2003, Art. 249, Rn. 51. 485 Nachweis bei Streinz, R., EUV / EGV Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1. Auflage, 2003, Art. 249 Fn. 148. 486 EuGH, Slg. 1978, 629 „Simmenthal II“ Rn. 17 / 18; BVerfGE 37, 271 „Solange I“ S. 280; 73, 339 „Solange II“ S. 374; Callies, Ch. / Ruffert, M. / Wegener, B., Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1. Auflage, 1999, Art. 220, Rn. 19. 487 GA Léger, Schlussanträge, in: EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“, Rn. 77. 488 Vgl. GA Léger, Schlussanträge, in: EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“, Rn. 79.

9 Müller / Christensen

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genommen bleiben sollen, sehen die einschlägigen Bestimmungen in Österreich und Schweden vor489; das französische und das italienische Recht eine Haftung für richterliches Unrecht nur bei grobem Verschulden oder Rechtsverweigerung490. Auch die übrigen Mitgliedstaaten kennen vergleichbare Institute491. Eine Haftungsbegrenzung für richterliches Unrecht ist somit allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bekannt, so dass es sich bei der Begrenzung um einen der allgemeinen Grundsätze im Sinn des Art. 288 II EG handelt. Die vom EuGH abschließend geregelten Haftungsvoraussetzungen müssten demnach geeignet sein, dem Sinn und Zweck dieses Rechtsgedankens gerecht zu werden. Die grundlegende Bedeutung der Haftungsbeschränkung besteht zunächst darin, dass im Dienst der Rechtssicherheit die Rechtskraft einer Entscheidung gestärkt wird492. 158

Die vom EuGH formulierten Haftungsvoraussetzungen müssen, dem Rechtsgedanken des Art. 288 II EG entsprechend, diesen Anforderungen gerecht werden. Die Staatshaftungsdoktrin des EuGH darf also im Hinblick auf Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte die durch die Haftungsprivilegierung verfolgten Ziele nicht unterlaufen. Dabei ist allerdings festzustellen, dass der EuGH den Verweis auf die den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gemeinsamen allgemeinen Grundsätze nicht nur als Interpretationsdirektive, sondern noch stärker als Begrenzung versteht493. Die Begrenzung besteht aber nur soweit Systematik und Zweck des Gemeinschaftsrechts nichts anderes fordern. Aber selbst diese schwache Begrenzung ist 489 Vgl. GA Léger, Schlussanträge, in EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“, Rn. 81; Jaenicke, G., „Haftung des Staates für rechtswidriges Verhalten seiner Organe – Bundesrepublik Deutschland“, in: Mosler, H., Haftung des Staates für rechtswidriges Verhalten seiner Organe – Internationales Colloquium, veranstaltet vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht –, 1. Auflage, 1967, S. 128. 490 Vgl. Wegener, B., Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte, in: EuR 2002, S. 784, 790; Haltern, U., Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, in: Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik 2005, S. 311 ff., 321. 491 Vgl. Stellungnahme der EG-Kommission in EuGH Slg. 2003, I-10239 „Köbler“ Rn. 19; Nachweise bei Wegener, B., Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte, in: EuR 2002, S. 784, 791, Fn. 28 – 36. 492 Papier, H. J.. § 839, Rn. 323, in: Rebmann, K. / Säcker, F. / Rixecker, R., Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 5, Schuldrecht, Besonderer Teil III, §§ 705 – 853, 4. Auflage, 2004; Ossenbühl, F., Staatshaftungsrecht, 5. Auflage, 1998, S. 514; Palandt, O., Bürgerliches Gesetzbuch, 64. Auflage, 2005, § 839 Rn. 63; Tombrink, Ch., „Der Richter und sein Richter“ – Fragen der Amtshaftung für richterliche Entscheidungen, in: DRiZ 2002, S. 296 ff., 297. 493 Streinz, R., EUV / EGV Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1. Auflage, 2003, Art. 288 Rn. 8; Wegener, B., Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte, in: EuR 2002, S. 785, 792.

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hier nicht einschlägig, weil durch die Haftungsdoktrin des EuGH die Rechtskraft gar nicht in Frage gestellt wird. Der EuGH hat vielmehr auf die grundlegende Bedeutung dieses Instituts eigens hingewiesen.494 Durch die Rechtskraft sollen zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege nach Ausschöpfung des Rechtsweges oder nach Ablauf bestimmter Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Urteile nicht mehr zur Disposition gestellt werden können495. Von der Rechtskraft einer Entscheidung wird allerdings regelmäßig nur der Streitgegenstand umfasst496. Dieser wird im formellen Sinn durch Antrag und Lebenssachverhalt bestimmt. Daher ist die Rechtskraft der fehlerhaften Entscheidung, welche die Schadensersatzpflicht eines Mitgliedstaates auslöst, im Sinn des formellen Streitgegenstandbegriffs nicht von einer erneuten Überprüfung im Rahmen eines Staatshaftungsprozesses betroffen497. Die fehlerhafte Entscheidung des gemeinschaftswidrig handelnden Organs bliebe also bestehen, lediglich der daraus entstandene Schaden würde kompensiert. Allerdings soll durch die Rechtskraft auch Rechtsfrieden geschaffen werden. Sie dient dem Zweck, eine Situation zu verhindern, in der ein erstinstanzliches Gericht eine Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts inhaltlich überprüfen kann498. Das Überprüfen einer richterlichen Entscheidung im Rahmen eines Staatshaftungsprozesses würde sonst dazu führen, dass sich der Instanzenzug faktisch verdoppelt. Im Interesse des Rechtsfriedens soll jedoch so schnell wie möglich eine Entscheidung getroffen werden, die weitere Prozesse verhindert. In der Bundesrepublik Deutschland entstünde zudem eine Situation, in der das nach § 71 II Nr. 2 GVG für Staatshaftung zuständige Landgericht als erste Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit Entscheidungen letztinstanzlicher Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit oder Sozialgerichtsbarkeit inhaltlich anhand des Gemeinschaftsrechts überprüfen müsste499. Der Grundsatz der Trennung der deutschen Gerichtsbarkeit in sachnahe Teilgerichtsbarkeiten – der auch in den anderen Mitgliedstaaten in ähnlicher Form gilt – wäre somit durchbrochen. Der BGH würde eventuell zum Richter über die anderen Bundesgerichte. Zwischen den obersten Bundesgerichten besteht nach Art. 95 I GG allerdings kein Rangverhältnis. Als Instanz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist nur gemäß Art. 95 III GG ein gemeinsamer Senat EuGH, Slg. 1999, I-3055 „Eco Swiss“, Rn. 46. EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“, Rn. 38; Ossenbühl, F., Staatshaftungsrecht, 5. Auflage, 1998, S. 514; Storr, S., Abschied vom Richterspruchprivileg?, in: DÖV 2004, S. 545. 496 Koenig, K. / Krämer, H., Einführung in das EG-Prozeßrecht, 1. Auflage, 1997, Rn. 499. 497 EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“, Rn. 39; Schöndorf-Haubold, B., Die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von EG-Recht durch nationale Gerichte, in: JuS 2006, S. 112 ff., 114. 498 Schöndorf-Haubold, B., Die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von EGRecht durch nationale Gerichte, in: JuS 2006, S. 112 ff., 114; Wegener, B., Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte, in: EuR 2002, S. 784 ff., 795. 499 Ossenbühl, F., Staatshaftungsrecht, 5. Auflage, 1998, Staatshaftungsrecht, S. 514. 494 495

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der obersten Bundesgerichte zu bilden, aber auch innerhalb dieses gemeinsamen Gremiums besteht Gleichordnung500. In dieser Hinsicht handelt es sich aber um ein verfahrensrechtliches Problem, das bei der Beurteilung der europarechtlichen Lage außer Betracht zu bleiben hat. Die nähere Ausgestaltung des Verfahrens, in dem der Einzelne Schadensersatz verlangen kann, ist nämlich den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten überantwortet501. Es wäre also durchaus möglich, im innerstaatlichen Recht eine Instanz zu schaffen, die abschließend über die Verpflichtung zum Schadensersatz wegen eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes durch ein mitgliedstaatliches Gericht urteilt. 159

Es ist zudem zu berücksichtigen, dass die Gerichte, die über die Frage der Haftung zu entscheiden haben, die Möglichkeit besitzen, ihrerseits ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG durchzuführen. Bei der Frage, über die der EuGH in diesem Verfahren zu entscheiden hat, wird es sich jedoch regelmäßig um das Problem handeln, dessen Vorlage an den EuGH das gemeinschaftsrechtswidrig handelnde letztinstanzliche Gericht im vorherigen Verfahren versäumt hat. Zwar würde diese erneute Überprüfung dazu führen, dass das eigentlich in letzter Instanz zuständige Gericht seiner Letztinstanzlichkeit beraubt würde502; allerdings hätte dieses Gericht einer Haftung dadurch entgehen können, der objektiv bestehenden Vorlageverpflichtung nachzukommen, wobei der Sinn der Vorlagepflicht gerade in einer Verbesserung der Koordination zwischen mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH liegt503.

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Eine Bestätigung für die Linie des EuGH ergibt sich auch aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. So kann nach Art. 41 EMRK eine Schadensersatzverpflichtung entstehen, selbst wenn der verpflichtende Umstand in der Entscheidung eines Gerichts besteht504. Gemäß Art. 46 I EMRK sind die Konventionsstaaten verpflichtet die Urteile zu befolgen. Dass eine Verletzung der EMRK oder der dazu gehörigen Protokolle vorliege, stellt der EGMR jedoch lediglich fest. Eine Aufhebung des innerstaatlichen Rechtsaktes fällt nicht in seine Zuständigkeit505. Der 500 Vgl. Münch, I. v. / Kunig, Ph., Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 5. Auflage, 2003, Art. 95, Rn. 12. 501 EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“, Rn. 44. 502 Schöndorf-Haubold, B., Die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von EGRecht durch nationale Gerichte, in: JuS 2006, S. 112 ff., 114; Storr, S., Abschied vom Richterspruchprivileg?, in: DÖV 2004, S. 545 ff., 549. 503 Kenntner, M., Ein Dreizack für die offene Flanke: Die neue EuGH-Rechtsprechung zur judikativen Gemeinschaftsrechtsverletzung, in EuZW 2005, S. 235 ff., 237; Radermacher, L., Gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für höchstrichterliche Entscheidungen, in: NVwZ 2004, S. 1415 ff., 1417; Storr, S., Abschied vom Richterspruchprivileg?, in: DÖV 2004, S. 545 ff., 547. 504 Vgl. nur EGMR Rs. 59320 / 00 „Caroline von Hannover“, Rs. 36677 / 97 „Jacques Dangeville“; Haltern, U., Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, in: Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik 2005, S. 311 ff., 341. 505 Grabenwarter, C., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage, 2005, § 16 Rn. 3.

262 Weiterentwicklung des nationalen Staatshaftungsrechts

133

EGMR ist somit darauf beschränkt, dem Verletzten eine angemessene Entschädigung zuzusprechen, die dem Zweck dient, diesen so zu stellen, wie er im Fall des Unterbleibens der Konventionsverletzung stünde506. Die Entscheidung des Gerichts, die einen Konventionsverstoß darstellt, bleibt hingegen unberührt. Dieses Ergebnis ist auf die Gemeinschaftsrechtsordnung zu übertragen. Die EMRK hat sich zwar mittlerweile aus ihrem rein völkerrechtlichen Kontext emanzipiert, hat aber anders als die Gemeinschaftsrechtsordnung keinen Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht507. Die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaft ist als supranationale Rechtsordnung gegenüber der Rechtsordnung der EMRK ein Plus. Wenn schon im Völkerrecht eine Haftung des Staates für judikatives Unrecht ohne Beeinträchtigung der Rechtskraft möglich ist, ist dies noch mehr im supranationalen Recht der Fall. Die Rechtskraft ist daher auch unter diesem Gesichtspunkt nicht beeinträchtigt. Ob die Erweiterung des Rechtsweges durch die Staatshaftungsdoktrin des EuGH tatsächlich als Bekräftigung der Qualität der nationalstaatlichen Rechtsordnungen angesehen kann508, mag dahingestellt bleiben. Die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung wird jedenfalls nicht in Frage gestellt. Ein weiteres Problem ist die richterliche Unabhängigkeit. Sie wird in Deutsch- 161 land von Art. 97 I GG geschützt. Ähnliche Vorschriften sind auch in den Verfassungen anderer Mitgliedstaaten vorhanden509. Dieser besondere Schutz gewährleistet, dass der Richter bei jedem Akt der rechtsprechenden Tätigkeit rechtlich und tatsächlich vor gesetzlich nicht angeordneten Einwirkungen anderer staatlicher Amtswalter oder vor Dritten geschützt wird; sowie den Grundsatz, dass ein Richter lediglich an das Gesetz gebunden ist510. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft stellt jedoch geltendes Recht in diesem Sinn dar, das zu respektieren ist. Insoweit bildet die Haftungsdoktrin des EuGH keine Einschränkung. Allerdings könnte durch den Grundsatz der Haftung eine Einwirkung in dem Sinn vorliegen, dass ein Richter durch drohende Schadensersatzverpflichtungen in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt wird. Die Haftung für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht ist aber keine persönliche Haftung des Richters, sondern eine, die den jeweiligen Mitgliedstaat trifft511. Da sich die Haftung zudem auf Verstöße

506

Grabenwarter, C., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage, 2005, § 15

Rn. 4. Grabenwarter, C., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage, 2005, § 3 Rn. 1. So EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“ Rn. 43. 509 Nettesheim, M., Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für das deutsche Staatshaftungsrecht, in: DÖV 1992, S. 999 ff., 1003; vgl. Art. 64 Constitution de la République française 1958; Art. 104 Costituzione della Repubblica Italiana; Art. 87 I Österreichisches Bundes-Verfassungsgesetz. 510 Jarras, H. / Pieroth, B., Grundgesetz Kommentar, 8. Auflage, 2006, Art. 97, Rn. 3 ff.; Münch, I. v. / Kunig, Ph., Grundgesetz-Kommentar, Band 3, 5. Auflage, Art. 97, Rn. 1. 511 EuGH, Slg. 2003, I-10239 „Köbler“ Rn. 42; Wegener, B., Staatshaftung für die Verletzung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte, in: EuR 2004, S. 84 ff., 88. 507 508

134

2 Stand der Methodik – 26 Rechtsvergleichende Auslegung

gegen Normen beschränkt, die dem Einzelnen Rechte verleihen sollen, stellt sich primär der Effekt einer Verbesserung des Individualrechtschutzes ein und nicht der einer allgemeinen Legalitätskontrolle512. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass auch nach der Rechtsprechung des EuGH im Rahmen des Merkmals des hinreichend qualifizierten Verstoßes die Besonderheiten der richterlichen Funktion und der Belange der Rechtssicherheit Beachtung finden. Die Haftung soll danach auch im Interesse einer vertraulichen Zusammenarbeit zwischen EuGH und den letztinstanzlichen Gerichten der Mitgliedstaaten die Ausnahme bleiben513. Auch hier lässt sich wieder eine Parallele zu Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen. Die Konventionsstaaten sind nach Art. 46 I EMRK verpflichtet die Urteile des Gerichtshofes zu befolgen. Sollte der EMGR dem Einzelnen für eine Verletzung der EMRK oder der dazu gehörigen Protokolle eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK zusprechen, hat der Mitgliedstaat der Konvention die Wiedergutmachung zu leisten514. Auch hier kommt es nicht zu einer Haftung des einzelnen Richters. Seine Unabhängigkeit bleibt unberührt. Das muss umso mehr im Recht der Europäischen Gemeinschaft gelten. Die richterliche Unabhängigkeit wird somit ebenfalls nicht durch die Haftung für judikatives Unrecht beeinträchtigt. 162

Indem der EuGH das Erfordernis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes unter Berücksichtigung der Besonderheiten der richterlichen Funktion und der Belange der Rechtssicherheit als Eingrenzung der Staatshaftung postuliert,beeinträchtigt seine Haftungsdoktrin nicht den Grundsatz einer eingeschränkten Haftung für richterliches Unrecht, der den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam ist. Die Schutzgüter des Richterprivileges werden also auch bei Berücksichtigung der Wertungen des Art. 288 II nicht beeinträchtigt. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze können damit als Haftungsausschluss außer Betracht bleiben. Die rechtsvergleichende Auslegung des EuGH ist damit, gemessen an der Systematik und dem Zwecken der Verträge, legitim. Im ganzen zeigt gerade die Entwicklung des Staatshaftungsrechts nicht nur die Verbindung von dogmatischen mit rechtsvergleichenden Elementen der Konkretisierung, sondern vor allem auch den schwierigen Balanceakt des EuGH zwischen Weiterführung nationalstaatlicher Traditionen und freier Rechtsschöpfung. Auf dieses Problem wird im systematischen Abschnitt zurückzukommen sein. 512 Bogdandy, A. v., in: Grabitz, E. / Hilf, M., Das Recht der Europäischen Union, 2005, Art. 288 EG, Rn. 130. 513 EuGH Slg. 2003, I-10239 „Köbler“ Rn. 53; Kluth, W., Die Haftung der Mitgliedstaaten für gemeinschaftsrechtswidrige höchstrichterliche Entscheidungen – Schlussstein im System der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, in: DVBl. 2004, S. 393 ff., 402; Krieger, H., Haftung des nationalen Richters für Verletzung des Gemeinschaftsrechts – Das Urteil Köbler des EuGH, in: JuS 2004, S. 855 ff., 857. 514 Grabenwarter, C., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage, 2005, § 16, Rn. 8.

271 Formen der gemeinschaftsrechtlichen Auslegung

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27 Spielarten der gemeinschaftsrechtlichen Konformauslegung Eine wichtige vom Gerichtshof entwickelte Methode ist die gemeinschafts- 163 rechtskonforme Auslegung. Es handelt sich um eine strukturell der verfassungskonformen Auslegung vergleichbare Argumentform515: Der Normtext eröffnet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, von denen eine mit dem höherrangigen Gemeinschaftsrecht im Einklang steht, während eine oder mehrere andere dazu in Widerspruch stehen. Teilweise wird der Begriff der gemeinschafts- oder „vertragskonformen“ Auslegung aber noch weiter gefasst. Er enthalte im Hinblick auf die Kohärenz der Verträge das Gebot, Bestimmungen so auszulegen, dass unter ihnen keine Widersprüche entstehen.516 Dies wird vorliegend als Aufgabe der systematischen Argumentation gesehen. Von Konformauslegung wird hier nur dann gesprochen, wenn ein normkontrollierender Aspekt betroffen ist.

271 Formen der gemeinschaftsrechtlichen Auslegung

Begreift man die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Sinn der Auslegung einer Vorschrift im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, so zeigt sich dieses Argument in verschiedenen Erscheinungsformen.

271.1 Primärrechtskonforme Auslegung Zunächst kommt die Auslegung von EG-Sekundärrecht in Konformität mit EG- 164 Primärrecht in Betracht.517 Diese Methode besagt, dass bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten derjenigen der Vorzug zu geben ist, bei der die Bestimmung des Sekundärrechts mit dem Vertrag als vereinbar angesehen werden kann.518 Umstritten ist dagegen die Legitimität der sekundärrechtskonformen Auslegung von Primärrecht.519

515 Siehe Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 186 f. 516 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil l, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. 40. So auch Domröse, R., Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 140 ff., 144. 517 Leible, S., Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 116 ff., 118 ff. sowie Domröse, R., Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 140 ff. 518 EuGH, Slg. 1983, S. 4063 ff. (Kommission / Rat); Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 688; s. auch Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 187 m. w. N. in Fn. 543.

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2 Stand der Methodik – 27 Spielarten der Konformauslegung

Behandeln die genannten Erscheinungsformen das Verhältnis gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften zueinander, so gibt es noch eine weitere, praktisch zumindest ebenso wichtige Ausprägung der gemeinschaftskonformen Auslegung, nämlich die von nationalem Recht in Übereinstimmung mit Gemeinschaftsrecht.520 Zu unterscheiden sind ferner die Auslegung nationalen Rechts in Übereinstimmung mit EG-Richtlinien, sogenannte richtlinienkonforme Auslegung, und diejenige mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht, sogenannte gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung. Beide Formen basieren auf Art. 10 EG und dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts, die richtlinienkonforme Auslegung521 zusätzlich auf Art. 249 Abs. 3 EG und auf dem Richtlinientext selbst. Unter die Konformauslegung lassen sich auch noch weitere Konstellationen fassen. So nimmt der Gerichtshof eine Interpretation von zweifelhaften Bestimmungen einer Durchführungsverordnung im Einklang mit einer Grundsatzverordnung vor, auf deren Basis die Durchführungsverordnung erlassen wurde.522

271.2 Völkerrechtskonforme Auslegung 165

Ebenso legt der EuGH primäres Gemeinschaftsrecht in Konformität mit geschriebenem Völkerrecht aus.523 Art. 300 Absatz 7 EG bestimmt in diesem Zusammenhang, dass alle nach Maßgabe des Art. 300 EG geschlossenen Abkommen für die Organe der Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft verbindlich sind.524 Zwar stellt das Recht der EG in ständiger Judikatur des Gerichtshofs seit dem Urteil in „Costa / ENEL“525 eine vom Völkerrecht unabhängige „eigene Rechtsordnung“ dar. Dennoch hat er in einigen Entscheidungen eine völkerrechtskonforme Vgl. dazu unten Abschnitt 472. Siehe dazu Band Nationales Recht. 521 Vgl. dazu Leible, S., Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 116 ff., 126 ff. 522 So etwa EuGH, Slg. 1971, S. 145 ff., 154 (Tradax); EuGH, Slg. 1971, S. 163 ff., 171 (Compagnie Continentale); EuGH, Slg. 1990, S. 2275 ff., 2292 (Unifert Handels GmbH); EuGH: Auslegung einer Antidumpingverordnung – Kugelbuchsen, in: EuZW 1993, S. 575 f. 523 Siehe Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 75 f.; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 264 ff.; Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 191, Fn. 558; siehe auch Bengoetxea, J., The Legal Reasoning of the European court of Justice, 1993, 249 f. und Schermers, H. G. / Waelbroeck, D., Judicial protection in the European Communities, 1987, 1992, S. 100 ff. 524 Zur Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge, insbesondere bei so genannten gemischten Abkommen, vgl. Kaiser, K., Geistiges Eigentum und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 216 ff. 525 EuGH, Slg. 1964, S. 1251 ff., 1269 (Costa / E.N.E.L.). 519 520

271 Formen der gemeinschaftsrechtlichen Auslegung

137

Auslegung einzelner Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vorgenommen und damit die Zulässigkeit dieser Variante ausdrücklich anerkannt.526 In der Rechtssache „Van Duyn“527 wie auch in „Rutili“528 legte der EuGH 166 Art. 48 Abs. 3 EGV (heute Art. 39 Abs. 3 EG) im Hinblick auf den Vorbehalt der „öffentlichen Ordnung“ völkerrechtskonform aus. In „Van Duyn“ begründete er die Zulässigkeit diskriminierender nationaler Einreiseregelungen mit einer völkerrechtskonformen Interpretation: Es sei „ein völkerrechtlicher Grundsatz, den der EWG-Vertrag in den Beziehungen der Mitgliedstaaten zueinander sicherlich nicht außer Acht lassen wollte, dass ein Staat seinen eigenen Staatsangehörigen die Einreise in sein Hoheitsgebiet oder den Aufenthalt in diesem nicht versagen darf. Sonach kann ein Mitgliedstaat aus Gründen der öffentlichen Ordnung gegebenenfalls einem Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats die Rechtsvorteile aus der Anwendung des Grundsatzes der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Hinblick auf die Ausübung einer bestimmten entgeltlichen Beschäftigung versagen, obwohl er seinen eigenen Staatsangehörigen keine vergleichbare Beschränkung auferlegt.“ In „Rutili“ konkretisierte der Gerichtshof Art. 3 der Richtlinie 64 / 221, der den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung aus Art. 39 Abs. 3 EG dahingehend präzisiert, dass die Mitgliedstaaten für diese Beurteilung ausschließlich auf das persönliche Verhalten der unter dem Schutz des Gemeinschaftsrechts stehenden Einzelpersonen abzustellen haben und nicht auf pauschale Wertungen.529 Daneben sind gemäß Art. 2 der Richtlinie die aus der öffentlichen Ordnung hergeleiteten Gründe für die Beschränkung der Freizügigkeit nicht dadurch von ihrer Funktion zu lösen, dass sie „für wirtschaftliche Zwecke geltend gemacht werden“. Der Gerichtshof erläutert dabei, dass sich diese Vorgaben für die ausländerpolizeilichen Befugnisse der Mitgliedstaaten als eine besondere Ausprägung eines allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatzes darstellen, der in den Art. 8, 9, 10 und 11 der EMRK und in Art. 2 des am 16. 9. 1963 in Straßburg unterzeichneten Protokolls Nr. 4 zu dieser Konvention verankert ist; diese bestimmen gleichlautend, dass die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorgenommenen Einschränkungen der in ihnen zugesicherten Rechte nicht den Rahmen dessen überschreiten dürfen, was für diesen Schutz „in einer demokratischen Gesellschaft“ notwendig ist.530 Auch in weiteren Urteilen hat der EuGH Primärrecht in Konformität mit der EMRK ausgelegt.531 526 Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 76 (Fn. 129); Everling, U., Rechtsanwendungs- und Auslegungsgrundsätze, in: Kruse, W. (Hrsg.), Zölle, Verbrauchssteuern, europäisches Marktordnungsrecht, Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e. V., Band 11, 1988, S. 51 ff., 66; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 264 f. 527 EuGH, Slg. 1974, S. 1337 ff., 1351 (Van Duyn). 528 EuGH, Slg. 1975, S. 1219 ff., 1231 f. (Rutili). 529 Ebd., S. 1231. 530 Ebd., S. 1219. 531 EuGH, Slg. 1986, S. 1651 ff., 1682 (Johnston) bezüglich Art. 6; EuGH, Slg. 1989, S. 2859 ff., 2924 (Hoechst) bezüglich Art. 8.

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167

2 Stand der Methodik – 27 Spielarten der Konformauslegung

Ebenso ist er in seiner Interpretation von Vertragsbestimmungen um Übereinstimmung mit dem GATT bemüht. In dem Urteil „Interfood“ ging es um die Auslegung einer Tarifstelle des Gemeinsamen Zolltarifs der EG: „Da der Gemeinsame Zolltarif Gegenstand von Abkommen zwischen der Gemeinschaft und ihren GATT-Handelspartnern war, können die jenen Abkommen zugrundeliegenden Prinzipien ein nützliches Hilfsmittel für die Auslegung der auf den Gemeinsamen Zolltarif anwendbaren Tarifierungsvorschriften bilden“.532 In der Sache „International Fruit Company“533 stellte das Gericht sogar die Bindung der EG an die Bestimmungen des GATT unter dem Gesichtspunkt eines Übergangs der Zuständigkeit von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Art. 110 ff. EGV (heute Art. 131 ff. EG – Gemeinsame Handelspolitik) und des Wirksamwerdens des GZT fest. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung „Ahlström“, in der das Gericht sich ausführlich mit dem völkerrechtlichen Interventionsverbot befasst und im Ergebnis die Völkerrechtskonformität der angegriffenen Entscheidung der EG-Kommission festgestellt hat.534 In diesen Kontext gehören auch die Rechtswirkungen umweltrechtlicher Bestimmungen in völkerrechtlichen Verträgen. In zwei Entscheidungen535 hat sich der EuGH mit der Bedeutung eines Protokolls über den Schutz des Mittelmeers auseinander gesetzt. Es ging dabei um die Auswirkung völkerrechtlicher Vereinbarungen im Gemeinschaftsrecht. Das Urteil illustriert, dass auch solche völkervertragsrechtlichen Vorgaben, die der Gemeinschaft einen Spielraum eröffnen, unmittelbare Wirkung entfalten, soweit ihr „Kernbereich“ berührt wird, so dass entsprechende Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten festgestellt werden können.

271.3 Gemeinsamkeiten der Fälle von Konformauslegung 168

Bei der vertragskonformen Auslegung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht handelt es sich in der Praxis des Gerichtshofs häufig um die Interpretation von Vorschriften des Sekundärrechts im Einklang mit den Bestimmungen des Primärrechts, auf deren Grundlage sie beruhen bzw. erlassen worden sind. Jedenfalls dient das abgeleitete Gemeinschaftsrecht, wie nicht nur die speziellen Ermächtigungsgrundlagen zeigen, gerade der Verwirklichung des Binnenmarktes mit einheitlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten. Diesem Ziel gelten auch die meisten Normen des Primärrechts, so dass das Streben des EuGH nach KonforEuGH, Slg. 1972, S. 231 ff., 242 (Interfood). EuGH, Slg. 1972, S. 1219 ff., 1227 f. (International Fruit Company). 534 EuGH, Slg. 1988, S. 5193 ff. (Ahlström); dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 268 ff. 535 EuGH, Urteil vom 15. 07. 2004 – C-213 / 03 – Syndicat professionel de coordination des pêcheurs de l’étang de Berre / Electricité de France; EuGH, Urteil vom 07. 10. 2004 – C-239 / 03 – Kommission / Frankreich. 532 533

272 Die Konformauslegung in der Praxis des EuGH

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mität und Gleichklang nicht überrascht. Bei Widersprüchen ist eine Aufhebung der niederrangigen Norm nur dann zu vermeiden, wenn man eine mit der höherrangigen Norm übereinstimmende Lesart in den Grenzen des methodisch Möglichen noch annehmen kann. Damit entspricht die primärrechtskonforme Auslegung, die Vorrang vor einer Nichtigerklärung des niederrangigen Gemeinschaftsrecht genießt, dem Gebot des „judicial self-restraint“.

272 Die Konformauslegung in der Praxis des EuGH

Das Diskriminierungsverbot des Art. 141 EG ist ein wichtiger Bezugspunkt 169 der Konformauslegung. Der Gerichtshof entschied im Urteil „Worringham und Humphreys“, dass die Richtlinie 75 / 117 des Rates, deren Zweck darin besteht, die notwendigen Voraussetzungen für die Verwirklichung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen festzulegen, von dem Begriff des Entgelts ausgeht, wie er in Art. 119 Abs. 2 EGV (heute Art. 141 Abs. 2 EG) definiert ist.536 Aber auch sonstige Regeln aus dem Primärrecht kommen als Bezugspunkt in Betracht. Beispielhaft ist hier die Sache „Schul“ zu nennen. Dort ging es um die Gültigkeit des Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 77 / 388 des Rates „zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem“, welche das vorlegende Gericht bezweifelte (Art. 234 Abs. 1 lit. b) EG). Der EuGH stellte fest, dass die Anforderungen des Art. 95 EGV (heute Art. 90 EG) – keine höheren Abgaben für Waren aus dem Ausland – zwingender Art sind und keine Ausnahme aufgrund irgendeiner Handlung eines Organs der Gemeinschaft zulassen. Im Anschluss hieran bestimmte er die Tragweite des Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie in einer Weise, die der Verpflichtung aus Art. 90 EG nicht entgegenstand. Somit war die Richtlinienbestimmung im Ergebnis gültig.537 In der Rechtssache „Marimex“ behandelte der EuGH die Frage, ob der Begriff der Abgabe gleicher Wirkung wie Zölle, der von Art. 12 I, Abs. 2 der VO (EWG) Nr. 14 / 64 über die gemeinsame Marktordnung für Rindfleisch gebraucht wird, genauso wie in Art. 9, 12, 13 und 16 EGV (heute Art. 23 – 25 EG) zu verstehen ist. Wie zu erwarten, entschied der Gerichtshof auch diesbezüglich, dass die Vorschrift der Verordnung in Übereinstimmung mit dem einschlägigen Primärrecht verstanden werden muss. Bereits 1973 wendete das Gericht die Methode der primärrechtskonformen Aus- 170 legung des Sekundärrechts in der Landwirtschaftspolitik an. So stellte es in der 536 537

EuGH, Slg. 1981, S. 767 ff., 791 (Worringham und Humphreys). EuGH, Slg. 1982, S. 1409 ff., 1433 f. (Caston Schul Douane Expediteur BV).

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2 Stand der Methodik – 27 Spielarten der Konformauslegung

Rechtssache „Niederlande gegen Kommission“538 fest, dass die Verordnung (EWG) Nr. 13 / 64 des Rates über die schrittweise Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse im Licht der in Art. 39 EGV (heute Art. 33 EG) angeführten Ziele auszulegen ist; nämlich vor allem der ländlichen Bevölkerung durch Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens der in der Landwirtschaft tätigen Personen eine angemessene Lebenshaltung zu gewährleisten und zur Stabilisierung der Agrarmärkte beizutragen. Daher ist nach Auffassung des Gerichtshofs Art. 14 Abs. 2 der Verordnung so zu verstehen, dass er jede Ausfuhr nach dritten Ländern fördern soll, die geeignet ist, zur Verwirklichung dieser Ziele beizutragen. In den verbundenen Rechtssachen „Klensch“539 1986 hatte der EuGH Artikel 2 der Verordnung Nr. 857 / 84 bezüglich der Gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse auszulegen. Nach dieser Vorschrift bestand für die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Referenzmengen für Milch in Abweichung von Artikel 1 der Verordnung nach den in Artikel 2 genannten Kalenderjahren zu bestimmen. Die Frage, ob der Mitgliedstaat Luxemburg das richtige Referenzjahr gewählt hatte, richtete sich dann nach Artikel 40 Absatz 3 EWG-Vertrag (heute Art. 34 Abs. 2 Unterabsatz 2 EG); denn diese Vertragsbestimmung des Primärrechts gebot eine einschränkende Auslegung der Wahlmöglichkeit nur dahingehend, dass die Ausübung einer Option unzulässig ist, die eine mittelbare oder unmittelbare Diskriminierung im Sinn des Artikels 40 Absatz 3 EWG-Vertrag zwischen den betroffenen Erzeugungen zur Folge haben könnte. In vorangegangenen Entscheidungen hatte das Gericht auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Grenze der Auslegung des Sekundärrechts bildende Bestimmungen des Primärrechts zu beachten; es hatte sich aber ebenso wie in der Rechtssache „Klensch“ auf die Darstellung der Grenzfunktion des Primärrechts beschränkt.540 272.1 Auslegung im Licht der Freizügigkeitsregelungen 171

Mehrfach hat der Gerichtshof bei der Auslegung der auf Art. 51 EGV (heute Art. 42 EG) beruhenden Ratsverordnungen Nr. 3 / 73 „über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer“ und Nr. 1408 / 71 „über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern“, auf die Art. 48 ff. EGV (heute Art. 39 ff. EG) zurückgegriffen.541 Danach sind Sinn und Anwendungsbereich der Vorschriften EuGH, Slg. 1973, S. 27 ff., 41 (Niederlande / Kommission). EuGH, Slg. 1986, S. 3477 ff., 3507 (Klensch). 540 Grundmann, St., EG-Richtlinie und nationales Privatrecht, in: JZ 1996, S. 274 ff., 334 m. Hinw. a. EuGH, Slg. 1967, S. 263 ff. (De Moor); EuGH, Slg. 1969, S. 125 ff., 135 (Torrekens); EuGH, Slg. 1970, S. 415 ff., 422 (Di Bella); EuGH, Slg. 1975, S. 1149 ff., 1160 (Petroni); EuGH, Slg. 1975, S. 1473 ff., 1481 (Massonet). 541 EuGH, Slg. 1966, S. 637 ff., 645 (Hagenbeek); EuGH, Slg. 1967, S. 263 ff., 276 (De Moor); EuGH, Slg. 1967, S. 505 ff., 507 (Couture); EuGH, Slg. 1969, S. 125 ff., 135 538 539

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dieser Verordnungen durch eine Auslegung im Licht der Art. 48 bis 51 des Vertrages (heute Art. 39 bis 42 EG) zu klären, die Grundlage, Rahmen und Grenzen für die Verordnungen sind.542 Diese Vertragsvorschriften bilden somit die Richtschnur für die Ermittlung des Inhalts der Verordnungen.543 Vor allem zur Auslegung des Begriffs „Arbeitnehmer“ in der Verordnung Nr. 1408 / 71 wollte der Gerichtshof „in erster Linie“ auf den Sinn der Verordnung und auf die Ziele des EWG-Vertrages abstellen.544 Im Ergebnis sollte der Begriff extensiv verstanden werden; also auch Personen erfassen, die nicht Arbeitnehmer im Sinn des Arbeitsrechts sind, „aber denen nach Sinn und Zweck der Verordnung Nr. 1408 / 71 und der ihr zugrundeliegenden Artikel 48 – 51 EWGVertrag ( . . . )“545 eine Arbeitnehmereigenschaft gemäß der Verordnung zugebilligt werden muss. Auch die auf Art. 48 – 51 EGV (heute Art. 39 – 42 EG) basierende Verordnung 172 (EWG) Nr. 3 / 73 war mehrfach Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH. Im Rahmen der primärrechtskonformen Auslegung der Art. 27 und 28 derselben VO stellte er in der Rechtssache „Hagenbeek“546 fest, dass die Vorschrift des Art. 51 EGV (heute Art. 42 EG) es den Wanderarbeitnehmern ermöglichen soll, den Leistungsanspruch aus der Sozialversicherung für alle in den verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Beschäftigungszeiten zu erwerben. Dies soll sie davor schützen, durch das Ausüben ihres Freizügigkeitsrechts gegenüber den anderen Arbeitnehmern benachteiligt zu werden. Die Auslegung der Art. 27 und 28 der Verordnung lässt sich nicht von diesem grundlegenden Ziel isoliert betrachten. Denn die Freizügigkeit wäre für die Wanderarbeitnehmer praktisch nicht gewährleistet, wenn sie die Ausübung dieser Grundfreiheit damit bezahlen müssten, die Sozialversicherungsansprüche, die sie in den betreffenden Ländern erworben haben, zu verlieren.547 In der Rechtssache „Di Bella“ entschied der Gerichtshof bezüglich der Auslegung des Art. 42 VI lit. a) der VO, dass die Vorschrift nur im Hinblick auf die Ziele auszulegen ist, denen die Art. 48 – 51 EGV (heute Art. 39 – 42 EG) dienen. Nach diesen Normtexten sollen den Wanderarbeitnehmern und ihren Angehörigen die sich aus den einzelnen zurückgelegten Beschäftigungs- und Versicherungszeiten ergebenden Ansprüche gesichert werden. Die (Torrekens); EuGH, Slg. 1969, S. 597 ff., 603 (Duffy); EuGH, Slg. 1970, S. 415 ff., 421 (Di Bella); EuGH, Slg. 1974, S. 517 ff., 525 (Kaufmann); EuGH, Slg. 1974, S. 571 ff., 579 (Niemann); EuGH, Slg. 1975, S. 1149 ff., 1160 (Petroni); EuGH, Slg. 1975, S. 1473 ff., 1481 (Massonet); EuGH, Slg. 1979, S. 831 ff., 844 (Rossi); EuGH, Slg. 1979, S. 1851 ff., 1860 (Villano). 542 Siehe Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 187 m. Hinw. a. EuGH, Slg. 1969, S. 597 ff., 603 (Duffy). 543 EuGH, Slg. 1969, S. 125 ff., 135 (Torrekens). 544 EuGH, Slg. 1976, S. 1429 ff., 1452 (Brack). 545 Ebd., S. 1453. 546 EuGH, Slg. 1966, S. 637 ff. (Hagenbeek). 547 Ebd., S. 645; EuGH, Slg. 1967, S. 263 ff., 276 (De Moor).

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2 Stand der Methodik – 27 Spielarten der Konformauslegung

Art. 48 – 51 EGV erlauben es daher nicht, die VO so auszulegen, dass den Betroffenen wegen ihres Wohnsitzes bestimmte Leistungen entzogen werden.548 173

Ebenso wies der Gerichtshof in der Rechtssache „Jauch“549 aus 2001 darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung „die auf Grund von Art. 51 EGV (nach Änderung jetzt Art. 42 EG) ergangene Verordnung (EWG) Nr. 1408 / 71 und insbesondere ihr Anhang VI im Licht des Zweckes dieses Artikels auszulegen“ ist.550 In dem österreichischen Ausgangsverfahren war der Kläger, der stets in Deutschland wohnte, über viele Jahre in Österreich beschäftigt und bezog seine Pension von der österreichischen Versicherungsanstalt. Als er pflegebedürftig wurde, lehnten die deutschen und die österreichischen Stellen die Leistung von Pflegegeld ab. In erster Linie durch primärrechtskonforme Auslegung kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass die österreichischen Leistungsträger zur Zahlung verpflichtet seien, da soziale Leistungen grundsätzlich nicht vom Wohnsitz abhängig gemacht werden könnten: „Der Zweck der Art. 48 und 49 EGV (jetzt nach Änderung Art. 39 und 40 EG), 50 EGV (jetzt Art. 41 EG) und 51 EGV würde verfehlt, wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sichern, insbesondere wenn diese Vergünstigungen die Gegenleistung der von ihnen gezahlten Beträge darstellen“.551 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-138 / 02552 Die Richtlinie 78 / 473 des Rates „zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften auf dem Gebiet der Mitversicherung auf Gemeinschaftsebene“ wurde in der Bundesrepublik Deutschland durch Erlass des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) umgesetzt. In der Rechtssache „Kommission gegen Deutschland“ stellte der Gerichtshof fest, dass die Bundesrepublik durch den Erlass des Gesetzes gegen europäisches Recht verstoßen hat. Denn die Bestimmungen der Richtlinie sind unter Berücksichtigung des Inhalts der Art. 59 und 60 EGV (heute Art. 49 und 50 EG) auszulegen, mit denen ein Niederlassungserfordernis des führenden Versicherers, wie im deutschen VAG vorgesehen, unvereinbar ist.553 548 EuGH, Slg. 1970, S. 415 ff., 421 (Di Bella); weitere Beispiele aus der Rechtsprechung finden sich bei Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 188. Vgl. zur Freizügigkeit außerdem EuGH, in: NJW 2004, S. 3097 ff. = EWS 2004, S. 367 ff. – Wallentin; EuGH, Urteil vom 16. 09. 2004 – C-386 / 02, Beck RS, 2004, 76460 – Baldinger; EuGH, in: NVwZ 2004, S. 1099 ff. = EuZW 2004, S. 402 ff. – Orfanopoulos; EuGH, in: EuZW 2004, S. 507 ff. – Collins. 549 EuGH: Österreichisches Pflegegeld für deutsche Grenzgänger, in: EuZW 2001, 312 ff. 550 Rn. 20. 551 Rn. 20. 552 Ferner EuGH, in: EuZW 2004, S. 507 ff. – Collins. Hier leitet der EuGH das streitige Recht direkt aus Art. 39 ab, obwohl in dem anwendbaren Sekundärrecht dieses Recht gerade nicht niedergelegt ist. Dabei spielt natürlich der Gedanke der gemeinschaftsrechts-konformen Auslegung eine Rolle, weil bei Verankerung des Rechts im primärrechtlichen Art. 39 dieser Umstand durch Sekundärrecht nicht in Frage gestellt werden kann. 553 EuGH, Slg. 1986, S. 3755 ff., 3812, 3815 (Kommission / Deutschland).

272 Die Konformauslegung in der Praxis des EuGH

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In der Rechtssache „Broekmeulen“ ging es dem nationalen Gericht darum, ob 174 sich ein niederländischer Staatsangehöriger, der ein belgisches Diplom besitzt, welches in Art. 3 der Richtlinie 75 / 362 „für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für die Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr“ aufgeführt ist und von jedem Mitgliedstaat gemäß Art. 2 dieser Richtlinie anerkannt wird, auf diese Bestimmung berufen kann, wenn er sich in den Niederlanden niederlassen will.554 Die Vorlagefrage betraf m. a. W. ein Problem der sogenannten Inländerdiskriminierung. Der Gerichtshof legte Art. 2 der Richtlinie in Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Freizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs555 aus, die durch die Art. 2 lit. c), 48, 52 und 59 EGV (heute Art. 3 lit. c), 39, 43 und 49 EG) garantiert werden. Diese im System der Gemeinschaft grundlegenden Freiheiten würden nicht voll wirksam werden, wenn die Mitgliedstaaten eine Vergünstigung, die sich aus der genannten Richtlinienvorschrift ergibt, denjenigen ihrer Staatsangehörigen versagen dürften, die von den Erleichterungen auf dem Gebiet des Verkehrs und der Niederlassung Gebrauch gemacht und auf diesem Weg die in der Richtlinie erwähnten beruflichen Qualifikationen in einem anderen Mitgliedstaat erworben haben.556 In der Rechtssache „Dior gegen Evora“557 ging es unter anderem um die Aus- 175 legung des Artikel 5 und insbesondere Art. 7 der Ersten Richtlinie 89 / 104 / EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken. Mit seiner Vorlagefrage wollte das nationale Gericht wissen, ob die betreffenden Richtlinienbestimmungen dahin auszulegen sind, dass ein Wiederverkäufer von Markenwaren, die vom Markeninhaber oder mit seiner Zustimmung in der Gemeinschaft in den Verkehr gebracht worden sind, nicht nur diese Waren weiterverkaufen, sondern ob er die Marke auch dafür benutzen darf, der Öffentlichkeit den weiteren Vertrieb dieser Waren anzukündigen. Zur Beantwortung dieser Frage ruft der Gerichtshof zunächst die einschlägigen Vorschriften der Richtlinie in Erinnerung558: „Einerseits bestimmt Artikel 5 der Richtlinie, in dem die Rechte aus der Marke festgelegt sind, in Absatz 1, dass der Inhaber es Dritten verbieten kann, im geschäftlichen Verkehr seine Marke zu benutzen, und in EuGH, Slg. 1981, S. 2311 ff., 2328 f. (Broekmeulen). Vgl. als wichtige Entscheidungen in diesem Bereich EuGH, Urteil vom 29. 04. 2005 – C-171 / 02 – Kommission / Portugal; EuGH, Urteil vom 07. 10. 2004 – C-189 / 03 – Kommission / Niederlande; EuGH, in: NZA 2004, S. 1211 ff. = NZBau 2004, S. 670 ff. = EWS 2004, S. 507 ff. – Wolff & Müller; EuGH, Urteil vom 11. 03. 2004 – C-496 / 01 – Kommission / Frankreich; EuGH, Urteil vom 14. 10. 2004 – C-229 / 02 – Kommission / Niederlande; EuGH, in: EuZW 2004, S. 273 ff. = EWS 2004, S. 180 ff. – Hughes de Lasteyrie du saillant; EuGH, Urteil vom 18. 03. 2004 – C-8 / 02 – Leichtle; EuGH, in: NVwZ 2004, S. 1471 ff. = EuZW 2004, S. 753 ff. = EWS 2004, S. 19 ff. – Omega Spielhallen- und Automatenaufstellung. 556 Ebd., S. 2329. 557 EuGH, Slg. 1997, S. 6013 ff. (Parfums Christian Dior). 558 Ebd., S. 6046. 554 555

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2 Stand der Methodik – 27 Spielarten der Konformauslegung

Absatz 3 Buchstabe d, dass es Dritten verboten werden kann, die Marke in der Werbung zu benutzen. Andererseits sieht Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie, der die Erschöpfung des Rechts aus der Marke betrifft, vor, dass dieses Recht es dem Inhaber nicht erlaubt, die Benutzung der Marke für Waren zu verbieten, die unter dieser Marke von ihm oder mit seiner Zustimmung in der Gemeinschaft in den Verkehr gebracht worden sind.“ 176

Daraus folgert der EuGH559: „Wenn aber das dem Inhaber einer Marke durch Artikel 5 der Richtlinie gewährte Recht, die Benutzung der Marke für Waren zu verbieten, erschöpft ist, sobald diese Waren von ihm selbst oder mit seiner Zustimmung in den Verkehr gebracht worden sind, so muss für das Recht, die Marke zu benutzen, um der Öffentlichkeit den weiteren Vertrieb dieser Ware anzukündigen, dasselbe gelten. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich nämlich, dass Artikel 7 der Richtlinie im Lichte der Vertragsbestimmungen über den freien Warenverkehr, insbesondere des Artikels 36 (Anm.: heute Art. 30 EG), auszulegen ist (vgl. Urteil vom 11. Juli 1996 in den verbundenen Rechtssachen C-427 / 93, C-429 / 93 und C-436 / 93, Bristol-Myers Squibb u. a., Slg. 1996, I-3457, Randnr. 27) und dass der Grundsatz der Erschöpfung des Rechts den Markeninhabern die Möglichkeit nehmen soll, die nationalen Märkte abzuschotten und dadurch die Beibehaltung eventueller Preisunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern (vgl. Urteil Bristol-Myers Squibb u. a., a. a. O., Randnr. 46). Wäre nun das Recht, die Benutzung einer Marke zur Ankündigung des weiteren Vertriebs zu verbieten, nicht ebenso erschöpft wie das Recht, den Wiederverkauf zu verbieten, so würde dieser Wiederverkauf erheblich erschwert und der mit dem Artikel 7 vorgesehene Grundsatz der Erschöpfung verfolgte Zweck verfehlt.“

272.2 Auslegung von Sekundärrecht im Einklang mit rechtsstaatlichen Grundsätzen 177

Der EuGH hat Normtexte des sekundären Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf rechtsstaatliche Grundsätze ausgelegt. Diese sind, da Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts, als höherrangig anzusehen. Bereits der Gerichtshof der EGKS hatte unter Vornahme einer „rechtsvergleichenden Untersuchung“ festgestellt, dass „ein Verwaltungsakt, der dem Betroffenen subjektive Rechte verliehen hat, grundsätzlich nicht widerrufen werden kann, sofern er rechtmäßig war“. Hingegen sei der „Widerruf eines infolge Rechtwidrigkeit fehlerhaften Verwaltungsakts“ in allen Mitgliedstaaten und somit auch im Gemeinschaftsrecht zulässig.560 Ausgehend hiervon, erkennt auch der EuGH den Grundsatz der Rechtssicherheit561 und das daraus erwachsende Vertrauensschutz559 560

Ebd., S. 6046 f. EuGH, Slg. 1957, S. 83 ff., 118 f. (Algera).

272 Die Konformauslegung in der Praxis des EuGH

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prinzip562 an. Eine besondere Ausprägung finden diese Grundsätze in der Rechtsprechung zur Rückwirkung von Rechtsakten.563 In dem Urteil „Salumi“564 fragte das vorlegende nationale Gericht, ob die Ver- 178 ordnung (EWG) Nr. 1697 / 79 „betreffend die Nacherhebung von noch nicht vom Abgabenschuldner angeforderten Eingangs- oder Ausfuhrabgaben für Waren, die zu einem Zollverfahren angemeldet worden sind, das die Verpflichtung zur Zahlung derartiger Abgaben beinhaltet“ auf bereits vor ihrem Inkrafttreten vorgenommene Abgabenfestsetzungen anwendbar sei. Die Verordnung enthielt keine Übergangsvorschrift. Der Gerichtshof entschied, zur Ermittlung ihrer zeitlichen Geltung unter Berücksichtigung ihres Wortlauts, ihrer Zielsetzung und ihres Aufbaus sei auf allgemein anerkannte Auslegungsgrundsätze zurückzugreifen. Materiellrechtliche Vorschriften werden demnach im Allgemeinen so ausgelegt, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte nur dann gelten, wenn aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist. Nur eine solche Auslegung stelle die Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sicher, denen zufolge die Gemeinschaftsgesetzgebung klar und für die Betroffenen vorhersehbar sein muss.565 In den Urteilen „Testa“566 und „Hauer“567 legte das Gericht Sekundärrecht im 179 Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus bzw. überprüfte das abgeleitete Recht anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf seine Gültigkeit. In den die französische „Loi Evin“ betreffenden Entscheidungen ging es um das Verbot einer Fernsehwerbung für im Inland vertriebene alkoholische Getränke. Erfasst wurde dabei auch die indirekte Fernsehreklame in Form der Werbetafeln bei Sportveranstaltungen. Eine solche Regelung beschränkt den freien Dienstleistungsverkehr. Der EuGH stellt auf den Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten in Bezug auf das Schutzniveau ab und prüft von dort aus die Erforderlichkeit der Maßnahmen. Allerdings schränkt er sich bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn ein. Diese wird nicht untersucht, obwohl eine solche Prüfung gerade bei 561 EuGH, Slg. 1977, S. 425 ff., 435 (Kerry Milk); EuGH, Slg. 1979, S. 69 ff., 86 (Racke); EuGH, Slg. 1985, S. 2235 ff., 2247 (Drünert); EuGH, Slg. 1990, S. 4023 ff., 4061 f. (Fedesa); siehe ferner Bredimas, A., Methods of interpretation and Community law, European studies in Law, 1978, S. 128 f. 562 EuGH, Slg. 1982, S. 749 ff., 764 (Alpha Steel); EuGH, Slg. 1990, S. 4539 ff., 4577 ff. (Spagl) m. w. N.; EuGH, Slg. 1991, S. 5119 ff., 5153 ff. (Von Deetzen) m. w. N.; EuGH, Slg. 1992, S. 35 ff., 63 (Kühn); siehe auch Bredimas, A., Methods of interpretation and Community law, European studies in Law, 1978, S. 129, m. w. N. 563 Siehe dazu Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 212 ff., m. w. N. 564 EuGH, Slg. 1981, S. 2735 ff., 2750 (Salumi). 565 Ebd., S. 2751 f.; siehe ferner zur Rechtssicherheit EuGH, Slg. 1978, S. 1915 ff., 1924 (Belbouab); zum Vertrauensschutz EuGH, Slg. 1991, S. 1647 ff., 1673 (Rauh). 566 EuGH, Slg. 1980, S. 1979 ff., 1997 (Testa). 567 EuGH, Slg. 1979, S. 3727 ff., 3747 (Hauer).

10 Müller / Christensen

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2 Stand der Methodik – 27 Spielarten der Konformauslegung

den nur einige Momente auf dem Bildschirm auftauchenden Werbetafeln nahe gelegen hätte. Hier sieht man sehr deutlich, dass das Gericht die Definition des vom Nationalstaat angestrebten Schutzniveaus respektiert.568 Auch in der Entscheidung zum Dosenpfand ging es um dieses Problem. Ausgangspunkt war die Verpackungsrichtlinie und die Vereinbarkeit mit der deutschen Regelung des Dosenpfandes mit diesen Vorgaben.569

272.3 Gemeinschaftsgrundrechte 180

Beim Interpretieren des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts zieht der EuGH schließlich auch die Gemeinschaftsgrundrechte zur Konkretisierung heran. Nach seiner ständigen Rechtsprechung gehören die Grundrechte „zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die der Gerichtshof im Einklang mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und mit den völkerrechtlichen Verträgen, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, zu wahren hat“.570 Dabei ist die EMRK besonders wichtig.571 Auch ohne ausdrückliche Erwähnung sind nach Ansicht des Gerichts etwa das Eigentum, die freie Berufsausübung, die Achtung des Privatlebens, die Meinungsfreiheit und das Recht auf ein „fair trial“ vor einem „tribunal“ bei Entscheidungen über ein „civil right“ i. S. d. Art. 6 EMRK im Gemeinschaftsrecht grundsätzlich geschützt.572 Beispielsweise darf die Vorschrift einer Verordnung nicht in einer Weise ausgelegt werden, die zu Ergebnissen führen würde, die mit den „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ und besonders mit den Grundrechten unvereinbar wären.573 568 Vgl. dazu EuGH, in: NJW 2004, S. 2957 ff. = EuZW 2004, S. 499 ff. = EWS 2004, S. 411 ff. – Kommission / Frankreich; EuGH, in: EuZW 2004, S. 497 ff. = EWS 2004, S. 413 ff. – Bacardy France. 569 Vgl. EuGH, in: NVwZ 2005, S. 194 ff. = EWS 2005, S. 22 ff. = EuZW 2005, S. 49 ff. – Kommission / Deutschland. Weil das Inkrafttreten des neuen Dosenpfandsystems von dem Anteil der Mehrwegverpackungen auf dem Markt abhängig gemacht wird, entsteht für Hersteller und Vertreiber ein Motiv, Mehrwegverpackungen zu benutzen, wodurch eine Verringerung der anfallenden Abfälle erzielt werden kann. Dies ist eines der allgemeinen Ziele der deutschen Umweltpolitik. Der EuGH hat die Rechtfertigungsmöglichkeit dieser Regelung grundsätzlich bejaht. Moniert hat er lediglich, dass den Herstellern und Vertreibern keine ausreichende Übergangsfrist eingeräumt wurde, um sich dem neuen System anzupassen. Auch hier hat der EuGH die Definitionsmacht des Nationalstaates wieder anerkannt und seine Verhältnismäßigkeitsprüfung entsprechend eingeschränkt. 570 EuGH, Slg. 1989, S. 3165 ff., 3184 (Dow Chemical Ibérica) m. w. N. 571 Insbesondere EuGH, Slg. 1991, S. 5569 ff. (Meico-Fell); EuGH, Slg. 1989, 1263 ff. (Kommission / Deutschland); EuGH, Slg. 1975, S. 1219 ff. (Rutili). 572 Siehe dazu Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 211 m. w. N. 573 EuGH, Slg. 1989, S. 2859 ff., 2923 (Hoechst).

272 Die Konformauslegung in der Praxis des EuGH

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In der bereits genannten Rechtssache „Hauer“574 handelte es sich um ein Vor- 181 abentscheidungsersuchen, bei dem sich der Gerichtshof mit der Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 1162 / 76 „über Maßnahmen zur Anpassung des Weinbaupotentials an die Marktbedürfnisse“ zu befassen hatte. Die Verordnung untersagte die Neuanpflanzung von Weinreben für einen längeren Zeitraum. Der EuGH untersuchte, ob die Verordnung gegen die Eigentumsgarantie verstößt, die im Gemeinschaftsrecht in Anlehnung an die gemeinsamen Verfassungskonzeptionen der Mitgliedstaaten gewährleistet wird, die sich in Art. 1 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention widerspiegeln.575 Das Neuanpflanzungsverbot stelle zwar eine Beschränkung des Eigentums an Grund und Boden dar; diese sei jedoch angesichts der Tatsache, dass es sich um eine einstweilige Regelung handelt, die eine konjunkturelle Überschusssituation auf dem Weinsektor mit sofortiger Wirkung beenden soll, durch die dem allgemeinen Wohl dienenden Ziele der Gemeinschaft gerechtfertigt, zumal sie das Eigentumsrecht nicht in seinem Wesensgehalt antaste.576 Aus denselben Erwägungen lehnte der EuGH einen Verstoß gegen die Berufsfreiheit ab.577 Auch der allgemeine Gleichheitsgrundsatz wird von ihm zur Konkretisierung 182 herangezogen. In dem Urteil „Airola“578 ging es um eine Verfügung der Kommission, durch die eine nach dem Beamtenstatut bislang gewährte Auslandszulage entzogen wurde. Die Klägerin trug vor, auf die Voraussetzung des Art. 4 I lit. a) des Anhangs VII zum Beamtenstatut (wonach die Auslandszulage nur den Beamten gewährt wird, welche die Staatsangehörigkeit des Staates, in dessen europäischem Hoheitsgebiet sie ihre Tätigkeit ausüben, nicht besitzen und nicht besessen haben) sei dann nicht abzustellen, wenn der Betroffene unfreiwillig durch Heirat eine doppelte Staatsangehörigkeit erworben habe. Schließlich kann auch die Europäische Sozialcharta zur Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts herangezogen werden.579

28 Das Verhältnis der Konformauslegung zum nationalen Recht Die Konformauslegung hat im Einzugsbereich des Gemeinschaftsrechts auch 183 Auswirkungen auf das nationale Recht. Der EuGH hat für diese Art von Konkretisierung durch die nationalen Gerichte die Grundlagen gelegt. Das gilt vor allem EuGH, Slg. 1979, S. 3727 ff., 3747 (Hauer). Ebd., S. 3745. 576 Ebd., S. 3749. 577 Ebd., S. 3750. 578 EuGH, Slg. 1975, S. 221 ff., 229 (Airola). 579 EuGH, Slg. 1988, S. 379 ff., 403 (Blaizot): Auslegung des Art. 128 EGV (heute Art. 151 EG) am Maßstab des Art. 10 der Charta. 574 575

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2 Stand der Methodik – 28 Konformauslegung und nationales Recht

für seine Rechtsprechung bezüglich des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht und seine Aussagen über Struktur und Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung. Diese Argumentationsfiguren wurden von den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten aufgenommen, präzisiert und zum Teil auch bekämpft. Solche Aspekte sind der Methodenlehre des nationalen Rechts (in Band I) vorbehalten. Hier soll es dagegen um Rechtfertigung, Struktur und Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung gehen, wie sie der EuGH entwickelt hat.580 281 Begriff und Struktur gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung

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Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ist einigen Aspekten der verfassungskonformen Auslegung vergleichbar, insgesamt aber vielschichtiger. Vergleichbar ist sie ihr insoweit, als auch sie den Ausgangspunkt in einer Situation hat, worin ein Normtext verschiedene Möglichkeiten der Interpretation eröffnet und wo im Zweifel dann diejenige auszuwählen ist, die mit dem höherrangigen Recht vereinbar bleibt. Der wichtigste Anwendungsfall, die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, hat jedoch noch einen zweiten Ausgangspunkt, nämlich die Nicht- oder Falschumsetzung der Richtlinie durch die zuständigen innerstaatlichen Stellen. 281.1 Begriff der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung

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Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung ist der Oberbegriff zur richtlinienkonformen. Der Unterschied liegt in dem jeweiligen Maßstab, an dem das nationale Recht gemessen wird. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts meint das an Sinn und Zweck des gesamten EG-Rechts ausgerichtete Verständnis nationaler Normtexte. Erfasst wird damit die abstrakt-generelle Überprüfung, ob die Konkretisierung einer nationalen Vorschrift mit primärem oder sekundärem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Es geht hier um die Auslegung in Übereinstimmung mit unmittelbar anwendbarem Recht, vor allem mit Primärrecht und den Verordnungen. 281.2 Begriff der richtlinienkonformen Auslegung

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Die richtlinienkonforme Auslegung581 ist von der gemeinschaftsrechtskonformen noch unter zwei Aspekten zu unterscheiden.582 Sie ist in ihrem Anwendungs580 Die Aufnahme der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung in der Rechtsprechung deutscher Gerichte wurde in Band I der vorliegenden Methodik dargestellt. Bezüglich der Entwicklung von Rechtfertigung, Struktur und Grenzen der Konformauslegung durch den EuGH sind einzelne Überschneidungen unvermeidbar.

281 Begriff und Struktur der Auslegung

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bereich enger und umfasst nur die Behandlung des nationalen Rechts im Hinblick auf jeweils eine spezielle nach Art. 249 Abs. 3 EG ergangene Richtlinie.583 Ferner handelt es sich hier um die Interpretation in Übereinstimmung mit Recht, welches noch in nationales Recht umgesetzt werden muss. Die richtlinienkonforme Auslegung ist also nur ein besonderer Teilaspekt der gemeinschaftsrechtskonformen. Sie hat aber die größte Relevanz für die Praxis. Denn die Richtlinie ist das zentrale Instrument der Rechtsetzung durch Gemeinschaftsorgane. Ferner sind Richtlinien nach Art. 249 Abs. 3 EG nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch die Wahl der Mittel den mitgliedstaatlichen Stellen. Die Unterschiede der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zum Gemeinschaftsrecht und die zwischen den nationalen Rechtsordnungen lassen es einleuchtend erscheinen, dass Konflikte bezüglich der Umsetzung aufkommen. Um diese zu lösen, ist die konforme Auslegung nationalen Rechts im Anwendungsbereich der Richtlinie ein Mittel von kaum zu überschätzender Wichtigkeit. Nützlich ist hier ein Vergleich mit der verfassungskonformen Auslegung. Die 187 verfassungskonforme Interpretation ist eine in der Tradition der Mitgliedstaaten häufig praktizierte Methode. Sie vermeidet die Aufhebung einfachen Rechts, wenn dieses noch im Einklang mit den Vorgaben der Verfassung konkretisiert werden kann. Wie weit man die richtlinienkonforme Auslegung mit der verfassungskonformen Auslegung vergleichen kann, ist umstritten.584 581 Vgl. dazu grundsätzlich Herrmann, Ch., Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, Berlin 2003, der die Einwirkung der Richtlinien auf die nationale Rechtsprechung umfassend analysiert (S. 31 – 189). 582 Ehricke, U., Die richtlinienkonforme und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: RabelsZ 59 (1995), S. 598 ff., 643. 583 Ebd., S. 603. 584 Der Vergleich mit der verfassungskonformen Auslegung findet sich bei Bach, A., Direkte Wirkung von EG-Richtlinien, in: JZ 1990, S. 1108 ff., 1112; Everling, U., Rechtsanwendungs- und Auslegungsgrundsätze, in: Kruse, W. (Hrsg.), Zölle, Verbrauchssteuern, europäisches Marktordnungsrecht, Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e. V., Band 11, 1988, S. 51 ff., 107; Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Europarecht 1991, S. 211 ff., 214; Lutter, M., Die Auslegung angeglichenen Rechts, in: JZ 1992, S. 593 ff., 604; Bleckmann, A., Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, in: Der Bürger im Staat 1984, S. 1574 ff., 1576; Zöckler, M., Probleme der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Zivilrechts, in: JhbJZ 1992, S. 141 ff., 151. Für eine Nähe zur verfassungskonformen Auslegung votieren Lutter, M., Die Auslegung angeglichenen Rechts, in: JZ 1992, S. 593 ff., 604; Bach, A., Direkte Wirkung von EG-Richtlinien, in: JZ 1990, S. 1108 ff., 1112; Everling, U., Rechtsanwendungs- und Auslegungsgrundsätze, in: Kruse, W. (Hrsg.), Zölle, Verbrauchssteuern, europäisches Marktordnungsrecht, Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e. V., Band 11, 1988, S. 51 ff., 107; Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Europarecht 1991, S. 211 ff., 214; Bleckmann, A., Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, in: Der Bürger im Staat 1984, S. 1574 ff., 1576; Zöckler, M., Probleme der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Zivilrechts, in: JhbJZ 1992, S. 141 ff., 151. Gegen eine solche Nähe: Schmidt, M., Privatrechtsangleichende EU-Richtli-

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Einig ist man sich, dass als Maßstab der Kontrolle einmal das Gemeinschaftsrecht und zum anderen die Verfassung herangezogen wird. Ein erster Unterschied liegt aber schon im Aspekt der Normenkontrolle.585 Vom Gemeinschaftsrecht her ergibt sich nur die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, aber nicht die Möglichkeit, nationales Recht aufzuheben. Selbst bei direktem Anwenden einer Richtlinie führt diese nur zu einem Anwendungsvorrang, der die nationalstaatliche Vorschrift in ihrer Umsetzung verdrängt, ohne sie unwirksam zu machen. Vielmehr bleibt der nationale Gesetzgeber zur Änderung verpflichtet.586 Bei verfassungskonformer Interpretation ist dagegen der Aspekt der Normenkontrolle stärker ausgeprägt. Die deutschen Gerichte etwa können untergesetzliche Regelungen bei Verstoß gegen die Verfassung und nach Scheitern der verfassungskonformen Auslegung selbst verwerfen. Formelle Gesetze können dagegen in einem solchen Fall dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden. Während also die verfassungskonforme Interpretation einen normenkontrollierenden Aspekt aufweist, beschränkt sich die gemeinschaftsrechtskonforme auf eine Anwendungs- oder Auslegungskontrolle.587 188

Auch die Begründung beider Institute ist verschieden. Bei der verfassungskonformen Methode ergibt sich die Rechtfertigung aus dem Vorrang unmittelbar geltenden Verfassungsrechts. Parallel dazu wird zum Teil in der gemeinschaftrechtnien und nationale Auslegungsmethode, in: RabelsZ 59 (1995), S. 569 ff., 590 sowie Gellermann, M., Beeinflussung des bundesdeutschen Rechts durch Richtlinien der EG: dargestellt am Beispiel des Europäischen Umweltrechts, 1994, S. 104 und Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 59. 585 Eine Richtlinie begründet keine Nichtigkeit einer widersprechenden nationalen Norm, sondern nur ein Anwendungsvorrang. Vgl. dazu Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 59 sowie Großfeld, B., Föderalismusprobleme im Rundfunkrecht, in: AG 1992, S. 336 ff., 338; Metallinos, A., Die europarechtskonforme Auslegung, 1994, S. 28; Scherzberg, A., Die innerstaatlichen Wirkungen von EG-Richtlinien, in: Jura 1993, S. 225 ff., 229 f.; Viebrock, J., Direktwirkung von EG-Richtlinien, in: JZ 1991, S. 555 f., 556; Di Fabio, U., Richtlinienkonformität als ranghöchstes Normauslegungsprinzip, in: NJW 1990, S. 947 ff., 950; Oppermann, Th., Europarecht, 1999, S. 171; Classen, C. D., Strukturunterschiede zwischen deutschem und europäischem Verwaltungsrecht, in: NJW 1995, S. 2457 ff. Zur Normenkontrolle im Gemeinschaftsrecht vgl. unten im Abschnitt 5 beim Problem der Rangfolge die Diskussion der Entscheidung Jégo Quéré sowie Schulte, E., Individualrechtsschutz gegen Normen im Gemeinschaftsrecht, Berlin 2005, S. 19 ff., 153 ff. 586 Vgl. dazu BVerwGE 1987, S. 154 ff., 158; Jarass, H., Voraussetzungen der innerstaatlichen Wirkungen des EG-Rechts, in: NJW 1990, S. 2420 ff., 2421; ders., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Europarecht 1991, S. 211 ff., 215; Mettalinos, A., Die europarechtskonforme Auslegung, 1994, S. 28; Oppermann, Th., Europarecht, 1999, S. 200 f.; Pagenkopf, M., Zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf nationales Wirtschaftsrecht-Versuch einer praktischen Einführung, in: NVwZ 1993, S. 216 ff., 218; Ipsen, H.-P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 235. 587 Diesen Aspekt gibt auch Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 59, zu. Herrmann unterscheidet zwischen negativer Konforminterpretation als Reduktion und positiver Konforminterpretation als Analogie, vgl. dazu Herrmann, Ch., Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003.

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lichen Literatur angenommen, dass Richtlinien, auch wenn sie keine unmittelbare Wirkung haben, trotzdem eine unmittelbare Geltung hätten. Darin soll dann die Rechtfertigung der richtlinienkonformen Auslegung liegen.588 Um dieser Konstruktion zu folgen, müsste man allerdings weitgehende Annahmen über die Einheit einer Gesamtrechtsordnung aus Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht akzeptieren.589 Deswegen werden andere Wege vorgeschlagen. So soll sich der Vorrang höherstufigen Rechts aus dem Grundsatz bundesrechtskonformer Behandlung ergeben.590 Dagegen lässt sich aber einwenden, dass die Gemeinschaft nicht ohne weiteres einem Bundesstaat gleichgesetzt werden kann. Das zeigt schon die Existenz von Transmissionsnormen wie Art. 23 GG, die man in einem Bundesstaat nicht bräuchte. 591 Auch die Auffassung, dass die richtlinienkonforme Auslegung auf einer richterlichen Rechtsfortbildung durch den EuGH beruhe,592 ist nicht haltbar. Dem widerspricht schon das Selbstverständnis des EuGH, der gerade bei dieser Form der Konkretisierung von den nationalen Gerichten ein strenges Einhalten der Grenzen des Methodencanons fordert. Außerdem fehlt es an einer entsprechenden Kompetenz, da der EuGH kein Gesetzgebungsorgan ist. Richtiger erscheint es demgegenüber, den Ansatz vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts593 zu präzisieren: Die richtlinienkonforme Umsetzung beruht nicht auf der unmittelbaren Geltung der Richtlinie, sondern auf dem an die Mitgliedstaaten gerichteten 588 Vgl. dazu Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 72 ff. sowie Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 133 ff.; Fischer, H. G., Staatshaftung nach Gemeinschaftsrecht, in: EuZW 1992, S. 41 ff.; Klein, E., Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 15; Langenfeld, C., Zur Direktwirkung von EG-Richtlinien, in: DÖV 1992, S. 955 ff., 956; Bach, A., Direkte Wirkung von EGRichtlinien, in: JZ 1990, S. 1108 ff., 1110. 589 Vgl. dazu Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 133 ff. sowie Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 73 f. 590 Vgl. dazu Salzwedel, J., Probleme der Umsetzung europäischen Gemeinschaftsrechts in das Umwelt- und Technikrecht der Mitgliedstaaten, in: Umwelt-Technik-Recht 7, 1989, S. 65 ff. Diskussion dieses Ansatzes bei Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 74 ff. 591 Vgl. dazu Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 75; Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 206; Huber, P., Recht der europäischen Integration, 1996, S. 221 ff. m. w. N. 592 Vgl. dazu Spetzler, E., Die unmittelbare Wirkung von Richtlinienbestimmungen als neue Sanktionskategorie nach Art. 189 EWG-Vertrag, in: RIW 1989, S. 362 ff.; ders., Die Kollision des Europäischen Gemeinschaftsrechts mit nationalem Recht und deren Lösung, in: Recht der Internationalen Wirtschaft 1990, S. 286; ders., Die richtlinienkonforme Auslegung als vorrangige Methode steuerjuristischer Hermeneutik, in: RIW 1991, S. 579 ff. Zur Kritik dieser Auffassung vgl. Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 76 ff. 593 Zum Liberalisierungsdruck gegenüber nationaler Interventionspolitik am Markt, der sich daraus ergibt, vgl. Andresen, O. M., Die Pflichten der EU-Mitgliedstaaten zum Abbau versorgungspolitisch motivierter Marktinterventionen, 2005, S. 137 ff.

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Gebot, den Maßnahmen der Gemeinschaft zur größtmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen.594 Schließlich könnte ein weiterer Unterschied in der Struktur von verfassungskonformer und richtlinienkonformer Auslegung liegen. Während die zuerst genannte nur eine Auswahlentscheidung zwischen Ergebnissen trifft, die mit Hilfe der anerkannten Canones begründet wurden, soll die richtlinienkonforme auf die einzelnen Instrumente der Konkretisierung einwirken.595 Allerdings leidet diese Diskussion an verschiedenen Unklarheiten. So wird öfters die Frage aufgeworfen,596 ob die Canones nicht doch abschließend seien. Geht man von ihrer Funktion aus, den auszulegenden Normtext mit anderen Kontexten zu vernetzen, kann ihre Anzahl nicht abschließend sein. Wenn nämlich eine neue Klasse von Argumenten auftritt, wie etwa typisierende Annahmen über die Wirklichkeit, entstehen im Hypertext des Rechts sogleich Möglichkeiten für Links zu einer neuen Klasse von Zusammenhängen. Ein Beispiel dafür sind Normbereichsargumente, die empirische Kontexte der Nachbarwissenschaften für die Jurisprudenz erschließen. 189

Weiter wird die Frage aufgeworfen, ob es unter den Canones überhaupt eine Hierarchie geben könne. Rein methodisch gesehen, gibt es eine Rangfolge von Kontexten tatsächlich nicht. Sehr wohl aber lässt sich eine solche normativ begründen. Sie kann sich aus den methodenbezogenen Normen einer Verfassung ergeben oder, wie hier bei der richtlinienkonformen Auslegung, aus der Hierarchie der Rechtsquellen.

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Sehr streitig ist, ob eine Grenze der richtlinienkonformen Auslegung anzuerkennen sei oder nicht. Die Kritiker einer solchen Grenze597 bringen zwei Gruppen von Argumenten vor. Zum Teil handelt es sich um normative, zum Teil um sprachtheoretische Überlegungen. Die normativen setzen an dem Fall an,598 dass das nationale Recht hinter den Geboten der Richtlinie zurückbleibt und dass auch eine unmittelbare Anwendung, etwa mangels Bestimmtheit, nicht in Betracht kommt: „An dieser Stelle steht der nationale Richter zwischen der Skylla, seiner Treue zum geschriebenen nationalen Recht, und der Charybdis, an einer Vertragsverletzung seines Landes i. S. v. Art. 10, 249 EG mitzuwirken. ( . . . ) Hier ist (wäre) Rechtsfortbildung contra legem erforderlich, um der Richtliniennorm gegen die nationale Norm zur Durchsetzung zu verhelfen. Der nationale Richter wird dabei zu bedenken haben, dass er an der Vermeidung eines Rechtskonflikts zwischen seinem Staat und der Gemeinschaft mitwirken, dass er gar zur Vermeidung von Schadenersatzansprüchen gegen seinen Staat beitragen kann, wenn er der Verpflichtung seines Lutter, M., Die Auslegung angeglichenen Rechts, in: JZ 1992, S. 593 ff., 605. Zum Einfließen in alle Auslegungsstufen vgl. Hommelhoff, P., Zivilrecht unter dem Einfluss europäischer Rechtsangleichung, in: AcP 1992, S. 71 ff., 96 ff. sowie Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 78 ff. 596 Lutter, M., Die Auslegung angeglichenen Rechts, in: JZ 1992, S. 593 ff., 605. 597 Ebd., S. 604. 598 Ebd., S. 607. 594 595

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Staates zur korrekten Umsetzung der Richtlinie und der Beibehaltung dieser Umsetzung im Wege der Rechtsfortbildung nachkommt. Schreckt er gleichwohl immer noch vor dem offenen Konflikt mit seinem nationalen Recht und vor einer Entscheidung zugunsten der Richtliniennorm zurück, so mag er daran denken, dass er zur direkten Anwendung der Richtliniennorm entgegen seinem nationalen Recht verpflichtet wäre, wenn diese ,klar und bestimmt‘ wäre.“599 Diese Auffassung steht nicht nur in Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH, 191 der die Grenzen der nationalen Auslegungskultur immer wieder hervorhebt.600 Sie übersieht vor allem, dass die Verträge der Gemeinschaft keine Ermächtigung zur Modifikation der innerstaatlichen Kompetenzordnung vorsehen601 und dass neben dem Vorrang auch die Rechtssicherheit zu den systematischen Zusammenhängen der traditionellen Prinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört.602 Der sprachtheoretische Einwand bestreitet die Eignung des Wortlauts als Grenz- 192 ziehungskriterium.603 Wörter finden danach ihre Bedeutung nur in einem bestimmten Kontext und können außerhalb seiner nicht als Grenze wirken. Dieser Einwand greift aber nur, wenn man die Wortlautgrenze mit der Konkretisierungsleistung allein der grammatischen Auslegung gleichsetzt. Diese Gleichsetzung wird in der traditionellen Methodenlehre immer noch praktiziert604 und hat ihren Weg auch in die Literatur zum Gemeinschaftsrecht gefunden.605 In der Praxis macht diese posiEbd., S. 607. EuGH Slg. 1984, S. 1891 ff., 1909 (von Colson und Kamann); EuGH Slg. 1984, S. 1921 ff., 1942, (Deutsche Tradax). Vgl. dazu auch Herrmann, Ch., Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, der die Grenze der nationalen Auslegungskultur betont, aber wegen des Entzugs legislativer Zwecksetzung den Willen des Gesetzgebers nicht als Instanz für die Bestimmung der Grenze verwenden will. 601 So auch Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 79. 602 Vgl. zum Ausgleich dieser beiden Prinzipien: EuGH, in: EuZW 2004, S. 215 ff. = EWS 2004, S. 86 ff. – Kühne & Heitz; EuGH, in: EuZW 2001, S. 477 ff. – Larsy. 603 Vgl. dazu Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 266 f., der sich auf die Argumente von Depenheuer, O., Der Wortlaut als Grenze, 1989, stützt. Dort vor allem die S. 38 ff. und 43. 604 Vgl. Bydlinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1991, S. 443; Fikentscher, W., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, Dogmatischer Teil, 1977, S. 294 f.; Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1983, 1991, S. 322; Meier-Hayoz, A., Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 42; Raisch, P., Juristische Methoden, 1995, dort IV 4, insbesondere 4.3; Zippelius, R., Das Wesen des Rechts, 1978, § 9 II. 605 Vgl. dazu Bleckmann, A., Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, in: Der Bürger im Staat 1984, S. 1574 ff., 1576; Dänzer-Vanotti, W., Richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung, in: Steuerliche VierteljahresZeitschrift 1991, S. 1 ff., 9; Dendrinos, A., Rechtsprobleme der Direktwirkung der EWGRichtlinien unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Griechenland, 1989, S. 105; Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, ZGR 1992, S. 376 ff., 388; Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Europarecht 1991, S. 211 ff., 218; ders., Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, S. 94; Langenfeld, C., Zur Direktwirkung von 599 600

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tivistische Verkürzung die Annahme einer Wortlautgrenze jedoch unmöglich, denn zur grammatischen Auslegung findet man in Wörterbüchern stets nur Verwendungsbeispiele eines Wortes, nie jedoch eine Angabe von Grenzen. Eine derartige Reduktion der Auslegungsgrenze auf die grammatischen Konkretisierungsleistung hat der EuGH denn auch niemals vorgenommen. Das Gericht sieht diese Grenze erst dann als verletzt an, wenn der Spielraum der nationalen Auslegungskultur überschritten ist. Man kann einem Normtext nicht jede beliebige Lesart zuordnen. Manche Lesarten verletzen die in der Zunft anerkannten Regeln der Kunst. Erst der umfassend konkretisierte Wortlaut bildet also eine Grenze des Zulässigen. 193

Ein weiteres Problem liegt in der Frage, ob die richtlinienkonforme Interpretation eine Ergebniskontrolle der nationalen darstellt oder ob sie in die nationalen Canones nur einfließt.606 So wirke etwa auf die grammatische Auslegung die richtlinienkonforme dadurch ein, dass sie einen gemeinschaftsbezogenen Sprachgebrauch ins Spiel bringe. Die unklare Vorstellung eines ,Einfließens‘ ist allerdings zu vermeiden. Gerade wenn die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung eine Ergebniskontrolle für die nationale darstellen soll, kann sie in die nationalen Konkretisierungsvorgänge nicht schon ,einfließen‘. Insgesamt wird man die verfassungskonforme und die richtlinienkonforme Auslegung zwar nicht als Zwillinge begreifen können.607 Aber sie haben jedenfalls eine strukturelle Verwandtschaft: Es gibt zu einem Normtext mindestens zwei Lesarten, wovon eine mit der höherrangigen Rechtsquelle im Einklang steht und die andere(n) nicht. Der Grundsatz fordert, dann die konforme Lesart auszuwählen, solange der voll konkretisierte Normtext dies zulässt. 281.3 Gibt es eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung?

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Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum europäischen Haftbefehl608 das deutsche Ausführungsgesetz zwar nur wegen Verstößen des naEG-Richtlinien, in: DÖV 1992, S. 955 ff.; Nettesheim, M., Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, in: AöR 1994, S. 261 ff., 274; Salzwedel, J., Probleme der Umsetzung europäischen Gemeinschaftsrechts in das Umwelt- und Technikrecht der Mitgliedsstaaten, in: Umwelt-Technik-Recht 7, 1989, S. 65 ff., 69; Schön, W., Das Bild des Gesellschafters im Europäischen Gesellschaftsrecht, in: RabelsZ 64 (2000), S. 1 ff., 42; Spetzler, E., Die richtlinienkonforme Auslegung als vorrangige Methode steuerjuristischer Hermeneutik, in: RIW 1991, S. 579 ff., 581; Zöckler, M., Probleme der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Zivilrechts, in: JhbJZ 1992, S. 141 ff., 158 f. 606 Vgl. dazu die eben nachgewiesenen Positionen von Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000 und Hommelhoff, P., Zivilrecht unter dem Einfluß europäischer Rechtsangleichung, in: AcP 1992, S. 71 ff. 607 Vgl. zu dieser Metaphorik Metallinos, A., Die europarechtskonforme Auslegung, 1994, S. 2. 608 BVerfG, in: NJW 2005, S. 2289 ff. Auch das polnische Verfassungsgericht hat die Regelung des europäischen Haftbefehls aufgehoben. Vgl. Urt. v. 27. 04. 2005, Pressemitteilung über http: / / www.trybunal.gov.pl / enk / index.htm.

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tionalen Gesetzgebers gegen die Verfassung aufgehoben; es hat dabei aber klargestellt, dass es sich im Bereich der so genannten dritten Säule auch zur Überprüfung europäischer Rechtsakte für befugt hält. Es begründet seine Position mit dem Charakter der dritten Säule als intergouvernementales Recht, das noch nicht vergemeinschaftet sei, und ferner mit der fehlenden Prüfungskompetenz des EuGH. Damit hat das Bundesverfassungsgericht den offenen Konflikt mit dem EuGH vermieden und gleichzeitig seine Vorbehalte deutlich formuliert. Der EuGH hat nun die Austragung dieses Konflikts mit den nationalen Verfassungsgerichten beschleunigt. Mit dem Urteil „Pupino“609 hat er zu der Frage von Wirkung und Vorrang europäischer Rahmenbeschlüsse im nationalen Recht Stellung genommen. Diese spezielle Handlungsform gehört nicht zum Sekundärrecht der Gemeinschaft, sondern ist Teil der gemeinsamen Rechts- und Innenpolitik der Gemeinschaftsstaaten, welche als „Dritte Säule“ bezeichnet wird. Nach Art. 34 Abs. 2 Satz 2 Buchstabe b EU kann der Rat einstimmig Rahmenbeschlüsse erlassen, die hinsichtlich des Zieles verbindlich, aber nicht unmittelbar wirksam sind. Darin liegt der Unterschied zu Art. 249 Abs. 3 EG. Nach Art. 35 EU ist ein Vorabentscheidungsverfahren eingerichtet, wonach der EuGH über Gültigkeit und Auslegung eines Rahmenbeschlusses entscheiden kann. Die Ablehnung der unmittelbaren Wirkung bei gleichzeitiger Einrichtung dieses Verfahrens macht die Position des EU auf den ersten Blick widersprüchlich. Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass diese Vorgabe der bisherigen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts entspricht. Durch allmähliche Aushandlungsprozesse soll der Vorgang der Vergemeinschaftung im juristischen Dialog mit der nationalen Gerichtsbarkeit vollzogen werden. Wenn ein Vorabentscheidungsverfahren existiert, dann kann man daraus ableiten, dass das nationale Recht rahmenbeschlusskonform auszulegen ist. Zwar fehlt im Unionsrecht die gemeinschaftstreue Klausel des Art. 10 EG, aber Art. 1 Abs. 3 EU statuiert den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit. Der EuGH hat sich dies zunutze gemacht, um mit dem teleologischen Argument der praktischen Wirksamkeit den zwingenden Charakter der Rahmenbeschlüsse zu begründen. Die Schranke seiner Argumentation liegt darin, dass er den von Art. 249 Abs. 3 EG abweichenden Wortlaut des Art. 34 EU überhaupt nicht diskutiert. Solange die an den Wortlaut anknüpfendenden Gegenargumente noch nicht widerlegt oder integriert sind, kann man der Position des EuGH keine argumentative Geltung zusprechen. Die „Verwirklichung einer immer enger werdenden Gemeinschaft“ kann nicht zum großen Signifikanten werden, der alle kleinen Differenzen begräbt. Es hat sich in der Praxis des Dialogs von nationaler Gerichtsbarkeit und Gemeinschaftsgerichten bisher immer wieder gezeigt, dass solche offenen argumentativen Flanken dazu führen, dass die Möglichkeit des Vorabentscheidungsverfahrens weniger wahrgenommen wird. Da der EuGH aber auf die Kooperation der nationalen Gerichte angewiesen ist und als verbindendes Element nur auf die juristische Sprache und ihre argumentative Überzeugungskraft aufbauen kann, wird er wohl um eine Nachbesserung seiner Position nicht herum kommen. 609

EuGH, in: NJW 2005, S. 2839 ff. = EuZW 2005, S. 433 ff.

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Behindert wird die erforderliche Zusammenarbeit außerdem noch durch Unklarheiten. Schon im Bereich des normalen Gemeinschaftsrechts sind die Grenzen für die Konformauslegung des nationalen Rechts schwankend. Man ist sich einig, dass eine contra legem-Auslegung nationalen Rechts nicht möglich ist. Das wiederholt der EuGH auch im Urteil Pupino. Auch ist man sich darüber einig, dass eine Konformauslegung nicht zur Begründung strafrechtlicher Sanktionen gegenüber dem Bürger führen kann. Auch dies nimmt der EuGH auf. Aber darüber hinaus besteht Unklarheit. Früher hat man gesagt, eine Konformauslegung dürfe auch generell nicht dazu führen, dass dem Bürger eine Verpflichtung auferlegt wird, die nach bisheriger nationaler Interpretation nicht vorgesehen war. Seit der Entscheidung Arcaro610 herrscht über dieses Kriterium Unsicherheit. Der EuGH formuliert dort, dass die Grenze der Konformauslegung erreicht sei, „wenn eine solche Auslegung dazu führt, dass einem Einzelnen eine in einer nicht umgesetzten Richtlinie vorgesehene Verpflichtung entgegengehalten wird“. Später versteht der EuGH diese Grenze aber nur noch im Sinn eines Ausschlusses unmittelbarer Horizontalwirkung.611 Die auf nationalem Recht und seiner Auslegung beruhende Pflichtenbegründung taucht hier als Kriterium nicht mehr auf. Im Judikat Pupino, und damit im Bereich sich erst bildenden Gemeinschaftsrechts, führt der EuGH diese semantische Verschiebung weiter. Er geht jetzt nämlich davon aus, dass eine durch Konformauslegung erzeugte Pflicht nicht isoliert an der einzelnen Regelung gemessen werden könne, sondern nur an der gesamten nationalen Rechtsordnung. Wenn die erzeugte Belastung im Einklang mit deren Prinzipien stehe, stelle sie kein Problem dar. Damit wird dieses Zusatzkriterium stark relativiert und die ganze Last auf das contra legem-Kriterium verlagert. Als Grenzen erscheinen jetzt nur noch die Prinzipien des Gemeinschaftsrechts. Auch hier bedarf es einer Präzisierung und kritischer Diskussion. Damit hat der EuGH im Bereich der rahmenbeschlusskonformen Auslegung zwar seine Position deutlich markiert, aber ihre Durchsetzung erfordert den Dialog mit den nationalen Gerichten und dieser wiederum die Schließung der argumentativ offenen Flanken. So lange ist die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung noch bloß hypothetisch.

282 Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung

Man kann die richtlinienkonforme Auslegung als Unterfall der gemeinschaftsrechtskonformen auffassen. Diese hat eine Anzahl spezifischer Probleme, wobei vor allem der Anwendungsbereich stark umstritten ist. 610 EuGH, Slg. 1996, I-4705 = EuZW 1997, S. 318 ff., Rdnr. 42 – Arcaro; vgl. dazu den GA Jacobs, in: EuGH, Slg. 2000, I-6007 = NJW 2000, S. 3267 ff. = NVwZ 2000, S. 1405, Schlussanträge Rdnr. 35 – Centrostell und Hilson / Downes, EL Ref. 24 (1999), 121. 611 EuGH, Urt. v. 05. 10. 2004 = NJW 2005, S. 200, Rdnrn. 108 ff. – Pfeiffer. Ähnlich EuGH, Urt. v. 03. 05. 2005, Rdnr. 73 – Berlusconi u. a.

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282.1 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung Zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung als Technik der primärrechtskon- 196 formen Interpretation nationalen Rechts gehört das Konkretisieren innerstaatlicher Normen in Übereinstimmung mit Gemeinschaftsgrundrechten, systematischen Zusammenhängen des Gemeinschaftsrechts und Gemeinschaftsgewohnheitsrecht. Im Vordergrund steht dabei die Frage des Rechtsschutzes durch nationales Prozessrecht und durch Verfahrensgarantien. Besonders der Effektivitätsgrundsatz fordert, dass sich der Bürger vor innerstaatlichen Gerichten auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts wirksam berufen kann. Weder der Vertrag noch das Sekundärrecht haben jedoch ein grundlegendes Rechtsschutz- bzw. Verfahrenssystem für die Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht zum Gegenstand.612 Die Grundhaltung des Europäischen Gerichtshofs kann daher so beschrieben werden: Materielle Rechte behandelt er als Gegenstand des Gemeinschaftsrechts, Rechtsschutzmöglichkeiten als Teil des nationalen Rechts. In der Rechtssache „Simmenthal“ entschied der EuGH, dass keine innerstaatli- 197 che Vorschrift den nationalen Richter davon abhalten darf, innerstaatliches Recht, welches dem Gemeinschaftsrecht widerspricht, unangewendet zu lassen.613 In „Rewe“614 und „Comet“615 verwies er auf das Prinzip der nationalen Verfahrensautonomie; darauf also, dass es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung sei, wie die durch eine Verletzung von Gemeinschaftsrecht beeinträchtigten Interessen eines Bürgers geschützt werden sollten.616 Unter Anwendung des Loyalitätsgebots nach Art. 10 EG müssen die innerstaatlichen Gerichte den Schutz von Rechten, welchen die Bürger aus der Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts herleiten, garantieren. Wegen der fehlenden gemeinschaftsrechtlichen Regelung dieses Themas ist es auch Sache des Rechts jedes Mitgliedstaates, die entsprechenden zuständigen Gerichte zu benennen. Außerdem muss er die verfahrensrechtlichen Bedingungen festlegen, welche auf den gerichtlichen Schutz dieser Rechtspositionen gerichtet sind. Der Gerichtshof stützt sich auch hier wieder auf Art. 10 EG, der die Gerichte 198 dazu verpflichtet, die volle Wirksamkeit und gleichmäßige Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten.617 Der EuGH überprüft 612 Obwohl es einige Gemeinschaftsrechtsakte gibt, die Verfahrens- oder Rechtsschutzgarantien in bestimmten Gebieten von Gemeinschaftspolitiken niederlegen, so in den Bereichen der geschlechtlichen Diskriminierung und der Vergabe öffentlicher Aufträge. 613 EuGH, Slg. 1978, S . 629 ff. (Simmenthal SpA). 614 EuGH, Slg. 1976, S. 1989 ff. (Rewe). 615 EuGH, Slg. 1976, S. 2043 ff. (Comet BV). 616 EuGH, Slg. 1960, S. 559 ff. (Humblet); EuGH, Slg. 1973, 453 ff. (Salgoil). 617 EuGH, Slg. 1976, S. 1989 ff., 1998 (Rewe); EuGH, Slg. 1976, S. 2043 ff., 2053 (Comet BV); EuGH, Slg. 1990, S. 2433 ff., 2473 (Factortame); EuGH, Slg. 1995, S. 4599 ff. (Peterbroek); EuGH, Slg. 1995, S. 4705 ff. (Schijndel).

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seit 1976 fortwährend, ob der nationale Rechtsschutz zur Durchsetzung materiellen Gemeinschaftsrechts angemessen ist. Den Ausgangspunkt bildeten Fälle, in denen die prozessuale Wirksamkeit von unmittelbar wirkendem Gemeinschaftsrecht im Streit war. Der EuGH formulierte in einer Vielzahl von Urteilen, dass das nationale Verfahrensrecht für die Durchsetzung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts keine ungünstigeren Bedingungen als für die der nationalen Rechtstitel vorsehen dürfe. Außerdem dürfe das Durchsetzen der gemeinschaftsrechtlichen Positionen durch die Ausgestaltung des Verfahrensrechts nicht „praktisch unmöglich“ gemacht werden.618 In späteren Urteilen hat er diese Formulierung dahin erweitert, dass das nationale Verfahren die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auch nicht „übermäßig erschweren“ dürfe.619 Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof nicht nur den vollständigen Ausschluss von Klagemöglichkeiten gerügt, sondern auch ungünstige Beweisregeln zu Lasten des Bürgers verworfen.620 Er hat schließlich die nationalen Gerichte aufgefordert, einstweiligen Rechtsschutz im Interesse gemeinschaftsrechtlich verankerter Rechte zu gewähren, damit nicht zu deren Lasten irreversible Fakten geschaffen werden können.621 Der „Äquivalenzgrundsatz“ und der „Effektivitätsgrundsatz“622 gehören daher heute zum Kernbereich europarechtlicher Garantien. Dabei verkennt der EuGH nicht, dass dem Interesse des Gemeinschaftsbürgers und der Gemeinschaft an der diskriminierungsfreien Verwirklichung des Europäischen Rechts gewichtige Argumente entgegenstehen können. Er hat daher das mitgliedstaatliche Bedürfnis nach Rechtssicherheit, das in verfahrensrechtlichen Ausschlussgründen und -fristen zum Ausdruck kommt, in seine Abwägung einbezogen.623 Auch hat das Gericht, beginnend mit dem „v. Schijndel“-Urteil, anerkannt, dass der nationale Richter Gemeinschaftsrecht von Amts wegen umsetzen muss, falls es eine derartige Verpflichtung nach nationalem Recht gibt (Äquivalenz), wenn ferner innerstaatliches Recht eine solche Anwendung erlaubt und wenn sie zum Rechtsschutz des Einzelnen erforderlich ist. Allerdings kann auch diese ex-officioVerpflichtung durch einige nationale Verfahrensprinzipien beschränkt werden. In 618 EuGH, Slg. 1980, S. 501 ff., 522 (Just); EuGH, Slg. 1980, S. 2545 ff., 2554 (Ariete); EuGH, Slg. 1980, S. 2559 ff., 2574 (Mireco); EuGH, Slg. 1983, S. 2633 ff., 2665 (Deutsche Milchkontor). 619 EuGH, Slg. 1997, S. 6783 ff., 6838 (Fantask); EuGH, Slg. 1998, S. 2661 ff., 2682 (Steff-Houlberg); EuGH, Slg. 1998, S. 4951 ff., 4990 (Edis). 620 EuGH, Slg. 1983, S. 3595 ff., 3613 (San Giorgio); EuGH, Slg. 1988, S. 1099 ff., 1118 (Bianco & Girard); EuGH, Slg. 1988, S. 1799 ff., 1816 (Kommission / Italien). 621 EuGH, Slg. 1990, S. 2433 ff., 2473 (Factortame). 622 EuGH, Slg. 1998, S. 4951 ff., 4990 (Edis); ausführliche Diskussion bei Danwitz, T. v., Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 296 ff. und Prechal, S., „Community law in national courts: the lessons to be learned from v. Schijndel“, in: CMLRev. 35, (1998), S. 681 ff., sowie Biondi, A., „The European Court of Justice and certain national procedural limitations: not such a tough relationship“, CMLRev. 36, (1999), S. 1271 ff. 623 EuGH, Slg. 1980, S. 501 ff., 522 (Just); EuGH, Slg. 1997, S. 6783 ff., 6838 (Fantask); EuGH, Slg. 1995, S. 4599 ff. (Peterbroek); EuGH, Slg. 1995, S. 4705 ff. (Schijndel).

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„v. Schijndel“ war dies das Prinzip der Parteiautonomie. Dabei hat der Gerichtshof eine Art Billigkeitskontrolle für nationale Rechtsvorschriften entwickelt. Er prüft, ob die fragliche Beschränkung aufgrund von systematischen Zusammenhängen der nationalen Rechtsordnung gerechtfertigt sein kann, zum Beispiel: Regeln über das Verhältnis zwischen Staat und Individuum (Parteiautonomie), Rechte der Verteidigung oder der ordnungsgemäßen Verfahrensdurchführung (z. B. Konzentrationsmaxime / Prozeßökonomie).624 In der Rs. C-298 / 96625 wandte das Gericht die Kriterien der normativen Wirk- 199 samkeit des Europarechts und des Diskriminierungsverbots auf die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beihilfen an, wobei es vor allem um die gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit des Ausschlussgrunds eines Wegfalls der Bereicherung ging. Der EuGH leitete aus der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten grundsätzlich ab, dass der Wegfall der Bereicherung die Rückforderung von Gemeinschaftsbeihilfen ausschließen könne; allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Empfänger schon zum Zeitpunkt der Bewilligung den Vermögensvorteil weitergegeben habe und dass ein Regressanspruch gegen Dritte wertlos wäre. Zudem müsse der gute Glaube des Empfängers nachgewiesen und die Rückforderung rein nationaler finanzieller Leistungen müsse parallel geregelt sein. Im Gegensatz zu der Lage bei staatlichen Subventionen führe eine gegebenenfalls nicht erfolgte Rückforderung auch nicht zur Ineffektivität der europarechtlichen Vorschriften, denn mit den Gemeinschaftsbeihilfen gingen keine Wettbewerbsvorteile nationaler Unternehmen einher.626 Was nationale Beihilfen angeht, werden §§ 48 Abs. 2 und 49a VwVfG ebenfalls 200 durch Gemeinschaftsrecht in ihrer Anwendung verändert. In der Entscheidung „Alcan Deutschland GmbH“627 wehrte sich die Klägerin, eine Aluminiumhütte, gegen die Rückforderung gemeinschaftswidriger Subventionen. Diese waren ihr vom Land Rheinland-Pfalz gewährt, nach Auszahlung jedoch von der Kommission rechtskräftig für illegal erklärt worden. Gleichzeitig wurde die Rückzahlung angeordnet. Das Land erließ einen Rückforderungsbescheid, gegen den die Klägerin mit § 48 VwVfG argumentierte, dass die einjährige Ausschlussfrist sowie die Grundsätze von Treu und Glauben und des Wegfalls der Bereicherung entgegenstünden.

624 Siehe dazu Biondi, A., „The European Court of Justice and certain national procedural limitations: not such a tough relationship“, CMLRev. 36, (1999), S. 1271 ff. oder Prechal, S., „Community law in national courts: the lessons to be learned from v. Schijndel“, in: CMLRev. 35, (1998), S. 681 ff. 625 EuGH: Rückforderung unrechtmäßig gezahlter Gemeinschaftsbeihilfen, in: EuZW 1998, S. 603 ff. 626 Zum Vertrauensschutz bei der Rückforderung von Gemeinschaftsbeihilfen siehe auch EuGH, Slg. 1998, S. 2661 ff. (Steff-Houlberg) und EuGH, Slg. 1998, S. 4767 ff. (Ölmühle); Michaelis, L., Anmerkung zu EuGH-Urteil „Ölmühle“, in: JA 1999, S. 757 ff. 627 EuGH: Rückforderung unzulässiger Beihilfen, in: EuZW 1997, S. 276 ff.

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Der EuGH wies diese Einwände zurück. Die zuständige Behörde ist nach seiner Auffassung gemeinschaftsrechtlich auch dann zur Rücknahme verpflichtet, wenn nationale Ausschlussfristen entgegenstehen. Die Bewilligung ist ohne Rücksicht darauf zurückzunehmen, dass die Behörde selbst für die Rechtswidrigkeit die Verantwortung trägt. Die Rücknahme ist sogar dann erforderlich, wenn dies nach nationalem Recht wegen Wegfalls der Bereicherung mangels Bösgläubigkeit des Beihilfeempfängers ausgeschlossen ist. Zwar erkennt der Gerichtshof grundsätzlich eine Berufung auf Vertrauensschutz an628, doch kann im Bereich des Art. 87 EG ein derartiger Einwand nicht durchgreifen, wenn das Notifizierungsverfahren nicht mit positivem Ergebnis durchlaufen wurde. 201

Hierher gehört auch das Urteil des EuGH vom 28. 11. 2000 in der Rechtssache „Roquette Frères“.629 Dort hatte sich das Gericht mit der Frage auseinanderzusetzen, ob nationale Ausschlussfristen auch auf den Fall gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben anzuwenden sind. Denn ähnlich wie die Vertrauensschutzregeln beim Rückfordern nationaler Subventionen könnten auch nationale Ausschlussfristen zur Rückerstattung europarechtswidrig erhobener Abgaben und Steuern die normative Wirkung des Gemeinschaftsrechts – hier aber zu Lasten der Abgabepflichtigen – erschweren. Es ging um eine französische Regelung, durch die im Steuerrecht ein Antrag auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge eingeschränkt wird. Der Antrag muss darauf gestützt sein, dass ein nationales oder ein Gemeinschaftsgericht eine innerstaatliche Vorschrift als mit einer höherrangigen nationalen Vorschrift oder mit einer Gemeinschaftsvorschrift unvereinbar erklärt hat. Dieser Antrag kann dann nur auf die Zeit nach dem 1. Januar des vierten Jahres vor dem Jahr erstreckt werden, in dem die Unvereinbarkeit gerichtlich festgestellt worden ist. Der EuGH stellt nun fest, dass diese Regelung mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar sei. Die Frist sei angemessen. Die Beschränkung des Zeitraums könne zwar in bestimmten Fällen zur vollständigen Abweisung des Antrags führen, Gemeinschaftsrecht würde dann also insoweit nicht anwendbar sein. Dadurch werde den Einzelnen die Ausübung der durch die europäische Rechtsordnung verliehenen Rechte aber weder praktisch unmöglich gemacht noch übermäßig erschwert. Gleiches gelte für den Grundsatz der Äquivalenz.

202

Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wirkt sich auch auf bestandskräftige Verwaltungsakte aus. In der Rs. C-224 / 97630 ging es um die Bestandskraft eines wegen Verstoßes gegen Art. 49 EG (Art. 59 EGV a. F.) gemeinschaftswidrigen Verwaltungsakts. Der EuGH betonte hier, der Vorrang des Gemeinschaftsrechts impliziere, dass kein diesem zuwiderlaufender nationaler Rechtsakt angewandt werden

628 EuGH, Slg. 1983, S. 2633 ff. (Deutsche Milchkontor); EuGH, Slg. 1997, S. 1591 ff. (Alcan Deutschland); siehe auch BVerwG Urt. v. 23. 4. 1998, DVBl. 1999, S. 44 ff. 629 EuGH: Rückwirkende Erstattungsfähigkeit rechtsgrundlos gezahlter Steuern, in: NJW 2001, S. 741 ff.; JA 2001, S. 545 m. Anm. Michaelis. 630 EuGH: Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, in: NJW 1999, S. 2355 ff. = EuZW 1999, S. 405 m. Anm. Schilling = NVwZ 1999, S. 977.

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dürfe; dies gelte sowohl für generell-abstrakte als auch für individuell-konkrete Rechtsakte. Daher seien auch bestandskräftige, aber gemeinschaftsrechtswidrige Verwaltungsakte jedenfalls bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe nicht anzuwenden. Auch wenn der Urteilstenor ausdrücklich auf die Unanwendbarkeit eines Verwaltungsakts für die (spätere) Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe beschränkt bleibt, legt die durch den EuGH herangezogene Begründung doch die Annahme nahe, dass die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit ganz allgemein zur Unanwendbarkeit eines Verwaltungsakts führt, auch wenn er bestandskräftig ist.631 Bedeutung hat die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung auch im Rahmen 203 der Staatshaftung für Akte der Judikative. Gemäß § 839 II 1 BGB ist ein Beamter, der bei einem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht verletzt, für den daraus entstandenen Schaden nur dann verantwortlich, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht. Es ist allerdings umstritten, ob dieses Richterspruchprivileg aus § 839 II 1 BGB im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs anwendbar ist. Ein Teil der Rechtslehre geht davon aus, das im deutschen Recht normierte Richterspruchprivileg müsse aus Gründen der Rechtssicherheit und wegen der Unabhängigkeit der Gericht auch bei einer Haftung für Verstöße der Judikative gegen Gemeinschaftsrecht zum Tragen kommen632. Eine Haftung käme demnach nur in Frage, wenn die Richter bei der Entscheidung eine Straftat begangen hätten. Straftaten in diesem Sinn sind vor allem die Rechtsbeugung gemäß § 339 I StGB sowie die Bestechlichkeit nach § 334 I StGB. Eine Rechtsbeugung liegt jedoch nur vor, wenn objektive Rechtsregeln falsch angewendet werden, wobei darüber hinaus als subjektives Element das Bewusstsein des Gerichts, einen Rechtsbruch vorzunehmen, hinzukommen muss633. Die überwiegende Auffassung geht allerdings unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH davon aus, dass § 839 II 1 BGB in Fällen, in denen ein letztinstanzliches Gericht gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, entweder unangewendet bleiben müsse oder zumindest gemeinschaftsrechtskonform auszulegen sei634, was überzeugend ist. 631 Jetzt differenzierend als verhältnismäßiger Ausgleich mit dem Gebot der Rechtssicherheit: EuGH, in: EuZW 2004, S. 215 ff. = EWS 2004, S. 86 ff. – Kühne & Heitz. 632 Detterbeck, S. / Windthorst, K. / Sproll, H.-D., Staatshaftungsrecht, 1. Auflage, 2000, § 6, Rn. 66; Henrichs, Ch., Haftung der EG-Mitgliedstaaten für Verletzung von Gemeinschaftsrecht, 1. Auflage, 1995, S. 146; Ossenbühl, F., Staatshaftungsrecht, 5. Auflage, 1998, S. 514. 633 BGHSt 41, 247 (251); 44, 258 (260). 634 Beul, C. R., Kein Richterspruchprivileg bei unterlassener Vorlage gem. Art. 177 EGV, in: EuZW 1996, S. 748; Cornils, M., Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, 1. Auflage, 1995, S. 129; Danwitz, T. v., Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten, in: DVBl. 1997, S. 1 ff.; Deckert, M., Zur Haftung des Mitgliedstaates bei Verstößen seiner Organe gegen europäisches Gemeinschaftsrecht, in: EuR 1997, S. 203, 226;

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Auf die erstrangige Bedeutung des Grundsatzes der vollen Wirksamkeit wurde hier bereits hingewiesen. Diesem Grundsatz entsprechend darf der einzelne Mitgliedstaat zwar weitere Voraussetzungen für eine Haftung aufstellen; die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen dürfen jedoch nicht so ausgestaltet sein, dass sie das Erlangen der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren635. Sollte § 839 II 1 auch im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung Anwendung finden, wäre eine Haftung jedoch der absolute Ausnahmefall. Zudem würde § 839 II 1 BGB für die Haftung eines Mitgliedstaates wegen Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch ein Gericht durch das zusätzliche Erfordernis eines Straftatbestandes dadurch erschwert, dass über das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes hinaus eine zusätzliche Haftungsvoraussetzung im deutschen Recht aufgestellt werden würde. Die vom EuGH formulierten Haftungsvoraussetzungen der Verletzung einer gemeinschaftsrechtlichen Norm, die dem Einzelnen Rechte verleiht, der hinreichend qualifizierte Verstoß sowie der unmittelbare Kausalzusammenhang sind jedoch ausreichend, um einen Entschädigungsanspruch zu begründen636. In neuester Rechtsprechung hat der EuGH zudem entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, welche die Haftung auf Fälle von Vorsatz oder grob fehlerhaftem Verhalten des Richters begrenzen; und zwar sofern diese Begrenzung dazu führt, dass die Haftung des betreffenden Mitgliedstaates in weiteren Fällen ausgeschlossen ist, in denen eine offenkundiger Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht begangen wurde637. Wenn jedoch bereits eine Beschränkung der Haftung auf Vorsatz und grobes Fehlverhalten unzulässig ist, muss noch mehr eine Privilegierung im Sinn des § 839 II 1 BGB unzulässig sein. Außerdem könnte der deutsche Gesetzgeber durch einfache Änderung des StGB und eine damit verbundene Einschränkung der einschlägigen Straftatbestände nahezu jegliche Haftung für richterliches Unrecht ausschließen. Die Haftungsvoraussetzungen sind daher abschließend durch den EuGH formuliert, nur eine Schadensersatzverpflichtung unter weniger strengen Voraussetzungen ist zulässig. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH sowie gemäß dem Grundsatz der vollen Wirksamkeit muss § 839 II 1 BGB daher unangewendet bleiben.

Bogdandy, A. v., Artikel 288 EG, in: Grabitz, E. / Hilf, M., Das Recht der Europäischen Union, 2005, Rn. 153.; Hakenberg, W., Zur Staatshaftung von Gerichten bei Verletzung von Europäischem Gemeinschaftsrecht, in: DRiZ 2004, S. 113 ff., 116; Kremer, C., Staatshaftung für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht durch letztinstanzliche Gerichte, in: NJW 2004, S. 480 ff., 482; Radermacher, L., Gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung für höchstrichterliche Entscheidungen, in: NVwZ 2004, S. 1415 ff.,1418. 635 EuGH, Slg. 1991, I-5357 „Francovich“ Rn. 41 ff.; Slg. 2003, I-10239 „Köbler“, Rn. 58. 636 EuGH, Slg. 1996, I-1029 „Brasserie du Pêcheur / Factortame III“, Rn. 66; Slg. 2003, I-10239 „Köbler“, Rn. 57; Rs. 173 / 03 „Traghetti del Mediterraneo“ Rn. 45. 637 EuGH, Rs. 173 / 03 „Traghetti del Mediterraneo“ Rn. 46.

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282.2 Richtlinienkonforme Auslegung Nicht nur bei unmittelbar wirkendem Gemeinschaftsrecht, sondern auch im 205 Bereich von Richtlinien verpflichtet der Europäische Gerichtshof die Gerichte, „die volle Wirkung dieser Bestimmungen (zu) gewährleisten und die Rechte (zu) schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem einzelnen verleiht“.638 Beispielsweise betont er im (bislang weitgehend durch Richtlinien harmonisierten) Gesellschaftsrecht bei den dortigen Mitwirkungsrechten, dass er „die Angemessenheit des Rechtsschutzes überprüft, wenn es um Rechte geht, auf die sich ein einzelner auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts beruft“.639 So hat sich der EuGH mehrfach mit der Frage befasst, ob der Klage von Einzelaktionären gegen Strukturmaßnahmen in der Aktiengesellschaft der Einwand des Rechtsmissbrauchs640 entgegengehalten werden kann.641 Es handelte sich dabei um Fälle, in denen sich griechische Aktionäre gegen die staatlich angeordnete Kapitalerhöhung sanierungsreifer Aktiengesellschaften wehrten. Allerdings ist zu beachten, dass die insoweit regierende Norm, Art. 25 Abs. 1 der 2. Richtlinie, hier vertikale Direktwirkung entfaltete. Der Gerichtshof stellte fest, die Anwendung nationaler Regeln über den Rechtsmissbrauch dürfte nicht dazu führen, dass die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Europarechts beeinträchtigt werden. Dabei sei es Angelegenheit des Europäischen Gerichtshofs, die Angemessenheit des nationalen Rechtsschutzes zu überprüfen. Beispielhaft für einen zulässigen Missbrauchseinwand hat das Gericht ausgeführt, dass die missbräuchliche und betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht nicht zulässig sei; dass es aber andererseits den mitgliedstaatlichen Prozessrechten nicht erlaubt werden dürfe, mit Hilfe eines pauschalen Missbrauchsurteils die volle Wirksamkeit und einheitliche Anwendung des europäischen Rechts in den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.642 Damit wird deutlich, dass die Beschränkung der Klagebefugnisse des Aktionärs an autonom europarechtlichen Kriterien zu messen ist.643 Nicht ganz klar ist aber der Hinweis auf den Missbrauch. Offen bleibt, ob das Gericht diesen EuGH, Slg. 1991, S. 5357 ff., 5414 (Francovich). EuGH, Slg. 1996, S. 1347 ff., 1382 (Pafitis). 640 Zur genauen Struktur dieses Arguments im Zusammenhang des Aufenthaltsrechts vgl. EuGH, Urteil vom 19. 10. 2004 – C-200 / 02, Beck RS 2004, 78097 – Zhu-Chen. Missbrauch kommt demnach im Kontext der Freizügigkeit nur in Betracht, wenn etwa bei der Scheinehe über Tatsachen getäuscht wird, nicht aber, wenn es um die Beweggründe für ein rechtmäßiges Verhalten geht. 641 EuGH, Slg. 1991, S. 2691 ff. (Karella); EuGH, Slg. 1992, S. 2111 ff. (Evangelikis Ekklissias); siehe auch EuGH, Slg. 1992, S. 5699 ff. (Kerafina); EuGH, Slg. 1996, S. 1347 ff. (Pafitis); EuGH, Slg. 1998, S. 2843 ff. (Kefalas) = EuZW 1999, S. 57 ff.; EuGH, Slg. 2000, S. 1705 ff. (Diamantis). 642 EuGH, Slg. 1998, S. 2843 ff., 2869 (Kefalas). 643 Triantafyllou, D., Anm. zu EuGH 12. 5. 1998, CMLRev. 1999, 157 (160 ff.); Schön, W., Das Bild des Gesellschafters im Europäischen Gesellschaftsrecht, in: RabelsZ 64 (2000), S. 1 ff., 32. 638 639

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2 Stand der Methodik – 28 Konformauslegung und nationales Recht

Gesichtspunkt dem nationalen Recht oder dem Gemeinschaftsrecht entnimmt. Im zweiten Fall hätte sich ein Rückgriff auf die mitgliedstaatliche Regelung erübrigt. 206

Der Gerichtshof entschied in „Von Colson und Kamann“ und „Harz“, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie ihre Pflicht aus Art. 10 EG, alle zu deren Erfüllung geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, auch den Gerichten. Daher müssen mitgliedstaatliche Gerichte beim Anwenden nationalen Rechts dieses im Licht des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auslegen, um das von Art. 249 Abs. 3 EG aufgestellte Ziel zu erreichen.644 Die Argumentation des Gerichtshofs zeigt, dass er diese Verantwortlichkeit nicht spezifisch auf Transformationsgesetzgebung, also angeglichenes Recht, beschränken will.645 Das Urteil war prägend im Hinblick auf die Verbesserung der Effektivität des EG-Rechts vor allem im Bereich der nicht oder der falsch umgesetzten Richtlinien. Zwar trat in dem Ausgangsverfahren hinsichtlich der fehlenden horizontalen Direktwirkung von Richtlinien kein Problem auf, da es sich um einen öffentlichen Arbeitgeber handelte. Allerdings war die einschlägige Vorschrift der Gleichbehandlungsrichtlinie nicht hinreichend genau, um vertikale Direktwirkung zu entfalten. Folglich stand hier der Aspekt der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung deutlich im Vordergrund. Dabei wird ein grundlegendes Strukturelement der EuGH-Rechtsprechung erkennbar: Sowohl vertikale Direktwirkung als auch richtlinienkonforme Interpretation waren hier denkbar; in dieser Situation gab der EuGH jedoch der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung Vorrang. In den Urteilen „Murphy“646 und „Wagner-Miret“647 dehnte der Gerichtshof die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung, deren wichtigster Unterfall die richtlinienkonforme Auslegung ist648, auf das gesamte innerstaatliche Recht aus.649 In der Rechtssache „Marleasing“650 erklärte er expressis verbis, dass natioRn. 26 des Urteils. So Craig, P. / Burca, G. d., EU-law – text, cases and materials, 1998, S. 199. 646 EuGH, Slg. 1988, S. 673 ff., 690 (Murphy). 647 EuGH, Slg. 1993, S. 6911 ff. (Wagner Miret). 648 So Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 55 m. w. N. in Fn. 35. Vgl. dazu auch im europäischen Privatrecht Roth, W.-H., Die richtlinienkonforme Auslegung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 250 ff. 649 Zur richtlinienkonformen Auslegung vgl. EuGH, Urteil vom 10. 06. 2004 – C-87 / 02 – Kommission / Italien; EuGH, Urteil vom 16. 09. 2004 – C-227 / 01 – Kommission / Spanien; zur unmittelbaren Wirkung gewisser Bestimmungen der Richtlinie und zur Bindung privater juristischer Personen an diese Richtlinie EuGH, in: NVwZ 2004, S. 715 ff. = EuZW 2004, S. 279 ff. = NJW 2004, S. 208 – Rieser Internationale Transporte. 650 EuGH, Slg. 1990, S. 4135 ff., 4159 (Marleasing SA), zum Sachverhalt unten; bestätigt auch durch EuGH, Slg. 1994, S. 3325 ff. (Faccini Dori) und EuGH, Slg. 1997, S. 4961 ff., 4997 (Dorsch Consult). 644 645

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nales Recht – „gleich ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt“ – bei der Auslegung „soweit wie möglich“ an deren Wortlaut und Zweck ausgerichtet werden muss. Somit trifft diese Pflicht die Gerichte nicht nur bezüglich der Transformationsgesetzgebung. Eine Schranke für die Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation nationalen Rechts bildet der Anwendungsbereich der Richtlinie. Dieser ist durch Auslegung zu ermitteln. Dann ist zu beurteilen, ob der Regelungsbereich der zu konkretisierenden innerstaatlichen Norm mit dem der Richtlinie zumindest teilweise deckungsgleich ist. Schwierigkeiten ergeben sich, wenn die nationale Vorschrift den Regelungsgehalt der Richtlinie übertrifft oder unterschreitet.651 In diesem Fall ist fraglich, ob die Richtlinie eine solche Abweichung erlaubt. Eine strengere nationale Norm ist nur dann zulässig, wenn die Richtlinie dies 207 ausdrücklich ermöglicht oder wenn ihre Auslegung ergibt, dass sie nur eine Minimalanforderung festlegen will.652 Legt die Richtlinie jedoch einen Höchststandard fest, muss versucht werden, durch richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts dieses einzuschränken.653 Ist das nicht möglich, könnte die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung in Form der teleologischen Reduktion greifen. Sonst bleiben nur noch die Möglichkeiten einer unmittelbaren Wirkung der Richtlinienvorschriften und der aus ihr folgenden Verdrängung nationalen Rechts654 bzw. der Staatshaftung des Mitgliedstaats. Sofern die innerstaatliche Norm geringere Anforderungen als die Richtlinie stellt, ist im Weg der Auslegung zu untersuchen, ob die entsprechende Richtlinienbestimmung lediglich einen Höchststandard festlegen oder ob sie nicht gleichzeitig auch das Minimum bestimmen wollte. In diesem Fall muss erneut eine Anpassung der innerstaatlichen Vorschrift durch Interpretation geprüft werden. Im übrigen gilt das gleiche wie für den Fall der strengeren nationalen Vorschrift.

282.3 Zeitlicher Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung Fraglich ist ferner die zeitliche Komponente der Methode.655 Während die ver- 208 tikale Direktwirkung von Richtlinienvorschriften und die Schadensersatzpflicht 651 Vgl. zur Frage von Höchst- und Mindestmaßregelungen: Bleckmann, A., Europarecht: Das Recht der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 372 f.; Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 273 ff.; Lutter, M., Die Auslegung angeglichenen Rechts, in: JZ 1992, S. 593 ff., 605 ff.; Meilicke, W., „Verschleierte“ Sacheinlage und EWG-Vertrag, in: Der Betrieb 1990, S. 1173 ff. 652 Ob hiervon im Grundsatz auszugehen ist, ist streitig, vgl. Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 99, Fn. 48. 653 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1990, S. 4135 ff. (Marleasing SA). 654 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1991, S. 2691 ff. (Karella).

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2 Stand der Methodik – 28 Konformauslegung und nationales Recht

der Mitgliedstaaten nur im Fall der Nicht- oder Falschumsetzung, also nach Ablauf der Umsetzungsfrist, eintreten656, lässt sich an eine den beiden Figuren vorrangiger gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nationaler Normen auch schon vorher denken. 209

In der Rechtssache „Wallonie“657 ging es um die Richtlinie 75 / 442 / EWG über die Abfallbeseitigung, welche durch die Richtlinie 91 / 156 / EWG geändert worden war. Mit seiner ersten Frage suchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen zu klären, ob die Artikel 10 und 249 EG es verbieten, dass die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist der Richtlinie 91 / 156 Maßnahmen ergreifen, die dieser widersprechen. Zur Beantwortung stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Pflicht eines Mitgliedstaats, alle zur Erreichung des Richtlinienzieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen, eine durch Artikel 249 Absatz 3 des Vertrags und durch die Richtlinie selbst auferlegte zwingende Pflicht ist. Diese obliegt allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten. „Sodann werden nach Artikel 191 Absatz 2 EWG-Vertrag, der auf den im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitraum Anwendung findet, die Richtlinien und Entscheidungen ( . . . ) denjenigen, für die sie bestimmt sind, bekanntgegeben und werden durch diese Bekanntgabe wirksam. Aus dieser Vorschrift ergibt sich, dass eine Richtlinie gegenüber dem Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, schon vom Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe an Rechtswirkungen entfaltet. Im vorliegenden Fall ist in der Richtlinie 91 / 156 entsprechend einer gängigen Praxis eine Frist festgelegt, bei deren Ablauf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen, in den Mitgliedstaaten in Kraft getreten sein müssen. Da diese Frist den Mitgliedstaaten insbesondere die für den Erlaß der Umsetzungsmaßnahmen erforderliche Zeit geben soll, kann ihnen kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie die Richtlinie nicht vor Ablauf dieser Frist in ihre Rechtsordnung umsetzen. Gleichwohl obliegt es den Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel bei Ablauf dieser Frist erreicht wird. Die Mitgliedstaaten sind zwar nicht verpflichtet, diese Maßnahmen vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu erlassen, doch ergibt sich aus Artikel 10 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 249 Absatz 3 des Vertrages und aus der Richtlinie selbst, dass sie während dieser Frist den Erlass von Vorschriften unterlassen müssen, die geeignet sind, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen. Es ist Sache des 655 Vgl. dazu auch Herrmann, Ch., Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 190 ff. 656 Siehe oben; im Übrigen bezüglich der Direktwirkung: EuGH, Slg. 1979, S. 1629 ff., 1645 (Ratti): „Erst am Ende der Umsetzungsfrist und bei Unterlassen der Umsetzung durch den Mitgliedsstaat kann die Richtlinie Direktwirkung entfalten. Bis zu diesem Datum bleibt der Mitgliedsstaat in diesem Bereich frei. Weil eine Richtlinie allein den Mitgliedsstaaten Pflichten auferlegt, kann ein einzelner nicht auf Vertrauensschutz / legitime Erwartungen vor Ablauf der Umsetzungsfrist plädieren“. Bezüglich Staatshaftung siehe EuGH, Slg. 1991, S. 5357 ff. (Francovich). 657 EuGH, Slg. 1997, S. 7411 ff. (Inter- Environment Wallonie ASBL).

282 Anwendungsbereich der Auslegung

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nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob dies bei den nationalen Vorschriften, deren Rechtmäßigkeit es zu prüfen hat, der Fall ist. Bei dieser Beurteilung hat das nationale Gericht insbesondere zu prüfen, ob sich die betreffenden Vorschriften als eine vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellen, und es hat die konkreten Folgen der Anwendung dieser mit der Richtlinie nicht übereinstimmenden Vorschriften und ihrer Geltungsdauer zu untersuchen.“ Dieser Rechtsprechung haben sich einige Stimmen in der Literatur angeschlos- 210 sen.658 Dagegen wendet sich eine andere Auffassung, nach der die Verpflichtung erst mit der Transformation bzw. mit dem Ablauf der Transformationspflicht beginnen soll.659 Hauptargument ist hier, die Pflicht der innerstaatlichen Stellen bei der Rechtsanwendung dürfe nicht weiter gehen, als die Pflicht der Legislative zur Rechtsetzung, welche erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist erfüllt sein muss.660 Die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts bereits ab Erlass der Richtlinie wird von dieser Auffassung hingegen nicht bestritten. Stützt man die Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation auf den Willen des nationalen Gesetzgebers, so entsteht sie mit Erlass der nationalen Umsetzungsregelung. Dieser Ansatz ist dann nicht tragfähig, wenn eine Richtlinie einer Umsetzung ganz oder teilweise nicht bedarf, weil das nationale Recht ihr bereits entspricht.661 Begründet man die Auslegungspflicht dagegen gemeinschaftsrechtlich, so ist weithin ungeklärt, ob die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung schon mit Erlass der Richtlinie einsetzt662 oder aber erst mit dem Zeitpunkt, zu dem eine Richtlinie spätestens umzusetzen ist.663 Gegen die erste Auffassung spricht jedoch, 658 Wolffgang, H.-M., in: Lenz, C. O., EGV-Kommentar, 2. Auflage, Vorbem. Art. 90 – 93, Rn. 26 f.; Metallinos, A., Die europarechtskonforme Auslegung, 1994, S. 98 ff.; Gellermann, M., Beeinflussung des bundesdeutschen Rechts durch Richtlinien der EG: Dargestellt am Beispiel des Europäischen Umweltrechts, 1994, S. 105; Sack, R., Die Berücksichtigung der Richtlinie über irreführende und vergleichende Werbung bei der Anwendung der §§ 1 und 3 UWG, in: Wettbewerb in Recht und Praxis 1998, S. 241 ff., 242 ff. 659 BGH: Zulässigkeit vergleichender Werbung – Testpreis – Angebot, in: NJW 1998, S. 2208 ff., 2211; BGH GRUR 1993, S. 825 ff., 826; Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 284; Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Europarecht 1991, S. 211 ff., 220 f.; ders., Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, S. 92; Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, ZGR 1992, S. 376 ff., 383; Rüffler, F., Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Österreichische Juristenzeitung 1997, S. 121 ff., 124; Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 84 ff. 660 Siehe Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 84 m. w. N. 661 Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, ZGR 1992, S. 376 ff., 383. 662 Steinhauer, B., Die Auslegung, Kontrolle und Durchsetzung mitgliedstaatlicher Pflichten im Recht des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Gemeinschaft, 1997, S. 185.

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2 Stand der Methodik – 29 Entwicklung einer europäischen Methodik

dass der EuGH die richtlinienkonforme Auslegung gerade auch auf die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Umsetzung einer Richtlinie stützt. Diese Pflicht kann erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist verletzt sein; das muss dann auch für die innerstaatlichen Stellen gelten. Eine Verpflichtung zur richtlinienkonformen Interpretation kann daher erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist angenommen werden.664 Zu beachten ist hier aber die praktische Schwierigkeit für den Entscheider, dass Umsetzungsfristen oftmals nicht klar sind und bisweilen von der Kommission dem einen oder anderen Mitgliedstaat gegenüber einseitig verlängert werden.665 Diese Probleme vermögen zwar nicht die Pflicht zur Konformauslegung zu begründen; aber sie führen doch dazu, vom Gemeinschaftsrecht her die grundsätzliche Möglichkeit einer vorzeitigen Konformauslegung anzuerkennen.

29 Die Entwicklung einer europäischen Methodik als Rechtserzeugungsreflexion 211

Eine gemeinsame europäische Methodik des Rechts ist noch nicht vorhanden. Zwar gibt es in allen von der Gemeinschaft erfassten Rechtskreisen die Canones der Auslegung nach Wortlaut, Entstehung, Systematik und Zweck. Das ist zwar schon ein Ansatzpunkt für gegenseitiges Verstehen, aber noch keine gemeinsame Methodik. Schon ein verschiedenes Gewichten dieser Canones kann zu einer ganz abweichenden Rechtspraxis führen; und dazu kommen noch viele zusätzliche Regelungen, ferner die Einwirkung nationalen Verfassungsrechts und nationaler Rechtsüberlieferung. Eine uniforme europäische Tradition juristischer Methodik ist aus diesen Gründen noch nicht vorhanden. Kann sie angesichs dessen überhaupt ein sinnvolles Programm sein? Als einheitheitlicher Algorithmus für die Anwendung des Europarechts verstanden, wäre eine solche Methodik nicht Utopie, sondern Drohung. Sie würde auf Dauer Stärke und Reichtum Europas zerstören, die gerade in den Unterschieden der nationalen Traditionen liegen. Denkbar wäre sie dagegen als Inszenierung des Dialogs zwischen diesen Differenzen im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion. Fruchtbare Ansätze dazu zeigen sich seit geraumer Zeit in der Arbeit des EuGH.

663 Vgl. Ress, G., Die richtlinienkonforme „Interpretation“ innerstaatlichen Rechts, in: DÖV 1994, S. 489 ff., 493. 664 Vgl. Bach, A., Direkte Wirkung von EG-Richtlinien, in: JZ 1990, S. 1108 ff., 1112; Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Europarecht 1991, S. 211 ff., 221. 665 Hakenberg, W., Keine horizontale Richtlinienwirkung, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (und Insolvenzpraxis) 1994, S. 1510 ff., 1512.

291 Interlegalität im europäischen Rechtsschutzsystem

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291 Interlegalität im europäischen Rechtsschutzsystem

Im Europarecht durchdringen sich die gemeinschaftliche und die nationalen 212 Rechtsordnungen, ohne zu einer einheitlichen Metastruktur zu verschmelzen, welche ihre Teile beherrschen würde. Es handelt sich bei der Praxis des europäischen Rechtsschutzsystems eher um eine Kopplung unterschiedlicher Rechtsdiskurse, die den Pluralismus ihrer Stimmen nicht auf ein übergeordnetes Zentrum hin reduziert. Dieses auch bei der Globalisierung des Rechts666 zu beobachtende Phänomen der Interlegalität zeigt sich auch im Europarecht und wird in seiner Komplexität meist unterschätzt. Schon die Beziehung von Verfassung und einfachem Gesetz wird in der Regel zu einfach gesehen. Es handelt sich dabei nicht um eine lineare Determination von oben nach unten; sondern die Verfassung ist Zurechnungspunkt für eine Rechtserzeugung, die dann ihrerseits wieder Rückwirkungen hat. Das zeigt sich unter anderem bei den Ausgestaltungsgrundrechten. Im Europarecht lässt sich das Scheitern eines einfachen Hierarchiedenkens noch weniger als sonst verbergen. Das Gemeinschaftsrecht ist den nationalen Rechtsordnungen nicht einfach übergeordnet. Es handelt sich, genauer betrachtet, um ein Kooperationsverhältnis mit einem gewissen Anwendungsvorrang für das Gemeinschaftsrecht. Man verwendet für diese Besonderheit den vorläufigen Terminus des „Herrschaftsverbandes eigener Prägung“667. Wenn man diesen Begriff präzisieren will, sollte man vor allem das europäische Rechtsschutzsystem und das vom EuGH entwickelte Staatshaftungsrecht näher untersuchen. Das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zu nationalem Recht stellt sich dabei nicht als schlichte Überordnung dar, sondern als komplexer Dialog. Das Gemeinschaftsrecht ist „zwar eine autonome Rechtsordnung, die aus sich 213 selbst heraus in den Mitgliedstaaten gilt“, aber es ist „auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen angewiesen, um wirksam werden zu können.“668 Daher kann 666 Vgl. dazu die neueren Ansätze von Joerges, Ch., „Good governance“ im europäischen Binnenmarkt: Über die Spannungen zwischen zwei rechtswissenschaftlichen Integrationskonzepten und deren Aufhebung, in: EuR 2002, S. 19 ff.; Fischer-Lescano, A., Globalverfassung: Verfassung der Weltgesellschaft, ARSP 2002, S. 350 ff.; Gerstenberg, O., Law’s Polyarchy: A Comment on Cohen and Sabel, in: European Law Journal 1997, S. 343 ff.; Günther, K., Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, in: Wingert, L. / ders. (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit: Festschrift für Jürgen Habermas, 2001, S. 539 ff.; Majone, G., Nonmajoritarian Institutions and the Limits of democratic Governance: A Poltical Transaction-Cost Approach, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 2001, S. 57 ff.; Amstutz, M., Zwischenwelten: Zur Emergenz einer interlegalen Rechtsmethodik im europäischen Privatrecht, in: Joerges, Ch. / Teubner, G. (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht: Recht-Fertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, 2003, S. 213 ff. 667 Vgl. dazu Lepsius, R., Die Europäische Union als Herrschaftsverband eigener Prägung, in: Joerges, Ch. u. a. (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy?, 2000, S. 203 ff. 668 Behrens, P., Gemeinschaftsrecht und juristische Methodenlehre, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1994, S. 289 ff.

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2 Stand der Methodik – 29 Entwicklung einer europäischen Methodik

man sich für die Entwicklung der gemeinsamen europäischen Rechtsordnung nicht einfach auf die Integrationskraft des supranationalen Gesetzgebers verlassen. Die Vorstellung, man könne durch gesetzgeberischen Akt Institutionen schaffen, die vom Zeitpunkt ihrer legalen Realisierung an die zugrundeliegenden Ziele effektiv verwirklichen, ist nicht haltbar. Eine Institution funktioniert nur, wenn und weil sie in gemeinsame Erfahrungen und Erwartungen eingebettet ist.669 Daraus folgt, dass nationale Rechtsordnungen „eine Dauerresistenz gegen institutionellen Transfer“ zeigen, „kurz: eine bemerkenswerte historische Kontinuität in ihrer eigensinnigen Entwicklung und dies auch und gerade in Zeiten der alles nivellierenden Globalisierung.“670 Wenn man das berücksichtigt, wird klar, dass sich eine einheitliche eruopäische Rechtsordnung nicht von oben per Dekret schaffen lässt. Nötig wäre es vielmehr, eine gewisse Parallelentwicklung der nationalen Rechtsordnungen auf den Weg zu bringen, die durch Einführung einer Art von Schleuse eine Ko-Evolution ermöglichen. Das ist die Funktion des europäisches Rechtsschutzsystems. 214

Das Gemeinschaftsrecht verdankt seine im Gegensatz zum Völkerrecht671 gesicherte Geltung eben seinem funktionierenden Rechtsschutzsystem. Dieses ruht auf den beiden Pfeilern des Vertragsverletzungsverfahrens und des Vorabentscheidungsverfahrens. Ersteres ist ein zwingendes Verfahren, worin Zuständigkeit und Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit von den Mitgliedstaaten nicht bezweifelt werden können. Es hat eine politische Seite und wird von der Kommission als Exekutivorgan gegen einen Nationalstaat geführt. Bei der Klageerhebung hat die Kommission Ermessen; es fehlen ihr für etwaige Rechtsverletzungen effektive Überwachungsinstrumente und Vollstreckungsmechanismen. Im Gegensatz dazu beginnt das Vorabentscheidungsverfahren vor nationalen Gerichten und hat einen unpolitischen Charakter; dadurch, dass hier der Bürger gleichsam als privater Staatsanwalt agiert, gibt es keine Überwachungsprobleme für Rechtsverstöße. Schließlich kann man sich auch auf stabile nationale Durchsetzungsmechanismen 669 Vgl. zu diesem Begriff Granovetter, M., Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology 1985, S. 481 ff.; Soskice, D., Divergent Production Regimes: Coordinated and Uncoordinated Market Economies in the 1980s and 1990s, in: Kitschelt, H. u. a. (Hrsg.), Continuity and Change in Contemporary Capitalism, 1999, S. 101 ff.; Hall, P. / Soskice, D., An Introduction to Varieties of Capitalism, in: dies. (Hrsg.), Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage, 2001, S. 13 ff.; Collins, H., Formalism and Efficiency: Designing European Commercial Contract Law, in: European Review of Private Law 2000, S. 213 ff. 670 Teubner, G., Eigensinnige Produktionsregimes: Zur Ko-Evolution von Wirtschaft und Recht in den varieties of capitalism, in: Soziale Systeme 1999, S. 13 ff. 671 Urteile des IGH wurden häufig nicht befolgt. So z. B. das 1971 erfolgte Urteil gegen Südafrikas Aufenthalt in Namibia und Südwestafrika (IGK, Gutachten vom 21. 06. 1971, ICJ Rep. 1971, 16), dann das Urteil des IGH vom 02. 02. 1973 gegen den isländischen Fischfang, ebenso das Urteil vom 22. 06. 1973 gegen Frankreichs Atomwaffentests im Pazifik; oder das Urteil gegen das Festhalten der Botschaftsgeiseln in Teheran (IGH, Urteil vom 24. 05. 1980, ICJ Rep. 1980, 3) und das Urteil gegen die USA im Nicaragua-Fall (IGH, Urteil vom 26. 11. 1984, ICJ Rep. 1984, 392) und schließich aus heutiger Zeit das Gutachten des IGH gegen den israelischen Grenzzaun, das von Israel nicht akzeptiert wird.

291 Interlegalität im europäischen Rechtsschutzsystem

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stützen. Damit ist das Vorabentscheidungsverfahren das deutlich wirksamere Instrument zur Entwicklung einer europäischen Rechtsordnung. Trotzdem ist es auf die Mitwirkung der nationalstaatlichen Gerichte angewiesen und damit auf einen Dialog: „Rechtsformalismus – die Sprache des Rechts – sorgt für eine große Zugkraft des juristischen Dialogs zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten. Eine gemeinsame Sprache verbindet. Gleiches gilt für die Überzeugungskraft guter juristischer Argumentation, also eine inhaltliche, nicht rein formale Überzeugung. Nachweisen lässt sich die Richtigkeit dieser Überlegung anhand von Fällen, in denen der EuGH juristisch schlecht argumentierte oder die juristischen Sensibilitäten der mitgliedstaatlichen Gerichte verletzte. Die Folge war jedesmal ein Einbruch der Vorlagezahlen seitens der nationalen Gerichte.“672 Durch die neuen Urteile des EuGH zu einer an höchstrichterliche Entscheidun- 215 gen anknüpfenden Staatshaftung wurde dieses System weiterentwickelt, so dass die Struktur der Ko-Evolution von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht besser sichtbar wird. Im Urteil Köbler hat der EuGH zunächst entschieden, dass einem an obergerichtliche Urteile anknüpfenden Staatshaftungsanspruch nationale Richterprivilegien nicht entgegengehalten werden können. In der Entscheidung Kommission / Italien vom 09. 12. 2003 hat der EuGH festgestellt, Italien habe dadurch gegen seine Vertragspflichten verstoßen, dass es seine vom bloßen Wortlaut her richtlinienkonforme Regelung nicht geändert hat, obwohl die obersten Gerichte des Landes sie gemeinschaftsrechtswidrig auslegen. Diese Entscheidung thematisiert judikatives Unrecht als legislatives, so dass nicht vorgelegte höchstrichterliche Entscheidungen im Weg des Vertragsverletzungsverfahrens vom EuGH aufgegriffen werden können. Noch auffälliger ist allerdings, dass ein Gesetz erst im Licht seiner Auslegung als vollständig behandelt wird. Das verschiebt die Koordinaten der herkömmlichen Auffassung von Gewaltenteilung. In seinem Urteil vom 13. 06. 2006 Traghetti del Mediterraneo SpA / Italien setzt 216 das Gericht diese Entwicklungslinie fort. Nach italienischem Recht ist ein Staatshaftungsanspruch ausgeschlossen, wenn sich der Verstoß des Gerichts auf die Auslegung oder die Beweiswürdigung bezieht. Der EuGH hält diese Beschränkung im Rahmen eines gemeinschaftsrechtlich bestimmten Staatshaftungsanspruchs für unanwendbar und führt dazu aus: „Zum einen gehört nämlich die Auslegung von Rechtsvorschriften gerade zum Wesen der Rechtsprechungstätigkeit, da der Richter, um welchen Tätigkeitsbereich es auch immer gehen mag, wenn ihm voneinander abweichende oder einander widersprechende Ansichten vorgetragen werden, gewöhnlich die einschlägigen – nationalen und / oder gemeinschaftlichen – Rechtsvorschriften auslegen muss, um den ihm vorliegenden Rechtsstreit zu entscheiden.“673 Hier hebt das Gericht zutreffend hervor, dass im Rechtsstreit widerspre672 Haltern, U., Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, in: Verwaltungsarchiv 2005, S. 311 ff., 314 f. 673 Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 13. 07. 2006, Traghetti del Mediterraneo SpA / Italien, Rn. 34.

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2 Stand der Methodik – 29 Entwicklung einer europäischen Methodik

chende Lesarten des Gesetzes miteinander kollidieren und dass eine Bewertung dieser Lesarten durch den Richter nötig ist. Das Gesetz allein kann also nicht entscheiden; es braucht den Richter, der die Verständnisvarianten des Gesetzes stabilisiert. Wenn dem so ist, kann es auch für die Frage, ob ein Staat seine Vertragspflichten gegenüber der Gemeinschaft erfüllt hat, nicht allein auf das Gesetz als Text ankommen. Man muss die Tätigkeit der Gerichte mit einbeziehen. Daran schließt die weitere Argumentation des EuGH an: „Zum anderen lässt sich nicht ausschließen, dass es gerade bei der Ausübung einer solchen Auslegungstätigkeit zu einem offenkundigen Verstoß gegen das geltende Gemeinschaftsrecht kommt, etwa wenn der Richter einer matriellen oder verfahrensrechtlichen Gemeinschaftsbestimmung, insbesondere im Hinblick auf die jeweils einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes, eine offensichtlich falsche Bedeutung zumisst ( . . . )“.674 Natürlich gilt der Grundsatz, dass die Lesart des Gesetzes praktisch erst von der Justiz stabilisiert wird, auch für das Gemeinschaftsrecht: „Ob ein offenkundiger Verstoß vorliegt, bemisst sich insbesondere nach einer Reihe von Kriterien wie dem Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, der Entschuldbarkeit des unterlaufenen Rechtsirrtums oder der Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG durch das in Rede stehende Gericht; ein solcher Verstoß wird jedenfalls angenommen, wenn die fragliche Entscheidung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes offenkundig verkennt.“675 Auch das Gemeinschaftsrecht kann man nicht einfach anhand der vom Gesetzgeber produzierten Gesetzestexte festlegen, sondern man muss im Rahmen einer Systematik zweiter Ordnung auch die entsprechenden Gerichtsentscheidungen heranziehen. Wenn das Gericht hier – in sachlicher Übereinstimmung mit der Position der Strukturierenden Rechtslehre seit Mitte der 1960er Jahre – Normativität nicht als statische Eigenschaft von Texten betrachtet, sondern als dynamischen Vorgang, der vom Gesetzgeber begonnen und von den Gerichten vollendet wird, stellt dies eine Herausforderung nicht nur für die herkömmliche Rechtstheorie und Methodik, sondern auch für die traditionelle Lehre von der Gewaltenteilung dar.

292 Das Scheitern einer vertikalen Rechtsanwendungslehre

217

Im Vorabentscheidungsverfahren geht es häufig um Fragen der Konformauslegung. Damit hatte die klassische Rechtsanwendungslehre schon immer Schwierigkeiten, weil sie vertikal von der Rechtsquelle her denkt. Das Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Recht wird nun aber durch die Anwendungserlaubnis in der jeweiligen nationalen Verfassung und den Anwendungsbefehl des Art. 249 EG konstituiert. Diese Konfiguration erlaubt eine vom Gemeinschaftsrecht und 674 Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 13. 07. 2006, Traghetti del Mediterraneo SpA / Italien, Rn. 35. 675 Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 13. 07. 2006, Traghetti del Mediterraneo SpA / Italien, Rn. 43.

292 Das Scheitern einer vertikalen Rechtsanwendungslehre

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vom nationalen Recht her beeinflusste Rechtserzeugung durch die Gerichte. Es geht also um die Vernetzung zweier autonomer Rechtsordnungen beim gemeinsam bestimmten Hervorbringen einer Entscheidung. Die in Hierarchien verkrampfte traditionelle Schuldoktrin hat mit eben dieser Vernetzung grundsätzliche Probleme. Geht man nämlich mit ihr davon aus, dass Gerichte Recht nicht erzeugen, sondern es nur anwenden, dann wird dieser Vorgang zum Mysterium. Das Recht müsste demnach schon an seiner Quelle bestimmt sein und würde vom Richter nur erkannt. Ein Koproduktion, bestimmt von zwei Rechtsordnungen, ist hier nicht denkbar; stattdessen kommt es zu einem Entweder / Oder der Auswahl zwischen den beiden regierenden Rechtsquellen. Damit verbindet sich eine verengte Lektüre der klassischen Gewaltenteilung zusammen mit einer vertikalen Rechtsquellenlehre, so dass das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht linear übergeordnet wird, es das nationale Recht schlicht verdrängt. Das Gemeinschaftsrecht würde somit andere als richtlinienkonforme Auslegungsergebnisse verbieten, unabhängig von der nationalen Methodenkultur und einer eventuell dort anerkannten Wortlautgrenze. Wenn man dagegen die herkömmliche Rechtsquellenhierarchie schon etwas modernisiert hat, kann man einen Spielraum des Anwenders zugeben; dann sind richtlinienkonforme Auslegungen nur insoweit geboten, als es im Rahmen der nationalen Methodenkultur und einer eventuellen Wortlautgrenze möglich erscheint. Der EuGH hat nun die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur richtlini- 218 enkonformen Auslegung folgendermaßen formuliert: „Bei der Anwendung des nationalen Rechts, insbesondere auch der Vorschriften eines speziell zur Durchführung ( . . . ) einer Richtlinie ( . . . ) erlassenen Gesetzes ist dieses nationale Recht im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie auszulegen ( . . . ), um das in Art. 249 Abs. 3 genannte Ziel zu erreichen.“676 Diese Formulierung wird von der Schuldoktrin so verstanden, eine richtlinienkonforme Auslegung sei nur dann möglich, wenn das nationale Recht einen ausschließlich nach nationalen Vorgaben bestimmten Beurteilungsspielraum enthält. Der EuGH scheint dagegen den Kontext dieses Spielraums weiter zu fassen, weil er im Rahmen der Systematik auch die Vorgaben des Europarechts mit berücksichtigt. Damit stellt sich die prinzipielle Aufgabe, den Spielraum des Richters gegenüber dem Gesetz zu bestimmen und damit zugleich die Frage zu beantworten, was eine Entscheidung contra legem ist. Eine Entscheidung ist contra legem, wenn sie gegen den Wortlaut des Gesetzes 219 verstößt. Was heißt das? Nach der Auffassung des klassischen Positivismus war „der Wortlaut“ mit der Konkretisierungsleistung des grammatischen Elements gleichzusetzen. Eine Entscheidung ist demnach dann contra legem ergangen, wenn sie den aus der grammatischen Auslegung folgenden Spielraum überschreitet. Heute unterscheidet man dagegen häufig zwischen dem Wortlaut als Anfang der Auslegung und dem Wortlaut als Grenze der Auslegung. Danach kann eine Lesart des 676

mann.

EuGH, Urteil vom 10. 08. 1994, Rs. 14 / 83, Slg. 1984, Rn. 26, von Colson und Ka-

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2 Stand der Methodik – 29 Entwicklung einer europäischen Methodik

Gesetzes nicht nur an der grammatischen Auslegung, sondern auch an anderen Elementen scheitern. Die Steuerungsleistung des Gesetzes ist damit größer geworden, aber für die Schuldoktrin noch nicht groß genug. Die Gewaltenteilung erfordert nach ihrer Meinung, dass das Gesetz dem Richter die Entscheidung vorgibt. Wenn man im Folgenden die Anzahl der Überprüfungsinstanzen erhöht, ist dieses Ziel aber immer noch nicht erreicht. Deswegen muss man unter der Hand den Maßstab austauschen und das Gesetz zur „Rechtsidee“ erweitern. Hinter dem Gesetz stehen demnach „Werte“. Erst als eine um die Rechtsidee zentrierte Werteinheit könne das Recht die einzelne Entscheidung steuern. Vermittelt werde diese Erkenntnis durch die Wissenschaft. Danach soll der Richter darauf beschränkt sein, bekanntzugeben, was im Gesetzesrecht schon entschieden ist. Die Jurisprudenz unterstützt ihn dabei, indem sie es ihm durch wissenschaftliche Erkenntnis möglich macht auszusprechen, was in den vom Text repräsentierten Werten schon immer enthalten war. Eine legitime interpretatorische Vielfalt ist in der Jurisprudenz in diesem Sinn ausgeschlossen, weil es für eine mechanische Auffassung der Gewaltenteilung immer nur ein Recht geben kann. Vordergründige Auslegungsdivergenzen werden durch gemeinsame Werterfahrungen vermeintlich überwunden. 220

Das Recht muss nach dieser einfachen Auffassung der Gewaltenteilung die Entscheidung des Richters determinieren können. Dadurch wird das Recht zum umfassenden Sozialmodell, welches eine Deduktion der Einzelentscheidung erlaubt. Um Rechtsanwendung durch den Richter klar von der Rechtserzeugung durch den Gesetzgeber abgrenzen zu können, legt man den aus der älteren stratifizierten Gesellschaft übernommenen Holismus zu Grunde, der die Lösung jedes Einzelproblems vertikal von einer Sinnmitte her ableiten will. Dass man das Recht nicht einfach nach dem Schema der Inklusion des Einzelnen ins Ganze denken muss, sondern es auch nach dem Bild einer gegen den Horizont sichtbaren Gestalt denken kann, kommt hier nicht in den Blick: „Die Schuljuristerei (ist) nicht bereit, sich auf rechtliche Zwischenwelten einzulassen. Nationalrechtliche oder völkerrechtliche Hierarchien mit ihrer Fiktion vertikal vor- und nachgeschalteter Rechtswelten werden um jeden Preis aufrechterhalten, alles andere (als juristisch irrelevant) übergangen. Im Grunde sind hier Reflexe am Werk, die seit der am Anfang des 19. Jahrhunderts vollzogenen Verpflichtung der Jurisprudenz auf die ,logische Form der divisiones’ nicht mehr beseitigt werden konnten.“677

221

Die Schuldoktrin nimmt mit alldem eine festgefügte historische Interpretationsgemeinschaft an, deren Homogenität durch grundlegende Werte gesichert ist und die so ihre Lesarten des Gesetzes stabilisieren kann. Auch wenn die Annahme einer solchen homogenen Wertgemeinschaft in einer pluralistischen Demokratie als zunehmend fragwürdig erscheint, müsse sie als Fiktion für die Legitimität des Gesetzes aufrechterhalten werden. Man kann zwar „den Schleier der Prätension des 677 Amstutz, M., Zwischenwelten: Zur Emergenz einer interlegalen Rechtsmethodik im europäischen Privatrecht, in: Joerges, Ch. / Teubner, G. (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht: Rechtfertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, 2003, S. 213 ff., 223.

292 Das Scheitern einer vertikalen Rechtsanwendungslehre

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Rechts – Objektivität, Neutralität, Wissenschaftlichkeit usw. – durchstoßen ( . . . ), um die hinter dem Recht stehenden Interessen politischer, ökonomischer oder psychologischer Art freizulegen. ( . . . ) Selbstverständlich besetzen Gerichte strategische Positionen; ebenso selbstverständlich verhelfen sie Interessen zur Durchsetzung. Aber sie tun dies nach Maßgabe einer rechtlichen Grammatik, die eben dies ausblendet. Wenn die Rule of Law als Rule of Men erscheint, verliert sie sofort an Legitimität.“ 678 Diese Kritik nimmt nur das häufige Unsichtbarmachen der wirklichen Entscheidung wahr und hält dies – im Einklang mit dem Ansatz des legal realism – für die notwendige Grammatik des Rechts. Man tauscht, mit anderen Worten, das Tafelsilber der Werte gegen die etwas handfesteren Interessen, lässt aber das grundlegende Repräsentationsmodell von Texten bestehen. Aber ein Text repräsentiert nicht, sondern er wird gelesen. Lesen ist kein Rückgang in den Grund, seien dies Werte oder Interessen, sondern Lesen ist ein kreatives Unternehmen. Es wird dadurch riskant, dass es sich in die Vorgaben einer inferenziellen Semantik einordnen muss. Zwar wird das Risiko durch den Streit im Verfahren und die Verarbeitung von Argumenten in der Begründung des Richters etwas verkleinert, aber wegzaubern lässt es sich nicht. Das zeigt die sich an jedes Urteil anschließende Kritik. Praktische Juristen sind weniger naiv, als Theoretiker glauben wollen. Manchmal gelingt es tatsächlich, das Risiko einer bestimmten Lesart des Gesetzes unsichtbar zu machen; aber in der Regel wird die Gegenpartei dieses Problem nicht nur aufdecken, sondern es auch ausnutzen. Die Entscheidung muss also nicht ihren wirklichen Grund von Interessen hinter Werten verstecken. Einen „wirklichen Grund“ gibt es gar nicht; sondern Entscheiden ist ein notwendig offener und komplizierter Vorgang, der seine eigene Haltbarkeit pragmatisch erzeugen muss. Das Funktionieren des Rechtsdiskurses ist um vieles komplexer als das Repräsentationsmodell. Wenn man die Invisibilisierung zur Grammatik des Rechts macht, unterstellt man eine Montesquieu zu Unrecht unterschobene mechanische Auffassung der Gewaltenteilung.679 Obwohl in vielen Entscheidungen schon Minderheitsvoten gang und gäbe sind, meint man, das Verständnis des Rechts an das Bewusstsein des Alltagskonsumenten binden zu müssen, dem man vorher durch begriffliche Entscheidung die Vernunft entzogen hat. Die Funktion der Gewaltenteilung stellt sich in der Praxis aber differenzierter dar. Gerade die Minderheitsvoten und die Debatten der Wissenschaft zeigen, dass man für eine stabile Lektüre nicht einen um die Rechtsidee zentrierten Wertekosmos als Grundlage des Gesetzes braucht. Auch Rechtskonsumenten können mit Vielfalt und Streit leben. Als vertikaler Holismus, der jede Entscheidung aus der Sinnmitte des Rechts deduzieren könne, erscheint das Justizsystem noch gelegentlich in Verabschiedungsreden für ausscheidende Gerichtspräsidenten. Außerhalb der Sonntagsrede weiß jeder Beteiligte, dass das Recht den Streit der Bürger nicht nur ((vorläufig) entscheidet, 678 Haltern, U., Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, in: Verwaltungsarchiv 2005, S. 311 ff., 337 f. 679 Vgl. dazu Ogorek, R., Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986.

176

2 Stand der Methodik – 29 Entwicklung einer europäischen Methodik

sondern dass es sich dabei auch verschiebt.680 Das erschwert zwar die Voraussehbarkeit der Entscheidung; aber es gibt sowohl dem Recht als auch allen, die es nachfragen, einen unverzichtbaren Gestaltungsspielraum.

293 Die Notwendigkeit einer horizontalen Rechtserzeugungsreflexion

222

Man hat dem EuGH vorgeworfen, mit seiner Rechtsprechung zur Staatshaftung der Obergerichte vom anfänglichen Paradigma eines Dialogs zwischen Verfassungstraditionen zu einem neuen Modell vertikaler Kontrolle überzugehen.681 Ansatzpunkt dafür ist das Vertragsverletzungsverfahren gegen die Republik Italien wegen einer höchstrichterlichen Entscheidung: „Wenn dem italienischen Parlament deshalb ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht angelastet wird, weil es eine an sich neutrale, von den italienischen Gerichten aber gemeinschaftsrechtswidrig interpretierte Vorschrift des einfachen Rechts nicht geändert hat, beruht dieser Vorwurf auf einem großen Vertrauen in die Steuerungskraft von Gesetzen und die Eindeutigkeit von Sprache. Italien wird verurteilt, weil seine Legislative nicht dafür Sorge getragen hat, dass nur eine einzige (gemeinschaftsrechtskonforme) Auslegung dieser Norm möglich war.“682 Dem Urteil liegt eine vom Wortlaut her gemeinschaftsrechtskonforme Regelung der italienischen Legislative zu Grunde, die von den italienischen Obergerichten nicht konform angewandt wurde. Ein Vorlageverfahren hatte weder von den Obergerichten noch von den Untergerichten her stattgefunden. Ganz allgemein sind die Obergerichte mit Vorlagen beim EuGH denn auch eher zurückhaltend683; und einige dieser Gerichte halten sich selbst auch nicht für vorlageverpflichtet.684 Daher fehlt es aus der Sicht des EuGH zunächst an 680 Vgl. Luhmann, N., Metamorphosen des Staates, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 4, 1999, S. 101 ff., 107 sowie Werber, N., Vor dem Vertrag. Probleme des Performanzbegriffs aus systemtheoretischer Sicht, in: Wirth, U. (Hrsg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, 2002, S. 366 ff., 381. 681 Haltern, U., Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, in: Verwaltungsarchiv 2005, S. 311 ff., 327. 682 Haltern, U., Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, in: Verwaltungsarchiv 2005, S. 311 ff., 330. 683 Vgl. zur Statistik Alter, K. J., Establishing the Supremacy of European Law, 2001, S. 69 sowie Haltern, U., Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, in: Verwaltungsarchiv 2005, S. 311 ff., 329, Fn. 59. 684 Corte costituzionale, Urteil vom 15. 12. 1995, no. 536, Rac. o ff. corte cost. V.118, 1995, S. 729; Højesteret (dänischer oberster Gerichtshof), Entscheidung vom 6. 4. 1998, Carlsen u. a. / Rasmussen, I 361 / 1997, UfR 1998, S. 800; dt. Übers. in EuGRZ 1999, 49; Cour d’arbitrage (Belgien), Entscheidung 12 / 94 vom 3. 2. 1994, Moniteur Belge 11. 3. 1994, 6137 – 47 (Ecole européenne, Schulgebühren an europäischen Schulen); Tribunal Costitucional (Spanien), Maastricht-Gutachten vom 1. 7. 1992, Erklärung 108 / 1992, Revista de Instituciones Europeas 1992, S. 633; dt. Übers. in EuGRZ 1993, S. 285. Weiter zu beachten sind Irlands Supreme Court (SC SPUC Ireland Ltd. v. Grogan, [1989] OR 753), Griechenlands Staatsrat (Nr. 3457 / 98, Katsarou / DI.K.A.T.S.A.), als Sonderfall Frankreichs Conseil d’Etat (CE 9. 1. 1970, Sieur Cohn-Bendit. Rec. S. 15; SE Ass. 22. 12. 78, Ministre de l’Intérieur

293 Die Notwendigkeit einer horizontalen Rechtserzeugungsreflexion

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den Gegebenheiten für einen juristischen Dialog; und das Gericht versucht, diese Voraussetzungen über den mittelbaren Hebel des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Italien herzustellen. Deswegen erscheint hier gerichtliches Unrecht als gesetzgeberisches Unrecht. Der EuGH rügt Italien dafür, auf eine stabile gemeinschaftsrechtswidrige Judikatur hin seine Gesetze nicht geändert zu haben. Diesen Vorwurf kann man verschieden lesen. Zunächst könnte man ihn so verstehen, dass der EuGH hier anerkennt, dass das Gesetz mehr als ein Text ist und dass die Bedeutung dieses Textes durch eine inferenzielle Semantik erst im Weg seiner Anwendung entsteht. Diese Lesart wird aber verschwiegen und stattdessen eine andere einfach vorausgesetzt: „Die Prämisse dieser Entscheidung liegt in einem für überwunden geglaubten positivistischen Gesetzesverständnis, das dem Gesetz die auf Konditionalprogrammierung beruhende Verhaltenssteuerung nach physikalisch-kausalem Muster zumuten will. Dem entspricht die Vorstellung von einem strengen, hierarchisch durchgreifenden Vollzug; der Subsumtionsvorgang ist dann kein kreativer Anwendungsprozess, sondern Richter und Beamte erscheinen als einfache Vollzugsorgane. Hier zeigt sich eine Genauigkeitserwartung von gesetzlichen Programmen, die allgemeine Normierungen nicht bieten können. Kein Parlament der Welt kann Gesetze erlassen, die den Gerichten ihren Auslegungs- und Konkretisierungsspielraum nehmen.“685 Lassen wir einmal außer Acht, dass Subsumtion nicht kreativ sein kann, weil sie sonst keine mehr ist. Davon abgesehen, ist diese Kritik am Gesetzesbegriff des 19. Jahrhunderts überzeugend. Die Prämissen des alten Gesetzespositivismus sind sicherlich nicht zu halten. Das ist zwar noch nicht ins Alltagsbewusstsein vorgedrungen, aber unterdessen allen Interessierten klar. Kann man dem EuGH so viel Naivität unterstellen, dass er dies übersieht? Eine solche Annahme scheitert sofort, wenn man den Zusammenhang beachtet. 223 In seinen Urteilen zum Staatshaftungsanspruch bei höchstrichterlichen Entscheidungen hat der EuGH immer wieder betont, dass man hier mit dem mechanistisch verkürzten Schema von Gewaltenteilung nicht zurecht kommt: „Seine (des nationalen Gerichts) Position ist umso strategischer, als es das Zusammenspiel seines innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht zu beurteilen und daraus die gebotenen Konsequenzen zu ziehen hat. Somit ist es nicht mehr unbedingt, wie Montesquieu es einst ausgedrückt hat, das Sprachrohr des Gesetzes.“686 Naiv ist der EuGH also nicht. Er sieht vielmehr realistisch, dass das Gesetz seine Bedeutung erst in der Anwendung gewinnt. Als aufmerksamer Jurist muss man dafür c. Sieur Cohn-Bendit, Rec. S. 524; Schlussfolgerungen Genevois, RTDE 1979, 157 [dt. Übers. EuR 1979, S. 292]). Schweden, EG och grundlagarna – sammanställning av remissyttranden över betänkander SOU 1993; 14 och departementspromemorian Ds 1993:36, Ds 1993:71) und Österreich (Erläuterungen zur Regierungsvorlage über das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union, 1546 BlgNR 18. GP). 685 Haltern, U., Verschiebungen im europäischen Rechtsschutzsystem, in: Verwaltungsarchiv 2005, S. 311 ff., 330 f. 686 Generalanwalt Léger, in EuGH-Urteil zu Köbler, Rn. 59. 12 Müller / Christensen

178

2 Stand der Methodik – 29 Entwicklung einer europäischen Methodik

nicht erst Sprachphilosophie betreiben und die komplizierten Schriften von Robert Brandom lesen. Es genügt eine genaue Beobachtung dessen, was täglich in der Rechtswelt vor sich geht. 224

Die Position des EuGH ist also erheblich komplexer und kann mit den herkömmlichen Vorstellungen nicht eingeholt werden. Das Gericht sieht deutlich, dass man Rechtsprechung und Rechtsetzung nicht schematisch trennen kann. Sobald das Recht geschrieben ist,687 entsteht eine Komplexität, die mit linearer Rückkopplung nicht bewältigt werden kann. Mit der Schriftlichkeit wird der Unterschied von Zeichenkette und Sinn, von Text und Interpretation erzeugt.688 Deswegen kann der Richter kein Subsumtionsautomat sein. Das ist mittlerweile fast unstreitig. Aber er kann die Einheit des Rechts auch nicht durch „Werte„schau herstellen, weil dem Recht ein Sinnzentrum fehlt, von dem aus es beherrscht werden könnte. Denkbar ist nur, dass in der Anwendung des Gesetzes eine pragmatische Kohärenz entsteht. Eine pragmatische Größe ist als Gewissheitsinstanz nur nachträglich und nicht ex ante zugänglich. Das ist der Gedanke der in der analytischen Philosophie entwickelten horizontalen Fassung des Holismus. In der jeweiligen Anwendungssituation ist das Gesetz nur als offene und inhomogene Kette seiner Anwendungen zu beobachten. Deswegen kann man die Anwendung von der Erzeugung des Rechts nie vollkommen klar trennen. Zwar will sich jeder Richter in die Kette der Vorentscheidungen einschreiben und mit seiner Entscheidung selbst zum Autor eines Präjudizes werden. Aber er überblickt diese Kette nicht vollständig. Deswegen sollte man die hergebracht mechanische Sicht der Gewaltenteilung komplizieren: Der Richter hat bei seinem Ansetzen zur Entscheidung vom einschlägigen Gesetz als Text auszugehen. Er darf seine Entscheidungsprämisse also nicht frei wählen. Zudem vollzieht er diesen „Sprung“ im Rahmen einer vom Fachpublikum und von anderen Gerichten kontrollierten inferenziellen Semantik. Das heißt, er springt längs einer Kette von Vorentscheidungen. Das ist deutlich weniger als Determination durch den Gesetzgeber; aber es ist um viel mehr als bloße Willkür.

225

Im Europarecht wird dieser Mechanismus noch dadurch kompliziert, dass hier unterschiedliche Rechtsordnungen versuchen, auf pragmatischer Ebene normative Kompatibilität zu erzielen. Das setzt auf beiden Seiten Dialogbereitschaft voraus, so dass der EuGH im Zusammenhang von Vorabentscheidungen und seiner Staatshaftungsjudikatur darum bemüht ist, alle Anklänge von Zwang und Hierarchie zu vermeiden: „Es wäre jedoch übertrieben, daraus zu schließen, dass dies dazu führen würde, einen Superrechtsbehelf zu schaffen, das heißt den Gerichtshof zur Superrevisionsinstanz zu erheben ( . . . ). Ich sehe in einem derartigen Vorabentscheidungsersuchen nichts anderes als den Ausdruck eines Instruments der gerichtlichen Zusammenarbeit, das auf dem Gedanken des Dialogs und des gegenseitigen Vertrauens zweier Gerichte beruht.“689 Dabei vergisst das Gericht nicht, auch den Un687 Vgl. dazu Fögen, M. T., Römische Rechtsgeschichten: Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, 2002, S. 82. 688 Vgl. Luhmann, N., Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt / M. 1993, S. 289.

293 Die Notwendigkeit einer horizontalen Rechtserzeugungsreflexion

179

tergerichten gegenüber dem Druck der nationalen Oberinstanzen den Rücken zu stärken: „Diese Rechtsprechung hat in großem Maß dazu beigetragen, das Amt des Richters aufzuwerten und seine Autorität innerhalb des Staates zu stärken, in einigen nationalen Rechtssystemen um den Preis von Fortentwicklungen verfassungsrechtlicher Art. Gleichzeitig bedeutet sie für ihn, dass er sich an ein erweitertes und wegen der Schwierigkeiten, die das Zusammenspiel des innerstaatlichen Rechts und des Gemeinschaftsrechts aufwerfen kann, kompliziertes rechtliches Umfeld anpassen muss.“690 Die genannten Fortentwicklungen verfassungsrechtlicher Art liegen natürlich in dem Umstand, dass hier Kompetenzen von nationalen auf europäische Instanzen verlagert werden. Aber wenn Rechtssysteme unterschiedlicher Herkunft parallel interagieren, ohne dass eine zentrale Sinninstanz das von vornherein stabilisieren könnte, wird dieser Vorgang eine Konzentration von Kompetenzen erforderlich machen. In einem solchen komplizierten Netzwerk wird die Frage, was eine contra-legem-Entscheidung ist, noch schwieriger zu beantworten sein, weil man als Kontext und Maßstab nicht allein nationale Texte und Methodik heranziehen kann. Aber solange die Frage, ob eine bestimmte Entscheidung Geltung erreicht hat oder contra legem ergangen ist, noch gestellt wird, bildet sich genau in diesem Vorgang der Rechtserzeugungsreflexion eine europäische Methodik als Treffpunkt der nationalen Differenzen heraus.

689 GA Léger, in: EuGH, Urteil vom 09. 12. 2003, Rs. C-129 / 00 (Kommission / Italienische Republik), noch nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 112. 690 EuGH, Urteil vom 09. 12. 2003, Rs. C-129 / 00 (Kommission / Italienische Republik), noch nicht in der amtlichen Sammlung, Rn. 60.

12*

3 Strukturmodell der richterlichen Rechtserzeugung 226

Der bisherige Stand der gemeinschaftsrechtlichen Methodik ist durch eine grundlegende Ambivalenz gekennzeichnet. Die von der methodischen Literatur erarbeitete Infrastruktur besteht in einer Rechtserkenntnislehre. Danach dienen die Auslegungsinstrumente zur Erkenntnis des Gegenstands Recht. Diese Vorstellung prägt zum Teil noch das explizite Selbstverständnis der Handlungsträger. Sie reicht aber nicht zur Strukturierung der Praxis aus: „Die heute in Deutschland noch vorherrschende Methodenlehre ist diesem europäischen Befund nicht gewachsen. Als Repräsentanten dieser Methodenauffassung kann man das Standardwerk ,Methodenlehre der Rechtswissenschaft‘ von Larenz nehmen, heute fortgeführt von Canaris. ( . . . ) Diese Lehre geht aus vom Gesetz. Sie erkennt an, dass das Gesetz unvollständig sein kann, dann dürfen seine sogenannten Lücken durch richterliche Analogie und Rechtsfortbildung geschlossen werden, und sie erkennt ebenfalls an, daß das Gesetz mehr als vollständig sein kann, dann darf der Überschuss durch sogenannte teleologische Reduktion weggenommen werden. Beides, Analogie und Reduktion, verwirklichen nach dieser Auffassung nur den wohlverstandenen Regelungsplan des Gesetzes. Die herrschende Lehre erkennt auch an, dass es – dritte Ebene – eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung und Lehre, d. h. über den Plan des Gesetzes hinaus geben kann. ( . . . ) Aber auch hier versucht man, die kreative Rechtsbildung noch als Lückenfüllung und Planverwirklichung darzustellen; es ist dann nicht mehr die Lücke des Gesetzes zu schließen, sondern eine in der Gesamtrechtsordnung, wenn – wie Canaris schreibt – ,das Fehlen einer rechtlichen Regelung zwar nicht schon (wie bei der Lücke i. e. S.) gemessen am Plan des Gesetzes selbst, wohl aber gemessen an den Erfordernissen der Gesamtrechtsordnung als behebungsbedürftige Unvollständigkeit erscheint‘“.1

227

Die tatsächliche Praxis überschreitet aber schon seit langem diese traditionell geprägte Infrastruktur in Richtung auf eine richterliche Rechtserzeugung. Die Rechtserzeugungspraxis wird als Problem gesehen, wartet aber – im Europarecht – noch auf eine methodische oder normative Strukturierung. Deswegen soll im Folgenden erprobt werden, ob eine neue Infrastruktur als Rechtserzeugungsreflexion das praktische Können der Gerichte besser erfassen kann. Auf dieser Grundlage ist dann schließlich zu untersuchen, ob die Bindungen des EuGH im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion präziser als bisher formuliert werden können.

1

15 f.

Flessner, A., Juristische Methode und europäisches Privatrecht, in: JZ 2002, S. 14 ff.,

3 Strukturmodell

181

Eine Theorie der Praxis ist darin explikativ, dass sie „ausdrücklich“ sagt und „in 228 Sätze fasst“, was sich in der Praxis stillschweigend, „ohne große Worte zu machen“ vollzieht.2 Nach landläufiger Meinung ist es die Praxis, die durch ihre Verstrickungen in die alltäglichen Kontingenzen hinter die Einsichten der Theorie, auf Grund von Unzulänglichkeit und Unvermögen, zurückfällt. Bei näherem Hinsehen verhält es sich jedoch umgekehrt. Es ist die Theorie, die hinter die Praxis zurückfällt und angesichts von deren Reichtum an Fertigkeiten dürftig erscheinen muss. Nicht nur für Juristen, sondern schon für jeden Sprecher in der Sprache gilt, dass sein sprachliches Regelwissen weit hinter seinem sprachlichen Können zurückbleibt. Den Abstand zwischen „Wissen“ und „Können“ zu verkleinern, ist nicht Aufgabe der Gerichte. Sie müssen Fälle entscheiden. Es ist vielmehr die spezifische Aufgabe der Wissenschaft als der begleitenden Reflexion der Praxis. Theorie ergibt sich aus der Formulierung praktischen Könnens. Sie liefert mit ihrer Entfaltung der entsprechenden Kriterien die Gründe dafür, dies im Einzelfall so oder so zu tun. Dafür kann und braucht sie nicht auf irgendwelche ominösen, der Praxis vorgegebenen Codes zu verweisen. Vielmehr kann eine Theorie der Praxis nur auf einen dieser Praxis inhärenten, durch das Handeln der beteiligten Akteure selbst immer wieder begründeten normativen Sinn zurückgreifen. Die verschiedenen Verrichtungen und Vorkehrungen, die eine Praxis ausmachen, enthalten selbst „implizite Normen, indem sie implizite normative Einstellungen beherbergen, durch die die betreffenden Normen instituiert werden.3“ Diese Einstellungen wiederum finden ihren „genuinen praktischen Ausdruck im sozialen Verhalten des sanktionierenden Reagierens auf das Verhalten eines anderen: Die implizite Beurteilung einer Performanz als korrekt oder inkorrekt manifestiert sich typischerweise in der Anwendung einer positiven oder negativen Sanktion4“. Besonders deutlich ist das im Recht. Das Recht hat diesen Mechanismus nicht 229 nur im Instanzenzug eingerichtet. Vielmehr wachen die Heerscharen begleitender Kritik und Beobachtung durch Wissenschaft und Rechtsgemeinde über die diskursive Kreditwürdigkeit der Rechtspraxis. Wenn die Beobachtung auf die der rechtlichen Praxis eigenen normativen Züge pocht, erzeugt sie diese zugleich immer wieder. Eben das tut auch eine Theorie rechtlicher Praxis. Sie macht damit ein Element der „unsichtbaren Hand“ des Rechts, die in der juristischen Entscheidungsarbeit waltet, sichtbar und überprüfbar. Für eine Theorie der hier untersuchten Praxis stellt sich folglich die Aufgabe, die Entscheidungstätigkeit des EuGH von den methodenbezogenen Normen des Primärrechts her zu strukturieren. Die damit eingeforderte Rationalität ist kein philosophisch oder wissenschaftstheoretisch vorgegebener Maßstab5, sondern an die Brandom, R. B., Expressive Vernunft, 2000, S. 3 ff., 18 ff. Knell, S., Die normativistische Wende der analytischen Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2000, S. 225 ff., 235. 4 Ebd., S. 235; Brandom, R. B., Expressive Vernunft, 2000, S. 34. 5 Müller, F., Strukturierende Rechtslehre, 1. Aufl. 1984, S. 18 f., 438. 2 3

182

3 Strukturmodell

methodenbezogenen Normen rückgebunden: Sie impliziert die Kontrolle von Entscheidungen, indem deren Gründe offengelegt und so diskutierbar werden. Ein rechtstheoretischer Ansatz, der diesem Anspruch genügt, kann sich nicht auf das Bekenntnis zu einer Schule beschränken. Gefordert ist vielmehr eine Analyse der alltäglichen Rechtsarbeit. Mit einer solchen Untersuchung praktischer Entscheidungsvorgänge lässt sich vermeiden, dass einerseits die tatsächlich von den Gerichten geübte Praxis unbesehen zur Norm erhoben wird und dass andererseits eine praxisferne Methodenlehre es in der Hand hat, ihre unausgewiesenen normativen Wertungen hinter sprachlichen Fassaden zu verbergen. 230

Herkömmlich werden für die Beschreibung der Arbeit der Gerichte drei Bezugspunkte verwendet: der Gegenstand der Auslegung, ihre Ziele und ihre Mittel. Dabei wird in einer Rechtserkenntnislehre der Gegenstand der Auslegung im Sinn eines idealen Bedeutungsgegenstandes zu einer lex ante casum aufgeladen. Die Ziele der Auslegung sollen sich nicht aus den politischen Entscheidungen der Verfassung, sondern aus den Auslegungstheorien ergeben. Und schließlich werden die Mittel der Auslegung nicht von der Praxis aufgenommen und konsequent durchdacht, sondern aus einer philosophischen Theorie des Rechts oder der Sprache abgeleitet. Eine Rechtserzeugungsreflexion kann dagegen diese drei Dimensionen juristischer Textarbeit von den herkömmlichen Vorentscheidungen ablösen und von der Praxis aus neu strukturieren. 31 Normstruktur: Was heißt Rechtsanwendung?

231

Die herkömmliche Auffassung meint, man müsse juristische Textarbeit nach dem Modell der „Gegenstands“erkenntnis formen. Das im Gesetz bereits enthaltene Recht sei zu erkennen. Durch „Was-ist-Aussagen“ über den Erkenntnisgegenstand will man richtige Rechserkenntnis sicherstellen. Entscheidend sind demnach Aussagen über das „Wesen“. Über die Frage, ob das Gesetz wesentlich vom Willen des Gesetzgebers bestimmt ist oder ob es einen objektiven Sinn aufweist, kann man endlos streiten. Wesensaussagen erzeugen weiteren Streit über Wesensaussagen. Neuere Ansätze versuchen deswegen, die „Was-ist-Fragen“ zu vermeiden und stattdessen „Wie-funktioniert-Fragen“ zu stellen. Methodische Theorie sollte demnach durch Beobachtung die Struktur erfolgreicher Praxis konstruieren. Als Gegenstand der Beobachtung ergibt sich dann das sprachliche Handeln der Juristen. Damit wird eine Beobachtung erster Ordnung ersetzt durch eine Beobachtung zweiter Ordnung. 311 Beobachtung erster Ordnung: Das Wesen des Gesetzes

232

Die bisherige europarechtliche Literatur bestimmt als Gegenstand der Rechtsarbeit die objektive Bedeutung des Textes. Der Nachteil dieser Prämisse liegt

311 Das Wesen des Gesetzes

183

darin, dass die Rolle des Richters passiv als Erkenntnisorgan gefasst werden muss. Nun hat der EuGH unstreitig eine sehr aktive Rolle, und hier liegt auch ein Schwerpunkt der wissenschaftlichen Kritik.6 Es ist zu fragen, ob man dieses Phänomen mit einer Beobachtung erster Ordnung überhaupt erfassen kann. Die herkömmliche Lehre geht (als Beobachtung erster Ordnung) davon aus, dass der Richter die Rechtsnorm im Text erkennt: „Aufgabe einer juristischen Methodenlehre ist es, Unterstützung bei der Ermittlung des Rechtsanwendungsbefehls in einem konkreten Fall zu leisten.“7 Wenn dieser Gegenstand als objektive Bedeutung des Textes nicht aufgewiesen werden kann, muss die herkömmliche Lehre einen zweiten Gegenstand an seine Stelle setzen. Die objektive Bedeutung ist dann durch die sogenannten allgemeinen Prinzipien zu ersetzen. Die Frage „was ist Gegenstand richterlicher Erkenntnis“ führt so zu einer Verdoppelung des Rechts. Dort, wo der EuGH die „objektive Bedeutung“ nicht erkennen kann, braucht er „allgemeine Prinzipien“ als zweiten Code hinter dem Text. „Anwendung“ bleibt damit die Exekution einer vorgefertigten Norm am Fall. Es fehlen die Momente der Verschiebung und Streuung.8 Diese werden in eine Reserveontologie abgeschoben.9 311.1 Die Voraussetzung der „objektiven Bedeutung“ Die europarechtliche Literatur versteht Auslegen bisher nur als Erkennen des 233 normativen Gehalts von geschriebenen Rechtsvorschriften.10 Gegenstand der Auslegung ist demnach nicht die Ausdrucksseite oder der Text als Zeichenkette, sondern von vornherein die Inhaltsseite als objektive Bedeutung des Textes. Diese Bedeutung wird schlicht erkannt und nicht etwa vom Leser und Entscheider 6 Vgl. zur Kritik an der Rechtsprechung des EuGH als Ersetzung gesetzlicher Maßstäbe durch Richterrecht etwa Schoch, F., Individualrechtsschutz im deutschen Umweltrecht unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, in: NVwZ 1999, S. 457 ff., 459 m. w. N. 7 Langenbucher, K., Vorüberlegungen zu einer europarechtlichen Methodenlehre, in: Ackermann, Th. u. a. (Hrsg.): Tradition und Fortschritt im Recht, Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler, 1999, S. 65 ff., 68. 8 Vgl. zum Begriff Anwendung Derrida, J., Als ob ich tot wäre, 2000, S. 13 f. Bei dem Wort Applikation wird für Derrida noch „pli“ im Sinne von Falte konnotiert. Von dort unterscheidet er das herkömmliche Verständnis von Anwendung als Entfaltung eines fertig Vorgegebenen von dem Verständnis der Anwendung als Komplikation im Sinn einer Verschiebung von Text und Leser. 9 Hierher gehört dann das Verständnis der Rechtsquelle als Rechtserkenntnisquelle, vgl. dazu Köndgen, J., Die Rechtsquellen des europäischen Privatrechts, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 65 ff., 66. 10 Vgl. Constantinesco, L.-J., Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Band I: Das institutionelle Recht, 1977, S. 808, sowie Bernhardt, R., Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, insbesondere in der neueren Rechtsprechung internationaler Gerichte, in: BaöRV 49 (1963), S. 1 ff., 17; Blank, J., Europäische Fusionskontrolle im Rahmen der Art. 85, 86 des EWG-Vertrages, 1991, S. 89.

184

3 Strukturmodell

(mit)erzeugt. Daraus folgt eine Definition wie: „Gegenstand der Auslegung ist der Gesetzestext als Träger dieses normativen Sinnes. Der Gesetzestext selbst ist nicht mit dem normativen Sinn gleichzusetzen, sondern dieser liegt sozusagen ,hinter‘ dem Text11 als das von den Zeichen und Zeichenverbindungen, die den Wortlaut bilden, Bezeichnete.“ 12 234

Das ist eine Vorentscheidung für die Beobachtung erster Ordnung. Die angeblich notwendige Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung wird im Rahmen der europarechtlichen Literatur mit dem Repräsentationsgedanken begründet. Der Normtext repräsentiert demnach einen ihm zugrundeliegenden Gedanken. Der Gesetzgeber schreibt einen Text, weil er etwas mitzuteilen hat, nämlich seine Vorstellungen und Ziele. Erst jenseits der bloßen Schrift liegt als Meinen, als Idee oder gemeinte Idee der volle Sinn des Textes.13 Diese geistigen Entitäten gehen in dieser Denkschule dem Schreiben voraus und werden vom Text nur nachgezeichnet oder ausgedrückt. Immer wieder nehmen juristische Methodiker das alte theologische Modell von der Sprache als Kleid des Gedankens auf.14 Um einen Normtext vollständig zu verstehen, muss der Rechtsanwender hiernach den hinter dem Text verborgenen Grundgedanken oder Wert erfassen. Wenn in der Methodenliteratur betont wird, dass die Norm nicht im Text liege,15 dann nicht um die neuere Erkenntnis auszudrücken, dass die sogenannte ursprüngliche Bedeutung eines Textes immer ein nachträgliches Erzeugnis des sprachlichen Zeichengebrauchs ist;16 sondern nur, um sofort im Sinn des Repräsentationsmodells hervorzuheben, dass die Norm „dahinter“17 liegt, als vom Wortlaut bloß Bezeichnetes.18 Der Gesetzes11 „Auslegen“ wird im Europarecht auch heute noch mit Savigny definiert als „Rekonstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens“. Vgl. dazu Pechstein, M. / Drechsler, C., Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 91 ff., 91. 12 Vgl. Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 26. 13 Vgl. zu diesen schon in der Alltagssprache nahegelegten metaphysischen Annahmen über das Verhältnis von Schrift, Sprache und Text: Derrida, J., Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52 ff., 55 ff. 14 Vgl. dazu etwa die Formulierung bei Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1983, S. 194. Aus der Sicht der subjektiven Lehre findet sich eine typische Formulierung des Repräsentationsgedankens etwa bei Roth-Stielow, K., Umwelt und Recht, in: NJW 1970, S. 2057 ff., 2058, der sogar explizit die Theologen bemüht, um die Sprache als Leib des Geistes darzustellen. Vgl. allgemein zum Einfluss der Theologie auf die juristische Denkweise Dreier, H., Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, in: JZ 2002, S. 1 ff. m. w. N. in Fn. 2 und 3. 15 Vgl. dazu den bei Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 26 aufgenommenen Hassold, G., Strukturen der Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Larenz, 1983, S. 211 ff., 214. 16 Vgl. dazu Bernet, R., Differenz und Anwesenheit. Derridas und Husserls Phänomenologie der Sprache, der Zeit, der Geschichte, der wissenschaftlichen Rationalität, in: Orth, W., u. a., Studien zur neueren französischen Phänomenologie: Ricoeur, Foucault, Derrida, (Phänomenologische Forschungen Bd. 18), 1986, S. 51 ff., 58.

311 Das Wesen des Gesetzes

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text ist demnach „Träger“19oder „Ausdruck“ des als stabiler Bezugspunkt hinter ihm stehenden Sinns. Der Text wird damit vergeistigt: „Dass es bei der Auslegung um den wahren Sinn einer Norm geht, konnte nicht plastischer erläutert werden als mit dem Hinweis darauf, dass der Bundesgesetzgeber selber den deutschen Ausdruck ,Auslegung‘ in Art. 1 Absatz 1 ZGB im Französischen mit ,Esprit‘ und im Italienischen mit ,Senso‘ übersetzt hat. Das kann doch nichts anderes heißen, als dass bei der Auslegung eines Gesetzes Sinn und Geist einer Norm zu ermitteln sind.“20 Die komplexe und von der sprachlichen Aktivität des einzelnen Sprechers gerade nicht unabhängige sprachliche Ordnung wird damit zu einem um Text, Autor oder Idee zentrierten abgeschlossenen Code. Im Hinblick auf die Suche nach einer dem Sprechen objektiv vorgegebenen Bedeutung kann man diese strategische Vorentscheidung der herkömmlichen Lehre als Suche nach einer objektiven Sprachordnung bezeichnen.

311.2 Die Konsequenz der Verdoppelung des Rechts Diese inhaltliche Auffüllung des Gegenstands der Auslegung mit einem vor- 235 gegebenen Sinn hat eine interessante Konsequenz: Der Richter ist zwar zunächst an den objektiven Sinn der Texte gebunden. Wenn ein solcher aber nicht zu erkennen ist, besteht eine sogenannte Lücke. So gelangt man zum Problem einer Bindung des Richters jenseits des Gesetzes. Im Bereich des objektiven Sinns ist der Richter als Erkennender streng gebunden. Im Bereich der Lücke ist er von der Gesetzesbindung frei und muss sich an allgemeinen Prinzipien orientieren.21 Das heißt, mit der vorgängigen inhaltlichen Auffüllung des Gegenstands juristischer Textarbeit ist vorentschieden, dass der Richter eine Doppelrolle ausfüllt: im Bereich des vorhandenen Sinns Rechtsanwender und im Bereich der Lücke Prinzipienanwender. Es ist damit scheinbar schon festgelegt und ontologisch auf zwei Welten verteilt, was in der Praxis erst noch zu analysieren wäre: der tatsächliche 17 Vgl. als Bsp. Esser, J., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 74 f. 18 Vgl. Hruschka, J., Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S. 29, 72 f. und öfter. Keller, A., Die Kritik, Korrektur und Interpretation des Gesetzeswortlauts, 1960, S. 49 f.; Hinderling, H. G., Rechtsnorm und Verstehen, 1971, S. 105; Pawlowski, H.-M., Methodenlehre für Juristen, 1981, Rn. 66. 19 So die oft zitierte Wendung bei Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1983, S. 299. Vgl. auch Keller, A., ebd.; Hinderling, ebd.; Rödig, J., Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1973, S. 282. 20 Schnyder, B., Zur Mehrsprachigkeit der schweizerischen Gesetzgebung im Allgemeinen, in: LeGes 2001 / 3, S. 33 ff., 41. 21 Vgl. die konzentrierte und klare Darstellung der Prämissen der herkömmlichen Lehre bei. Neuner, J., Die Rechtsfortbildung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 231 ff., 240 ff.

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3 Strukturmodell

Anteil des Richters an der Rechtserzeugung. Nicht zuletzt an der Judikatur des EuGH wird deutlich, dass dieser Ansatz der herkömmlichen Lehre den Zugang zur Analyse der Praxis versperrt. Denn die aktive und rechtsschöpferische Rolle dieses Gerichts lässt sich im Bild des passiv erkennenden Richters nicht unterbringen. 236

Der große Einfluss der EuGH-Rechtsprechung auf den Prozess der europäischen Integration fordert auch immer wieder Kritik heraus.22 Dabei geht es vor allem um die Grenzen seiner Zuständigkeiten im Verhältnis zum Gemeinschaftsgesetzgeber und den Mitgliedstaaten. Gegen die „leise Übermacht“23 aus Luxemburg hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Maastricht-Entscheidung 24 den Vorbehalt gemacht, es sei nicht zulässig, neue Kompetenzen der Gemeinschaft durch Rechtsprechung des EuGH zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht will dem EuGH zwar die Kompetenz zur Rechtsfortbildung zuerkennen, aber nicht eine Rolle als Gesetzgeber. Damit stellt sich das Problem, wie die Rechtsfortbildung durch Gerichte von einer Usurpation der Rolle des Gesetzgebers durch die Justiz abgegrenzt werden kann.

237

Die sprachtheoretischen Annahmen der herkömmlichen Auslegungstheorie führen hier zu einem holzschnittartig klaren Ergebnis: die Rolle des Richters ist die Auslegung, d. h. er erkennt die unterstellte objektive Textbedeutung. Dort, wo er diesen Rahmen überschreitet und zu einer Entscheidung findet, die in der objektiven Textbedeutung nicht vorgegeben ist, betreibt er Rechtsfortbildung. Allerdings übernimmt er dabei noch nicht die Rolle des Gesetzgebers, weil er auch in den Lücken des Rechts an objektiv vorhandene allgemeine Rechtsgrundsätze gebunden bleibt. Diese garantieren ihm als zweiter Code hinter dem Gesetz auch dort noch einen Erkenntnisgegenstand, wo die objektive Textbedeutung versagt. Der Richter betreibt Erkenntnis also entweder im Reich der Gesetze oder im Reich der Rechtsprinzipien. Aber er gestaltet nicht. Denn das, so das positivistische Paradigma, ist die Rolle des Gesetzgebers.

238

Diese Optionen werden dann von der herkömmlich operierenden europarechtlichen Literatur konsequent auf die Analyse der Arbeit des EuGH übertragen: „Practical interpretation may define as an activity designed to clarify the text of a written manifestation of law and to recognize its sense with a view to its applicati22 Eine ausführliche Kritik wurde etwa vorgelegt von Rasmussen, H., On Law and Policy in the European Court of Justice. A comparative study in judicial policymaking, 1986, der im Vordergrund seiner Kritik einen Aktivismus des EuGH stellt. Der Gerichtshof habe die Grenzen der Legalität weit überschritten und damit seinem eigenen Ansehen schweren Schaden zugefügt. Er orientiere sich an vagen Richtlinien und nicht an juristisch anwendbaren Texten. Dies sei „abusive“, „unwise“, „ruinous“. 23 Vgl. dazu „Die leise Übermacht“. Bundessozialminister Norbert Blüm über Macht und Befugnis des Europäischen Gerichtshofs, in: Der Spiegel, 46. Jg., Nr. 49 vom 30. 11. 1992, S. 102 ff. 24 BVerfG in NJW 1993, S. 3047 ff.

311 Das Wesen des Gesetzes

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on to the realities of daily life and practice.“25 „Anwendung“ ist hier die Entfaltung einer im Text schon fertig vorgegebenen Norm. Dieselbe Subsumtion juristischer Entscheidungstätigkeit unter die Metapher der Gegenstandserkenntnis vollzieht sich auf deutsch folgendermaßen: „Unter dem Begriff der Auslegung in seinem allgemeinsten Sinne kann verstanden werden, etwas Unklarem eine klare Bedeutung zu geben, d. h. seinen Sinn klarzustellen, seine Tragweite zu bestimmen und Grenzen und Auswirkungen herauszustellen. Bildlich ausgedrückt soll durch die Auslegung der in dem Gesetzestext beschlossene, aber noch gleichsam verhüllte Sinn ,zur Sprache gebracht‘ werden. In diesem Sinne ist das Produkt der Auslegung im Objekt von vornherein enthalten, muß jedoch noch methodisch herausgearbeitet werden. Kennzeichnend für die Auslegung ist demnach nicht, daß dem Normtext etwas hinzugefügt wird, sondern daß ihr Ziel auf die maßgeblich relevanten Sinngehalte gerichtet ist.“26 Das Gemeinschaftsrecht weist zwar eine gewisse Besonderheit auf: „Unge- 239 schriebenes Richterrecht stellt ( . . . ) in der Gemeinschaft anders als im deutschen Recht keine Ausnahme, sondern gewissermaßen den ,Normalfall‘ dar und tritt, was seine Bedeutung anbelangt, gleichberechtigt neben das geschriebene Gemeinschaftsrecht.“27 Diese Besonderheit sei aber bloß quantitativ. Qualitativ gehe es um das gleiche Phänomen. Denn entscheidender Anknüpfungspunkt sei die Lücke im (Gemeinschafts-)Recht.28 Der Begriff der Lücke ergänzt den Begriff der Auslegung dort, wo dieser in den Augen der Tradition versagt. Die Interpretation, so haben wir gerade gehört, darf dem Normtext nichts hinzufügen, sondern nur den 25 Bos, M., Theory and practice of treaty interpretation, in: NILR 27 (1980), S. 3 ff., 15. Vgl. dazu auch Peruzzo, G. G., Das Problem der implied powers der Organe der Europäischen Gemeinschaften, 1979, S. 39. 26 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 29, unter ausdrücklichem Bezug auf den Ansatz von Larenz. 27 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 38. Anweiler bezieht sich mit seiner Einschätzung als „Normalfall“ auf Stein, Th., Richterrecht wie anderswo auch? – Der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften als „Integrationsmotor“, in: Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, hrsg. von den Hochschullehrern der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, 1986, S. 619 ff. Dieser klassische Ansatz kennzeichnet auch die neueren Untersuchungen zum EuGH in Deutschland. Vgl. allerdings mit mehr Vorbehalten gegenüber der klassischen Lehre als Anweiler: Ukrow, J., Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 103 ff. und öfter. Ein früher Ansatz zur Diskussion des Problems findet sich bei Bleckmann, A., Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Lüke, G. u. a. (Hrsg.), Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatenintegration. Gedächtnisschrift für Léontin-Jean Constantinesco, 1983, S. 61 ff. Außerdem der eben zitierte Text von Stein, T. sowie DänzerVanotti, W., Unzulässige Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofes, in: RIW 38 (1992), S. 733 ff.; Everling, U., Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 1988; Hillgruber, Chr., Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH – Hat Europarecht Methode?, in: Danwitz, T. v. u. a. (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 31 ff. 28 Vgl. Ukrow, J., Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 33.

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3 Strukturmodell

objektiven Sinn erkennen. Nun haben aber, linguistisch betrachtet, Texte und damit auch Normtexte keinen objektiven Sinn. Das schadet auch nicht, solange der Leser oder der auslegende Richter glaubt, der von ihm angenommene oder dem Text beigelegte Sinn sei eben objektiv. Sobald er aber an der Objektivität seiner Lesart des Gesetzes zu zweifeln beginnt, wird es schwierig. Wenn man die Metapher vom verhüllten Sinn ernst nimmt und versucht, diesen Gegenstand zu erkennen, findet man an Stelle sicherer Objektivität nur eine Mehrzahl konfligierender Möglichkeiten. Vor diesem Sturz ins Bodenlose muss der auf die klassische Lehre vertrauende Richter bewahrt werden. Deshalb wird der Verlust von Objektivität einer bestimmten Bedeutungsvariante in eine Lücke umgedeutet. Diese betrifft aber nur eine erste Schicht von Objektivität. Der objektive Textsinn hat zwar versagt, aber trotz dieser Lücke kann die Erkenntnis in einer zweiten Schicht von Objektivität wieder sicheren Tritt fassen: in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder Prinzipien. Damit steht die Rechtsfindung nicht nur auf festem, sondern sogar auf doppeltem Boden. 240

Dieser argumentative Rückzug in die doppelte Geborgenheit sicherer Rechtserkenntnis verläuft in der europarechtlichen Literatur folgendermaßen: „Eine Lücke ist eine Unterbrechung in einem Text oder in einer Serie, eine leere Stelle in einem Ganzen, also das, was fehlt, um den Text zu vervollständigen. Der Lückenbegriff dient in der juristischen Methodenlehre dazu, die Befugnis oder sogar Verpflichtung des Richters zu umschreiben, auch dann eine Rechtsfrage zu beantworten, wenn das anwendbare Normensystem keine ausdrückliche Regelung enthält.“29Aber woher bezieht der Richter jetzt die Sicherheit oder Objektivität seiner Antwort? Der klassische Ansatz sorgt dafür, dass er nicht mit seiner Verantwortung allein bleibt, sondern in der beschützenden Werkstatt des Rechts unterkommt, wo ihm die Prinzipien diese Last abnehmen. Dazu wird der Begriff „Auslegung“ auf die Metaebene einer zweiten Objektivität ausgedehnt: Auslegung hat nunmehr als Gegenstand ihrer Erkenntnis nicht nur das geschriebene, sondern auch das ungeschriebene Gemeinschaftsrecht. Damit kommt eine reiche Hinterwelt in den Blick, die mit ihrer Vielfalt für den Schrecken entschädigt, den die zum Glück nur vordergründigen Lücken im Recht zunächst hervorgerufen haben.

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In der europarechtlichen Literatur wird fast durchgängig behauptet, dass es neben dem geschriebenen Primärrecht noch einen großen Bereich30 an ungeschriebenen Regeln gebe. Besonders werden die „allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ genannt. Es wird dann sehr Heterogenes aufgezählt: meistens der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor entgegenstehendem innerstaatlichen Recht, den der EuGH in der Entscheidung Costa / ENEL entwickelt hat;31 außerdem der 29 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 52. 30 Tomuschat, C., Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die europäischen Gemeinschaften, 1964, S. 79.

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Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit bestimmter Vertragsvorschriften32 oder das vor allem im Agrarrecht wichtige Prinzip der Gemeinschaftspräferenz. 33 Aber die Heterogenität dieser Grundsätze ist nicht besorgniserregend: „Versteht man ,Auslegung‘ entsprechend der Praxis des EuGH in einem weiten Sinn, so bezieht sich der Begriff nicht nur auf das geschriebene, sondern auch auf das ungeschriebene Gemeinschaftsrecht. ( . . . ) Danach umfaßt der Begriff der Auslegung über die genaue Ermittlung des Inhalts geschriebener Worte und Sätze hinaus auch die Aufgabe, Lücken in der Gemeinschaftsrechtsordnung auszufüllen. Mit der Lückenausfüllung ist in erster Linie die Entscheidung des EuGH über das Bestehen oder den Inhalt der in die Gemeinschaftsrechtsordnung aufgenommenen allgemeinen Rechtsgrundsätze angesprochen, mithin der Bereich des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts. Diese Definition überzeugt deshalb, weil sich mit ihr sämtliche Quellen des Gemeinschaftsrechts erfassen lassen.“34 Mit der Ausdehnung des Begriffs der Auslegung auch auf einen Fundus an 242 Rechtsprinzipien hat die argumentative Bewegung der klassischen Lehre ihr strategisches Ziel erreicht: Die beschützende Werkstatt des Rechts steht fertig vor uns. Aber sie hat ihren Preis. Die Frage, wie der Richter auf ein Rechtsproblem noch antworten kann, wenn die scheinbare Objektivität einer Lesart ins Fragliche gleitet, führt nämlich in eine doppelte Schwierigkeit. Zunächst zeigt sich die methodische Unsicherheit, welche Instrumente der Richter eigentlich zur Verfügung hat, um eine Mehrzahl von Varianten miteinander zu vergleichen und die eine von ihnen den anderen vorzuziehen. Zum anderen das normative Problem, wie weit sich der Richter mit seiner Argumentation vom Text entfernen darf, ohne die Rolle des Gesetzgebers zu usurpieren. Diese Doppelung von methodischer und normativer Fragestellung wird von der traditionellen Lehre auf ein einziges ontologisches Postulat reduziert: „Es gibt allgemeine Rechtsgrundsätze“. Deswegen bestehe kein methodischer Reflexionsbedarf. Es sei nach wie vor nur eine Erkenntnis zu vollziehen. Deshalb gebe es auch kein normatives Problem funktionaler Gewaltenteilung, denn durch die Bindung an diese Grundsätze sei der Richter klar vom Gesetzgeber geschieden.

31 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1964, S. 1251 ff., 1269 f. (Costa / E.N.E.L.); EuGH, Slg. 1970, S. 1125 ff., 1135 (Internationale Handelsgesellschaft); EuGH, Slg.1978, S. 629 ff., 642 (Simmenthal II); EuGH, Slg. 1987, S. 2345 ff., 2359 (Albako). 32 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1963, S. 1 ff., 25 f. (van Gend & Loos); EuGH, Slg. 1970, S. 825 ff., 838 (Grad); EuGH, Slg. 1989, S. 1839 ff., 1870 f. (Fratelli Costanzo). 33 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1968, S. 127 ff., 147 (Beus). 34 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 40 mit weiteren Nachweisen aus der europarechtlichen Literatur.

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3 Strukturmodell

311.3 Die Notwendigkeit einer neuen Problemstellung 243

Diese traditionelle Verdoppelung des Rechts stellt eine degenerative Problemverschiebung dar.35 Die „Was-ist-Frage“ der herkömmlichen Lehre mündet in die argumentative Beliebigkeit von Ontologie. Sie muss deswegen durch die Frage ersetzt werden: Wie funktioniert Rechtsanwendung?36 Es geht bei dieser nicht um die Explikation einer im Text schon vorgegebenen Rechtsnorm. Eher handelt es sich um eine „Komplikation“, das heißt eine Verschiebung von Text und Leser durch einen neuen Fall. Der Richter erkennt nicht die Rechtsnorm. Er konstruiert sie. Um diese Konstruktion sichtbar zu machen, darf in den Text als Ausgangspunkt der richterlichen Tätigkeit nicht schon das hineingelegt werden, was erst noch erzeugt werden muss: die Bedeutung. Die Problemstellung ist in der Wissenschaft die alles entscheidende Ebene. In der wissenschaftstheoretischen Diskussion hat der französische Philosoph Deleuze sogar vorgeschlagen, das Wahrheitskriterium in das Problem selbst hinein zu verlegen.37 Er will damit betonen, dass es zunächst nicht darum geht, ob eine Problemlösung richtig oder falsch ist; sondern darum, das Problem zu finden und es in den Begriffen, in denen es gelöst werden kann, zu stellen. Die Frage nach der Struktur von praktischer Rechtskonkretisierung ist zu unterschiedlich von Ontologie und Rechtsquellenlehre, um auf deren Ebene richtig gestellt werden zu können. Es gibt dort nur Erkenntnis / Nichterkenntnis bzw. richtig / falsch; und man bräuchte einen privilegierten Zugang zur Realität, um diese Alternativen zu entscheiden. Eine im Ergebnis offene Diskussion über unterschiedliche Auffassungen ist dann nicht möglich.

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Wenn man dagegen die Ontologie vermeidet und zur Beobachtung zweiter Ordnung übergeht, kann man die methodische von der normativen Dimension unterscheiden und gewinnt eine Vielzahl neuer Fragestellungen, die Diskussion erlauben. Tatsächlich spielen allgemeine Rechtsgrundsätze und Prinzipien in der Rechtsprechung des EuGH eine wichtige Rolle und bedürfen fraglos der Analyse.38 Eine naheliegende Frage ist aber dann schon die, wie man bei ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen an ein Textformular gebunden sein kann. Die Bezeichnung „ungeschrieben“ bezieht sich nämlich nur auf den gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgeber. 35 Vgl. dazu Lakatos, I., Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: ders. Musgrave, A. (Hrsg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, 1974, S. 89 ff., 113 ff. 36 Die Ersetzung der „Was-ist-Fragen“ durch die „Wie-funktioniert-es-Fragen“ ist eines der grundlegenden Anliegen der Hermeneutik und wird etwa in der Arbeit von Jochen Hörisch betont. Vgl. dazu Hörisch, J., Die Wut des Verstehens, in: Der blaue Reiter 1998 / 2, S. 60 ff., 67. 37 Deleuze, G., Bergson, 1989, S. 25. 38 Für das so genannte Transparenzprinzip ist diese Analyse durchgeführt bei Meltzian, D., Das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane, 2004, S. 314 ff.

311 Das Wesen des Gesetzes

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Ansonsten sind diese Grundsätze natürlich in Texten formuliert, entweder durch die Gerichte oder durch nationale Verfassungen, durch Literatur usw. Auch diese Formulierung ist unausweichlich, genau wie bei Normtexten, bei jeder neuen Entscheidung in ihrer Bedeutung erst zu bestimmen. Unsere Rechtsgrundsätze sind also ungeschrieben vom Gemeinschaftsgesetzgeber, aber sehr wohl schriftlich formuliert; so dass sich die weitere Frage stellt, wer eigentlich wann zu ihrer Formulierung berechtigt sein soll. Es kommen aber, wenn man sich erst einmal von den Vorurteilen der klassischen Lehre ablöst, noch weitere gewichtige Probleme in den Blick. Zunächst kann man unterscheiden: manche dieser allgemeinen Grundsätze zählen nicht zum Gegenstand, sondern zum Prozess der Textarbeit. Denn sie ergeben sich mehr oder weniger eindeutig schon aus den Bestimmungen der Gründungsverträge. Es handelt sich dabei um vorläufige Ergebnisse der Textarbeit, die für künftige Streitfälle als Textformular eine gewisse Bindungswirkung entfalten. Aber diese Bindung ist von der an geschriebenes Recht unterschieden. Denn sie steht unter dem Vorbehalt des besseren Arguments. Dieser Vorbehalt gilt für Normtexte nicht. Es gibt aber auch Textverweisungen. Aus den Verträgen wird in die Europäische 245 Menschenrechtskonvention oder in die nationalen Verfassungen (Art. 6 EU) verwiesen. Als weitere Textmasse kommen damit die allgemeinen Rechtsgrundsätze in Betracht, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Im Primärrecht werden als Rechtfertigung für diese Bezugnahme die Art. 288 Abs. 2 EG und Art. 188 Abs. 2 EA herangezogen. Diese verweisen zwar nur für die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft auf diese Grundsätze. Aber im Hinblick auf die Wendung in Art. 220 EG, der dem EuGH neben der Interpretation der Verträge noch die „Wahrung des Rechts“ als Aufgabe zuweist, wird dies nur als beispielhafte Aufzählung aufgefasst. Die europarechtliche Literatur hebt dabei immer wieder hervor, dass es sich nicht um unverbindliche Leitlinien für die Interpretation, sondern um Grundsätze mit echtem Normcharakter handele.39 Das ergebe sich schon daraus, dass die Verträge als „Teilrechtsordnung“ im wesentlichen nur wirtschaftliche und soziale Sachverhalte regelten und deswegen einer solchen Ergänzung bedürften.40 Aber die nationalen Verfassungen sind nicht einfach zu übernehmen, sondern stehen unter dem Vorbehalt ihrer Einfügung in den Rahmen des Gemeinschaftsrechts. Sie sind Orientierungsgrundlage für das Erzeugen eigenständiger Rechtsgrundsätze durch den EuGH. Weil so die nationalen Verfassungen aber immerhin Überprüfungsinstanzen für die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus der Systematik des Gemeinschaftsrechts sind, kommt ihnen in der Arbeit des 39 Vgl. dazu Kutscher, H., Über den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, in: EuR 1981, S. 392 ff., 403. 40 Vgl. dazu Tomuschat, C., Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die europäischen Gemeinschaften, 1964, S. 79 sowie Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. 1 ff., 6.

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3 Strukturmodell

EuGH tatsächlich eine Normtextrolle zu. Diese ist mit der des Exekutivrechts in einer nationalen Rechtsordnung vergleichbar. Auch daran kann eine richterliche Entscheidung scheitern, solange das Exekutivrecht selbst nicht gegen höherrangige Rechtsquellen verstößt. Tatsächlich hat der EuGH die nationalen Verfassungen als Rechtserkenntnisquellen41 herangezogen, vor allem beim Festlegen von Grundrechtsstandards42 und bei der Entwicklung von rechtsstaatlichen Prinzipien.43 246

Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts gehören damit in den Vorgang, nicht in den Gegenstand juristischer Textarbeit.44 Als präexistenter Gegenstand sind sie tot und nicht diskutierbar. Im Prozess der Textarbeit sind sie dagegen diskutierbar, und man kann untersuchen, ob sie normativ und methodisch gerechtfertigt werden können. Im Ganzen zeigt sich, dass das Problem richterlicher Rechtserzeugung im Bereich des Gemeinschaftsrechts nicht richtig gefunden und gestellt werden kann, 41 Vgl. dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 44 f. 42 Der EuGH hat sozusagen im Dialog mit den nationalen Verfassungsrechtstraditionen unter Heranziehung der jeweiligen Verfassung als Überprüfungsinstanz folgende Grundrechte entwickelt: Eigentum: Vgl. EuGH, Slg. 1974, S. 491 ff., 507 f. (Nold); EuGH, Slg. 1979, S. 3727 ff., 3745 f. (Hauer); EuGH, Slg. 1989, S. 2237 ff., 2267 f. (Schräder). Allgemeines Persönlichkeitsrecht: EuGH, Slg. 1969, S. 419 ff., 425 (Stauder). Privatsphäre: EuGH, Slg. 1980, S. 2033 ff., 2056 f. (National Panasonic); EuGH, Slg. 1982, S. 1575 ff., 1610 (AM & S); EuGH, Slg. 1989, S. 3165 ff., 3184 f. (Dow Chemical Ibérica); EuGH, Slg. 1989, S. 3137 ff., 3157 (Dow Benelux). Berufsausübungsfreiheit: EuGH, Slg. 1974, S. 491 ff., 507 f. (Nold); EuGH, Slg. 1979, S. 3727 ff., 3745 f. (Hauer); EuGH, Slg. 1986, S. 2897 ff., 2912 (Keller); EuGH, Slg. 1989, S. 2237 ff., 2267 f. (Schräder). Freier Zugang zur Beschäftigung: EuGH, Slg. 1987, S. 4097 ff., 4117 (Heylens). Religionsfreiheit: EuGH, Slg. 1976, S. 1589 ff., 1598 (Prais). Familie: EuGH, Slg. 1989, S. 1263 ff., 1290 (Kommission / Bundesrepublik). Meinung: EuGH, Slg. 1984, S. 19 ff., 62 (Flämische Bücher); EuGH, Slg.1989, S. 4285 ff., 4309 (Oyowe und Traore). Diskriminierung: EuGH, Slg. 1958, S. 231 ff., 257 (Groupement des Hauts Fourneaux); EuGH, Slg. 1977, S. 1753 ff., 1770 (Ruckdeschel); EuGH, Slg. 1978, S. 1991 ff., 2004 (Scholten-Honig); EuGH, Slg. 1984, S. 4057 ff., 4078 (Biovilac); EuGH, Slg. 1987, S. 167 ff., 219 (Ainsworth). Justizgrundrechte: EuGH, Slg. 1980, S. 691 ff., 714 (Pecastaing); EuGH, Slg. 1986, S. 1651 ff., 1682 (Johnston); EuGH, Slg. 1987, S. 4097 ff., 4117 (Heylens). 43 Hier hat der EuGH vor allem die Prinzipien aus dem Umkreis des Rechtsstaats herangezogen: Für die Verhältnismäßigkeit: EuGH, Slg. 1970, S. 1125 ff., 1137 (Internationale Handelsgesellschaft); EuGH, Slg. 1979, S. 677 ff., 684 f. (Buitoni); EuGH, Slg. 1986, S. 3537 ff., 3555 f. (Maas). Rechtssicherheit: EuGH, Slg. 1962, S. 97 ff., 113 (Bosch); EuGH, Slg. 1970, S. 769 ff., 799 (Boehringer); EuGH, Slg. 1979, S. 69 ff., 86 (Racke). Vertrauensschutz: EuGH, Slg. 1965, S. 893 ff., 911 (Lemmerz-Werke); EuGH, Slg. 1978, S. 1991 ff., 2004 f. (Scholten-Honig); EuGH, Slg. 1982, S. 749 ff., 764 (Alpha Steel). Gesetzmäßigkeit der Verwaltung: EuGH, Slg. 1989, S. 2859 ff., 2924 (Hoechst). Rechtliches Gehör: EuGH, Slg. 1961, S. 109 ff., 169 (SNUPAT); EuGH, Slg. 1979, S. 461 ff., 511 (Hoffmann-Laroche); EuGH, Slg. 1986, S. 2263 ff., 2289 (Belgien / Kommission). 44 Zur Solidarität als mitgeschriebenes Verfassungs- und Strukturprinzip in der Gemeinschaft vgl. Gussone, P., Das Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union und seine Grenzen, Berlin 2006, S. 169 ff.

312 Die Rechtserzeugungspraxis

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solange man als Gegenstand der Textarbeit die objektive Bedeutung angibt. Erst wenn man das Textformular, d. h. den Normtext als Zeichenkette, und den Konflikt um seine Bedeutung zum Ausgangspunkt nimmt, wird das Problem richterlicher Rechtserzeugung methodisch und normativ überprüfbar.

312 Beobachtung zweiter Ordnung: Die Rechtserzeugungspraxis

Die Notwendigkeit, von der Beobachtung erster Ordnung zu der zweiter Ordnung überzugehen, ergibt sich daraus, dass das Objekt juristischer Erkenntnis nur in Sprache existiert. Sprache lässt sich aber nicht als Gegenstand von außen beobachten, sondern nur als teilnehmende Praxis. 312.1 Normativität als Vorgang Natürlich haben auch die Vertreter der herkömmlichen Lehre seit langem er- 247 kannt, dass das Rechtserkenntnismodell weder zur Beschreibung noch zur theoretischen Anleitung der Praxis ausreicht. Trotzdem wurde diese Theorie nicht aufgegeben, sondern sogar gegen Kritik immunisiert: „Da die Reine Rechtslehre nur eine Erkenntnis des gegebenen positiven Rechts, nicht aber eine Vorschrift für seine richtige Erzeugung ist, will sie weder eine Anweisung dafür geben, wie man gute Gesetze macht, noch auch Ratschläge erteilen, wie man auf Grund oder im Rahmen der Gesetze gute Entscheidungen und Verfügungen treffen kann“.45 Hier werden zwei Bereiche getrennt: einmal der wissenschaftliche einer bloßen Anwendung des vorgegebenen Rechts; zum anderen der irrationale, wissenschaftlich nicht strukturierbare Vorgang der tatsächlichen Erzeugung oder Verwirklichung von Recht. Der im Rahmen der herkömmlichen Rechtserkenntnislehre nicht erfassbare schöpferische Anteil praktischer Rechtsarbeit wird damit kurzerhand aus dem Einzugsgebiet der Wissenschaft hinausgeworfen. Für Kelsen kommt Rechtsschöpfung zwar vor, aber nur jenseits der Grenzen von 248 Wissenschaft: „Die auf dem Boden des anglo-amerikanischen ,Common Law‘ erwachsene Theorie, dass nur die Gerichte Recht erzeugen, ist ebenso einseitig wie die auf dem Boden des europäisch-kontinentalen Gesetzesrechts erwachsene Theorie, dass die Gerichte überhaupt kein Recht erzeugen, sondern nur schon geschaffenes Recht anwenden. Diese Theorie läuft darauf hinaus, dass es nur generelle, jene, dass es nur individuelle Rechtsnormen gebe. Die Wahrheit liegt in der Mitte ( . . . ). Die richterliche Entscheidung ist die Fortsetzung, nicht der Beginn des Rechtserzeugungsprozesses“.46 Hier wird die Realität richterlicher Rechtsschöpfung anerkannt. Aber diese klare Wahrnehmung bleibt in der Reinen Rechtslehre ohne Fol45 Kelsen, H., Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928, S. 1726. 46 Kelsen, H., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 260.

13 Müller / Christensen

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gen, weil sie die Rechtserzeugung als irrationale Dezision aus dem Bereich der Wissenschaft ausgrenzt: „Was wir – und zwar mit gutem Grunde – unter dem Titel der Rechtswissenschaft betreiben, ist im Grunde nur eine Wissenschaft vom Gesetze. Die Wissenschaft vom Gesetze kann nicht mehr beinhalten, als das Gesetz beinhaltet“.47 249

Heute ist allerdings die Rechtserzeugung auch bei Positionen, die sich um eine Weiterentwicklung der Reinen Rechtslehre bemühen, als ein wissenschaftliches Problem anerkannt. Jedoch wirken dabei die Prämissen der positivistischen Rechtsnormtheorie als hinderliche Schranken weiter. Denn der Mittelweg zwischen der Fiktion einer vollständig determinierten Rechtsanwendung und einer bindungslosen Rechtsetzung soll dadurch gefunden werden, dass man im Weg einer äußeren, etwa stufenförmigen Zuordnung beide Bereiche miteinander verbindet. Der von Kelsen mit der „generellen Norm“ gleichgesetzte Normtext soll dabei eine Rahmenfunktion für die Erzeugung der „individuellen Norm“ haben: „Die Bestimmung des Rahmens ist nur die erste, notwendige und wichtige Stufe des rechtswissenschaftlichen Erkenntnisprozesses; ihm müssen sich weitere Stufen anschließen, die mit anderen sozialwissenschaftlichen Methoden diesen Prozeß fortsetzen“.48 Die positivistische Rechtsnormtheorie definiert damit den Rahmen der Rechtserkenntnis, während die Rechtserzeugungswissenschaft ihren Gegenstand in den diesen Rahmen ausfüllenden „Willenselementen“ findet.

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In der Reinen Rechtslehre bleibt die Rahmenfunktion der Rechtsnorm allerdings ein bloßes Bild.49 Die Fragwürdigkeit einer fortdauernden Anbindung an den Positivismus wird sichtbar, sobald man sich um die rechtstheoretische und methodische Einlösung der Metapher von der Rechtsnorm als Rahmen der Rechtserzeugung bemüht. Diesen Anforderungen stellt sich dagegen ein Ansatz, der den positivistisch verstandenen Inhalt der Rechtsnorm als falsifizierende Instanz für die Vorgänge der Rechtserzeugung begreifen will. Auch hier wird unter dem Stichwort der „normativen Produktion“50 dieser Gedanke zunächst aufgenommen, um dann modifiziert zu werden: „Da es der Rechtsarbeiter ist, der entscheidet und die Rechtsnorm nicht vorentschieden hat, ist er es auch, der das geltende Recht in seiner Normumsetzung erst erzeugt“.51 Fraglich ist allerdings, 47 Merkl, A., Das Recht im Lichte seiner Anwendung, in: Klecatsky, P. / Marcic, R. / Schambeck, H. (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, 1968, S. 1167 ff., 1178. 48 Römer, P., Hans Kelsen und das Problem der Verfassungsinterpretation, in: Abendroth, W. / Blanke, B. / Preuß, U. u. a., Ordnungsmacht?, 1981, S. 180 ff., 197. Römer arbeitet klar das Scheitern des Positivismus an der Rechtserzeugung heraus, ohne allerdings die Notwendigkeit eines nachpositivistischen Neuansatzes zuzugestehen. Zur Strukturierenden Rechtslehre als prononciert nachpositivistischem Standpunkt vgl.: Müller, Chr., Die Bekenntnispflicht des Beamten, in: ebd., S. 211 ff., 212. 49 Römer, P., ebd., S. 180 ff., 199. 50 Vgl. zu diesem Stichwort: Harenburg, J., Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 6 und öfter. Vgl. auch zusammenfassend zur arbeitsteiligen Rechtsproduktion: ebd., S. 363 ff. 51 Ebd., S. 275.

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was man sich unter dem Stichwort „Normumsetzung“ vorstellen soll. Heißt dies nur, dass der Rechtsarbeiter gewissen Bindungen an den Normtext und methodischen Standards unterliegt, oder ist ihm die zu erzeugende Rechtsnorm auch schon (in unvollständiger Weise) im Text vorgegeben? Der Fortgang der Argumentation macht deutlich, dass die zweite, den Abstand zum Positivismus wieder aufhebende Variante gemeint ist: „Sofern die ( . . . ) These, daß die Rechtsnorm keinen substantiell erfaßbaren Inhalt habe, besagen soll, daß die in verbindlichen Rechtstexten formulierte Norm noch keinen normativen Gehalt hat, dürfte sie zu stark sein“.52 Und kurz darauf wird die Annahme formuliert: „( . . . ), daß die in verbindlichen Rechtstexten formulierten Normen durchaus schon normativen Gehalt haben und insofern auch Normen sein können. Wichtig und festzuhalten ist jedoch, daß unter der Perspektive der Rechtsproduktion im Verbund von Gesetzgebung und Rechtsprechung diese Normen nicht als etwas Vorentschiedenes nur zu ermitteln und anzuwenden, sondern in der weiteren Rechtsarbeit erst zu erarbeiten und auszugestalten sind“.53 Damit geht dieser Ansatz deutlich von einer lex ante casum54 aus, deren vorausgesetzte Geltungssubstanz im Hinblick auf den zu lösenden Fall eben nur noch nicht vollständig ist und deswegen durch dogmatische Aussagen ergänzt werden muss. Die herkömmliche Lehre von der Anwendung einer im Text vorgegebenen Rechtsnorm wird damit in ihrer Reichweite nur eingeschränkt, nicht aber zugunsten einer Rechtserzeugungsreflexion überwunden. Mit der Gleichsetzung von Normtext und (lediglich noch unentfalteter) Rechts- 251 norm bleibt dieser Ansatz im Rahmen der herkömmlichen Doktrin. Entsprechend wird auch die der Dogmatik zugewiesene Rolle normativer Produktion eingeschänkt. Danach gibt es normative Gehalte, die einem aussageunabhängig bestimmbaren Gegenstand „geltendes Recht“ in deskriptiv-empirischer Weise entnommen werden können und jeder normativen Produktion vorausgehen.55 Damit kehrt die nur scheinbar antipositivistische Zweiweltenlehre wieder, welche mit ihrem dualistischen Denken die Prämissen des Positivismus nicht überwindet, sondern verdoppelt.56 Man glaubt, an der Theorie einer zumindest teilweise im Text Ebd. Ebd., S. 279. 54 Vgl. dazu Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 47; ferner Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rdnr. 471 f. 55 Vgl. zu dieser Zweiteilung: Harenburg, J., Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 44: „Eine dogmatische Aussage ist demgemäß die Behauptung einer Rechtsregel bzw. einer Norm, für die der Anspruch rechtlicher Geltung erhoben wird und die dem Gesetz in deskriptiv-empirischer Interpretation nicht zu entnehmen ist“. Zum Ziel der Dogmatik allgemein vgl. S. 270 f. 56 Zu beachten ist allerdings, dass die Schwierigkeiten der Positivismuskritik bei Harenburg von dessen eigenen Voraussetzungen her kritisierbar sind und insoweit als Inkonsequenzen angesehen werden müssen, die vom Begriff der normativen Produktion her zu überwinden wären. – Zur Zweiweltenlehre als einem Teil des Positivismus: Müller, F., Normstruktur und Normativität, 1966, S. 90, 93, 172. 52 53

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vorgegebenen Rechtsnorm festhalten zu müssen, weil man befürchtet, der richterlichen Bindung sonst ihren Gegenstand zu entziehen. Die im Ansatz richtige Bestimmung des richterlichen Handelns wird zurück in den zu engen Rahmen der positivistischen Rechtsnormtheorie gepresst: „Rechtsanwendung ist ein Vorgang des ,law in making‘, des ,law in action‘ und bleibt doch positivistisch gebunden an die höherrangige Norm“.57 Zu unterstreichen wäre hier das Wort „positivistisch“. Die für eine Rechtsanwendungslehre entwickelte alte positivistische Theorie der Gesetzesbindung soll auch noch für eine Rechtserzeugungsreflexion den Rahmen richterlicher Bindung definieren können. 252

Die Rechtsnorm ist aber nicht als Gegenstand der Erkenntnis vorgegeben, sondern wird vom sogenannten Rechtsanwender hergestellt. In der Praxis des EuGH ist das vollkommen klar. Das Gericht hebt nämlich immer wieder hervor, dass es neben dem Normtext auch auf die Anwendung durch die Rechtsprechung ankommt: „Nationale Rechtsvorschriften, die die in vorstehender Randnummer genannten Voraussetzungen wörtlich übernehmen ( . . . ) entsprechen grundsätzlich dem Gemeinschaftsrecht, wobei klarzustellen ist, dass auch die Auslegung dieser Rechtsvorschriften den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts entsprechen muss.“58 Dieser vom EuGH betonte gegenstands-konstitutive Anteil praktischer Rechtsarbeit wurde im Gesetzespositivismus nicht nur ausgeblendet, sondern hinter den Fiktionen eines anwendungsbereiten Gesetzes und einer geschlossenen Ordnung der Rechtsbegriffe geradezu versteckt. Das gesetzespositivistische Denken blieb gefangen im „Bann der Wiedererinnerung“, der zwischen Anfangsund Endpunkt einer Entwicklung nichts Neues, keinen schöpferischen Sprung zulässt. Wie der Eichbaum in der Eichel sollen die Prämissen der konkreten Entscheidung in einer auf den Text reduzierten Norm schon vollständig eingeschachtelt und enthalten sein. Die Normativität wurde so zur statischen Eigenschaft einer vorgegebenen Rechtsnorm, konnte nicht als von rechtsstaatlichen Anforderungen her methodisch zu strukturierender Vorgang aufgefasst werden. Erst eine an diesem tatsächlichen Geschehen ansetzende Rechtserzeugungslehre kann den gegenstandskonstitutiven Anteil praktischer Rechtsarbeit theoretisch erfassen. Praktische Rechtsarbeit ist schon im Normalfall schöpferisch, normerzeugend.

312.2 Das juristische Handeln in der Sprache Um zum Recht zu kommen, muss das Gericht den Normtext in Arbeit nehmen. Der „Wortlaut“ als Normtext ist zunächst tatsächlich nichts als Wort. Er zwingt dazu, sich für die Frage nach Recht an ihn zu halten. 253 57 Römer, P., Hans Kelsen und das Problem der Verfassungsinterpretation, in: Abendroth, W. / Blanke, B. / Preuß, U. u. a. Ordnungsmacht?, 1981, S. 180 ff., 198. 58 EuGH, in: NVwZ 2006, S. 555 ff., 556.

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Begreift man Sprache konsequent als eine Praxis59, dann kommt man nicht umhin einzusehen, dass Bedeutungen von Wörtern und Texten nicht auf Gemeinsamkeiten und Allgemeinheiten zurückgeführt werden können, die dem Sprachgebrauch zugrunde liegen und das Verständnis lenken würden. Bedeutungen sind keine Gegenstände. Die sprachliche Bedeutung geht in einer Dynamik wechselseitiger Hypothesenbildung auf, in der nur Ausgangstheorien der Sprecher anleitend wirken; allerdings um den Preis ihrer laufenden Veränderung durch jene „Übergangstheorien“, mit denen sich die Sprecher immer wieder einen Reim auf das Gesagte machen. Das ist die Quintessenz von Donald Davidsons folgerichtiger Auflösung des herkömmlichen Sprachbegriffs60, die sich nahelegt, will man sich nicht um irgendwelcher theoretischen Gespinste und „Luftgebäude“61 willen um die praktischen „Verhältnisse unsrer Sprache“62 herum mogeln. Für das „Sprachvermögen“ aber, d. h. für „die Fähigkeit zur sprachlichen Kom- 254 munikation“, die „in der Fähigkeit besteht, sich verständlich zu machen und zu verstehen“, bedeutet die Einsicht in Sprache als Praxis nichts anderes, als dass wir „keinen erlernbaren, gemeinsamen Kern widerspruchsfreien Verhaltens ausfindig“ machen können, „keine gemeinschaftlichen Regeln, keine tragbare Interpretationsmaschine, die so eingestellt ist, dass sie die Bedeutungen beliebiger Äußerungen ausspuckt.“63 Wenn man Bedeutung haben will, muss man sie sich machen. Und wenn man will, dass sie zum gemeinsamen Bestand und zur allgemeinen Richtlinie der jeweiligen Gemeinde von Sprechern werden soll, dann müsste man sich damit gegen all die anderen durchsetzen können, die sich ihrerseits ihre Bedeutungen machen. Sprache erfährt ihre Form und Prägung durch ihren Vollzug. Die Entscheidung 255 über sie steht mit jeder Frage nach der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke an, da 59 In dem Sinne etwa, in dem Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, 1984, Werkausgabe Bd. 1, § 7 „das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ,Sprachspiel‘“ nennt. Weiter auch Gebauer, G., Die Unbegründbarkeit der Sprachtheorie und notwendige Erzählungen über die Sprache, in: ders. / Kamper, D. / Lenzen, D. / Mattenklott, G. / Wulf, Chr. / Wünsche, K., Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung, 1989, S. 127 ff. Grundsätzlich zur angedeuteten Alternative auch Meyer, M., Formale und handlungstheoretische Sprachbetrachtung, 1976. Rechtslinguistisch zu dieser Frontlinie einer system- oder handlungsorientierten Auffassung von Sprache Busse, D. / Christensen, R. / Jeand’Heur, B. / Müller, F. / Sokolowski, M. / Wimmer, R., Gespräch über Strukturierende Rechtslehre und praktische Semantik, in: Müller, F. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 189 ff., 193 f. u. ö. 60 Siehe Davidson, D., Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Picardi, E. / Schulte, J. (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, 1990, S. 203 ff. 61 Vgl. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, 1984, § 118. 62 Vgl. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, 1984, § 130. 63 Davidson, D., Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Picardi, E. / Schulte, J. (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, 1990, S. 203 ff., 225 f.

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Sprache in ihrem Ausdruck nun einmal nicht ohne Bedeutung zu haben ist und da jede Bedeutung der Äußerung bedarf. Und die Entscheidung über sie steht erst recht dann auf der Tagesordnung, wenn Streit über die Bedeutungen ausbricht. Es kommt dann zum Streit darüber, „welche Bedeutung einem in Rede stehenden Ausdruck zukommen soll.“ Die Kontroverse entzündet sich ebenso an „Konflikten über die Angemessenheit der Bezeichnung für einen Problemverhalt“, wie in „Konflikten über implizite Unterstellungen, über umstrittene Konnotationen“64; und noch über mehr, was dem ihr eigenem Streben nach „sozialem Erfolg“65 förderlich sein mag. Einer der nachhaltigsten unter ihnen ist es zweifelsohne, vor Gericht zu obsiegen. Der Streit ist ein solcher um Sprache. „Der Begriff der Sprache ( . . . ) liegt im Begriff der Verständigung;“66 deshalb ist sie Praxis. Jedenfalls wenn man „Verständigung“ nicht als ein Elysium kommunikativen Friedens begreift noch als das lautere Reich der Gewaltlosigkeit, als das sie die alte Lehre gern darstellt; und auch nicht als einen auf Freiwilligkeit beruhenden Quell von Recht.67 Sprechen ist Handeln. Sprechen und Sprache sind nicht das schmerzfreie Gebiet der Einsicht.68 Sprache ist von Handlungszielen, Strategien, Taktiken und Verantwortlichkeiten durchsetzt. Und wenn sie als fest gegebenes System erscheint, dann deswegen, weil sie durch Erziehung und Korrektur so auferlegt wird, durch „Abrichtung“, wie Wittgenstein sagt.69 256

Praktiker wissen das, es ist Grundlage ihres Tuns und ihres Privilegs. Für die gewissenhafteren unter ihnen ist es zugleich ein Quell des Unbehagens über den Zwang, um des Rechts willen über Sprache entscheiden zu müssen. Die Sprache des Rechts ist kein Hort ,unbefleckter‘ Erkenntnis von Recht aus dem Wortlaut des Normtextes, aus dem Gesetz.70 Recht soll als anerkennenswerte Macht mehr und anderes sein als die Gewalt des Eingriffs71, als Gewalt über Sprache; jedenfalls 64 Stötzel, G., Semantische Kämpfe im öffentlichen Sprachgebrauch, in: Stickel, G. (Hrsg.), Deutsche Gegenwartssprache. Tendenzen und Perspektiven. Jahrbuch 1989 des Instituts für Deutsche Sprache, 1990, S. 45 ff., 45, Fn. 1. 65 Dazu Keller, R., Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, 2. Aufl., 1994, S. 118 f., 138 f. Weiter auch Strecker, B., Erfolgsorientiertes Kommunizieren, in: Heringer, H. J. / Öhlschläger, G. / ders. / Wimmer, R., Einführung in die praktische Semantik, 1977, S. 182 ff. 66 Wittgenstein, L., Philosophische Grammatik. Werkausgabe Bd. 4, 1984, § 140. Siehe auch noch einmal zuvor zur Sprache: „sie ist durch die Sprachhandlungen charakterisiert.“ 67 Vgl. Jhering, R., Der Kampf ums Recht, Neudruck, 1992, S. 34. Dazu Seibert, Th.-M., Zeichen, Prozesse, 1996, S. 62. 68 Barthes, R., Leçon / Lektion, 1980, S. 19 u. 21. 69 Vgl. z. B. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1,1984, §§ 5 u. 6. Gegen eine Kritik, die glaubt, „Wittgenstein rede damit einer zynischen Erziehungsmethode das Wort“, Schulte, J., Wittgenstein, Eine Einführung, 1989, S. 143 ff. 70 Ausführlich zu alledem Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 77 ff.; Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rdnr. 209 ff., 337 ff.

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dann, wenn es nicht als bloßes Faktum der Entscheidung dem sprachphilosophisch bemäntelten Dezisionismus eines „Souveräns über die konkrete Sprachordnung“ dienen soll.72 Doch kann der Jurist seine Entscheidung über die Bedeutung eines Normtexts nicht aus der Sprache normativ begründen. Er kann sie nur praktisch vollziehen. Und legitime Entscheidung statt nackter Sprachgewalt kann daraus nur unter dem Aspekt werden, wie er das tut.73 Wenn Sprache im Konfliktfall nichts anderes ist als der Vollzug der Entscheidung über sie, dann steht die Frage an, wer diese Entscheidung gegen wen trifft74 und was ihm das Recht dazu gibt, sie so und nicht anders zu treffen; es stellt sich die Frage nach der Gewalt über jene, die Juristen, die so zu sprechen gezwungen sind.75 Die Sprache als solche ist nämlich überfordert, wenn man ihr aufbürdet, aus dem tatsächlichen Prozess der Erzeugung von Recht eine bloße Erkenntnis von Bedeutungsgegenständen zu machen. Sprache funktioniert allein als Vorgang der Verständigung. Daher kann man Normativität nicht aus ihr beziehen; man kann sie nur in der Sprache herstellen. Die Praxis des Gerichts ist aktive Rechtserzeugung. Die tragenden Leitsätze 257 einer Entscheidung sind nie dem Gesetz oder seiner Bedeutung schlicht „entnom71 Grundsätzlich zur Differenzierung Arendt, H., Macht und Gewalt, 1970. Für das Recht: Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 8, 99 f. Ausführlich: Müller, F., Recht – Sprache – Gewalt, 1975. 72 Allgemein sieht dies etwa Muhr, P., Der Souverän über die konkrete Sprachordnung. Bemerkungen zu Kripkes elementarer Darstellung des Problems des Regelfolgens und des Arguments gegen private Sprachen in Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, 1989, S. 88 ff. mit ausdrücklicher Anknüpfung an Carl Schmitt als einzig bleibender Konsequenz aus dem Fundamentalskeptizismus Kripkes und der damit einhergehenden Unmöglichkeit der Rechtfertigung jeglicher Sprache aus ihr: „( . . . ) das skeptische Paradox (ist) nur dann auflösbar, wenn es innerhalb einer Sprachgemeinschaft genau eine Person gibt, die über alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft verfügt, indem sie bestimmt, welche Handlungen Anwendungen welcher Regeln sind. Die Verfügungsgewalt über das Sprachspiel ist dann gegeben, wenn diese Person der Souverän des jeweiligen Sprachspiels, stets in der Lage ist, ihre Entscheidungen zu exekutieren und notfalls dafür den Ausnahmezustand auszurufen. Die Korrektheit von Regelfolgen ist daher nicht eine Angelegenheit der Übereinstimmung innerhalb der Sprachgemeinschaft als ganzer, sondern entspringt der Verfügungsgewalt des Souveräns über die jeweilige konkrete Sprachordnung.“ Ebd., S. 89 f. – Apologeten einer sprachlichen „Kompetenzkompetenz“ der Juristen mögen sich hier die Hände reiben. Sie sollten aber wissen, in welche Gesellschaft sie sich damit begeben. Bilder von „furchtbaren“ Richtern, die Angeklagte niederbrüllen, stellen sich nicht von ungefähr ein. Wie wenig dies bewältigte Vergangenheit ist zeigt Forgó, N., Pathogenese einer Methodologie, in: Juridicum 2, 1995, S. 30 ff.; sowie Somek, A. / ders., Nachpositivistisches Rechtsdenken. Inhalt und Form des positiven Rechts, 1996, S. 271 ff. 73 Siehe das Resümee bei Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 173. 74 Zum Zusammenhang von Sprache und Person hier Gebauer, G., Die Unbegründbarkeit der Sprachtheorie und notwendige Erzählungen über die Sprache, in: ders. / Kamper, D. / Lenzen, D. / Mattenklott, G. / Wulf, Chr. / Wünsche, K., Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung, 1989, S. 127 ff. 75 Grundsätzlich dazu hier Bourdieu, P., Was heisst Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, 1990, v. a. S. 71 ff.

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men“. Das Formulieren eines Leitsatzes ist ein Gestaltungsakt. Der Leitsatz als eine vertretbare Interpretation des Normtextes neben anderen hat nicht den fraglosen Geltungsanspruch einer objektiv vorgegebenen Größe. Während das alte Rechtserkenntnismodell den Konflikt der Interpretationen hinter einer scheinbar objektiven Bedeutung des Normtextes verstecken will, kann die Rechtserzeugungsreflexion den Sprachkonflikt und die in der Entscheidung steckende Gewalt76 sichtbar machen. Nur so kann diese den gewaltenhemmenden Argumentformen der juristischen Methodik unterworfen werden. Man sollte nicht lediglich die Oberflächenphänomene des Gesetzespositivismus korrigieren, sondern lieber sein Grundaxiom überwinden. Dieses liegt in der Annahme, dass sowohl die Rechtsnorm als auch die Einheit der Rechtsordnung im ganzen objektiv verfügbar seien.77 Dort, wo Kelsen meinte aufhören zu müssen, beginnt für eine nachpositivistische, in den Augen der Reinen Rechtslehre „unreine“ Theorie erst die Arbeit. Das vom positivistischen Geschlossenheitsdogma ausgegrenzte oder hinter rhetorischen Fassaden versteckte Problem der Rechtsproduktion rückt ins Zentrum. Diese kreative Arbeit muss von rechtsstaatlichen Anforderungen her strukturiert werden. 258

Als Gegenstand juristischer Textarbeit kommt also nicht die Bedeutung in Betracht. Sie steht erst am Ende juristischer Arbeit, ist nicht deren Voraussetzung. Gegenstand ist vielmehr das gesetzliche Textformular, die Zeichenkette. Nur um den Abstand zu den metaphysischen Implikationen der herkömmlichen Lehre zu markieren, wird hier gelegentlich von der „Textgrundlage“ der Rechtsarbeit gesprochen; aber entscheidend ist nicht die Terminologie, sondern das damit verknüpfte Verschieben der rechtstheoretischen Fragestellung. Wenn nun die Zeichenkette als Gegenstand der Rechtsarbeit bestimmt wird, ist damit in keiner Weise gesagt, dass dem vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext noch keine sprachliche Bedeutung zukäme. Das wäre nicht nur contraintuitiv, man könnte dann die Zeichenketten des positiven Rechts auch gar nicht als solche erkennen.78 Normtexte sind keine bedeutungsleeren Zeichen. Sie haben in der Situation juristischer Entscheidung im Gegenteil eher zu viel als zu wenig Bedeutung. Mit dem Normtext wird eine große Anzahl von Verwendungsweisen verknüpft, die er in den Konfliktfall mitbringt. Jede der streitenden Parteien hat eine recht dezidierte Vorstellung davon, was der fragliche Normtext für ihr Anliegen, ihre Interessen „sagt“ oder „bedeutet“. Es gibt außerdem meist eine Mehrzahl dogmatischer Bedeutungserklärungen in der Literatur und eine Reihe von gericht76 Vgl. zur Problematisierung dieser Gewalt Müller, F., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 14 und öfter. 77 Müller, F., Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 437 f. 78 Somek, A., Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, S. 59, Fn. 284 und ders. / Forgó, N., Nachpositivistisches Rechtsdenken. Inhalt und Form des positiven Rechts, 1996, S. 36, allerdings unter Verkennung der Position der Strukturierenden Rechtslehre zu diesem Problem.

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lichen Vorentscheidungen. Dazu kommen die mitgebrachten Verwendungsweisen aus der Rechtstradition, der Entstehungsgeschichte, der „Alltagssprache“ und der juristischen Fachsprache. Manche von ihnen, einschließlich die der Gerichte und der Literatur, schließen einander aus. Mitgebracht vom Normtext in die Entscheidungssituation wird also nicht „die Bedeutung“, sondern ein Konflikt um Bedeutungen. Und genau diesen muss der Richter am praktischen Fall entscheiden.

312.3 Die Rechtsnorm als Ergebnis juristischen Handelns Was gewinnt man mit diesem Übergang von der vermeintlich objektiv vorgegebenen Bedeutung zum tatsächlichen Konflikt um die Bedeutung des Textes? Zunächst ist mit der realistischen Einschätzung der Leistung des Normtextes die 259 Stelle sichtbar gemacht, an welcher sich die eigene Intentionalität des Rechtsarbeiters in den Text des Rechts einschreiben kann. Er als der Dritte entscheidet und verantwortet diese Handlung. Aber hier ist Vorsicht angebracht: „Wäre ich bei der Übernahme einer Verantwortung, beim Treffen einer Entscheidung aktiv, dann würde ich mir die Verantwortung einfach aneignen: Es ist meine Entscheidung, es ist meine Verantwortung. Und wenn sie meine ist, folgt daraus, dass sie meine eigene Möglichkeit entfaltet. Wenn eine Entscheidung und eine Verantwortung schlicht das entfalten, was mir möglich ist, dann handelt es sich weder um eine Verantwortung noch um eine Entscheidung. Die Entscheidung darf nicht folgen, darf nicht einfach ein Programm entfalten. Damit eine Entscheidung eine Entscheidung ist, muss sie das Programm unterbrechen oder mit ihm brechen, sie muss mit der einfachen Entwicklung oder Entfaltung einer Möglichkeit brechen.“79 Diese als Sprachnormierung begriffene Einschreibung kann keiner geschlossenen Regeldetermination unterworfen werden, sondern nur einer Anzahl relativer Bindungen aus dem Rechtsstaatsprinzip und aus anderen methodenrelevanten Normen. Der Rechtsarbeiter vollzieht weder die Erkenntnis einer objektiv vorgegebenen Bedeutung, noch trifft er eine Entscheidung aus dem normativen Nichts. Und ob er seine Aufgabe angemessen löst, ist nicht an einer objektiven Erkenntnisinstanz zu messen. Diese Frage ist vielmehr an den Standards einer sozialen Praxis zu bewerten, ohne in dieser Bewertung ganz aufzugehen. An die Stelle des herkömmlichen Bildes von Rechts“anwendung“ tritt also nicht 260 einfach eine freie und autonome Entscheidung des Richters. Eine Entscheidung treffen bedeutet: „Dass wir dabei nicht aktiv sind, sondern passiv. Und ich möchte den Begriff Verantwortung ( . . . ) von den Begriffen Handlung, Freiheit, Initiative usw. trennen. ( . . . ) Diese Position wendet sich gegen die Autonomie, dagegen, dass man sich selbst sein Gesetz gibt. Wir übernehmen Verantwortung in einer 79 Derrida, J., Als ob ich tot wäre, 2000, S. 39 f. Vgl. zum Begriff der Entscheidung grundlegend Derrida, J., Politik der Freundschaft, 2000, S. 15, 22, 38 f., 48, 55, 76, 78, 92, 103 ff., 117, 146, 149 f., 154, 180 f., 183, 248, 266 f., 277, 295 f., 314.

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Situation der Heteronomie, d. h. in dem, was ich Leidenschaft nennen würde, im aktiv-passiven Gehorsam gegenüber dem Gesetz des anderen. Dies bedeutet, dass die Entscheidung – und wir können Verantwortung nicht ohne Entscheidung denken – nichts Aktives ist. Nun, für einen Philosophen ist dies schwer zu schlucken: eine Entscheidung, die die Entscheidung des anderen wäre und eine passive Entscheidung. Aber ich möchte behaupten, dass es so etwas wie eine aktive persönliche Entscheidung nicht gibt und das Rätsel der Verantwortung in dieser Aporie begründet liegt: Eine Entscheidung ist etwas Passives in einem bestimmten Verständnis von Passivität, etwas, das einem aufgetragen ist.“80 261

Der Ort, an dem die Untersuchung ansetzen muss, ist nicht eine von den überlieferten Anforderungen des Positivismus diktierte Theorie sprachlicher Bedeutung, sondern die praktische semantische Tätigkeit der Juristen. An die Stelle illusionärer Bindungen, die das richterliche Sprechen abschließend determinieren sollen, tritt eine wirkliche Verantwortung. Im Rahmen einer Beobachtung zweiter Ordnung kann die sprachtheoretische Reflexion neben ihrer kritischen dann auch eine konstruktive Funktion entfalten.81 Die kritische führt zunächst zu der Einsicht, dass weder der Gesetzgeber noch der Normtext die Entscheidung eines konkreten Streitfalls ganz determinieren können. Der Richter wird als der Dritte zur entscheidenden Instanz. In der semantischen Praxis seines Sprachhandelns kann die Reflexion Ansatzpunkte und Strukturen einer Verantwortung sichtbar machen, die nicht einfach subjektiv angeeignet werden kann.

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Die Entscheidung wird getroffen „Im Namen des Volkes“. Das heißt, seine eigene Entscheidung gibt der Richter im Namen eines anderen: „Prinzipiell ist dies Unsinn, man kann nichts im Namen des anderen geben. Was man geben kann, gibt man prinzipiell nur im eigenen Namen. Wenn es dennoch möglich und notwendig ist, im Namen des anderen zu geben und diese Verantwortung zu übernehmen, bedeutet dies – und was ich jetzt sagen werde, mag sich sehr sonderbar und mit dem gesunden Menschenverstand äußerst unvereinbar anhören –, die Verantwortung, die wir übernehmen oder die wir übernehmen wollen, ist immer die Verantwortung für den anderen. Dies ist das Schwierigste, was es zu tun gibt. Wenn ich Verantwortung in meinem Namen für mich übernehme, und da ich nicht identisch mit mir bin, ich bin mir nur angewendet, dann bedeutet, die Verantwortung für mich selbst zu übernehmen, dass ich nach dem Gesetz eines anderen in mir handle.“82 80 Derrida, J., Als ob ich tot wäre, 2000, S. 39. Vgl. zum Begriff der Entscheidung grundlegend die ausführliche Auseinandersetzung Derridas mit der Position von Carl Schmitt, in: Derrida, J., Politik der Freundschaft, 2000, Kap. 4, 5 und 6. 81 Vgl. dazu am praktischen Beispiel der Zusammenarbeit von Rechtswissenschaftlern und Sprachwissenschaftlern auch Müller, F. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989. 82 Derrida, J., Als ob ich tot wäre, 2000, S. 37. Das Problem Eigenname / Name und der Zusammenhang zur Verantwortung ist auch ein durchgängiges Thema in Derrida, J., Politik der Freundschaft, 2000, S. 23, 102, 106, 110, 115, 129, 255, 306, 310, 338 ff., 356, 388 f.

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Diese Verantwortung, die sich nicht einfach aneignen lässt, ist schwierig. Aber sie wird dem Richter von außen auferlegt, schon durch die Zwänge des Verfahrens und die darin vorgebrachten Argumente; verbunden mit der Pflicht, die Entscheidung zu begründen, im Namen des Volkes. Daran zeigt sich, dass eine Beobachtung zweiter Ordnung die Rechtsarbeit nicht 263 etwa bestätigend verdoppelt, sondern den Ansatzpunkt wirklicher Verantwortung im juristischen Handeln erst sichtbar machen kann. Die unfruchtbare Alternative von Positivismus und Dezisionismus, von Auslegungsrhetorik und freirechtlicher Praxis kann damit überwunden werden. In der Diskussion um die richterliche Verantwortung hatte die herkömmliche Lehre zwei Bereiche unterschieden: einmal den der Bedeutungserkenntnis, wo der Richter auf den passiven Vollzug des Gesetzessinns beschränkt sein soll. Zum anderen den des „Richterrechts“, worin der Richter angeblich Prinzipien erkennt und diese dann genauso mechanisch anwendet wie vorher die Normtexte. Eine Rechtserzeugungsreflexion kann diese „Zweiweltenlehre“ durch eine genauere Problemstellung überwinden. Der Richter ist Rechtsetzer, aber Rechtsetzer zweiter Stufe.83 Das heißt, die Rechtsnorm ist ihm nicht vorgegeben, sie wird von ihm hergestellt. Aber er muss sie dem vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext plausibel zurechnen können. Darin liegt die Geltungsanforderung des Normtextes, die auf dem Weg über die Gesetzesbindung und andere Vorschriften eine richterliche Dienstpflicht darstellt.84 Geltung ist etwas, „das dem ,geltenden Recht‘, das heißt: der Normtextmenge (der Gesamtheit aller Normwortlaute in den Gesetzbüchern) zugeschrieben wird. Die Geltungsanordnung besteht darin, Rechtspflichten zu erzeugen: gegenüber den Normadressaten im allgemeinen darin, sich in ihrem Verhalten, soweit die Normtexte für dieses einschlägig erscheinen, an diesen verbindlich zu orientieren; und gegenüber den zur Entscheidung berufenen Juristen im Sinn einer Dienstpflicht, diese Normtexte, soweit für den Entscheidungsfall passend, zu Eingangsdaten ihrer Konkretisierungsarbeit zu machen, sie also für das Erarbeiten einer Rechts- und einer Entscheidungsnorm tatsächlich heranzuziehen und methodisch korrekt zu berücksichtigen“.85 Obwohl auch der Richter im Europarecht die Rechtsnorm selbst herstellen muss, ist er bei dieser Arbeit einer Verantwortung unterworfen, die durch methodenbezogene Normen im Primärrecht begründet ist und von Rechtstheorie und juristischer Methodik formuliert werden kann. Vgl. zum Problem des Eigennamens außerdem noch Derrida, J., OTOBIOGRAPHIEN – Die Lehre Nietzsches und die Politik des Eigennamens, in: Derrida, J. / Kittler, F., Nietzsche – Politik des Eigennamens, 2000, S. 7 ff., sowie Derrida, J., Passionen. „Die indirekte Opfergabe“, in: ders. Über den Namen, 2000, S. 15 ff. Vgl. zum Problem des Handelns im Namen des Gesetzes auch Stolleis, M., Im Namen des Gesetzes, in: Dreier, H. (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, 2005, S. 33 ff. 83 Vgl. zu diesem Stichwort als Kennzeichnung des von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelten Modells: Sendler, H., Richterrecht – rechtstheoretisch und rechtspraktisch, in: NJW 1987, S. 3240 ff., 3240. 84 Vgl. Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 51. 85 Ebd.

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3 Strukturmodell

Eine Rechtserzeugungsreflexion leistet für den Richter scheinbar weniger als eine Rechtserkenntnislehre. Sie formuliert seine Verantwortung. Die Rechtserkenntnislehre dagegen begrenzt und verendlicht das, was ein Richter leisten muss, auf die einzige Aufgabe korrekter Erkenntnis. Das ist überschaubar. Andernfalls ist Verantwortung unendlich weit entfernt und gleicht einem Gespenst.86 Aber in diesem scheinbaren Mangel der neuen Sichtweise liegt ein Gewinn: „Ich muß also einem Gespenst gehorchen, und die Entscheidung findet statt, während ich unter dem Gesetz oder vor dem Gesetz des anderen stehe, leidenschaftlich aktiv und passiv. ( . . . ) Und selbstverständlich ist eine begrenzte oder endliche Verantwortung eine Unverantwortlichkeit. Sobald man durch ein bestimmendes Urteil weiß oder zu wissen glaubt, was die eigene Verantwortung ist, gibt es keine Verantwortung. Damit eine Verantwortung eine Verantwortung ist, muß man, sollte man wissen, was immer man wissen kann. Man muß versuchen, das Maximum zu wissen, doch der Moment von Verantwortung oder Entscheidung ist ein Moment des Nicht-Wissens, ein Moment jenseits des Programms. Eine Verantwortung muß unendlich sein und jenseits jeder theoretischen Gewissheit und Bestimmung.“87 Die Rechtserzeugungsreflexion kann dem Richter seine Verantwortung nicht abnehmen. Doch kann sie helfen, das erreichbare Maximum zu wissen. Die Entscheidung verschwindet nicht in diesem Wissen; aber ohne dieses Wissen ist es keine verantwortliche Entscheidung.

265

Wenn man mit der Tradition von der im Gesetz vorgegebenen Rechtsnorm ausgeht, verdeckt man das Gewicht der Entscheidung. Tatsächlich vorgegeben ist aber nicht die Rechtsnorm, sondern sind der legislative Normtext und der zur Entscheidung vorgelegte Sachverhalt. Ausgehend von dessen Elementen wählt der Richter unter Zuhilfenahme seines trainierten Vorverständnisses88 Normtexthypothesen89 aus der Menge der in den amtlichen Sammlungen veröffentlichten Vorschriften aus. Diese Hypothese verweist dabei schon auf einen bestimmten Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit, den Sachbereich: die Menge aller empirischen Gegebenheiten, von denen anzunehmen ist, dass sie mit der Vorschrift in Zusammenhang stehen. Aber erst nach einer Verarbeitung aller Sprachdaten des Normtextes kann der Richter mit Hilfe des so erstellten Normprogramms die Teilmenge empirischer Daten auswählen, der normative Bedeutung zukommt, und die m. a. W. den Normbereich bilden. Erst damit ist als Zwischenergebnis der Konkretisierung die aus 86 Vgl. zur Figur des Gespenstes grundlegend Derrida, J., Politik der Freundschaft, 2000, S. 20, 68, 111 f., 122, 182 f., 187, 190, 197, 258, 359 ff., 384, 390 sowie Derrida, J., Marx ,Gespenster‘, 1995. 87 Derrida, J., Als ob ich tot wäre, 2000, S. 41 f. Vgl. zum Begriff der Verantwortung außerdem noch Derrida, J., Politik der Freundschaft, 2000, S. 66, 68 f., 71 f., 84, 105 f., 108, 252, 296, 297, 305 ff., 309 f., 312, 316, 337 ff., 354, 356, 368, 395. 88 Vgl. dazu Müller, F., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 133 ff., 136 ff. 89 Vgl. dazu Müller, F., Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 264 f.

312 Die Rechtserzeugungspraxis

205

Normprogramm und Normbereich zusammengesetzte allgemeine Rechtsnorm hergestellt. Erst mit ihr steht der Obersatz einer Subsumtion fest und kann der Vorgang einsetzen, den der Gesetzespositivismus allein beschrieben hat, d. h. die Rechtsnorm wird zur Entscheidungsnorm (zum Tenor) individualisiert. Normativität ist so nicht mehr die vorgegebene statische Eigenschaft eines Tex- 266 tes, sondern wird als praktischer Vorgang begreifbar. Den in Gesetzessammlungen veröffentlichten Normtexten kommt „Geltung“ zu, d. h. sie sind für den Rechtsarbeiter als Eingangsdatum und als Zurechnungsgröße verbindlich. Normativität als die konkret verbindliche Regelung sozialen Lebens kommt in dieser Sicht erst den im Fall geschaffenen Rechtsnormen zu. ,Normativität‘ heißt die dynamische Eigenschaft der als sachgeprägtes Ordnungsmodell aufgefassten Rechtsnorm, die ihr zuzuordnende Wirklichkeit zu beeinflussen (konkrete Normativität) und dabei durch diesen Ausschnitt von Realität selbst wieder beeinflusst und strukturiert zu werden (sachbestimmte Normativität).90 Die Normstruktur als Wissenselement der Entscheidung folgt aus der Verallgemeinerung des praktischen Vorgehens der Gerichte. „Normativ“ heißt dabei all das, was dem Entscheidungsprozess Richtung gibt: alle Elemente, die nicht entfallen können, ohne dass der Fall anders entschieden würde. Diese lassen sich zu zwei Gruppen zusammenfassen: einmal die primär sprachlich vermittelten Daten aus Normtexten und anderen Texten und zum anderen die sekundär sprachlich vermittelten Daten über Zusammenhänge der Wirklichkeit. „Normstruktur“ bezeichnet den Zusammenhang zwischen den Bestandteilen dieser Rechtsnorm:91 „Normprogramm“ heißt das aus den primären Sprachdaten gebildete Ergebnis der Interpretation der benützten Texte. „Normbereich“ ist im Unterschied zum dogmatischen Begriff des Schutzbereichs ein strukturell zu bestimmender Begriff, der sich auf alle die Normativität mitkonstituierenden Sachbestandsteile der Norm bezieht. Während der „Sachbereich“ die Gesamtheit der anfänglich zur Fallerzählung assoziativ eingeführten Tatsachenhypothesen bezeichnet und der „Fallbereich“ einen arbeitsökonomisch verengten Ausschnitt daraus darstellt, wird der Normbereich mit Hilfe der wertenden Perspektive des Normprogramms aus Sach- bzw. Fallbereich gebildet.92 Das noch herrschende Verständnis der Rechtsnorm, die als fertiger Befehl er- 267 scheint, verwechselt Norm und Normtext. Der Normtext kann mit seiner Signalwirkung die Konkretisierung anregen und mit seiner Grenzwirkung die Schranken zulässiger Konkretisierung aufzeigen helfen, aber er kann die normative Anweisung nicht bereits substantiell enthalten. Entgegen der positivistischen Annahme einer bloßen Erkenntnis vorgegebener Bedeutung kann der Text nicht verlässlicher Gegenstand juristischer Erkenntnis sein, sondern – auf verfassungsrechtlich ausgezeichnete Weise – die Konstruktion der Rechtsnorm beeinflussen. Die Rechts90 91 92

Ebd., S. 256 ff. Ebd., S. 250 ff. Ebd., S. 234 ff.

206

3 Strukturmodell – 32 Legitimationsstruktur

norm ist auf eine zweifache Weise mehr als ihre Sprachfassung. Auf der Achse Norm – Wirklichkeit heißt die Unterscheidung von Norm und Text, den Normbereich nicht als Gegenpol oder Grenze der Rechtsnorm zu behandeln, sondern als ihren Bestandteil. Auf der Achse Norm – Fall wird mit der Unterscheidung von Norm und Normtext die Entscheidung sichtbar, die der Positivismus hinter der rhetorischen Fassade sprachlich vorgegebener Bedeutung verstecken wollte. Die Rechtsnorm erscheint nicht länger als der sichere Ausgangspunkt juristischen Handelns. Sie verwandelt sich vielmehr in dessen lege artis zu konstruierendes Ziel. Jede Umsetzung des geltenden Rechts ist unvermeidbar auch dessen Verschiebung, Anreicherung, Komplizierung. Aber eine verantwortliche Umsetzung ist ein Gegenzeichnen des vom Parlament geschaffenen Textes. Gegenzeichnen heißt, „mit meinem Namen gegenzuzeichnen, aber in einer Weise, die dem anderen treu sein sollte. Ich würde wahr nicht falsch gegenüberstellen, sondern wahr im Sinne von Treue verstehen. Ich will etwas hinzufügen, dem anderen etwas geben, aber etwas, das der andere entgegennehmen und seiner- oder ihrerseits, tatsächlich oder als ein Geist, gegenzeichnen kann. Die Allianz also zwischen diesen beiden Gegenzeichnungen ist Anwendung. Man kann niemals sicher sein, dass es geschieht, es gibt kein Kriterium dafür, keine vorgegebene Norm, niemand kann im voraus Regeln, Normen oder Kriterien anfügen.“93 Die Rechtsnorm wird konstruiert, aber nicht beliebig, sondern so, dass sie das Gesetz als Normtext anerkennt. Nur dann ist es die Konstruktion einer Rechtsnorm und damit – in diesem Sinn – Rechtsanwendung.

32 Legitimationsstruktur: Woran ist praktische Rechtsarbeit zu messen? 268

Die Beurteilung der Rechtsarbeit hängt davon ab, was von ihr erwartet wird. Vorhersehbare Rechtssicherheit bzw. Einzelfallgerechtigkeit sind die jeweiligen Endpunkte des juristischen Erwartungshorizonts. Aber das Einlösen dieser Ziele hängt nicht nur davon ab, was politisch und sozial möglich ist, sondern auch davon, was die Struktur der Sprache als Medium des Rechts zulässt. In diesen Grenzen sind Methodenfragen politischer Entscheidung zugänglich. Eine Rechtsordnung kann beispielsweise in ihrer Verfassung Regeln formulieren, welche der Textarbeit der Gerichte Ziele vorgeben und somit auch die eigene Umsetzung mitbestimmen. Eine starke Betonung der Rechtssicherheit würde etwa durch eine Privilegierung von Wortlaut und Systematik methodisch einlösbar; natürlich mit dem Risiko von Formalismus und Versteinerung. Eine Konzentration auf Einzelfall93 Derrida, J., Als ob ich tot wäre, 2000, S. 33. Zum Zusammenhang von Recht, Gerechtigkeit und Treue vgl. auch Derrida, J., Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas, 1999, S. 53. – Die für eine stark fallrechtlich und daneben im heutigen Sinn gesetzesrechtlich geprägte Rechtsordnung formulierte Methodik von Du Plessis, L., Re-Interpretation of Statutes, 2002, baut auf dem hier entfalteten strukturierenden Konzept auf.

321 Vom „Auslegungsziel“ zu den methodenbezogenen Normen

207

gerechtigkeit ließe sich dagegen durch ein besonderes Achten auf Zweckargumente anstreben; natürlich mit dem Risiko mangelnder Vorhersehbarkeit und Steuerungskraft des Rechts. Normative Auslegungsregeln sind dann erfolgreich, wenn sie durch das Fest- 269 legen erreichbarer Ziele dem Anwender ein offenes Orientierungsprogramm bieten. Ein solches Erfolgsmodell stellen die methodenbezogenen Normen aus dem Umkreis des Rechtsstaatsprinzips dar. Von den Gerichten wird eine stabile und voraussehbare Rechtsanwendung verlangt. Hier liegt der Schwerpunkt. Aber um die Gefahr der Versteinerung auszuschließen, liegt ein gewisses, wenn auch kleineres Gegengewicht in dem Erfordernis der Einzelfallgerechtigkeit. Die grundlegenden Vorgaben werden ergänzt durch eine Vielzahl flankierender Einzelregelungen, wie etwa die Garantie wirksamen Rechtsschutzes, die Begründungspflicht der Gerichte und Behörden, die Garantie rechtlichen Gehörs usw. Dieser Komplex methodenbezogener Normen hat sich gerade in der Tradition der Staaten bewährt, welche die Europäische Gemeinschaft bilden. 321 Vom „Auslegungsziel“ zu den methodenbezogenen Normen

Die bisherige europarechtliche Literatur geht nicht von den methodenrelevanten 270 Normen im primären Gemeinschaftsrecht aus. Stattdessen lässt sie sich das Ziel juristischer Textarbeit von den herkömmlichen Auslegungstheorien vorgeben und rechtfertigt dies nur nachträglich durch einen vagen und allgemein gehaltenen Hinweis auf die Gründungsverträge. Typischerweise verläuft dieses Umwandeln eines verfassungsrechtlichen oder politischen Problems in ein theoretisches der Auslegungslehre folgendermaßen: „Ebenso wie im Völkerrecht und im nationalen Recht ist die Auslegungslehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht weithin eine Lehre von den Auslegungsmethoden, also den Mitteln der Auslegung. Die ZweckMittel-Relation ist die wichtigste Struktur dieser Lehre. Bevor man sich mit den einzelnen Methoden auseinandersetzt, ist es daher erforderlich, eine grundsätzliche Entscheidung darüber zu treffen, welches Ziel die Auslegungstätigkeit im Gemeinschaftsrecht verfolgt. Wir haben bisher festgestellt, dass es bei der Auslegung darum geht, den Inhalt bzw. Sinn einer geschriebenen oder ungeschriebenen Norm des Gemeinschaftsrechts zu ermitteln. Nunmehr kommt es darauf an, diesen ,Sinn‘ etwas näher zu umschreiben. Was den Bereich des geschriebenen Gemeinschaftsrechts anbelangt, kommen dafür zwei verschiedene Ansätze in Betracht: der für die Auslegung maßgebende Sinn, den der EuGH zu ermitteln hat, kann zum einen der Sinn sein, den die Gründungsväter ( . . . ) dieser Norm im Zeitpunkt ihres Erlasses beigemessen haben; zum anderen kann auf einen ( . . . ) objektivierten Sinn der Norm aus aktueller Sicht abgestellt werden“.94 Nachdem so die Rechtsproblematik durch die Interpretationslehre ersetzt wurde, erfolgt dann die Wahl für entweder 94 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 61 f.

208

3 Strukturmodell – 32 Legitimationsstruktur

die subjektive oder die objektive Doktrin. Die objektive Schule privilegiert die systematische Auslegung und wird dort zu diskutieren sein. Die subjektive dagegen setzt auf die genetische Konkretisierung.

321.1 Die Auslegungstheorie kann kein Ziel juristischer Textarbeit vorgeben 271

Schon bei der obigen Diskussion der Canones haben sich die Grenzen der herkömmlichen Auslegungslehre gezeigt. Die Arbeit des EuGH mit der Entstehungsgeschichte liefert zwar Argumente, aber niemals den endgültigen und festen Sinn, den die subjektive Doktrin fordert. Und die Verwendung des systematischen Arguments durch den EuGH macht deutlich, dass auch die Einheit des Rechts ihrerseits dem Gleiten des Textsinns ausgesetzt ist, den sie doch beenden sollte. Was ist nun aus diesem Scheitern der klassischen Auslegungslehre zu folgern? Man könnte die Fahndung nach einer festen Bedeutung als Basisgegenstand der Rechtserkenntnis aufgeben und damit das alte Paradigma verlassen. An die Stelle der vergeblichen Suche nach einem letzten Fundament träte dann endlich das praktische und auch praktisch lösbare Problem, das unvermeidliche Gleiten des Sinns zu strukturieren. Dieser Aufgabe einer nachpositivistischen Methodologie will man aus dem Weg gehen, indem man die Grundlagen der herkömmlichen Auslegungslehre neu gruppiert. Mit dem Anspruch sprachwissenschaftlicher Argumentation soll dargetan werden, dass Inhalt und Wort in doppelter Weise differieren95: Einmal drücke das Wort immer nur einen Bruchteil des vorausgehenden Denkens aus, zum andern habe die Sprache im Hinblick auf ihre Praktikabilität eine eigentümliche Unbestimmtheit und Weite. Dies gelte jedoch nur für die Sprache als Möglichkeit, nicht für das gesprochene Wort als Geschehnis. Wenn die objektive Lehre den Bedeutungsreichtum der Sprache als möglichen Sinnträger auf das gesetzte oder gesprochene Wort übertrage, nehme sie eine metonymische Vertauschung vor. Als gesprochenes oder gesetztes Wort sei ein Text nämlich eindeutig.

272

Mit dieser Überlegung ist man nicht einfach zum Ausgangspunkt der subjektiven Lehre zurückgekehrt. Vielmehr geht es diesem Ansatz darum, die Argumentation der objektiven und der subjektiven Lehre zu verbinden. Vermittelnde Positionen in der klassischen Doktrin gehen davon aus, dass die „Sprachstruktur“ allein den Sinn des Normtextes nicht determinieren könne. Hinzutreten müsse vielmehr ein Autor, der ein im Sprachsystem vorgegebenes Schema in einer bestimmten Lage verwendet. Die Bedeutung einer Äußerung ergebe sich dann aus der vom Sprecher verwendeten Sprache und aus dem diesen Verwendungsakt tragenden 95 Vgl. dazu und zum folgenden Haug, W., Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der objektiven Auslegung von Gesetzen, in: DÖV 1962, S. 329 ff., 330 f. Ähnlich die Argumentation bei Roth-Stielow, K., Umwelt und Recht, in: NJW 1970, S. 2057 ff., 2058.

321 Vom „Auslegungsziel“ zu den methodenbezogenen Normen

209

Willen.96 Aus dieser Addition von subjektiver und objektiver Lehre entstehe eine volle und mit sich identische Bedeutung, welche als historisches Faktum unveränderlich sei. Die Möglichkeit der Übersetzung, vor allem auch die einer Auslegung als Rechtserkenntnis scheinen diese feste Bedeutung zu fordern.97 Denn man brauche einen klaren Beurteilungsmaßstab dafür, ob Interpretation und Übersetzung ihren Gegenstand treffen oder verfehlen. Die „volle und mit sich identische“ Bedeutung des konkreten Sprechakts soll 273 also der Auslegung eine substantielle Grundlage verschaffen. Garantiert wird sie hiernach nicht durch einen vorsprachlichen Willen, noch durch die Systematik einer formulierbaren Einheit des Rechts, sondern sie entsteht als das Ergebnis einer additiven Verbindung von Sprache und Willen des Gesetzgebers. Diese situationsbezogene Bedeutung soll durch die Sprache und die Absichten des Autors ein für allemal festgelegt sein und einen unverrückbaren Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung darstellen. Neben der grammatischen Auslegung ist damit die genetische für den vorgegebenen „Inhalt“ des Gesetzes die entscheidende Erkenntnisinstanz, und das vom Gesetzgeber „Gewollte“ kann neben dem „Gesagten“ die Reichweite des Gesetzesbindungspostulats bestimmen.98 Diese Kombination von subjektiver und objektiver Auslegungslehre scheint 274 zunächst Vorteile zu bieten. Denn sie behauptet weder, dass allein die Sprache des Gesetzes noch dass nur der Wille des Gesetzgebers die Bedeutung des Normtextes bestimme. Aber tatsächlich führt sie aus den Aporien der klassischen Lehre nicht heraus. Sie verteilt diese Aporien lediglich gleichmäßig auf zwei Seiten. Das Problem liegt hier bereits in der Gegenüberstellung von „Gesagtem“ und „Gewolltem“, als seien dies getrennte Größen, welche – zusammengezählt – die Bedeutung des Gesetzes ergäben. Tatsächlich lässt sich weder das „Gesagte“ unabhängig vom „Gewollten“ verstehen, noch umgekehrt das „Gewollte“ unabhängig vom „Gesagten“ erkennen oder formulieren. Statt dieser Form von Addition müsste untersucht werden, wie beide Größen im Sprechen bzw. Verstehen real miteinander verbunden sind. Das Nebeneinanderstellen von subjektiver und objektiver Lehre addiert demgegenüber lediglich die Probleme der rein sprachlichen und der rein auktorialen Bedeutungskonzepte. An die Stelle bedeutungstheoretischer Spekulationen über letzte Gründe sollte man etwas anderes setzen. Debatten über das Verhältnis von Autor und Text, von 96 Vgl. zu diesen „vermittelnden“ Lehren die Nachweise bei Mennicken, A., Das Ziel der Gesetzesauslegung, 1970, S. 29 und 58 ff. 97 Vgl. zum Paradigma eindeutiger Übersetzbarkeit als Quelle sprachphilosophischer Verwirrung: Derrida, J., Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: ders., Positionen, 1986, S. 52 ff., 57 f. 98 Vgl. dazu etwa Koch, H.-J. / Rüßmann, H., Juristische Begründungslehre, 1982, S. 188 ff., 210 ff.; Alexy, R., Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 289 ff.; Schlink, B., Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 100 f.; Harenburg, J., Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 294 f.

14 Müller / Christensen

210

3 Strukturmodell – 32 Legitimationsstruktur

Intention und Konvention bleiben abstrakt, solange sie die tatsächlichen semantischen Vorgänge ausklammern. In der gerichtlichen Arbeit ist die Entscheidung über letzte Fundamente durch das Verfahren und seine Argumente aufgeschoben. Diesen Prozess gilt es zu strukturieren. Nicht die Bedeutungstheorie ist der dafür geeignete Ansatz, sondern eben diese gerichtliche Praxis selbst. Die Analyse einer solchen bedarf allerdings eines leitenden Gesichtspunkts, der von Innen, d. h. aus dem fraglichen Handlungszusammenhang stammen sollte. Hier werden die methodenbezogenen Normen als Soll-Größen verwendet, um von dorther den Ist-Zustand der semantischen Praxis zu beurteilen.

321.2 Charakter des Gemeinschaftsrechts 275

Das Auslegungsziel wird häufig aus dem neuartigen Charakter des Gemeinschaftsrechts abgeleitet.99 Entgegen der Ansicht der Traditionalisten sei dieses kein Völkerrecht,100 sondern eine eigenständige Rechtsordnung sui generis.101 Weil dem Völkerrecht primär eine statisch-bewahrende Ordnungsfunktion zukomme, stehe dort die genetische Auslegung mit ihrer Orientierung am Willen der Parteien im Vordergrund. Im Europarecht mit seiner evolutiv-dynamischen Funktion102 für eine entstehende Gemeinschaft müsse die genetische Konkretisierung demgegenüber zurücktreten. Dieses Argument ist aus mehreren Gründen nicht haltbar. Zunächst ist es fraglich, ob der genetische Faktor überhaupt in der Lage ist, zu einem stabilen Willen der Parteien zu führen, der als fester Ausgangspunkt die weiteren Lesarten des Vertrages kontrollieren könnte. Das war schon oben bei der Untersuchung der Methodenliteratur zur Leistungsfähigkeit der genetischen Konkretisierung zu verneinen gewesen. Zudem hat sich aber auch die Theorie der Auslegung im Völkerrecht selbst gewandelt. Mit zunehmender Abhängigkeit der Staaten voneinander erfolgt seit längerem ein Übergang103 vom Koexistenz-Völkerrecht zum KooperationsVölkerrecht104 und damit auch in der Auslegung ein Wandel hin zu einer dyna99 Vgl. dazu Pechstein, M. / Drechsler, C., Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 91 ff., 92 ff. 100 Zur philosophischen Reflexion des Entwicklungsstands im Völkerrecht vgl. Habermas, J., Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?, in: ders., Der gespaltene Westen, Frankfurt am Main 2004, S. 113 ff. 101 Vgl. dazu die Nachweise bei Schweitzer, M. / Hummer, W., Europarecht, 1995, Rn. 75 m. w. N. 102 Vgl. dazu Ukrow, J., Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 93 ff. m. w. N. 103 Vgl. dazu Bleckmann, A., Die Aufgabe einer Methodenlehre des Völkerrechts, 1978, S. 11 ff.; ders., Die Entwicklung der Allgemeininteressen aus den Grundrechten der Verfassung, 1991, S. 23 ff.; ders., Grundprobleme und Methoden des Völkerrechts, 1982, S. 320 ff. 104 Vgl. zu dieser Entwicklung grundlegend: Habermas, J., Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, in: ders., Die Einbeziehung des Ande-

321 Vom „Auslegungsziel“ zu den methodenbezogenen Normen

211

misch-evolutiven Haltung.105 Der Internationale Gerichtshof geht in Befolgung der Interpretationsregel des Art. 31 WVRK106 zu einem systematisch und teleologisch entwickelten Textverständnis über,107 das die Metapher des Parteiwillens nur noch bestätigend verwendet. 321.3 Der EuGH orientiert sich an den methodenbezogenen Normen Die Entwicklung des Auslegungsziels auf dem Weg über den Charakter des Ge- 276 meinschaftsrechts wird auch dadurch erschwert, dass man einen einheitlichen Charakter kaum bestimmen kann. Deswegen ist der EuGH nicht einfach ein Gericht mit einer einzigen präzisen Aufgabe. Er stellt vielmehr ein Bündel von Gerichten dar, das neben seiner Rolle als Verfassungsgericht der Gemeinschaft auch die eines Verwaltungsgerichts, Disziplinargerichts und Zivilgerichts ausfüllt.108 Der EuGH weist deswegen in seinem methodischen Vorgehen eine große Bandbreite auf. Die Zuordnung seiner Methodik ist dementsprechend streitig. Ein Teil der Literatur vertritt die Ansicht, der EuGH folge einem völkerrechtlichen Methodencanon,109 der allerdings entsprechend den Gemeinschaftszwecken modifiziert werde.110 Der ren, 1996, S. 192 ff., der vom Übergang des Völkerrechts (aus dem Naturzustand zwischen den Staaten) zum Weltbürgerrecht spricht (S. 213 u. ö.). 105 Vgl. dazu Bernhardt, R., Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge insbesondere in der neueren Rechtsprechung internationaler Gerichte, in: ZaöRV 40 (1963), S. 1 ff., 14 ff.; Müller, J., Vertrauensschutz im Völkerrecht, 1971, S. 135 ff.; Hilf, M., Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973, S. 30 ff.; Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 133. 106 Vgl. dazu Müller, J., Vertrauensschutz im Völkerrecht, 1971, S. 129; Köck, H. F., Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, 1976, S. 92 f.; Verdross, A. / Simma, B., Universelles Völkerrecht – Theorie und Praxis, 1984, § 776. 107 Vgl. dazu den Internationalen Gerichtshof im E.G.-Streit, in: I. C. J. Report 1978, S. 33, wo ein griechischer Vorbehalt im Lichte der Evolution der Regeln des Völkerrechts gelesen wird. Ähnlich argumentiert der Internationale Gerichtshof im Namibia-Gutachten, in: I. C. J. Report 1971, S. 31 f. Grundsätzlich dazu: Ipsen, H. P., Völkerrecht, 1990, § 11; Herdegen, M., Auslegende Erklärungen von Gemeinschaftsorganen und Mitgliedstaaten zu EG-Rechtsakten, in: ZHR 155 (1991), S. 52 ff., 58; Bleckmann, A., Grundpobleme und Methoden des Völkerrechts, 1982, S. 255 ff., 274; Amend, G., Auslegungserklärungen zu bilateralen völkerrechtlichen Verträgen, 1974, S. 56; Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 85. 108 Vgl. Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 15 ff. 109 Vgl. Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: Studien zum europäischen Gemeinschaftsrecht, 1986, S. 1 ff.; Oehmichen, A., Die unmittelbare Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Verträge der EG, 1992, S. 125; Valentine, D. G., The Court of the European Communities, Band I: Jurisdiction and procedure, 1965, S. 370 ff.; Kaiser, J., Zur Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des EWG-Vertrages auf Gruppen von Kartellverträgen, 1964, S. 17, 21; Bisdom, L., Les Principes d’Interpretation suivis par la Cour de Justice, in: Kölner Schriften zum Europarecht 1, 1965, S. 188. 110 Vgl. Bleckmann, A., ebd., S. 13 ff.; ders., Die Rolle der richterlichen Rechtschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Lüke, G. / Ress, G. / Will, M. R. (Hrsg.), Gedächtnis14*

212

3 Strukturmodell – 32 Legitimationsstruktur

EuGH-Richter Kutscher hebt dagegen überzeugend hervor, dass der EuGH grundsätzlich die gleichen methodischen Instrumente anwendet wie die nationalen Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten111 und nennt dafür neben den Canones die teleologische und rechtsvergleichende Argumentation.112 Allerdings wird überwiegend113 ein spezifisch europarechtlicher Ansatz vertreten, der vor allem die Unterschiede zu den nationalen Traditionen betont.114 Dieser Streit und die vorgebrachten Argumente zeigen, dass auf dem Weg über die Zuordnung der Methodik des Gerichtshofs zu einem einzelnen Rechtsgebiet nichts geklärt werden kann. Natürlich verwendet das Gericht in einem dazu passenden Rechtsbereich eine Methodik, die man völkerrechtlich nennen mag.115 Und wie schon gesagt, hat die Auslegungskultur im Völkerrecht in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung auf mehr Kooperation hin genommen. Aber es ist auch richtig, dass der EuGH, wie übrigens auch der IGH, im Rahmen seiner Textarbeit dieselben Canones der Auslegung und dieselben Schlussfiguren116 wie die nationalen Gerichte verwendet. schrift für Léontin-Jean Constantinesco, 1983, S. 61 ff.; ders., Grundprobleme und Methoden des Völkerrechts, 1982, S. 106; Bernhardt, R., Zur Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Festschrift für Hans Kutscher, 1981, S. 17, 20; Bernhardt, R., Das Recht der Europäischen Gemeinschaft zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht, in: Festschrift für Rudolf Bindschedler, 1980, S. 229 ff., 237. 111 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. 6; Krück, H., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann. C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, 1991, Art. 164, Rn. 53; Ewert, H. A., Der Beitrag des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Entwicklung eines europäischen Sozialrechts, 1987, S. 48; Grabitz, E. / Hilf, M., Kommentar zur Europäischen Union, Stand: 7. Ergänzungslieferung, 1994, Art. 164, Rn. 23. 112 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. 5. 113 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 136. 114 Böhm, R., Kompetenzauslegung und Kompetenzlücken im Gemeinschaftsrecht, 1985, S. 58, 62, 85; Börner, B. B., Die Entscheidungen der Hohen Behörde, 1965, S. 162 ff.; Dumon, F., Die Rechtsprechung des Gerichtshofes: Kritische Prüfung der Auslegungsmethoden, in: Begegnung von Justiz und Hochschule am 27. und 28. 09. 1976, hrsg. vom Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. 83 ff.; Bredimas, A., Methods of interpretation and Community law, European studies in Law, 1978, S. 20, 87 ff.; Bebr, G., Development of judicial Control of the European Community, 1981, S. 860 f.; Waelbroeck, D., in: Mégret, J. (Hrsg.), CEE Commentaire, 2. Aufl., 1992, Art. 164, Rn. 9; Constantinesco, L.-J., Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Band I, 1977, S. 819; Ipsen, H. P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 131; Nicolaysen, G., Der Gerichtshof: Funktion und Bewährung der Judikative, in: EuR 1972, S. 375 ff., 381; Soerensen, M., „Eigene Rechtsordnungen“, in: Festschrift für Hans Kutscher, 1981, S. 415 ff., 432; Herdegen, M., Auslegende Erklärungen von Gemeinschaftsorganen und Mitgliedstaaten zu EG-Rechtsakten, in: ZHR 155 (1991), S. 52; Waelbroeck, D., in: Mégret, J. (Hrsg.), CEE Commentaire, 2. Aufl., 1992, Art. 164, Rn. 23. 115 Vgl. dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 293, m. w. N.

321 Vom „Auslegungsziel“ zu den methodenbezogenen Normen

213

Denn die Verknüpfung zu Kontexten des Gesetzes und deren Komposition zu komplexen Schlüssen ist in jeder Rechtsordnung dieses Typus gleich. Trotzdem muss man der überwiegenden europarechtlichen Einordnungstheorie zugeben, dass der EuGH die herkömmlichen Konkretisierungsinstrumente spezifisch akzentuiert. Ein abstrakter Streit, in welchem alle irgendwie recht haben, ist aber fruchtlos. Deswegen bedarf es zur Klärung der besonderen methodischen Arbeitsweise der europäischen Gerichte eines anderes Bezugspunkts. Nicht aus dem „Wesen“ eines Rechtsgebiets, wohl aber aus den jeweiligen me- 277 thodenbezogenen Normen,117 die für die Arbeit des Gerichts gelten, kann man Unterschiede in der Auslegungskultur erklären. Diese Erkenntnis bahnt sich in dem Streit um die „Wesenszuordnung“ der Methodik des EuGH schon an und bedarf nur noch der Explikation. Denn es besteht Einigkeit darüber, dass der Gerichtshof die klassischen Instrumente der Konkretisierung anwendet; und auch darüber, dass er sie besonders handhabt. Die Ursache dafür wird zwar häufig erwähnt, aber eher beiläufig und ohne ihre Tragweite zu erkennen: Die starke Hervorhebung von Wortlaut, Systematik und objektiv-teleologischem Schluss wurzelt in den normativen Vorgaben über die Ziele des Gemeinschaftsrechts.118 Das Gericht selbst ist hier deutlich: So hat der EuGH beispielsweise hervorgeho- 278 ben, dass unter den methodenbezogenen Normen des Gemeinschaftsrechts erarbeitete Interpretationen zu den Grundfreiheiten nicht auf die Auslegung von Verträgen mit Drittstaaten übertragen werden können, auch wenn diese Abkommen einen gleichen oder sehr ähnlichen Wortlaut aufweisen.119 Denn das Motiv einer „immer engeren Gemeinschaft“ gilt im Verhältnis zu diesen Drittstaaten nicht. Statt dessen muss das Gericht von den normativen Vorgaben des Art. 31 WVRK ausgehen, unter denen die objektiv-teleologische Auslegung keine besonders hervorgehobene Stelle hat. Durch die Verschiedenheit im Gewicht dieser Kontexte kann derselbe Wortlaut eine unterschiedliche Bedeutung gewinnen. Auch in einem Gutachten zum Europäischen Wirtschaftsraum hat der EuGH festgestellt, dass die Interpretation von Abkommen der Gemeinschaft mit Drittstaaten den Ausgangspunkten zu folgen hat, die sich aus den Art. 31 – 33 WVRK ergeben und damit nicht dem Ge-

Vgl. Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 157 ff. Vgl. dazu Groh, T., Methodenrelevante Normtexte im Gemeinschaftsrecht, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, 2004, S. 263 ff. 118 Vgl. dazu Ewert, H. A., Der Beitrag des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Entwicklung eines europäischen Sozialrechts, 1987, S. 195, 197. Ähnlich Cintura, P., L’objectivisme juridique et la Cour de Luxembourg, in: RTDE 1970, S. 272 ff., 281 f.; Slynn, G., The Court of Justice of the European Communities, in: ICLQ 33 (1984), S. 499 ff., 505; der Sache nach auch Rasmussen, H., On Law and Policy in the European Court of Justice. A comparative study in judicial policymaking, 1986, der die von ihm beklagte Akzentuierung der teleologischen Auslegung aus dem „Ever-Closer union“-Motiv des Gemeinschaftsrechts herleitet. 119 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1982, S. 329 ff., 349 (Polydor) und EuGH, Slg. 1982, S. 3641 ff., 3666 (Kupferberg). 116 117

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3 Strukturmodell – 32 Legitimationsstruktur

danken einer gesteigerten Dynamik aus den methodenbezogenen Normen des Gemeinschaftsrechts.120

322 Ist Methodik gesetzlicher Regelung zugänglich?

Wenn in der methodologischen Literatur die Bedeutung dieser Normen nicht immer ausgeschöpft wird, so liegt das an Unklarheiten über deren Verhältnis zu den methodischen Regeln.

322.1 Der Status methodischer Regeln 279

Für die Einordnung methodischer Regeln gibt es drei Möglichkeiten: Es könnten rein subjektive Kunstregeln sein, die nur kraft Vereinbarung gelten, so wie etwa die künstlichen Sprachen im Bereich der Informatik. Es könnte sich aber auch um Regeln handeln, die uns durch die Struktur des Verstehens objektiv vorgegeben sind. Oder sie könnten als „Phänomene der dritten Art“ wie die so genannte unsichtbare Hand des Marktes zwischen den Extremen reiner Subjektivität und reiner Objektivität liegen. Der Charakter methodischer Regeln als Kunstregeln wird vor allem in der an Heidegger anschließenden hermeneutischen Tradition bestritten. An der älteren klassischen Hermeneutik sei demnach zu kritisieren, dass die inhaltliche Frage nach den zu verstehenden Sachproblemen durch die formal-technische Frage nach den Regeln des Verstehens ersetzt werde.121 Dadurch sei das Gewicht zu stark vom Gegenstand auf das Subjekt verschoben worden.122 Diese Theorie will deswegen keine Kunstlehre des Verstehens mit normativem Anspruch sein123, sondern stellt die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen124 des Verstehens. Gadamer for120 EuGH, Slg. 1991, S. 6079 ff., 6108 (EWR) und dazu auch Tomuschat, C., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EWG-Vertrag, 1991, Art. 228, Rn. 50. 121 Vgl. dazu Ehmke, H., Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: Koch, H.-J. (Hrsg.), Juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 485 ff., 491. 122 Vgl. dazu Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 277 und öfter. 123 Vgl. dazu Gizbert-Studnicki, T., Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344 ff., 352 ff. Zum Unterschied von klassischer und „neuer Hermeneutik“, vgl. auch Rottleuthner, H., Hermeneutik und Jurisprudenz, in: Koch, H.-J. (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 7 ff., 10 ff.; Frommel, M., Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, S. 17 ff.; Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung in Strafrecht, 1983, S. 23 ff. und 26 ff. 124 Vgl. dazu Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. XV, der in Bezug auf die Hermeneutik sagt: „Sie fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen möglich?“ Vgl. dazu auch Ehmke, H., Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: Koch, H.-J. (Hrsg.), Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 485 ff., 491; Leicht, R., Von der Hermeneutik-Rezeption zur Sinnkritik in der Rechtstheorie, in: Kaufmann, A. (Hrsg.), Rechtstheorie.

322 Ist Methodik gesetzlicher Regelung zugänglich?

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muliert dies folgendermaßen: „Im Grunde schlage ich keine Methode vor, sondern ich beschreibe, was ist“.125 Das normative Moment lässt sich allerdings auch aus dieser neuen Hermeneutik 280 nicht ausklammern.126 Auch wenn betont wird, dass das Verstehen immer und notwendig von Vorurteilen und Sinnerwartungen des Interpreten abhängig sei, müsse man doch unterscheiden zwischen „wahren Vorurteilen, unter denen wir verstehen“ und falschen Vorurteilen, „unter denen wir mißverstehen“.127 Denn nur im Hinblick auf eine „legitime Bedeutung“128 lasse sich vom Verstehen einer Zeichenkette sprechen. In der Reflexion der neuen Hermeneutik wird also zweierlei deutlich: zunächst, dass Regeln des Verstehens keine Kunstregeln sind, die ohne Rücksicht auf seinen Gegenstand willkürlich festgelegt werden können. Andererseits wird aber auch klar, dass dann, wenn es um Bewertung eines Verstehens als mehr oder weniger legitim geht, eine normative Komponente unverzichtbar ist. Und genau diese Bewertung ist das Problem im Rechtsstreit. Denn dieser entsteht nicht aus einem Mangel, sondern aus einem Überfluss an Verstehen. Beide vor Gericht streitenden Seiten haben das Gesetz auf ihre Weise schon verstanden. Aufgabe des Gerichts ist es zu entscheiden, welche der vorgebrachten Verständnisweisen die bessere ist. Daraus folgt, dass die Regeln juristischer Methodik weder von der reinen Fak- 281 tizität des Verstehens diktiert sind, noch bloße Kunstregeln darstellen. Sie gewinnen vielmehr ihre eigentümliche Verbindlichkeit als „Phänomen der dritten Art“ durch eine doppelte Prägung: einerseits sind sie mitbeeinflusst durch normative Vorgaben. Andererseits finden die von der Praxis unter Berücksichtigung der normativen Vorgaben erarbeiteten Standards ihre Grenze an dem, was der Gegenstand des Sozialen und das Material der Sprache zulassen.

Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis, 1971, S. 71 ff., 73; Hruschka, J., Das Verstehen von Rechtstexten, 1972, S. 10 ff. Allgemein auch Apel, K.-O., Szientismus oder transzendentale Hermeneutik, in: Hermeneutik und Dialektik I. Festschrift für Gadamer, 1970, S. 105 ff. Gegen eine Gleichsetzung von Hermeneutik mit Rechtstheorie und juristischer Methodik auch: Müller, F., Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 241 ff.; Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1983, S. 233, 236. 125 Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 483. 126 Vgl. dazu Schünemann, H.-W., Sozialwissenschaften und Jurisprudenz, 1976, S. 48, der von den Bedingungen für „adäquates Verstehen“ spricht. 127 Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode, 1965, S. 282. 128 Vgl. dazu Gizbert-Studnicki, T., Das hermeneutische Bewußtsein der Juristen, in: Rechtstheorie 1987, S. 344 ff., 354: „Um von der Interpretation zu sprechen, muß man voraussetzen, daß es Bedeutungen gibt, die ,legitim‘ sind, und solche, die keinen Anspruch auf Legitimität erheben können. Ohne den Begriff der legitimen Bedeutung eines Textes kann man gar nicht von der Interpretation reden“.

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3 Strukturmodell – 32 Legitimationsstruktur

322.2 Führen methodenbezogene Normen in ein Paradox? Diese zentrale Rolle normativer Gesichtspunkte für das Begründen einer Grenze richterlicher Interpretationstätigkeit wirft aber die Frage auf, ob eine rechtliche Rückbindung juristischer Methodik überhaupt möglich ist. 282

In der Literatur wird die verfassungsrechtliche Begründung des Rationalitätsmaßstabs praktischer Rechtsarbeit zum Teil verneint: „Die Methode wird so durch eine Normbehauptung und eine aus dieser gezogenen Konsequenz begrenzt. Sie müßte aber umgekehrt gerade dazu dienen, Normbehauptungen im Hinblick auf ihre Richtigkeit zu überprüfen“.129 Die Methode lasse sich nicht durch rechtliche Maßstäbe begrenzen, weil diese vielmehr den Gegenstandsbereich der Methodik bildeten.

283

Dieses Zirkelargument ist aber nicht haltbar. Wenn man Objekt- und Metasprache unterscheidet130, wird deutlich, dass eine Begründung des Rationalitätsmaßstabs juristischer Methodik durch rechtliche Regelung nicht in einen logischen Zirkel führt. Die methodenbezogenen Normen des Rechts sind in Bezug auf die Dogmatik metasprachliche Aussagen. Ihr eigener „lnhalt“ ist Teil der Objektsprache, und seine Gewinnung steht unter den Anforderungen, die von der Metasprache definiert werden. Der Anschein von Zirkelproblemen entsteht hier nur, wenn man abstrakt nach dem Anfang dieses Verhältnisses fragt.131 Aber auch dann führt die verfassungsrechtliche Rückbindung der juristischen Methodik nicht zu einem logischen Zirkel. Man kann nämlich zunächst von einem methodisch nicht gesicherten Vorverständnis des fraglichen Normtextes ausgehen. Erst nach der Formulierung Harenburg, J., Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, S. 267. Vgl. zur Unterscheidung der genannten Sprachstufen: Wank, R., Objektsprache und Metasprache – Geltungsprobleme bei Verfassungen und Rechtsgeschäften, in: Rechtstheorie 1982, S. 465 ff. m. w. N. Zur Diskussion auch Ross, A., On Self-Reference and a Puzzle in Constitutional Law, in: Mind 1969, S. 1 ff.; Raz, J., Professor A. Ross and some Legal Puzzles, in: Mind 1972, S. 415 ff.; Hoerster, N., On Alf Ross’s Alleged Puzzle in Constitutional Law, in: Mind 1972, S. 422 ff.; Hart, H. L. A., Self-referring Laws, in: Festschrift für Karl Olivecrona, 1964, S. 307 ff.; allgemein auch Herberger, M. / Simon, D., Wissenschaftstheorie für Juristen, 1980, S. 226 ff., m. w. N. aus der wissenschaftstheoretischen und logischen Diskussion. 131 Tatsächlich stellt sich das Problem nicht in dieser Abstraktheit, denn der Verfassungstext wird schon formuliert unter Bezug auf bestimmte Standards der Interpretation, im Kontext einer gegebenen und sich entwickelnden Argumentationskultur. Das sieht man besonders deutlich an dem auch von Schlink in Anschlag gebrachten (vgl. Schlink, B., Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 101 ff.) genetischen Konkretisierungselement. In den verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens werden immer wieder Textvarianten im Vorgriff auf bestimmte Verständnisweisen und die Wirkung bestimmter Konkretisierungselemente verworfen oder geändert. Hier werden deutlich schon bestimmte Standards vorausgesetzt, so dass die Auslegung der methodenbezogenen Normen der Verfassung nicht im leeren Raum beginnt. Das Zirkelargument bezieht seine Plausibilität vor allem daraus, dass man so tut, als stünde man vor den Verfassungsnormen und habe noch absolut keine Vorstellung davon, wie mit Rechtstexten umzugehen sei. 129 130

322 Ist Methodik gesetzlicher Regelung zugänglich?

217

einer von diesen Voraussetzungen ausgehenden Methodik ist es möglich, die Auffassung der methodenbezogenen Normen selbst zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.132 In diesem Vorgehen liegt kein logischer, sondern höchstens ein hermeneutischer Zirkel.133

322.3 Ist Rationalität entscheidbar? Die Verzichtbarkeit einer verfassungsrechtlichen Anbindung wird auch noch fol- 284 gendermaßen begründet: „Für die Verpflichtung auf Klarheit, Bestimmtheit und Rationalität juristischer Aussagen braucht ( . . . ) die Methode nicht die Verfassungstheorie und diese nicht den Rechtsstaat zu bemühen; Klarheit, Bestimmtheit und Rationalität sind Bedingungen jeder Erkenntnis, und auch juristische Erkenntnis ist nur um den Preis dieser Bedingungen zu haben“.134 Wenn im Folgenden dann die Maßstäbe juristischer Rationalität aus einem an der Theorie Poppers orientierten Falsifikationsmodell abgeleitet werden135, gewinnt die eben zitierte Aussage eine spezifische Tendenz. Sie will nämlich dem Leser nahelegen, dass die am Gedanken kritischer Überprüfung orientierten Rationalitätsmaßstäbe einer bestimmten Wissenschaftstheorie als „Bedingungen der Möglichkeit juristischer Erkenntnis“136 angesehen werden müssten. Damit wären die Juristen, jedenfalls wenn sie sich um Erkenntnis bemühen, „immer schon“ Kritische Rationalisten. Zunächst fällt an dieser Ableitung des Rationalitätsmaßstabs aus „der“ Wissen- 285 schaftstheorie auf, dass der Begriff „Rationalität“ im Singular auftritt. Dieser Singular wird so verwendet, als stünde sowohl seine eigene Bedeutung wie auch die seines irrationalistischen Gegenteils für jedermann offensichtlich fest. Wenn aber der Begriff Rationalität nicht zur beliebig handhabbaren Schlagwaffe in vordergründigen Polemiken verkommen soll, dann sind hier Differenzierungen erforderlich. Auch aus der Sicht der kritizistischen Wissenschaftstheorie muss man näm132 Vgl. zu einem ähnlichen Problem des konstruktiven Aufbaus einer Ethik: Lorenzen, P. / Schwemmer, O., Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, 1973, S. 16 ff. 133 Vgl. dazu Esser, J., Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1974, S. 116 ff.; Hassold, G., Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes – subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung, in: ZZP 1981, S. 192 ff. 196. 134 Ebd. Dieses Argument wird u. a. aufgenommen bei Chryssogonos, K., Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987, S. 80. Vgl. auch Manici, G., The Role of Rationality in Judicial Argumentation, in: Ferrer-Beltrán, J. / Narváez-Mora, M. (Hrsg.), Law, Politics and Morality: European Perspectives II, 2006, S. 29 ff. 135 Vgl. ebd., S. 96 ff. zum Falsifikationsmodell und 100 ff., zu den einzelnen Instanzen einer Überprüfung. Vgl. zum Ganzen auch Harenburg, J., Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986, Kap. IV, insbes. S. 280 ff. 136 Schlink, B., Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 1980, S. 73 ff., 97. Vgl. auch S. 95 zur Abgrenzung gegenüber der Strukturierenden Rechtslehre.

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3 Strukturmodell – 32 Legitimationsstruktur

lich von einer Rationalität im Plural ausgehen137, von verschiedenen miteinander konkurrierenden Formen. 286

Die dargestellte rechtstheoretische Verwertung dieses Rationalitätsmaßstabs erscheint aber auch aus dem eigenen Blickwinkel der dort „angewendeten“ Wissenschaftstheorie als fragwürdig. Der Kritische Rationalismus behauptet gerade nicht, dass die Entscheidung für sein fallibilistisches Modell der Vernunft mit einem „immer schon“-Argument transzendental begründet werden könne. Mit ausdrücklicher Wendung gegen transzendentale Begründungen formuliert etwa Albert: „Die Entscheidung für den Kritischen Rationalismus ist also in diesem Sinne nicht begründbar, wie das Popper richtig festgestellt hat“.138 Die Position des Kritischen Rationalismus begreift sich nicht als Bedingung „jeder“ Erkenntnis, sondern als Vorschlag zu einer bestimmten Form von Rationalität, über den normativ beschlossen werden kann.139 Dass die Rationalität praktischer Rechtsarbeit in ihrem Kern einer politischen Entscheidung der Verfassung entzogen sein soll, erscheint damit als sehr wenig plausibel. Vielmehr ist die Form der Rationalität einer Rechtskultur ein durch die Verfassung zu normierendes, politisches Projekt, das in der Folge durch Praxis und Wissenschaft eingelöst werden muss. Diese politische Entscheidung lässt sich durch „die“ Wissenschaftstheorie weder ersetzen noch verdrängen.

287

So erweist sich der Bezug des Europäischen Gerichtshofs auf die methodenbezogenen Normen des Primärrechts als im Ergebnis überzeugend. Die Möglichkeit verantwortlicher Rechtsanwendung verweist auf methodische Standards regulärer Zurechnung an einen vom Gesetzgeber geschaffenen Wortlaut. Die Vielfalt vorkommender und denkbarer methodischer Argumente erlaubt eine solche Bindung nur, weil durch eine politische Grundentscheidung des Primärrechts gewisse Mindestanforderungen festgelegt werden können. Aus der Sicht des EuGH stellen die methodenbezogenen Normen des Primärrechts Anforderungen dar, denen die Vorgehensweise des Gerichts zu genügen hat. Die von ihm verwendeten methodischen Instrumente können an diesen Maßstäben überprüft werden. Neben dem Rechtsstaatsprinzip mit seiner doppelten Rationali137 Spinner, H. F., Pluralismus als Erkenntnismodell, 1974, S. 74 ff. Mit den vorliegenden Ausführungen soll natürlich nur der Aspekt einer Substituierung des Verfassungsrechts durch einen wissenschaftstheoretischen Rationalitätsmaßstab problematisiert werden. Dass im übrigen die Wissenschaftstheorie für die Jurisprudenz fruchtbar sein kann, zeigen gerade die zitierten Arbeiten Schlinks und Harenburgs mit ihrem Ansatz zu einer fallibilistischen Rechtsdogmatik. Die Bedeutung der Wissenschaftstheorie für die kritische Durchleuchtung der Rechtstheorie betont auch Müller, F., Rechtsstaatliche Methodik und Politische Rechtstheorie, in: ders., Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, 1977, S. 271 ff., 284 und öfter. 138 Albert, H., Transzendentale Träumereien, 1975, S. 142. 139 Zum Dezisionismus als Strukturmerkmal des Kritischen Rationalismus vgl. Spinner, H. F., Gegen Ohne Für Vernunft, Wissenschaft, Demokratie etc. . . . Ein Versuch, Feyerabends Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst zu verstehen, in: Duerr, H. P. (Hrsg.), Versuchungen. Aufsätze zur Philosophie Paul Feyerabends, Bd. 1, 1980, S. 35 ff., 59.

331 Navigieren im Hypertext des Rechts

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tät140 im Sinn von Vorhersehbarkeit und der Garantie gesellschaftlicher Pluralität sind vor allem der Gewaltenteilungsgrundsatz und das Demokratieprinzip als Vorgaben für die praktische Rechtsarbeit von Bedeutung. Diese Grundsätze sind aus der Tradition der Mitgliedstaaten als konstitutiv für das Gemeinschaftsrecht übernommen. Im Kontext dieser Prinzipien ist das Gesetzesbindungspostulat als Garantie einer Teilung auch noch der Gewalt zu verstehen, die in den Texten und in deren Interpretation steckt. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben müssen die methodischen Standards verallgemeinerungsfähig sein und zu vorhersehbaren Entscheidungen beitragen.

33 Textstruktur: Wie navigiert man im Rechtstext? Bisher wurde als Gegenstand der Rechtsarbeit der Normtext als Zeichenkette 288 bestimmt. Von der Zeichenkette mitgebracht wird nicht die Bedeutung, sondern der Konflikt um die Bedeutungen. Damit kann die Frage der Bindung richterlicher Gewalt in den Prozess der Konstruktion der Textbedeutung im zu entscheidenden Fall verlegt werden. Als normative Vorgaben für diese Arbeit wurden, übereinstimmend mit dem EuGH, die methodenbezogenen Normen des Primärrechts herangezogen. Daraus hat sich als Anforderung an die Konstruktion ergeben, unter Respektierung sprachlicher Vielfalt zu einer auf das Ziel der Vergemeinschaftung bezogenen Interpretation zu gelangen, die stabile Erwartungen erlaubt und trotzdem das Problem der Gerechtigkeit offenhält. Wenn man, wie hier, das Problem von Bindung und Grenze richterlicher Gewalt von der unfruchtbaren „Was-ist-Frage“ nach dem Gegenstand ablöst und es auf der Ebene der Konstruktion als „Wie-funktioniert-Frage“ neu stellt, dann gewinnen natürlich die zur produktiven Arbeit herangezogenen Instrumente erheblich größere Bedeutung. Rechtsarbeit vollzieht sich in Sprache, genauer: in Texten. Um die dem Rechtsstaat eigentümliche Textstruktur zu erfassen, müssen zunächst die allgemeinen textuellen Voraussetzungen untersucht werden. Vor dem Hintergrund eines umfassenden Textbegriffs kann man dann die spezielle Komplexitätsreduktion juristischen Arbeitens sichtbar machen. Ziel ist es dabei, sich von dem traditionell beliebigen Aufzählen der Arbeitsinstrumente frei zu machen. Das war für das alte Rechtserkenntnismodell mit ontologischer Kontrollinstanz ausreichend, ist es jedoch nicht für eine Rechtserzeugungsreflexion.

331 Navigieren im Hypertext des Rechts

Juristen haben es mit Text zu tun. Text ist Mittel, Medium und Metier der 289 Rechtsarbeit. „Recht als Text“141 also, Rechtstext, Texte des Rechts. Der Wechsel 140

Vgl. dazu Müller, F., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 13 ff., 86 ff.

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3 Strukturmodell – 33 Textstruktur

vom Singular in den Plural hat es in sich. Schon die rechtliche Würdigung eines so unspektakulären Delikts wie des einfachen Diebstahls142 stürzt den Juristen in ein Meer von Text „soweit das Auge reicht“.143 Und wenn ein so alltäglicher Vorgang wie der Gebrauchtwagenkauf durch die ihm allerdings erfahrungsgemäß innewohnende Tücke die Partner als Gegner vor die Schranken des Gerichts bringt144, so ergießt sich unversehens eine Flut von Texten über den Juristen. Diesem bleibt nichts anderes übrig, als die Sisyphusarbeit am Text immer wieder aufzunehmen, durch die er die Textmasse weiter vermehrt: „Er überfliegt und blättert durch, liest quer oder diagonal oder kursorisch, er folgt Querverweisen, verknüpft thematisch oder argumentativ verbundene Passagen über weite Einschübe hinweg, er lässt sich von Autor-Instruktionen vor- und zurückverweisen, nimmt nebenbei Fußnoten oder Anmerkungen, Marginalien oder Kommentare zur Kenntnis, verschafft sich einen Überblick durch Inhaltsverzeichnisse oder Stichwortregister, folgt den Lemmata in Enzyklopädien und Wörterbüchern in eigener Regie.“145 331.1 Der Begriff des Hypertextes 290

Die „nicht-linearen Aktivitäten des Lesers bei der Rezeption von Texten“146 mögen hier noch in traditionellem Vokabular geschildert sein, ganz bewusst übrigens. Denn einesteils „verliert“ so „der Übergang vom ,analogen‘ zum ,digitalen‘ Text, vom Text zum Hypertext die jetzt allenthalben diagnostizierte Qualität des Quantensprungs“.147 „Man kann den Begriff ,Hypertext‘ entmystifizieren, indem man 141 Dazu ausführlich aus linguistischer Sicht Busse, D., Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, 1992, hier v. a. S. 259 ff. zum „Recht als textgebundene Praxis“. Aus rechtslinguistischer Sicht Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, vor allem Teil III, S. 99 ff. Rechtsmethodisch dazu Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 206 ff., 219 ff. 142 Siehe die eingehend beispielhafte Analyse von Busse, D., Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, 1992, S. 119 ff. 143 So allgemein der Spruch von Barthes, R., S / Z, 1974, S. 11. 144 Siehe wiederum die Analyse von Busse, D., Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, 1992, S. 191 ff. 145 Hess-Lüttich, E. W. B., Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität, in: Söring, J. / Sorg, R. (Hrsg.), Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994, 1997, S. 53 ff., 61 f. Auch in: Klein, J. / Fix, U. (Hrsg.), Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. 1997, S. 125 ff. 146 Hess-Lüttich, E. W. B., Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität, in: Söring, J. / Sorg, R. (Hrsg.), Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994, 1997, S. 53 ff., 62. 147 Hess-Lüttich, E. W. B., Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität, in: Söring, J. / Sorg, R. (Hrsg.), Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994, 1997, S. 53 ff., 62. – Die modische Rede vom „Quantensprung“ ist von der Physik her (sogar in ihrer popularisierten Form) im Übrigen unsinnig.

331 Navigieren im Hypertext des Rechts

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die Besonderheiten von Hypertext durch Begriffe aus der Welt der Bücher beschreibt. Denn stark strukturierte Bücher enthalten im Prinzip alles, was Hypertexte auch enthalten: monohierarchische Strukturen (Kapitel und Unterkapitel), polyhierarchische Strukturen (Querverweise), sowie metahierarchische Strukturen (Inhaltsverzeichnisse, Stichwortverzeichnisse usw.) – siehe auch Karteisysteme contra Buchmetapher. Der Unterschied liegt allein in der Präsentation: im Buch dominiert letztendlich der ,Textfluss‘, also die lineare Textpräsentation ,Seite für Seite‘; bei Hypertexten, die am Bildschirm präsentiert werden, gibt es keinen Textfluss mehr.“148 Andererseits wird so manches an Ähnlichkeiten sichtbar, was man im Glanz des Neuen gern vergisst.149 Der Jurist wird sich jedenfalls von Haus aus unschwer in den aufgezählten Aktivitäten des Lesens wiederfinden. Zugleich zeigen diese alle Ingredienzien jenes „Surfen auf der Informationsflut“,150 als die Hypertext über den Juristen kommt. Was aber „ist“ Hypertext?151 Auf jeden Fall an erster Stelle selbst ein solcher.152 291 Eine Antwort auf die Frage nach diesem Begriff muss geradezu divergent und vielfältig ausfallen. Denn „zu verschieden sind die Perspektiven, unter denen man Hypertext betrachten kann, zu verschieden die spezifischen Anwendungsbereiche. Dementsprechend findet man in der Literatur fast so viele Definitionen von Hypertext wie es AutorInnen gibt, die über Hypertext schreiben.“153 Das verwundert Münz, S., Hypertext, unter http://www.ids-mannheim.de/grammis / ht / htxt103. So vertritt etwa Storrer, A., „Was ist hyper“ am Hypertext?, in: Werner Kallmeyer (Hrsg.), Sprache und neue Medien. 2000, S. 222 ff., 223 dezidiert „die Ansicht, dass kein neuer Textbegriff benötigt wird, dass begriffliche Differenzierungen ausreichen, um Hypertexte als textuelle Gebilde mit ganz spezifischen Eigenschaften an einen pragmatisch und funktional fundierten Textbegriff anzubinden. Dadurch wird es möglich, die Kategorien, die in der Diskussion um Textualität, um die Struktur und die gesellschaftliche Funktion von Texten entwickelt wurden, sowie die Erkenntnisse der empirischen Textproduktions- und Rezeptionsforschung zu nutzen, um einer Mythologisierung von ,hyper‘-Eigenschaften vorzubeugen, die den Blick auf Möglichkeiten und Grenzen der neuen Lese- und Schreibtechnologie verstellt.“ 150 Vgl. Christensen, R., Surfen auf der Informationsflut. Die wachsende Bedeutung der Methodik für die Praxis, 1999, http://www.Recht-und-Sprache.de. 151 Zu dieser Frage Simanowski, R., „McDonald’s of Education“ oder: Technologie einer konstruktivistischen Weltsicht. Hypertext im Sprach- und Literaturunterricht, unter http://www.dichtung-digital.de/2000/Simanowksi/10-Jan/1HT.htm. Weiter Gerdes, H., Was ist Hypertext?, unter http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/PAEDPSYCH/NETLEHRE/ NETLEHRELITORD/GERDES96/Gerdes96.html. 152 Man mache, statt Zuflucht zwischen Buchdeckeln zu suchen, am besten selbst die Probe auf das Exempel etwa unter http://www.google.de/search?q=Hypertext&hl=de&meta= mit „ungefähr 1,230,000“ Treffern bei einer „Suchdauer: (von) 0.11 Sekunden.“ Wem dies schnell zu viel wird, mag sich zum Hypertext „Hypertext – Eine Begriffsbestimmung“ begeben unter http://www.schema.de/doku/html-deu/schemapu/vortrag/hyperte0.htm. Ansonsten informativ umfassend Münz, S., Hypertext, unter http://www.ids-mannheim.de/grammis/ ht/htxt613.htm. 153 Gerdes, H., Was ist Hypertext?, unter http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/PAEDPSYCH/ NETLEHRE/NETLEHRELITORD/GERDES96/Gerdes96.html. 148 149

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3 Strukturmodell – 33 Textstruktur

nicht. Schließlich ist auch Wissenschaft in der neuen medialen Welt kaum mehr anders zu betrachten denn als Hypertext.154 Umso dringlicher ist es, für die Apostrophierung von Recht als Hypertext eine etwas klarere Vorstellung von einem solchen zu gewinnen.155 Das Wort geht auf Thomas Holms Nelson zurück,156 der es zugleich voll Enthusiasmus mit seinem Projekt „Xanadu“ in die Tat umgesetzt hat.157 Damit verfolgt er ein auch heute noch utopisch anmutendes Endziel. Er beabsichtigt „die Verwaltung des gesamten Weltwissens über ein riesiges, computerunterstütztes Begriffsnetz, das den Zugriff auf die entsprechenden informationellen Einheiten gestattet. Durch die Möglichkeit der simultanen und kollektiven Bearbeitung eines Dokuments soll der tendenzielle Gegensatz zwischen Autor und Leser aufgehoben werden.“158 Nelsons „Arbeiten ( . . . ) besser, seine Visionen – sind das Fundament heutiger Hypertextforschung und -begeisterung.“159 Dabei hat Nelson, entsprechend seinen Ambitionen, Hypertext grundlegend als „non-linear text“ definiert.160 292

Hypertext ist nichtlinear, sofern er nicht, wie das Buch, eine sequenziell serielle Reihung seiner Elemente und Teile darstellt.161 Stattdessen „besteht“ er aus einer vorab nicht absehbaren Fülle von in sich weitestgehend autonomen Einheiten, die nur ein loses Gespinst von Segmenten bilden. Entsprechend ist Hypertext zugleich modular. Er bietet sich im Grund lediglich als eine „Hypertextbasis“ an, „als ein sehr komplexes Netzwerk ( . . . ), in dessen Knoten die (multimedialen) Objekte des 154 Dazu hier nur Hess-Lüttich, E. W. B., Wissenschaftskommunikation und Textdesign, in: Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 6, September 1998, unter http://www. inst.at/trans/6Nr/hess.htm. 155 Im Überblick dazu Herberger, M., Hypertext fuer Juristen – Grundlagen und Probleme- unter http://www.fask.uni-mainz.de/user/krueger/publ/jurht-einf.html. Allgemein dazu Freisler, S., Hypertext – eine Begriffsbestimmung, unter http://www.schema.de/SCHEMA Publikationen/Linear/htdefhtm.htm sowie vor allen aus textlinguistischer Sicht Huber, O., Hypertext – eine linguistische Untersuchung, unter http://www.huberoliver.de/index.html. 156 Siehe Nelson, T. H., Literary Machines. Vers. 87.1, 1987. 157 Dazu hier nur kurz Münz, S., Hypertext, unter http://www.ids-mannheim.de/grammis/ ht/htxt303. 158 Kuhlen, R., Hypertext. Ein nichtlineares Medium zwischen Buch und Wissensbank, 1991, S. 217. 159 Münz, S., Hypertext, unter http://www.ids-mannheim.de/grammis/ht/htxt303.htm. Auf andere Vorläufer des Hypertextkonzepts soll hier nicht eingegangen werden, wie etwa Engelbarts, D. C., „Augment“ aus dem Jahr 1963, dazu http://www.ids-mannheim.de/grammis/ht/ htxt302, oder „Memex“ von Bush, V. aus dem Jahr 1945. Dazu http://www.ids-mannheim.de/ grammis/ht/htxt301. 160 Nelson, T. H., Getting it Out of Our System, in: Schecter, G. (Hrsg.), Information Retrieval. A Critical View, 1967, S. 191 ff., 195. 161 Dazu hier nur in Hinblick auf die aktuelle Technologie von Hypertext siehe die entsprechenden Spezifikationen unter http://www.w3.org. Ansonsten ausführlicher zum „Vergleich zwischen linearen Texten und Hypertexten“ Freisler, S., unter http://www.schema.de/doku/ html-deu/schemapu/ abschnit/vergleic.htm; sowie ders., Hypertext – Eine Begriffsbestimmung, in Deutsche Sprache, Heft 1, 1994, S. 19 ff.

331 Navigieren im Hypertext des Rechts

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Wissens eingetragen und über dessen Kanten die Verknüpfungen realisiert sind.“162 Diese werden erst durch „Transformieren“, „Kommentieren“, allgemein durch die kompositorisch semantisierenden Aktivitäten des „Lesers“ hergestellt, um Hypertext zu einem flüchtig momentanen Ganzen zu „kompilieren“.163 Die Knoten, die die einzelnen Gebilde durch eben diese Verknüpfungen zu einem Text verweben, müssen immer wieder neu geschnürt werden. Eine Strukturierung, gar eine Linearisierung verdankt sich nur dem Moment der Lektüre. Diese ist damit auch kein vorrangig rezeptiver Vorgang mehr. „Hypertext“ im Sinn einer jeweiligen Kompilation zu einem solchen ist notwendig ein produktiver Vorgang. Der Leser „macht“ sich buchstäblich im Augenblick seines Interesses daran „seinen“ Text und schlüpft damit zugleich in die Rolle von dessen Autor.164 Natürlich wird man bei dieser Begriffsbestimmung sogleich an das World Wide 293 Web165 als einer „Sammlung von Textsegmenten denken, die durch Hot-words miteinander verbunden sind.“166 Und in der Tat hat Hypertext in der Technik des Internet seinen idealen materiellen Konterpart gefunden.167 Das Konzept des Hypertexts mit der nun möglichen Intermedialität kann erst so realisiert werden.168 Nicht nur Schrift, sondern auch Bild, Bewegung und Ton sind nun umstandslos gleichberechtigt und -bedeutend für immer erneute Anordnungen verfügbar.169 Von daher ist es verständlich, dass Internet und Hypertext mitunter gleichgesetzt werden. Denn hinter den „Hot-words“ bzw. den Hotspots der Imagemaps sind die Adressen der anderen Textsegmente gespeichert, zu denen man durch einen Maus162 Berndl, C. G., HYPERTEXT unendliche Buecher, elektronische Geschichten, unter http://und.warum.net/poohtml/hypertxt.html. 163 Dazu Idensen, H., Inter(-Text, -Aktion, -Net.) Kollaborative Text- und Theorieproduktion in digitalen Diskursen . . . aber: wo bleibt und was wird aus dem Autor?, unter http://www.uni-hildesheim.de/PROJEKTE/netkult. – In der schönen Literatur ist das ein Konzept seit S. Mallarmés, „Livre“, 1957 (hrsg. v. J. Scherer), vom Ende des 19. Jh.s. 164 Ausführlich dazu Landow, G. P., Hypertext and Critical Theory, in: ders., Hypertext. The Convergence of Comtemporary Critical Theory and Technology, 1992, S. 1 ff.; sowie Kuhlen, R., Hypertext. Ein nichtlineares Medium zwischen Buch und Wissensbank, 1991. 165 Dazu in Hinblick auf Hypertext hier nur Münz, S., Hypertext, unter http://www.idsmannheim.de/grammis/ht/htxt306.htm. 166 Simanowski, R., „McDonald’s of Education“ oder: Technologie einer konstruktivistischen Weltsicht Hypertext im Sprach- und Literaturunterricht, unter http://www.dichtungdigital.de/2000/Simanowski/10-Jan/1HT.htm. 167 Dazu Münz, S., Hypertext, unter http://www.ids-mannheim.de/grammis/ht/htxt613.htm. 168 Vgl. Hess-Lüttich, E. W. B., Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität, in: Söring, J. / Sorg, R. (Hrsg.), Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994, 1997, S. 53 ff., 60, 62 f.; sowie G. Bonsiepe, Der Designer im Netz oder Jenseits des Mausclickens, in: Bollmann, S. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 1998, S. 456 ff., 459 ff. 169 Zur „Synästhetisierung“ als Grundzug von Hypertext Nick, M., Web Sites – Die Entstehung neuer Textstrukturen, in: Bollmann, S. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 1998, S. 388 ff., 389 f.

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klick auf das Wort gelangt. Dieses Zusammenspiel von Klick und Link ist aus dem Internet bekannt, das gewissermaßen einen riesigen, offenen Hypertext darstellt: man aktiviert ein markiertes Wort und erhält einen neuen Text, der vielleicht auf einem Computer am anderen Ende der Welt gespeichert ist. Bei einem geschlossenen Hypertext befinden sich alle Segmente auf demselben Computer (Server) und bilden eine stärkere Einheit, die Links sind in diesem Falle intern. Das Prinzip der nichtlinearen Struktur bleibt freilich dasselbe: Die Segmente sind nicht linear angeordnet wie die Perlen einer Kette oder die Kapitel eines Buches, sondern in der Form eines Netzes, das mehrere Wege von Punkt zu Punkt ermöglicht. Der Leser bewegt sich nicht allmählich und auf vorhersehbarem Weg durch eine Textfläche, sondern ,springt‘ von Punkt zu Punkt, von Link zu Link und stellt sich so seinen eigenen Text zusammen.“170 Das Verhindern einer direkten Einschreibung eigener Worte und Bilder über die Bildschirmoberfläche in das Material der Textbasis durch die Trennung von „Authoring und Browsing“, wie sie im „Hypertext im WWW“ anzutreffen ist, widerspricht dem nicht. Sie bestätigt sogar das durch Hypertext freigesetzte Potenzial des Lesers als aktivem Autor. Denn gerade aus diesem Potenzial erwächst erst die Notwendigkeit, die jeweilige Textbasis durch aufwendige technische Maßnahmen vor Eingriff zu bewahren. Dies „erfolgt durch das Client-Server-Modell des Internet“. Aber auch die damit vollzogene Abschottung der entsprechenden Dateien kann nicht verhindern, dass der Anwender übertragene Dateien auf seinem Client-Rechner ablegt, mittels problemlos verfügbarer Software manipuliert und an anderer Stelle wieder ins WWW „hochlädt“ und sich somit allen Versuchen seiner Passivierung zum Trotz doch wieder in die Position eines Machers seines Textes setzen kann.171 294

Ein Gleichsetzen von Internet und Hypertext mag also nahe liegen. Es ist dennoch verfehlt. Bemerkenswert demgegenüber ist nicht nur, dass Nelson Begriff und Konzept des Hypertext in den 60er Jahren, lange vor dem Web geschaffen hat. Es gilt gerade auch im Hinblick auf die Arbeit des Juristen, der heutzutage zwar immer mehr auf Online-Recherchen unterwegs sein und auch die eine oder andere Entscheidungs- und Normtextsammlung auf CD172 in seinen PC einlegen mag, der es aber nach wie vor in der Hauptmasse immer noch mit bedrucktem Papier zu tun hat. Bemerkenswert ist schließlich, dass Nelson „hypertext“ als „fundamental, traditional and in the mainstream of literature“ sieht173, wobei diese „für ihn der 170 Simanowski, R., „McDonald’s of Education“ oder: Technologie einer konstruktivistischen Weltsicht. Hypertext im Sprach- und Literaturunterricht, unter http://www.dichtungdigital.de/2000/Simanowski/10-Jan/1HT.htm. 171 Münz, S., WWW und HTML, unter http://www.ids-mannheim.de/grammis/ht/htxt613. htm. 172 Am bekanntesten dürfte das Juris-Online System sein. Dazu Herberger, M., OPTACON – Ein Beispiel für die Stärken von juris, in: pc-jur 3, 1990, S. 489 ff.; ders., Die juris-Aufsatzdatenbank: Öfter nützlich als bekannt, in: jur-pc 3, 1993, S. 2026 ff. Siehe ansonsten praktisch etwa Linksammlung http://www.kramladen.de/!/rund-ums-leben/htm/recht/recht_ 02.htm. 173 Nelson, T. H., Literary Machines. Vers. 87.1, 1987, 1 / 17.

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sich in historischer Tradition entfaltende Umgang mit Texten fiktionaler und nichtfiktionaler Art“ ist.174 Nelson hat hier offenbar die solche Texte auszeichnende Intertextualität vor Augen.175 Kein Text kommt aus dem Nichts, keiner steht für sich allein. Und jedenfalls im Prinzip dürfte kaum ein Text je wieder völlig verschwinden. Zusammen und gegenseitig am Leben gehalten werden sie durch ein vielschichtiges Geflecht von Anspielungen, Verweisen, Bezügen und Traditionen: Kurzum, im „Raum eines Textes überlagern sich mehrere Aussagen, die aus anderen Texten stammen und interferieren“. 176 Das mag zwar an literarischen Texten besonders auffällig sein, da diese in der Regel ihr bewusstes Spiel damit treiben. Beschränkt darauf ist Intertextualität indes nicht. Juristische Texte etwa zeichnet sie von Beginn an geradezu fundamental aus. „Die Ränder von Manuskripten und frühen gedruckten ( . . . ) juristischen ( . . . ) Texten wimmeln von Glossen, die wie die Anmerkung des Historikers den Leser instandsetzen, sich vom polierten Argument zu denjenigen Texten zurückzuarbeiten, aus denen es entwickelt wurde und worauf es beruht.“177 Von jeher haben synoptische Zusammenstellungen Textgrundlagen für die Rechtsarbeit angehäuft. In Kommentaren werden nach wie vor über die Textstücke juristischen Normierens und Entscheidens Fäden von Verweisen gespannt. Präjudizien, Berufungen und Gegenargumente nehmen in jeder juristischen Äußerung eine Vielzahl anderer in sich auf und empfehlen sich selbst wieder weiter zum Bezug für ein Fortschreiben des Texts von Recht. Die Juristen zeigen in der Umtriebigkeit ihrer Arbeit an Text immer schon über- 295 deutlich, was Text ausmacht: „Jeder Text schreibt sich ein in ein intertextuelles Ensemble künstlerischer / kultureller / formaler / kanonischer / biographischer Konstellationen. Jedes Wort produziert Bedeutungen erst im Kontext der umgebenden sprachlichen Einheiten – alles Geschriebene ist ,Zitat‘: Entwendung gelesener Schriften.“178 All diese Verschwisterungen und Verschwägerungen mit anderen trägt der Text nicht etwa bei sich. Sie muss ihm, wie auch Juristen sehr wohl wissen, immer mehr oder weniger mühsam angelesen werden. Wie überhaupt auch ein herkömmlicher Text sich nicht von sich aus in seiner Bedeutung preisgibt, sondern 174 Hess-Lüttich, E. W. B., Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität, in: Söring, J. / Sorg, R. (Hrsg.), Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994, 1997, S. 53 ff., 61. 175 Grundlegend dazu Kristeva, J., Probleme der Textstrukturation, 1972. Im engeren auch Hess-Lüttich, E. W. B., Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität, in: Söring, J. / Sorg, R. (Hrsg.), Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994, 1997, S. 53 ff., 58 ff.; sowie Dieter, J., Schlagt die Germanistik tot – färbt die blaue Blume rot. Gedanken zur Intertextualität, unter http://www. jolifanto.de/intertext/intertextualitaet.htm. 176 Kristeva, J., Probleme der Textstrukturation, 1972, S. 245. 177 Grafton, A., Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, 1995, S. 41 f. 178 Idensen, H., Inter(-Text, -Aktion, -Net.) Kollaborative Text- und Theorieproduktion in digitalen Diskursen . . . aber: wo bleibt und was wird aus dem Autor?, unter http://www.unihildesheim.de/PROJEKTE/netkult.

15 Müller / Christensen

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immer nur ein Angebot an den Leser darstellt, ihn zu dieser zu bringen.179 Weder Textbedeutung noch Intertextualität sind dem Text schon inhärent: „Die Instanz zur Herstellung“ all jener „Bezüge“, die ihn intertextuell ins Meer der anderen Texte eintauchen lassen, ist „der Leser“.180 „Folglich ist der Text eine Produktivität“. „Er ist eine Textverarbeitung“, „eine Intertextualität“. 181 „Im Hypertext-Konzept“ „(finden) die traditionellen Skalierungen von Intertextualität nach Maßgabe von Kriterien der Referentialiät, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität. Selektivität, Dialogizität ( . . . ) ihre logische Fortsetzung, Anwendung und Ausweitung. Denn die Herstellung intertextueller Bezüge ist das zentrale Kennzeichen von Hypertext“.182 Man kann auch sagen, „Hypertext mache explizit, was in Text weniger radikal impliziert sei.“183 Mit ihm wird gewissermaßen auf die konstruktivistisch produktive Spitze getrieben184, was jedem Text ohnehin an Intertextualität eigen ist. Diese wird ganz in die Hände des Lesers gelegt, der so schon gar kein solcher mehr ist. „Hypertexte ( . . . ) liest man nicht, sondern man ,navigiert‘ in ihnen.“185

331.2 Navigieren in Textsystemen 296

Die vom Hypertext ermöglichten Freiheiten in der Textherstellung haben ihren Preis:186 den der Beliebigkeit und damit auch jener Orientierungslosigkeit, die für das Internet als das Syndrom des „Lost in Hyperspace“ beschworen wird. „Was sich aus der Vogelperspektive als freies Bewegen in einem faszinierenden Netz 179 Siehe hierzu vor allem Iser, W., Der implizite Leser, 1972; sowie ders., Der Akt des Lesens, 1976. Des näheren auch Bergermann, U., „Verkörpert“ Hypertext Theorien vom Schreiben? in: ZMM news. Zeitschrift des Zentrums für Medien und Medienkultur der Universität Hamburg, 1997 / 98, S. 24 ff. 180 Vgl. Hess-Lüttich, E. W. B., Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität, in: Söring, J. / Sorg, R. (Hrsg.), Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994, 1997, S. 53 ff., 59. 181 Kristeva, J., Zu einer Semiologie der Paragramme, in: Gallas, H. (Hrsg.): Strukturalismus als interpretatives Verfahren, 1972, S. 163 ff., 170 f. 182 Vgl. Hess-Lüttich, E. W. B., Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität, in: Söring, J. / Sorg, R. (Hrsg.), Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994, 1997, S. 53 ff., 59 ff. 183 Bergermann, U., Im Winter sind alle Buchstaben schwarz. „Verkörpert“ Hypertext Theorien vom Schreiben?, unter http://www.uni-paderborn.de/~bergerma/texte/zmm.html. 184 Zum „Hypertext als Technologie des Konstruktivismus“ Simanowski, R., „McDonald’s of Education“ oder: Technologie einer konstruktivistischen Weltsicht. Hypertext im Sprachund Literaturunterricht, unter http://www.dichtung-digital.de/2000/Simanowski/10-Jan/ 4Konstruktivismus.htm. 185 Münz, S., Hypertext, unter http://www.ids-mannheim.de/grammis/ht/htxt103. 186 Vgl. auch Hess-Lüttich, E. W. B., Text, Intertext, Hypertext. Zur Texttheorie der Hypertextualität, in: Söring, J. / Sorg, R. (Hrsg.), Androïden. Zur Poetologie der Automaten. 6. Internationales Neuenburger Kolloquium 1994, 1997, S. 53 ff., S. 68.

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darstellen mag, ist aus der Sicht eines konkreten Benutzers dieses Netzes die Aufgabe, sich in dem Netz, das er nicht unmittelbar überschaut ( . . . ), zurechtzufinden, zu orientieren.“187 Nichts ist der Lektüre vorbestimmt außer einem Material, auf das sie zugreifen und dessen sie sich für einen Text bedienen kann. All die Links, die Hypertext zum flüchtigen Gespinst im Moment der ihn produzierenden Lektüre zu „verweben“ helfen, ergeben sich nicht aus ihm. Schon gar nicht sind sie von ihm vorbedeutet. Links müssen, wie man ganz richtig sagt, „gesetzt“ werden. Sicherlich, derjenige, der die diversen Textualitäten (pages) darbietet, vermag damit Pfade vorzuzeichnen. Ob, von wem und vor allem wie diese beschritten werden, lässt aber auch der Link als Wegmarke, als bloßes Potenzial dahingestellt. Wenn aber nicht sicher einzuschätzen ist, wohin die Wege führen mögen, bewahrt nichts davor, abzuirren. Es steht, ins Optimistischere gewendet, aber auch nichts dem entgegen, sich seinen eigenen Weg zu suchen.188 Und so mag man sich seinen eigenen Sinn machen, indem man die Sprünge durch die Texteme wagt: „Die Autor-Funktion gleitet über zu der eines Kompilators, Transformators, Herausgebers, Kommentators.“189 Hypertext ist bloßes Strukturierungsangebot. Er ist der Versuch, die holistische Struktur der Bedeutung, die der Text beschwören und aussagen soll, auf eine Oberfläche zu streuen, auf welche die Rezeption zur momentanen Erarbeitung jener Bedeutung treffen mag. Was aber bleibt dann noch von „Text“ als der „Sinneinheit“, die er nach herkömmlichem Verstand doch sein soll? Erst einmal nichts dort, wo „alles mit allem vernetzbar ist“.190 Die Lösung liegt, wie so oft, im Problem. Auf den Punkt gebracht, hat Hypertext 297 eine denkbar einfache Architektur. Ein Hypertextsystem, eine „Hypertextbasis“, besteht technisch gesehen aus nichts anderem als aus „Knoten“ und „Links“: „Hypertext (oder in der multimedialen Form Hypermedia) ist ein assoziatives Netzwerk von Textteilen (sog. Knoten, engl. nodes) die durch Graphen (Kanten, engl. links) verknüpft sind. Ausgangspunkte dieser Kanten sind einzelne Wörter oder Wortgruppen (Anker, engl. anchor), die aktiviert werden können, um zu anderen Knoten zu gelangen.“191 187 Vgl. Münz, S., Orientierung, Navigation, Lost in Hyperspace, unter http://www.idsmannheim.de/grammis/ht/htxt206. 188 Zur „Variabilität auf der Ebene der Textorganisation“ auch Simanowski, R., „McDonald’s of Education“ oder: Technologie einer konstruktivistischen Weltsicht. Hypertext im Sprach- und Literaturunterricht, unter http://www.dichtung-digital.de/2000/Simanowski/ 10-Jan/1HT.htm. 189 Idensen, H., Inter(-Text, -Aktion, -Net.) Kollaborative Text- und Theorieproduktion in digitalen Diskursen . . . aber: wo bleibt und was wird aus dem Autor?, unter http://www.unihildesheim.de/PROJEKTE/netkult. 190 Münz, S., unter http://www.ids-mannheim.de/grammis/ht/htxt104. 191 Krüger, F., Hypertext fuer Juristen -Grundlagen und Probleme-, unter http://www.fask. uni-mainz.de/user/krueger/publ/jurht-einf.html; auch in: jur-pc 3, 1992, S. 1497 ff. (Hervorhebung weggelassen).

15*

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„Knoten“ sind alle Objekte bzw. Informationseinheiten, die für eine Verknüpfung angeboten werden und geeignet sind. Als solche sind sie weitgehend autark.192 Diese Eigenständigkeit der Knoten macht die Modularität von Hypertext und damit das ganze mit ihm freigesetzte Potenzial der Variabilität von Verknüpfungen aus.193 Es kann also von einer schlichten Graphik oder einem Fleck auf der Oberfläche bis hin zu einem komplex umfangreichen Textdokument wie den Maastrichtverträgen oder der Bibel alles Mögliche Ziel von Verknüpfungen sein.194 Mit Blick auf die Rechtsarbeit betrifft das vor allem solche Objekte, die auf Text im herkömmlicheren Sinn angelegt sind oder bei denen es sich um Druckerzeugnisse, um Geschriebenes handelt. Da solche Objekte einen sinnvollen, d. h. einen gewissen Informationsmehrwert versprechenden Ausgangspunkt für Links darbieten sollen, brauchen sie ein Minimum an Kohäsion.195 298

Zum „Netzwerk“ wird dieses zunächst unabsehbare Konglomerat koexistenter Segmente durch Verweise aufeinander, durch Links. „Verweise196 sind nichts anderes als Relationen, die einzelne Objekte, in Hypertext: informationelle Einheiten (= Knoten), zueinander in Beziehung setzen.“197 Von besonderer Bedeutung für die juristische Textarbeit ist dabei wiederum, dass Links, wie alles an Hypertext, nicht an die Technik des Internets gebunden sind. „Prinzipiell sind nämlich auch Printtexte durchzogen von einem Geflecht aus mehreren Verweisebenen. Zu denken ist hier zuallererst an das deiktische Verweissystem. Aber auch aus Inhaltsverzeichnissen heraus wird auf die entsprechenden Seiten des fortlaufenden Textes verwiesen.“198 Hantiert man, wie es Juristen in der Regel noch auferlegt ist, mit Papier, so braucht es bekanntlich einigen Aufwand des Stöberns und Blätterns, um den Sprung in andere Textsegmente zu vollziehen.

192 Vgl. Münz, S., n:m-Relation, kohaesive Geschlossenheit, unter http://www.idsmannheim.de/grammis/ht/htxt202. 193 Huber, O., Hypertext – eine linguistische Untersuchung, unter http://www. huberoliver.de/2_2.html. – Vgl. Schnupp, P., Hypertext, in: Handbuch der Informatik, Band 10.1, 1992, S. 58. Weiter auch Kuhlen, R., Hypertext. Ein nicht lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank. 1991, S. 79 f.; Gerdes, H., Lernen mit Hypertext, 1997, S. 12 f. 194 Zum Problem der „Inhalt und Größe“ von Knoten Huber, O., Hypertext – eine linguistische Untersuchung, unter http://www.huberoliver.de / 2_2.html. 195 Münz, S., Nodes, Units, Items, Informationelle Einheiten, unter http://www.idsmannheim.de/grammis/ht/htxt201.htm. 196 Huber, O., Hypertext – eine linguistische Untersuchung, unter http://www.huberoliver. de/2_2.html. 197 Kuhlen, R., Hypertext. Ein nicht lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank. 1991, S. 102. 198 Huber, O., Hypertext – eine linguistische Untersuchung, unter http://www.huberoliver. de/2_2.html. – Entsprechend zur Unterscheidung von „organisatorischen“ und „referentiellen“ Verweisen Conklin, J. E., Hypertext : an introduction and survey. In: Computer 20, 1987, S. 17 ff., 33 f.; Kuhlen, R., Hypertext. Ein nicht lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank. 1991, S. 113 f. – Siehe im Übrigen http://www.w3.org.

331 Navigieren im Hypertext des Rechts

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Mit Knoten, Link und Anker sind die Ingredienzen gegeben, Textsysteme, „Netze im Netz“ anzulegen, Inseln im Meer von Text. „Die Anleihe aus der Welt der Hochseeschifffahrt ist bewusst gewählt“, denn „sich in einem nicht komplett übersehbaren Hypertext-Netz bewegen heißt, darin zu ,navigieren‘“.199 Man steuert von Anker zu Anker Knoten an und setzt über die Links seinen Kurs durch den Hypertext. Je nachdem nun, wie man dies tut, kann man bestimmte Dependenzen und Inter- 299 dependenzen zwischen Knoten arrangieren. Die Grundmodelle dafür gruppieren sich im wesentlichen um drei Metaphern, denen sich vom denkbaren Erscheinungsbild her die virtuelle Ordnung des jeweiligen Hypertextes entlehnt. Man kann sich an der Buchmetapher orientieren200, indem man eine horizontal lineare Anreihung und Abfolge der Knoten vorzeichnet. Hier „blättert“ man dann in einem durchaus traditionellen Sinn durch den Hypertext hin und her. Man kann die Erreichbarkeit der Knoten zum zweiten auch so arrangieren, dass einer eine Reihe von anderen „dominiert“; das heißt es zulässt, dass diese von ersterem aus erreichbar sind, aber nicht umgekehrt. So lassen sich verzweigende Hierarchien aufbauen, die der Baummetapher folgen.201 Und schließlich kann man durch eine konsequente Spiegelbildlichkeit bzw. Komplementariät der in Ausgangs- und Zielknoten mit den Ankern gesetzten Links anarchische Strukturen einziehen, der Netzmetapher zu ihrem unverblümten Durchbruch verhelfen.202 Denn hier ist dann jeder Knoten von jedem aus erreichbar, jeder mit jedem „verwoben“. Dabei wird aber schnell eine Komplexität des virtuellen Gefüges erreicht, die den Bedarf an „über“ Hypertext agierenden Orientierungsinstrumenten dringlich werden lassen. Die Wahl zwischen den „Vorgaben“203 kann dem „Leser“ aber letztlich nicht genommen werden. Er kann sich immer der Knoten bemächtigen und sie sich nach seinem Gusto ordnen. Auch aus Büchern kann man Seiten herausreißen, Abschnitte ausschneiden, neu zusammenkleben und zu Text zusammenkopieren. Die Unabsehbarkeit der Lektüre beruht noch besonders auf einer zweiten Eigen- 300 heit von Ankern. Sie sind immer Bestandteil des Knotens, aus dem sie verweisen, und „für alle Verweise gilt, dass sie sowohl Ausgangs- als auch Zielpunkt haben müssen.“204 Dies bewirkt das profane Mirakel einer durch die Primitivität der Ar199 Vgl. Münz, S., Orientierung, Navigation, Lost in Hyperspace, unter http://www.idsmannheim.de/grammis/ht/htxt206. 200 Vgl. Münz, S., Sharks, Holy Scrollers, Karteisysteme, Buchmetapher, unter http://www.ids-mannheim.de/grammis/ht/htxt210. 201 Vgl. Lankau, R., Webdesign und –publishing. Grundlagen und Designtechniken, 2000, S. 352 ff. Da Dateiensysteme gleichfalls dieser Metapher folgen, spricht man auch von „Verzeichnismetapher“. 202 Vgl. Lankau, R., Webdesign und –publishing. Grundlagen und Designtechniken, 2000, S. 355 ff. Vom Bild, das Hypertext so bietet, her kann man auch von „Gittermetapher“ sprechen. 203 Vgl. Münz, S., Pfade, Trails, Guided Tours, unter http://www.ids-mannheim.de/ grammis/ht/htxt207.

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3 Strukturmodell – 33 Textstruktur

chitektur von Hypertext in jedem Moment unabsehbar möglichen Variabilität und Überkomplexität. Mit anderen Worten: In der elementaren Schlichtheit der Bauform liegt die ungeheure Virulenz von Hypertext. Der Link ist so jenes durch den Anker anwesend gemachte Abwesende205, das der Poststrukturalismus in jedem Zeichen erkennen will.206 Das macht jede Lektüre, wenn man nur genau genug hinsieht, unabsehbar.

332 Vom Hypertext zur rechtsstaatlichen Textstruktur

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Da kein Link zwingend sein kann, kann auch nichts zwingen, ihm zu folgen. In den „nicht-linearen Hypertexten stehen immer mehrere Lesealternativen zur Verfügung“. Es „gibt folglich keine fest vorgesehene Lesereihenfolge“. 207 Keine Lektüre gleicht der anderen. Spätestens hier gerät Hypertext dem Juristen zum Problem. Er muss durch seine Arbeit am Recht jeweils zu dem einen Text kommen, sofern von ihm eine Entscheidung gefordert wird. Zugleich muss er zu dem einen „richtigen“ Text gelangen. Seiner Lektüre von Hypertext wird ein endgültiges Ergebnis abverlangt. Der Weg, den er dabei zu nehmen hat, kann nun aber nicht von Hypertext vorgezeichnet sein. Dem Juristen gerät die Methode der Navigation wieder zum Problem der Wahl. 332.1 Recht als Hypertext

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Dabei stellt sich gar nicht erst die Frage, ob es sich bei Recht um Hypertext handelt. „Das Besondere des Hypertextes liegt weniger in seiner elektronischen Materialisierung als in seinem Verknüpfungsverfahren.“208 Und als ein solches ist Hypertext den Juristen schon immer und auch dort geläufig, wo nicht ausdrücklich die Rede davon ist. Das vertraute Gesetz„buch“ treibt, apostrophiert als ein solches, einen gewissen Etikettenschwindel. Es ist eher eine Kollektion stark modularisierter Segmente, eine Paragraphensammlung. In den Normtexten „sind die ein204 Vgl. Huber, O., Hypertext – eine linguistische Untersuchung, unter http://www. huberoliver.de/2_2.html, 2.2.2.1. 205 Wenz, K., Formen der Mündlichkeit und Schriftlichkeit in digitalen Medien, unter Linguistik online 1, 1 / 98, spricht generell davon, dass die „Leerstelle traditioneller Texte durch Sichtbarmachen intertextueller Bezüge im Hypertext trivialisiert wird.“ 206 Generell zu der Parallele Landow, G. P., Hypertext and Critical Theory, in: ders. Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, 1992, S. 1 ff.; sowie ders., What is a Critic to Do? Critical Theory in the Age of Hypertext, in: ders. (Hrsg.): Hyper / Text / Theory, 1994, S. 1 ff. 207 Gerdes, H., Was ist Hypertext?, unter http://paedpsych.jk.uni-linz.ac.at/PAEDPSYCH/ NETLEHRE/NETLEHRELITORD/GERDES96/Gerdes96.html. 208 Simanowski, R., „McDonald’s of Education“ oder: Technologie einer konstruktivistischen Weltsicht. Hypertext im Sprach- und Literaturunterricht, unter http://www.dichtungdigital.de/2000/Simanowksi/10-Jan/1HT.htm.

332 Vom Hypertext zur rechtsstaatlichen Textstruktur

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zelnen Gliederungsteile bis auf die Satzebene herunter für sich allein verständlich, da keine Kohäsion zu benachbarten Abschnitten besteht.“209 Ihre Produktion unterliegt permanenten Verschiebungen, Novellierungen, Ergänzungen und Tilgungen, ohne dass dem Gesetz als einem solchen etwas Einschneidendes geschieht. Das erfährt bereits der Jurastudent leidvoll jedes Mal, wenn die neue Lieferung zur Ergänzung seines „Sartorius“ oder „Schönfelder“ eingetroffen ist und er sich der Mühe einer reorganisierenden Kompilation unterziehen muss. Gesetzbücher, Verordnungen und Richtlinien sind also, bei Licht besehen, Ansammlungen von durch Paragraphen- sowie Abschnittsbezifferung und Betitelung etikettierten Knoten, auf die fallweise entsprechende intratextuelle Anker verweisen. Der Jurist ist gehalten, seinen Text aus der Textmasse, mit der er konfrontiert ist, im konkreten Einzelfall zu „finden“. Die geläufige Nennung von Normtexten anhand ihrer Ortskürzel und Kennziffern in Kommentaren, Schriftsätzen, Entscheidungen und Abhandlungen löst geradezu einen Reflex des Nachschlagens aus, sofern man das Textstück nicht ohnehin bereits abrufbereit im Kopf hat. Doch das ist erst der Anfang. Die Oberfläche des rechtlichen Textwerks ist durchzogen von einem Geflecht an Querverweisen und Hinweisen, wie etwa „Fundstellen von Rechtssätzen“, „Zitierungsketten über Aktenzeichen“, „Fundstellen in der Literatur“, „bibliographische Angaben zu Einzelnormen“. Und „unabhängig von den spezifischen Verweisarten treten folgende Möglichkeiten von Querverweisen innerhalb und zwischen den Gruppen juristischer Informationsquellen auf, nämlich Verweise von Normen auf Normen; von Urteilen auf Urteile, Normen und Literatur; von Literatur auf Literatur, Normen und Urteile“, wobei man „bei Normen und Urteilen ( . . . ) von intra- bzw. interhypertextuellen Verknüpfungen sprechen ( . . . ), bei Verweisen auf die Literatur dagegen von extrahypertextuellen Verweisen“.210 Wenn man also „als die wesentlichen Bestandteile von Hypertext“ „die Modularisierung in Knoten und deren Vernetzung mit Hilfe von Kanten feststellt“, dann ist Recht zweifellos Hypertext par excellence.211 In diesen muss der Jurist für die vielfältige Kompilierung auf dem Weg zu sei- 303 nem eigenen Entscheidungstext eintauchen. Aufgrund der Bindungen und Verpflichtungen, denen er dabei unterworfen ist, wird er für sein Prozessieren von Text in der Umgebung von Hypertext zwangsläufig „Leser“ und „Autor“ zugleich. Er ist einerseits gehalten, seinen Text aus der Textmasse, mit der er konfrontiert ist, zu „finden“. Zugleich kann er aber nicht „zu diesem“ finden, ohne ihn durch die 209 Krüger, F., Nicht-lineares Information Retrieval in der juristischen Informationssuche, Abschn. 511a Modularisierung, unter http://www.jura.uni-sb.de/dissertationen/krueger/ diss-511a.html. 210 Was Krüger hier schon für das System „Juris“ beschreibt, kann getrost auf Rechtstexte im Ganzen übertragen werden. Siehe Krüger, F., Nicht-lineares Information Retrieval in der juristischen Informationssuche, unter http://www.jura.uni-sb.de/dissertationen/krueger/ diss.html, im Print, 1997, hier http://www.jura.uni-sb.de/dissertationen/krueger/diss-511a. html; http://www.jura.uni-sb.de/dissertationen/krueger/diss-511b.html. 211 Dazu hier nur Krüger, F., Hypertext fuer Juristen – Grundlagen und Probleme --, unter http://www.fask.uni-mainz.de/user/krueger/publ/jurht-einf.html.

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3 Strukturmodell – 33 Textstruktur

Auswahl der Knoten, durch die Zugriffe, die er setzt, und durch deren Verknüpfung gemäß den Anforderungen des Falls zu „erfinden“. Auf den Punkt gebracht, hat er genau jenen Text zu erstellen, auf dem seine Entscheidung des Falles bzw. seine Rechtsmeinung beruhen soll. Er ist also in der dilemmatischen Situation, für sich erst das schaffen zu müssen, dem er für seine Anordnung und Strukturierung von Text zu folgen hat.212 Der Jurist ist bei seinem Navigieren im Hypertext Recht zugleich Steuermann und Kartograph, indem er Texteme aufhäuft und ihnen eine Ordnung einzieht. Damit er dem Kurs vom Normtext zum Fall folgen kann, muss er ihn selbst erst abstecken, indem er ihm durch seine Verweise die Marken und Zeichen setzt. Aufgrund der Gesetzesbindung hat er für seinen Entscheidungstext auf der einen Seite entsprechende Knoten aufzusuchen, so weit wird er Rezipient sein. Aber durch die Frage, welche die für seine Entscheidung einschlägigen Knoten sind, wird er zugleich Produzent. Die Antwort auf diese Frage, die sich dann im Text der Entscheidungsnorm niederschlagen soll, verlangt von ihm, jene Knoten in eine für den Fall bestimmte Konstellation zu bringen. Er hat also für seine Navigation vom Fall her ein System von Verweisen zu entwickeln und sie in einer diesen Fall betreffenden Weise zu verweben. Bei dieser Arbeit ist er aber auch schon wieder Rezipient. Denn die Verpflichtung darauf, dem Einzelfall gerecht zu werden, wie sie sich etwa im Anspruch auf rechtliches Gehör bindend niederschlägt, zwingt den Juristen, sich auf die Fülle von Text einzulassen, mit der ihn die Beteiligten am Verfahren konfrontieren: auf all die Vorträge, Anträge, Einlassungen und Schriftsätze, die vorgebracht werden und die ihrerseits eine Vernetzung zum Text der Rechtsfrage verlangen. 304

In alldem schlägt sich textuell nichts anderes nieder als die hier schon besprochene rechtstheoretische Figur des Richters als eines Gesetzgebers zweiter Stufe;213 wobei das in gewisser Weise auch noch andere Verfahrensbeteiligte betrifft, sofern sie etwa als Anwälte ein entsprechendes normatives Geflecht prädisponieren und diesen Vorgriff als die Entscheidung des Streitfalls durchzusetzen gedenken. Nur fehlt ihnen, anders als dem Richter, die amtliche Autorität, das auch durch die Ausfertigung eines Urteils gültig zu vollziehen. Abermals deutet sich im Problem die Lösung an. Die Figur des Gesetzgebers zweiter Stufe weist auf die Position hin, in der der Jurist als Kompilator von Rechtstext steht. Er ist gegenüber den Normtexten in eine Nachrangigkeit gesetzt. Denn der Richter wird auf diese in ihren Adressierungen entsprechend ausgezeichneten Knoten im Hypertext Recht in zweifacher Weise verpflichtet. Zum einen hat er auf sie und auf keine anderen Texte primär zuzugreifen: er hat sich an das geltende Gesetz zu halten und nicht etwa Rat in den Büchern Moses‘ oder im Koran zu suchen. Zum zweiten hat er seinen eigenen Entscheidungstext auf eine hierar212 Vgl. allgemein Christensen, R. / Sokolowski, M., Theorie und Praxis aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Rechtstheorie 2001, S. 327 ff. 213 Dazu Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 37 ff.

332 Vom Hypertext zur rechtsstaatlichen Textstruktur

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chische Anordnung hin zu orientieren, indem er die Normtexte als übergeordnete Knoten setzen muss, von denen aus er die Fäden seiner Verweise spinnt. All dies stellt ihn als Verfasser von Recht in das zweite Glied. Aber als ein kreativer Autor ist er unumgänglich. Der Text, in dem das Recht des Falles zu sein hat, ergibt sich nicht von selbst. Der Jurist produziert ihn durch eben jene Strukturierungsarbeit, deren Maßstäbe, Regularien und Prinzipien ihm durch die methodenbezogenen Normen der Verfassung und durch Prozessrecht auferlegt sind. Kurz gesagt, hat er also seine Navigation entlang einer ihm aufgegebenen Ordnung aufzubauen; aber das kann nur er für die jeweilige Entscheidung tun. Gegen einen anarchischen Freilauf der Vernetzung, den Recht als Hypertext zu- 305 nächst einmal unweigerlich lässt, wirken alle sich aus dem Prinzip der demokratischen Rechtsstaatlichkeit ergebenden Anforderungen der Verfassung als in (letztinstanzlicher) Rechtsprechung selbst immer wieder kompilierte, entwickelte und in Umlauf gesetzte methodische Vorgaben; wirken auch die Regeln juristischer Kunst, die sie zu Instrumenten der Praxis umsetzen, ebenso wie auch Methodik und Kritik aus der Wissenschaft, wobei diese Beiträge wiederum in einer bestimmten Rangordnung der Verbindlichkeit stehen. Das Gefüge normativ methodischer Weisungen ist durch die rechtliche Verpflichtung darauf einer freien Vernetzung entzogen. In seiner Wirkung ist es jenen Orientierungssystemen vergleichbar, die dem Prozessieren von Lektüre in Hypertext aufsitzen und die (bei der Generierung von Text aus dessen Angebot) auszurichten, „einzuordnen“ vermögen. Am deutlichsten zeigt sich das an den klassischen Canones. Denn diese haben sich nicht von ungefähr seit langem bewährt. Sie zeichnen ein navigatorisches Ensemble für den Weg zur Rechtsentscheidung vor. Dieser Weg ist vom Juristen einzuschlagen, wenn er sich unter rechtsstaatlichen Vorgaben will rechtfertigen können. Die Funktionsweise der Canones für das Prozessieren von Entscheidungen im 306 Hypertext Recht lässt sich in Analogie zu dessen idealtechnischer Realisierung im Internet illustrieren. So gesehen, fallen bei der Rechtsarbeit „Browsing“ und „Authoring“ in eins214, „Lesen“ und „Fortschreiben“. „Bei Hypertextsystemen unterscheidet man generell zwischen reinen ,Browsern‘ (Nur-Lese-Zugriff) und Systemen, die das Editieren bzw. Fortschreiben erlauben.“215 Als „Lesemaschinen“ nehmen Browser die jeweils aufgerufenen Webseiten als Code entgegen und „rendern“ deren Darstellung, „legen sie vor“, „übergeben“ diese. Wichtig ist dabei die Funktionsweise. Die Browsertechnik als Software sitzt gewissermaßen auf Hypertext auf. Die Renderingmaschine (der Browser), das heißt die ordnende Hand eines die Darstellung erzeugenden Strukturierungsmechanismus, wird „von außen“ an Hypertext angetragen und geht dennoch auf ihn ein. Sie reagiert nämlich auf die ihr durch den Quellcode eines Hypertextdokuments angebotenen Steuerungsmarken (tags) für die Verarbeitung zu einem seiner Exemplare auf der Oberfläche. Man hat 214 Vgl. Münz, S., Authoring und Browsing, unter http://www.ids-mannheim.de/grammis/ ht/htxt209. 215 Ebd.

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3 Strukturmodell – 33 Textstruktur

es also immer mit einem Wechselspiel von Steuern und Gesteuertwerden, von Machen und Geschehenlassen zu tun. Das gilt auch für die weiteren Orientierungsmechanismen, die im Netz zur Verfügung stehen, wie Suchmaschinen. Sein Gegenstück findet dieses Rezeptionsinstrumentarium in der Software zur Produktion, den HTML-Editoren und Autorenprogrammen zur Herstellung von Websites.216 Sie stellen die Werkzeuge zur Verfügung, um Objekte wie Texte im engeren Sinn, Grafiken, Skripte, die bestimmte Effekte erzeugen, in eine Ordnung zu bringen. Sie erzeugen eine Struktur, die sich im Code für die Generierung eines entsprechenden Hypertextdokuments verwirklicht. Wichtig ist hier wieder, dass es sich nicht um eine freie Collage handelt. Vielmehr sitzt auch der Produktionsmechanismus auf Hypertext auf. Er schreibt ihm zur Erzeugung ein bestimmtes Regelwerk ein, eben die Steuermarken des HTML-Codes und ihre Anordnung. Damit werden die Maßstäbe gesetzt, nach denen wiederum Browser eine Darstellung, das heißt die Realisierung von Hypertext im Exemplar auf der Oberfläche zu prozessieren vermögen. 307

Von hier aus kann der Bogen zur juristischen Textarbeit zurück geschlagen werden. Software ist ein transitorischer Mechanismus für den Übergang von Intelligenz in Materie. Und mit einem solchen können für die Arbeit im Hypertext des Rechts auch die methodischen Ausgangspunkte und Instrumentarien verglichen werden, deren sich der Jurist lege artis zu bedienen hat. Sein Prozessieren von Recht wird gewissermaßen in das Korsett der methodenrelevanten Vorgaben der Verfassung gezwungen. Allerdings bringt es die Unabsehbarkeit von Hypertext mit sich, dass sich auch das nicht im Selbstlauf vollziehen kann. Die dem Hypertext Recht von außen angetragenen Strukturierungen müssen in jedem Entscheidungsvorgang erneut aktiviert werden. Der Übergang des Hypertext Recht in die Entscheidung kann nicht auf einen Automatismus von deren Erzeugung vertrauen, sondern verlangt an jedem Punkt der Trinität von Knoten, Anker und Link den Einsatz juristischer Intelligenz. Dass der Jurist sich dabei an das gehalten hat, wozu er gehalten ist, muss er entsprechend in den Gründen seiner Entscheidung erweisen und, so gesehen, immer erst herstellen.217 Nichts versteht sich in Hypertext von selbst; schon gar nicht sein Übergang in die rechtsstaatliche Textstruktur, die der Jurist mit jedem Ergebnis seiner Arbeit zu bewerkstelligen hat. 332.2 Der Legitimationstransfer vom Gesetz auf die Entscheidung

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Die Textstruktur des Rechtsstaats218 bewirkt eine Einschränkung der Verknüpfungsmöglichkeiten in Hypertext und eine Hierarchisierung von Texten, ausgehend 216 217

Zum Überblick hier nur Team Ideenreich, Coole Websites, 2000, S. 43 ff. Ausführlich dazu Christensen, R. / Kudlich, H., Theorie richterlichen Begründens,

2001. 218 Müller, F., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 80 ff., 95 ff.; ders. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005 Rdnr. 219 ff. Ebendort auch zum Begriff Normtext Rdnr. 204 ff.

332 Vom Hypertext zur rechtsstaatlichen Textstruktur

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von den Postulaten der Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Einzelfallgerechtigkeit. Ziel dabei ist ein Transfer der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers auf die Einzelfallentscheidung. Um diesen zu erfassen, muss man zunächst anordnende und rechtfertigende Texte unterscheiden. Sowohl der Normtext als auch der gerichtliche Tenor sind anordnende Texte.219 Sie unterscheiden sich dadurch, auf unterschiedlichen Konkretisierungsstufen im Prozess der Entscheidungsfindung zu stehen. Während sich aber die Legitimität der Anordnung im Normtext aus der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers ergibt, muss die des Gerichts jeweils erst noch begründet werden. Diesem Legitimitätstransfer dient die Entscheidungsbegründung als rechtfertigender Text.220 In ihr tauchen die Auslegungsinstrumente im Rahmen von Argumentformen auf. Die Notwendigkeit einer Begründung von Gerichtsurteilen ergibt sich im Ge- 309 meinschaftsrecht aus den methodenbezogenen Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips und aus dem Grundsatz einer geordneten Rechtspflege.221 Was von einer Begründung verlangt werden muss, wird durch die praktische Entwicklung der jeweiligen Rechtskultur definiert. Allerdings steckt darin auch noch ein grundsätzliches Problem: Was kann man von einer Begründung überhaupt verlangen? In Betracht käme vielleicht Akzeptanz. Man könnte solange begründen, bis auch der Letzte einverstanden wäre. Das mag im Freundeskreis vorkommen, im Rechtssystem nicht. Dessen Funktion liegt darin, dort eine Entscheidung zu treffen, wo gemeinsame Akzeptanz aller Beteiligten gerade nicht mehr möglich ist. Wenn eine Annahme durch alle Betroffenen als wirkliche oder psychologische Größe nicht in Betracht kommt, was kann man dann eine gute Begründung nennen? Man könnte auch daran denken, die Akzeptanz zu idealisieren: Eine Begründung ist dann gut, wenn man sie in einer idealen Sprechsituation anerkennen müsste. Aber dieser Weg ist nicht gangbar. Denn entweder man lässt die ideale Sprechsituation undefiniert; dann weiß niemand, wann eine Begründung gut ist. Oder man definiert die Regeln für das Herstellen dieser idealen Situation. Dann gerät man aber in zwei Dilemmata: zum einen zeigt sich sofort, dass die Welt des Rechts gerade nicht die des herrschaftsfreien idealen Sprechens ist. Man muss dann zu allen möglichen Hilfsregeln greifen, die das Problem aber nur verschieben. Noch wichtiger ist die zweite Klippe: Sobald man die Regeln des herrschaftsfreien Sprechens definiert, ist der, der sie nicht erfüllt, nicht mehr in der Vernunft. Statt Herr219 Vgl. Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 117. 220 Vgl. Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 117, 121 ff.; sowie Brink, S., Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, der bei der Rechtfertigungsfunktion weiter differenziert zwischen erklärender und kontrollierender Funktion der Begründung. 221 Vgl. dazu neuerdings wieder: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, in: NJW 1999, S. 2429.

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3 Strukturmodell – 33 Textstruktur

schaftsfreiheit zu erzeugen, hat man die Menschen in rationale Subjekte und therapiebedürftige Objekte eingeteilt. 310

An die Stelle der Akzeptanz sollte man deswegen die Geltung einer Argumentation setzen. Eine Begründung ist dann gut, wenn sie gilt. Was heißt nun aber: Geltung einer Argumentation? Die Begründung ist nicht an der Akzeptanz der Beteiligten ausgerichtet, am bloßen Meinungsstand. Sie ist vielmehr am Stand der Argumente orientiert. Geltung ist Freiheit von Einwänden. Wenn und solange eine Rechtsentscheidung alle gegen sie vorgebrachten Argumente integriert oder ausräumt, ist sie gültig. Der Richter entscheidet Rechtsfragen nicht einfach mit Hilfe der objektiven Bedeutung des Gesetzes. Er entscheidet einen Konflikt um die Bedeutung des Gesetzes. Dafür genügen nicht Sprachargumente, der Richter braucht auch Sachargumente im Plausibilitätsraum der Sprache. Sie werden von den Beteiligten aus der Konfliktperspektive des Verfahrens geliefert. Diese führen, mit Hilfe der Canones, Präjudizien, den Stand der Dogmatik usw. ein, wenn sie für ihre Sache sprechen. Diese Argumente müssen im Verfahren geprüft werden und sollen den Stand der Geltung erreichen. Dann entscheidet der Richter zwar nicht an Hand vorgegebener Objektivität, aber dennoch objektiv, im Sinn von: nicht willkürlich. 332.3 Die argumentative Rolle der Canones

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Die Canones tauchen in den Rechtfertigungstexten der Gerichte auf. Sie dienen der Integration und Widerlegung von Argumenten und tragen so zur Entscheidung über den Konflikt um die Lesart des Gesetzes bei. Neben diese einfachen Konkretisierungselemente, deren Leistung eben darin besteht, Kontexte zu erschließen, treten die zusammengesetzten Argumenttypen wie z. B. die teleologische Auslegung oder die diversen Schlussformen. Diese Mittel juristischer Auslegung sind weder von der Sprache als solcher noch von der „Natur“ des Verstehens her vorgegeben. Trotzdem ist auffällig, dass z. B. Wortlaut, Entstehung, Systematik und Zweckargument in ganz verschiedenen Rechtstraditionen und von sehr verschiedenen Gerichten durchgängig verwendet werden. Die Methodik des Gemeinschaftsrechts unterscheidet sich dabei nur in Einzelheiten, nicht aber in den Grundzügen von der nationalstaatlichen Tradition. Die Gemeinsamkeit in den Grundzügen erklärt sich daraus, dass eben auch die Arbeit im Europarecht ein Navigieren im Hypertext des Rechts erfordert. Dabei ergeben sich Verknüpfungen von Texten, die dann in Form der Canones als Standards professionellen Wissens gelten. Auch im Gemeinschaftsrecht gibt es so mit grammatischer, systematischer, historischer und genetischer Auslegung die bekannten Verknüpfungen, wie man sie auch in den nationalen Methodenkulturen kennt. Selbst der Zugriff auf die der Norm zugrunde liegenden typischen Annahmen über die

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Wirklichkeit, welche auch das Bundesverfassungsgericht unter der Überschrift „Normbereich“ durchführt, ist im Gemeinschaftsrecht unvermeidlich. Und schließlich gibt es neben den einfachen Verknüpfungen noch die Kombination von Kontexten in den Schlussfiguren von teleologischer Auslegung, Umkehrschluss, Analogie und Größenschluss. Der sachliche Grund für diese Ähnlichkeit dürfte in der holistischen Struktur 312 sprachlicher Bedeutung liegen.222 Danach lässt sich die Bedeutung eines Textes nur in der entwicklungsoffenen Gesamtheit einer Sprache bestimmen. Diese Einsicht ist gleichsam der Konvergenzpunkt so unterschiedlicher Entwicklungen wie der angelsächsischen postanalytischen Philosophie, der in Frankreich unter dem Stichwort Dekonstruktion entwickelten Strukturalismuskritik und der in Deutschland unter Berufung auf die Humboldt-Tradition vollzogenen pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft. Wenn Bedeutung eine holistische Größe ist und man über den Konflikt verschiedener Lesarten zu entscheiden hat, ist das Ganze gerade nicht verfügbar. Das heißt, man muss die Kontexte schrittweise erarbeiten, ohne sich die Illusion machen zu können, damit das Ganze restlos „im Griff“ zu haben. Die Formen dieses schrittweisen Erschließens von Bedeutung haben sich in den heutigen canones der Auslegung historisch herausgebildet und stabilisiert. In einem Rahmenmodell aller praktisch verwendeten und wissenschaftlich anerkannten Konkretisierungselemente lassen sich folgende Unterscheidungen angeben: Zunächst ist die Normtextauslegung von der auf Realdaten bezogenen Normbereichsanalyse zu unterscheiden. Auf die Normtextauslegung sind die methodologischen Elemente im engeren Sinn bezogen, auf die Realdaten beziehen sich die Normbereichselemente; weiterhin finden in die Konkretisierung die dogmatischen Elemente, Theorieelemente, lösungstechnischen und rechtspolitischen Elemente Eingang.223 Die Normtextauslegung erfolgt nach den in der Rechtswissenschaft entwickelten 313 canones. Die grammatische Interpretation trägt selten allein, denn die normative Anweisung ist im Normtext nicht substantiell vorgegeben. Aussagen können nichts verdinglichen; sie können nur auf ihren Gebrauch untersucht werden, sie haben Zeichenwert. Zwar ergeben sich Entscheidungen nicht aus dem Wortlaut, aber das aus ihm entwickelte Normprogramm ist eine Grenze zulässiger Konkretisierung. Die grammatische Interpretation erschließt den Kontext des Fachsprachengebrauchs bzw. der Varianten der Alltagssprache. Die systematische Auslegung erschließt den Kontext des Gesetzes bzw. der Rechtsordnung als Ganzes. Die historische erbringt den Zusammenhang mit früheren Normtexten und die genetische den mit den Gesetzesmaterialien. Soweit die klassischen canones von Savigny. 222 Die holistische Struktur von Bedeutung wurde in der postanalytischen Philosophie vor allem von Davidson und Rorty herausgearbeitet. Vgl. als gut verständliche Darstellung: Mayer, V., Semantischer Holismus. Eine Einführung, 1997. 223 Müller, F., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 146 ff.; sowie oben ders. / Christensen, R., Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 304 ff.

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3 Strukturmodell – 33 Textstruktur

Ein weiterer Kontext für die Entscheidung ist die Wirklichkeit. Aber weil keiner einen privilegierten Zugang zur Realität hat, formuliert man besser: benachbarte Wissenschaften wie Soziologie, Psychologie, Ökonomie usw. Der Name für diese Kontextlieferanten wechselt. Früher sprach man von der Natur der Sache oder von natürlichen Ordnungen. Das Bundesverfassungsgericht spricht seit dem 74. Band auch von Normbereichselementen. Die Normbereichsanalyse wird unter funktioneller Arbeitsteilung mit den Sozialwissenschaften durchgeführt, wobei der Jurist mit dem Formulieren der Fragestellung die Verantwortung trägt.

4 Leistung der einzelnen Argumentformen Die Divergenz zwischen dem theoretischen Wissen der Methodenliteratur und 314 dem praktischen Können der Gerichte wurde hier als Abstand zwischen Rechtserkenntnislehre und Rechtserzeugungspraxis bestimmt. Mit dem Modell einer Rechtserzeugungsreflexion wurde versucht, diese Divergenz zu verkleinern. Auf der Grundlage dieses vorläufigen Gesamtmodells können nun Struktur und Leistungsfähigkeit der einzelnen Argumentformen in der Rechtsprechung des EuGH genauer eingeschätzt werden.1

41 Grammatisches Argument Im Gemeinschaftsrecht wird unübersehbar, was in nationalen Rechtsordnungen 315 durch Einschüchterungssemantik und entsprechendes Verhalten noch versteckt werden kann: im Recht wird mehr als eine Sprache gesprochen. Ohne eine fraglos gemeinsame Sprache2 stellt sich für die Kommunikation das Problem der Übersetzung.3 Es stellt sich aber nicht erst im Gemeinschaftsrecht, sondern es stellt sich, 1 Vgl. als kurzen Überblick über das methodische Vorgehen des EuGH: Nettesheim, M., Art. 4, in: Grabitz, E. / Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand Oktober 1999, München 2000. sowie Stotz, R., Die Rechtsprechung des EuGH, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 409 ff.; vgl. auch Buerstedde, W., Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006. 2 Grundlegend zum Problem der Mehrsprachigkeit im Recht: Burr, I., Amtssprachenregelungen in Finnland und in der Habsburger Monarchie 1848–1918, in: Babylonia, 1996 / 4, S. 48 ff. sowie dies., Auslegung mehrsprachiger juristischer Texte: die Rolle des Italienischen in Urteilen des Schweizerischen Bundesgerichts, in: Veronesi, D. (Hrsg.), Rechtslinguistik des Deutschen und Italienischen, 2000, S. 179 ff.; Giordan, H. (Hrsg.), Les minorités en Europe. Droit linguistiques et droit de l’homme, 1992. 3 Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten zum Problem der Übersetzung in der Literatur, der Wirtschaft und der Religion. Nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ findet der Interessierte schnell eine ausbaufähige Grundlage. Gerade im Bereich des Rechts mit seiner großen gesellschaftlichen und politischen Relevanz fehlt dagegen eine solche Basis leider fast völlig. (Vgl. dazu Frosini, V., Gesetzgebung und Auslegung, 1995, S. 130.) Jetzt aber zu dieser Thematik: Ars Interpretandi, Heft 5, 2000 mit dem Thema „Übersetzung im Recht“. Weder die Übersetzungswissenschaft (vgl. dazu Wilss, W., Übersetzungswissenschaft. Probleme und Methoden, 1977 oder Mounin, G., Die Übersetzung. Geschichte, Theorie, Anwendung, 1968, der dem Rechtsproblem immerhin eine Seite widmet, sowie Megale, F., Il traduddore di libri nel diritto d’autore italiano, in: Diritto e societá 1992 Nr. 3, S. 521 ff.) noch die Rechtstheorie (mit der rühmlichen Ausnahme von Frosini, V., Gesetzgebung und Auslegung, 1995, S. 128 ff.) haben dieses Problem bisher angemessen aufgenommen. Vgl.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

genau genommen, bereits in der Einzelsprache.4 Schon die Einzelsprache ist inhomogen5 und existiert nur in einer Vielzahl von Soziolekten und Ideolekten. Auch für das Wort „Sprache“ gilt die nominalistische Einsicht, dass sie nur in einer Vielzahl von spezifischen Ausprägungen vorhanden ist. Es ist also bereits in der Einzelsprache eine grobe Vereinfachung, von der Sprache zu reden. Sie existiert nur in individuellen Ausprägungen. Sich zwischen dieser Vielzahl von Sprachen zu bewegen, ist besonders wichtig für Juristen, denn sie entscheiden über Sprachkonflikte. Schon der Sachverhalt, der zu Grunde gelegt werden soll, wird in diversen Varianten erzählt, und auch die relevanten Normtexte existieren in verschiedenen Lesarten. Trotzdem muss der Richter entscheiden. Darin liegen Chance und Risiko. Das Risiko realisiert sich, wenn der Richter eine Sprachvariante zur einzig verbindlichen erklärt und dafür die Autorität der Sprache in Anspruch nimmt. Die vom Richter ausgeübte Gewalt und seine Verantwortung verschwinden dann hinter der Sprache als Legitimationsinstanz. Die Chance sprachlicher Vielfalt im Gemeinschaftsrecht liegt nun darin, dass die sprachnormierende Tätigkeit des Richters und damit auch die Begründungslasten seines Tuns deutlich sichtbar werden. 316

Gerade dem EuGH ist der Einsturz der Einschüchterungsarchitektur der angeblich einen und für alle verbindlichen Sprache Alltag. Er ist von Anfang an mit Rechtstexten konfrontiert, die in verschiedenen Sprachen vorkommen. Damit wird die Entscheidung über die sprachliche Fassung von Recht zu einem eigenen Problem.6 Das der Übersetzung zwingt den EuGH, das Modell juristischer Entscheidungen als Bedeutungserkenntnis zu überschreiten. In seiner Theorie wird dies nicht immer deutlich ausgesprochen. Aber: „Die Praxis gibt den Worten ihren Sinn.“7 Auch hier bestätigt sich die Erfahrung, dass das Selbstverständnis der Gerichte hinter der Komplexität ihrer Praxis zurückbleibt. Autorenintention und zum Problem aus neuerer Zeit Bocquet, C., Pour une méthode de traduction juridique, 1994; Sacco, R., Langue et droit, in: Langue et droit, XVe congrès international de droit comparé, 1998, S. 224 ff.; Schroth, P. W., Language and Law, in: Langue et droit, XVe congrès international de droit comparé, 1998, S. 153 ff. Weitere Literatur findet sich bei Gémar, J.-C., Le discours du législateur en situation multilingue: Traduire ou corédiger les lois?, in: LeGes 2001 / 3, S. 13 ff., 31. 4 So auch Quines berühmtes Diktum. Dazu Quine, W. v. O., Unterwegs zur Wahrheit, 1995, S. 68 f. Zur Ausarbeitung dieses Gedankens Davidson, D., Radikale Interpretation, in: ders., Wahrheit und Interpretation, 1990, S. 183 ff. 5 Vgl. dazu die ganz kurze aber ausgesprochen erhellende Urteilsanalyse von Nußbaumer, M. / Pantli, A.-K., In der Rechtsprechungsübersicht der AJP 1998 / 1, S. 112 ff. 6 Vgl. dazu aus der Sicht der Gesetzesredaktion sehr erhellend: Gallas, T., La rédaction législative multilingue dans l’Union européenne: bilan et perspectives, in: LeGes 2001 / 3, S. 115 ff., 116 f. 7 Wittgenstein, L., Bemerkungen über die Farben, Werkausgabe Bd. 8, 1984, § 317: „Die Praxis gibt den Worten ihren Sinn.“ Zu den Konsequenzen für die Analyse juristischer Textarbeit Wimmer, R. / Christensen R., Praktisch semantische Probleme zwischen Linguistik und Rechtstheorie, in: Müller, F. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 27 ff.

411 Art. 314 EG und das Problem der Mehrsprachigkeit

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Eigeninterpretation vermögen ohnehin nicht privilegiert über die Bedeutung von Text und die Bedeutsamkeit des Handelns zu verfügen.8 Über Sinn und auch Verständlichkeit kann nur fortlaufend die Plausibilität und Persistenz der Lektüre befinden. Einer solchen Lektüre im Licht des Übersetzungsproblems soll hier die Spracharbeit des EuGH unterzogen werden. Denn was die Bewusstheit des eigenen Vorgehens angeht, kommt das Gericht dort, wo es sich auf dem „rauhen Boden“9 des Entscheidungsalltags bewegt, durchaus zu Einsichten entgegen der herkömmlichen Lehre.

411 Art. 314 EG und das Problem der Mehrsprachigkeit

Art. 314 EG ist ein Normtext, dessen methodische Tragweite noch kaum ausrei- 317 chend diskutiert ist.10 Die Kommentierungen begnügen sich zumeist mit einer Paraphrasierung des Wortlauts und einem knappen Hinweis auf die Wiener Vertragsrechtskonvention, die in ihrem Art. 33 Abs. 4 zum Problem der Mehrsprachigkeit Stellung nimmt.11 Tatsächlich stellt Art. 314 EG, wonach der Wortlaut des Vertrages in jeder der genannten Sprachen verbindlich ist, eine grundlegende Entscheidung nicht nur für die Gleichwertigkeit der Sprachen der Mitgliedsländer, sondern auch für die Gleichwertigkeit ihrer Rechtskulturen dar. Dieser wichtige Grundsatz versteht sich natürlich nicht von selbst. Dass man bei der Formulierung dieses Artikels wirklich an den Verweis auf alle Rechtskulturen gedacht hat, ergibt sich auch aus Artikel 288 Abs. 2 EG, der diesen Verweis für das Staatshaftungsrecht expliziert. Die grundlegende Entscheidung steckt aber in Artikel 314 insoweit, als er die Gleichwertigkeit der Sprachen der Mitgliedsländer aufnimmt und ihnen damit zusagt, dass jede Sprache am Rechtserzeugungsprozess beteiligt werden wird.12 Da sich die Sprache der nationalen Textformulierungen nur im Ganzen der jeweiligen Rechtskultur verstehen lässt, ist so der Einfluss der verschiedenen 8 Siehe Foucault, M., Die Ordnung des Diskurses, 1977. Im engeren auch Christensen, R., Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, 1989, S. 89 ff. 9 Vgl. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, 1984, § 107. 10 Bei der Darstellung der rechtlichen Grundlagen der Arbeit des EuGH wird dieser Normtext von den neueren deutschen Arbeiten überhaupt nicht erwähnt: Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 32 ff.; Ukrow, J., Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 90 ff. Ganz anders dagegen mit Schwerpunkt auf dem Problem der Mehrsprachigkeit Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005. 11 Vgl. dazu Geiger, R., EG-Vertrag. Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 1995, Art. 248; Röttinger, M., in: Grabitz, E. / Hilf, M., Kommentar zur Europäischen Union, Stand: 7. Ergänzungslieferung, 1994, Art. 248. Ausführliche Diskussion bei Weber, A., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 4: Art. 189 – 248, 5. Aufl., 1997, Art. 248 und Smit, H. / Herzog, P., The law of the European Communities, 1993, Art. 248. 12 Vgl. Buerstedde, W., Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 21.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

Rechtskulturen auf das Gemeinschaftsrecht gewährleistet. So wird das Gemeinschaftsrecht auch für die Vielfalt der europäischen Rechte geöffnet.13 Aber natürlich bringt diese Regelung für die gerichtliche Praxis Risiken und Komplikationen mit sich, die gemeinhin unter dem Stichwort Textdivergenz diskutiert werden.14 Wenn ein Gesetz in mehreren Sprachen formuliert wird, sind Abweichungen unvermeidbar: „Denn schon die Überführung eines gesetzgeberischen Gedankens in ein nur einsprachiges Gesetz ist, wie alle wissen, mit unvermeidlichen Fehlerrisiken verbunden. Aber auch wenn man von der utopischen Vorstellung ausgehen wollte, dieses Fehlerrisiko ließe sich vermeiden, so wird es bei mehrsprachigen Texten immer Diskrepanzen geben. Diese können einmal auf Nachlässigkeiten oder Versehen bei der Beratung oder Verabschiedung des Gesetzes zurückzuführen sein. Sie können aber auch bei größter Sorgfalt in der Gesetzesredaktion auftreten. Denn ( . . . ) eine präzise Wortübersetzung ist aus stilistischen Gründen unbrauchbar, besonders für einen Gesetzestext; eine Übertragung mit dem Ziel, in der anderen Sprache den Sinn stilistisch brillant wiederzugeben, ist auch bei einem hervorragenden Übersetzer häufig mit dem Zwang zu gewissen Abweichungen verbunden. Diese sind noch größer oder wahrscheinlicher, wenn es um die Übersetzung in eine andere Sprachfamilie, also etwa vom Deutschen in eine romanische Sprache geht. Mehrsprachigkeit der Gesetze führt also notwendig auch zu Mehrdeutigkeit ihres Wortlauts.“15

411.1 Mehrsprachigkeit und Wörterbuch 318

Juristen wollen den Übersetzer so vom Interpreten abgrenzen, wie den Boten vom Stellvertreter. Das heißt, er liefert keine eigene Leistung, sondern übermittelt nur, was vorher schon feststand. Die Abneigung der Juristen gegen die Notwendigkeit der Interpretation beim Zugriff auf Sprache erklärt sich zunächst aus der Situation, in der sie auf Sprache stoßen. Der Ausgangspunkt für die Spracharbeit der Juristen ist die Krise. Kommunikation läuft dann nicht mehr als reibungslos eingespielte Gewohnheit, da in dieser Unklarheiten sonst entweder einvernehmlich beseitigt oder als irrelevant behandelt werden. Vielmehr besteht über die Fortsetzung der Kommunikation dann 13 Vgl. dazu Hanschmann, F., Sprachliche Homogenität und europäische Demokratie. Zum Zusammenhang von Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, 2004, S. 63 ff.; Pescatore, P., Zur Rechtssprache und Rechtsstil im europäischen Recht, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, 2004, S. 243 ff. 14 Vgl. dazu Schweitzer, M., in: Grabitz, E. / Hilf, M., Kommentar zur Europäischen Union, Stand: 7. Ergänzungslieferung, 1994, Art. 248, Rn. 5. Zu Sprachdivergenzen und dem Gebot der Rechtssicherheit vgl. Schübel-Pfister, I., Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 355. Zur Behandlung von Sprachdivergenzen durch den EuGH, ebd., S. 227 ff. 15 Vgl. Schubarth, M., Die Bedeutung der Mehrsprachigkeit der schweizerischen Gesetze für die höchstrichterliche Rechtsprechung, in: LeGes 2001 / 3, S. 49 ff., 50.

411 Art. 314 EG und das Problem der Mehrsprachigkeit

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Streit. Er wurde durch Einschaltung von professionellen Juristen, durch Anfertigung von Schriftsätzen, Ausgestaltung eines Verfahrens usw. allmählich auf den Gesetzestext hingeführt, um dessen Lesart jetzt ein Konflikt besteht. Eine erste und sicher naheliegende Reaktion auf diese Krise ist, auf die Sprache 319 selbst zurück zu gehen. Darauf, was die Wörter, um die Streit besteht, „wirklich bedeuten“. Daher neigt man dazu, deren Bedeutung zu isolieren und das Wörterbuch zum Sprachgesetzbuch zu überhöhen. Den Griff zum Wörterbuch praktizieren Juristen auch innerhalb nationaler Rechtsordnungen. Aber schon dort wird die Leistung dieses Buchs zumeist überschätzt. Es soll die Spracharbeit der Juristen von ihrem Legitimationsdruck erlösen, indem es die Grenzen legitimen Sprechens definiert. Aber es zählt real nur Beispiele des Sprachgebrauchs auf und gibt so der Spracharbeit der Juristen zwar einen Plausibilitätsraum, aber keine Entlastungsinstanz. Ein normatives Konzept von Wörtlichkeit liegt zwar der Erwartung der Juristen, aber nicht den existierenden Wörterbüchern zugrunde. Dort, wo sie sich auf eine Bedeutung scheinbar festlegen, stellt sich dies bei jenem näheren Hinsehen, zu dem die „wesentliche Umstrittenheit“ des Sprachgebrauchs vor Gericht und damit im Moment des Rechts16 den Juristen nötigt, schnell als der Schein des Quineschen „Mythos des Museums“17 heraus. Die Sicherheit der entschiedenen Bedeutungsangabe, die das Wörterbuch bietet, ist nicht mehr als der Nimbus, mit dem es seine Macher gelegentlich umgeben: „Die herkömmlichen einsprachigen Wörterbücher verzichten gerade auf die Darstellung des jeweils stark im Wandel befindlichen Wortschatzes, weil die hinter ihnen stehenden Autoren und Herausgeber langfristig die Kodierung von ,bewährten‘ Bedeutungen im Auge haben, und zwar u. a. deswegen, weil sich die Wörterbücher entsprechend der tradierten ,Wörterbuchkultur‘ mehrere Jahrzehnte auf dem Markt halten müssen.“18 Nimmt der Jurist die semantische Witterung auf, die ihm selbst solche Wörter- 320 bücher noch legen, so findet er sich sogleich in der Vielfalt der Verständnisvarianten und Gebrauchsbeispiele wieder, in denen sich all die Spuren von Bedeutung und des Sprachgebrauchs zunehmend überkreuzen und verwirren, ohne ihm letzt16 Grundsätzlich analytisch dazu Gallie, W. B., Essentially contested Concepts, in: Proceedings of the Aristotelian Society 46, 1955 / 56, S. 167 ff. Im Anschluss daran zum Recht Peters, B., Rationalität, Recht und Gesellschaft, 1991, S. 20 ff. Ansonsten Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 60. 17 Siehe Quine, W. v. O., Ontologische Relativität, in: ders., Ontologische Relativität und andere Schriften, 1975, S. 41 ff., 42: „Eine solche unkritische Semantik ist nichts anderes als der Mythos von einem Museum, in dem die Ausstellungsstücke Bedeutungen und Schildchen daran Wörter sind ( . . . )“. Im Anschluss daran zum Recht Somek, A., Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, S. 69 ff. 18 Wimmer, R., Zum kritischen Umgang mit Wörtern, in: Kann man den Frieden sichern?, Dokumentation des Evangelischen Pressedienstes, Nr. 3 / 85 1985, S. 25 ff., 35. Als ein Beispiel für die Art „kulturgeschichtlich orientiertes Wörterbuch“, die er demgegenüber fordert, Strauß, G. / Haß, U. / Harras, G., Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist, 1989.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

lich auch nur den Hauch eines definitiven Musters von Bedeutung zu belassen.19 Und es liegt auf der Hand, dass sich das Problem in der Situation der Vielsprachigkeit um die Zahl von Sprachen potenziert20, mit denen es der Jurist etwa im Europarecht zu tun hat. Seine Situation gerät ins Paradoxe. Je genauer er wissen will, wie es um die Bedeutung der Wörter bestellt ist, je sorgfältiger er sich dabei all der lexikographischen Hinweise und Markierungen annimmt, die er finden kann, und je intensiver er ihnen in ihren Verweisen aufeinander folgt, umso mehr wird er mit der Realität dessen konfrontiert, dass es für die Formulierung des einen Rechts allein im Deutschen – wie in der Linguistik gesagt wird – über 81 Millionen Sprachen gibt. So viele, wie Sprecher eben.21 In den Europäischen Gemeinschaften leben inzwischen etwa 320 Millionen Menschen. 321

Die begrenzte Leistung des Wörterbuchs wird bei der Übersetzung noch schneller sichtbar. Es liefert Nuancierungen und Plausibilitäten, aber es ermöglicht nicht, der „wirklichen“ Bedeutung fremdsprachlicher Wörter und Sätze habhaft zu werden. Wenn man das Wörterbuch als Werkzeug zur technischen Aneignung einer fremden Sprache verwenden will, ist es überfordert. Gerade in der Übersetzungswissenschaft wird immer wieder gewarnt: „Die Übertragung einer fremden Sprache vollzieht sich nicht als Aneignung eines unbekannten Textes, sondern als Hineinversetzen in den anderen Bedeutungshorizont.“22 Die Übersetzung kann und darf sich nicht dadurch aus ihrer „Verantwortung für die Unberührbarkeit und Fremdheit der anderen Sprache“ stehlen, dass sie sich mit aller darin liegenden Gewalt das übersetzte Werk mittels lexikalischer Äquivalenzen23 entlang des Wörterbuchs gefügig macht.24 Es hat der Übersetzung überhaupt nicht um „Entspre19 Zur Sprache als ein „Labyrinth von Wegen“ Analog L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, 1984, § 203. 20 Zu dieser Potenzierung und nicht einfach nur Addition des Übersetzungsproblems gemessen an der Anzahl der Sprachen Martiny, D., Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, in: ZeuP 1998, S. 227 ff., 236 ff. 21 Vgl. Christensen, R. / Sokolowski, M., Naturrecht und menschliche Sprache oder: die Spuren der Utopie im Recht, in: W. Erbguth / F. Müller / V. Neumann, Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch. Gedächtnisschrift für Bernd Jeand’Heur, 1999, S. 13 ff., 22. 22 Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 349 ff., 355. Zum Übersetzen als hermeneutischen Prozess vgl. Steiner, G., Nach Babel, 2004, S. 311 ff. 23 Siehe Frey, H.-J., Übersetzung und Sprachtheorie bei Humboldt, in: Hirsch, A. (Hrsg.), a. a. O., S. 37 ff., 57 gegen „eine Übersetzungstheorie“, „die auf der Forderung nach Äquivalenz beruhte. Äquivalenz wäre nur vom Zeichen zu verlangen, das auf etwas von ihm Unabhängiges verweist und daher ohne Beeinträchtigung des Bezeichneten ersetzbar ist.“ Eine solche Theorie vertritt etwa Jakobson, R., Grundsätzliche Übersetzbarkeit: Linguistische Aspekte der Übersetzung, in: ders., Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1981, 1988, S. 481 ff. Hiernach ist eine „Übersetzung im eigentlichen Sinne“ „eine zwischensprachliche Übersetzung und deutet sprachliche Zeichen mittels einer anderen Sprache.“ Zur Kritik Derrida, J., Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 119 ff., 128.

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chungen von Wörtern“ zu gehen, sondern einzig um die Entsprechung „zum gesagten Wort (in) der anderen Sprache, was immer die spezifische Erfahrung und Denkungsart (in) der anderen Sprache einschließt.“25 Das Wörterbuch mag dem „Übersetzen“26 zwar auf den „Sprung über den Gra- 322 ben“ helfen, „der die fremde von der eigenen Sprache trennt.“27 Denn immerhin lässt sich das Wörterbuch, „das einsprachige Diktionär wie auch das mehrsprachige, in der Regel zweisprachige Wörterbuch“, „als die möglichst vollständige und möglichst strukturierte Sammlung aller Verständnis- und Übersetzungsmöglichkeiten ansehen.“28 Den Sprung aber muss die Übersetzung mit jedem Wort immer erst selbst tun. Sie muss immer wieder erst zum Übersetzen in den anderen Denkraum“.29 Denn letztlich kann die Übersetzung nicht auf das Wörterbuch bauen, sondern dieses verdankt sich umgekehrt dem Vertrauen in sie. „Die Wörterbücher sind erst dann und allein da möglich, wo ein verlässliches Übersetzen durch gesicherte, eingeführte und vertraute Äquivalenzen gewährleistet ist – und selbst diese Gewährleistung kann sich sehr schnell als Schein erweisen“.30 24 Zur „Unmöglichkeit der Äquivalenz“ Frey, H.-J., Übersetzung und Sprachtheorie bei Humboldt, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 37 ff., 57; zur „Defizienz lexikalischer Translation“ und Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: Hirsch, A., (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 349 ff., 353 und 368 gegen Übersetzung als „eine Assimilation des Fremden“ Weiter Gondek, H.-D., Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Hirsch, A., (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 263 ff., 321 anhand von Lacan, dessen „Suche nach ,Äquivalenzen‘“ in seinem Übersetzungsbemühen gerade „in keinem Augenblick eine Suche nach Eins-zu-eins-Entsprechungen“ ist. Allgemein zur „alles gleich machende(n) Gewalt der Sprache, die sich am krassesten im Wörterbuch zeigt“ Wittgenstein, L., Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, 1984, S. 445 ff., 480; allerdings zugleich auch zu einer der Übersetzung notwendigen „Gewaltsamkeit“ Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 349 ff. 25 Gondek, H.-D., Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 263 ff., 271. Zum Zusammenhang von Sprache und „Versionen und Sichtweisen“ Goodman, N., Weisen der Welterzeugung, 1990, S. 13 ff. 26 Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 349 ff., 363 bestimmt dies als eine Übersetzung, die noch „an den Vorrang des Eigenen gebunden (bleibt)“, als „ein Übersetzen in die geschichtliche Überlieferung der jeweils eigenen Sprachtradition“. 27 Ebd., S. 357. 28 Gondek, H.-D., Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 263 ff., 264. 29 Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: Hirsch, A., (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 249 ff., 363; sowie insges. 356 ff. Zum Bild Heidegger, M., Heraklit, Gesamtausgabe Bd. 55, 1979, S. 45. 30 Gondek, H.-D., Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Hirsch, A., (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 263 ff., 271.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

Der genuinen Sprachlichkeit von Recht muss die Notwendigkeit, zu übersetzen, daher erst einmal Schwierigkeiten machen. Sie droht buchstäblich ins „Bodenlose“ zu fallen.31 Recht wird mit Sprache gebildet und ist ohne sie nicht zu haben, „sofern Recht überhaupt nicht anders von Bedeutung sein kann denn in der Sprache.“32 Vor allem aber ist Recht in seiner Bedeutung immer erst anhand seines Textes zur Sprache zu bringen. Recht ist an den „Buchstaben des Gesetzes“ gebunden und aus ihm zu schaffen.33 Das Gesetz steckt den Rahmen ab, in dem jeglicher Anspruch auf Recht erst auftreten und sich als ein solcher rechtfertigen kann.34 Es „ist, um zum Recht zu werden, unausweichlich auf Sprache angewiesen.“35 Die Sprache ist aber in der Situation einer Mehrsprachigkeit von Recht „ausgesetzt“.36 Sie steht als Übersetzung erst in Erwartung.

411.2 Mehrsprachigkeit und Übersetzungsmaschinen 324

Damit stellt sich die Frage, ob man vielleicht vom Ganzen der Sprache her das Moment von Interpretation in der Übersetzung ausschalten kann. Das war die Hoffnung, die man in die künstliche Intelligenz investiert hat.37 Die Maschine sollte nicht nur den menschlichen Übersetzer überflüssig machen, sondern auch dem Verstehen der Sprache einen festen Grund verschaffen. Ihre Ergebnisse mögen jetzt noch lächerlich erscheinen,38 aber jedenfalls der Versuch liegt in der Konsequenz ihrer Entwicklung, die unzureichende Verstehenstechnik der Hermeneutik in einen 31 Vgl. mit Verweis auf Heidegger Gondek, H.-D., Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 263 ff., 281. Mit Verweis auf Benjamin auch Derrida, J., Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 119 ff., 161. 32 Christensen, R. / Sokolowski, M., Recht als Einsatz im semantischen Kampf, in: Felder, E. (Hrsg.), Semantische Kämpfe, erscheint 2006 in der Reihe Linguistik – Impulse & Tendenzen. 33 Vgl. Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 80 f. Ansonsten umfassend zum Problem der Gesetzesbindung Christensen, R., Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, 1989, hier v. a. S. 18 ff., 68 ff., 269 ff. 34 Vgl. Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 80. 35 Ebd., S. 38. 36 Vgl. Hirsch, A., Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: ders. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 396 ff., 421 im Anschluß an Levinas. 37 Vgl. Winkler, H., Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, 1997, S. 48 ff., 243 ff. Vgl. zur Kritik überzogener Erwartungen auch Steiner, G., Nach Babel, 2004, S. 431 – 433. 38 Vgl. dazu das wunderschöne Beispiel der Übersetzung eines deutschen Methodentextes über Wortlautinterpretation durch eine Übersetzungsmaschine ins Englische bei Somek, A. / Forgó, N., Nachpositivistisches Rechtsdenken, 1996, S. 111.

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Algorithmus zu überführen, der eine objektive Kontrolle des Sprachverstehens endlich möglich macht. Tatsächlich liegen die Schwierigkeiten aber nicht an den begrenzten Fähigkeiten 325 der jetzt verfügbaren Computer, die es noch nicht erlauben, die Komplexität natürlicher Sprachen zu erfassen.39 In den Grenzen der Übersetzungsmaschinen zeigt sich vielmehr ein prinzipielles Problem. Der Computer verlangt nach Daten, welche diskret, explizit und genau definiert sind. Sprachliches Verstehen dagegen erfolgt durch implizites Kontextwissen. Die Semantik40 bräuchte damit für die Deduktion der Bedeutung einen letzten Kontext als Totalität des Wissens. Ein Sprecher hat diese Einheit seines Wissens als vagen und defizitären Horizont. Die Maschine dagegen ist auf vollständige Explikation angewiesen. Diese Schwierigkeiten haben in der KI-Forschung zu einem Paradigmenwechsel41 geführt, von der Gehirnmetapher über die Sprachmetapher zum Problem des Lernens. Diese Entwicklung der KI-Forschung zeigt, dass Expertenwissen nicht ohne Verlust in Regeln darzustellen ist. Heute sind eher der Talmud und das fallbezogene Räsonieren von Gerichten Vorbild der künstlichen Intelligenz. Gesucht sind Modelle für fallorientiertes Schließen aus Episoden.42 Auch in den nicht mehr streng sequenziell arbeitenden Parallelprozessoren führt die Entwicklungsrichtung gerade nicht zur Einlösung des Traums von der Maschine als idealem Sprecher. Denn mit dem Aufbau so genannter neuronaler Netze werden die Maschinen zu black boxes, die weniger programmiert als eher trainiert werden müssen.43 Die Übersetzungsmaschinen werden noch sehr viel besser werden. Aber die Utopie der transparenten Sprache werden sie aus prinzipiellen Gründen niemals einlösen: „Dies setzt die 39 Dazu und zum Folgenden Abel, G., Übersetzung als Interpretation, in: ders. (Hrsg.), Das Problem der Übersetzung, 1999, S. 9 ff., 10 ff. Vgl. dazu aus sprachwissenschaftlicher Sicht auch Wolf, N. R., Einige Bedenken zum Verhältnis von Sprache und Computer, in: Sprachwissenschaft Band 17 (1992), Heft 3 / 4, S. 245 ff. m. w. N.; Schmid, A., Bedeutung und Bedeutungsverwendung im Lichte der maschinellen Übersetzung, in: Thelen, M. / Lewandowska, B. (Hrsg.), Translation and Meaning, 1990, S. 79 ff. Grundlegende Einwände auch bei Searle, J. R., Ist der menschliche Geist ein Computerprogramm?, in: Spektrum der Wissenschaft, 1990 / 3, S. 40 ff. 40 Dazu schreibt Florian Rötzer: „. . . daß in den Computersimulationen der künstlichen Intelligenz eben die Semantik am meisten Schwierigkeiten macht:“ Rötzer, F., Mediales und Digitales. Zerstreute Bemerkungen und Hinweise eines irritierten informationsverarbeitenden Systems, in: ders. (Hrsg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, 1991, S. 52 ff. 41 Vgl. dazu Dreyfus, H. L., Was Computer nicht können. Die Grenzen künstlicher Intelligenz, 1989, der die Geschichte der KI in die Phasen der kognitiven Simulation (1957 – 1962) und der semantischen Informationsverarbeitung (1962 – 1967) einteilt. Zu dem heutigen Paradigmenwechsel in Hinblick auf Orientierung an Problemen des Lernens vgl. Minsky, N., Mentopolis, 1990, S. 196 ff., 216 ff. 42 Vgl. dazu Strube, G. / Janetzko, D., Episodisches Wissen und fallbasiertes Schließen. Aufgaben für die Wissensdiagnostik und die Wissenpsychologie, in: Faßler, N. / Halbach, W. (Hrsg.), Inszenierung von Information, 1992, S. 103 ff. 43 Winkler, H., Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, 1997, S. 255.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

Annahme voraus, dass das Sprechen und Verstehen einer Sprache sowie das Übersetzen (aus der fremden in die eigene Sprache und umgekehrt) Vorgänge sind, die als das Beherrschen eines Kalküls bzw. Algorithmus angesehen werden können. Zugrunde liegt mithin die Vorstellung, dass es darum gehe, diejenige Grundregel und dasjenige Herstellungsverfahren zu finden, nach denen aus einer gegebenen Menge von Buchstaben eines Alphabets bzw. Grundfiguren nach bestimmten Vorschriften bzw. Grundregeln die jeweilige Sprachfigur hervorgebracht werde. Genau hier aber tritt ein doppeltes und grundsätzliches Missverständnis zu Tage: (a) es ist, wie vor allem Wittgenstein gezeigt hat, irrig anzunehmen, der tatsächliche Sprachgebrauch, d. h. das tatsächliche Sprechen und Verstehen einer Sprache, werde durch vorab feststehende Regeln determiniert; (b) Ausdrücke einer natürlichen Sprache verwenden, verstehen und übersetzen zu können, bedeutet gerade nicht, dass man einen Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln. Entsprechend lassen sich auch keine Algorithmen des Sprechens, des Verstehens und der Übersetzung angeben.“44 326

Das Problem der Übersetzung macht damit nur offensichtlich, was schon in der Einzelsprache gilt: Die Sprache lässt sich nicht nach der Architektur der Großrechner begreifen, wo es eine Zentraleinheit gab, in der die Regeln gespeichert waren, und Terminals, wo diese Regeln lediglich angewendet wurden. Vor allem die Sprachgeschichte hat gezeigt, dass die Ordnung der Sprache nach dem Muster des Marktes als „invisible-hand-Phänomen“ entsteht.45 Sie gleicht eher einem Netz, dessen Architektur vom einzelnen Nutzer – mehr oder weniger relevant – mitgestaltet wird. Daraus folgt aber auch, dass Interpretation und Wiedergabe untrennbar vermengt sind: „Dementsprechend sind weder Artikulation noch Verständnis nur reproduktiv; sie sind vielmehr auch unkontrollierbar schöpferisch, und jede individuelle Sinnzuweisung verschiebt die geltenden Grenzen der semantischen Normalität.“46 Der Rekurs auf eine in Bedeutungsbeschreibungen bzw. -erklärungen festgeschriebene, dem Sprachgebrauch buchstäblich „vorgeschriebene“ Bedeutung kann nicht als Vorgabe für die Entscheidung über Sinn und Unsinn und damit über die Möglichkeiten und Grenzen einer Verwendung sprachlicher Ausdrücke einspringen. Das ist im Übrigen der Grund dafür, dass Wörterbuch, Lexikon sowie alle sonstigen anerkannten und selbsternannten Autoritäten in Sachen Sprache mit ihren Bedeutungserklärungen und -definitionen immer wieder nur Beispiele über Beispiele für den Sprachgebrauch in bestimmten Kontexten geben können. 44 Abel, G., Übersetzung als Interpretation, in: ders. (Hrsg.), Das Problem der Übersetzung, 1999, S. 9 ff., 10 f. unter Bezug auf Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, 1984, I Nr. 65 bis 108. 45 Vgl. dazu das grundlegende Werk von Keller, R., Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache, 1994, vor allem S. 87 ff. 46 Gloy, K., Sprachnormen als ,Institutionen im Reich der Gedanken‘ und die Rolle des Individuums in Sprachnormierungsprozessen, in: Mattheier, K. J. (Hrsg.), Norm und Variation, 1997, S. 27 ff., 30.

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Der Zwang zu übersetzen verstrickt den mehrsprachigen Umgang mit Recht un- 327 mittelbar in das Problem der Bestimmbarkeit von Sprache. Das Paradox, dem die Arbeit am Text des Rechts ausgesetzt ist, ist nichts anderes als der Ausdruck ihrer Verstrickung in das Grundparadox von Übersetzung, zugleich möglich und unmöglich zu sein. In dem Maß, in dem die Übersetzung gelingt, sofern sie sich jeweils den Text der anderen Sprache in der eigenen anverwandelt und ihn damit in seiner Bedeutsamkeit erschließt, in dem Maß scheitert sie auch, sofern sie damit den Text der ihm eigenen Sprache entfernt und damit in seiner Bedeutung entwurzelt. Insofern die Übersetzung den mehrsprachigen Umgang mit Recht der Krise von Sprache aussetzt, wird das Recht aufgrund seiner unbedingten Sprachlichkeit seinerseits grundlos. Darauf weist die Forderung der Übersetzung hin. Sie vollzieht in Bezug auf die Differenz von Norm und Normtext die Kritik des Wortlauts als Hort stabiler Bedeutung. Übersetzung ist deren Verflüssigung par excellence, indem sie die Praxis von Bedeutung als Differenz ist. Die wechselseitige Beunruhigung der Sprachen in der Übersetzung bedeutet jene Vervielfältigung und Destabilisierung von Sinn, die mit jedem Zugriff auf sie als Sprache sozusagen diesen Zugriff zerrinnen lässt. Übersetzung setzt nicht einfach nur die der Sprache eigene Tendenz zur Semantisierung frei. Sondern indem sie dies auf dem Weg der wechselseitigen Verunsicherungen und Verfremdungen der Sprachen tut, nimmt sie den Semantisierungen jeden Schein einer Entscheidbarkeit durch Sprache, jede Aussicht auf eine sichere Zuflucht zu Synonymen, Äquivalenzen, Interferenzen von gemeinsamen Nennern oder zu Referenzen als Fixpunkt. Den wechselseitigen Beunruhigungen, denen sich die Sprachen in der Übersetzung aussetzen, kann für den Text des Rechts nur eine Grenze juristischer Entscheidung gesetzt werden. Übersetzen ist für den mehrsprachigen Umgang mit Recht keine sprachliche, sondern eine kritische Aufgabe. Darin liegt die babylonische Situation des EuGH. Das vorgeblich feste Vertrauen in die ruhige Architektonik der einzigen Sprache, von den nationalen Gerichten häufig bemüht, ist ihm durch die Mehrsprachigkeit von vornherein entzogen. „Der ,Turm(bau) zu Babel‘ gestaltet nicht bloß die irreduktible Vielfalt der Sprachen, er stellt auch ein Unvollendetes aus, die Unmöglichkeit des Vollendens, des Totalisierens, des Sättigens, die Unmöglichkeit, etwas zu Ende zu bringen, etwas zu vollbringen, was sich dem Bereich des Aufbauens zuordnen ließe, dem Bereich der Konstruktionen, die Architekten besorgen, dem Bereich des Systems und der Architektonik.“47 411.3 Mehrsprachigkeit und gemeinsamer propositionaler Gehalt Gibt es nun aber trotz der Verschiedenheit der Sprachen einen gemeinsamen ge- 328 danklichen Gehalt, der eine technische Lösung des Übersetzungsproblems erlaubt? Dies hätte wiederum den Vorteil, die Juristen von ihrer Verantwortung zu entlasten. 47

Ebd., S. 119.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

Wenn man die von der methodischen Literatur vorgeschlagene „GemeinsamerNenner-Regel“ als Bezug auf die den Sprachen gemeinsamen geistigen Gehalte oder Propositionen versteht, dann wäre Übersetzen ein rein technisches Problem. Nach der sich darin niederschlagenden Auffassung ließe sich immer ein Bedeutungsgehalt erkennen, der, beispielsweise in Form von Propositionen, einem übersetzten Satz und seiner Übersetzung gemeinsam wäre. Übersetzungsarbeit beschränkte sich in diesem Fall auf den Fleiß, zum Transfer der Sprachen die Signifikanten füreinander auszutauschen. Kontrolliert und sicher bei der Hand genommen wäre dieser Austausch durch die von ihm unberührt bleibende gemeinsame Proposition (Aussage). Dies mag dem gesunden Menschenverstand einleuchten. Allerdings löst sich diese Plausibilität in Luft auf, sobald die ebenso bescheidende wie naheliegende Frage gestellt wird, was denn nun diese Propositionen seien. Sind sie geistige, intentionale Entitäten, logische Konstrukte, mentale Bilder? Blitzschnell füllen sich die Regale der Bibliotheken. Um der gemeinsamen Proposition habhaft zu werden, muss sie jedenfalls formulierbar sein. Das kann aber nur in einer Sprache geschehen. Die Annahme einer gemeinsamen Bedeutung geleitet also die Übersetzung keineswegs auf die sicheren Bahnen eines kleinen Grenzverkehrs zwischen den Sprachen. Sie vermehrt nur die Teilnehmer. Denn auch die Sprache der Propositionen will übersetzt und damit verstanden sein. „Somit müsste ich eine dritte Sprache einführen, um die Wahrheit der Proposition, die von der ersten und zweiten transportiert wird, zu bestätigen. Doch diese Operation könnte nur mit der Einführung einer vierten zu den ersten dreien gewährleistet werden und so weiter. Ein anderer Turm von Babel, eine collage de farce.“48 Die Theorie der Propositionen liefert also dem Übersetzen kein sicheres Gerüst, sondern führt im Gegenteil zu der Folgerung: „Die Schwierigkeit des Übersetzens (lässt sich) niemals als eine bloß technische erfassen“.49 Spätestens mit der Provokation der Quineschen These von der radikalen „Unbestimmtheit der Übersetzung“50 gerät diese dem Recht just in dem Moment zum Grundproblem, in dem es – für seinen operationalen Einsatz51 – zu seinem Text zu finden hat.52 48 Allison, D. B., Die Différance der Übersetzung, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 375 ff., 382. 49 Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: Hirsch. A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 349 ff., 353. 50 Quine, W. v. O., Unterwegs zur Wahrheit, 1995, S. 62 ff. Siehe ursprüngl. ders., Wort und Gegenstand, 1980, S. 59 ff. Dazu Gochet, P., Quine zur Diskussion, 1984, S. 79 ff. 51 Dazu Christensen, R. / Sokolowski, M., Recht als Einsatz im semantischen Kampf, erscheint 2003. 52 Zum Begriff des Textes in diesem Zusammenhang Christensen, R., Der Richter als Mund des sprechenden Textes. Zur Kritik des gesetzespositivistischen Textmodells, in: Müller, F. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 47 ff., 52 ff. Weiter Müller, F., Einige Grundfragen der Rechtslinguistik, in: ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Neue Aufsätze (1995 – 1997), 1997, S. 55 ff. Aus linguistischer Sicht Busse, D., Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, 1992, S. 41 ff.

411 Art. 314 EG und das Problem der Mehrsprachigkeit

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Recht ist nicht allein schon mit den gesetzlichen Regelungen greifbar und gege- 329 ben. Recht ist immer wieder erst durch die Bearbeitung von derart in Geltung gesetzten Texten hin zur Norm zu erzeugen.53 Davor ist mit einer Mehrsprachigkeit von Recht aber die „Aufgabe“ des Übersetzens54 gesetzt. Durch sie wird die Arbeit am Text des Rechts55 unmittelbar in das Problem der Sprache verstrickt: „Übersetzung rührt an das Ganze der Sprachen.“56 Sie setzt die Erzeugung von Recht aus dem dann allerdings in seiner Bedeutung dafür57 bindenden Normtext unvermittelt der „Sprachlichkeit von Sprache“58 aus. „Übersetzung ist eine Beziehung von Sprache auf Sprache, keine Beziehung auf eine außersprachliche Bedeutung, die kopiert, paraphrasiert oder nachgeahmt werden könnte.“59 Mit der Mehrsprachigkeit von Recht vervielfachen sich nicht etwa lediglich die 330 Versionen seiner Formulierung. Die Beziehung von Ausgangstext und Übersetzung darf man aber nicht „als eines der Darstellung oder Wiedergabe mißverstehen“.60 Es gibt keinen gemeinsamen Rechtsgedanken, welcher im Sinn der Theorie der Propositionen die identische Wiedergabe in verschiedenen Sprachen garantieren könnte. Recht und Sprache stehen nichts in einem Repräsentationsverhältnis.61 Recht ist nichts anderes62 als die semantische Praxis seiner methodengerechten Formulierung. „Recht ist eine Frage des Verfahrens der Arbeit mit und an seinem 53 Ausführlich dazu Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 470 ff. 54 Siehe grundlegend Benjamin, W., Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Gesammelte Schriften, Band IV.1, 1972, S. 10 ff.; sowie im Anschluss daran Derrida, J., Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 119 ff. Ausführlich zu beiden Hirsch, A., Der Dialog der Sprachen. Studien zum Sprach- und Übersetzungsdenken Walter Benjamins und Jacques Derridas, 1995. 55 Zur juristischen Textarbeit Müller, F., Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre (1996, mit Ralph Christensen), in: ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Neue Aufsätze (1995–1997), 1997, S. 71 ff.; ders. / R. Christensen / M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997. 56 Gondek, H.-D., Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 263 ff., 321. 57 Siehe hier zugunsten von zweitem zur „Differenz zwischen ,Bedeutung haben‘ und ,von Bedeutung sein‘“ Müller, F. / Christensen, R. Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 186. 58 Vgl. Derrida, J., Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 119 ff., 159. 59 Man, P. d., Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 182 ff., 192. 60 Derrida, J., Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 119 ff., 136. 61 Vgl. Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 19 ff. 62 Dazu, in welchem Sinne „es so etwas wie das Recht gar nicht gibt“ Christensen, R. / Sokolowski, M., Recht als Einsatz im semantischen Kampf, in: Felder, E. (Hrsg.), Semantische Kämpfe, erscheint 2006 in der Reihe Linguistik – Impulse & Tendenzen.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

Text in seiner Bedeutung dafür und nicht sonst.“63 Sich als eine solche „Arbeit“ und „Anstrengung“64 den fremden Text in seiner Sprache als ein Zeichen von Recht zu erschließen, um ihn in der eigenen Sprache zur Geltung zu bringen, ist genau das Problem der Übersetzung65 und nicht etwa dessen Lösung, wie es ein technisches Denken von Übersetzung vermeint, das im Übersetzen lediglich „eine Art ,Umleitung‘ des sprachlichen Verkehrs“ sieht.66 Und schon gar nicht kann die Übersetzung einen ihr durch die Worte der anderen Sprache zugesicherten Angriffspunkt, Hebel und Halt im Original als einem Zeichen für Recht finden67, wie es ein „instrumentalisierendes“ Denken68 erhofft, das glaubt, sich an irgendwelchen, sich durch die Sprachen stabil durchhaltenden und mit der Übersetzung weiter zu stabilisierenden Bedeutungen schadlos halten zu können.69 Auch für die Übersetzung liefert der zu übersetzende Text „keinen Ort stabiler Sprache, welcher als punktuelle Größe“ von ihr „nur verfehlt oder getroffen werden könnte.“ Ebensowenig im Übrigen „die vom Gesetzgeber geschaffene Zeichenkette“ für die Auslegung in der eigenen Sprache.70 Der „Bedeutungsort“ ist allenfalls „der transitive Übergangsort – des Überquerens, des Setzens und des Erschließens“71, in den sich die Übersetzung immer wieder erst einzufinden hat.

63 Christensen, R., Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, 1989, S. 274 ff.; Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 31 ff. 64 Vgl. allgem. so Derrida, J., Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 119 ff., 156 f. 65 Zu dem hier anklingenden hermeneutischen Charakter der Übersetzung im Anschluss an Heideggers wechselseitiger Bestimmung von Übersetzen und Auslegen Gondek, H.-D., Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 263 ff.; Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 349 ff. 66 Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: Hirsch, A., (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 349 ff., 362. 67 Zur Differenz von Zeichen und Wort im Anschluss an Humboldt Frey, H.-J., Übersetzung und Sprachtheorie bei Humboldt, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 37 ff. Ansonsten auch Schestag, Th., Sem, in: ebd., S. 64 ff., 66 ff. 68 Vgl. Hirsch, A., Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: ders. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 396 ff., 402. 69 Dagegen Man, P. d., Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“, in Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 182 ff., 207; Gondek, H.-D., Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 263 ff. 70 Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 32. 71 Allison, D. B., Die Différance der Übersetzung, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 1997, S. 375 ff., 379.

412 Grammatische Konkretisierung

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412 Grammatische Konkretisierung macht einen sprachlichen Plausibilitätsraum sichtbar

Das Problem der Mehrsprachigkeit lässt sich nicht technisch lösen. Weder das 331 Wörterbuch noch ein gemeinsamer geistiger Gehalt der europäischen Sprachen garantieren einen Austausch von Sätzen nationaler Währung gegen Europropositionen. Wenn es aber keinen automatischen Transfer zwischen den Semantiken des nationalen Rechts gibt, wie kann man dann mit Mehrsprachigkeit umgehen, ohne das Ziel der Rechtssicherheit zu opfern?

412.1 Risiken der Mehrsprachigkeit im Recht So einfach, wie die herkömmliche Lehre es will, lassen sich die Probleme der 332 Mehrsprachigkeit nicht beheben: „Mit der Europäisierung der nationalen Rechte kommen zusätzliche Sprach- und Verständnisprobleme auf uns zu. Damit verbunden ist auch die Gefahr einer Beeinträchtigung, um nicht zu sagen Zerstörung nationaler Rechtstradition.“72 Durch die Gleichberechtigung verschiedener Sprachfassungen ist für Divergenzen tatsächlich eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben. Denn verschieden sind ja nicht nur die Sprachen, sondern auch die jeweiligen Rechtskulturen.73 Der aus der Übersetzungswissenschaft bekannte Umstand, dass der entsprechende Begriff in der Zielsprache ganz andere Entgegensetzungen hat als in der Ausgangssprache, verschwindet ja nicht einfach, wenn man die verschiedensprachlichen Texte jeweils als Original nimmt. Dieser Unterschied wird vielmehr in der Situation juristischer Entscheidung überhaupt erst zum wirklichen Problem. Die Verschiedenheit der begrifflichen Oppositionen befindet sich in jeder der beteiligten Sprach- und Rechtskulturen in beständigem Fluss, und es muss dennoch entschieden werden; und dies sogar ohne die Möglichkeit, Original und Übersetzung in ein hierarchisches Verhältnis zu setzen. Damit sind die Erschwerungen aber noch nicht erschöpft. Eine weitere Komplikation liegt darin, dass jedenfalls im Primärrecht eine Vielzahl politischer Formelkompromisse enthalten ist und die Verträge häufig unter starkem zeitlichem Druck redigiert wurden.74 72 Schubarth, M., Die Bedeutung der Mehrsprachigkeit der schweizerischen Gesetze für die höchstrichterliche Rechtsprechung, in: LeGes 2001 / 3, S. 49 ff., 55. 73 Vgl. dazu Everling, U., Der Gerichtshof als Entscheidungsinstanz, in: Schwarze, J. (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 137 ff., 139; Hilf, M., Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973, S. 20 ff.; Weber, A., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 4: Art. 189 – 248, 5. Aufl., 1997, Art. 248, Rn 6. 74 Vgl. Ophüls, C. F., Über die Auslegung der Europäischen Gemeinschaftsverträge, in: Greiß, F. / Meyer, S. W. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für Alfred Müller-Armack, 1961, S. 279 ff.; sowie Smit, H. / Herzog, P., The law of the European Communities, 1993, Art. 248, Rn. 4; Ginsbergen, G. v., Enkele opmerkingen over de terminologie van de Nederlands tekst van het EEG-Verdrag, N. J. B. 1966, S. 129 ff.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

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Tatsächlich wirft die Sprachenvielfalt75 vielerlei praktische Probleme76 sowohl für die Institutionen der Gemeinschaft als auch für die Rechtsunterworfenen auf.77 Gemäß dem Sprachwissenschaftler Florian Coulmas ist davon auszugehen, dass etwa 40% des Verwaltungshaushaltes der Gemeinschaft für die Konsequenzen der Vielsprachigkeit aufgewendet werden müssen.78 Außerdem zeigt sich das Risiko, dass neben das schon bekannte „Forumshopping“ noch ein „Languageshopping“ tritt, was der einen Partei eventuell Verfahrensvorteile verschaffen kann. Schließlich ergeben sich auch für die Bürger der Gemeinschaft Sprachlasten, welche die Rechtsverfolgung erschweren können. So hat der EuGH entschieden, dass ein Unternehmen, welches einen Übersetzungsfehler leicht hätte erkennen können, sich nicht im Wege des Vertrauensschutzes auf die zu seinen Gunsten falsche Fassung einer Gemeinschaftsrechtsnorm berufen könne;79 und dies obwohl das beklagte Hauptzollamt die Fehlübersetzung eines die Einfuhr von Sauerkirschen beschränkenden Textes in Süßkirschen ebenso wenig bemerkt hatte wie die Importeurin.80 Es ergeben sich also praktische Nachteile sowohl für die Gemeinschaft als auch für den Bürger.

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Fraglich ist, ob diese Nachteile durch einen Gewinn an Rationalität im mehrsprachigen Recht ausgeglichen werden. „Die Erkenntnis, dass die Sprachenvielfalt in einem Europa des offenen Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs auch zu entsprechend vielfältigen kulturellen Kontakten führt, ist sicher als Chance zu sehen, aus der eigenen Herkunftswelt in eine (zunächst fremde) Ankunftswelt zu wechseln, was neue Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen kann. Im Bereich des Rechts dürfte der Risikofaktor allerdings überwiegen, da hier vor allem nach Rechtssicherheit – was auch Sicherheit bezüglich sprachlicher Bedeutungen meint – gestrebt wird. Sicherheit ist jedoch umso weniger zu haben, je mehr gleichwertige Sprachen bezüglich der ,richtigen‘ Interpretation des Rechts konkurrieren.“81

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Diese Schwierigkeiten begünstigen in der juristischen Literatur ein Fluchtverhalten: man dürfe das Prinzip der sprachlichen Gleichberechtigung nicht überbeDerzeit (2006) sind es 21 Vertrags- und 20 Amtssprachen. Diese Probleme reichen bis ins Verwaltungsverfahren und die sprachgerechte Zustellung hinein. Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 08. 11. 2005 – C-432 / 03 (Götz Leffler / Berlin Chemie AG), in: NJW 2006, S. 491 ff. 77 Vgl. dazu Berteloot, P., Die Europäische Union und ihre mehrsprachigen Rechtstexte, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, 2004, S. 179 ff.; Sandrini, P., Transnationale interlinguale Rechtskommunikation: Translation als Wissenstransfer, in: ebd., S. 139 ff. 78 Coulmas, F., Die Wirtschaft mit der Sprache, 1992, S. 156. 79 EuGH, Slg. 1996, S. 5105 ff. (Konservenfabrik Lubella). 80 Dazu auch Schübel-Pfister, I., Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 325. 81 Baumann, M., Europäische Sprachenvielfalt und das Recht oder der Vormarsch des Englischen und der Bilder, in: Der Einfluss des europäischen Rechts auf die Schweiz. Festschrift zum 60. Geburtstag von Roger Zäch, 1999, S. 15 ff., 21. 75 76

412 Grammatische Konkretisierung

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werten, „weil es linguistischen Erkenntnissen offenbar nicht ausreichend zu genügen vermag“.82 Bei dieser Äußerung wird auf die Arbeit der Sprachwissenschaftlerin Petra Braselmann Bezug genommen.83 Tatsächlich wird dort aber nur gezeigt, dass eine gemeinschaftsbezogene Bedeutung nicht einfach aufgefunden werden kann, etwa als das Gemeinsame der verschiedenen Nationalsprachen. Und es wird deutlich, dass die Maßstäbe, mit denen Juristen Bedeutungskonflikte entscheiden, gerade keine Direktiven sind, die von der Sprache her vorgegeben wären. Als einzige Möglichkeit einer sprachlichen Hierarchie bei Bedeutungskonflikten bietet Braselmann das Verhältnis von Urfassung und abgeleiteter Fassung in der Übersetzungssituation an. Diesen Weg verbietet aber Art. 314 für das Gemeinschaftsrecht. Deswegen kann nicht die Sprache, sondern müssen die Juristen mit ihren spezifischen Argumenten die Verantwortung für die Entscheidung des Bedeutungskonflikts übernehmen. Das heißt nun aber nicht, dass das Vorgehen der Juristen in irgendeiner Weise sprachwissenschaftlich illegitim wäre. Bedeutungskonflikte sind in vielen Bereichen der Sprache ein alltägliches Phänomen und von Linguisten immer wieder untersucht worden.84 Illegitim aus Sicht der Sprachwissenschaft wird die Entscheidung eines Bedeutungskonfliktes erst dann, wenn die Autorität der Sprache in Anspruch genommen wird, wo eigentlich Sachargumente stehen müssten. Insoweit kann man nicht sagen, Art. 314 EG genüge nicht linguistischen Erkenntnissen. Ganz im Gegenteil: Er ist sogar eine Konsequenz aus ihnen. Denn ein Wertunterschied zwischen Einzelsprachen lässt sich sprachwissenschaftlich nicht begründen. Allerdings zwingt Art. 314 EG die Juristen zur Übernahme ihrer Verantwortung für die Entscheidung von Sprachkonflikten. 412.2 Die gemeinsame Sprache als Kommunikation der Unterschiede Vor den Schwierigkeiten der Mehrsprachigkeit kann man also nicht in eine Leit- 336 sprache ausweichen. Man muss diese Schwierigkeiten vielmehr praktisch lösen. Institutionell versucht die Europäische Union des Problems der Mehrsprachigkeit durch die Einrichtung diverser Übersetzungsdienste Herr zu werden. An erster Stelle steht hier der in Gestalt des European Commission’s Translation Service (STD) weltweit größte Übersetzungsdienst. Weit über 1000 Fachleute, unterstützt durch einen Stab von mehreren hundert Mitarbeitern, bewältigen hier die in den offiziellen Sprachen der EU täglich anfallenden Aufgaben der Übersetzung schriftlicher Texte. Hinzu kommen noch die Dolmetscher, welche die mündliche Kommunikation zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen Mitgliedsnationalitä82 Weber, A., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 4: Art. 189 – 248, 5. Aufl., 1997, Art. 248, Rn. 16. 83 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: Gemeinschaftsrecht 1992, S. 55 ff. 84 Vgl. dazu nur Wimmer, R., Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik, in: Heringer, H. J. (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 290 ff. m. w. N.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

ten gewährleisten. Dabei unterhalten die verschiedenen Institutionen, wie das Europäische Parlament und der EuGH, noch eigene Übersetzungsdienste. Übergreifend zuständig für die mündliche Kommunikation ist der Joint interpreting and conference service, der nicht nur die offiziellen Sprachen bedient, sondern zudem auch etwa die Sprachen der potenziellen Beitrittsländer für die entsprechenden Verhandlungen. Mehrere hundert Dolmetscher leisten hier die Übersetzungen zwischen mehr als 24 Sprachen.85 Eine Infrastruktur dafür findet sich in EUR-lex, worüber das gesamte geltende Gemeinschaftsrecht sowie die Rechtsprechung, Vorarbeiten und Ähnliches grundsätzlich in sämtlichen Sprachen zugänglich sind. Flankiert wird die Arbeit durch die Website der Europäischen Union, die insbesondere „information about legible writing campaigns, translation theory and practice and style guides“ bereit stellt.86 Außerdem steht mit Eurodicautom eine Terminologiedatenbank zur Verfügung.87 337

Mit gewaltigem Aufwand wird also das Problem der Mehrsprachigkeit88 praktisch bearbeitet. Das europäische Recht muss einen Ausgleich finden zwischen der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichrangigkeit der Sprachen der Mitgliedstaaten und der ebenso verfassungsrechtlich gebotenen Verständlichkeit: „Law and Language are interacting partners all over the world. But due to the European Union it is also a very specific problem for European lawyers and translators / interpreters. Translators must translate written law into the official languages of the European Union. Spoken language must be interpreted, in order to have a common understanding of official speeches within the European Union’s institutions. Inside the European Union the use of different languages is one of the obstacles to the integration process.“89

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Die fast schon „klassische“ Lösung des Konflikts zwischen Praktikabilität und Verständlichkeit besteht in der Terminologisierung.90 Das heißt konkret, „legal harmonisation can only be attained by standardising legal terms within the European Union.“91 Ganz allgemein besteht eine solche Standardisierung auf dem Weg der 85 Zu alledem Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 13 f. 86 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 14. Siehe dann http: //europa.eu.int/comm/translation/. 87 Siehe http: //europa.eu.int/eurodicautom/Controller. 88 Vgl. Art. 314 EG. Dazu Buerstedde, W. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Leaving Babel. Die Aufgabe des Übersetzens als Chance für die Arbeit des EuGH, in: Müller, F. / Wimmer, R. (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, 2001, S. 119 ff., 120 f. 89 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 1. 90 Linguistisch grundlegend dazu Hoffmann, L., Kommunikationsmittel Fachsprache, 1976; sowie im besonderen auch Engberg, J., Juristische Textsorten – Konventionen – Das Lehren fachsprachlicher Normen, I, Fremdsprachen und Hochschule 2000, S 75 ff. 91 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 1 f.

412 Grammatische Konkretisierung

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Terminologisierung in der expliziten Definition eines bestimmten Ausdrucksgebrauchs. Zudem werden dabei meist für ein Anwendungsgebiet ganze Terminologiesysteme festgelegt und die Bildung von Termini vereinheitlicht.92 Für die Sprache des Europarechts können so zwei Vorteile erwartet werden: Erstens bleibt das Gewicht der Nationalsprachen erhalten. Zweitens kann über die explizite Festlegung die Bedeutung in jeder Nationalsprache transparent gemacht werden. Gleichberechtigung der Sprachen und Verständlichkeit wären so zugleich durch reglementierte Ausdrücklichkeit gewährleistet. Für das Gemeinschaftsrecht ist natürlich auch der Effekt der damit verbundenen Harmonisierung von Bedeutung. Die zu Missverständnissen und latenten Konflikten führenden Differenzen im Verständnis einzelner Rechtsbegriffe kommen natürlich nicht von ungefähr. Vielmehr wurzeln sie in unterschiedlichen Rechtsauffassungen und -systemen, die sich – bezogen auf bestimmte Regelungsphänomene – dann unterschwellig in die scheinbare Klarheit der Benennung einer Streitfrage einschreiben, so dass „both parties will have complete different concepts in mind“.93 Hinzu kommt der in der Besonderheit des jeweiligen Rechtssystems wurzelnde Gebrauch von spezifischen Ausdrucksformen. Ein bundesrepublikanischer Anwalt wird nicht sofort wissen, um was es geht, wenn in einem österreichischen Schriftsatz beispielsweise von „Präsenzdiener“, „Landeshauptmann“, „Aufsandungsurkunde“ oder „Superädifikat“ die Rede ist.94 Dies gilt auch für scheinbar selbstverständliche Begriffe wie den des Besitzes, mit dem auf dem Weg über der Ausdrucksgleichheit unter Umständen unbemerkt recht unterschiedliche Rechtsüberzeugungen in die Debatte eingebracht werden können. „When a German speaks of Besitz, he means factual possession. However, an Austrian lawyer understands Besitz as the factual possession including the animus domini. What a German understands under Besitz, is for an Austrian Innehabung.“95 Ein weiteres Beispiel ist der Begriff des Verbrauchers, den das Gemeinschaftsrecht besonders schützen will.96 „Different directives have as their objective the protection of the consumer. But these directives do not offer a common definition of what can be understood by a consumer. Is it only a natural person? Are small and medium-sized businesses also protected? All these problems remain unclear. Consumer protection is a very touchy issue in the European Union as well as in the Member States. One of the obstacles to trade within Europe is that the rules protecting consumers are different in different countries. This is also true for the areas of consumer law where Directives exist. One reason for this Siehe etwa die Festlegungen durch die DIN 2342. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 1, Anm. 1. 94 Zu diesen Beispielen Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 1, Anm. 2. 95 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 7. 96 Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 8 ff. 92 93

17 Müller / Christensen

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

is of course that the Directives include minimum clauses giving the Member states the right to adopt or retain stricter or more consumer-friendly rules.“97 339

Die Europäische Kommission hat im Februar 2003 auf diese Situation mit ihrem „Aktionsplan“ für ein einheitlicheres Vertragsrecht reagiert.98 Generelles Ziel ist die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Rechtssprache.99 Dabei soll der Aktionsplan einen Bezugsrahmen bieten. „One of the official aims will be the preparation of a common frame of reference, providing a pan-European terminology and rules.“100 Mit diesem Bezugsrahmen werden zugleich Öffentlichkeit und Optimierung in Hinblick auf eine gemeinsame Rechtssprache angestrebt.101 Auf diese Weise hofft man, ein ganzes Bündel von Problemen auf einen Streich lösen zu können. Zum ersten geht es um das Problem des Rechtsvergleichs102, über die gemeinsame Terminologie könnte der Einstieg in den Vergleich erleichtert werden. Differenzen in den europäischen Rechtskulturen sollen damit nicht zum Verschwinden gebracht werden. Sie werden im Gegenteil dadurch besser sichtbar und artikulierbar. Zum zweiten geht es um das Problem der Verständlichkeit und vor allem auch der Nachvollziehbarkeit für den Rechtsunterworfenen in den verschiedenen Nationen. Hier sollte eine harmonisierende Terminologisierung zur Transparenz beitragen und so der Forderung nach einer „europäischen Rechtskultur“103 durch eine sprachliche Fassung von Recht entgegen kommen, „that can be understood not only by legal experts but also even by laymen without any legal skills. Therefore in expanding the European Union it is important to create law that concentrates on the needs of the audience. The audience will vary with the circumstances. So a judge will primarily decide a case for the benefit of the parties in a case. He / she therefore has to use a language, which is comprehensible to the par97 Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 8. Siehe dazu dann etwa im Vergleich die Festlegungen zum Begriff des Verbrauchers durch Art. 1(2) Council Directive 85 / 577 / EEC (Tür zu Tür Verkauf); Art. 1, (2), Council Directive 87 / 02 / EEC zusammen mit Council Directive 90 / 88 / EEC (Verbraucherkredite); Art. 2 (b) Council Directive 93 / 13 / EEC (Unfairer Vertrag); Art 2(e) Directive on Electronic Commerce 2000 / 31 / EC; Art. 2 (b); Directive 94 / 47 / EC (Timesharing); Directive 98 / 6 / EC (Preisauszeichnung). Insgesamt auch das Green Paper on European Union Consumer Protection (COM(2001)531 final); sowie Abbamonte, G., The harmonisation options. Hearing on the Green Paper on Consumer Protection, 7 December 2001, unter: http: //europa.eu.int/search/s97.vts. 98 Informationen unter http: //europa.eu.int/comm/consumers/cons_int/safe_shop/fair_ bus_pract/cont_law/oper_results_en.htm; dazu auch Heutger, V., Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht, in: Jusletter 17. 2. 2003 (www.jusletter.ch), v.a. Rn. 14 f. 99 Siehe Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 2 f. 100 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, Abstract. 101 Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 2. 102 Dazu Sacco, R., Einführung in die Rechtsvergleichung, Baden-Baden 2001, v.a. S. 33 ff. 103 Dazu Hesselink, M., The new European legal culture, Deventer 2001.

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ties.“104 Und schließlich ist da das Problem der Übersetzung in den europäischen Institutionen, gerade auch denen der Rechtspflege. Hier könnte eine Terminologisierung Orientierungen und Anhaltspunkte für die Textnähe der Übersetzungen zu ihren Ausgangstexten liefern. Allerdings darf man hier weder in die Illusion verfallen, auf diesem Weg ein Original in der Zielsprache nachschaffen zu können;105 noch kann hier auf jene Freiheit der Übertragung verzichtet werden, die es erlaubt, auch sprachlich flexibel auf ein Recht im Wandel zu reagieren, wie es das europäische in besonderer Weise darstellt. Eine Definition im Dienst der harmonisierenden Terminologisierung „should not be seen as everlasting defined terms. I ask for a more open system where definitions are used as a sort of commentary for specific use in a specific legal field. So the terminology and meaning of terms may differ in consumer contract law from the use of the same terminology in banking law.“106 Die Übersetzung wird durch die gemeinsame Terminologie erleichtert. Man kann zwischen den ausdrücklichen Definitionen Verknüpfungen herstellen und sich daran ein Stück entlang hangeln. Aber Übersetzung wird nie zur mechanischen Transformation. Sie bleibt riskante Interpretation. Nur lässt sich ihr Risiko durch eine breitere Basis von Gemeinsamkeit mindern. Der Aktionsplan der Europäischen Kommission zum E-Commerce ist ein wei- 340 teres Beispiel. Allerdings auch noch nicht mehr als ein erster Schritt, denn auch er selbst konnte sich noch nicht ganz von sprachlichen Inkonsistenzen und Indifferenzen befreien. Für den Begriff „general contract term“ etwa werden im Deutschen zwei Übersetzungen angeboten, die untereinander nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sind, nämlich „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ und „Standardvertragsklauseln“.107 Allgemein gilt immer noch, dass „efforts to strengthen the use of harmonized legal language in all the European Union Member States must be seen in a critical light. The databases provided to date are not sufficient to offer adequate means to provide guidance to the citizens of the European Union. Nearly no official paper or database is dealing with the linguistic problems of an enlarging Union.“108 Dennoch scheinen diese Bemühungen in die richtige Richtung zu weisen, zumal sie mit dem „Sixth Framework Programme for research and technological development (FP6)“109 erst der Anfang eines umfangreichen, in der Planung 104 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 5. 105 Allgemein dazu Buerstedde, W. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Leaving Babel. Die Aufgabe des Übersetzens als Chance für die Arbeit des EuGH, in: Müller, F. / Wimmer, R. (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, 2001, S. 119 ff., 129 ff. 106 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 7. 107 Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 6. 108 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 14. 109 Siehe auch die Proklamierung des Jahres 2001 zum Europäischen Jahr der Sprachen, dazu http: //eurolang2001.org.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

bis in das Jahr 2007 reichenden Programms sind. Gestützt werden können sie durch das Internet und den Zugang zu entsprechenden Datenbanken, um so durch eine zunehmende Kohärenz des Gebrauchs von Rechtsbegriffen auch eine zunehmende Transparenz zu erreichen.110 Eine Grundlage dafür bieten nicht nur die Website der Europäischen Union für Übersetzungsfragen111, über die eine Fülle von Dokumenten zugänglich ist, oder die Terminologiedatenbank Eurodicautom112, sondern auch nationale Bemühungen wie etwa die Richtlinien zu einer bürgernahen Verwaltungssprache, die das Bundesverwaltungsamt veröffentlicht hat.113 Bemerkenswert ist vor allem der Perspektivenwechsel, der sich hier andeutet. Mit dem Streben nach rechtssprachlich terminologischer Kohärenz, Harmonisierung und Standardisierung wird rechtliche Kommunikation tendenziell nicht mehr allein vom nationalen Interesse her gedacht. Vielmehr deutet sich mit der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Rechtssprache eine Ausrichtung am Ziel der europäischen Integration auch und gerade im Recht an. „Such a common legal language will not be based on national legal concepts, but will be drafted with a view to the needs of the citizens of the European Union. The recent approach of the Commission on providing a common frame of reference is a step forwards to a pan-European legal language.“114 341

Die Sprache spielt in den Reflexionen der Juristen eine zweifache Rolle: Einmal ist sie eine kritische Instanz, welche die Verfestigung einer bestimmten Interpretation durch Hinweis auf die Vielfalt des tatsächlichen Sprachgebrauchs wieder in Bewegung bringt. Die zu diesem Zweck in der praktischen Rechtsarbeit entwickelte kreative Phantasie der Nuancierung des Sprachgebrauchs macht die Jurisprudenz nicht nur zu einem geeigneten Anknüpfungspunkt sprachphilosophischer Überlegungen, sondern trifft sich auch mit dem Anliegen der neueren Sprachwissenschaft, die Pluralität des Sprachgebrauchs ins Zentrum zu stellen.115 Die Verwendung der Sprache als kritische Instanz zeigt sich im Kontext der Gesetzesbindung überall dort, wo hinter der vorgeblichen Rechtsanwendung eine Rechtserzeugung sichtbar gemacht wird, deren Begründungslasten spezifisch juristisch sind und nicht auf die Sprache abgeschoben werden können.

342

Zum anderen hat die Sprache im Rahmen der Jurisprudenz aber auch eine legitimatorische Funktion. Die Ordnung der Sprache soll Gerechtigkeitsmodelle 116 und 110 So Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 12. 111 Siehe http: //europa.eu.int/comm/translation/index_en.htm. 112 Siehe http: //europa.eu.int/eurodicautom/Controller; dazu Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 12 f. 113 Zu finden über http: //www.bundesverwaltungsamt.de. 114 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 11. 115 Wimmer, R., Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch, in: Institut für deutsche Sprache (Hrsg.), Aspekte der Sprachkultur, Mitteilungen X, 1984, S. 7 ff., 15.

412 Grammatische Konkretisierung

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juristische Entscheidungen begründen. Seit dem „Linguistic turn“ der Philosophie wächst der Sprache damit in verstärktem Maß eine Rolle zu, die früher von einem normativ aufgeladenen Naturbegriff erfüllt wurde. In Bezug auf die Natur hat Kelsen die Struktur solcher Legitimationsmodelle beschrieben: Entsprechend der Bewegung, mit der ein Zauberer die vorher hineinpraktizierten Kaninchen aus dem Zylinderhut zieht, werden subjektive Werturteile in die Natur projiziert, um sie als objektive Normen daraus abzuleiten.117 In Bezug auf die Sprache gilt es, diese Legitimationsstrategien noch herauszuarbeiten. Einen ersten Hinweis auf die legitimatorische Rolle der Sprache im Kontext der Gesetzesbindung gibt dabei eine Bemerkung von Geiger: „Die Juristensprache verbirgt und dissimuliert durch Berufung auf angeblich objektive Maßstäbe soweit wie irgend möglich die rechtsschöpferische Tätigkeit des Richters. Er will das für den Fall geltende Recht lieber finden als er-finden.“118 Die sprachwissenschaftliche Perspektive soll, ausgehend von dieser Motivation, zu einer Ordnung der Sprache führen, welche der richterlichen Entscheidung eine objektive Grundlage und Rechtfertigung verschafft. Die Mehrsprachigkeit stellt die Rolle der Sprache als Legitimationsinstanz für 343 juristisches Handeln deutlich in Frage. Aber sie eröffnet damit neue Möglichkeiten: Die Chancen der Mehrsprachigkeit werden sichtbar, wenn man im Sinn des von Davidson herausgearbeiteten Gedankens der Triangulation berücksichtigt, dass die Verschiedenheit der Sprachtexte trotzdem auf gemeinsame Rechtsprobleme bezogen bleibt. Für deren Bearbeitung mag die Mehrsprachigkeit durchaus von Vorteil sein, indem sie verschiedene Strategien enger miteinander vernetzt. Im Kontext der Übersetzungsprobleme im Recht sagt Davidson dazu folgendes: „I stressed at first how the holism of the propositional mental means that thoughts are located only within a network of other thoughts. But as thought develops, the interdependencies speed progress rather then hinder it, for many of the relations are basically rational, and so as rational creatures ourselves, we are able to project from a part of what we understand about other people much of the rest.“119 Die Vervielfältigung der Sprachen kann nur dann als Gefährdung juristischer 344 Rationalität angesehen werden, wenn man die traditionelle Sprachauffassung der Juristen übernimmt; nämlich die, dass die juristische Entscheidung im tiefen Brunnen sprachlicher Bedeutung schon vorgeformt ist und nur mit dem Eimer gramma116 Vgl. dazu etwa Höffe, O., Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 50 ff., der sein Legitimationsmodell des Rechtszwangs in einer deskriptiven Semantik abstützen will. 117 Vgl. zu Kelsens diesbezüglicher Kritik am Naturrecht Kelsen, H., Reine Rechtslehre, 1960, S. 402 ff., ders., The communist Theory of Law, 1955, S. 20 ff.; ders., The NaturalLaw-Doctrine before the Tribunal of Science, in: Natural Law and World Law, Festschrift für Kotaro Tanaka, 1954, S. 80 ff.; ders., Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, 1928, S. 43 ff. Vgl. zum Ganzen auch Topitsch, H., Hans Kelsen als Ideologiekritiker, in: ders., Gottwerdung und Revolution, 1973, S. 218 ff., 221 u. ö.; ders., Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, 1972, S. 351 u. ö. 118 Geiger, Th., Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1970, S. 255. 119 Davidson, D., Perils and Pleasures of Interpretation, in: Ars Interpretandi 2000, S. 21 ff., 37.

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4 Argumentformen – 41 Grammatisches Argument

tischer Auslegung noch ausgeschöpft werden muss. Die Aufgabe der Linguistik liegt aber gerade darin, diese spontane Sprachideologie der Juristen, ihre juristengerechte Bereichslinguistik, in Frage zu stellen. Sobald man damit beginnt, erscheint Mehrsprachigkeit als große Chance für die Rationalität des Rechts.120 Diese wird durch offene Mehrsprachigkeit nicht gefährdet, sondern geradezu ermöglicht. Die Entscheidungskomponente juristischer Arbeit in der Sprache wird damit erst sichtbar und kritisierbar. Rationalität ist kein Nachvollzug von Entscheidungen, die in der Sprache schon vorgegeben wären. Rationalität heißt vielmehr, juristische Entscheidungen am Maßstab des Gesetzes mit Hilfe der Instrumente juristischer Methodik zu überprüfen. Zu diesen Instrumenten gehört auch die grammatische Auslegung, die den juristischen Bedeutungshypothesen einen Plausibilitätsraum in der Sprache erschließt. Durch die Mehrsprachigkeit wird diese Plausibilitätskontrolle nur vergrößert, und gleichzeitig werden die sprachlichen Anschlusszwänge vermehrt. Die Sprache ist als Garantieinstanz juristischer Rationalität überfordert, aber als Kontrollinstanz unverzichtbar.

412.3 Struktur der gemeinschaftsbezogenen Bedeutung 345

Die einzig tragfähige methodische Regel zur Einlösung der von Art. 314 EG statuierten Gleichwertigkeit aller Sprachen ist die Entwicklung einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung.121 Dabei werden die verschiedenen Sprachen in ihrer Bedeutungsvielfalt zunächst einmal dargestellt. Dann werden in einem zweiten Schritt die Bedeutungsdivergenzen klar herausgehoben. In einem dritten wird dann schließlich eine Entscheidung zwischen den divergierenden Bedeutungen getroffen. Diese Entscheidung wird aber im Gemeinschaftsrecht weder über Genauigkeit,122 Mehrheitsprinzip123 noch gemeinsames Minimum erreicht. Denn 120 Vgl. dazu grundlegend Nußbaumer, M., „Prügelknaben, Besserwisser, Musterschüler, Saubermänner“ – Juristen und Sprachkritik, in: Gellhaus, A. / Sitta, H. (Hrsg.): Reflexionen über Sprache aus literatur- und sprachwissenschaftlicher Sicht, 2000, S. 95 ff.; sowie die praktische Anwendung bei dems., „Die Regeln der deutschen Sprache“. Anmerkungen aus sprachwissenschaftlicher Sicht zu einem neuen firmenrechtlichen Entscheid, in: SJZ 1997 / 10, S. 189 ff. Zu einer positiven Einschätzung der Chancen von Sprachwissenschaft in der praktischen Jurisprudenz vgl. auch Burr, I., Auslegung mehrsprachiger juristischer Texte: die Rolle des Italienischen in Urteilen des Schweizerischen Bundesgerichts, in: Veronesi, D. (Hrsg.), Rechtslinguistik des Deutschen und Italienischen, 2000, S. 179 ff. 121 Vgl. zum Vorschlag einer Verringerung der Arbeitssprachenzahl Schübel-Pfister, I., Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 491 ff. 122 Die Einheitlichkeit der Auslegung kann sogar dazu führen, strengere Anforderungen an die Bestimmtheit zugunsten einer einheitlichen Auslegung zurückzustellen. Vgl. dazu EuGH, Slg. 1967, S. 461 ff., 473 (van der Vecht / Soc. Verzekeringsbank); EuGH, Slg. 1973, S. 301 ff. (Mij. /Hoofdproduktschap); EuGH, Slg. 1974, S. 1287 ff. (Molijn / Kommission); EuGH, Slg. 1977, S. 1999 ff., 2010 (Bouchereau). 123 Vgl. dazu wieder den Begriff „öffentliche Ordnung und Sicherheit“, in: EuGH, Slg. 1977, S. 1999 ff., 2010 (Bouchereau).

412 Grammatische Konkretisierung

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jede Entscheidung von der Sprache her wäre nur dadurch möglich, dass man den die Entscheidung tragenden Gesichtspunkt wie Genauigkeit usw. zunächst in die Sprache hineinprojiziert. Aber außer über Verständlichkeit entscheidet die Sprache nichts. Sie liefert vor allem keine Rangfolge zwischen verschiedenen Verständnisweisen. Die Sprache kann also keinen Bedeutungskonflikt entscheiden. Und wegen der von Art. 314 EG statuierten Gleichwertigkeit aller Sprachen darf sie das auch nicht. Wenn aber nicht durch die Sprache entschieden wird, dann kann eben nur in der Sprache entschieden werden, und zwar mit Hilfe spezieller juristischer Argumentationsfiguren. Erst diese erlauben es dann, Lesarten zu verknappen und Bedeutungsdivergenzen zu entscheiden.124 Die Entscheidung mittels spezieller juristischer Argumente ist die Möglichkeit, 346 die Art. 314 EG für die Gerichte offen lässt. Das ist auch genau der Weg, den der EuGH geht, wenn er Bedeutungsdivergenzen herausarbeitet und diese im Hinblick auf den allgemeinen Aufbau und den Zweck der Regelung entscheidet.125 Smit formuliert dies folgendermaßen: „In interpreting the Treaty, the Court has generally been concerned with its broad purposes, rather than narrow wording.“126 Bedeutungsdivergenzen werden damit nicht sprachlich, sondern mit Hilfe juristischer Argumente entschieden. Das Ergebnis dieser Rechtsarbeit in der Sprache ist die Festsetzung einer Bedeutung im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Gemeinschaft.127 Manchmal wird das Ergebnis dieser Festsetzung als autonome Bedeutung bezeichnet. Autonom heißt hier: unabhängig von der nationalen Bedeutung des Gesetzestextes. Die Wirkung auf das gesamte Recht in der Europäischen Union ist 124 Vgl. zu Indizien für gemeinschaftsrechtliche Begriffsbildung Scheibeler, E., Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof – autonom oder durch Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen, 2004, S. 284 ff. 125 Vgl. dazu etwa EuGH, Slg. 1986, S. 795 ff. (Röser). Vgl. zu dieser Problematik auch Riese, O., Das Sprachenproblem in der Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Caemmerer, E. v. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans Dölle, Band II, 1963, S. 507 ff., 517 ff.; Dickschat, Problèmes d’interprétation des traités européen résultant de leus plurilinguisme, in: Revue belge de droit international 1968, S. 40 ff., 49 ff.; Stevens, L., The principle of linguistic equality in judicial proceedings and in the interpretation of plurilingual legal instruments: The régime linguistique equality in judicial Justice of the European Communities, in: North Western University Law Review 62 (1967), S. 701 ff., 724 ff. 126 Smit, H. / Herzog, P., The law of the European Communities, 1993, Art. 248, Rn. 5. Die Bedeutung des teleologischen Arguments für die Überwindung sprachlicher Differenzen betont auch Dumon, F., The Case-law of the Court of Justice – A critical examination of the methods of interpretation in Court of Justice of the European Communities Judicial and Academic Conference, 27. – 28. Sept. 1976, part. III, 1976. 127 Zu Indizien für eine Mischkonstruktion und für einen Verweis auf die nationale Rechtsordnung vgl. Scheibeler, E., Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof – autonom oder durch Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen, 2004, S. 286. Ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff, der sich auf bestimmte Elemente des nationalen Rechts bezieht, wäre beispielsweise der Begriff der Genehmigung. Vgl. dazu EuGH, in: NVwZ 2006, S. 806 ff., 806, Rdnr. 40.

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

sehr groß. Die „autonome“ Bedeutung gilt in allen Mitgliedstaaten und führt in deren Recht zu Bedeutungsverschiebungen. Der Begriff der Autonomie in seiner gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung überzeugt aber nicht. Die Bedeutung des Gemeinschaftsbegriffs entsteht nämlich nicht aus dem Nichts; ihm gehen vielmehr die sprachliche Analyse sämtlicher Wortlaute voraus. Sie geben die rechtsstaatlichen Plausibilitätsräume vor. Das heißt zwar nicht, dass eine bestimmte nationale Bedeutung inhaltlich unbedingt befolgt werden müsse. Aber sie ist in die Argumentation einzubeziehen.

42 Systematisches Argument 347

Das systematische Argument ist in seiner Wichtigkeit nur noch mit dem Wortlaut zu vergleichen und bildet damit eines der beiden zentralen Instrumente juristischer Textarbeit. Allerdings springt das Gewicht dieses Faktors in der Rechtsprechung des EuGH nicht sofort ins Auge. Das liegt zum einen daran, dass die Systematik meist zusammen mit der grammatischen Interpretation zur Bestimmung der gemeinschaftsbezogenen Bedeutung oder aber im Kontext der Rechtfertigung einer Zweckauslegung auftaucht. Zum anderen liegt es auch daran, dass das Gericht direkte Aussagen über die Einheit des Gemeinschaftsrechts vermeidet und stattdessen die Systematik der eigenen Judikatur im Blick hat. Diese Ergänzung einer Systematik erster Ordnung durch eine solche zweiter Ordnung soll im Folgenden auf ihre Legitimität hin untersucht werden.

421 Die Erweiterung der Systematik erster Ordnung durch die Systematik zweiter Ordnung

348

Die tradtionelle Auffassung vom Gesetz und seiner Systematik stößt nicht nur im Bereich des öffentlichen Rechts, sondern auch im europäischen Privatrecht auf Probleme: „Das Gesetz, von der diese herrschende Methodenlehre ausgeht, sind die Gesetze eines Souveräns, die Rechtsordnung ist diejenige seines Territoriums. Im europäischen Privatrecht haben wir es aber zu tun mit vielen und zum Teil unkoordinierten Gesetzgebern und Teilordnungen auf gleicher und auf verschiedener Ebene. Die Einheit und Geschlossenheit des Rechtssystems, die von der herrschenden Methodenlehre so hoch gehalten wird, ist weder für Europa im ganzen noch für den einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union gegeben. Man kann sie auch nicht wiedergewinnen dadurch, daß man sich für jedes einzelstaatliche System das überwölbende Gemeinschaftsrecht hinzudenkt und zum Bestandteil der Einheit des einzelstaatlichen Systems erklärt. ( . . . ) Was wir brauchen, ist vielmehr eine Methodenlehre, die sich einstellt auf Pluralität der Rechtsquellen, Relativität der Teilrechtssysteme, Diversität der Rechtsinhalte. Ein einfaches Zurück gibt es nicht mehr; ( . . . ).“128 Was hier für das europäische Privatrecht formuliert wurde,

421 Systematik erster und zweiter Ordnung

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gilt auch allgemein für das Gemeinschaftsrecht. Es gibt kein Zurück zur Vorstellung der einen und in sich geschlossenen Rechtsordnung.129 Statt dessen gibt es ein Vorwärts zur offenen Systematik des Lesens. 421.1 Zur Semantik des systematischen Arguments Die Rechtspraxis kommt ohne den Bezug zum Ganzen nicht aus. Das ergibt sich 349 notwendig schon aus ihrer Sprachlichkeit. Recht lässt sich nur im Kontext bestimmen. Das ist die unverlierbare Einsicht der Diskussion um die Einheit130 der Rechtsordnung. Gescheitert ist die Bezugnahme an der praktischen Uneinlösbarkeit der Idee eines Ganzen als einer formulierbaren Totalität. Das wiederum zeigt, dass man für eine angemessene Vorstellung juristischen Entscheidens Überlegungen braucht, die weit über das hinausgehen, was die bisherige Hermeneutik und auch viele Ansätze holistischer Philosophie geleistet haben. Die Frage bleibt, wie dieser holistische Bezug zu denken ist. Die Forderung nach einem Holismus ohne Ganzes131 liefert uns dafür die Form der Paradoxie. Wir unterstellen die Einheit der Rechtsordnung als Form und streiten in der Praxis über ihren Inhalt. Dabei gibt es keine objektive Wir-Perspektive, sondern nur eine Vielzahl von Sichtweisen, die sich im praktischen Verfahren durch eine Vernetzung mit anderen Entscheidungen aneinander abarbeiten müssen. Solange die Frage der Handhabung des Ganzen nicht überzeugend gelöst ist, wird sich der Holismus immer wieder zu propagandistischer Virtualität verflüchtigen. Der Versuch zur Strukturierung dieser Dimension muss auf der Ebene der Sprache des Gesetzes ansetzen. Nur pragmatisch lässt sich der Holismus moderieren. Wie also soll sich die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes noch sinnvoll stellen lassen, wenn man von der holistischen Dimension nicht absehen kann? Wenn jeder Versuch, die Einheit des Rechts als Text zu fixieren, bereits im Mo- 350 ment der Bezugnahme auf die „Einheit“ desavouiert wird132 und die Bedeutungs128 Flessner, A., Juristische Methode und europäisches Privatrecht, in: JZ 2002, S. 14 ff., 16. Vgl. zum systematischen Argument beim EuGH Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005, S. 158 ff. 129 Zum Problem einer möglichen Beschreibung der Einheit des europäischen Privatrechts: Riesenhuber, K., System und Prinzipien des europäischen Privatrechts, 2003 sowie Grundmann, S., Systemdenken und Systembildung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 159 ff. 130 Vgl. dazu Müller, F., Die Einheit der Verfassung, 1979. 131 Siehe dazu Seel, M., Für einen Holismus ohne Ganzes, in: Bertram, G. W. / Liptow, J. (Hrsg.), Holismus in der Philosophie, 2002, S. 30 ff.; vgl. dazu außerdem Bertram, G. W. / Liptow, J., Holismus in der Philosophie. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Holismus in der Philosophie, 2002, S. 7 ff. 132 Vgl. dazu Müller, F., Die Einheit der Verfassung, 1979.

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

bestimmung in praktischen Kommunikationsvorgängen situativ erfolgt, erhält die Frage der Einheit des Rechts eine bislang in der Rechtstheorie nicht problematisierte Rahmung. Einheit kann man nicht im Weg der spekulativen Rechtserkenntnis auffinden, sondern man muss sie in der Argumentation praktisch herstellen. Dadurch kann das Problem der Einheit reformuliert werden als relative Kohärenz durch Vernetzung. Das zeigt sich klar unter den Bedingungen hypertextueller Rechtsarbeit. Der Holismus wird dort durch praktische Verknüpfungsmöglichkeiten operational, aber er verliert die vorgeordnete Hierarchie und das sichere Zentrum. Der Hypertext besteht nicht aus einem einheitlichen, sukzessive zu rezipierenden, eben linearen Text: er ist ein Konglomerat bzw. ein Komplex von Texten, die durch Referenzverknüpfungen verbunden sind. Im Hypertext wird das Ganze zum Horizont, den man nur praktisch bearbeiten kann, ohne seinen Inhalt definieren zu können. Das Verknüpfen von Texten kehrt den Grundzug der Intertextualität und der Interlegalität hervor, der im Hypertext besonders offensichtlich wird. Damit muss man auch im Recht die traditionelle Vorstellung einer der Erkenntnis objektiv vorgegebenen Einheit des Textes fallen lassen. Das alles Recht in sich beschließende Gesetzbuch sollte der sichere Garant einer die widerspruchsvollen Strebungen vereinheitlichenden Totalität des gesellschaftlichen Handelns sein. Von dieser Idee gilt es sich zu verabschieden. Der radikale Holismus, wonach Bedeutung nur dem Zentrum zukam, funktioniert im Hypertext nicht mehr. 351

Das bleibt auch nicht ohne Auswirkungen auf die Fragen des Normwiderspruchs und der Rechtslücke. Beide Probleme werden durch die gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Pluralisierung besonders akzentuiert. Hier ist der systematische Ort für den Holismus im juristischen Denken. Juristen argumentieren regelmäßig holistisch, indem sie auf das Ganze der Rechtsordnung verweisen, um im Fall von Anspruchskollisionen die Reichweite der jeweiligen Rechtspflichten innerhalb der Gesamtrechtsordnung zu bestimmen bzw. im Fall von Rechtslücken vermeintliche Lückenschließung zu betreiben. Die epistemische Strategie holistischer Argumentation will die Widersprüche in der Argumentation durch objektiv-theoretische Erkenntnis aufheben bzw. auf diesem Weg ausgemachte Wertungslücken schließen. Der praktische und horizontale Holismus setzt hingegen nicht auf Erkenntnis, sondern auf Argumentation: Erst in den rechtlichen Arbeitsprozessen der Bedeutungsgebung steht der Inhalt des Gesetzes (vorläufig) fest. Gefordert ist ein konsequent praktisches Verständnis des Holismus, welches das Moment des Ganzen aus dem Innern der Arbeitspraktiken heraus bestimmt. Es wird damit „holistisch individuell“ eine Angelegenheit „zwischen“ den Beteiligten solcher Praktiken. Man sollte also auch nicht über ein kollektives, die Einzelnen begrifflich semantisch regierendes „Wir“ eine Substantiierung des holistisch bestimmenden Ganzen durch die Hintertür einschleusen.

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Man muss darum zunächst das Problem des Verhältnisses von individuellen Bedeutungen und Überzeugungen an den richtigen Ort bringen; nämlich dorthin, wo allein es in Hinblick auf Verständnis und Interpretation ausgetragen werden kann. Das drängendste Problem dabei ist und bleibt aber die Frage nach einer

421 Systematik erster und zweiter Ordnung

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Kontrollierbarkeit des Ganzen als eines konstitutiv sinnstiftenden Moments. Nur wenn es gelingt, Ähnlichkeiten von Urteilen pragmatisch zu fassen, kann der Holismus operieren. Zur Lösung dieser Fragen kann man an die pragmatisch fundierte Inferenzsemantik Brandoms anknüpfen. Brandom nimmt die Perspektive des „Wir“ ganz in die Verständigung zurück. Alles, was sich an signifikant diskursiver bzw. begrifflicher Praxis abspielt, wird allein in den Reaktionen der Teilnehmer untereinander auf ihr Verhalten praktisch vollzogen. Es gibt kein unabhängiges Drittes, auch nicht die Sprache, die Regel oder die Bedeutung, das als Begründungsbasis herhalten könnte. Dementsprechend meint für einen folgerichtig praktischen Hier-und-Jetzt-Holismus die Rede von einem Ganzen einen offenen Horizont von Bezügen. Das Ganze kippt damit aus der Vertikalen in die Horizontale. Es ist auch nicht epistemisch verfügbar, sondern wird als Horizont kommunikativen Handelns praktisch. Die Frage ist allerdings, worauf sich die Sprecher dann überhaupt noch stützen können, wenn sie nichts bei der Hand haben als die Ereignisse ihrer Verständigungsprozesse. Vor allem im Recht wird diese Frage dringlich. Deswegen war es naheliegend, dass sich die Ansätze zur Entwicklung einer 353 pragmatisch fundierten Semantik auf das Modell des Rechts stützen.133 Das Problem einer Konstitution von Bedeutung ohne schon vorausgesetztes Bedeutungssystem lässt sich am besten aus der Situation des Richters strukturieren. Der Richter hat nur das Gesetz als Form. Der Inhalt des Gesetzes ist zerfallen in den Streit der Lesarten zwischen den Parteien. Um den Streit zu entscheiden, hat der Richter inhaltlich nichts als die bisherige Kommunikationsgeschichte des Gesetzes in Form von mehr oder weniger gelungenen Vorentscheidungen. Für die neuere pragmatische Sprachphilosophie fragt sich nun, wie der Richter in einem allein daraus schöpfenden Prozess zu einem haltbaren Urteil kommen kann. Und die von Liptow in Anschluss hieran gestellte Frage wird sein, wie die an einer Verständigung Beteiligten zu einem nicht willkürlichen oder beliebigen Verständnis ihrer Äußerungen kommen können. Brandoms Ausgangspunkt ist die Verpflichtung, „die man durch Anwendung eines Begriffs eingeht (paradigmatisch durch den Gebrauch eines Wortes)“. Diese ist das „Ergebnis eines Prozesses der Unterhandlung unter Einbeziehung der wechselseitigen Haltungen und der reziproken Autorität derjenigen, die die Verpflichtung zuschreiben, und desjenigen, der sie anerkennt.“134 Bei Brandom gewinnt damit die Kommunikation eine Struktur, die über Konfirmierung und Kondensierung von Sinn erfolgt. Die Struktur ist nicht fest, sondern ihre 133 Siehe Brandom, R. B., Pragmatische Themen in Hegels Idealismus. Unterhandlung und Verwaltung der Struktur und des Gehalts in Hegels Erklärung begrifflicher Normen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3 (1999), S. 355 ff. (377 ff.), vgl. auch Liptow, J., Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, 2004, S. 220 ff.; sowie ders., Interpretation, Interaktion und die soziale Struktur sprachlicher Praxis, in: Bertram, G. W. / Liptow, J. (Hrsg.), Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie, 2002, S. 129 ff. (141 ff.). 134 Brandom, ebd., S. 356. So, induktiv aus dem Recht entwickelt, schon Müller, F., Normstruktur und Normativität, 1966 und Strukturierende Rechtslehre, 1984, 2. Aufl. 1994.

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

Einheit wird „als ob“ gesetzt, unabhängig von den einzelnen Idiosynkrasien der Kommunikationsteilnehmer. 354

Entscheidend für das Verständnis von Kommunikation ist also das beim Richter besonders sichtbare Verhältnis reziproker Autorität. Der Richter erkennt die Autorität der in der Kommunikationsgeschichte gesammelten Lesarten und früheren Entscheidungen an, um selbst Autorität zu werden. Das heißt im Sinn Brandoms, dass der Richter genau die Norm instituiert, die er anwendet. Er verleiht also Präjudizien und anerkannten Lesarten Autorität, um eine solche zurückzuerhalten. Normativität ist damit von vornherein „nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein geschichtlicher Prozess,“ sofern „die Einsetzung begrifflicher Normen“ „eine ganz eigene Anerkennungsstruktur aufweist, Ergebnis der reziproken Autorität, die einerseits von vergangenen Begriffsanwendungen auf künftige ausgeübt wird und andererseits von künftigen Anwendungen auf vergangene.“135 Aber das kann noch nicht alles sein. Denn über die Zeitdimension hinaus stellt sich noch die Frage nach der Richtigkeit bzw. nach einem Kriterium für die Berechtigung der entsprechend eingegangenen Festlegungen. Das heißt, „Autorität“ im Sinn solcher Festlegungen „muss geregelt werden“136, kann sich nicht quasi naturwüchsig vollziehen. Und das wiederum heißt konsequent pragmatisch gedacht, dass „die Anwendungen von durch frühere Anwendungen instituierten Normen [ . . . ] gemäß den Normen, denen sie verantwortlich sind, auf ihre Richtigkeit hin bewertet werden (müssen). Damit die derzeitigen Anwendungen eines Begriffs gegenüber früheren Anwendungen dieses Begriffs (und der mit ihm verbundenen Begriffe) verantwortlich sind, müssen sie zur Verantwortung gezogen werden, als verantwortlich betrachtet oder behandelt werden.“137

355

Das zeigt wiederum ganz klar das Beispiel der richterlichen Entscheidung. Für seinen anstehenden Fall beruft sich der Richter auf Präzedenzfälle und anerkannte Lesarten, die er zu seinem Fall in eine Beziehung der Ähnlichkeit setzt. Das heißt, „der Gehalt der Begriffe, die der Richter anwenden muss, ist vollständig konstituiert durch die Geschichte ihrer früheren tatsächlichen Anwendungen (in Verbindung mit der Geschichte der tatsächlichen Anwendungen anderer Rechtsbegriffe, die in der Rechtsgeschichte als folgernd mit diesen verknüpft angenommen wurden). Es ist diese Tradition, gegenüber welcher der Richter verantwortlich ist. Der Gehalt dieser Begriffe wurde vollständig durch ihre faktische Anwendung konstituiert.“138 Damit scheint es aber, als wäre die Tradition nur ein Vorwand für eine uneingeschränkte Souveränität, die der Richter über Normativität ausübt. Das ist aber nur dann der Fall, wenn man den Prozess am Punkt seiner Gegenwart abbricht und ihn so auf diese verkürzt. Die Gegenwart greift aber nicht nur auf die Vergangenheit zurück. Sie wird zugleich in Richtung Zukunft überschritten und genau 135 136 137 138

Brandom, ebd., S. 367. Brandom, ebd., S. 367. Brandom, ebd., S. 367. Brandom, ebd., S. 377 f.

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dieses Moment regelt die Autorität. Der Richter zieht die Berechtigung seiner Festlegung auf einen normativen Gehalt nicht nur daraus, diese ausweisen zu können. Vielmehr setzt er seine gegenwärtige Entscheidung zugleich der Zukunft aus. Der Richter will selbst als Autorität gelten. Das nennt Brandom die Verwaltung seiner Autorität. Damit ist gemeint, dass „der gegenwärtige Richter [ . . . ] von den künftigen gegenüber seiner ererbten Tradition zur Rechenschaft gezogen (wird). Denn seine Entscheidung ist für den Gehalt des fraglichen Begriffs nur insoweit wichtig, soweit dessen Präzedenzautorität von ihm oder wiederum von künftigen Richtern anerkannt wird. Wenn sie angesichts ihrer Auslegung der von ihm ererbten Tradition zu dem Schluss kommen, dass der gegenwärtige Richter falsch entschieden hat, dann besitzt die Entscheidung des gegenwärtigen Richters überhaupt keine Autorität. Die Autorität der Vergangenheit über die Gegenwart wird in ihrem Namen von der Zukunft wahrgenommen.“139 Die Gegenwart unterwirft sich dem, indem sie durch ihre Begründung selbst Autorität werden will. Dies ist ein Modell für Verständigung, sofern mit Davidson davon auszugehen 356 ist, „dass wir uns dem Begriff der sprachlichen Bedeutung nähern sollten, indem wir betrachten, was es heißt, den Äußerungen anderer Sprecher bestimmte Bedeutungen zuzuschreiben, sie zu interpretieren.“140 Verständigung entsteht aus einer sich selbst stabilisierenden Praxis. Damit ist „Bedeutung etwas, das sprachliche Ausdrücke primär in Situationen gelingender sprachlicher Verständigung haben, und kann in einem gewissen Sinn als ein Produkt der Interaktion bzw. Kooperation mindestens zweier Individuen begriffen werden.“141 Und eben dies führt zu einem „holistischen Verständnis der sozialen Struktur sprachlicher Praxis“.142 Für diese sich selbst stabilisierende Praxis findet Brandom ein Modell in der richterlichen Entscheidung.143 Nachdrücklich hervorzuheben ist, dass „sprachliche Bedeutung (und mit ihr der Gehalt geistiger Zustände) [ . . . ] sich erst dort (konstituiert), wo (mindestens) zwei Sprecher ihre Idiolekte in einer Praxis gelingender sprachlicher Verständigung wechselseitig interpretieren.“144 Was für den Richter die Präzedenzfälle und anerkannten Lesarten liefern, das sind im Fall der Verständigungspraxis die paradigmatisch und damit als prägend erfahrenen Fälle gelungener Verständigung.145 Entsprechend handelt „regelhaft“, „wer nach Präzedenzen erfolgreicher Brandom, ebd., S. 380. Liptow, J., Interpretation, Interaktion und die soziale Struktur sprachlicher Praxis, in: Bertram, G. W. / Liptow, J. (Hrsg.), Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie, 2002, S. 129 ff. (136). 141 Liptow, ebd., S. 138. 142 Liptow, ebd., S. 140. 143 Liptow, J., Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, 2004, S. 220. 144 Liptow, ebd., S. 206. 145 Ausdrücklich von einer Orientierung an „Präzedenzen“, allerdings kollektivistisch in Bezug auf regelhaftes Handeln, spricht auch Lewis, D. K., Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung, 1975. 139 140

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Handlungsvollzüge des gleichen Typs handelt.“. Das heißt, „regelhaftes Handeln“ „besteht [ . . . ] immer darin, eine konkrete Handlungssituation [ . . . ] so auf die eigene Kenntnis ähnlicher Präzedenzfälle zu beziehen, dass von einem bestimmten Verhalten [ . . . ] mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, dass es in den Textadressaten die beabsichtigten Wirkungen [ . . . ] hervorruft“146. Allerdings sollte das nicht wieder kollektivistisch als eine Orientierung der Verständigung auf vorausliegende gemeinschaftliche Muster hin gedeutet, sondern in seiner individualistischen Konsequenz angenommen werden. „Gelungene Verständigung“ heißt dann im Sinn Davidsons, vom Anderen in dem Sinn interpretiert zu werden, den man sich für die eigene Äußerung vorgenommen hat. Entsprechend dem Brandomschen Modell wird Bedeutung über die Vergegenwärtigung von Festlegungen, die dabei eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben, zum Standard von Interpretationen. Verständigung zeigt darin eine grundsätzlich zeitliche Dimension, dass sich ihr Erfolg dem verdankt, Vergangenes als Ansatz für Interpretation einzuholen: „Die Tatsache, dass es keinen Standard für das Gelingen eines bestimmten Aktes sprachlicher Verständigung gibt, der außerhalb des Geschehens gegenseitiger Interpretation liegt, heißt nicht, dass es überhaupt keinen solchen Standard gibt. Der Standard für das Gelingen eines bestimmten Aktes sprachlicher Verständigung kann nämlich genauso gut anderen gelungenen Akten sprachlicher Verständigung entstammen.“147 Der Witz dabei ist, dass das Gelingen von Verständigung nicht vorweg auf eine Bedeutung bezogen ist; also nicht auf eine, die ihr vorausgesetzt wäre. Vielmehr ergibt sich umgekehrt Bedeutung als ein solches Gelingen. Insofern ist Bedeutung nicht die Mutter von Verständigung. Vielmehr ist der kommunikative Erfolg der Vater aller Bedeutung.148 „Wir können die Teilnehmer an einem bestimmten Akt sprachlicher Verständigung deswegen bereits als mit intentionalen Zuständen und einer Sprache begabte Wesen begreifen, weil wir davon ausgehen können, dass diese Eigenschaften das Produkt unzähliger weiterer gelungener Akte der Verständigung sind.“149 357

Für das Gelingen der Verständigung sorgt somit die Festlegung darauf, selbst die Folge bereits gelungener Verständigung zu sein. Genau das ist es auch, das dann für die Frage der Berechtigung von Interpretationen als „Bedeutung“ expliziert werden kann. Hier zeigt sich, inwiefern es sich bei Bedeutung um gar nichts anderes handeln kann als um Inferenz. Sofern Bedeutung als Grund von Festlegungen auf einen Äußerungssinn oder eine Interpretation fungiert, beruht sie auf semantischer Anerkennung. Sofern diese aber nicht anders in Erscheinung treten kann als 146 Busse, D., Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik, 1991, S. 174. 147 Liptow, J., Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, 2004, S. 206. 148 Dieser Gedanke findet sich ohne Bezug auf Brandom bereits bei Keller, R., Sprachwandel, 1994. 149 Liptow, J., Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, 2004, S. 220.

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durch Verständigung bzw. als Interpretation praktizierter Festlegung, ist sie nichts anderes als die damit ausgeübte semantische Autorität. Das Modell würde in Willkür oder Dezisionismus umschlagen, wenn es damit 358 sein Bewenden hätte. Dass dem nicht so ist, dafür sorgt der Zweck, verstanden zu werden. Er verlängert die dafür praktizierte Festlegung als Gehalt in die Zukunft. Die Interpretation durch den anderen kann jeweils nur ein Nächstes sein, da sie in nichts anderem wurzelt als in dessen semantischer Autorität. Genau das macht die Pointe eines interaktionistischen Interpretationismus150 aus, der dem Rechnung trägt, dass Interpretation praktisch für sich selbst zu sorgen hat, indem sie die Bedeutungen und Regeln, auf denen sie als ihre in die Zukunft verlängerte Geschichte beruht, dadurch immer wieder erst hervorbringt, dass diese sich in der Gegenwart des gelungenen Verständigungsaktes konkretisiert, das heißt öffentlich sozial praktiziert wird: „Denn die Tatsache, dass eine gegenwärtige Entscheidung, ob die Verständigung gelungen ist, unter Bezug auf eine Tradition gelungener Verständigung gerechtfertigt wird, die ihrerseits ein Konstrukt der Gegenwart ist, begründet nur scheinbar eine einseitige Autorität der Gegenwart über die Vergangenheit. Denn eine gegenwärtige Entscheidung darüber, ob ein bestimmter Akt der Kommunikation gelungen ist oder nicht, kann nur dann eine Autorität in Bezug auf die Vergangenheit entwickeln, wenn dieser Akt (und das mit ihm zusammenhängende Konstrukt der Tradition) von zukünftigen Akten gelungener Verständigung als Teil der Tradition anerkannt wird.“151 Darin erst, sofern diese Traditionen thematisch gemacht werden und auf sie reflektiert wird, kommt denn auch das Moment eines Ganzen ins Spiel. Der von der post-analytischen Philosophie heute vertretene pragmatische Bedeutungsbegriff macht also die Entwicklung der Systematik zur Systematik zweiter Ordnung in ihrer Notwendigkeit verständlich. Entschieden werden kann nur Unentscheidbares. Daran ändern auch die Präjudizien nichts. Aber möglich ist eine Entscheidung von Unentscheidbarem nur, weil es bereits Entschiedenes gibt. Der Richter vollzieht den Sprung zur Entscheidung an einer Kette von Lesarten entlang.

421.2 Die wachsende Bedeutung von Vorentscheidungen Die herkömmliche Vorstellung vom Gesetzbuch als gerundeter Totalität setzt die 359 Verfügbarkeit des Ganzen als Sinnzentrum voraus. Im Gemeinschaftsrecht, das aus einer Vielzahl von Rechtskulturen hervorgeht, müsste jeder Versuch, dieses Ganze im Rahmen der Auslegung zu formulieren, aber schnell auf Widerspruch 150 Dazu Liptow, J., Interpretation, Interaktion und die soziale Struktur sprachlicher Praxis, in: Bertram, G. W. / Liptow, L. (Hrsg.), Holismus in der Philosophie. Ein zentrales Motiv der Gegenwartsphilosophie, 2002, S. 129 ff.; sowie ders., Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, 2004, S. 148 ff. u. 220 ff. 151 Liptow, J., Regel und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, 2004, S. 223.

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stoßen. Deswegen ist der EuGH mit dem Einsatz der Gesamtsystematik auch sehr vorsichtig. In seinen Entscheidungen fungiert sie als Hinweis auf ein Problem und gerade nicht als Stellvertreter des Sinnganzen. Fraglich ist nämlich, ob eine solche Formulierung des Ganzen überhaupt möglich wäre. Wenn das Recht nicht vorgegeben ist, sondern erzeugt werden muss, ist es vollständig auf Sprache angewiesen. Durch den nur sprachlich realisierbaren Zugriff jedoch kommt die Jagd auf das Sinnzentrum des Rechts nicht zur Ruhe. Sie wird damit vielmehr erst eröffnet. Jedes Wort zum Recht, jede Festlegung des Rechts auf einen ihm zukommenden Ausdruck liefert dem Widerwort den Bezugs- und Angriffspunkt, den es braucht. Wenn man meint, das Recht beim Wort nehmen zu können, entzieht es sich als Sprache. Das Recht verflüchtigt sich zum Problem einer Entscheidung über die Sprache, zu der es zu bringen ist. 360

So lehrt das Bemühen, das Recht durch die Sprache dingfest zu machen, „dass es so etwas wie Recht nicht gibt, sofern Recht den Vorstellungen entspricht, die sich viele Rechtsphilosophen und -theoretiker von ihm machen. Die Vorstellung, es gebe eine klar umrissene vorgegebene Idee des Rechts, die sich Juristen zu eigen machen und auf Einzelfälle anwenden, müssen wir aufgeben.“152 Der oft berufene Geist des Rechts ist als Sinnzentrum nicht verfügbar. Selbst der hartnäckigste Idealist wird nie stumm auf die Idee des Rechts hinweisen können. Er muss zumindest sagen, dass er sie hat. Die bescheidene Rückfrage, wie er sich dessen denn so sicher sein könne, reißt ihn gleich wieder aus seinen „transzendentalen Träumereien“153, mitten hinein in die Argumentation. Und jedes weitere Wort dazu verstrickt ihn nur umso tiefer in die argumentative Auseinandersetzung darum, was rechtlich Sache ist und zur Debatte steht. „Recht ist Streit“, wie schon Heraklit schreibt.154 Und dort, wo es in der Entscheidung darüber zum Recht kommt, verdankt sich Recht allein der Arbeit am Text: dem „Gang vom Normtext zum Text der Rechtsnorm“ als dem beschwerlichen „Weg, den die Gewalt durch die Sprache nimmt“.155 Die Sprache gerät dem Juristen, der sich auf diesem Weg um das Recht bemüht, erst einmal selbst zum Spuk. Will er sich an sie halten, um zu bekommen, was ihm der Geist versagt, nämlich Recht, so ist er zunächst in keiner besseren Lage als vorher. Die Sprache vermag nicht beim Schopf zu packen, was als Geist flüchtig 152 Vgl. Christensen, R. / Sokolowski, M., Recht als Einsatz im semantischen Kampf, in: Felder, E. (Hrsg.), Semantische Kämpfe, erscheint 2006 in der Reihe Linguistik – Impulse & Tendenzen. 153 In Anlehnung an Albert, H., Transzendentale Träumereien, 1975. In diesem Sinn auch ausführlich gegen die Annahme einer Idee des Rechts und der Gerechtigkeit als „zentrales Signifikat“ Christensen, R., Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, 1989, S. 167 ff. 154 Heraklit, Fragmente, 1989, S. 26 / 27, B 80. Als Leitzitat bei Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S 7. 155 Ausführlich dazu Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 76 ff.

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ist. Sie gibt ihm nur Wörter, nichts als Wörter, die er für seine Entscheidung von Recht zu ergreifen hat. Mit jedem Wort aber, in das er Recht fasst, steht in Frage, ob es angesichts aller anderen auch wirklich das rechte ist. Jedes Wort, das der Jurist in den Mund nimmt, um Recht zu sprechen, ist wieder all den Semantisierungen preisgegeben, die das Sprechen darüber eröffnet. Auch der EuGH ruft gern nach dem Geist des Rechts; aber nur, um ihn sofort 361 durch Sinn und Ziel zu ersetzen. In der Praxis der Gerichte ist die Einheit des Rechts nicht verfügbar. Die Gerichte reagieren darauf mit einer Ergänzung der Systematik erster Ordnung durch eine Systematik zweiter Ordnung. Das heißt, sie beobachten nicht das Recht, sondern den Beobachter des Rechts. Das zeigt sich schon bei der nationalen Gerichtsbarkeit. In einer empirischen Studie wurde mit Hilfe der Datenbank Juris eine statistische Abhandlung über die Zitierpraxis deutscher Gerichte erstellt156, wobei u. a. die Frage aufgeworfen wurde, in wie vielen bundesdeutschen Gerichtsurteilen Entscheidungen anderer Gerichte zitiert werden. Die Untersuchung stützte sich bei ihren Vergleichen in erster Linie auf Entscheidungen aus den Jahren 1980 und 1988. Ergebnis war, dass 1446 von 3046 in Juris gespeicherten Urteilen der obersten Bundesgerichte aus dem Jahr 1980 Zitate enthielten.157 Bei Urteilen aus dem Jahr 1988 war dieser Anteil mit 3503 von 5603 Urteilen noch etwas höher.158 Daraus ergibt sich, dass in weit mehr als der Hälfte aller Begründungstexte dieser Gerichte auf mindestens ein Urteil eines anderen Gerichts Bezug genommen wird.159 Bei den Untergerichten war der Anteil wesentlich geringer, von den 10143 in 362 Juris gespeicherten Dokumenten aus dem Jahr 1980 wurde in weniger als einem Viertel auf andere Urteile verwiesen, 1988 stieg diese Quote immerhin auf ein knappes Drittel (rund 3800 von 13376).160 In dieser Untersuchung wird deutlich, dass es eine überragende Bedeutung der Praxis der eigenen Gerichtsbarkeit gibt.161 Nur für einen geringen Teil aller Urteile spielt die Rechtsprechung anderer Gerichtszweige eine Rolle; dieser Anteil bewegt sich in der Regel im Promille-Bereich, nur gelegentlich steigt er auf mehr als 5 %.162 Es war festzustellen, dass hierbei das Bundesverfassungsgericht sowie der Bundesfinanzhof eine große Rolle spielen.

156 Wagner-Döbler, R. / Philipps, L., Präjudizien in der Rechtsprechung. Statistische Untersuchung anhand der Zitierpraxis deutscher Gerichte, in: Rechtstheorie 1992, S. 228 ff. 157 Ebd., S. 230. 158 Ebd. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Ebd., S. 233. 162 Ebd., S. 233.

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Weiter wurde untersucht, wie sich die Entscheidungen der Bundesgerichte bzw. der Bundesgerichtshöfe auf die unteren Instanzen auswirken. Die Frage war jetzt, wie oft in Begründungstexten unterer Instanzen anderen Urteilen zugestimmt oder aber widersprochen wurde. Das wurde dann mit dem entsprechenden Verhalten der obersten Bundesgerichte verglichen. Hier war zu bemerken, dass bei nachgeordneten Instanzen der Anteil bestätigender Bezugnahmen höher ist als bei den obersten Bundesgerichten.163 363

Der Befund einer wachsenden Bedeutung von Präjudizien bestätigt sich auch beim EuGH. Das Vorkommen von Argumenten in der Judikatur des Gerichtshofs wurde für den Entscheidungsjahrgang 1999 empirisch untersucht.164 Dabei hat sich der Bezug auf die eigene Spruchpraxis als das zahlenmäßig häufigste Argument herausgestellt. Das qualitative Gewicht dieses Arguments wird deutlich, wenn man als Beispiel etwa den 12. Band betrachtet: In der Vorabentscheidung Holst-Italia Spa165 wird der Sinn und Zweck neben der Gesetzessystematik aus der früheren Rechtsprechung des EuGH abgeleitet. In der Vorabentscheidung G. C. Allen u. a.166 wird die Argumentation im Wesentlichen auf seine frühere Judikatur gestützt. Entscheidungen sind dabei mehrfach zitiert, vor allem Sinn und Zweck der auslegungsbedürftigen Regelung ergeben sich aus Vorentscheidungen. Im Beschluss CPL Imperial 2 und Unifrigo167 stützt sich der EuGH schwerpunktmäßig auf seine „ständige Rechtsprechung“. Im Beschluss HFB u. a.168 besteht die Argumentation des Gerichts im Wesentlichen aus Verweisen auf frühere Entscheidungen und ständige Judikatur. Im Beschluss DSR-Senator Lines169 ist der Verweis auf die (ständige) Rechtsprechung gleichfalls mit der Argumentation des Gerichts weithin identisch. In der Vorabentscheidung DAT-SCHAUB170 geht es um die Auslegung des Begriffs Drittland; dabei werden Sinn und Zweck ebenfalls aus der Rechtsprechung hergeleitet. In der Vorabentscheidung Rhône-Poulenc Rorer und May & Baker171 wird die Begründung des EuGH ganz überwiegend aus Verweisen auf die Judikatur gespeist. In der Rechtssache UDL172 wird die ständige Praxis des Ebd., S. 238. Zwar haben bisher schon solide wissenschaftliche Arbeiten mit einer Analyse der Rechtsprechung im Querschnitt begonnen (vgl. etwa Albin, S., Das Subsidiaritätsprinzip in der EU, in: NVwZ 2006, S. 629 ff., 632 f.), aber mit der Methode der Inhaltsanalyse gewinnen diese Argumente an Gewicht, Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit. Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript. 165 EuGH, Slg. 1999, S. I-8607 ff. (Holsta Italia). 166 EuGH, Slg. 1999, S. I-8643 ff. (Allen u. a.). 167 EuGH, Slg. 1999, S. I-8683 ff. (CPL Imperial 2 und Unifrigo / Kommission). 168 EuGH, Slg. 1999, S. I-8705 ff. (HFB u. a. / Kommission). 169 EuGH, Slg. 1999, S. I-8733 ff. (DSR-Senator Lines / Kommission). 170 EuGH, Slg. 1999, S. I-8759 ff. (DAT-Schaub). 171 EuGH, Slg. 1999, S. I-8789 ff. (Rhône-Poulence Rorer und May Baker). 172 EuGH, Slg. 1999, S. I-8841 ff. (UDL). 163 164

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EuGH zur Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes herangezogen. In der Rechtsmittelentscheidung Wirtschafts- und Sozialausschuss173 beruht die Argumentation des Gerichts ganz auf Verweisen auf eigene ständige Rechtsprechung. In der Vorabentscheidung Everson und Barras174 wird eine Abgrenzung zu nicht einschlägiger Judikatur vorgenommen. In der Feststellungsentscheidung Kommission / Frankreich175 handelt es sich um spezielles Sekundärrecht mit ausführlichen Begründungserwägungen bei der Richtlinie. In diesem Fall taucht kein Bezug auf Rechtsprechung auf. In der Vorabentscheidung Taylor176 besteht die Argumentation aber wieder überwiegend aus dem Bezug auf frühere Entscheidungen bzw. auf ständige Judikatur. In der Feststellungsentscheidung Kommission / Luxemburg177 ist der Hinweis auf die Spruchpraxis das einzige Argument; ebenso im Vertragsverletzungsverfahren Kommission / Luxemburg.178 Eine Inhaltsanalyse179 der EuGH-Begründungen vom Jahrgang 1999 kommt zu 364 folgendem Ergebnis: „Der Verweis auf frühere Rechtsprechung ist nicht nur in jeder Hinsicht die häufigste Argumentationsform in den Entscheidungen des EuGH, die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung übertrifft die der übrigen Argumentationsformen zudem um ein Vielfaches. Dies verlangt eine grundsätzliche Neubewertung der Gewichtung der Argumentationsform in der Methodik des EuGH: Der Verweis auf frühere Rechtsprechung steht hier an erster Stelle, die Argumentationsformen der ,klassischen‘ Auslegungscanones sind dem nachgeordnet.“180 Nach einer ins Einzelne gehenden statistischen Auswertung enthalten nur 38 von 259 Entscheidungen des Jahrgangs 1999 keinen Verweis auf frühere Rechtsprechung. Prozentual ausgedrückt ist dieser Verweis also in 85% aller Entscheidungen mindestens einmal enthalten. Demgegenüber ist das Wortlautargument nur in 70% aller Entscheidungen nachweisbar, das teleologische Argument nur in 46% aller Entscheidungen, das systematische Argument in 28% und das historische und EuGH, Slg. 1999, S. I-8877 ff. (Wirtschafts- und Sozialausschuss / E). EuGH, Slg. 1999, S. I-8903 ff. (Everson und Barrass). 175 EuGH, Slg. 1999, S. I-8935 ff. (Kommission / Frankreich). 176 EuGH, Slg. 1999, S. I-8955 ff. (Taylor). 177 EuGH, Slg. 1999, S. I-8987 ff. (Kommission / Luxemburg). 178 EuGH, Slg. 1999, S. I-9021 ff. (Kommission / Luxemburg). 179 Vgl. zu dieser Methode Dederichs, M. / Christensen, R., Inhaltsanalyse als methodisches Instrument zur Untersuchung von Gerichtsentscheidungen, vorgeführt am Beispiel der Rechtsprechung des EuGH, in: Müller, F. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik III, 2003, Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, Berlin 2004, S. 287 ff. Außerdem grundlegend zu dieser Methode Langridge, D. W., Inhaltsanalyse: Grundlagen und Methoden, 1994; Merten, K., Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis, 2., verbesserte Aufl., 1995; Früh, W., Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis, 4. Aufl., 1998; Berth, H., Inhaltsanalyse, 1999. Speziell für die Anwendung auf das Recht auch Limbach, J., Die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse richterlicher Entscheidungen, in: JA 1976, S. 353 ff.; Wambsganz, C., Computerunterstützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, 1999. 180 Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript. 173 174

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genetische Argument zusammen in 30% aller Entscheidungen.181 Das qualitative Gewicht dieses Arguments zeigt sich außerdem darin, dass der Verweis auf eigene Rechtsprechung in 154 der 259 Entscheidungen des EuGH das häufigste Argument darstellt. Die grammatische Auslegung erreicht diesen Stellenwert nur in 54 Entscheidungen, die teleologische, historische und systematische Auslegung sogar nur in 5 und weniger Entscheidungen. Dies bedeutet, „dass der Verweis auf frühere Rechtsprechung in dreimal so vielen Entscheidungen das häufigste Argument ist, wie die in dieser Hinsicht zweithäufigste Argumentationsform, die grammatikalische Auslegung. Die herausragende Bedeutung des Verweises auf frühere Rechtsprechung als Argumentationsform in der Methodik des EuGH zeigt sich schließlich auch daran, dass der EuGH seine Argumentation in einer Entscheidung typischerweise nicht nur einmal, sondern mehrfach auf frühere Rechtsprechung stützt. So wird in 88 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 zwei- bis viermal auf frühere Rechtsprechung verwiesen, in 65 Entscheidungen fünf- bis neunmal und in 36 Entscheidungen zehnmal und mehr. Im Vergleich hierzu verwendet der EuGH die grammatikalische Auslegung typischerweise nur ein- bis zweimal, seltener drei- bis fünf- und vereinzelt mehr als fünfmal pro Entscheidung. Die teleologische Auslegung findet sich in der Regel nicht häufiger als zweimal und die systematische Auslegung in der Regel sogar nur einmal pro Entscheidung.“182 365

Auch in der Literatur wird immer wieder hervorgehoben, dass die eigene Tradition für den EuGH und vor allem für die Generalanwälte ein wichtiger Ausgangspunkt ist.183 An die Stelle einer Kohärenz der Gesetzestexte tritt so zunehmend eine Kohärenz der Entscheidungspraxis.184 Dies wird besonders deutlich im kritischen Bereich des europäischen Beihilferechts. In der Entscheidung C-75 / 97 verweist das Gericht insgesamt 31-mal auf frühere Rechtsprechung185: „Als Beihilfen gelten namentlich Maßnahmen, die in verschiedener Form Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat und die somit zwar keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen aber nach Art und Wirkung gleichstehen (Urteile vom 1. Dez. 1998 in der Rechtssache C-200 / 97, 181 Vgl. dazu Dederichs, M., Häufigkeit und Bedeutung methodischer Argumente in den Begründungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, im Erscheinen 2003. 182 Vgl. dazu Dederichs, M., ebd. 183 Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 296; Arnull, A., Owning up to fallibility: Precedent and the Court of Justice, in: CMLR 1993, S. 247 ff., 247; Brown L. N. / Kennedy, T., The Court of Justice of the European Communities, 4. Aufl., 1994, S. 345 ff. 184 Dies zeigt sich nicht nur in den betreffenden Entscheidungen, sondern auch in den Besprechungen durch die Literatur. Vgl. dazu am Beispiel des Problems der Abfallbeseitigung, EuGH, in: NVwZ 2002, S. 579 ff., und EuGH, in: NVwZ 2002, S. 582 ff., sowie die Besprechung von Versteyl, L.-A., Harmonisierung und verstärkte Schutzmaßnahmen – Das DaimlerChrysler-Urteil des EuGH vom 13. 12. 2001 zur Andienung und Abfallverbringung, in: NVwZ 2002, S. 565 ff. 185 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 3671 ff.

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Ecotrade, Slg. 1998, I-7907, Rn. 34).“ Das Gericht fährt dann fort: „Solche staatlichen Maßnahmen sind nicht schon wegen ihres sozialen Charakters von der Einordnung als Beihilfen im Sinne des Art. 92 des Vertrages ausgenommen (Urteile vom 26. Sept. 1996 in der Rechtssache C-241 / 94, Frankreich / Kommission, Slg. 1996, I-4551, Rn. 21 und vom 29. April 1999 in der Rechtssache C-342 / 96, Spanien / Kommission, Slg. 1999, I-2459, Rn. 23). Art. 92 Abs. 1 des Vertrages unterscheidet nicht nach den Gründen oder Zielen der staatlichen Maßnahmen, sondern beschreibt diese nach ihren Wirkungen (Urteile vom 29. Febr. 1996 in der Rechtssache C-56 / 93, Belgien / Kommission, Slg. 1996, I-723, Rn. 79 und vom 26. Sept. 1996, Frankreich / Kommission, Rn. 20)“.186 In ihrer detaillierten Analyse dieses Urteils kommt Dederichs zu folgendem Ergebnis: „Insgesamt wird anhand dieses Beispiels deutlich, dass der EuGH auf dem Gebiet des Beihilferechts nicht nur auf eine brauchbare, sondern auf eine bereits sehr detaillierte Struktur früherer Rechtsprechung zurückgreifen kann. Diese erlaubt einen weitgehenden Verzicht auf originäre Auslegung anhand der klassischen Auslegungscanones.“187 Der Umstand, dass dies beim EuGH deutlicher wird als bei nationalen Gerich- 366 ten, erklärt sich daraus, dass nur wenige Rahmenbedingungen als Garantie der Einheitlichkeit vorhanden sind: vor allem sind die Kammern, an die immer mehr Rechtssachen verwiesen werden, nach Art. 95 § 3 der Verfahrensordnung zwar berechtigt, aber keinesfalls verpflichtet, eine Sache an das Plenum zurückzugeben. In gewissem Sinn trägt es jedoch zur Kohärenz bei, dass alle Rechtssachen von der Generalversammlung, bestehend aus den Richtern und Generalanwälten, an die Spruchkörper verwiesen werden. Wem eine Sache grundsätzliche Fragen aufzuwerfen scheint, der kann auf eine Behandlung im Plenum drängen. Andererseits gibt es die Einrichtung der „lecteurs d’arrêts“ (Urteilslektoren), „die alle Urteilsentwürfe ( . . . ) begutachten ( . . . ) und wohl in gewissen Grenzen auch für die Berücksichtigung der Vorjudikatur sorgen sollen.“188 Wie lässt sich diese Entwicklung von der Kohärenz der Gesetze zu jener der 367 Urteile189 beschreiben? Zunächst kann man nicht sagen, die Systematik erster OrdEuGH, Slg. 1999, I, S. 3671 ff., Rn. 23 u. 25. Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript. 188 Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 296. 189 Im Rahmen der Systemtheorie kommt das Stichwort Kohärenz nicht vor. Das vorliegende Problem wird dort unter der Überschrift Konsistenz der Entscheidungspraxis verhandelt. Vgl. dazu Luhmann, N., Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1999, S. 374 ff., 394 ff. Dabei macht sich die Systemtheorie immer noch Illusionen über die Möglichkeit von Konsistenz und die mangelnde Beachtlichkeit von deren Fehlen. Dazu grundsätzlich Stäheli, U., Sinnzusammenbrüche, 2000. Kern des Problems ist der von Luhmann aus der Protologik von Spencer Brown übernommene Begriff der Kondensierung bzw. Konfirmation. Die Protologik sieht von der Zeit ab. Wenn man solche zeitabstrakten methodischen Annahmen auf zeitlich strukturierte Thematiken überträgt, erzeugt man dadurch idealistische Illusionen von Dauerhaftigkeit und 186 187

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nung werde durch die der zweiten Ordnung verdrängt, denn die normale systematische Auslegung kommt weiterhin vor. Besser könnte man von einem Ergänzungsverhältnis sprechen, denn die Systematik zweiter Ordnung kann nur dort verwendet werden, wo der EuGH schon tätig war. „Insgesamt 14-mal verweist der EuGH in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 zur Definition unbestimmter Rechtsbegriffe auf frühere, bzw. ,ständige‘ Rechtsprechung. Betroffen sind die Begriffe ,öffentliche Sicherheit‘, ,Entgelt‘, ,mittelbare Diskriminierung‘, ,Diskriminierung‘, ,Ableitung‘, ,Maßnahme gleicher Wirkung‘, ,Unternehmen‘, ,Arbeitnehmer‘, ,Vorverfahren‘, ,Vereinbarung‘, ,Verwechslungsgefahr‘, ,höhere Gewalt‘, ,Mehrwertsteuer‘ und ,Nebenleistung‘“.190 Auch sonst bezieht sich der EuGH auf eigene Rechtsprechung in den Gebieten, die er bereits ausführlich bearbeitet hat: So z. B. im Zollrecht191, im Steuerrecht192, im Beamtenrecht193, bei den Grundrechten194, den Grundsätzen von Verhältnismäßigkeit und Vertrauensschutz195 sowie zur Regelung der Haftung der Gemeinschaft.196 Eine Inhaltsanalyse des EuGH-Jahrgangs von 1999 kommt zu dem Ergebnis, dass das EuGH am häufigsten im Zusammenhang mit Vorabentscheidungsverfahren auf ständige Rechtsprechung verweist, nämlich insgesamt 33-mal bei 259 Entscheidungen. Am zweithäufigsten bei wettbewerbsrechtlichen Fragestellungen, nämlich insgesamt 21-mal, und am dritthäufigsten bei der Problematik der Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten, nämlich 15-mal.197 Dabei ist das Wort „Ergänzung“ aber immer noch missverständlich. Denn es konnotiert Randgebiete und entlegene Provinzen des Gemeinschaftsrechts. TatStabilität. Sachadäquater ist demgegenüber der eine prinzipielle Verschiebung enthaltende Begriff der Iteration. Eine Dekonstruktion dieser Annahmen der Systemtheorie muss im vorliegenden Zusammenhang unterbleiben. Vgl. dazu Stäheli, U., ebd., S. 280 ff.; Baecker, D., Zeit und Zweideutigkeit im Kalkül der Form, in: Nummer 3, 4 / 5, 1996, S. 11 ff.; Gasché, R., The Tain of the mirror, 1986, insbes. S. 192 und öfter. In der Systemtheorie können diese idealistischen Grundannahmen nur funktionieren, weil sie die Rhetorizität von Sprache unterschätzt und exiliert. Vgl. dazu Stäheli, U., Sinnzusammenbrüche, 2000, S. 150 ff. 190 Vgl. dazu Dederichs, Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript; sowie die Entscheidungen EuGH, Slg. 1999, I, S. 7403 ff. (Sirdar); I, S. 7243 ff. (Lewen); I, S. 6355 ff. (Van Rooij); I, S. 6269 ff. (BASF); I, S. 5751 ff. (Albany); I, S. 5665 ff. (Becu u. a.); I, S. 5087 ff. (Kommission / Deutschland); I, S. 4125 ff. (Kommission / Anic Partecipazioni); I, S. 3819 ff. (Lloyd Schuhfabrik Meyer); I, S. 3449 ff. (Wettwer); I, S. 3119 ff. (Pelzl u. a.); I, S. 973 ff. (CPP). 191 EuGH, Slg. 1999, I, S. 689 ff. (Rose Elektrotechnik). 192 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 973 ff. (CPP). 193 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 4069 ff. (Alexopoulou / Kommission). 194 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 4539 ff. (Montecatini). 195 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 6983 ff. (Atlanta). 196 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 5251 ff. (Lucaccioni / Kommission). 197 Vgl. dazu Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript, sowie beispielsweise die Entscheidungen EuGH, Slg. 1999, I, S. 8121 ff. (Teckal); I, S. 4287 ff. (Hüls); I, S. 4125 ff. (Anic Partecipazioni); I, S. 8001 ff. (Kommission / Italien); I, S. 8571 ff. (Kommission / Irland).

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sächlich aber kommt die Systematik zweiter Ordnung gerade in den zentralen Bereichen zum Tragen, wo es die meisten Judikate gibt. Häufig muss der EuGH dabei den vorliegenden Fall von früheren Entscheidungen abgrenzen.198 Diese Abgrenzung erfolgt häufig als Antwort auf eine Rechtsansicht einer Partei199 oder als Reaktion auf das EuG als Gericht erster Instanz200 und schließlich auch als Antwort auf eine Vorlagefrage201 hin. Die Systematik erster Ordnung zeigt sich dagegen eher in den Randgebieten und 368 bei speziellen Rechtsfragen. Wenn man diese Entwicklung zureichend beschreiben will, muss man von einem wachsenden Überwiegen der Systematik zweiter Ordnung gegenüber derjenigen erster Ordnung ausgehen. Eine Inhaltsanalyse des EuGH-Jahrgangs 1999 kommt bezüglich des Stellenwerts der Bezugnahme auf eigene Judikatur innerhalb der Argumentation des Gerichts zu folgendem Ergebnis: „Die Gewichtung der Argumentationsformen in der Methodik des EuGH muss grundsätzlich neu bewertet und dem Verweis auf frühere Rechtsprechung gegenüber den übrigen Argumentationsformen eine herausragende Bedeutung beigemessen werden. Der Verweis auf frühere Rechtsprechung wird in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt 1199-mal verwendet und ist damit die häufigste Argumentationsform. Der Verweis auf frühere Rechtsprechung wird in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 mehr als doppelt so häufig verwendet wie die grammatikalische Auslegung als zweithäufigste Argumentationsform und mehr als viermal so häufig wie die teleologische Auslegung als dritthäufigste Argumentationsform. Von den 259 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 enthalten nur 38 keinen Verweis auf frühere Rechtsprechung, d. h. 85% aller Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 enthalten wenigstens einen Verweis auf frühere Rechtsprechung. In 154 der 259 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 ist der Verweis auf frühere Rechtsprechung die häufigste Argumentationsform. Damit ist der Verweis auf frühere Rechtsprechung auch bezogen auf einzelne Entscheidungen die häufigste Argumentationsform. Der EuGH stützt seine Argumentation in einer Entscheidung typischerweise nicht nur einmal, sondern mehrfach auf frühere Rechtsprechung.“202 421.3 Zur Problematik von Präjudizien Die grundlegende Schwierigkeit der Systematik zweiter Ordnung liegt darin, 369 dass ein Gericht weder seine eigenen Entscheidungen noch gar die anderer Gerichte voll überblicken kann und dass schon deshalb häufig Widersprüche zwischen Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, I, S. 2685 ff. (Sürül), Rn. 21 u. 22. EuGH, Slg. 1999, I, S. 5363 ff. (AssiDomän Kraft Product), Rn. 64; I, S. 1919 ff. (Nijhuis), Rn. 31 ff.; I, S. 2491 ff. (Norbury Developments), Rn. 18. 200 EuGH, Slg. 1999, I, S. 185 ff. (Frankreich / Comafrica u. a.), Rn. 34. 201 EuGH, Slg. 1999, I, S. 6927 ff. (Upjohn), Rn. 20. 202 Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript. 198 199

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Präjudizien bestehen. Diese verborgenen Nester von Widersprüchen können den Bezug auf Vorentscheidungen willkürlich machen, aber auch in einem laufenden Verfahren zu guten Argumenten führen. Gerade in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte sieht man, dass die Systematik zweiter Ordnung nicht alle Probleme juristischen Entscheidens zu lösen vermag. Ein geeignetes Beispiel bietet etwa die Judikatur zum Konflikt zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten. So stellt sich der EuGH anlässlich der Blockade des Brennerpasses die Frage, ob eine Demonstration die Garantie des freien Warenverkehrs verletzen kann.203 Bereits in seiner Entscheidung zu französischen Bauernprotesten hatte der EuGH einen solchen Konflikt behandelt.204 370

Die Entscheidung im Fall Schmidberger205 nimmt die Problematik aus dem Fall Kommission gegen Frankreich nicht nur auf, sondern präzisiert die Rechtfertigungsmöglichkeiten für Eingriffe in die Grundfreiheiten. Sie bietet dadurch auch neuen Diskussionsstoff für die mögliche Weiterentwicklung der vom EuGH im Fall Cassis de Dijon206 eingeführten Differenzierung, derzufolge der Rechtfertigungsstandard für Eingriffe in die Warenverkehrsfreiheit für diskriminierende und nicht-diskriminierende unterschiedlich hoch ist.207 Die Bedeutung der Schmidberger-Entscheidung liegt im Konflikt zweier unterschiedlicher Rechtsmassen, die unterschiedlichen Zielsetzungen folgen. Während die bereits in den Römischen Verträgen vertexteten Grundfreiheiten in erster Linie der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes dienen, entstehen die europäischen Grundrechte in nicht im203 Vgl. Caldewell, C. J., The black Diamond of Harmonization: The Alpine Convention as a Model for Balancing competing Objectives in the European Union, Boston University International Law Journal 21 (2003), S. 137 ff. 204 EuGH, Rs. C-265 / 95, Kommission gegen Frankreich, 9. 12. 1997, Slg. 1997, I-6959. Die Entscheidung des EuGH führte zum Erlass der Verordnung (EG) Nr. 2679 / 98 des Rates vom 7. Dezember 1998 (Abl. L v. 12. 12. 1998, S. 8 f.) über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Deren Artikel 2 adressiert die hier interessierende Kollisionsproblematik (allerdings auf Ebene der Grundrechte der Mitgliedstaaten) wie folgt: „Diese Verordnung darf nicht so ausgelegt werden, daß sie in irgendeiner Weise die Ausübung der in den Mitgliedstaaten anerkannten Grundrechte, einschließlich des Rechts oder der Freiheit zum Streik, beeinträchtigt. Diese Rechte können auch das Recht oder die Freiheit zu anderen Handlungen einschließen, die in den Mitgliedstaaten durch die spezifischen Systeme zur Regelung der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern abgedeckt werden.“ 205 EuGH, Rs. C-112 / 00, Eugen Schmidberger, Internationale Transporte und Planzüge gegen Republik Österreich, 12. 6. 2003, EuGH, Slg. 2003, I-5659. 206 EuGH Rs. 120 / 78, REWE-Zentral AG . / . Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Urt. v. 20. Februar 1979, Slg. 1979, 649; die Entscheidung schränkt das Verbot von „Maßnahmen gleicher Wirkung“ aus der Dassonville-Formel (EuGH, Rs. 8 / 74, Staatsanwaltschaft / Benoit und Gustave Dassonville, Urt. v. 11. Juli 1974, Slg. 1974, 837) auf solche Maßnahmen ein, die „nicht notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden“ (siehe auch die weitere Differenzierung in der Keck-Formel: EuGH, Urt. v. 24. November 1993, Rs. C-267 / 91 u. C-268 / 91 – Keck und Mithouard – Slg. 1993, I-6097 ff.). 207 Hierzu: Agerbeek, F. R., Freedom of expression and free movement in the Brenner corridor: the Schmidberger case, European Law Review 29 (2004), S. 255 ff. (264 ff.).

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mer spannungsfreien Kooperationsverhältnissen des EuGH mit nationalstaatlichen und internationalen Gerichten.208 Eine Textgrundlage für die europäischen Grundrechte hat zwar die Grundrechtscharta der Europäischen Union gebracht,209 aber nach deren Aufnahme in den Vertrag über eine Verfassung für Europa folgt aus der Unterbrechung des verfassungsbezogenen Ratifikationsprozesses auch für die Charta, dass ihr Rechtsstatus weiterer Klärung bedarf.210 Der EuGH beruft sich in der Schmidberger-Entscheidung auf die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte, Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union (nunmehr Art. 6 Abs. 2 EU)211 und auf seine ständige Rechtsprechung, nach der die europäischen Grundrechte „zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Dabei lässt sich der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Hierbei kommt der EMRK besondere Bedeutung zu“.212 Anders als Generalanwalt 208 Zuerst: EuGH, Slg. 1969, S. 419 ff. (Stauder); EuGH, Rs. 11 / 70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 ff.; zur Entwicklung der Rechtsprechung und den institutionellen Auseinandersetzungen: Buckel, S., Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, Diss. Frankfurt am Main 2006, 4. Kap.; zum Spannungsverhältnis EuGH und EGMR, das sich insbesondere in der Entscheidung Dennis Matthews gegen United Kingdom, 24833 / 94, 18. 2. 1999 ausdrückt, siehe: Winkler, S., Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, das Europäische Parlament und der Schutz der Konventionsrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 28 (2001), S. 18 ff.; Rieder, C., Protecting Human Rights within the European Union: Who is better Qualified to do the Job – the European Court of Justice or the European Court of Human Rights, The Tulane European and Civil Law Forum 20 (2005), S. 73 ff.; siehe auch: Griller, S., Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: Dschanek, A. / Griller, S. (Hrsg.), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza, 2002, S. 131 ff. 209 ABl. C-364 vom 18. 12. 2000; allerdings wiederholte sich die rasche Einigung, die der vom Europäischen Rat von Tampere eingesetzte „Konvent“ aus Vertretern des Europäischen Parlaments, der Kommission, der nationalen Parlamente und der Staats- und Regierungschefs über den 54 Artikel umfassenden europäischen Grundrechtstext erzielen konnte, im Hinblick auf die genaue Einordnung des Textes in das europäische Normensystem nicht. Zur Vorbereitung der Umstrukturierung beauftragte der Europäische Rat von Laeken im Dezember 2001 den Europäischen Konvent (Bull. EU 12 – 2001, 9 [25 f.]), der am 1. März 2002 erstmalig zusammentrat und in seinem Abschlussbericht die Einbeziehung der Charta in den Verfassungsentwurf vorschlug (Abschlussbericht der Arbeitsgruppe: CONV 354 / 02). 210 Zur Verfassung und dem Verfassungsprozess generell: Bast, J., The Constitutional Treaty as a Reflexive Constitution, German Law Journal 11 (2005), S. 1433 ff. 211 „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“ 212 EuGH, Rs. C-112 / 00, Eugen Schmidberger, Internationale Transporte und Planzüge gegen Republik Österreich, 12. 6. 2003, EuGH, Slg. 2003, I-5659, Rdn. 71, unter Berufung auf EuGH, 18. 6. 1991, Rs. C-260 / 89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Rdn. 41; EuGH, 6. 3. 2001,

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Jacobs213 wendet der EuGH jedoch nicht die Grundrechte als Kontrollmaßstab für das Vorliegen eines zwingenden Erfordernisses i. S. d. Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung214 an,215 sondern wählt einen unmittelbaren Zugang, der unterschiedliche Freiheitsrechte in Einklang zu bringen sucht: „Die vorliegende Rechtssache wirft somit die Frage auf, wie die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft mit den aus einer im Vertrag verankerten Grundfreiheit fließenden Erfordernissen in Einklang gebracht werden können, und insbesondere die Frage, welche Tragweite die durch die Artikel 10 und 11 EMRK gewährleistete Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit und der Grundsatz des freien Warenverkehrs jeweils haben, wenn die erstgenannten Freiheiten als Rechtfertigung für eine Beschränkung des letztgenannten Grundsatzes herangezogen werden.“216 Dass der EuGH im Anwendungsbereich des unionalen Rechts auch die unmittelbare Anwendung der europäischen Grundrechte einfordert, führt dazu, dass er europäische Grundrechte und Grundfreiheiten erstmals auf gleicher dogmatischer Ebene abhandeln kann.217 371

Wenn man nun fragt, wessen unionale Grundrechte und Grundfreiheiten im Fall Schmidberger eigentlich miteinander in Widerstreit liegen, steuert man auf eine doppelte Schutzpflichtproblematik zu: Im europäischen Recht kollidieren nach der Rechtsprechung des EuGH und der herrschenden Literaturmeinung nicht etwa die Grundfreiheitsrechte von Unionsbürgern (hier: der Transportunternehmer) mit den Grundrechten anderer Unionsbürger (hier: der Demonstranten), sondern Schutzpflichten Österreichs (Grundfreiheiten) kollidieren mit weiteren Schutzpflichten Österreichs (Grundrechte). Auf der Grundfreiheitsebene stellt die Rechtspraxis den Staatsbezug über ein sehr weit verstandenes Schutzpflichtkonzept her. Die Konstruktion wird zwar als angreifbar empfunden: „It is logically a Rs. C-274 / 99 P, Connolly / Kommission, Slg. 2001, I-1611, Rdn. 37 und EuGH, 22. 10. 2002, Rs. C-94 / 00, Roquette Frères, Slg. 2002, I-9011, Rdn. 25. 213 EuGH, Rs. C-112 / 00, Schlussanträge des Generalanwalts Francis G. Jacobs v. 11. 7. 2002, Rdn. 57 ff. 214 EuGH Rs. 120 / 78, REWE-Zentral AG . / . Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Urt. v. 20. Februar 1979, Slg. 1979, 649. 215 So auch die Vorgehensweise in EuGH, Rs. C-368 / 95, Familiapress, 26. 6. 1997, Slg. 1997 I-3698, Ziff. 18: „Die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt kann ein zwingendes Erfordernis darstellen, das eine Beschränkung des freien Warenverkehrs rechtfertigt. Diese Vielfalt trägt nämlich zur Wahrung des Rechts der freien Meinungsäußerung bei, das durch Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützt ist und zu den von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehört (Urteile vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-353 / 89, Kommission / Niederlande, Slg. 1991, I-4069, Randnr. 30, und vom 3. Februar 1993 in der Rechtssache C-148 / 91, Veronica Omreop Organisatie, Slg. 1993, I-487, Randnr. 10).“ 216 EuGH, Rs. C-112 / 00, Eugen Schmidberger, Internationale Transporte und Planzüge gegen Republik Österreich, 12. 6. 2003, EuGH, Slg. 2003, I-5659, Rdn. 77. 217 Details bei Kadelbach, S. / Petersen, N., Europäische Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten. Anmerkungen zum EuGH-Urteil in der Rs. C-112 / 00, Schmidberger / Republik Österreich (Brennerblockade), EuGRZ 2003, S. 693 ff.

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rather curious move to place a Member State under an obligation to adopt appropriate measures to ensure that private individuals do not create obstacles to free movement of goods, when those private individuals do not have any duty not to create those obstacles in the first place. In effect, the Court is creating an indirect obligation to private parties after failing to create the direct obligation in its earlier case law.“218 Im Bereich der Grundfreiheitsschutzpflicht versucht der EuGH allerdings durch die Relationierung von Art. 28 EGV und Art. 10 EGV eine eigenständige staatliche Schutzpflicht zu schaffen, die insofern nicht von einer Privatpflicht abgeleitet ist. So hatte der EuGH im Fall der Demonstrationen französischer Bauern auch auf Art. 10 EGV zurückgegriffen und die Pflichtverletzung Frankreichs damit begründet, angesichts gewalttätiger Demonstrationen seien nicht alle erforderlichen und angemessenen Maßnahmen ergriffen worden, um den freien Warenverkehr mit Obst und Gemüse vor Beeinträchtigungen durch Privatpersonen zu schützen.219 Indem der EuGH der Grundfreiheitsschutzpflicht nunmehr eine Grundrechts- 372 schutzpflicht zur Seite stellt, kommt er vielfach in der Literatur erhobenen Forderungen nach.220 Zwar hatte das Gericht schon früh europäische Grundrechte in ihrer spezifischen Verbindung zu Grundfreiheitsrechten herangezogen, um dadurch Rechte von Unionsbürgern und – wie beispielsweise im Carpenter-Fall – derivativ berechtigten Drittstaatlern gegen den jeweiligen Unionsmitgliedstaat zu stärken.221 Während jedoch die in der Carpenter-Entscheidung zum Ausdruck kommende Verknüpfung von Grundfreiheits- und Grundrechten eine begrüßenswerte Entwicklung ist, da sie den Freiheitsgrad der Unionsbürger erhöht und zum Beispiel gegen regressive mitgliedsstaatliche Nachzugsregeln für Familienangehörige gerichtet ist, führt die Schutzpflichtkreisverdoppelung durch den EuGH in ein aus den Nationalstaaten bekanntes Problem: praktische Konkordanz, Wertebalancierung, Interessenabwägung.222 218 Snell, J., Private Parties and the Free Movement of Goods and Services, in: Andenas, M. / Roth, W.-H. (Hrsg.), Services and Free Movement in EU Law, 2002, S. 211 ff. (237). 219 EuGH, Rs. C-265 / 95, Kommission gegen Frankreich, 9. 12. 1997, Slg. 1997, I-6959, Rdn. 66. 220 Aus der deutschen Literatur: Schindler, D., Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten. Entwurf eines Kollisionsmodells unter Zusammenführung der Schutzpflichten- und der Drittwirkungslehre, 2001; Szcekalla, P., Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht. Inhalt und Reichweite einer gemeineuropäischen Grundrechtsfunktion, 2002, S. 549 ff.; Jaeckel, L., Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, S. 194 ff.; Suerbaum, J., Die Schutzpflichtendimension der Gemeinschaftsgrundrechte, EuR 38 (2003), S. 390 ff. 221 EuGH, Rs. C-60 / 00, Carpenter, hierzu: Fischer-Lescano, A., Nachzugsrechte von drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern deutscher Unionsbürger, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 25 (2005), S. 288 ff. 222 Bogdandy, A. v., The European Union as a Human Rights Organization? Human Rights and the Core of the European Union, Common Market Law Review 37 (2000), S. 1307 ff. (1332 ff.), hält dies für unausweichlich, weshalb er eine gewisse Grundrechtszurückhaltung einfordert.

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Die Probleme des Abwägungspragmatismus gewinnen hierbei im europäischen Rechtsraum dadurch an zusätzlicher Brisanz, dass im Bereich der europäischen Grundrechte eine unspezifische und undifferenzierte Schrankensystematik vorherrscht. Ein inhaltliches Konturieren der unionalen Grundrechte erfordert vor dem Hintergrund der bislang verworrenen Textsituation eine spezielle hypertextuelle Arbeitsleistung, die zwischen Bezugnahmen auf die EMRK, gemeineuropäisches Verfassungsrecht und die Grundrechte-Charta changiert. Die Grundrechtsdogmatik selbst ist im unionalen Rechtsrahmen schwach ausgeprägt. Der EuGH sucht die von ihm durchgeführten Abwägungsprozesse im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu systematisieren.223 Klare Konturen entstehen hier erst durch Entscheidungsketten, die man auch im Gemeinschaftsrecht häufig als „Case law“ bezeichnet.224 Aber diese Entscheidungsketten changieren zwischen Schutzpflicht im Rahmen einer vertikalen Ganzheitsvorstellung und direkter Geltung der Grundrechte im Rahmen eines horizontal verstandenen Ganzheitskonzepts.

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Als der EuGH im Fall der französischen Bauernproteste die französischen Behörden, die den durch die Proteste Geschädigten bereits zivilrechtliche Restitutionsleistungen gewährt hatten, dafür gerügt hat, dass sie Prohibitions- und Pönalisierungspflichten vernachlässigt hätten, hat er sich ganz im Rahmen dieser Lehre der Bearbeitung von Grundrechtskollisionen bewegt: „[50] Gleichwohl wurde unstreitig nur eine ganz kleine Zahl der an diesen schweren Störungen der öffentlichen Ordnung beteiligten Personen ermittelt und verfolgt. [51] So konnten die französischen Behörden hinsichtlich der zahlreichen Sachbeschädigungen, die von April bis August 1993 begangen wurden, nur einen einzigen Fall strafrechtlicher Verfolgung angeben. [52] Ohne die Schwierigkeiten der zuständigen Behörden bei der Bewältigung von Situationen der hier in Rede stehenden Art zu verkennen, ist somit festzustellen, daß die Maßnahmen, die die französische Regierung getroffen hat, angesichts der Häufigkeit und Schwere der von der Kommission aufgeführten Vorfälle offenkundig nicht ausreichten, um den freien innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen in ihrem Gebiet dadurch zu gewährleisten, daß sie die Urheber der fraglichen Zuwiderhandlungen wirksam an deren Begehung und Wiederholung hinderten und sie davon abschreckten.“225

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Zwar hat der EuGH im Brennerpassfall der Grundrechtsschutzpflicht gegenüber der Grundfreiheitsschutzpflicht den Vorrang gegeben; doch ist der Abwägungsvorgang, den das Gericht hier durchgeführt hat, bezeichnend dafür, dass es in der Tradition der Bauernprotestentscheidung als „Kerntest“ im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Frage ansetzt, ob die Ausübung von Kommunikationsfreiheitsrech223 Hierzu: Pache, E., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung der Gerichte der EG, NVwZ 1999, S. 1033 ff. 224 Bogdandy, A. v., The European Union as a Human Rights Organization? Human Rights and the Core of the European Union, Common Market Law Review 37 (2000), S. 1307 ff. (1332). 225 EuGH, Rs. C-265 / 95, 9. 12. 1997, Rdn. 50 ff.

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ten eine „allgemeine Atmosphäre der Unsicherheit schuf, die sich auf die gesamten Handelsströme nachteilig ausgewirkt hätte“.226 Als Abwägungsposten werden sodann zwei Faktoren angeführt, welche die unionale Kommunikationsfreiheit nachdrücklich unter Dauervorbehalt stellen: Erstens rekurriert das Gericht auf den „Zweck“ des Verhaltens, indem es in der Brennerpassentscheidung als Abgrenzung von der Bauernprotestentscheidung anführt, dass „die Demonstranten in der Rechtssache Kommission / Frankreich eindeutig den Zweck verfolgt [haben], den Verkehr mit bestimmten Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten als der Französischen Republik zu unterbinden“.227 Zweitens anerkennt der EuGH, dass die Ausübung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit Einschränkungen unterworfen werden kann, „sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den mit den Beschränkungen verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die geschützten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“228 Auch wenn das Gericht mehr Sympathien für die Demonstranten am Brenner- 376 pass als für die französischen Bauern aufbrachte, bestätigt die Bennerpassentscheidung die Rechtsprechungslinie des EuGH und führt im Ergebnis dazu, dass das Gericht den Mitgliedstaaten nicht nur Restitutions- und Strafpflichten, sondern auch den Erlass inhaltlicher Verbotsnormen auferlegt: „One could imagine a situation where a Member State is required to adopt laws prohibiting certain behaviour. But what must be prohibited? To give a hypothetical example: would a vivid and effective private campaign for a Greek consumer boycott of Danish goat cheese be acceptable? If not, are there any measures, less restrictive than a prohibition of the campaign, a Member Sate could fulfil its obligations under Arts 10 and 28 EC?“229 Ausgehend von einem starken Schutzpflichtkonzept kann der EuGH Mitgliedstaaten zur Unterbindung von Kritik an der Wirtschafts- und Sozialordnung der EU verpflichten, wenn diese Kritik die freien Handelsströme behindert. Auch eine mögliche deeskalative Ausrichtung von nationalen Polizeistrategien kann als europarechtswidrig abgeurteilt werden; genauso wie das Gericht das Vorbringen der französischen Regierung im Fall der Bauernproteste nicht berücksichtigte, die Lage der französischen Landwirte sei so schwierig gewesen, dass Anlass zu der Befürchtung bestanden habe, bei entschiedenerem Vorgehen der zuständigen Behörden könne es zu gewalttätigen Reaktionen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer, verbunden mit noch schwereren Angriffen auf die öffentliche Ordnung oder gar zu sozialen Unruhen kommen.230 Im Ergebnis ist die Schutzpflichtgenerierung konturenlos. Sie gibt den Mitglied- 377 staaten auf, im Fall der Herbeiführung einer allgemeinen Atmosphäre der UnsiEuGH, Rs. C-112 / 00, 12. 6. 2003, Rdn. 88. EuGH, Rs. C-112 / 00, 12. 6. 2003, Rdn. 94. 228 EuGH, Rs. C-112 / 00, 12. 6. 2003, Rdn. 80. 229 Agerbeek, F. R., Freedom of expression and free movement in the Brenner corridor: the Schmidberger case, European Law Review 29 (2004), S. 255 f. (260). 230 EuGH, Rs. C-265 / 95, Rdn. 54. 226 227

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cherheit, die sich auf die gesamten Handelsströme nachteilig ausgewirkt, den freien innergemeinschaftlichen Handelsverkehr in ihrem Gebiet dadurch zu gewährleisten, dass sie die Urheber von Zuwiderhandlungen wirksam an deren Begehung und Wiederholung hindern und sie davon abschrecken. Dies eignet sich „hervorragend zum ’topisch’ fliegenden Einsatz an Stellen, wo mit Grundrechtsverwirklichung verbundene soziale Veränderungen zu befürchten und zu verhindern sind.“231 Eine Entwicklung des systematischen Konflikts fehlt dabei weitgehend. Das ist aber nur eine Seite der Rechtsprechung. Es gibt eine andere, und dazu widersprüchliche Seite. Die methodengerechte Entwicklung der Systematik zweiter Ordnung würde verlangen, dass der EuGH diese Widersprüchlichkeit aufdeckt, diskutiert und entscheidet. Meistens geschieht aber das Gegenteil. Deswegen ist gerade die Systematik zweiter Ordnung ein Bereich der EuGH-Rechtsprechung, der dringend fortentwickelt werden muss und einer begleitenden methodischen Kritik bedarf. Bei der grundfreiheitenbezogenen Rechtsprechung des EuGH gibt es eine ausgearbeitete zweite Linie der Judikatur, welche schon methodisch ganz anders ansetzt. In einer Reihe von Entscheidungen hat das Gericht eine auch horizontale Grundfreiheitswirkung anerkannt.232 So hat es beispielsweise in der BosmanEntscheidung unter Berufung auf die Rechtssache Walrave festgestellt, „daß die Beseitigung der Hindernisse für die Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten gefährdet wäre, wenn die Abschaffung der Schranken staatlichen Ursprungs durch Hindernisse zunichte gemacht werden könnte, die sich daraus ergeben, daß nicht dem öffentlichen Recht unterliegende Vereinigungen und Einrichtungen von ihrer rechtlichen Autonomie Gebrauch machen“.233 Wie vom EuGH in der Entscheidung Angonese weiter präzisiert, soll das nicht nur für Kollektivregelungen gelten, sondern für „alle Verträge zwischen Privatpersonen“.234 Der Literatur, die bei der Einordnung der Privatwirkung zusätzliche Kriterien wie „soziale Macht“, „intermediäre Gewalt“, „quasi-staatliche Private“ hinsichtlich des inkriminierten Verhaltens einzuführen suchte, sind dadurch etwaige Anhaltspunkte in der Judikatur des Gerichts genommen.235 378

Die zentrale Bedeutung der Kommunikationsfreiheit für freiheitlich demokratische Ordnungen gebietet, dass sich der EuGH der Frage nach Inkompatibilitätsnormen bei der Kollision von Wirtschafts- und Kommunikationsrechten differenzierter Ridder, H., Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 91. Siehe nur EuGH, Rs. C-176 / 96, Lehtonen und Castors Braine, Slg. 2000, I-2681, Rdn. 47 ff.; ausführlich zu dieser Rechtsprechungslinie: Preedy, K., Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten. Zur sogenannten Drittwirkung im Europarecht, 2005, S. 25 ff.; siehe auch: Ganten, T. O., Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, Berlin 2000, S. 33 ff.; Snell, J., Private Parties and the Free Movement of Goods, in: Andenas, M. / Roth, W.-H. (Hrsg.), Services and Free Movement in EU Law, 2002, S. 211 ff. 233 EuGH, Bosman, 15. 12. 1995, Rs. C-415 / 93, Slg. 1995, I-4921, Rdn. 83; EuGH, Walrave und Koch, 12. 12. 1974, Rs. 36 / 74, Slg. 1974, 1405, Rdn. 18. 234 EuGH, Angonese, 6. 6. 2000, Rs. C-281 / 98, Slg. 2000, I-4139, Rdn. 34. 235 So auch Preedy, K., Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten. Zur sogenannten Drittwirkung im Europarecht, 2005, S. 60, m. w. N. 231 232

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nähern muss als durch das Etablieren staatlicher Pönalisierungspflichten für kommunikative Akteure, die sich der wirtschaftsrationalen Logik nicht fügen wollen. Insgesamt zeigt die interne Widersprüchlichkeit von Entscheidungsketten die Grenzen beim Einsatz der Systematik zweiter Ordnung. Präjudizien sind für die juristische Argumentation unverzichtbar. Aber sie beenden den Streit nicht, sondern heben ihn nur auf eine neue Stufe. Es stellt sich dann die Frage, wie an diese Reihe von Vorentscheidungen anzuschließen ist, oder präziser, an welche ihrer Stränge. Dazu bedarf es dann erneut weiterer Argumente. 421.4 Das Präjudiz im angelsächsischen Rechtskreis Vorentscheidungen werden in den Mitgliedstaaten verschieden eingeschätzt. Die 379 wichtigsten Unterschiede bestehen zwischen der angelsächsischen und der kontinentalen Tradtion. Präjudizien sind all diejenigen Entscheidungen, die einen Einfluss auf spätere haben können.236 Das Präjudiz ist im anglo-amerikanischen Rechtskreis grundsätzlich bindend. Die „doctrine of precedent“ ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des common law.237 Der Präzedenzfall bestimmt das Ergebnis aller zeitlich späteren Fälle, bei denen der Lebenssachverhalt oder die Rechtsfragen in den erheblichen Punkten ähnlich gelagert sind. Das Gericht muss beim Resultat des Vorgerichts stehen bleiben; das so genannte „stare decisis“238 („stare decisis et non quieta movere“) fordert, den entschiedenen Fällen zu folgen.239 Die „stare-decisis-doctrine“ baut auf dem Grundsatz auf, dass im Rahmen eines Jurisdiktionsbereichs alle Gerichte durch die Entscheidungen höherer Gerichte gebunden werden. Diese sind „bindend“ („are binding on the courts“); das heißt, sie müssen befolgt werden – und zwar grundsätzlich, ohne Rücksicht darauf, ob die Entscheidung dem Untergericht richtig oder falsch erscheint.240 236 Vgl. dazu Alexander, L., Precedent, in: Patterson, D. (ed.), A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, 1996, S. 503 ff.; Jackson, B. S., Making Sence in Jurisprudence, 1996, S. 69 f.,140 f.,190 f.; Lundmark, Th., Umgang mit dem Präjudizienrecht, in: JuS 2000, S. 546 ff., 546. 237 Grundlegend Goldstein, L. (ed.), Precedent in Law, 1987; Schauer, F., Precedent, in: Stanford Law Review, 39, 1987, S. 571 ff.; ders., Precedent and the necessary externality of constitutional norms, in: Harvard Journal of Law & PuMic Policy, 17, 1994, S. 45 ff. Stone, J., Precedent and Law., 1985; Pilny, K., Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, 1993, S. 18. 238 „Typically the holding in a particular case (the „precedent case“) is said to control the result in all future cases in which facts are similar to the precedent case in all relevant respects“. Black, H. C., Black’s law dictionary, Definitions of the terms and phrases of American and English Jurisprudence, 5. Aufl. 1979, S. 1577. 239 Monaghan, H. P., Stare decisis and constitutional adjudication, in: Columbia Law Review, 88, 1988, S. 723 ff.; Hardisty, J., Reflections on stare decisis, in: Indiana Law Journal, 55, 1979, S. 41 ff.; Pilny, K., Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, 1993, S. 19.

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Nur dasselbe oder ein höheres Gericht darf von einem Präzedenzfall abweichen, was „overruling“ genannt wird.241 Entscheidungen rangniedriger Gerichte sind für die ranghöheren lediglich von „persuasive authority“, etwa die des Court of Appeal für das House of Lords.242 Im anglo-amerikanischen Recht wird Präjudizien damit bindende Kraft nicht nur in dem Fall zugesprochen, in dem ein aus der richterlichen Praxis erwachsener Rechtssatz zu Gewohnheitsrecht geworden ist. Vielmehr kann Gewohnheitsrecht umgekehrt als eine mit der Überzeugung ihrer Notwendigkeit gepflegte Übung erst dann rechtlichen Rang erlangen, wenn es in einer gerichtlichen Entscheidung Anerkennung gefunden hat.243 Beim Verarbeiten von Präjudizien durch das aktuell tätige Gericht müssen die obiter dicta von der ratio decidendi unterschieden werden. Unter ratio decidendi (auch holding genannt) versteht man den verbindlichen Teil der in einem Präjudiz enthaltenen Rechtsausführungen.244 Die ratio decidendi umfasst die für das rechtliche Ergebnis des betreffenden Falles notwendigen tragenden Gründe.245 Sie ist die verallgemeinerungsfähige Regel, die bei der weiteren Entwicklung ausgearbeitet wird.246 Die ratio decidendi dient dem Rechtsverkehr als Leitlinie und wird in künftigen Prozessen ausgelegt und umgesetzt. Sie ähnelt damit dem Leitsatz eines Urteils, kann jedoch mit diesem nicht gleichgesetzt werden.247 Ein Leitsatz formuliert nicht notwendig eine vollständige Regel und wird vom Gericht auch nicht immer ausdrücklich formuliert.248

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Die obiter dicta sind Rechtsausführungen, die im Zusammenhang der Begründung der Vorentscheidung entbehrlich sind. Das Gericht hat zu dieser Sache nur 240 Alexander, L., Constrained by precedent, in: Southern California Law Review, 63, 1989, S. 1 ff.; Perry, S. R., Judicial Obligation, precedent and the common law, in: Oxford Journal of Legal Studles, 7, 1987, S. 215 ff.; Blumenwitz, D., Einführung in das anglo-amerikanische Recht, 6. Aufl. 1998, S. 26. 241 Auf der horizontalen Ebene zwischen gleichgeordneten Gerichten ist klar, dass es keine absolute Bindung gibt. Streitig ist aber u. a., ob es für overruling genügt, dass der precedent falsch entschieden wurde, oder ob ein schwerer Fehler nötig ist. Vgl. dazu und zur Stärke der Präzedenzen allgemein Alexander, L., Precedent, in: Patterson, D. (ed.), A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, 1996, S. 503 ff., 511 f.; Pilny, K., Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, 1993, S. 19. 242 Zum Unterschied zwischen horizontalen und vertikalen Zwängen aus Vorentscheidungen vgl. Alexander, L., Constrained by precedent, in: Southern California Law Review, 63, 1989, S. 1 ff., 51 ff., 60 f.; Blumenwitz, D., Einführung in das anglo-amerikanische Recht, 6. Aufl. 1998, S. 26. 243 Bodenheimer, E., Präjudizienverwertung und Gesetzesauslegung im amerikanischen Recht, in: AcP 160 (1961), S. 1 ff., 1. 244 Ebd., S. 4. 245 BydIinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 513. 246 Langenbucher, K., Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 63. 247 Pawlowski, H.-M., Methodenlehre für Juristen, Theorie der Norm und des Gesetzes, 3. Aufl., 1999, Rn. 80 ff. 248 Ebd.

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gelegentlich Stellung genommen. Man erkennt das meistens an der Formulierung „übrigens“ oder „nebenbei bemerkt“.249 Mit obiter dicta sind also die nichttragenden Gründe gemeint, die zusätzlich angeführt werden, aber nicht die Entscheidung ausmachen. Ihnen wird kein präjudizierendes Gewicht zugebilligt.250 Weil im anglo-amerikanischen Recht jedes Gericht verpflichtet ist, den rationes decidendi von Entscheidungen aller Gerichte zu folgen, die in der Hierarchie höher stehen, und weil außerdem diese höheren Gerichte an die eigenen Entscheidungen gebunden sind,251 billigt man diesen den Charakter von generellen Rechtsnormen zu.252 Genauer müsste man sagen, dass die ratio decidendi als Zurechnungspunkt der neuen Entscheidung und damit als Normtext fungiert. Das heißt, Präjudizien höherer Gerichte haben in dem betroffenen Bereich eine Bindungswirkung, die man durch bessere Argumente nicht aufheben kann. 421.5 Das Präjudiz im kontinentalen Rechtskreis Der kontinentalen Rechtstradition, etwa im deutschen und französischen Recht, 382 ist eine normative Bindung an Präjudizien fremd.253 Zwar wurden vereinzelt Versuche unternommen, die verbindliche Wirkung der Entscheidungen von Obergerichten und sogar einen Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung einzuführen, doch sie waren nicht erfolgreich.254 Obwohl beispielsweise in Deutschland eine eigenständige Rechtswissenschaft im Zug der Rezeption des römischen Rechts und der Universitätsgründungen bereits im 13. / 14. Jahrhundert entstanden ist, findet man erste wissenschaftliche Erörterungen über die Bedeutung der Präjudizien erst nach der Konstituierung des Reichskammergerichts im Jahr 1495.255 Eine eigentliche Theorie über sie bildete sich sogar erst Mitte des 17. Jahrhunderts, also in der Zeit des „usus modernus pandectarum“ und des Vernunftrechts heraus.256 Der staatsrechtliche Anspruch auf ein Rechtsetzungsmonopol im Absolutismus machte eine Reflexion auf gerichtliche Leitentscheidungen schwierig.257 Deshalb 249 Jackson, B. S., Making Sense in Jurisprudence, 1996, S. 190 f., 267, 270; Kriele, M., Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 282. 250 Pilny, K., Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, 1993, S. 39. 251 Vgl. Cross, R. / Harris, F. W., Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 16. 252 Ebd., S. 28 ff.; sowie bereits grundsätzlich Kelsen, H., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 255. 253 Vgl. zu den Gründen dafür Cross, R. / Harris, F. W., Precedent in English Law, 4. Aufl. 1991, S. 10 ff. 254 Pilny, K., Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, 1993, S. 121. 255 Weller, H., Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, 1979, S. 15. 256 Ebd. 257 Kriele, M., Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 102.

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ist es sogar zu ausdrücklichen Verboten sowohl der Beachtung als auch der Veröffentlichung von Präjudizien gekommen.258 So galt für das Reichskammergericht vom 16. bis zum 18. Jahrhundert ein Verbot, die Gründe der Entscheidung den Parteien bekanntzugeben oder sie gar zu publizieren.259 Erst seit 1714 war es gestattet, den Beteiligten wenigstens den Tatbestand auszuhändigen.260 Trotzdem wurden Entscheidungsbegründungen in großem Umfang verbotswidrig verbreitet und sogar gedruckt.261 Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen im Jahr 1806 ließ die obersten Gerichtshöfe der Territorialstaaten zwangsläufig an die Stelle des Reichskammergerichts rücken, da dieses als übergeordnetes Zentralgericht nun entfallen war.262 Zu dieser Zeit entstanden die ersten Entscheidungssammlungen, die zu Beginn nur privaten Charakter hatten und von Praktikern oder Gelehrten zusammengestellt und publiziert wurden.263 Da dies zunehmend im staatlichen Auftrag erfolgte oder jedenfalls vor der Veröffentlichung der behördlichen Genehmigung bedurfte, kam diesen Publikationen schon damals ein tendenziell amtlicher Charakter zu. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich der noch heute übliche Typus der offiziellen Entscheidungssammlung durch. Das Beifügen von Überschriften und Leitsätzen, die Angabe der behandelten Gesetzesstellen, die Kürzung und Straffung der Entscheidungsgründe auf das für das Verständnis unverzichtbare Maß sowie das Ausarbeiten von Registern wurden mit der Zeit zu anerkannten Hilfsmitteln.264 383

Nach Überwindung des im Allgemeinen Preußischen Landrecht enthaltenen Auslegungsverbots untersagten dessen Vorschriften das Berücksichtigen gerichtlicher Präjudizien nicht mehr generell, sondern nur deren normative Verwendung.265 Die veröffentlichten Urteile sollten dem Richter die Erkenntnis des richtigen Rechts erleichtern und andererseits den Parteien und ihren Anwälten die Entscheidung voraussehbar und berechenbar machen.266 Dabei ist die Bindung durch Präjudizien im kontinentalen Rechtskreis keine normtextähnliche, sondern eine argumentative. Das gilt etwa für das deutsche Bundesverfassungsgericht. In § 31 Abs. 1 BVerfGG ist die Pflicht geregelt, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts „zu beachten“.267 Das bedeutet, dass Ebd., S. 103. Ebd. 260 Ebd. 261 Ebd. 262 Weller, H., Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, 1979, S. 78. 263 Ebd. 264 Weller, H., Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, 1979, S. 80. 265 Ebd. 266 Ebd. 267 Vgl. Ziekow, J., Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Jura 1995, S. 522 ff., 528. 258 259

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die gebundenen Organe bei ihren zukünftigen Maßnahmen die vom Verfassungsgericht gewählte Interpretation zu Grunde zu legen haben. Für den Fall der Nichtbeachtung hat das Gericht zunächst einen Verstoß gegen die in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegte Bindung an Gesetz und Recht festgestellt.268 In einer anderen Konstellation hat das Gericht einen Verstoß gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) angenommen.269 Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden nach § 31 Abs. 1 384 BVerfGG also nur argumentativ. Unterstützt wird diese Sicht vor allem auch durch den Wortlaut des Abs. 2, in dem ausdrücklich von „Gesetzeskraft“ für die dort geregelten Fälle gesprochen wird, so dass davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber dies für sonstige Entscheidungen nicht bezweckt. Sonst wäre diese Differenzierung überflüssig. Auch dem Verfassungsgericht selbst ist es unbenommen, von einer früheren Entscheidung abzuweichen. Es ist der maßgebliche Verfassungsinterpret; ihm darf nicht die Möglichkeit genommen werden, bei einer Veränderung faktischer Verhältnisse oder bei einem Bedeutungswandel die eigene Interpretation zu ändern. Das lässt sich schon aus § 16 Abs. 1 BVerfGG ableiten.270 Da § 16 Abs. 1 BVerfGG die Anrufung des Plenums nur für den Fall anordnet, dass von der Rechtsauffassung des anderen Senats abgewichen werden soll und nicht etwa im Fall der Abweichung von der eigenen Position, ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber eine solche Selbstbindung nicht vorgesehen hat. Dies würde sonst auch zu einer Erstarrung der Verfassungsinterpretation führen.271 Eine argumentative Bindung an Präjudizien ergibt sich ferner aus dem Grund- 385 satz des Vertrauensschutzes, der aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleiten ist, welches Rechtsicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit der Judikatur verlangt.272 So hat etwa das deutsche Bundesarbeitsgericht entschieden, dass auf Grund des Vertrauensschutzes ein Abweichen von bereits ergangenen Vorentscheidungen nur dann zulässig ist, wenn es dafür triftige Gründe gibt. Damit soll die Einheitlichkeit der Gerichtspraxis gewahrt werden.273 Später führte das Gericht ergänzend aus, das Argument des Vertrauensschutzes wiege so schwer, dass es auch bei einer notwendigen Rechtsprechungsänderung zu berücksichtigen sei. Das dürfe aber nicht dazu führen, dass der Gedanke des Vertrauensschutzes eine zutreffende Gesetzesauslegung für alle Zeiten blockiert.274 268 BVerfGE 40, S. 88 ff., 94; vgl. dazu Badura, P., Die Bedeutung von Präjudizien im öffentlichen Recht, in: Blaurock, U. (Hrsg.), Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 49 ff., 72. 269 Vgl. Ziekow, J., Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Jura 1995, S. 522 ff., 528. 270 Stricker, G., Subjektive und objektive Grenzen der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gemäß § 1 I BVerfGG, in: DÖV 1995, S. 978 ff., 985. 271 Vgl. dazu Schlüchter, E., Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 28. 272 Vgl. dazu Preis, U., Rechtsfortbildung im Individualarbeitsrecht, in: RdA 1989, S. 327 ff., 329. 273 BAGE 12, S. 278 ff., 284.

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Für die kontinentale Tradition kann damit eine Bindung an Präjudizien als Normtexte nicht angenommen werden, vielmehr besteht eine solche in der Argumentation. Auch ohne Normtextfunktion werden obergerichtliche Entscheidungen etwa von den deutschen Gerichten weitgehend beachtet. Diese hätten sonst eine Korrektur in der Rechtsmittelinstanz zu befürchten.275 Ein Richter, der von der nächsten Instanz „oft aufgehoben worden ist“, wird damit rechnen müssen, dass sich dies auf die Beurteilung seiner fachlichen Qualifikation und somit auf sein berufliches Fortkommen auswirken wird.276 Da das Nichtberücksichtigen von Präjudizien auch Berufungs- und Revisionsgrund sein kann und unter Umständen sogar Grundlage einer Amtshaftung werden könnte, wird kein pflichtbewusster Richter ein Eingehen auf einschlägige Vorentscheidungen unterlassen. Schließlich macht ein Berücksichtigen von Präjudizien eventuell auch die Begründung des eigenen Urteils einfacher.277 Soll ein Rechtstreit ebenso entschieden werden wie ein Präjudiz, kann auf die dortige Argumentation verwiesen werden, ohne sie in jedem Urteil neu entwickeln zu müssen.278 Für die Prozessbeteiligten schließlich dient die Orientierung an Vorentscheidungen einer geordneten und relativ rechtssicheren Gerichtspraxis.279 Das Orientieren an Präjudizien hilft so, abrupte Entscheidungen zu vermeiden.280 Die faktische Bindung an Präjudizien als Argument ist im Ergebnis zum Teil gesetzlich abgesichert. So könnte etwa nach deutschem Verfassungsrecht ein Nichtberücksichtigen einschlägiger Vorentscheidungen als Verstoß gegen die Garantie des effektiven Rechtsschutzes und gegen das Willkürverbot gewertet werden.

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Die wachsende Rolle gerichtlicher Beobachtungen zweiter Ordnung hat hier zur Frage nach den Präjudizien geführt. Dazu war die dem Gemeinschaftsrecht zu Grunde liegende Tradition der Mitgliedstaaten zu befragen. Im kontinentalen Rechtskreis wurde die Rolle der Präjudizien eher gering veranschlagt, aber dafür die richterliche Bindung an das Gesetz beim Verwerten von Vorentscheidungen betont. Im angelsächsischen Rechtskreis wird die Rolle von Präjudizien als normativ aufgefasst, aber das Verhältnis zum Gesetz nicht thematisiert. Die Tradition 274 275 276 277

Vgl. dazu BAGE 45, S. 277 ff., 288. Schlüchter, E., Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 109. Seifert, R. W. M., Argumentation und Präjudiz, 1996, S. 40. Vgl. dazu Langenbucher, K., Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996,

S. 65. Ebd. Vgl. dazu Gröschner, R., Judiz – was ist das und wie lässt es sich erlernen?, in: JZ 1987, S. 903 ff., 904. 280 Vgl. dazu BydIinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 513. 278 279

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lässt damit erkennen, dass Präjudizien eine wichtige Rolle spielen; aber sie lässt offen, wie sie diese Aufgabe im Rahmen des Gesetzesrechts erfüllen. Diese Frage nach dem Wie der Verwertung von Vorentscheidungen soll jetzt an die methodische Literatur gerichtet werden, um sie anschließend an der Rechtsprechung des EuGH zu erproben. 422.1 Das Präjudiz als subsidiäre Rechtsquelle im Rechtserkenntnismodell Die herkömmliche Lehre geht von einer subsidiären Verbindlichkeit der Präjudi- 388 zien aus. Nach ihr soll die Bindung an Vorentscheidungen jenseits der Wortlautgrenze einsetzen;281 bzw. seien Vorentscheidungen dann verbindlich, wenn rationale Argumentation im Rückgriff auf Normtexte versagt und eine richterliche Eigenwertung nötig werde.282 Demnach sind Vorentscheidungen eine gegenüber dem Gesetz nachrangige Quelle für die Rechtserkenntnis.283 Sie binden dann, wenn nicht nachgewiesen werden kann, dass eine andere Lösung der Rechtsordnung deutlich besser entspricht und sogar auch dann, wenn eine andere Lösung, gemessen an der Rechtsordnung, etwa gleich gut vertretbar wäre.284 Die Theorie der „Fallnorm“ stellt dem zu beurteilenden Fall eine Norm gegenüber, die jedem unter Gerechtigkeitsaspekten entscheidungserheblichen Sachumstand ein Tatbestandsmerkmal zupasst.285 Die Fallnorm ist also die Regel des objektiven Rechts, die einem lösungsbedürftigen Sachverhalt eine Rechtsfolge zuordnet.286 Sie ist der Rechtssatz im technischen Sinn und wird anstelle des Normtextes für die Subsumtion benutzt.287 Gewonnen wird sie aus dem geltenden Gesetzesrecht, dem schon vorher bestehenden Richterrecht oder durch richterliche Rechtsneubildung.288 Die Fallnorm ist gefunden, wenn weitere begriffliche Unterscheidungen für ein Bewerten nach den Maßstäben von Sach- und Gleichgerechtigkeit nichts mehr hergeben.289 281 Fikentscher, W., Die Bedeutung von Präjudizien im heutigen deutschen Privatrecht, in: Blaurock, U. (Hrsg.), Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 11 ff., 18; ders., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV Dogmatischer Teil, 1977, S. 336 ff. 282 BydIinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 520 f.; ders., Hauptpositionen zum Richterrecht, in: JZ 1985, S. 149 ff., 151 ff. 283 BydIinski, F., Hauptpositionen zum Richterrecht, in: JZ 1985, S. 149 ff., 153. 284 BydIinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 510. 285 Fikentscher, W., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV Dogmatischer Teil, 1977, S. 186. 286 Ebd., S. 202. 287 Fikentscher, W., Die Bedeutung von Präjudizien im heutigen deutschen Privatrecht, in: Blaurock, U. (Hrsg.), Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 18. 288 BydIinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 516.

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Die Gerichte sollen es danach als ihre Pflicht ansehen, sich mit Präjudizien auseinander zu setzen. Damit hat sich die Fallnormlehre für deren bindende Kraft entschieden.290 Diese liegt außerhalb der Wortlautgrenze einer bestimmten gesetzlichen Regelung. Nur innerhalb der Wortlautgrenze bindet das Gesetz (soweit es nach Fikentscher überhaupt Bindungswirkung entfaltet).291 Außerhalb dieser Grenze, aber auch bei unbestimmtem Gesetzestext, gelte dagegen die strikte Bindung an Präjudizien;292 wobei dem Richter die Möglichkeit bleibt, Vorentscheidungen für falsch zu halten und eine Bindung zu verneinen.293 Denn diese Pflicht zur Auseinandersetzung mit ihnen bedeutet, dass ein Gericht einem Präjudiz zu folgen hat, wenn es keine einleuchtenden Gründe findet, von ihm abzuweichen.294 Eine strenge Bindung besteht nach der Fallnormtheorie also nicht, nur die methodische Pflicht, sich mit früherer Praxis auseinander zu setzen.295 Auch nach der „Theorie der Rechtsgewinnung“ sind Präjudizien verbindlich, indem sie die Begründungspflicht umkehren. Sie gelten als der Ausgangspunkt juristischer Überlegungen.296 Danach bedeutet juristische Argumentation im Wesentlichen, zwei Fragen zu beantworten: erstens, ob die Präjudizien einschlägig sind oder ob der Fall anders liegt, und zweitens, ob sie der Modifikation oder der Preisgabe bedürfen.297 Zum Auffinden einer einschlägigen Vorentscheidung muss die ratio decidendi herausgearbeitet werden, um festzustellen, ob sich der neue Fall hierunter subsumieren lässt.298

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Das Prinzip der Vermutung der Richtigkeit von Präjudizien wird dabei auf zwei allgemeine Regeln zurückgeführt: erstens auf die Annahme, dass ein Präjudiz, wenn es für oder gegen eine Entscheidung verwendet werden kann, auch herangezogen werden muss; und zweitens auf die Annahme, dass der die Argumentationslast trägt, der von einem Präjudiz abweichen will.299 Für das Anwenden dieser 289 Fikentscher, W., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, Dogmatischer Teil, 1977, S. 202. 290 Fikentscher, W., Die Bedeutung von Präjudizien im heutigen deutschen Privatrecht, in: Blaurock, U. (Hrsg.), Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 19. 291 Vgl. dazu Fikentscher, W., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV Dogmatischer Teil, 1977, S. 242. 292 BydIinski, F., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 517. 293 Fikentscher, W., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV Dogmatischer Teil, 1977, S. 243. 294 Fikentscher, W., Die Bedeutung von Präjudizien im heutigen deutschen Privatrecht, in: Blaurock, U. (Hrsg.), Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985, S. 19. 295 Fikentscher, W., Präjudizienbindung, in: ZfRV 1985, S. 163 ff., 176. 296 Kriele, M., Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 93. 297 Ebd., S. 96. 298 Kriele, M., Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., 1976, S. 271 ff. 299 Brocker, L. / Knops, O. K., Präjudizienvermutung als methodologisches Prinzip, in: Jura 1993, S. 300 ff., 301.

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Vermutung und die Notwendigkeit ihrer Beachtung in der juristischen Praxis werden normative Gründe angeführt: so zum Beispiel das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Entscheidung, das nach Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, die Anforderung der Reduzierung von Komplexität und einer Entlastung der Richter sowie der Schutz der Bürger vor der rückwirkenden Änderung gerichtlicher Entscheidungen.300 Auch nach dieser Lehre ist es zulässig, dass ein Gericht einschlägige Präjudizien für falsch hält. In diesem Fall werden sie verworfen und es wird ohne Anknüpfen an die bisherige Rechtsprechung entschieden.301 Die regelbildende Kraft der Präjudizien beruht so nicht auf ihrer Zahl oder Dauer, sondern auf der sachlichen Richtigkeit und überzeugenden Kraft der Begründung.302 Die Präjudizienvermutung ist demnach ein notwendiger Bestandteil der Begründung juristischer Entscheidungen.303 Aus der Sicht der Wertungsjurisprudenz sind Präjudizien nicht normativ bin- 391 dend, können aber trotzdem große faktische Bedeutung erlangen.304 Die Bindung liegt demnach nicht in ihnen selbst, sondern in der interpretierten Norm.305 Kein Richter ist gehalten, Präjudizien unbesehen zu übernehmen. Folgt man dieser Ansicht, dann stellen sie keine eigenständige Rechtsquelle dar, sondern nur eine Rechtserkenntnisquelle.306 Wenn die Vorentscheidung Ergebnis zutreffender Überlegungen ist, dient sie als Hilfsmittel richtiger Rechtserkenntnis.307 Von diesem Grundsatz macht die Wertungsjurisprudenz jedoch zwei Ausnahmen. Eine „gesetzesgleiche Verbindlichkeit“ sollen Präjudizien dann erlangen, wenn sich zu ihnen in den beteiligten Kreisen eine entsprechende Rechtsüberzeugung gebildet hat308, sie also zur Grundlage von Gewohnheitsrecht geworden sind.309 Ferner macht diese Lehre eine Ausnahme für die Fälle, in denen ein im allgemeinen Rechtsbewusstsein bereits durchgesetzter Gedanke nur noch bestätigt wird; so zum Beispiel bei der erstmaligen Anerkennung eines „allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ durch den deutschen Bundesgerichtshof. In solchen Konstellationen würde es das Vertrauen in das Recht erschüttern, wenn die Justiz den einmal Vgl. dazu Kriele, M., Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl., 1976, S. 262. Vgl. dazu Kriele, M., Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 101. 302 Vgl. dazu Orrú, G., Das Problem des Richterrechts als Rechtsquelle, in: ZRP 1989, S. 441 ff., 443. 303 Brocker, L. / Knops, O. K., Präjudizienvermutung als methodologisches Prinzip, in: Jura 1993, S. 300 ff., 302. 304 Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1983, 1991, S. 432. 305 Fikentscher, W., Präjudizienbindung, in: ZfRV 1985, S. 163 ff., 174. 306 Larenz, K., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1983, 1991, S. 432. 307 Larenz, K., Über die Bindungswirkung von Präjudizien, in: Fasching, H. W. / Kralik, W. (Hrsg.), Festschrift für Hans Schima, 1969, S. 247 ff., 262. 308 Ebd., S. 254. 309 Vgl. dazu Seifert, R. W. M., Argumentation und Präjudiz, 1996, S. 38. 300 301

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

anerkannten Grundsatz entgegen der allgemeinen Rechtsüberzeugung wieder aufgäbe.310 Aber nur der Grundsatz als solcher soll dann verbindliche Kraft erlangen, nicht seine nähere Ausgestaltung durch das erste Urteil. Eine wirklich gesetzesgleiche Bindung verneint die Wertungsjurisprudenz mit der Begründung, dass andernfalls die unentbehrliche Flexibilität der Rechtsprechung nicht gewährleistet werden könne. Die Gerichte müssten die Möglichkeit behalten, von getroffenen Entscheidungen abzugehen, diese zu erweitern oder einzuschränken, wenn sie es für notwendig halten.311 392

Im Rahmen der herkömmlichen Lehre wird das Präjudiz damit zur subsidiären Rechtsquelle. Jenseits der „Wortlautgrenze“ oder bei „Unbestimmtheit“ des Textes sollen die Vorentscheidungen in die Bresche springen und dem Richter Rechtserkenntnis ermöglichen. Das Rechtserkenntnismodell bleibt so die prinzipielle Schranke bei der Untersuchung der Rolle des Präjudizes. Wenn der Normtext als Gegenstand der Bedeutungserkenntnis versagt, wird er von der Vorentscheidung als Gegenstand der Erkenntnis ersetzt. In einem nicht näher einzugrenzenden Bereich wird dem Präjudiz damit eine normtextähnliche Rolle eingeräumt. Es ist angeblich Gegenstand der Rechtserkenntnis und richterlicher Bindung. Aber natürlich kann der Text einer Vorentscheidung dem Leser ebenso wenig eine feste Bedeutung als Gegenstand vorgeben, wie dies der Normtext vermochte. Nach dem praktischen Versagen des Rechtserkenntnismodells bleibt die argumentative Rolle des Präjudizes nach wie vor zu bestimmen.

422.2 Das Präjudiz als Argument in der Rechtserzeugungsreflexion 393

Zunächst sind noch einmal die beiden Traditionsstränge zu betrachten. Kontinentaleuropäisches Recht profiliert sich als System, dessen Zentrum Gesetzgebung ist, gegenüber dem angelsächsischen, das auf richterlichem Gewohnheitsrecht basiert. In diesem case-law-system regiert im Prinzip ungeschriebenes Recht. Dieses spielte schon im antiken Römischen Recht eine wichtige Rolle; als Voraussetzungen galten „opinio iuris“ plus „opinio necessitatis“ plus „tacitus consensus populi“ – wobei in diesem „tacitus“ natürlich ein tiefgehendes Problem von Politik, Gewalt und der Rolle des Volkes steckt. Aber das antike Rom brauchte sich nicht vor dem heutigen Demokratiekonzept zu rechtfertigen. Dieses gründet sich auf die – außer in Großbritannien – geschriebene Verfassung des entwickelten rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungsstaats. Nun hebt die Strukturierende Rechtslehre hervor, dass auch Gewohnheitsrecht nicht „ungeschrieben“ ist. Es steht nur nicht in einer amtlichen Kodifikation; es hat keinen autoritär definierten Text. Aber es braucht Text, um zu existieren: Auch gewohnheitsrechtliche Normen 310 Larenz, K., Über die Bindungswirkung von Präjudizien, in: Fasching, H. W. / Kralik, W. (Hrsg.), Festschrift für Hans Schima, 1969, S. 247 ff., 263. 311 Larenz, K., Der Richter als Gesetzgeber?, in: Roxin, C. (Hrsg.), Festschrift für Heinrich Henkel, 1974, S. 31 ff., 33.

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sind sprachgebunden, sind (mündlich und / oder schriftlich) formuliert – in den „Rechtsbüchern“, Rechtssammlungen des Mittelalters wie in heutigen Lehrbüchern, in gerichtlichen Entscheidungen; also in wechselnden Formulierungen ohne die einheitliche Festlegung durch einen Akt staatlicher Gewalt, der Gesetzgebung. Beide Modelle, das des case law und das des statute law, nähern sich einander 394 an, und im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer rascher. Auf der einen Seite entwickelt die angelsächsische (und die durch sie via Kolonialismus geprägte, z. B. Südafrika) Rechtswelt immer mehr statute law, das von den praktischen Notwendigkeiten neuer staatlicher Funktionen erzwungen wird, so etwa der sozialstaatlichen. Die Auslegung von Gesetzen spielt neben der von früheren Gerichtsentscheidungen eine praktisch immer größere Rolle; die einst paradigmatisch klar scheinenden Abgrenzungen bröckeln. Und auf der anderen Seite ist im statute law davon Kenntnis zu nehmen, dass neben dem Gesetzesrecht auch Gewohnheitsrecht seinen – eingeschränkten – Platz behält (so zum Beispiel unter dem deutschen Grundgesetz); dass vor allem aber die Normativität des positivierten Kodifikationsrechts nicht etwa allein aus den Formeln der Gesetzbücher (aus den Normtexten), „abgeleitet“ werden kann. In der alltäglichen Realität – d. h. angesichts der Frage „Was geschieht eigentlich tatsächlich, wenn gerichtlich entschieden wird? – werden Entscheidungen gewonnen durch die Arbeit auch mit den Texten von Gesetzesmaterialien, von Lehrbüchern, Kommentaren und monographischer Forschung sowie mit Material aus früherer Judikatur (das „Wie?“ bleibt dabei noch zu klären) und aus der internationalen Rechtsvergleichung. Fälle können so gut wie nie allein und abschließend aus den für sie einschlägigen Normtexten entschieden werden. Die genannte beide Modelle annähernde Entwicklung ist wichtig; und zwar 395 wegen dessen, was uns das Wort „Präjudiz“ zu sagen hat. „Prä-Judiz“ sagt „VorJudiz“, also „Vor-Entscheidung“ eines Richters oder richterlichen Gremiums. Das Abgründige liegt in dem „vor“. Chronologisch ist es ein simples „davor“: frühere Entscheidungen in vergleichbaren Fällen, die ich als Richter zur Kenntnis nehmen und verwenden kann – oder auch nicht. Oder es ist ein „vor“ von der Art, die in „Vor-schrift“ steckt, oder auch in „Vorbedingung“: Voraussetzung dafür, dass mein Urteil als „richtig“, „gerecht“, „korrekt“ angenommen werden kann, ist, der Vorentscheidung gefolgt zu sein. Das ist das Axiom des case law: die wesentlichen, die legitimierenden Vorschriften sind nicht legislatorische, sondern richterliche Texte. Präjudizien sind hier nicht nur frühere („davor“ ergangene), sondern vorgeordnete, für meine Entscheidungen maßgebliche Rechtssprüche. Dagegen ist das Axiom des statute law die „lex“ als die „ratio scripta“: die verbindliche Vor-Schrift ist der Text des amtlichen Kraft gesetzten Gesetzes, ist die positiviert maßgebliche, angeblich antizipierende Lösung „künftiger Fälle dieser Art“ durch den berühmten „Federstrich des Gesetzgebers“. Eine Vorentscheidung eines derartigen Falls durch dasselbe Gericht oder durch ein anderes ist nicht verbindlich; es mag interessant sein, mir als Richter Argumentationslasten erleichtern, mich bestätigen, mich anre-

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

gen – auch zu Widerspruch und zu entgegengesetzter Entscheidung. Auf jeden Fall kann mich das „davor“ erlassene Judiz nicht fixieren, mich nicht nach dem Code „richtig / falsch“ bzw. „rechtmäßig / rechtswidrig“ sortieren. Die frühere Entscheidung gibt mir zu denken, aber sie „präjudiziert“ mich nicht. 396

Die Strukturierende Rechtslehre war die erste und auf lange Zeit die einzige Position gewesen, welche das Einbeziehen methodenbezogener und methodenrelevanter Normen, vor allem aus Demokratie und Rechtsstaat, in die unmittelbare methodische Arbeit der Gerichte und der sonstigen juristischen Entscheidungsinstanzen vertrat. Heute ist dies im deutschen Rechtsraum schon dabei, überwiegende Meinung zu werden. Das heißt im vorliegenden Kontext praktisch, dass der Richter von einem noch so eindrucksvollen und / oder noch so hochrangigen Vor-Judiz eines anderen Gerichts unabhängig entscheidet, ja zu entscheiden verpflichtet ist, sofern seine Überzeugung von der Antwort des geltenden Rechts auf die Fallfrage hiervon abweicht. Die methodenaktiven Normen sind in diesem Fall die Gewaltenteilung des modernen Verfassungsstaats und die normative Folgerung aus ihr, die das deutsche Grundgesetz für die Frage „bloße Vor-Entscheidung oder verbindliches Präjudiz?“ gezogen hat: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“ (Art. 97 Abs. l GG). Entsprechend klar sind die Wendungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht312 diese Vorschrift in die konkrete Arbeit der Justiz hineinwirken lässt: „Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. l GG). Ein Gericht braucht deswegen bei der Auslegung und Anwendung von Normen einer vorherrschenden Meinung nicht zu folgen. Es ist selbst dann nicht gehindert, eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und seinen Entscheidungen zugrunde zu legen, wenn alle anderen Gerichte – auch die im Rechtszug übergeordneten – den gegenteiligen Standpunkt einnehmen. Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich“ .313 Kurz: im modernen kontinentaleuropäischen Recht des demokratischen und rechtlich durchgeformten Verfassungsstaats darf es keine verbindlichen Präjudizien geben.

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Ausnahmen hiervon folgen aus eben diesem Ansatz des Gesetzgebungsstaats: verbindliche Vorschriften stiften nicht die Richter über den Fall hinaus, sondern allein der Gesetzgeber für eine formulierte Gruppe von Fällen. Gemäß dem Vorrang der lex specialis gegenüber der lex generalis darf die Gesetzgebung diese Regel aber aus gegebenen Gründen durchbrechen. Das gilt im deutschen Recht bei den, sagt das BVerfGG,314 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die nach § 31 Abs. 1 „die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden“ „binden“. In den in § 31 Abs. 2 genannten Sonderfällen BVerfGE 87, S. 273 ff., 278. Ebd., 278. 314 Gesetz über das Bundesverfassungsgericht in der Fassung vom 11. 8. 1993 (BGB1. I S. 1473), geändert durch Gesetz vom 16. 7. 1998 (BGB1. I S. 1823) mit Maßgaben für das Gebiet der ehem. DDR (BGB1. III 1104 – 1). 312 313

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haben sie sogar „Gesetzeskraft“. Das sind Ausnahmen, welche die Regel bestätigen; sie können die grundsätzliche Erörterung der Rolle des Präjudizes im statute law nicht irritieren. Versuche, die Präjudizienzentriertheit des angelsächsischen case law auf das kontinentale Rechtssystem zu übertragen, sind im Zivilrecht (bei Esser315) über eine angesehene Minderheitenposition kaum hinausgekommen und im Verfassungs- und sonstigen öffentlichen Recht (bei Kriele316) mit inneren Widersprüchen behaftet. Kriele warb dabei um Vertrauen in die Richterschaft, welche die Fälle schon 398 vernunftrechtlich ins Lot bringen werde.317 Vertrauen als globale Haltung gegenüber Texten, nur weil sie von Gerichten stammen, hat mit der Rechtsfrage nach der Stellung der Justiz im gewaltenteilenden Verfassungsstaat aber nichts zu tun. Was man Vertrauen nennen mag, ist vielmehr – mangels direkt demokratischer Legitimierung der Justiz – in jedem Entscheidungsfall durch redliches Arbeiten von neuem zu erwerben; und die Richter zeugen damit nicht von vernunftrechtlicher Generosität, sondern tun einfach, was ihrer Amtspflicht entspricht. Im modernen Typus kontinentaleuropäischen Rechts setzen sie damit zwar nicht Präjudizien, können aber durchaus, über ihren Fall hinaus, auf andere Fälle wie auch auf die Diskussion einwirken: rezipiert, ohne verbindlich zu sein, gelegentlich „gegen den Strich“ gelesen, analysiert und auf Begriffe gebracht, notfalls kritisiert. Wo Urteilsgründe übernommen werden, dort nicht, weil dieses und jenes Gericht so entschieden und dieses oder jenes als Grund angeführt hat, sondern nach Maßgabe der rechtsstaatlich-methodisch überzeugend verarbeiteten, den geltenden Normtexten (nicht: Präjudizien) plausibel zurechenbaren Sachargumente. Die Dinge scheinen also paradigmatisch klar zu liegen: dort Gewohnheits- und 399 Richterrecht, also Präjudizien; hier Gesetzesrecht und dessen Umsetzung im Einzelfall – also keine Präjudizien. Und doch hält diese beruhigend klare Fassade einer avancierten Analyse nicht stand. Empirisch wird das case law immer stärker von statute law durchsetzt; und methodologisch werden die Normtexte in der Kodifikation keineswegs „logisch“ bzw. „syllogistisch“ einfach „angewandt“, wie es der klassische und auch der spätere Positivismus behaupten. Vielmehr handelt es sich um komplexere und vor allem auch kreativere Vorgänge; geht es nicht um Anwenden einer vorgegebenen Norm, sondern um Erzeugen der Norm, die den konkreten Fall entscheidet. Der Normtext ist Eingangsdatum der Konkretisierung und Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Ergebnisses im Sinn eines negativ funk315 Esser, J., Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. 1990; passim. 316 Kriele, M., Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl. 1976, z. B. 185 ff., 195, 228 ff., 235 ff.; passim. Vgl. zu diesem Konzept Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rdnr. 132 ff. 317 Kriele, M., Theorie der Rechtsgewinnung, entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl. 1976, z. B. 185 ff., 195, 228 ff., 235 ff.; passim.

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

tionierenden Rahmens („Noch vereinbar mit dem gesetzlichen Normtext?“) – nicht aber ist er der aktiv bestimmende Faktor, welcher das spätere Ergebnis bereits antizipierend enthalten könnte. Die Entscheidungsarbeit z. B. der Richter ist ein durch Normtexte und Methodenstandards bestimmtes Sprachspiel. Kein Normtext kann über seine spätere Verwendung in künftigen Fällen eine im vorhinein feste Regel seines Gebrauchs angeben. Dennoch stellt sich nicht etwa rechtliche Willkür ein – was die Tradition immer befürchtet, weshalb sie sich durch rhetorische Fassaden zu beruhigen versucht. Die Sprache selbst als „Organon der Wiederholbarkeit“318 ist nicht willkürlich. Bedeutung und Referenz (d. h. der „Sinn des Gesetzes“ und die von ihm erfassten „Gegenstände der äußeren Welt“) sind in jedem Fall neu festzusetzen. Aber nicht beliebig, sondern mit plausiblen Gründen – im Rahmen einer Argumentationskultur. Diese ist sowohl wissenschaftlich kontrollierbar als auch normativ kontrolliert (v.a. durch Gebote von Demokratie und Rechtsstaat wie Klarheit und Nachvollziehbarkeit, Verfassungskonformität, Begründungspflichten, Gesetzesbindung, Gleichheitssatz, Unbefangenheit im konkreten Fall, etc.). Die Juristen, die Konflikte zu lösen haben, sind keine reaktiven „Ausleger“, sondern aktive Textproduzenten. Die Gesetzesbindung, der sie von der Verfassung her unterliegen, ist – endlich realistisch begriffen – nicht die der Tradition. Sie kann sich nicht auf „die Norm“ als etwas vor dem Fall Existierendes stützen. Sie bezieht sich auf die rechtlichen und wissenschaftlichen Anforderungen an einen aktiven Prozess der Semantisierung; und die Arbeitsweisen bei diesem Vorgang ähneln signifikant denen im Fallrecht. 400

Es verwundert daher nicht, daß das strukturierende Konzept in einzelnen Äußerungen aus angelsächsischer Perspektive schon früh als künftige Brücke zwischen beiden Paradigmen aufgefasst wurde (so z. B.: „It would certainly be a challenging task to contrast it with American legal realism and its aftermath“ oder „This departure from the abstract-logical towards the empirical-pragmatical brings this method closer to that of Anglo-American common law“).319 Worin stehen sich die beiden Modelle der Sache nach nahe? Metier der Richter (und sonstigen Juristen, die zu Entscheidungen verpflichtet sind) ist es, sich einem zu lösenden Fall zu stellen. Dafür greifen sie auf Rechtsbehauptungen zurück und führen diese auf „geltende“ (d. h. in Kodifikationen befindliche) bzw. auf anerkannte Texte zurück (d. h. Kommentare, Monographien, frühere Richtersprüche). Die Berechtigung dafür schöpfen sie aus den Argumentformen. Durch deren einzelne Gründe fügen sie die Behauptungen in das Netz der Rechtsordnung ein, schaffen sie Kontexte – seien diese historisch (früher geltende Normtexte), genetisch (Entstehungsgeschichte des Normtexts) oder systematisch (Vergleich mit anderen 318 Derrida, J., Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff., 134 ff. 319 Engel, Ch., Juristische Methodik by Friedrich Müller, International Journal of Legal Information, vol. 18 No. 3 (1990), S. 266 ff., 268; Bolgàr, V., Legal Methodology, Modern Law and Society, vol. XI No. 2 (1978), S. 160 ff., 161.

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geltenden Vorschriften); aber auch über die eigene Rechtsordnung hinaus komparatistisch (Rechts- und Verfassungsvergleichung). Das erinnert an das Vorgehen der modernen Topik, und insoweit verlaufen diese und der vorliegende Ansatz ein Stück weit parallel. Das skizzierte Vorgehen gewährleistet die relative (d. h. kontextuelle) Wahrheit der einzelnen Rechtsbehauptungen kraft ihrer Argumente allerdings nur so lange, als die Gründe nicht ihrerseits strittig werden. Mit diesem Fall hat es die Rechtspraxis aber ständig zu tun. Recht kann überhaupt nicht anders von Bedeutung sein denn in der Sprache. Rechtssprache ist (von Fachtermini durchsetzte) natürliche Sprache; und deren Bedeutung ist nicht nur permanent im Fluss, sondern auch immer wieder im Streit – zumal im Recht, das massive und meist antagonistische Konflikte zu regeln hat. Rechtliche Praxis besteht im Streit um das Recht. Dieser ist kein Problem 401 sprachlicher Verständigung. Alle am Streit, z. B. im Prozess, Beteiligten haben bereits verstanden – ihre Interpretation wie die der Gegenseite wie auch die jeweiligen Hintergründe (Interessen) für das Präferieren der einen oder anderen Variante der Auslegung. Das Problem lautet also: wie entscheiden? Die Frage ist nicht mehr: Wie ist das Gesetz zu verstehen? Sondern: welches der sich bekämpfenden Verständnisse ist vorzuziehen? Nun ist aber in natürlicher Sprache eine Rangfolge für Verstehenspräferenzen nicht vorgesehen; so wenig wie Wörter und Ausdrücke eine feste Grenze ihrer Verwendbarkeit mit sich (i.S. einer inhärenten Eigenschaft) herumtragen. In seinem Grund kann sich Recht also immer nur wieder selbst als eine Praxis erschaffen. Diese ist allerdings nicht beliebig; und für die einzelnen Entscheidungen, aus denen sie sich tagtäglich zusammensetzt, gilt kein „anything goes“. Das Entscheiden wird durch die methodologischen Standards einer rechtsstaatlich-demokratischen Argumentationskultur erheblich und vielfältig erschwert und unter spezifische Postulate der Anerkennbarkeit gestellt sowie unter die Anforderungen methodenbezogener und -relevanter Vorschriften des geltenden Rechts. Die Realität des kodifizierten Rechts ist der Konflikt, die seiner Semantik ist der 402 semantische Kampf. Ist das im Präjudiziensystem eigentlich anders? Die Autorität des verbindlich vor-entscheidenden Gerichts scheint Unsicherheit zu verhindern; allerdings nur auf den ersten Blick. Schon auf den zweiten beunruhigt im einen Modell die Frage: ist der Normtext X für meinen Fall überhaupt „einschlägig“ oder nicht doch (wie eine der Streitparteien und der und jener Wissenschaftler bzw. Gutachter oder wie Teile der Rechtsprechung meinen) der Normtext Y oder gar Z? So im statute law. Und im case law auf der anderen Seite gehen die Kontroversen seit Jahrhunderten über strukturell Analoges; nur heißt es hier: ist mein Fall tatsächlich dem Fall des Präjudizes A hinreichend ähnlich, um diesem folgen zu müssen? Oder entspricht er eher dem Casus, der dem Präjudiz B zu Grunde lag? Die strukturellen Ähnlichkeiten gehen noch weiter: hat man die genannten Fragen beantwortet (was sicherlich wieder bestritten werden wird), so folgt die nächste: warum nur hat der frühere Gerichtshof das Präjudiz A für seinen Fall A so und nicht anders formuliert, d. h. die traditionell dornige Frage nach der „ratio decidendi“.

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

Denn wir – die heutigen Richter – müssen möglicherweise eine andere Ratio wählen – was die Verbindlichkeit des „an sich passenden“ Präjudizes in Frage stellt. Und im statute law: was ist eigentlich die „ratio legis“, das Telos, der Gesetzeszweck einer Vorschrift, die „an sich einschlägig“ ist, aber wegen eines vorliegend nicht gegebenen Zweckzusammenhangs dann letztlich doch nicht herangezogen werden sollte? 403

Die Autorität des (verbindlichen!) Präjudizes entbindet uns also ebenso wenig von unserer Arbeits- und Begründungslast, von unserer Verantwortung wie jene des (verbindlichen!) Gesetzes es vermag. Alles, was Richter und andere juristische Entscheider tun können, ist lesen, hören, sprechen, schreiben, unterschreiben: immer sprachliche und schriftliche Handlungen; immer Text, Text und Text. Juristen / Richter rezipieren Texte (Fallerzählung, Parteianträge, Kommentare, frühere Rechtsprechung und vor allem Normtexte – im case law besonders die verbindlichen Präjudizien); sie deliberieren Texte (Streitstand, rechtliche Optionen, Präferenzen der konfligierenden Argumente) und sie produzieren schließlich Texte: neuen Text, nämlich den ihrer Äußerungen während des Verfahrens und vor allem den der Entscheidung: Urteilsformel (Tenor) und Gründe. All das tun sie unausweichlich in der konstitutionellen Polysemie und Ungesichertheit der natürlichen Sprache.320 Bestimmtheit oder Sicherheit der Rechtsbegriffe und -bedeutungen, wie es der Positivismus zum Credo erhebt, überfordern natürliche Sprache; sie sind, sieht man die Praxis näher an, einfach illusionär. Was Juristen / Richter stattdessen leisten können und kraft Amtspflicht auch müssen, ist „Sicherheit“ im Sinn von Nachvollziehbarkeit der methodischen Arbeitsschritte im Entscheidungsvorgang; und diese Einsichtigkeit für andere (die Prozeßbeteiligten, die Öffentlichkeit, andere Gerichte, die Wissenschaft) setzt Methodenehrlichkeit voraus; das heißt Aufrichtigkeit im Darstellen der Gründe für das Urteil anstelle taktisch bestimmter rhetorischer Fassaden, welche die „wahren Gründe“ der Entscheidung camouflieren.

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Diese professionellen, rechtlichen und ethischen Anforderungen gelten aber nun wiederum für das Gesetzes- wie für das Präjudizienrecht. Was ein unvoreingenommener Beobachter der Praxis beider Systeme immer schon ahnen konnte, wird von dem hier entwickelten Ansatz theoretisch plausibel gemacht. In der Rechtsarbeit geht es keinesfalls nur um Verstehen, so wie wir einen philosophischen Traktat oder ein poème en prose zu „verstehen“ versuchen. Richter / Juristen bringen bei ihrer Arbeit notwendig selbst Text hervor, den der Entscheidung; das ist der Kern 320 Dazu, was es unter diesen Bedingungen noch heißen kann, an Gesetze „gebunden“ zu sein, grundlegend Christensen, R., Was heißt Gesetzesbindung?, 1989; s.a. Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005; Müller, F., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997; ders. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989; ders. / Wimmer, R. (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, 2001. – Zur Präjudizienproblematik auf der Basis des österreichischen Rechts jetzt: Feldner, B., Entschiedenes Entscheiden. Über die normative Relevanz von Präjudizien, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 224 ff.

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ihrer Aufgabe. Sie arbeiten dabei auch nicht nur mit Begriffen, sondern nicht zuletzt auch an Begriffen. Sie „wenden“ nicht nur „an“, „interpretieren“ auch nicht bloß (wenn man darunter, anders als beim anfänglichen „Verstehen“, das Verständlichmachen für andere fasst). Sie leisten – gebunden durch materielles Recht, Prozessrecht, methodenrelevante Normen und die Standards der Argumentationskultur – also vielfach gebunden, gefordert und kontrolliert, im Ganzen vor allem eine Arbeit mit und an Texten in einer öffentlichen Institution, die durch Staatsgewalt abgestützt ist – zum Beispiel im Rahmen eines Gerichtshofs. Sie leisten sehr komplexe Semantisierungsarbeit, für die es keine fraglos verläss- 405 lichen Fixpunkte gibt (seien das Präjudizien oder Gesetze), wohl aber streckenweise kontrollierbare und operationale Orientierungslinien. Es gibt keine magische Sprache (im Bereich der natürlichen), in der ein objektiver Bedeutungsgehalt oder fraglose Aussagen aufbewahrt und abrufbar wären. Bedeutung ist selber durch und durch sprachartig. Die Auslegung / Entscheidung gelangt nie zu der, zur reinen Bedeutung. Sie setzt stets nur neuen Text an die Stelle von vorherigem Text – mit all den sachlichen und sprachlichen Begründungslasten, die sich daraus ergeben. Diese und die Verantwortung für richterliches Tun sind weder abzuschütteln noch delegierbar – weder an ein Werk des Gesetzgebers (Normtext) noch an eines der früheren Gerichtsbarkeit (Präjudiz). 422.3 Die Bindungswirkung von Entscheidungen des EuGH Die bisherige Diskussion um die Wirkung von Vorentscheidungen im Gemein- 406 schaftsrecht wird durch die prinzipiellen Schranken der traditionellen Rechtserkenntnislehre behindert. Diese wirken bis in die Terminologie hinein. Man stellt die faktische Wirkung von Präjudizien in der kontinentalen Tradition ihrer normativen Wirkung in der angelsächsischen gegenüber.321 Normativität wird dabei als statische Eigenschaft eines Textes verstanden, den man einfach anwenden muss. Diese Vorstellung stimmt weder für Gesetze noch für die angelsächsischen Präjudizien. Wenn man im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion Normativität nicht als Gegenstand, sondern als Prozess fasst, kann man in der bisher unklaren Diskussion über die Bindungswirkung von Vorentscheidungen besser differenzieren: eine 321 Vgl. zur Diskussion Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungssentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff.; Toth, A. G., The Authority of Judgements of the European Court of Justice: Binding Force and Legal Effects, in: Yearbook of European Law 4 (1984), S. 1 ff.; Pietrek, A. U., Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV, 1989; Barcelò, J. J., Precedent in European Community Law, in: MacCormik, N. / Summers, R. S. (Hrsg.), Interpreting Precedents: A Comparative Study, 1997, S. 407 ff.; Ehricke, U., Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschaftsrecht, in: Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Nr. 364, 1997; Arnell, A., Interpretation and Precedent in English and Community Law: Evidence of Crossfertilization?, in: Andenas, M. (Hrsg.), English Public Law of Europe, 1998, S. 93 ff.

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

Bindung an Normtexte heißt, dass man sich nicht mittels besserer Argumente einfach davon lösen darf. Eine argumentative Bindung bedeutet, dass ein Kontext der Entscheidung die Richtung gibt, aber durch bessere Argumente verdrängt werden kann. Ausgehend von dieser Unterscheidung, sind zwei Fragen zu stellen:322 Können Vorentscheidungen überhaupt bindend wirken oder geben sie nur deklaratorisch den schon von Anfang an feststehenden Norminhalt wieder? Wenn ihnen aber eine konstitutive Rolle beim Erzeugen des Gesetzesinhalts zukommt, stellt sich die weitere Frage, ob diese Wirkung nur argumentativ oder ob sie normtextähnlich ist. Geben die früheren Urteile dem Erarbeiten der Falllösung also nur eine Richtung an, oder sind sie selbst Zurechnungspunkt für die Entscheidung? 407

Für ein rein deklaratorisches Verständnis der Gerichtsentscheidung könnte man eigene Äußerungen des EuGH heranziehen: „Durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 137 EWG-Vertrag vornimmt, wird erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschrift betreffenden Streit vorliegen“.323 Allerdings wäre diese Aussage auch für ein konstitutives Verständnis der Entscheidung denkbar, wenn man davon ausgeht, dass dem Gericht nicht jede, sondern eben nur eine lege artis vorgenommene Rechtserzeugung erlaubt ist. Deutlicher als der EuGH hat aber der Generalanwalt seinen Ausführungen ein deklaratorisches Verständnis der Justizentscheidung zu Grunde gelegt. Es werde bei der Auslegung nur die Bedeutung ermittelt, welche der Text von Anfang an enthalte. Sogar bei der Methode wertender Rechtsvergleichung werde nicht Richterrecht geschaffen, sondern würden nur allgemeine Rechtsgrundsätze ermittelt.

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Aber auch hier wird erneut ein Umstand deutlich, den man in jedem Zusammenhang menschlicher Praxis auffinden kann: das Wissen bleibt hinter dem praktischen Können zurück. In derselben Entscheidung nämlich, welche auf der expliziten Ebene, im Text des Generalanwalts ein deklaratorisches Verständnis nahe legt, vollzieht sich der Sache nach das Gegenteil. Im zu Grunde liegenden Rechtsstreit hatte ein Mitgliedstaat dem Auslegungsurteil des EuGH zu einer Frage von Gemeinschaftsabgaben nur ex-nunc-Wirkung beigemessen. Der Gerichtshof stellt demgegenüber klar, dass nur er selbst eine solche Einschränkung im Urteil vorneh322 Eine interessante Diskussion der Bindungswirkung von EuGH-Entscheidungen findet sich bei Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005, S. 179 ff. 323 EuGH Slg. 1980, S. 1205 ff. (Amministrazione delle Finanze dello Stato / Denkavit italiana); EuGH Slg. 1980, S. 1237 ff. (Ammnistrazione delle Finanze dello Stato / Salumi u. a.).

422 Die Rolle von Vorentscheidungen für die Rechtserzeugung

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men könne. Tatsächlich hatte der EuGH in einer zeitlich davor liegenden Entscheidung das Diskriminierungsverbot des Art. 119 EWGV (gleiches Entgelt für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit) für unmittelbar anwendbar erklärt und seine Anwendung gleichzeitig auf eine Wirkung ex nunc beschränkt.324 Diese Praxis des EuGH325 lässt sich mit einer Theorie deklaratorischer Wirkung von Gerichtsentscheidungen nicht mehr erklären: „Unser eventueller Glaube in den deklaratorischen Charakter von Auslegungsentscheidungen wird jedoch durch die Fälle erschüttert, in denen der Gerichtshof die Rückwirkung einer Auslegung beschränkt. Hier ist nämlich zeitlich die Geltung unterschiedlicher Normen auszumachen. Bis zum Urteil Defrenne II hatte Art. 119 EWGV einen anderen Inhalt als danach. Arbeitnehmer, die nicht bereits Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben, konnten auf die unmittelbare Geltung von Art. 119 keine Ansprüche stützen, die Lohn- oder Gehaltsperioden vor dem Tag der Verkündung des Urteils betrafen. Hier wird deutlich, dass der Gerichtshof die Tragweite einer Bestimmung gestalterisch verändert hat. Das Ergebnis, dass Art. 119 EWGV vor und nach dem 8. April 1976 etwas anderes bedeuten sollte, ist mit keiner Interpretationsmethode zu erreichen.“326 Entscheidendes Argument gegen eine nur deklaratorische Wirkung ist das Fehlen einer entsprechenden sprachlichen Infrastruktur. Die mit Sprache befassten Wissenschaften, das wurde hier schon gezeigt, gehen heute durchweg davon aus, dass ein Text keine Bedeutung bereits mit sich führt, die der Leser nur noch passiv aufnimmt. Lesen hat unvermeidbar eine aktive Komponente, die für die Bedeutung des Textes konstitutiv ist. Weil jedes Sollen aber ein Können voraussetzt, ist die deklaratorische Theorie von Gerichtsentscheidungen zu verwerfen. Wenn man somit in Übereinstimmung mit der Praxis des EuGH von einer kon- 409 stitutiven Wirkung der Gerichtsentscheidung für die Rechtsnorm ausgeht, stellt sich die Frage, wie diese Wirkung genauer beschrieben werden kann. Wirken Vorentscheidungen dann nur argumentativ oder aber normtextähnlich? Als besonders brisantes Beispiel bietet sich für diese Diskussion das Vorabentscheidungsverfahren an. Wenn überhaupt eine normtextähnliche Wirkung von Urteilen des Gerichts begründet werden kann, dann noch am ehesten hier. Das Vorabentscheidungsverfahren327 führt dazu, dass Fragen der Auslegung des Primärrechts EuGH Slg. 1976, S. 455 ff. (Defrenne / Sabena (Defrenne II)). Vgl. dazu Weiß, W., Die Einschränkung der zeitlichen Wirkung von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EGV, in: EuR 1995, S. 377 ff.; Simon, D., L’effet dans le temps des arrêts préjudiciels de la Cour de justice des Communautés européennes: enjeu ou prétexte d’une nouvelle guerre des juges?, in: Capotorti, F. u. a. (Hrsg.), Du droit international au droit de l’intégration. Liber amicorum Pierre Pescatore, 1987, S. 651 ff. 326 Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungssentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff. Grundlegend: Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005. 327 Siehe dazu grundsätzlich Schima, B., Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Österreich, 1997; sowie Barcelò J. J., 324 325

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

bzw. sekundärrechtlicher Rechtsquellen vom EuGH auf Grund von Vorlagen nationaler Gerichte geklärt werden.328 Der Gerichtshof entscheidet dabei nicht über die Wirksamkeit nationaler Gesetze oder deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht. Es geht auch nicht um das Anwenden der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften auf den Einzelfall.329 Ebenso wenig wird nationales Recht interpretiert.330 Es geht nur um das Konkretisieren von Gemeinschaftsrecht.331 In diesem Bereich wird dann die Frage diskutiert, ob und wie die Entscheidungen des EuGH die vorlegenden Gerichte binden332 und ob von einer etwaigen Bindungswirkung auch nicht vorlegende Gerichte erfasst werden. Das Vorabentscheidungsverfahren bindet, soweit besteht Klarheit, nach Maßgabe seines Tenors. Dieser ist im Licht der Entscheidungsgründe auszulegen und bildet eine verbindliche Vorgabe für das vorlegende Gericht. Ein Adressatenkreis wie in § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist in Art. 234 EG (Art. 177 EWG AF) nicht vorgesehen, so dass es fraglich ist, ob die Bindungswirkung über das jeweilige Verfahren hinausreicht.333 410

Über die bindende Wirkung für die am Ausgangsrechtsstreit beteiligten Gerichte hinaus ergibt sich jedenfalls eine tatsächliche präjudizielle Wirkung der Urteile des EuGH in ähnlich gelagerten Verfahren vor anderen Gerichten:334 Es ist davon auszugehen, „dass die Antworten des Gerichtshofes auf solche Fragen keineswegs etwa unverbindliche gutachtliche Stellungnahmen sind, sondern das vorlegende Gericht und auch alle in der Folge mit der Rechtssache befassten Instanzen verpflichten, dem Gerichtshof und seiner Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu folgen, soweit dieses zur Anwendung kommt.“335 Dies folgt daraus, dass dem EuGH Precedent in European Community Law, in: MacCormik, N. / Summers, R. S. (Hrsg.), Interpreting Precedents: A Comparative Study, 1997, S. 407 ff.; Ehricke, U., Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschaftsrecht, in: Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Nr. 364, 1997. 328 Vgl. dazu Bertelsmann, K., Vorabentscheidungsverfahren der Arbeitsgerichtsbarkeit zum Europäischen Gerichtshof, in: NZA 1993, S. 775 ff., 778. 329 Dies ist geklärt seit EuGH Slg. 1967, S. 60 ff. (da Costa). 330 Dies wurde geklärt in EuGH Slg. 1964, S. 379 ff. (Unger / Bedrijfsvereiging voor Detailhandel en Ambachten). 331 Vgl. dazu Hirsch, G., Die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit und der Europäische Gerichtshof. Eine wechselvolle Beziehung, in: RdA 1999, S. 48 ff., 50. 332 Vgl. dazu Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungssentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff.; sowie ders., Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Österreich, 1997, S. 17 ff.; sowie Arnell, A., Interpretation and Precedent in English and Community Law: Evidence of Crossfertilization?, in: Andenas, M. (Hrsg.), English Public Law of Europe, 1998, S. 93 ff. 333 Von einer limitierten Bindung von Vorabentscheidungen aufgrund des Verfahrens der Vorabentscheidung und des Gleichheitssatzes spricht Buerstedde, W. in Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006 S. 22 ff. 334 Vgl. dazu Krück, H., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 3 Art. 137 – 209a EGV, 5. Auflage, 1997, Art. 177, Rn. 87.

422 Die Rolle von Vorentscheidungen für die Rechtserzeugung

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im System des Vertrages die Aufgabe der Auslegung zukommt und dass die innerstaatlichen Gerichte und Behörden das Gemeinschaftsrecht im aktuellen Entwicklungszustand anzuwenden haben.336 Damit gleicht diese Wirkung der von höchstrichterlichen Entscheidungen im nationalen Recht. Diese haben jedenfalls eine tatsächliche rechtsbildende Kraft insofern, als an ihnen aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit festgehalten wird. Ein oft zitiertes Beispiel für den Einfluss des EuGH auf die nationale Gerichts- 411 barkeit ist die „Paletta-Entscheidung“. 337 Hier ging es um die Frage, ob ein privater Arbeitgeber einem Arbeitnehmer Lohnfortzahlung leisten muss, wenn dieser eine im Ausland ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt. Der EuGH übertrug seine im Hinblick auf öffentliche Sozialträger ergangene Rechtsprechung zu Art. 18 Abs. 1 bis 4 der Verordnung Nr. 574 / 72 auf den privaten Arbeitgeber und bejahte ohne Vorbehalt dessen rechtliche und tatsächliche Bindung an ein derartiges Attest. Dem Arbeitgeber bleibe nur die Möglichkeit, den Arbeitnehmer durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen zu lassen. Dieses Urteil wurde in Deutschland stark kritisiert, da es Missbrauch ermögliche. Vor allem in dem fraglichen Verfahren bestand dieser Verdacht. Der Kläger hatte sich mit seiner Familie öfter im Anschluss an den Sommerurlaub in Italien für mehrere Wochen krankgemeldet. Auf Berufung und Revision des Arbeitgebers hin, legte das Bundesarbeitsgericht dem EuGH zwei weitere Fragen zum selben Ausgangsfall vor. Daraufhin stellte der Gerichtshof im Urteil „Paletta II“ vom 2. Mai 1996 klar, dass das Gemeinschaftsrecht es dem Arbeitgeber nicht verwehre, Nachweise zu verlangen, anhand deren das nationale Gericht gegebenenfalls feststellen kann, dass sich der Arbeitnehmer nicht missbräuchlich oder betrügerisch arbeitsunfähig gemeldet hatte. Anhand dieser Ausführungen hat das Bundesarbeitsgericht den konkreten Fall dann dahingehend entschieden, dass keine Pflicht zur Lohnfortzahlung bestehe.338 Dieses Beispiel macht das Zusammenwirken des EuGH mit der nationalen Gerichtsbarkeit deutlich.339 Da der EuGH die fraglichen Streitfälle nicht entscheidet, 335 Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungssentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 285; vgl. dazu auch EuGH Slg. 1977, S. 163 ff. (Benedetti / Munari); EuGH Slg. 1986, S. 947 ff. (Wünsche Handelsgesellschaft / BRD); EuGH Slg. 1991, S. I-6079 ff. (Gutachten 1 / 91); vgl. dazu auch Combrexelle, J. D., L’impact de l’arrêt de la Cour: étendue et limites des pouvoirs du juge national, in: Christianos, V. (Hrsg.), Évolution récente du droit judiciaire communautaire, Band 1, 1994, S. 113 ff. 336 Vgl. dazu Hailbronner, K. / Magiera, S. / Klein, E. / Müller-Graf, P. C., Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union, Stand September 1991, Art. 177 EWG, Rn. 45. 337 EuGH Slg. 1992, S. I-3423 ff., 3458 ff. (Paletta u. a. / Brennet). 338 Zusammenfassend zu diesem Beispiel einer Wirkung von EuGH-Entscheidungen Hirsch, G., Die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit und der Europäische Gerichtshof. Eine wechselvolle Beziehung, in: RdA 1999, S. 48 ff., 50. Kritisch zur EuGH-Rechtsprechung in diesem Bereich demgegenüber Wißmann, H., Europäischer Gerichtshof und Arbeitsgerichtsbarkeit – Kooperation mit Schwierigkeiten, in: RdA 1995, S. 193 ff.

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4 Argumentformen – 42 Systematisches Argument

sondern nur die „Definitionsmacht“ für das Gemeinschaftsrecht innehat340, sind die Gerichte allein daran gebunden, das Auslegungsergebnis zu Grunde zu legen. Die Art dieser Bindung ist aber noch näher zu bestimmen. 412

In der Literatur wird die Wirkung einer Auslegungsentscheidung des Gerichtshofs bei einer Änderung der Auslegungspraxis folgendermaßen beschrieben: „Darin zeigt sich, dass das frühere Urteil des EuGH nicht einfach ein rechtskräftiges Gerichtsurteil war, sondern eine generelle Norm enthielt, die vom Gerichtshof durch eine spätere generelle Norm aufgehoben werden konnte.“341 Die Ausdrücke „generell“ und „normativ“ sind dabei noch präzisierungsbedürftig. Gegenstand der Bindung sind zunächst die verallgemeinerungsfähigen Rechtsansichten, die der EuGH in seiner Vorlageentscheidung formuliert. In der kontinentalen Tradition wären das die Leitsätze des Urteils, in der angelsächsischen die rationes decidendi. Diese Rechtsauffassungen sind zunächst generell, das heißt, sie gelten für „Fälle wie den vorliegenden“. Sie formulieren, was der Normtext für eine bestimmte Klasse von Fällen bedeutet und vollenden mit dieser Rechtsnormerzeugung den vom Gesetzgeber mit der Normtextformulierung begonnenen Rechtsetzungsvorgang. Trotz der ganz am Einzelfall klebenden Vorlagefragen der nationalen Gerichte und der sehr präzisen Vorgaben im Bereich von Tarifierungsproblemen bemüht sich der EuGH um diesen generellen Charakter: „Pastillen wie die roten ,Pulmoll‘-Pastillen fallen angesichts ihrer Zusammensetzung, Aufmachung und Wirkung unter die Tarifnummer 17.04 des gemeinsamen Zolltarifs.“342 Das entscheidende Wort ist hierbei das „Wie“. Damit wird die Rechtsnorm vom Einzelfall abgehoben.

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Schwieriger als dieser generelle Charakter ist das normative Moment zu fassen. Einigkeit dürfte darüber bestehen, dass die Auslegungsentscheidungen des EuGH künftigen Entscheidungen die Richtung zu geben vermögen, sofern sie einer methodischen Überprüfung standhalten. Fraglich ist aber, ob sie darüber hinaus eine normtextähnliche Rolle aufweisen. Sie hätten dann ähnlich wie der Präzedenzfall im englischen Recht eine „binding authority“ für alle künftigen Entscheidungen: „Ein solcher Status würde bedeuten, diese Gerichte müssten dem EuGH folgen, selbst wenn sie ansonsten gute Gründe hätten, anders zu entscheiden. Sie wären außerdem verpflichtet, die einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofes 339 Zum Verhalten der nationalen Gerichte vgl. Alter, K., Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence: A Critical Evaluation of Theories of Legal Integration, in: Slaughter, A.-M. / Sweet, A. S. / Weiler, J. (Hrsg.), The European Court and National Courts – Doctrine and Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, 1998, S. 227 ff. 340 Vgl. dazu Blomeyer, W., Der Einfluß der Rechtsprechung des EuGH auf das Arbeitsrecht, in: NZA 1994, S. 633 ff., 640. 341 Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungssentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 304. 342 EuGH, Slg. 1995,S. I-4759 ff. (Strafverfahren gegen Colin und Dupré).

422 Die Rolle von Vorentscheidungen für die Rechtserzeugung

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in ihren Begründungen zu erwägen, und sie dürften sich nicht inhaltlich in die Debatte über bereits entschiedene Fragen einlassen.“343 Eine normtextähnliche Funktion würde zunächst dazu führen, dass der EuGH an 414 seine Vorentscheidung selbst gebunden wäre. Das wäre nützlich, auch für die Bindung der nationalen Gerichte.344 Aber dem EuGH würde dann die nötige Flexibilität fehlen, um auf Veränderungen reagieren zu können. Außerdem wäre er ständig mit dem Subsumieren unter eigene Leitsätze beschäftigt. Für eine Rechtsprechungsänderung wären dann jedes Mal der Gesetzgeber oder sogar die Vertragsparteien nötig.345 Zwar hat der EuGH eine Änderung seiner eigenen Rechtsprechung nur selten vorgenommen,346 aber trotzdem hält er sich durch die eigenen Urteile nicht für gebunden. Im Urteil „da Costa“347 hat Generalanwalt Lagrange diese Auffassung mit grundsätzlichen Erwägungen der notwendigen Flexibilität begründet, und seither ist es dabei geblieben. Wenn eine normtextähnliche Funktion anzunehmen wäre, müssten neben den 415 vorlegenden Gerichten auch alle anderen nationalen Gerichte durch die Entscheidung des EuGH gebunden werden. Dass auch dies nicht angenommen werden kann, sieht man schon daran, dass es den nationalen Gerichten erlaubt bleibt, die gleiche Frage erneut vorzulegen.348 Diese Möglichkeit wird von der einzelstaatlichen Justiz sogar als Chance für eine Rechtsprechungsänderung genutzt.349 Man muss deswegen der Feststellung zustimmen, „dass die Figur der binding authority von Präjudizien im englischen Recht nicht geeignet ist, die Wirkung von Aus-

343 Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungssentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 295. Zu einer entsprechenden Wirkung von Präjudizien im englischen Recht vgl. Cross, R. / Harris, F. W., Precedent in English Law, 4. Aufl., 1991, S. 37, wonach das entscheidende Gericht an das Präjudiz gebunden ist, selbst wenn dieses „bordering on the absurd“ sei. 344 Vgl. Ehricke, U., Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschaftsrecht, in: Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Nr. 364, 1997, S. 51. 345 Brown, L. N. / Kennedy, T., The Court of Justice of the European Communities, 4. Aufl., 1994, S. 352 ff. Ein Tätigwerden der Vertragsparteien wurde z. B. von der belgischen Regierung als Reaktion auf das Urteil des EuGH, Slg. 1995, S. I-4921 ff. (Bosman) erwogen. 346 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1990, S. I-3711 ff. (HAG GF). 347 EuGH, Slg. 1963, S. 63 ff. (da Costa u. a. / Niederländische Finanzverwaltung). 348 Dieser Umstand ist geklärt seit EuGH, Slg. 1963, S. 60 ff. (da Costa u. a. / Niederländische Finanzverwaltung); vgl. dazu auch Bebr, G., Preliminary Rulings of the Court of Justice: Their Authority and Temporal Effect, in: CMLR 18 (1981), S. 475 ff.; Streil, J., Das Vorabentscheidungsverfahren als Bindeglied zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung, in: Schwarze, J. (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtschutzinstanz, 1983, S. 69 und 78 f. 349 Entsprechende Beispiele findet man bei Riechenberg, K., Note concernant les renvois préjudiciels qui réinterrogent la Cour, in: Christianos, V. (Hrsg.), Évolution récente du droit judiciaire communautaire, Band I, 1994, S. 99.

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4 Argumentformen – 43 Historisches und genetisches Argument

legungsentscheidungen des Gerichtshofes über den Einzelfall hinaus zu beschreiben.“350 Präjudizien können, insofern sie methodisch haltbar sind, der aktuellen Entscheidung Richtung geben und wirken damit auf die Normativität ein. Aber sie fungieren nicht als legitimierender Zurechnungspunkt neuer Entscheidungen. Sie sind nur Argumente.

43 Historisches und genetisches Argument 416

Die Analyse der Rechtsprechung hat gezeigt, dass jedenfalls im Primärrecht der historischen und genetischen Auslegung ein geringer Stellenwert zukommt. Auch eine empirische Analyse der Rechtsprechung des EuGH für den Zeitraum eines Jahres kommt zu dem Ergebnis einer jedenfalls im Verhältnis zur grammatischen Auslegung geringen Relevanz.351 Dabei wird der Stellenwert dieses Arguments noch weiter relativiert, wenn man berücksichtigt, dass es meist nur zur Begründung des Gesetzeszwecks herangezogen wird. Im Folgenden soll die Frage nach den Gründen für diese eingeschränkte Relevanz gestellt werden.352

431 Gründe für die eingeschränkte Relevanz

Liegen die Gründe für die eingeschränkte Relevanz von genetischer und historischer Konkretisierung auf prinzipieller Ebene oder handelt es sich nur um technische Einschränkungen in einem bestimmten Rechtsgebiet?

431.1 Autorenfunktion als Argument 417

Häufig wird die Möglichkeit der genetischen Konkretisierung im Gemeinschaftsrecht aus texttheoretischen Überlegungen abgelehnt. Die Vorstellungen, Absichten und Zwecke des historischen Gesetzgebers können für die Auslegung keine Rolle spielen, weil sich das Gesetz nach seinem Erlass von den Absichten und Zwecken seiner Urheber ablöst. Das so entstandene eigenständige Gebilde muss 350 Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungssentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 297. 351 Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript; Beispiel für eine historische Auslegung des Sekundärrechts EuG Rs. 340 / 99 Rn. 36 ff. 352 Vgl. zur entstehungsgeschichtlichen Argumentation beim EuGH Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005, S. 167 ff.

431 Gründe für die eingeschränkte Relevanz

311

nunmehr aus sich selbst verstanden werden.353 Der beherrschenden Stellung des Gesetzgebers wird dabei eine Heterogonie der Zwecke354 entgegengehalten: „Der Zusammenhang einer Zweckreihe besteht demnach nicht darin, daß der zuletzt erreichte Zweck schon in den ursprünglichen Motiven ( . . . ) als Vorstellung enthalten sein muß, ( . . . ), sondern er wird wesentlich dadurch vermittelt, daß infolge nie fehlender Nebeneinflüsse der Effekt einer Handlung mit der im Motiv gelegenen Zweckvorstellung im allgemeinen sich nicht deckt.“ Über die Vervielfältigung und Anreicherung des Ursprungszwecks soll hier das Gesetz der Heterogonie der Zwecke ein „Prinzip des Wachstums geistiger Werte“355 begründen und damit den selbständigen Organismus356 des Rechts von seinem Urheber ablösen. Nun gibt es aber nicht nur ein vermehrendes Wachstum, sondern auch ein Zurückbleiben gegenüber dem Ursprungszweck. Dieser bleibt demnach als Bezugspunkt nötig, um die Frage des Wachstums oder Zurückbleibens beurteilen zu können. Weiter wird geltend gemacht, dass der Gesetzgeber bzw. Vertragspartner schon seine ursprüngliche Zwecksetzung inhaltlich gar nicht voll überblicken kann: „Es ist ein häufiger Irrtum zu meinen, dass der Gedanke der vollständige Sklave unseres Willens sei und nur das hervorbringe, was wir wollen, während doch der Gedanke dem Willen gegenüber seine volle Selbständigkeit hat und vielfach über die Tragweite des Willens hinausgeht. (Das Denken) hat unendlich viele Zusammenhänge, es zeigt in den Begriffen einen Ideeninhalt, den der subjektiv Denkende nicht ahnt“.357 Weil jeder Gedanke selbständig und gegen die Absicht seiner Schöpfer fortwirken kann, ist das Recht als geistige Wirklichkeit etwas Eigenständiges. Die Entscheidung muss daher unabhängig von den Materialien dem Gesetz selbst entnommen werden. Auch in diesem Einwand ist wieder Richtiges enthalten, das dann aber durch zu große Generalisierung falsch wird. 353 Vgl. etwa Binding, K., Handbuch des Strafrechts, Bd. I, 1885, S. 455 und ff. Binding bemüht sich als einer der ersten um eine systematische Kritik der Prämissen der subjektiven Lehre. 354 Vgl. dazu Mennicken, A., Das Ziel der Gesetzesauslegung – Eine Untersuchung zur subjektiven und objektiven Auslegungslehre, 1970, S. 26. 355 Wundt, W., System der Philosophie, 1919, S. 327. Vgl. zu den Problemen dieser Wachstumsregel: Bloch, E., Über Heterogonie der Zwecke, in: ders., Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, GA Bd. 10, 1977, S. 431 ff., insbes. 435 ff. 356 Vgl. grundsätzlich zum Organismusbegriff Kaufmann, E., Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts, 1908; Zippelius, R., Das Wesen des Rechts, 1978, S. 167 f. Kritisch zur Organismusmetapher: Müller, F., Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 162 und öfter. Zur politischen Funktion: ders., Korporation und Assoziation, 1965, S. 87, 89, 90, 95 ff., 98 ff., 146 f. Zur Organismusmetapher als Begründungsfigur des Bedeutungswandels: Munzer, H. / Nickel, G., Does the Constitution mean what it always meant?, in: Columbia Law Review, 1977, S. 1029 ff., 1046. Unabhängig von der Verbindung zur Organismusmetapher wird der Entwicklungsgedanke gegen eine Fixierung des Rechts gewendet bei Kirchhof, P., Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987, S. 33: „Wer ein Gesetz in der Problemsicht und in den Lösungen seines Entstehens festschreiben wollte, nähme dem Recht den Atem und der das Recht vollziehenden Gewalt die Befugnis zum Nach-Denken der Vorschrift. Recht ist Kultur, also Entwicklung“. 357 Kohler, J., Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1, 1906, S. 123.

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4 Argumentformen – 43 Historisches und genetisches Argument

Natürlich kann ein Gesetzgeber seine Zwecksetzung nicht ganz überblicken. Aber ein Text oder ein für diesen Text sprechender Richter hat dafür noch weniger Zeit und Erkenntnisorgane. Auch wenn man zugibt, dass ein Gesetzgeber kein Gott ist, der alle Zweckreihen überblickt, muss ein Abweichen von seinen Zielen offen erklärt und begründet werden. In seiner Wendung als bedeutungstheoretische Überlegung ist das Ablösungsargument nicht haltbar. Dass Intentionen für die sprachliche Bedeutung eine Rolle spielen, kann schon lange als geklärt gelten.358 Heute geht es eher um die Frage, ob die der Intention gegenübergestellten Konventionen normativ zu verstehen sind und ob sie überhaupt eine verständnisrelevante Schicht des Bedeutungsproblems betreffen.359

431.2 Der dynamische und politische Charakter des Gemeinschaftsrechts 419

Ein grundsätzlicher Einwand gegen die genetische Konkretisierung ist zunächst das so genannte Versteinerungsargument. Danach lässt das Auslegungsziel der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens keine Anpassung des Gesetzes an aktuelle Probleme zu und versteinert insoweit seine Umsetzung. Vor allem im Gemeinschaftsrecht gewinne dieses Argument im Hinblick auf die Dynamik einer immer enger werdenden Gemeinschaft ein entscheidendes Gewicht: „Zur Verwirklichung des gemeinsamen Marktes und der Ziele des Art. 2 EGV ist es unverzichtbar, anstelle des historischen Willens der Vertragspartner auf den objektivierten Willen des Vertrages abzustellen. Eine Gegenüberstellung der Eindrücke von den Vertragsverhandlungen mit der Praxis des Gerichtshofs belegt überzeugend die Diskrepanz zwischen dem heutigen Stand der Gemeinschaftsrechte und den ursprünglichen Vorstellungen der Vertragsstaaten.“360 Dieses Argument steht der genetischen Konkretisierung aber nur dann entgegen, wenn man der subjektiven Auslegungslehre folgt und das Ergebnis der genetischen Konkretisierung zum Inhalt des Gesetzes erklärt. Dies wurde hier aber schon im ersten Teil aus allgemein bedeutungstheoretischen Erwägungen abgelehnt. Dass die Ergebnisse genetischer Konkretisierung bei der Auslegung des Gesetzes eine Rolle spielen, ist mit dem Versteinerungsargument noch nicht ausgeschlossen. Denn die Dynamik einer im358 Vgl. dazu Strawson, P. F., Meaning and Truth, in: ders., Logico-Linguistic Papers, 1971, S. 170 ff. Strawson bezeichnet hier die Diskussion zwischen „theorists of communication intention“ (dazu zählt er Grice, Austin und den späten Wittgenstein) und „theorists of formal semantics“ (er nennt Chomsky, Frege und den frühen Wittgenstein) als „struggle ( . . . ) of a Homeric quality“, ebd., S. 172. 359 Vgl. dazu die entsprechende Diskussion wie sie dokumentiert wird in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Heft 3 des Jahres 2000 mit Artikeln von Davidson, D., Mayer V. und Glüer, K. mit jeweils weiteren Nachweisen zu dieser Problematik. 360 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 145. Unter Bezug auf Everling, U., Vertragsverhandlungen 1957 und Vertragspraxis 1987, in: Festschrift für Hans von der Groeben, 1987, S. 111 ff., 126.

431 Gründe für die eingeschränkte Relevanz

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mer enger werdenden Gemeinschaft wäre nur dann gefährdet, wenn dieses Element ausschlaggebende Bedeutung hätte. Im Gesamtprozess der Konkretisierung wird es dagegen durch die Ergebnisse anderer Elemente, wie vor allem der teleologischen Auslegung, relativiert. Deswegen kann das Versteinerungsargument zwar der subjektiven Auslegungsdoktrin, nicht aber der genetischen Konkretisierung entgegengehalten werden. Ein weiterer prinzipieller Einwand gegen die Berechtigung genetischer Konkre- 420 tisierung ist das Kränkungsargument: „Würden die unterschiedlichen Verhandlungspositionen im Wege einer subjektiv-historischen Auslegung verwertet, würde der damalige mühsame Einigungs- und Verhandlungserfolg verschenkt; mit der Argumentation und Auslegung unter Berücksichtigung nationalbetonter und Einigungsfortschritten gegenüber zurückhaltender Thesen würde der Integrationsprozess ins Stocken geraten und nachträglich ,Salz in alte Wunden‘ gestreut werden. Die bewusste Nichtveröffentlichung der Materialien hatte somit Methode und sollte dem Dauer- wie auch dem Eigencharakter der Gemeinschaft durch eine gezielte Loslösung von den Gründungsverhandlungen und deren politischer Entstehungsgeschichte dienen.“361 Auch dieser Gedanke überzeugt nicht. Denn zunächst ist es unwahrscheinlich, dass einer damaligen Verhandlungspartei schon ein Wille für die Entscheidung eines späteren konkreten Falls zugeschrieben werden kann. Und selbst wenn, wäre gerade im Interesse dieses Staates zu fordern, dass ein Abweichen nicht stillschweigend geschieht, sondern offen vollzogen und deshalb mit anderen Konkretisierungselementen erst noch begründet wird. Schließlich wird als Einwand gegen die genetische Konkretisierung im Gemein- 421 schaftsrecht noch das Qualitätsargument vorgebracht: „Einer Heranziehung der subjektiv-historischen Auslegung steht darüber hinaus der Kompromisscharakter vieler Vertragsnormen entgegen. Angesichts der Fülle der zu regelnden Probleme und des enormen Zeitdrucks bei den Vertragsverhandlungen, verbunden mit den jeweils doch erheblich voneinander abweichenden Vorstellungen, Präferenzen und Idealen der nationalen Vertragsdelegationen, sind einige der Vertragsnormen als bloße Kompromissformeln zu verstehen, die in allererster Linie aus Gründen des Pragmatismus und einer möglichst zügigen Einigung in diesem sprachlichen Gewand formuliert wurden.“362 Wie sich bei einer Analyse der Aussagekraft von Gesetzesmaterialien gezeigt hat363, sind die eine Regelung tragenden gesetzgeberischen Zwecke oft nicht belegbar, und zwar nicht nur wegen Dokumentationsmängeln, sondern auch wegen unzureichender sachlicher Durcharbeitung des Vorhabens. Der Gesetzgeber orientiert sich meist nur an typischen Problemen oder Ebd., S. 146. Ebd., S. 145. 363 Vgl. Baden, E., Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig, J. (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369 ff., 393. Vgl. auch die entsprechenden Empfehlungen an den Gesetzgeber, diesem Zustand abzuhelfen, in: ders., Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 250 ff. 361 362

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4 Argumentformen – 43 Historisches und genetisches Argument

Situationen und überlässt die nähere Ausgestaltung der Praxis. Zudem kann man einem Normtext kaum je einen klar abgrenzbaren Hauptzweck zuordnen, sondern oft nur verschiedene, häufig nicht einmal miteinander vereinbarte Zwecke.364 Auch dieses Problem des Formelkompromisses verschärft sich im komplexen Gesetzgebungsverfahren des Gemeinschaftsrechts noch beträchtlich. Der Konflikt zwischen den Zwecken soll dann von der Rechtsprechung im Weg einer Kollisionsentscheidung gelöst werden. Dazu müssen die den Kompromiss tragenden Ausgangszwecke überhaupt erst bekannt sein. Auch das Qualitätsargument ist nur geeignet, die subjektive Auslegungsdoktrin unplausibel zu machen, nicht aber die praktische Möglichkeit genetischer Konkretisierung in Frage zu stellen. Damit führt keiner der vier Einwände (Versteinerungs-, Kränkungs-, Ablösungsund Qualitätsargument) im Ergebnis dazu, die Möglichkeit genetischer Konkretisierung grundsätzlich abzulehnen.

431.3 Das Problem von Diversifikation und Mehrsprachigkeit des Gesetzgebers 422

Die genetische Interpretation wirft technische Fragen auf, die mit der Diversifikation des Gesetzgebers im Gemeinschaftsrecht verknüpft sind. Schon wenn man den gesetzgeberischen Willen anhand der Protokolle von Parlamentsdebatten zu ermitteln versucht, stößt man zunächst auf den enttäuschenden Umstand, dass Kontroversen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens selten sind.365 Zudem vollziehen sich die eigentlichen Entscheidungsprozesse im Gemeinschaftsrecht oft in einem über die Protokolle nicht zugänglichen Vorfeld von politischer Arbeit zwischen den Regierungen oder im Rat und der Kommission. Außerdem gibt es Vorbereitungen in den Ministerien der Nationalstaaten und innerhalb des Europaparlaments in Ausschüssen und Fraktionen. Die Komplexität nationaler Legislative wird also im Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft noch gesteigert. Hier sind die eigentlichen Legislativorgane Kommission und Rat. Das Parlament ist zwar seit dem Amsterdamer Vertrag in seiner Rolle gestärkt worden, indem man das Mitentscheidungsverfahren deutlich ausdehnte. Aber es wurden in diesem Vertrag auch die nationalen Parlamente stärker in den Gesetzgebungsprozess einbezogen, so dass die Diversifikation der Legislative institutionell noch weiter getrieben wurde.

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Dieses faktische Problem macht zwar die Aussicht darauf, einen gesetzgeberischen Willen zu ermitteln, eher unwahrscheinlich. Es vermehrt aber die Grundlagen für Argumente: „Da der Gesetzgeber ein Gremium ist ( . . . ), kann es nicht auf die Vorstellung einzelner Abgeordneter ankommen. Aber vielfach gibt es MaVgl. dazu Engisch, K., Einführung in das juristische Denken, 1977, S. 80. Vgl. dazu und zum Folgenden: Wank, R., Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 61 – 63 m. w. N. 364 365

432 Genetische Konkretisierung als Kopplung zur Politik

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terialien darüber, wie diejenigen, die den Gesetzestext verfaßt haben ( . . . ) oder wie die Meinungsführer im Parlament das Gesetz verstanden haben.“366 Wegen der Beteiligung einer Mehrzahl von Organen wird der Umfang der Materialien im Gemeinschaftsrecht größer. Damit nimmt auch die Möglichkeit zu, aus diesen Texten Argumente zu gewinnen. Genauso ist es mit der Mehrsprachigkeit des Gesetzgebers. Auch diese macht die Ermittlung eines homogenen Willens unwahrscheinlich und vermehrt gleichzeitig die Argumentationsgrundlagen. Die Gemeinschaft bestätigt insoweit die Schweizer Erfahrungen, dass Mehrsprachigkeit zu einer Verbesserung der gesetzgeberischen Arbeit führt.367 432 Genetische Konkretisierung als Kopplung zur Politik

Nachdem die grundsätzlichen Einwände gegen die Möglichkeit genetischer Konkretisierung im Gemeinschaftsrecht ausgeräumt sind, kann deren Rolle genauer eingeschätzt werden. 432.1 Die Ablösung von der Willensmetapher Das in dem angesprochenen Diversifikationsproblem enthaltene kritische Poten- 424 / 425 zial lässt sich noch weiter entfalten. Dabei werden die praktischen Schwierigkeiten der Arbeit mit den Materialien gegen die Möglichkeit gewendet, aus diesen Kontexten Argumente abzuleiten. Die Unsicherheit und Lückenhaftigkeit der Materialien gewährt das Gegenteil eines sicheren Ausgangspunkts: „Tatsache ist, daß die gesamte Praxis ( . . . ) sich auf die Entstehungsgeschichte beruft, wo diese für die sonst wünschenswerte Entscheidung verwertet werden kann, und daß im gegenteiligen Fall die Motive usw. beiseitegeschoben oder als unwichtig widerlegt werden“.368 Damit wird die Tendenz angesprochen, dass mit Hilfe von willkürlich ausgewählten Einzeläußerungen der vorgeblich einheitliche Wille des Gesetzgebers seine Konturen verliert und sich deswegen in der Praxis als beliebig auszufüllende Fiktion erweist.369 Auch diese Gefahr ist durch die erhöhte Komplexität des Gesetzgebungsvorgangs im Gemeinschaftsrecht noch erhöht. Die in der Verwendung der Materialien als Begründungsinstanz potenziell liegende Beliebigkeit wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass der gemeinschaftsrechtliche Gesetzgeber ein Vgl. dazu ders., S. 35 f. Vgl. dazu Caussignac, G., Empirische Aspekte der zweisprachigen Redaktion von Rechtserlassen, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, 2004, S. 157 ff.; Burr, I. / Gallas T., Zur Textproduktion im Gemeinschaftsrecht, in: ebd., S. 195 ff.; Pescatore, P., Zur Rechtssprache und Rechtsstil im europäischen Recht, in: ebd., S. 243 ff. 368 Gmelin, H., Quousque?, 1910, S. 70. 369 Vgl. dazu Schmitt, C., Gesetz und Urteil, 1969, S. 25. Weitere Nachweise bei Honsell, Th., Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 42 f. 366 367

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4 Argumentformen – 43 Historisches und genetisches Argument

pluriformes und heterogenes Gebilde ist,370 dem sich schwerlich ein einheitlicher Wille zuschreiben lässt. Die Entstehungsgeschichte weist nicht nur Zufälligkeiten auf, sondern vor allem auch Widersprüche zwischen einzelnen Äußerungen, die ohne eine systematische Strukturierung dann oft die Begründung gegensätzlicher Ergebnisse erlauben. 426

Um mit diesem Problem fertigzuwerden, muss man die genetische Konkretisierung vom Begriff des Willens ablösen. Zunächst wird dabei die Willensmetapher durch den Begriff einer Handlung ersetzt, die es sowohl kausal als auch in ihrer Finalität zu verstehen gilt.371 Der Fortschritt dieser Ersetzung kann sich jedoch nur dann auswirken, wenn man auch die vorgestellte Einheitlichkeit und Homogenität der Normierungshandlung auflöst. Dabei kann der vorgestellte Gesamtwille durch ein Mehrheits- oder Agentenmodell372 ersetzt werden. Danach ist der gesetzgeberische Wille mit dem der Mehrheit der gesetzgeberischen Körperschaft gleichzusetzen, beziehungsweise mit dem Willen derjenigen Personen, die den verabschiedeten Entwurf oder Vertrag formuliert haben.

427

Doch auch im Rahmen eines Mehrheits- oder Agentenmodells bleibt der Nachweis einer gemeinsamen Handlungsfinalität bzw. -absicht schwierig.373 Selbst wenn man unterstellt, dass die betreffenden Personen die von ihnen formulierte Zeichenkette unter möglichst vollständiger Berücksichtigung des Kontextes reflektieren, beseitigt dies nicht alle Unsicherheiten über den Gebrauch der verwendeten Zeichen.374 Zwar kann man die als gemeinsam behauptete Absicht auf grundlegende Gesichtspunkte und Zwecke einschränken.375 Aber die Unterstellung solcher Zwecke als gemeinsame bedarf noch einer Begründung. Allerdings gewinnt diese Zurechnung eine gewisse Plausibilität durch eine linguistische Analyse, welche parallele Phänomene aus dem juristischen Bereich in die Untersuchung einbezieht.376 Auch bei juristischen Personen redet man von Ab370 Vgl. dazu Krüger, U., Der Adressat des Rechtsgesetzes, 1969, S. 13. Vgl. auch Engisch, K., Einführung in das juristische Denken, 1977, S. 91 mit differenzierten Folgerungen auf S. 95. 371 Vgl. dazu Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 83 ff. 372 Vgl. dazu MacCallum, G., Legislative Intent, in: Summers, P. (ed.), Essays in Legal Philosophy, 1968, S. 237 ff., 262 ff. (majority model), 266 ff. (agency model). 373 Vgl. zu den Schwierigkeiten einer Ermittlung: Engisch, K., Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 7; Bär, R., Zeitgemäßes Recht, Dies Academicus, 1973, S. 13, 15. 374 Vgl. dazu MacCallum, Legislative Intent, in: Summers, P. (ed.), Essays in Legal Philosophy, 1968, S. 237 ff., 254 f. 375 Vgl. dazu etwa Köbl, U., Allgemeine Rechtstheorie. Aspekte der Gesetzesbindung, in: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Bundessozialgerichts, 1979, S. 1005 ff., 1029. 376 Vgl. dazu MacCallum, G., Legislative Intent, in: Summers, P. (ed.), Essays in Legal Philosophy, 1968, S. 237 ff., 249, 250 ff. Vgl. dazu die Aufforderung, das Sprachspiel anzuschauen, bei Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 78.

432 Genetische Konkretisierung als Kopplung zur Politik

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sichten, die man bei Bedarf etwa ihren Organen zuschreibt. Dabei lässt sich auch nicht sagen, dass das Wort ,Absicht‘ in einem metaphorischen oder von der wörtlichen Bedeutung abgelösten Sinn gebraucht werde. Der Sprachgebrauch verweist hier vielmehr auf soziale Regeln, nach denen das Handeln einzelner einer Gesamtheit zugerechnet wird.377 Es ist kein Grund ersichtlich, der die Existenz ähnlicher Regeln im Rahmen der genetischen Konkretisierung ausschließen könnte.

432.2 Gesetzgebung, semantisch gesehen Die allgemeine Möglichkeit einer Zurechnung kann so als begründet angesehen 428 werden. Aber es bleiben technische Fragen offen: „Hinsichtlich der Brauchbarkeit solcher Materialien stellt sich zunächst ohnehin die Frage, welche der am Abschluss der Gemeinschaftsverträge beteiligten Personen ausschlaggebend für den Willen ihres jeweiligen Mitgliedstaates sein sollen: die jeweiligen Unterhändler, nur der Leiter der Verhandlungsdelegation oder nur der zuständige Minister.“378 Die Art und Weise dieses Zurechnens fordert also neben der Beachtung rechtlicher Gesichtspunkte noch eine genauere Untersuchung der vorausgesetzten sprachlichen Regeln. Insoweit müssen die als Kontexte zum Normtext herangezogenen Materialien auf einen inneren Zusammenhang hin befragt werden. Die als Anknüpfungspunkt für ein Argument in Betracht kommende Einzeläußerung muss in die Struktur des Gesetzgebungsverfahrens systematisch eingeordnet werden.379 Der innere Zusammenhang wird allerdings noch nicht erfasst, wenn man normative Strukturierungsvorschläge der Gesetzgebungslehre als Beschreibungen liest. Gesetzgebung ist nicht schlicht einvernehmliches Handeln, sondern in seiner Realität meist sehr konflikthaft. Darin liegt für das herkömmliche Verständnis eine große Schwierigkeit: „Die Ansichten der Vertragsparteien werden im Allgemeinen sogar entgegengesetzt gewesen sein. Zudem sind solche Äußerungen während der Vertragsverhandlungen häufig nur als taktische Züge zu verstehen und geben nicht die eigentliche Absicht der Parteien kund.“380 Die Realität des Verfahrens kommt erst dann in den Blick, wenn man sich von 429 dem stillschweigend vorausgesetzten Modell der Gesetzgebung als einem Fall kooperativen Handelns381 ablöst und diesen Prozess im Rahmen einer Semantik komVgl. dazu MacCallum, ebd., S. 251. Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 248. Grundlegend dazu und zu weiteren: Paulson, S., Attributing Intentions to Collective Bodies, in: Ars Interpretandi, 1998, S. 69 ff. 379 Eine allerdings sehr allgemeine Beschreibung des Gesetzgebungsverfahrens gibt Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 84. 380 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 248 f. 381 Vgl. dazu Habermas, J., Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, in: KJ 1987, S. 1 ff., 15 f., der zunächst konzediert, dass die „Konkurrenz widerstreitender Interessen“ die 377 378

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4 Argumentformen – 43 Historisches und genetisches Argument

petitiven Handelns begreift. Erst dann können die widersprüchlichen Einzeläußerungen als Teile eines kompetitiven Handlungsspiels systematisch verortet und in ihrer Tragweite verstanden werden. Im Rahmen der subjektiven Auslegungslehre hat die sog. Paktentheorie382 der Lösung dieser Aufgabe vorgearbeitet. Wenn man diese Theorie von den impliziten Willens- und Vertragskonstruktionen383 ablöst, bringt sie anstelle der anthropomorph aufgefassten Absichten384 und des personifizierten Gesetzgebers den Vorgang der Gesetzgebung als arbeitsteiligen Prozess385 in den Blick. Dabei werden vor allem die zeitliche Reihenfolge, aber auch rechtliche Gesichtspunkte wie etwa die Mehrheitsregel und der Kontext der Einzeläußerung zur Strukturierung verwendet. Das ermöglicht neben der Zurechnung auch ein Gewichten der als Anknüpfungspunkt dienenden Einzelaussage. An diese Vorarbeiten der Paktentheorie kann die semantische Analyse des Gesetzgebungsverfahrens als eines kompetitiven Handlungsspiels vertiefend anknüpfen.386 Entgegen der objektiven Lehre in ihrer strengen Form ist damit die Möglichkeit genetischer Auslegung dargetan.387 Ihr Stellenwert und ihre Einordnung in den Übertragung seines auf Einverständnis zielenden Argumentationsmodells erschwert, dann aber doch die Notwendigkeit einer solchen Übertragung nahelegt. Auch in der herkömmlichen Vorstellung eines einheitlichen Gesamtwillens und personifizierten Gesetzgebers ist das Modell einer auf die kooperative Herstellung von Gemeinsamkeiten zielenden Handlungszusammenhangs enthalten, welches sowohl den Eigenwert als auch das praktische Gewicht von Differenzen und Konflikten verkennt. 382 Vgl. zur Paktentheorie: Baden, E., Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig, J. (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369 ff., insbes. 378; näher zu den Regeln der genetischen Auslegung auch Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 37 ff.; vgl. zur Paktentheorie noch die Nachweise bei Engisch, K., Einführung in das juristische Denken, München, 1977, S. 249, Fn. 106. 383 Vgl. dazu Baden, E., Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig, J. (Hrsg.), Studien zu eines Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369 ff. 384 Vgl. zu den Warnungen vor anthropomorphen und vereinfachenden Fiktionen: Krüger, U., Der Adressat des Rechtsgesetzes, 1969, S. 14. Ähnlich Noll, P., Gesetzgebungslehre, 1973, S. 15 und Perelman, Ch., Logik und Argumentation, 1979, S. 79. 385 Vgl. dazu Baden, E., Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 60, auch allgemein S. 57 ff. 386 Da der Rechtsetzungsprozess in der Gemeinschaft sehr komplex ist, wird immer wieder an seiner Optimierung gearbeitet. Vgl. dazu beispielsweise Böhm-Amtmann, E., Entstehung, Grundzüge und Entwicklungstendenzen des Konzepts „European Governance“ und die Rolle der EU-Mitgliedstaaten, in: Bohne, E. (Hrsg.), Ansätze zur Kodifikation des Umweltrechts in der Europäischen Union: Die Wasserrahmenrichtlinie und ihre Umsetzung in nationales Recht, 2005, S. 85 ff.; Hennecke, F., Die Wasserrahmenrichtlinie und ihre Umsetzung durch die Bundesländer im Lichte der Grundzüge für eine bessere Rechtsetzung nach dem Konzept „European Governance“, in: ebd., S. 99 ff. 387 Vgl. zur Möglichkeit genetischer Auslegung unter Auseinandersetzung mit Einwänden, die sich aus einem an Gadamer orientierten hermeneutischen Ansatz ableiten lassen: Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 28 ff. Vgl. im übrigen zur Verteidigung der subjektiven Auslegung: Engisch, K., Einführung in das juristische Denken, 1977, S. 247, Fn. 98.

432 Genetische Konkretisierung als Kopplung zur Politik

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Gesamtvorgang der Konkretisierung hängen allerdings von den methodenbezogenen Normen im Umkreis des Rechtsstaatsprinzips ab.

432.3 Der Stellenwert genetischer Konkretisierung in der Rechtsprechung des EuGH Die Analyse der Rechtsprechung zeigt, dass der Stellenwert genetischer Konkre- 430 tisierung hinter dem von grammatischer und auch systematischer Konkretisierung zurückbleibt, wenn man bei dieser auch die Systematik zweiter Ordnung einbezieht.388 Dabei ist zwischen Primärrecht und Sekundärrecht zu differenzieren.389 Während der Stellenwert der genetischen Konkretisierung im Sekundärrecht sehr groß ist, ist er im Primärrecht viel geringer. Die Ursache dafür liegt in den methodenbezogenen Normen des Primärrechts als Vorgaben für die Arbeit des EuGH. Über Artikel 220 und andere Vorschriften wird das Rechtsstaatsprinzip aus den 431 nationalstaatlichen Traditionen der Mitgliedsländer ins Gemeinschaftsrecht aufgenommen. Dieser Grundsatz enthält auch Aussagen über die Publikation von Gesetzen. Danach müssen diese für die rechtsunterworfenen Bürger allgemein oder jedenfalls leicht zugänglich sein. Schon diese rechtsstaatliche Regel macht das Heranziehen nichtveröffentlichter Gesetzesmaterialien fragwürdig. Entscheidend ist für den Gerichtshof aber das rechtliche Gehör im Verfahren. Diese zentrale Figur von Rechtsstaatsprinzip und Methodenkultur verbietet es, in die Konkretisierung von Gesetzen Materialien einzubeziehen, die den anderen Teilnehmern des Verfahrens nicht zugänglich sind: „Nur wenn sichergestellt ist, dass die Streitparteien im Verfahren vor dem EuGH nicht überraschend mit unveröffentlichten und daher unbekannten Absichtsbekundungen der Mitgliedstaaten, die diese anlässlich des Vertragsschlusses geäußert hatten, konfrontiert werden, kann eine wirksame Angriffs- oder Verteidigungsstrategie durch die Prozessbevollmächtigen der Parteien entworfen werden.“390 Auch der EuGH selbst verlangt vor allem im Hinblick auf Verfahren, bei denen auch natürliche Personen klagebefugt sind, dass nur veröffentlichte und damit jedermann zugängliche Materialien zugrunde gelegt werden.391 Auf dieser Grundlage wird klar, warum der EuGH beim Konkretisieren des Primärrechts kaum die genetische Auslegung verwendet. Denn in diesem Bereich gibt es entweder keine Materialien oder sie sind lediglich als Interviews mit einzelnen Beteiligten in wissenschaftlichen Quellen einsehbar. Im Sekundärrecht dage388 Vgl. zu den einzelnen genetischen Argumenten des Gerichtshofs Buerstedde, W., Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 54 ff. 389 Zur historischen und genetischen Auslegung im europäischen Privatrecht vgl. Riesenhuber, K., Die Auslegung, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 186 ff., 198 ff. 390 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 249 f. 391 EuGH Slg. 1976, S. 1639 ff., 1665 (Milac).

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument

gen sind die Materialien allgemein zugänglich, und dort zieht der EuGH in einem ganz anderen Ausmaß auch die Materialien heran. Das zeigt insgesamt, dass der Stellenwert der genetischen Auslegung nicht etwa vom Wesen des Gemeinschaftsrechts bestimmt wird, sondern von den methodenbezogenen Normen, die das Primärrecht für den EuGH enthält. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass im Primärrecht die genetische Interpretation einen ganz geringen, im Sekundärrecht dagegen einen Stellenwert aufweist, wie er für jede sonstige Rechtsordnung charakteristisch ist.

44 Teleologisches Argument 432

Häufig wird vor dem teleologischen Argument gewarnt. Es könne dazu führen, Gesetze voluntaristisch umzubiegen und in ihr Gegenteil zu verkehren.392 Um diese Risiken näher zu bestimmen, sollte man die Struktur des teleologischen Arguments beachten: Zunächst muss der Zweck begründet werden. Im Anschluss daran wird eine bestimmte Lesart ausgezeichnet, weil sie am besten geeignet sei, einen Zustand zu erreichen, der dem Zweck dient. Zu der normativen Komponente tritt also auch eine empirische. Dabei stellen sich die Fragen, welche oben bereits im Rahmen der Normbereichsanalyse angesprochen wurden. In normativer Hinsicht ergeben sich dann Probleme, wenn der Zweck überhaupt nicht begründet wird oder wenn eine Mehrzahl von Zwecken vorhanden ist. Die Grundschwierigkeit der Teleologie liegt in ihrer großen Dynamik, welche durch den empirischen Faktor der Folgenbetrachtung noch weiter verstärkt wird. Gerade im europäischen Gemeinschaftsrecht hängt die Legitimität teleologischer Argumente davon ab, dass sie das Spannungsverhältnis von Dynamik und geforderter Rechtssicherheit bewältigen.393

441 Die Dynamik des teleologischen Arguments

433

Im ersten Teil dieses Buchs wurde bereits gezeigt, dass der EuGH den Zweck nicht einfach voraussetzt, sondern ihn im Einzelnen begründet. Weiterhin ist festzustellen, dass der Gerichtshof die Notwendigkeit empirischer Sättigung des Zweckarguments anerkennt. Aber die dazu angestellten Folgenbetrachtungen führen wiederum zu einer verstärkten Dynamik. Das Spannungsverhältnis zur geforderten Rechtssicherheit wird durch Sonderformen des teleologischen Arguments wie effet utile und die Regel in dubio pro communitate noch verschärft. Gerade bei einer Mehrzahl von Zwecken stellt sich dann die Frage, wie die Kompetenzen des EuGH von denen anderer Organe abzugrenzen sind. Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl. 1999, S. 256, Rn. 685. Vgl. zum teleologischen Argument Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005, S. 153 ff. 392 393

441 Die Dynamik

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441.1 Folgenbetrachtung als empirischer Teil Der Gerichtshof betrachtet bei der teleologischen Auslegung die praktischen 434 Folgen von Gemeinschaftsbestimmungen im Weg einer Prognoseentscheidung.394 Die Literatur395 bezeichnet dies als „effet nécessaire“. Dabei geht es in erster Linie um die Frage, ob ein Auslegungsergebnis im Hinblick auf seine Auswirkungen praktikabel sein kann, oder ob es in ein argumentum ad absurdum mündet. Im Urteil „AETR“396 beispielsweise verwendete der EuGH diese Überlegung. Er leitete die Begründung einer ausschließlichen Kompetenz der Gemeinschaft folgendermaßen ab: „Die Inkraftsetzung der Verordnung Nr. 543 / 69 des Rates über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr ( . . . ) hat jedoch zwangsläufig die Zuständigkeit der Gemeinschaft für alle Abkommen mit dritten Staaten nach sich gezogen, welche das in der Verordnung geregelte Sachgebiet betreffen.“397 Ferner verweist der Gerichtshof auf Artikel 3 der Verordnung, der dieses Ergebnis ausdrücklich anerkenne. Daneben begründete er die behauptete Zwangsläufigkeit mit dem Hinweis auf die den Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 EWGV (heute Art. 10 EG) obliegende Pflicht zu Gemeinschaftstreue und solidarischer Vorgehensweise auf dem Sachgebiet der Verkehrspolitik, welche Gegenstand der gemeinsamen Politik sei. Die Aushandlung des AETR wäre gefährdet gewesen, wären in dem damaligen Verhandlungsstadium die beteiligten Staaten einzeln involviert worden, eine Gefahr, die das Handeln der Kommission im Interesse der Gemeinschaft unabdingbar gemacht habe.398 Auch im „Naturkautschuk“-Gutachten 399 argumentiert der EuGH mit der Fol- 435 genbetrachtung. Es ging dabei vor allem um die Reichweite der Handelspolitik nach dem EG-Vertrag: „Zu berücksichtigen ist auch der zwischen verschiedenen Rohstoffübereinkommen bestehende Zusammenhang, der in der Resolution von Nairobi hervorgehoben worden ist. Da eine steigende Zahl wirtschaftlich besonders wichtiger Erzeugnisse betroffen ist, liegt es auf der Hand, daß eine zusammenhängende Handelspolitik nicht mehr betrieben werden könnte, wenn die Gemeinschaft nicht mehr in der Lage wäre, ihre Zuständigkeit auch im Hinblick auf eine Kategorie von Übereinkommen wahrzunehmen, die sich neben den herkömmlichen Handelsübereinkommen zu einem Hauptfaktor in der Regelung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen entwickeln. Nach dem von der UNCTAD zur Erarbeitung derartiger Regelungen gegebenen Anstoß könnte eine gemeinsame Handelspolitik nicht mehr sinnvoll betrieben werden, wenn die Gemeinschaft nicht auch über die verfeinerten, zur Entwicklung des internationalen Handels eingeführten Hilfsmittel verfügen könnte. Artikel 113 EWG-Vertrag (Anm.: heute 394 395 396 397 398 399

Vgl. z. B. EuGH 167 / 00 Rn. 35; EuGH 253 / 00 Rn. 24 ff. EuG T-141 / 99 Rn. 97 ff. Ebd., S. 212 f. mit weiteren Nachweisen, Fn. 653. EuGH Slg. 1971, S. 263 ff. (Kommission / Rat). Ebd., S. 276, Rn. 23 / 29. Ebd., S. 281, Rn. 81 / 90. EuGH Slg. 1979, S. 2871 ff. (Gutachten 1 / 78), s. u. b. aa.

21 Müller / Christensen

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument

Art. 133 EG) darf somit nicht in einer Weise ausgelegt werden, die dazu führen würde, die gemeinsame Handelspolitik auf den Gebrauch der Instrumente zu beschränken, deren Wirkung ausschließlich auf die herkömmlichen Aspekte des Außenhandels gerichtet ist, und weiterentwickelte Mechanismen, wie sie das beabsichtigte Übereinkommen bereitstellt, auszuschließen. Eine so verstandene ,Handelspolitik‘ wäre dazu verurteilt, ähnlich bedeutungslos zu werden.“400 436

Außerdem verwendete der Gerichtshof die hier untersuchte Argumentation im Urteil „Fish Producers“.401 Dem Verfahren lag ein Streit über Art. 13 I der Grundverordnung (EWG) Nr. 3796 / 81 des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Fischereierzeugnisse und Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 2202 / 82 zur Festlegung der Grundregeln für die Gewährung eines finanziellen Ausgleichs für bestimmte Fischereierzeugnisse zugrunde. Der EuGH stellte fest, dass die Normtexte zwar nicht ausdrücklich Ausgleichsregelungen vorsahen, aber es „sich doch aus den mit der Einführung derartiger Normen verfolgten Zielen (ergebe), daß die Nichteinhaltung dieser Normen ( . . . ) die Nichtgewährung des finanziellen Ausgleichs zur Folge haben muß.“ In diesen Entscheidungen des Gerichtshofes war Ausgangspunkt jeweils die Ziel- und Zweckrichtung der auszulegenden Bestimmungen bzw. der Gesetzeswerke, die es zu verwirklichen galt. Der EuGH suchte dabei stets den größtmöglichen Entfaltungsgrad der Wirkungen einer Norm zu erreichen.

437

In engem Zusammenhang hiermit steht die Argumentation des EuGH mit der Effektivität und Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft.402 Das zeigt sich an einem weiteren Beispiel für die Folgenbetrachtung.403 Im Urteil „Walt Wilhelm“404 nimmt der Gerichtshof zu der Frage Stellung, ob die mitgliedstaatlichen Kartellbehörden Verbotsvorschriften des nationalen Kartellrechts auch noch dann anwenden dürfen, wenn der Sachverhalt bereits Gegenstand eines Verfahrens der Kommission nach Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 / 62 ist. Der EuGH entschied, dass ein Kartell grundsätzlich Gegenstand zweier paralleler Verfahren sein könne.405 Allerdings sei diese gleichzeitige Anwendung des nationalen Rechts mit Rücksicht auf die allgemeine Zielsetzung des Vertrags nur statthaft, „soweit sie die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts und die volle Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergangenen Maßnahmen auf dem Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigt. Eine andere Lösung wäre mit den Zielen des Vertrages und mit dem Ebd., S. 2912 f., Rn. 43 – 44 des Gutachtens. EuGH Slg. 1990, S. 3803 ff., 3835, Rn. 12 (The Queen gegen Fish Producers and Grimsby Fish). 402 Ipsen, H. P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 280, versteht diese zutreffend als gleichbedeutend mit dem „effet utile“, Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 227 f., bestreitet dies. 403 Ebd., S. 212. 404 EuGH Slg. 1969, S. 1 ff., 13 f. (Wilhelm / Bundeskartellamt). 405 Ebd., S. 13, Rn. 3 des Urteils. 400 401

441 Die Dynamik

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Wesen seiner Wettbewerbsvorschriften unvereinbar. ( . . . ) Der EWG-Vertrag hat eine eigenständige Rechtsordnung geschaffen, die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Es würde dem Wesen dieser Rechtsordnung widersprechen, wenn es den Mitgliedstaaten gestattet wäre, Maßnahmen zu ergreifen oder aufrecht zu erhalten, welche die praktische Wirksamkeit des Vertrages beeinträchtigen könnten. Die Geltungskraft des Vertrages und der zu seiner Anwendung getroffenen Maßnahmen darf nicht von Staat zu Staat verschieden sein; andernfalls würde die Wirkung der Gemeinschaftsordnung beeinträchtigt und die Verwirklichung der Vertragsziele gefährdet werden. Normenkonflikte zwischen Gemeinschafts- und innerstaatlichem Kartellrecht sind daher nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts zu lösen.“406 Das Urteil ist ein Beispiel für die Verbindung von Effektivität und Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft mit der Folgenbetrachtung. Diese Art der Verschränkung zeigt sich auch bei genauer Lektüre des „Naturkautschuk“-Gutachtens. Besonders deutlich wird das, wenn man das Urteil „Walt Wilhelm“ mit einer eindeutig dieser Argumentation (Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft) zuzuordnenden Rechtsprechung vergleicht, nämlich der Judikatur zum Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts. Vor allem im Urteil „Costa / ENEL“ kommt zum Ausdruck, dass der Gerichtshof den Vorrang des Europarechts als unerlässlich für dessen Funktionieren als eine eigenständige Rechtsordnung ansieht.407 Nur wenn das Gemeinschaftsrecht das nationale Recht verdrängen kann, ist seine für die Arbeitsfähigkeit der Gemeinschaft erforderliche einheitliche Geltung in allen Mitgliedstaaten zu erreichen.408 Aus demselben Grund kann später erlassenes mitgliedstaatliches Recht auch nicht nach dem „lex posterior“-Grundsatz Gemeinschaftsrecht verdrängen.409 Die Beharrlichkeit, mit der das Gericht den Vorrang des Europarechts im Verlauf seiner Rechtsprechung immer wieder betont hat, belegt die große Bedeutung, die der EuGH der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft beimisst.410 Auch in „Walt Wilhelm“ war der Vorrang von Gemeinschaftsrecht das primäre Argument des Gerichtshofs. Die Interpretation im Dienst der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemein- 438 schaft wurde vom EuGH unter anderem auch zur Beantwortung der Frage angewandt, ob Art. 113 EWGV (heute Art. 133 EG) der Gemeinschaft eine ausschließliche Zuständigkeit verleiht. In dem Gutachten „Lokale Kosten“411 führte er zum Problem ausschließlicher Kompetenzen im Bereich der Handelspolitik aus: „Diese Ebd., S. 13 f., Rn. 4 – 6 des Urteils. EuGH Slg. 1964, S. 1251 ff., 1269 (Costa / ENEL). 408 Everling, U., Rechtsanwendungs- und Auslegungsgrundsätze, in: Zölle, Verbrauchersteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988, S. 51 ff., 64. 409 EuGH Slg. 1964, S. 1251 ff., 1270 (Costa / ENEL). 410 Kommission der EG, Dreißig Jahre Gemeinschaftsrecht, 1983, S. 211; vgl. auch Everling, U., Rechtsanwendungs- und Auslegungsgrundsätze, in: Zölle, Verbrauchersteuern, europäisches Marktordnungsrecht, 1988, S. 51 ff., 62 f. 411 EuGH Slg. 1975, S. 1355 ff. (Gutachten 1 / 75). 406 407

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument

Politik ist in Art. 113 auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes hin und zum Schutz des Gesamtinteresses der Gemeinschaft konzipiert; die Sonderinteressen der Mitgliedstaaten müssen sich innerhalb des Rahmens, den das Gesamtinteresse setzt, einander anpassen. Mit dieser Konzeption wäre es ganz offensichtlich unvereinbar, wenn sich die Mitgliedstaaten unter Berufung auf eine parallele Zuständigkeit einen Freiraum vorbehalten könnten, um in den Außenbeziehungen die gesonderte Befriedigung ihrer Einzelinteressen zu suchen, auf die Gefahr hin, einen wirksamen Schutz der Gesamtinteressen der Gemeinschaft zu hintertreiben. Die Anerkennung einer solchen Zuständigkeit würde bedeuten, dass die Mitgliedstaaten in den Beziehungen mit den Drittländern eine den Absichten der Gemeinschaft zuwiderlaufende Haltung einnehmen könnten; damit würde das institutionelle Zusammenspiel verfälscht, das Vertrauensverhältnis innerhalb der Gemeinschaft erschüttert und die Gemeinschaft gehindert, ihre Aufgabe zum Schutz des gemeinsamen Interesses zu erfüllen.“412 Auch hier zeigt sich in der Argumentation des Gerichtshofs wieder der (tatsächliche und rechtliche) Prognoseaspekt.413

441.2 „Effet utile“ einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts 439

Eine besondere Ausprägung erfährt die teleologische Interpretation in der Rechtsprechung des EuGH in Form des Grundsatzes der (größtmöglichen) praktischen Wirksamkeit414, der „nützlichen Wirkung“415 des Gemeinschaftsrechts, des „effet Ebd., S. 1364. Hinzuweisen ist ferner auf EuGH Slg. 1980, S. 2917 ff., 2935 f. (SA Roquette Frères / Französische Zollverwaltung), wo der Gerichtshof unter Rückgriff auf das System des Textes nach einem wahrscheinlichen, vernünftigen Ziel der Bestimmungen sucht. 414 Vgl. EuGH Rs. 63 / 00 Rn. 24; EuGH Rs. 92 / 00 Rn. 52; EuG Rs. 340 / 99 Rn. 42.; EuGH Rs. 334 / 00 Rn. 19 ff. Die praktische Wirksamkeit wird manchmal auch als praktische Tragweite formuliert, vgl. dazu EuGH, Urteil vom 19. 10. 2004 – C-200 / 02, Beck RS 2004, 78097 – Zhu-Chen; EuGH EWS 2004, S. 369 ff. – Puser: Hier bestätigt der EuGH seine bisherige Rechtsprechung zu Art. 12 und 18 im Zusammenhang nationaler Vorschriften über die Zwangsvollstreckung, indem er betont, dass Art. 12 und 18 einer Bestimmung des nationalen Zwangsvollstreckungsrechts entgegenstehen, die im Fall der Pfändung eines Teils der Rente für die Fixierung des pfändbaren Betrags die zu entrichtende Steuer nur für im Inland wohnende, nicht dagegen für im Gemeinschaftsausland wohnhafte Personen berücksichtigt. Außerdem EuGH, in: EWS 2004, S. 477 ff. – Kommission / Belgien: Hier ging es um die Fortführung der Gravier-Rechtsprechung. Der EuGH hebt hervor, dass ausländische Diplome grundsätzlich anzuerkennen sind, ohne dass die Möglichkeit einer Rechtfertigung für die Differenzierung grundsätzlich ausgeschlossen wäre. Vgl. dazu auch EuGH, in: EuZW 2004, S. 573 ff. = EWS 2004, S. 383 ff. – Gaumain-Cerri: Der EuGH stellt fest, dass die deutsche Pflegeversicherung von einer gemeinschaftsrechtlichen Verordnung erfasst werde und dass es mit Art. 17 unvereinbar sei, eine besondere Leistung der Pflegeversicherung deshalb zu verweigern, weil die betreffende dritte Person, welche Leistungen erbringt, nicht im Gebiet des zuständigen Mitgliedsstaates wohnt. Zur Bedeutung und zum Einsatz ökonomischer Theorie im Rahmen dieses Arguments vgl. Kirchner, Ch., Die ökonomische Theorie, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 24 ff., 29 ff. 412 413

441 Die Dynamik

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utile“-Prinzips. Nach diesem ist die zu deutende Vorschrift so auszulegen, dass ihr Zweck nach Möglichkeit vollständig erreicht wird, ihre „Nutzwirkung“ sich also ganz entfalten kann.416 Der Gerichtshof greift, mit anderen Worten, auf das Mittel zurück, welches die Vertragsziele am besten fördert.417 Erstmals taucht der „Effektivitätsgrundsatz“ in der Judikatur des EuGH 1963 auf.418 Dabei wendet das Gericht dieses Prinzip in der Regel neben anderen Elementen der Teleologie an; innerhalb der teleologischen Konkretisierung ist somit derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, bei der sich die Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Norm am besten entfaltet und bei der ihr praktischer Nutzen am größten ist.419 Der Grundsatz wird in den Urteilen in den Rs. „Antonissen“420 und „Kalfe- 440 lis“421 weiter entwickelt. In „Antonissen“ führte der Gerichtshof zu der Frage, ob Art. 48 EWGV (jetzt Art. 39 EG) einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, derzufolge ein EG-Ausländer von einem Mitgliedstaat aus dessen Staatsgebiet ausgewiesen werden kann, sofern er innerhalb von sechs Monaten nach der Einreise in dieses Gebiet keine Arbeit aufgenommen hat, das Folgende aus: „Die praktische Wirksamkeit des Art. 48 ist gewahrt, wenn der Zeitraum, den das Gemeinschaftsrecht oder in Ermangelung einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung das Recht eines Mitgliedstaates dem Betroffenen einräumt, um im jeweiligen Mitgliedstaat 415 Beutler, B. / Bieber, R. / Pipkorn, J. / Streil, J., Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, 4. Aufl. 1993, S. 247; Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I (Hrsg.), Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-43; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 219. 416 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I (Hrsg.), Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-43. 417 Wegener, B., in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EGVertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 220, Rn. 14 m. w. N. 418 EuGH, Slg. 1963, S. 287 ff., 318, (Bundesrepublik / Kommission). 419 Vgl. Kutscher. H., Thesen zu den Methoden der Aulegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I (Hrsg.): Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-43; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 220 f.; vgl. auch Buck C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 208: „( . . . ) Darüber hinaus dient der Grundsatz des ,effet utile‘ dem Gerichtshof dazu, in der Konstellation von mehreren denkbaren Auslegungsalternativen derjenigen den Vorzug zu geben, welcher letztendlich ein praktischer Nutzen zukommt, d. h. bei welcher Variante sich die praktische Wirkung der Regelung entfalten kann. ( . . . ) Der Gerichtshof und die europarechtliche Wissenschaft haben jedoch nicht bei diesem Sinnverständnis Halt gemacht, sondern den Anwendungsbereich des Effektivitätsgrundsatzes dahingehend weiterentwickelt, dass er diejenige Auslegung vorzuziehen erlaubt, die die Verwirklichung der Vertragsziele am besten fördert, bei der ihr praktischer Nutzen am größten ist und sich ihre Wirkung am stärksten entfaltet“ (vgl. seine Nachweise in der Fußnote 643). 420 EuGH, Slg. 1991, S. I-745 ff. (Antonissen). 421 EuGH, Slg. 1988, S. 5565 ff. (Kalfelis / Schröder u. a.)

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument

von Stellenangeboten, die seiner beruflichen Qualifikation entsprechen, Kenntnis nehmen und sich gegebenenfalls bewerben zu können, angemessen ist.“422 Dieses Ergebnis der Interpretation trägt sowohl den Erfordernissen des Bewerbungsrechts (Art. 39 Abs. 3 lit. a) und b) EG) als auch des an eine Beschäftigung gebundenen Aufenthaltsrechts (Art. 39 Abs. 3 lit. c) EG) Rechnung und erlaubt eine harmonische Konkretisierung der Gesamtvorschrift, ohne den Teilregelungen Sinn und Wirksamkeit zu nehmen.423 In der Rechtssache „Kalfelis“ stritten die Parteien um die Auslegung des Begriffs „unerlaubte Handlung“ in Art. 5 Nr. 3 des EWG-Gerichtsstandsübereinkommens von 1968. Der Gerichtshof zog für diese Entscheidung seine Judikatur zum Begriff „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ in Art. 5 Nr. 1424 heran und stellte fest: „Infolgedessen ist auch der Begriff ,unerlaubte Handlung‘ als autonomer Begriff anzusehen, bei dessen Auslegung im Rahmen der Anwendung des Übereinkommens in erster Linie die Systematik und die Zielsetzungen des Übereinkommens berücksichtigt werden müssen, damit dessen volle Wirksamkeit sichergestellt wird.“425 Das letztgenannte Urteil verdeutlicht das europarechtliche Spezifikum des „effet utile“-Grundsatzes als eine positive Verpflichtung für den Auslegenden, welche dem Völkerrecht insoweit fremd ist.426 Ferner zeigt das Urteil, dass dieses spezifisch gemeinschaftsrechtliche Element vor allem auch beim Herausbilden autonomer Begriffe eine Rolle spielt. Ebenso sei auf die hier schon dargestellte Rolle des Effektivitätsgrundsatzes im Rahmen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts bezüglich der Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht in innerstaatlichen Verfahren verwiesen. 441

Der Grundsatz der Effektivität ist in der Systematik der Verträge begründet. Diese wollten keine Gemeinschaft schaffen, die nur Programmsätze und sonstige unverbindliche Maßnahmen erlassen kann. Der dynamische Charakter war bereits in dem Ziel der schrittweisen Verwirklichung des Binnenmarktes und in den Normen des Primärrechts, die entsprechende Übergangsfristen zum Abbau von Handelshemmnissen vorsahen, angelegt.427 Die Gemeinschaft entwickelt sich von einer bloßen Wirtschaftsgemeinschaft zu einem Europa der Bürger. Die Systematik des Gemeinschaftsrechts ist darauf ausgerichtet, von den übertragenen Kompetenzen in möglichst effizienter Weise Gebrauch zu machen.428 Ebd., S. 5583, Rn. 11 und S. 5585, Rn. 16. Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 210. Kritisch zum „effet utile“ und zur Entscheidung „Antonissen“, Buerstedde, W., Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 75 ff. 424 EuGH, Slg. 1976, S. 1473 ff., 1485, Rn. 12 ff. (Tessili / Dunlop); EuGH, Slg. 1988, S. 1539 ff., 1554, Rn. 9 f. (Arcado / Haviland). 425 Ebd., S. 1555, Rn. 16 des Urteils; vgl. weitere Nachweise bei Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 210, Fn. 649. 426 Vgl. Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 211. 427 Zur Dynamik des europäischen Vertragsrechts vgl. Riesenhuber, K., Die Auslegung, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 186 ff., 203 f. 422 423

441 Die Dynamik

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441.3 Gibt es eine Auslegung in dubio pro communitate? In der Wissenschaft wird darüber hinaus die Aufnahme einer Vermutungsregel 442 „in dubio pro communitate“ in den Methodenkanon befürwortet.429 Es ist die Frage zu stellen, ob eine so weit gehende Vermutung in der Praxis des EuGH wirklich nachweisbar ist. Dazu sind die zentralen Entscheidungen, bei denen teleologische Überlegungen tragend sind, genauer zu betrachten. Für die Theorie der Direktwirkung und vor allem für die unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Sinn des Art. 249 Abs. 3 EG und von Entscheidungen im Sinn des Art. 249 Abs. 4 EG waren Zwecküberlegungen entscheidend. Bereits in „van Gend & Loos“430 stellte der Gerichtshof fest, dass Ziel des Vertrags die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes ist, dessen Wirken die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft. Daraus und auf Grund des Charakters der Gemeinschaft als einer Institution sui generis ergibt sich nach Ansicht des Gerichtshofs, dass keine subjektiv-rechtliche Formulierung für die Entstehung von Rechten des Einzelnen erforderlich ist, sondern dass eine eindeutige Verpflichtung genügt, die der Vertrag Einzelnen, den Mitgliedstaaten und Organen der Gemeinschaft auferlegt. Das Anwenden dieser Formel auf Richtlinien war fraglich, weil sie nach dem 443 Wortlaut des Art. 249 Abs. 3 EG allein hinsichtlich des zu erreichenden Ziels und nur für die Mitgliedstaaten verbindlich sind. Ebenso war die unmittelbare Anwendbarkeit von Entscheidungen nach Art. 249 Abs. 4 EG insoweit problematisch, als sie nach seinem Wortlaut nur für diejenigen verbindlich sind, die sie bezeichnen. In der Rechtssache „Grad“431 entschied der EuGH, dass aus der Tatsache, dass Verordnungen nach Art. 189 EGV (jetzt Art. 249 EG) unmittelbar gelten und daher direkte Wirkung haben, nicht folgt, dass andere in diesem Artikel genannte Kategorien niemals ähnliche Wirkungen erzeugen können. Die Bestimmung in Art. 189 EGV (heute Art. 249 Abs. 4 EG), wonach Entscheidungen in all ihren Teilen für den Adressaten verbindlich sind, wirft die Frage auf, ob sich auf die durch die Entscheidung begründete Verpflichtung nur die Gemeinschaftsorgane gegenüber dem Adressaten berufen können oder ob ein solches Recht gegebenenfalls allen zusteht, die ein Interesse am Erfüllen dieser Pflicht Siehe zum Ganzen nachfolgend bereits EuGH in „van Gend & Loos“. Ipsen, H.P. / Nicolaysen, G., Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: NJW 1964, S. 339 ff., 342; Ipsen, H. P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 132; Zuleeg, M., Die Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: EuR 1969, S. 97 ff., 106; Oppermann, Th., Deutsche und europäische Verfassungsrechtsprechung, in: Der Staat 6 (1967), S. 445 ff., 465; Bleckmann, A., Die Freiheiten des Gemeinsamen Marktes als Grundrechte, in: Bieber, R. / Bleckmann, A. u. a., Gedächtnisschrift für C. Sasse, 1981, S. 665 ff., 667: „In dubio pro libertate“; Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des EuGH, in: ders., Studien zum europäischen Gemeinschaftsrecht, 1986, S. 1 ff., 10. 430 EuGH, Slg. 1963, S. 1 ff., 24 (van Gend & Loos / Niederländische Finanzverwaltung). 431 EuGH, Slg. 1970, S. 825, Rn. 5 (Grad gegen Finanzamt Traunstein). 428 429

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument

haben. Mit der durch Art. 189 EGV (Art. 249 Abs. 4 EG) den Entscheidungen zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, dass sich betroffene Personen auf die durch sie auferlegten Pflichten berufen können: „Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden einen Mitgliedstaat oder alle Mitgliedstaaten durch die Entscheidung zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung (,effet utile‘) einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Angehörigen dieses Staates sich vor Gericht nicht hierauf berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten. Zwar können die Wirkungen einer Entscheidung andere sein als diejenigen einer Verordnung; dieser Unterschied schließt jedoch nicht aus, daß das Ergebnis, nämlich das Recht des einzelnen, sich auf die Maßnahme vor Gericht zu berufen, gegebenenfalls das gleiche sein kann wie bei einer unmittelbar anwendbaren Verordnungsvorschrift.“432 Ebenso erfordere Art. 177 EGV (Art. 234 EG), dass sich die Einzelnen vor den mitgliedstaatlichen Gerichten auf die genannten Handlungen berufen könnten. Es ist allerdings in jedem Fall gesondert zu prüfen, ob die Bestimmung, um die es geht, nach Rechtsnatur, Systematik und Wortlaut geeignet ist, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen dem Adressaten der Handlung und Dritten zu begründen.433 Somit wird ein kumulatives Anwenden verschiedener Konkretisierungselemente vorausgesetzt. Der Grundsatz in dubio pro communitate spielt bei dieser Entscheidung keine Rolle. 444

Mit annähernd der gleichen Begründung hat der Gerichtshof die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien bejaht.434 Die praktische Wirksamkeit der Bestimmung sei vor allem dann gefährdet, wenn sich der Einzelne auf eine Richtlinienvorschrift beruft, um feststellen zu lassen, ob die zuständigen nationalen Stellen bei deren Umsetzung innerhalb der von ihr gezogenen Ermessensgrenzen geblieben sind.435 Auch hier wird der Grundsatz in dubio pro communitate weder implizit noch explizit verwendet. Die Argumentation des EuGH ist nach Grammatik und Systematik der Vorschriften und der darauf aufbauenden in erster Linie objektiv-teleologischen Konkretisierung nicht zu beanstanden.

445

Als weiterer wichtiger Bereich des Effektivitätsgrundsatzes bzw. des Grundsatzes in dubio pro communitate sind die ungeschriebenen Kompetenzen (implied powers) anzusehen. Die Gemeinschaft besitzt keine Kompetenz-Kompetenz; im Grundsatz müssen sich die Ermächtigungsgrundlagen zum Handeln, insbesondere zur Rechtsetzung, aus dem Vertrag ergeben (Art. 5 I EG – Prinzip der begrenzten Rs. „Grad“, Rn. 6. Ebd. 434 EuGH, Slg. 1974, S. 1337 ff., 1348, Rn. 12 (van Duyn gegen Home Office), und EuGH Slg. 1977, S. 113 ff., 126, Rn. 20 / 29 (Nederlandse Ondernemingen / Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen). 435 Ebd. 432 433

441 Die Dynamik

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Einzelermächtigung). Zumindest aufgeweicht wird dieser Ansatz durch die allgemeinen Ermächtigungen in Art. 94, 95 EG, vor allem durch die Abrundungskompetenz des Art. 308 EG. Die Zuständigkeiten für das Tätigwerden der Gemeinschaft müssen sich nach der Praxis des Gerichtshofs nicht unbedingt aus geschriebenem Recht, sie können sich auch aus dem notwendigen Sachzusammenhang ergeben („implied powers“-Lehre). Bereits in der Rechtssache „Fédération Charbonnière de Belgique“ – also vor seiner eindeutigen Stellungnahme zur Rechtsqualität der Gemeinschaft in „van Gend & Loos“ – unterstrich der EuGH: „Der Gerichtshof hält, ohne sich dabei in eine extensive Auslegung zu begeben, die Anwendung einer sowohl im Völkerrecht als auch im innerstaatlichen Recht allgemein anerkannten Auslegungsregel für zulässig, wonach die Vorschriften eines völkerrechtlichen Vertrages oder Gesetzes zugleich diejenigen Vorschriften beinhalten, bei deren Fehlen sie sinnlos wären oder nicht in vernünftiger Weise zur Anwendung gelangen könnten.“436 Der EuGH erkannte dementsprechend an, dass sich Rechtssetzungsbefugnisse der Hohen Behörde auch stillschweigend aus den Bestimmungen des EGKS-Vertrags oder aus dessen Gesamtzusammenhang herleiten lassen.437 Hinsichtlich der Kompetenzen für völkerrechtliches Handeln hat der EuGH ausgeführt, dass der Gemeinschaft eine Vertragsschließungskompetenz auch dann zusteht, wenn zwar nur eine geschriebene Innenkompetenz vorhanden ist, die entsprechende Außenkompetenz im Interesse des Ziels aber notwendigerweise damit verbunden sein muss; dass also ein Parallelismus zwischen der Innen- und der Außenkompetenz der Gemeinschaft besteht.438 Der enge Zusammenhang der „implied powers-Lehre“ mit dem „effet utile“- 446 Grundsatz wird in dem „Camera Care“439 – Beschluss deutlich.440 Die Klägerin, die in Großbritannien ein Geschäft für die Reparatur, die Vermietung und den Verkauf fotografischer Berufsausrüstungen betrieb, hatte die Kommission ersucht, einstweilige Maßnahmen gegen einen Lieferanten wegen Zuwiderhandlung gegen die Art. 85 und 86 EGV zu erlassen. Die Verordnung (EWG) Nr. 17 / 62, auf die sich die Klägerin berief, ermächtigte die Kommission jedoch nicht ausdrücklich dazu, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache einstweilige Maßnahmen zu treffen.441 Aus diesem Grund lehnte die Kommission den Antrag der Klägerin ab; 436 EuGH, Slg. 1955 / 56, S. 197 ff., 312 (Fédération Charbonnière de Belgique / Hohe Behörde der EGKS). 437 EuGH, Slg. 1960, S. 681 ff., 708 (Italien / Hohe Behörde der EGKS). 438 EuGH, Slg. 1971, S. 263 ff., 274, Rn. 15 / 19 (Kommission gegen Rat); Schweitzer, M. / Hummer, W., Europarecht, 1993, 1995, S. 178 f.; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 225, bemerkt zutreffend, dass der Gerichtshof hier systematische und teleologische Methode nebeneinander anwendet. 439 EuGH, Slg. 1980, S. 119 ff. (Camera Care / Kommission). 440 Zuleeg, M., Die Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: EuR 1969, S. 97 ff., 107; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 225. 441 EuGH, Slg. 1980, S. 119 ff., 129, Rn. 12 (Camera Care / Kommission).

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument

diese erhob daraufhin eine Untätigkeitsklage zum EuGH nach Art. 175 EGV (jetzt Art. 232 EG) und verband diese mit einem Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen nach Art. 186 EGV (jetzt Art. 243 EG). Der Gerichtshof hob hervor: auch wenn es zutrifft, dass einstweilige Maßnahmen von Seiten der Kommission unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts sowie der Wahrung der legitimen Interessen der Mitgliedstaaten oder der beteiligten Unternehmen unter bestimmten Umständen notwendig erscheinen, bleibt dennoch darüber hinaus zu prüfen, ob die Bestimmungen der Verordnung es gestatten, diesem rechtlichen Bedürfnis Rechnung zu tragen.442 Gemäß Art. 3 der Verordnung kann die Kommission zum Beenden einer von ihr festgestellten Zuwiderhandlung neben „Empfehlungen zur Abstellung der Zuwiderhandlung“ (Art. 3 Abs. 3) auch gemäß Art. 3 I „Entscheidungen“ im Sinn des Art. 249 Abs. 4 EG erlassen, die für die Adressaten verbindlich sind. Hinsichtlich dieser Befugnis kommt es nach Ansicht des Gerichtshofs darauf an, „daß sie auf die wirksamste und den Umständen des Einzelfalls am ehesten angemessene Weise ausgeübt werden kann.“443 „Unter diesem Gesichtspunkt muß die Kommission im Rahmen der ihr im EG-Vertrag und in der Verordnung Nr. 17 verliehenen Kontrollbefugnis in Wettbewerbsangelegenheiten auch sichernde Maßnahmen ergreifen können, sofern diese als unerläßlich erscheinen, um zu vermeiden, daß die Ausübung der in Artikel 3 vorgesehenen Entscheidungsbefugnis durch das Verhalten gewisser Unternehmen unwirksam oder sogar illusorisch gemacht wird. Die Zuständigkeiten der Kommission gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 umfassen demnach die Befugnis, diejenigen einstweiligen Maßnahmen zu ergreifen, die unerläßlich sind, um ihr die wirksame Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen und insbesondere die praktische Wirksamkeit der Entscheidungen zu gewährleisten, durch die die Unternehmen gegebenenfalls verpflichtet werden, die festgestellten Zuwiderhandlungen abzustellen.“444 Auch hier ist von dem Grundsatz in dubio pro communitate nicht die Rede. Nur der effet utile wird herangezogen. Ausdruck der teleologischen Methode ist ferner, dass der EuGH den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten tendenziell weit445, die geschriebenen Ausnahmen demgegenüber restriktiv auslegt.446 Freilich wurde dieses Prinzip im Lauf der Ebd., S. 130, Rn. 15 des Beschlusses. Ebd., S. 131, Rn. 17 des Beschlusses. 444 Ebd., S. 131, Rn. 18 des Beschlusses. 445 So zum Bespiel im Rahmen des Art. 28 EG durch die „Dassonville“-Formel und die weitgehende Anerkennung, dass die Grundfreiheiten nicht allein spezielle Diskriminierungsverbote, sondern allgemeine Beschränkungsverbote sind (vgl. Streinz, R., Europarecht, 4. Aufl. 1999, Rn. 671 ff.) Besonders durch die Grundrechtscharta und ihre Horizontalvorschrift in Art. II 11 Abs. 1 Satz 1 VVE wird die Diskussion um die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten neu entfacht. Vgl. dazu Brosius-Gersdorf, F., Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005, S. 40 ff. 446 Warenverkehr: EuGH, Slg. 1962, S. 867 ff., 881, (Kommission / Luxemburg und Belgien); EuGH, Slg. 1977, S. 5 ff., 15, Rn. 12 / 15 (Bauhuis / Niederlande); EuGH, Slg. 1985, 442 443

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Jahre in der Praxis aufgeweicht, das heißt der Schutzbereich eingeengt447, die Möglichkeit von Ausnahmen erweitert.448 Daneben legt der Gerichtshof Rechtsschutzbestimmungen der Verträge extensiv aus, was er aus den Zielsetzungen der Vorschriften über die Klagearten herleitet.449 Auch bei diesen Fallgruppen wird der Grundsatz in dubio pro communitate vom EuGH nicht verwendet. Gegen die Aufnahme der Vermutungsregel „in dubio pro communitate“ in den 447 Methodenkanon spricht, dass der EuGH seine Rolle im Verfassungskonzept der Gemeinschaft missverstehen würde, wenn er sich zu einer fortlaufenden, auf weitestgehende Ausdehnung der Kompetenzen der Gemeinschaftsorgane Bedacht nehmenden Tätigkeit verpflichtet sähe.450 Es käme zu einer Störung des Kompetenzgefüges sowohl zwischen den Gemeinschaftsorganen untereinander als auch in ihrer Gesamtheit im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. Eine derartige Vermutungsregel ist auch überflüssig451, weil das Gemeinschaftsrecht anhand der bereits anerkannten Methoden ausgelegt werden kann. Eine solche Vorgehensweise erzielt sachgerechte und vernünftige Ergebnisse, ohne – mit dem Vorurteil einer Vermutungsregel belastet – die beteiligten Interessen allzu einseitig zu gewichten. Vor allem die Praktikabilitäts- und Effektivitätserwägungen des Gerichtshofs ermöglichen ein ausgewogenes Vorgehen. Dafür bedarf es keiner zusätzlichen Interpretationsmethode. Diese würde nur ein Ergebnis umschreiben, das schon anderweitig begründet wurde.

S. 207 ff., 245, Rn. 26 (Piraiki-Patraiki / Kommission); EuGH, Slg. 1984, S. 2027 ff., 2033, Rn. 9 (Kommission / Griechenland); Niederlassungsfreiheit: EuGH, Slg. 1974, S. 631 ff., 653 – 655, Rn. 39 / 41 – 48 / 50 (Reyners / Belgien); Dienstleistungsfreiheit: EuGH, Slg. 1991, S. I-2925 ff., 2960, Rn. 24 (ERT); Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH, Slg. 1975, S. 1219 ff., 1231, Rn. 26 / 28 (Rutili / Minister des Inneren); EuGH, Slg. 1974, S. 1337 ff., 1350, Rn. 18 / 19 (van Duyn / Home Office); EuGH, Slg. 1974, S. 153 ff., 162, Rn. 4 (Sotgiu / BRD). 447 Hier vor allem die jedenfalls auf Art. 28 EG anwendbare „Keck“-Rechtsprechung, vgl. Streinz, R., Europarecht, 4. Aufl. 1999, Rn. 697 ff. 448 So die Anerkennung der Rechtfertigung durch „zwingende Erfordernisse“ im Sinn der „Cassis de Dijon“-Rechtsprechung, deren Anwendbarkeit auf alle Grundfreiheiten der Gerichtshof in dem Urteil Rs. C-55 / 94, EuGH Urt. v. 30. 11. 1995, EuGH, Slg. 1995, S. I-4165 ff. (Reinhard Gebhard gegen Consiglio dell’ordine degli avvocati e procuratori di Milano), anerkannt hat. 449 Vgl. EuGH, Slg. 1960, S. 1163 ff., 1189 (Humblet / Belgischen Staat); EuGH, Slg. 1963, S. 211 ff., 237 (Plaumann / Kommission); EuGH, Slg. 1973, S. 1055 ff., 1070, Rn. 4 und 6 (Merkur / Kommission); EuGH, Slg. 1982, S. 749 ff., 763, Rn. 8 (Alpha Steel / Kommission); EuGH, Slg. 1982, S. 3799 ff., 3808, Rn. 9 ff. (Groupement des Agences de Voyages / Kommission); ausführlich Potaci, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 102 ff.; vgl. auch Dumon, F., Die Rechtsprechung des Gerichtshofes; Kritische Prüfung der Auslegungsmethoden, Teil III, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. III-132. 450 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 220. 451 Ebd., S. 220 f.

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument 442 Legitimität teleologischer Auslegung

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Hinsichtlich der Legitimität des teleologischen Arguments stellt sich die Frage, ob es sich bei ihm um kontrollierbares methodisches Vorgehen oder um eine nur „politische“ Wertung handelt. Diese wäre von der Kompetenzübertragung der Mitgliedstaaten nicht mehr gedeckt. Eine Argumentation mit dem Ziel der Bestimmung oder aus dem Vertragszweck ist nur dann legitim, wenn sich das Ziel anhand des Primärrechts (und ggf. des unter Kompetenzgesichtspunkten rechtmäßigen Sekundärrechts) nachweisen lässt. Bei bloßen Behauptungen des „Zwecks“ einer Vorschrift kann – vor allem im Sinn der Maastricht-Judikatur des Bundesverfassungsgerichts – nicht mehr von einem rechtmäßigen Vorgehen gesprochen werden. Diese Vorgabe hält der EuGH, wie gezeigt, im Wesentlichen ein. Ein weiteres Legitimitätsproblem stellt sich, wenn die Teleologie mit den dynamischen Vorgaben des Primärrechts verbunden wird. Auch hier ist zu fragen, ob der EuGH im Einzelfall als politischer Motor der Gemeinschaft auftritt, oder ob er die Grenzen seiner Kompetenzen einhält. 442.1 Begrenzung der Kompetenzen des Gerichtshofs durch Kompetenzen anderer Organe der Gemeinschaft

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Eine Grenze für den EuGH kann sich aus der Überschneidung mit Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers ergeben.452 Es stellt sich dann die Frage, wie weit er durch Lückenschließung ungeschriebenes Gemeinschaftsrecht erzeugt bzw. erzeugen darf, ohne die Gestaltungsfreiheit dieser Organe zu verletzen. Fraglich ist besonders, inwieweit es dem Gerichtshof zusteht, Ermessensentscheidungen zu überprüfen. In ständiger Rechtsprechung erkennt das Gericht das Prinzip der Gewaltentrennung innerhalb des organisatorischen Systems der EG unter dem Begriff des „institutionellen Gleichgewichts“ an.453 Danach haben „die Verträge ein System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft geschaffen ( . . . ), das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der der Gemeinschaft übertragenen Aufgaben zuweist. Es obliegt dem Gerichtshof, dieses institutionelle Gleichgewicht zu erhalten, indem er die volle Anwendung der Vertragsbestimmungen über die Zuständigkeitsverteilung sichert.“454 Die Wahrung des institutionellen 452 Dänzer-Vanotti, W., Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I, 1995, S. 205 ff., 206. 453 EuGH, Slg. 1990, S. I-2041 ff., 2072, Rn. 21 f. (Parlament / Rat); EuGH, Slg. 1994, S. I-625 ff., 657 f., Rn. 11 f. (Parlament / Rat); Pernice, I., Art. 164, Rn. 36 in: Grabitz, E. / Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 102a – 248 EGV (Maastrichter Fassung), Stand Oktober 1999. 454 EuGH, Slg. 1994, S. I-625 ff., 657 f., Rn. 11 – 12 (Parlament / Rat).

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Gleichgewichts gebietet es, dass jedes Organ – also auch der EuGH – seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen ausübt.455 Zum Teil456 sieht man die Ratio des institutionellen Gleichgewichts im Unter- 450 schied zum Gewaltenteilungsprinzip nicht im Schutz der Einzelnen gegenüber einer übermächtigen Staatsgewalt, sondern im Herstellen einer funktionsfähigen supranationalen Organisation.457 Dann liegen die Grenzen der dynamischen Auslegungsbefugnis des Gerichtshofs darin, dass er wegen der Schwerfälligkeit der politischen Institutionen bzw. Organe Integrationsfunktionen wahrnehmen muss. Das ist richtig, aber nicht ausreichend. Die Struktur der Organe der Gemeinschaft und das institutionelle Zusammenspiel dienen vor allem bei der Rechtsetzung noch einem weiteren wichtigen Anliegen der Vertragsparteien. Sie sollen neben dem Herstellen einer funktionsfähigen, mit Souveränitätsrechten ausgestatteten Organisation zugleich die (übrig gebliebene) Souveränität der Mitgliedstaaten wahren, indem z. B. weiterhin der Rat das zentrale Rechtsetzungsorgan ist und in sensiblen Politikbereichen immer noch Einstimmigkeitserfordernisse herrschen. Daher kann eine dynamische Interpretation im Sinn eines Erweiterns der Kompetenzen der Gemeinschaft, aber auch einer Kompetenzerweiterung der dem direkten Einfluss der Mitgliedstaaten entzogenen Organe wie dem Gerichtshof nicht schon immer dann gerechtfertigt sein, wenn es für eine „ever closer union“ opportun erscheint. Insoweit dient die Gewaltenteilung nicht nur der Vergemeinschaftung, sondern eben auch dem Schutz von Individuen und dem Schutz der Kompetenzen der Mitgliedstaaten.458 Es ist daher folgerichtig, wenn der Gerichtshof, ausgehend vom institutionellen 451 Gleichgewicht, seine Kompetenz aus Art. 220 EG in zwei Richtungen beschränkt: Er sieht als seine Auslegungsgrenze sowohl die politische Gestaltungsfreiheit des Gemeinschaftsgesetzgebers 459 als auch das Ermessen der Verwaltung (vgl. Art. 229 EuGH, Slg. 1990, S. I-2041 ff., 2072, Rn. 22 (Parlament / Rat). Ebd., S. 409 f. 457 Er verweist dazu auf Neßler, V., Richterrecht wandelt EG-Richtlinien: Die EuGHRechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien als Problem des europäischen Richterrechts, in: RIW 1993, S. 206 ff., 211. 458 Zu Kompetenzproblemen im Bereich des Steuerrechts vgl. Barthelmann, R., Der gestaltende Steuergesetzgeber im Konflikt mit dem Sachgesetzgeber, 2006, S. 165 ff. 459 Beispiele: EuGH, Slg. 1978, S. 1365 ff. (Defrenne / Sabena): keine Ausdehnung des Wortlauts des Art. 119 EGV (Art. 141 EG) dahingehend, dass in einen Bereich eingegriffen wird, dessen Beurteilung aufgrund der Art. 117 und 118 EGV (Art. 136, 137 EG) den darin genannten Stellen (Mitgliedstaaten und Kommission) vorbehalten ist; EuGH, Slg. 1972, S. 231 ff., 242 (Interfood): der Gerichtshof qualifizierte eine Regelung in einer Agrarmarktverordnung als „in praktischer Hinsicht unbefriedigend“, sah es aber nicht als seine Aufgabe an, für Abhilfe zu sorgen und im Weg der Auslegung den Inhalt der Vorschrift zu ändern, denn dafür sei allein der Gemeinschaftsgesetzgeber zuständig; ähnlich in EuGH, Slg. 1977, S. 1753 ff., 1771 (Ruckdeschel / Hauptzollamt Hamburg-St. Annen); EuGH, Slg. 1980, S. 1887 ff., 1900 (Express Dairy Foods / Intervention board for agriculture produce): hier richtete der Gerichtshof sogar einen eindringlichen Appell an den Gemeinschaftsgesetzgeber unter gleichzeitiger Unterbreitung konkreter Vorschläge. 455 456

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EG) an.460 Hingewiesen sei dafür etwa auf das für das Wettbewerbsrecht leitende Urteil in der Rechtssache „ICI“, in der das Gericht das Fehlen einer Verjährungsregelung für die Verhängung von Geldbußen durch die Kommission beanstandete, das Festlegen einer Verjährungsfrist und die Einzelheiten ihrer Anwendung aber dem Gemeinschaftsgesetzgeber überließ.461 452

Ein wichtiges Beispiel für einen gemeinschaftsinternen Kompetenzkonflikt bietet die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Drittwirkung der Grundfreiheiten462 (horizontale Direktwirkung). Besonders das Urteil „Angonese“463 ist dabei hervorzuheben. Bereits in den Urteilen „Walrave und Koch“ und „Bosman“ hatte der EuGH anerkannt, dass das in Art. 39 EG (in „Walrave“ auch das in Art. 49 EG) enthaltene Diskriminierungsverbot nicht allein gegenüber staatlichem Handeln, sondern für alle Maßnahmen des kollektiven Arbeits- und Dienstvertragsrechts gilt.464 In „Bosman“465 stellte er diese Ausweitung des Anwendungsfelds der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für den Aspekt des allgemeinen Beschränkungsverbots in Art. 39 EG sicher. In „Angonese“ schließlich dehnte der EuGH den Schutzbereich des Diskriminierungsverbots noch weiter aus. Er entschied, dass dieses uneingeschränkt zwischen Privaten gilt.466 Hauptargumente des Gerichts waren dabei der Wortlaut der Vorschrift, der eine unmittelbare Anwendbarkeit 460 Beispiele: EuGH, Slg. 1983, S. 2913 ff., 2935 f. (Fediol / Kommission); EuGH, Slg. 1985, S. 849 ff., 866 (Timex / Rat und Kommission); EuGH, Slg. 1975, S. 533 ff., 547, (CNTA / Kommission); EuGH, Slg. 1979, S. 69 ff., 81 (Racke / Hauptzollamt Mainz); s. auch EuGH, Slg. 1980, S. 2917 ff., 2937, Rn. 13, 14 (SA Roquette Frères / Französisches Zollamt): „Der Gerichtshof erkennt an, daß die Berechnung ( . . . ) schwierige technische Probleme aufwirft. Es obliegt der Kommission, diese Probleme unter Wahrung einer gewissen Kohärenz und eines Mindestmaßes an Transparenz innerhalb des von ihr in diesem Bereich zu errichtenden Währungsausgleichssystems zu lösen. Hierzu muß sie über einen weiten Ermessensspielraum ( . . . ) verfügen. ( . . . ) Die Ermessensbefugnis, die der Kommission zuzuerkennen ist, hat jedoch Grenzen.“; zum Ganzen auch Neßler, V., Richterrrecht wandelt EG-Richtlinien: Die EuGH-Rechtsprechung zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien als Problem des europäischen Richterrechts, in: RIW 1993, S. 206 ff., 212 f. 461 EuGH, Slg. 1972, S. 619 ff., 656, Rn. 46 / 49 (ICI / Kommission). 462 Grundlegend dazu Preedy, K., Die Bindung Privater an die europäischen Grundfreiheiten, 2005, insbesondere das 4. Kap. 463 EuGH, Rs. C-281 / 98 (Angonese / Cassa di Risparmio di Bolzano), EuGRZ 2000, S. 306 ff.; EuZW 2000, S. 468 ff. 464 Dazu und zur Drittwirkung von Art. 12 EG s. Nachweise bei Streinz, R. / Leible, J., Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, in: EuZW 2000, S. 459 ff., 459, Fn. 2; zur Niederlassungsfreiheit Fn. 4; zu Art. 141 EG S. 460 ff. 465 Ebd., S. 467. 466 EuGH, Rs. C-281 / 98 (Angonese / Cassa di Risparmio di Bolzano), EuZW 2000, S. 468 ff., 470, Rn. 36 des Urteils. Vgl. zur Kritik an der im deutschen öffentlichen Recht üblichen Terminologie der unmittelbaren Drittwirkung Köndgen, J., Die Rechtsquellen des europäischen Privatrechts, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 65 ff., 69 – 72. Vgl. auch Eilmansberger, Th., Zur Direktwirkung von Richtlinien gegenüber Privaten – Ist nach CIA Unilever Ingmar Dähmpaehl, Ferraira und Heiniger jetzt alles anders?, in: JBl. 2004, S. 283 ff., 364 ff.

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nicht ausschließe, der „effet utile“ und der erforderliche Gleichlauf mit Art. 12, 141 EG.467 Hier wird es allerdings kritisch. Zwar ist eine Bindung der Handlungen Privater an die Ziele der Gemeinschaft und vor allem an die Grundfreiheiten sinnvoll. Aber die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen zum erforderlichen Ausgleich zwischen der Privatautonomie und den Grundfreiheiten am besten geeignet sind, darf nicht der Judikative, sondern muss der Legislative überlassen bleiben. Ein weiteres wichtiges Beispiel für die Begrenzung der Kompetenz des EuGH durch die Zuständigkeiten anderer Gemeinschaftsorgane liefert der Fall, dass ein auszulegender Normtext mehrere Ziele erkennen lässt, die miteinander in Konflikt liegen. Aus der Sicht des EuGH kommt dem Gemeinschaftsorgan, das einen solchen Konflikt zu lösen hat, ein weites Ermessen zu, das der gerichtlichen Prüfung ganz überwiegend entzogen ist:468 Die Entscheidung des fraglichen Organs sei nur dann zu beanstanden, wenn ein offensichtlicher Rechtsverstoß sich geradezu aufdrängt.469 Damit respektiert der EuGH bei dieser Fallgruppe die Kompetenz der anderen Gemeinschaftsorgane sehr weitgehend.

442.2 Begrenzung durch Kompetenzen der Mitgliedstaaten Der EuGH wird häufig als „Quasi-Gesetzgeber“ oder „Motor der Integration“ 453 bezeichnet. Kritisch wird von ihm gefordert, die extensive Auslegung der Gemeinschaftskompetenzen zu überdenken und die Zuständigkeiten der Gemeinschaft einerseits und die der Mitgliedstaaten andererseits stärker zu respektieren.470 Ein wichtiges Feld der Kritik ist die Behandlung des Subsidiaritätsprinzips durch den EuGH. Dieses Prinzip ist in Art. 5 Abs. 2 EG geregelt und setzt voraus, dass keine ausschließliche Kompetenz der Gemeinschaft anzunehmen ist. Kumulativ und kausal verknüpft, enthält es zwei Faktoren: Negatives Merkmal ist der Umstand, dass das fragliche Ziel auf mitgliedschaftlicher Ebene nicht ausreichend realisiert werden kann. Positives Merkmal ist der Umstand, dass auf gemeinschaftlicher Ebene die Zielerreichung besser möglich wäre. Die Überprüfbarkeit dieser Anforderung war zunächst umstritten,471 ist aber inzwischen anerkannt.472 Die ers467 Streinz, R. / Leible, J., Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, in: EuZW 2000, S. 459 ff., 460 ff. 468 Vgl. EuGH, Slg. 1980, S. 3393 ff., 3421 (Maizena / Rat). 469 Vgl. EuGH, Slg. 1980, S. 907 ff., 1005, 1007 (Ferriera Valsabbia / Kommission). 470 Vgl. Streinz, R., Europarecht, 4. Aufl. 1999, Rn. 494. Vgl. als Problembeispiel Krausnick, D., Das deutsche Rundfunksystem unter dem Einfluss des Europarechts, 2005, S. 98 ff. Grundlegend zur Abgrenzung Streinz, R., Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten, in: Hofmann, R. / Zimmermann, A. (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2005, S. 71 ff. 471 Blanke, H. J., Der Unionsvertrag von Maastricht – Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, in: DÖV 1993, S. 421 ff.; Kritik von Grimm, D., in: FAZ vom 17. 09. 1992, S. 38.

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te ausdrückliche Geltendmachung des Subsidiaritätsgrundsatzes erfolgte im Rahmen des Verfahrens zur Tabakrichtlinie473 durch die deutsche Bundesregierung. Der EuGH musste sich allerdings in seiner Begründung damit nicht auseinandersetzen, da er die Richtlinie wegen fehlender Kompetenz bereits für nichtig erklärte. Das erste Urteil, in dem sich der EuGH zu Art. 5 II EG äußerte, betraf die RS. C-84 / 94 um die Arbeitszeitrichtlinie 93 / 104 / EG.474 Obwohl das Vereinigte Königreich den Subsidiaritätsgrundsatz nicht explizit rügte, nahm der EuGH dazu Stellung: „Art. 118a beauftragt den Rat, Mindestvorschriften zu erlassen, um durch Harmonisierung zur Hebung des Niveaus der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer beizutragen, die gemäß Art. 118a I in erster Linie den Mitgliedstaaten obliegt. Sobald der Rat also festgestellt hat, dass das bestehende Niveau ( . . . ) harmonisiert werden (muss), setzt die Erreichung dieses Zieles durch das Setzen von Mindestvorschriften unvermeidlich ein gemeinschaftsweites Vorgehen voraus, ( . . . )“.475 Damit hat der EuGH aus dem Harmonisierungsauftrag direkt auf die Notwendigkeit eines gemeinschaftlichen Vorgehens geschlossen. Das Vorgehen wurde in der Literatur zunächst als „höchst problematisch“476 bezeichnet, weil der Gerichtshof damit die Subsidiarität aus dem Vertrag hinausinterpretiert. Ob dies tatsächlich der Position des EuGH gerecht wird, kann sich erst in Fällen erweisen, deren Schwerpunkt im Problem der Subsidiarität liegt. Da ab einem Inkrafttreten des Europäischen Verfassungsvertrags ein Klagerecht für nationale Parlamente im Hinblick auf die Subsidiarität vorgesehen ist, wird der Gerichtshof seine bisherige Position noch zu präzisieren haben. Anstatt einer textbaustein-artigen Begründung wird dann ein Ausschöpfen des systematischen Arguments nötig werden. 454

Ein für die Kompetenzgrenzen wichtiger Bereich ist die Praxis des EuGH zum mitgliedstaatlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts. Der Gerichtshof muss die Befugnisse der Mitgliedstaaten beachten, soweit es um den wirksamen Vollzug des 472 Vgl. dazu Lambers, H. J., Subsidiarität in Europa – Allheilmittel oder juristische Lehrformel?, in: EuR 1993, S. 229 ff., 239 ff.; Pipkorn, J., Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag über die Europäische Union – rechtliche Bedeutung und gerichtliche Überprüfbarkeit, in: EuZW 1992, S. 697 ff., 97; Schmidhuber, P. M. / Hitzler, G., Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWG-Vertrag – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer föderalen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: NvWZ 1992, S. 720 ff., 724. Vgl. auch BVerfGE 89, S. 155 ff., = NJW 1993, S. 3047 ff. = NVwZ 1994, S. 53, Leitsatz = EuR 1993, S. 294. Vgl. im Übrigen Borries, V., Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union, in: EuR 1994, S. 263 ff., 282. 473 RS. C-376 / 98, NJW 2000, S. 3701 ff. 474 Vgl. EuGH, NZA 1997, S. 23 ff. = EuZW 1996, S. 751 ff., Rn. 46 ff. = NJW 1997, S. 1228, Leitsatz. 475 EuGH, NZA 1997, S. 23 ff. = EuZW 1996, S. 751 ff., Rn. 47 = NJW 1997, S. 1228, Leitsatz. 476 Vgl. Schima, B., Die Beurteilung des Subsidiaritätsprinzips durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, in: Österreichische Juristenzeitung 1997, S. 761 ff., 767; Calliess, Ch. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auflage, Neuwied / Kriftel 2002, Art. 5, Rn. 20.

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Gemeinschaftsrechts durch deren Behörden geht. Dabei hat er in ständiger Judikatur festgestellt, dass sich mangels gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben Verwaltungsverfahren und Verwaltungshandeln grundsätzlich nach nationalem Recht richten.477 Bemerkenswert ist dabei, dass der Gerichtshof als vorrangige gemeinschaftsrechtliche Regelung hier nur eindeutige Vorgaben des Sekundärrechts ansieht. Er hat weder eine extensive Auslegung solcher Bestimmungen vorgenommen, noch eine von ihm zu schließende Lücke behauptet, sondern den Mitgliedstaaten bzw. den innerstaatlichen Behörden allein die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität als zu beachtende Prinzipien auferlegt.478 Der Kern der „Kompetenzüberschreitungskritik“ am EuGH richtet sich gegen 455 seine ausweitende Interpretation der Verbandskompetenzen der Gemeinschaft.479 Das BVerfG hat den Gedanken der inhärenten Zuständigkeiten der Gemeinschaft („implied powers“) und die „großzügige Handhabung“ des Art. 235 EGV (heute Art. 308 EG) im Sinn einer „Vertragsabrundungskompetenz“ kritisiert.480 Dabei ist die praktische Bedeutung der „implied powers“ (der Lehre von der Verbandszuständigkeit der Gemeinschaft, abgesehen von der Begründung der Außenkompetenzen der EG) eher gering, denn gerade mit Art. 308 EG steht ein Instrument zur Verfügung, erkannte Lücken im Vertrag zu schließen.481 Da diese Entwicklung im Verantwortungsbereich des Rates als des Gemeinschaftsgesetzgebers liegt, bleibt der Gerichtshof auf eine Missbrauchskontrolle beschränkt.482 Daraus ergibt sich auch, dass die große Mehrzahl der Urteile zu Art. 308 EG nicht die Frage behandelt, ob der Rat durch die Anwendung dieses Artikels die Gemeinschaftskompetenzen überdehnt hat, sondern jene, ob er mit Art. 308 EG die richtige Rechtsgrundlage gewählt hatte.483 Denn Art. 308 EG ist nach seinem Wortlaut Siehe oben. Vgl. Streinz, R., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, 1995, S. 1491 ff., 1500 f.; Beispiele oben bei der gemeinschaftskonformen Auslegung nationalen Rechts und bei Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 414 f. 479 Odersky, W., in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, 1995, S. 1001 ff., 1008; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 415. 480 BVerfGE 89, S. 155 ff., 210. 481 Oppermann, Th., Europarecht, 2. Auflage 1999, Rn. 440; Streinz, R., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, 1995, S. 1491 ff., 1503. 482 Vgl. Dorn, D.W., Art 235 EWGV – Prinzipien der Auslegung. Die Generalermächtigung zur Rechtsetzung im Verfassungssystem der Gemeinschaften, 1985, S. 131 ff.; Streinz, R., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, S. 1491 ff., 1503. 483 Streinz, R., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, 1995, S. 1491 ff., 1503. 477 478

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gegenüber anderen Kompetenznormen, einschließlich der „implied powers“, subsidiär.484 Diese Frage hat wegen der Beteiligungsmöglichkeiten des Parlaments und der unterschiedlichen Mehrheitserfordernisse für die Beschlussfassung im Rat große praktische Bedeutung. Zudem hat Art. 308 EG durch das Ausweiten der Gemeinschaftskompetenzen in der Einheitlichen Europäischen Akte und den Vertrag von Maastricht an Bedeutung verloren.485 456

Beliebte Beispiele für die „Kompetenzüberschreitungskritik“ sind das Urteil „Gravier“ und das „Erasmus“-Urteil.486 Dort behauptet der EuGH auf der Grundlage des früheren Art. 128 EWGV (heute Art. 151 EG) eine weitreichende Zuständigkeit der Gemeinschaft zum Erlass von Rechtsakten auf dem Gebiet der Bildungspolitik. Gerade eine Kompetenzausweitung in der Kultur- und Bildungspolitik wird zu Recht als problematisch487 empfunden, da hier der Vertrag damals praktisch keine, heute nur sehr begrenzte Befugnisse der Gemeinschaft unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften vorsieht.488

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Im „Erasmus“-Urteil ging es in erster Linie darum, ob Art. 128 EWGV als Ermächtigungsgrundlage für den Ratsbeschluss 87 / 327 / EWG über ein gemeinschaftliches Aktionsprogramm zur Förderung der Mobilität von Hochschulstudenten (Erasmus)489 in Betracht kommt. Nach der alten Fassung dieser Vorschrift konnte der Rat in Bezug auf die Berufsausbildung allgemeine Grundsätze zur Durchführung einer gemeinsamen Politik aufstellen, die zu einer harmonischen Entwicklung sowohl der einzelnen Volkswirtschaften als auch des Gemeinsamen Marktes beitragen. Die Kommission verwendete sie als Rechtsgrundlage für den Erlass praktischer Maßnahmen zum Durchführen der gemeinsamen Berufsbildungspolitik. Der EuGH weist darauf hin, der Umstand, dass in Art. 128 EWGV die Durchführung einer gemeinsamen Berufsbildungspolitik vorgesehen ist, stehe „jeder Auslegung dieser Vorschrift entgegen, durch die der Gemeinschaft die zur 484 Ständige Rechtsprechung des EuGH seit, EuGH Slg. 1964, S. 3 ff., 29 (Internationale Crediet- en Handelsvereniging „Rotterdam“ u. a. / Minister für Landwirtschaft und Fischerei in Den Haag). 485 Streinz, R., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, 1995, S. 1491 ff., 1503. 486 EuGH, Slg. 1989, S. 1425 ff., 1452 (Kommission / Rat); Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 214 f. und Streinz, R., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, S. 1491 ff., 1504, bezeichnen das Urteil ausdrücklich als Erscheinungsform der „dynamischen Auslegung“ bzw. Rechtsprechung des Gerichtshofs. 487 So Streinz, R., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, S. 1491 ff., 1504. 488 Art. 149 Abs. 4 erster Spiegelstrich, Art. 151 V erster Spiegelstrich EG. 489 ABl. (EG) v. 25. 6. 1987, Nr. L 166 / 20 ff.

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wirksamen Verfolgung dieser gemeinsamen Politik erforderlichen Instrumente vorenthalten würden.“490 Sodann zieht der Gerichtshof seine Rechtsprechung zur Sache „Gravier“491 heran, wonach sich die Berufsausbildung auf den gesamten Bildungsbereich erstreckt. Die Kritik an diesem Urteil betrifft weniger das Ergebnis, welches durchaus verschieden eingeschätzt wird,492 als vielmehr die methodisch bedenkliche Begründung. Der EuGH bestimmt den Anwendungsbereich des EG-Vertrags für die Nichtdiskriminierung (Art. 12 EG) von Studenten u. a. durch Heranziehen rechtlich nicht verbindlicher oder im Bereich der EPZ getroffener Entscheidungen des Rates. Nachfolgend qualifiziert er den Beschluss 63 / 266 des Rates betreffend der Aufstellung allgemeiner Grundsätze für die Durchführung einer gemeinsamen Politik der Berufsausbildung vom 2. 4. 1963 als Konkretisierung des Art. 128 EWGV in Form einer bestimmten Konzeption, der gemäß das Durchführen der allgemeinen Prinzipien der gemeinsamen Berufsbildungspolitik den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen im Rahmen einer Zusammenarbeit obliegt.493 Gestützt darauf, führt der Gerichtshof aus: „Eine auf dieser Vorstellung beruhende Auslegung des Artikels 128 führt zur Anerkennung einer Befugnis des Rates, Rechtsakte zu erlassen, die gemeinschaftliche Aktionen auf dem Gebiet der Berufsausbildung vorsehen und den Mitgliedstaaten entsprechende Mitwirkungspflichten auferlegen. Eine solche Auslegung steht im Einklang mit dem Wortlaut des Artikels 128 und gewährleistet auch dessen praktische Wirksamkeit.“494 Dem entsprechend entschied der Gerichtshof im Ergebnis, dass Art. 128 EWGV (allein) die zutreffende Ermächtigungsgrundlage sei. Man hat kritisiert,495 dass dieser Urteilsbegründung die „Bodenhaftung“ im 458 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der Gründungsverträge fehle. Es ergeben sich ferner noch ähnliche Einwände wie gegen die sekundärrechtskonforme Auslegung von primärem Gemeinschaftsrecht.496 Im „Erasmus“-Urteil wird deutlich, dass der Rat zuerst Sekundärrecht in Form des angefochtenen Beschlusses erlassen hat, welches über Primärrecht extensiv ausgelegt wird; und anschließend wird das Primärrecht vom Gerichtshof unter Berufung auf Sekundärrecht sehr weit ausgelegt, um dieses zu weitgehende Sekundärrecht kompetenzmäßig zu rechtfertigen.497 Die subjektiv-teleologische Auslegung spricht gegen diese Möglichkeit. EuGH, Slg. 1989, S. 1425 ff. (Kommission / Rat). EuGH, Slg. 1985, S. 593 ff., 614, Rn. 29 ff. (Gravier gegen Stadt Lüttich); auch dieses Urteil lässt sich als Anwendungsfall der dynamischen Auslegung begreifen. 492 So Streinz, R., Europarecht, 4. Aufl. 1999, Rn. 502 und ders., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, S. 1491 ff., 1504. 493 EuGH, Slg. 1985, S. 593 ff., 609, Rn. 10 (Gravier / Stadt Lüttich). 494 Ebd., S. 609, Rn. 11. 495 Streinz, R., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, S. 1491 ff., 1504. 496 Siehe oben. 490 491

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument

Die Mitgliedstaaten sind für die Schaffung von Primärrecht und damit auch für die Begründung von Kompetenzen der Gemeinschaft zuständig. Sie haben gerade in der Bildungspolitik den Gemeinschaftsorganen nur sehr begrenzte Zuständigkeiten übertragen. Art. 128 sah vor, dass „der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses ( . . . ) in bezug auf die Berufsausbildung allgemeine Grundsätze zur Durchführung einer gemeinsamen Politik auf(stellt), die zu einer harmonischen Entwicklung sowohl der einzelnen Volkswirtschaften als auch des Gemeinsamen Marktes beitragen kann.“ Die Formulierung schließt zwar nicht jegliche Mitwirkungspflichten der Mitgliedstaaten aus. Weil aber die Mitgliedstaaten die Problematik erkannt haben – wie die Tatsache zeigt, dass überhaupt eine Regelung existiert –, der Gemeinschaft aber gerade keine weiteren Kompetenzen übertragen wurden, ist es nicht legitim, Art. 128 EWGV derart erweiternd zu interpretieren. Es widerspricht der entstehungsgeschichtlich begründeten Zielsetzung. 459

Es erscheint möglich, mit der grammatischen Auslegung des Begriffs der Berufsbildungspolitik, der Heranziehung von systematischen Erwägungen und, daraus folgend, einer objektiv-teleologischen Interpretation unter besonderer Berücksichtigung des „effet utile“ zu dem gleichen Ergebnis zu kommen. Ein Ansatz dazu findet sich in den Rn. 23 und 24 des Urteils. Beachtlich hierzu ist auch die Argumentation in Rn. 31 der Begründung: „Wie der Gerichtshof schon im Urteil vom 3. Juli 1974 in der Rechtssache 9 / 74 entschieden hat, gehört die Bildungspolitik zwar als solche nicht zu den Materien, die der Vertrag der Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane unterworfen hat. Daraus folgt aber nicht, dass die Ausübung der der Gemeinschaft übertragenen Befugnisse irgendwie eingeschränkt wäre, wenn sie sich auf Maßnahmen auswirken kann, die zur Durchführung einer Politik von der Art der Bildungspolitik ergriffen worden sind.“ Während aber die objektive Teleologie nur eine Möglichkeit zulässt, ist das genetische Element offensichtlich verletzt. Deswegen spricht eine Gewichtung der Argumente nach der Intensität hier gegen das Ergebnis des Gerichts.

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Die Frage der Kompetenzüberschreitung wird auch aufgeworfen in der Rechtssache C-36 / 02498. Es ging dabei um die Zulässigkeit eines von einer deutschen Behörde erlassenen Verbots, ein Laserspiel zu betreiben; begründet wurde dies u. a. damit, dass ein spielerisches Töten von Menschen gegen die Menschenwürde verstoße. Der EuGH bezieht sich auf den gemeinschaftsrechtlichen Begriff der öffentlichen Ordnung. Dieser Begriff enthalte allerdings einen Spielraum für die Mitgliedstaaten, wenn es eine hinreichend schwere Gefährdung der Grundinteressen 497 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 417; Schweitzer, M., EG-Kompetenzen im Bereich von Kultur und Bildung, in: Merten, D. (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt und Gesundheit, Kultur und Bildung, 1990, S. 147 ff., 183. 498 EuGH, in: NVwZ 2004, S. 1471 ff. = EuZW 2004, S. 753 = EWS 2004, S. 19 ff. – Omega Spielhallen- und Automatenaufstellung.

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der Gesellschaft gebe. Bei einem Menschenwürdeverstoß sei dies anzunehmen, denn in der nationalen Verfassung sei ihr Schutz gewährleistet und sie sei auch Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts. Dabei sei es nicht notwendig, dass die Bestimmung der Menschenwürde in allen Mitgliedstaaten übereinstimmend vorgenommen werde. Die Entscheidung wirft die Frage auf, ob nationale Grundrechte nur dann als berechtigte Interessen zur Einschränkung der Grundfreiheiten funktionieren können, wenn sie gleichzeitig im Gemeinschaftsrecht als Grundrechte anerkannt sind. Dies ist abzulehnen, weil die Formulierung der berechtigten Interessen im Begriff der öffentlichen Ordnung einen Spielraum bildet und gerade in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen soll, so dass die gleichzeitige Anerkennung als Gemeinschaftsgrundrecht nur als zusätzliches Argument akzeptiert werden kann. Hervorzuheben ist, dass der EuGH im sensiblen Bereich der Menschenwürde deutlich anerkennt, dass in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Standards gelten können. Daraus folgt, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung, in dessen Rahmen die Frage nach der Schutzbedürftigkeit der Menschenwürde aufgetaucht ist, für unterschiedliche Beurteilungen durch die Mitgliedstaaten offen bleibt. Das Gericht vermeidet es damit, zum Obergericht für den Grundrechtsschutz im Einzelfall zu werden. Es übt eine gemeinschaftliche Vertretbarkeitskontrolle aus, die der gebotenen Dezentralisierung des Grundrechtsschutzes gerecht wird.499 442.3 Berechtigung der Kompetenzüberschreitungskritik Vor allem die Judikatur des EuGH zu den Verbandskompetenzen der Gemein- 461 schaft ist vom Bundesverfassungsgericht zum Anlass genommen worden, an das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu erinnern und vor einer zu großen Ausdehnung des Effektivitätsgrundsatzes zu warnen.500 Nach Ansicht der Bundesverfassungsrichter zieht der Unionsvertrag mit seinem ausdrücklichen Hinweis auf das Erfordernis der Vertragsänderung (Art. 48 EU) oder einer Vertragserweiterung (Art. 37 EU) die Trennlinie zwischen der Rechtsfortbildung innerhalb der Verträge und einer deren Grenzen sprengenden, vom Vertragsrecht nicht mehr gedeckten Erweiterung der Kompetenz.501 Diesen Maßstab nehme Art. 23 Abs. 1 GG auf, wenn er für Änderungen der vertraglichen Grundlagen der EU und für vergleichbare Vorschriften ein Zustimmungsgesetz fordere. Indem die Gründungsverträge den Gemeinschaften einerseits in umgrenzten Tatbeständen Hoheitsrechte einräumen, andererseits die Vertragsänderung in einem formellen Verfahren regeln, sei diese Unterscheidung auch für die zukünftige Handhabung der Einzelermächtigungen bedeutsam.502 Wenn sich eine dynamische Erweiterung der bestehenden Ver499 Vgl. dazu Schwarze, J., Der Schutz der Grundrechte durch den EuGH, in: NJW 2005, S. 3459 ff., 3461. 500 BVerfGE 89, S. 155 ff., 210. 501 BVerfGE 89, S. 155 ff., 209. 502 BVerfGE 89, S. 155 ff., 209 f.

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument

träge bisher auf eine großzügige Praxis zu Art. 235 EGV (Art. 308 EG) im Sinn einer „Vertragsabrundungskompetenz“, auf die „implied powers“-Lehre und auf die „effet utile“-Auslegung des Gemeinschaftsrechts gestützt habe, so werde in Zukunft bei der Interpretation von Befugnisnormen durch die Organe der Gemeinschaft – also in erster Linie durch den EuGH – zu beachten sein, dass der UnionsVertrag zwischen dem Wahrnehmen einer begrenzt eingeräumten Hoheitsbefugnis und der Vertragsänderung grundsätzlich unterscheide. Seine Auslegung dürfe deshalb im Ergebnis einer Vertragsänderung nicht gleichkommen; eine solche Interpretation von Kompetenznormen würde für Deutschland keine Bindungswirkung entfalten.503 462

Ein wichtiger Prüfstein für die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts war das Urteil des Gerichtshofs zum Tabakwerbeverbot504 durch die „Tabakrichtlinie“. Die Richtlinie 98 / 43 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 06. 07. 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen505 wurde auf der Grundlage von (jetzt) Art. 47 Abs. 2 EG, Art. 55 EG und Art. 95 EG erlassen. Sie erlegt den Mitgliedstaaten faktisch ein totales Werbeverbot für Tabakprodukte auf. Die BRD erhob Nichtigkeitsklage zum EuGH nach Art. 230 EG506 mit der Begründung, Art. 95 EG sei nicht die korrekte Ermächtigungsgrundlage für die Richtlinie, welche außerdem gegen Art. 47 Abs. 2 und 55 EG, gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität, gegen Grundrechte sowie Art. 28 und 253 EG verstoße. Zur Rechtsgrundlage machte die Bundesrepublik in erster Linie geltend, die Richtlinie habe ihren Regelungsschwerpunkt im Bereich Gesundheitsschutz und nicht in der „Binnenmarktvollendung“ im Sinn des Art. 95 EG.

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Art. 129 Abs. 4 erster Spiegelstrich EGV (entspricht heute etwa Art. 152 V EG) schließt jede Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz und zur Förderung der menschlichen Gesundheit aus. Aus dieser Vorschrift folgt aber nicht, dass auf der Grundlage anderer Vertragsbestimmungen erlassene Harmonisierungsmaßnahmen sich nicht auf den Schutz der 503 S. 210 des Urteils. Zur Berechtigung der Formulierung und der Kritik Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 419 f. Dass die Tätigkeiten der Gemeinschaft im Bereich von Bildung und Kultur heute umfangreicher möglich sind als zur Zeit des Erasmus-Urteils und sich dort das Problem als weniger dramatisch darstellt, liegt wegen der Kompetenzerweiterung durch den Maastrichter Vertrag auf der Hand. Dennoch ist der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere die sprachlich scharfe und präzise Formulierung der Problemstellung, durchaus angemessen und auch aus aktuellem Anlass von herausragender Bedeutung. Nicht umsonst ist ein wesentliches Anliegen der Mitgliedstaaten für die im Anschluss an den Vertrag von Nizza stattfindenden Vertragsreformen vor allem die Schaffung eines geschriebenen Kompetenzkatalogs. 504 EuGH Rs. C-376 / 98 (BRD gegen Europäisches Parlament und Rat / „Tabak-Richtlinie“), EuZW 2000, S. 694 ff. 505 ABl. L 213, S. 9. 506 Daneben gab es auch eine Vorlage aus Großbritannien.

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menschlichen Gesundheit auswirken dürfen. Allerdings können andere Artikel des EG-Vertrags nicht als Rechtsgrundlage dafür herangezogen werden, den ausdrücklichen Ausschluss jeglicher Harmonisierung gem. Art. 129 Abs. 4 EGV zu umgehen. Aus der Zusammenschau von Art. 3 I lit. c EG, Art. 14 und Art. 95 EG ergibt sich, dass Maßnahmen nach Art. 95 EG die Voraussetzungen für das Errichten und das Funktionieren des Binnenmarktes verbessern sollen. Diesen Artikel dahin auszulegen, er gebe dem Gemeinschaftsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes, widerspräche nicht nur dem Wortlaut der genannten Bestimmungen, sondern wäre auch mit dem in Art. 5 EG niedergelegten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung unvereinbar. Ein auf der Grundlage von Art. 95 EG erlassener Rechtsakt muss zudem tatsächlich den Zweck haben, die Voraussetzungen für das Errichten und das Funktionieren des Binnenmarktes zu verbessern. Genügten bereits die bloße Feststellung von Unterschieden zwischen den nationalen Vorschriften und eine abstrakte Gefahr von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten oder von daraus möglicherweise entstehenden Wettbewerbsverzerrungen, um die Wahl von Art. 95 EG als Rechtsgrundlage abzustützen, so könnte die gerichtliche Kontrolle der Wahl der Rechtsgrundlage völlig unwirksam werden. Damit wäre der EuGH am Erfüllen der ihm nach Art. 220 EG obliegenden Aufgabe gehindert, die Wahrung des Rechts beim Auslegen und Anwenden des Vertrages zu sichern. So hat der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung, ob Art. 95 EG als Rechtsgrundlage ausreicht, festzustellen, ob mit dem fraglichen Rechtsakt die vom Gemeinschaftsgesetzgeber angeführten Zwecke tatsächlich verfolgt werden. Zwar kann in der Sicht des EuGH Art. 95 EG als Rechtsgrundlage dienen, um der Entstehung neuer Hindernisse für den Handel infolge einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen. Das Entstehen solcher Hindernisse muss jedoch faktisch wahrscheinlich sein und die fragliche Maßnahme muss ihre Vermeidung bezwecken. Die vorstehenden Erwägungen gelten auch für die Interpretation von Art. 47 Abs. 2 und 55 EG. Sind die Voraussetzungen für das Anwenden von Art. 95, 47 Abs. 2, 55 EG gegeben, so steht deren Heranziehen durch den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht entgegen, dass dem Gesundheitsschutz bei den zu treffenden Entscheidungen eine maßgebende Bedeutung zukommt. Daher kann der Gemeinschaftsgesetzgeber die Wahl der genannten Vorschriften 464 als Rechtsgrundlage für die Richtlinie 98 / 43 / EG nicht mit dem Argument rechtfertigen, Hemmnisse für den freien Verkehr von Werbeträgern und für die Dienstleistungsfreiheit müssten beseitigt werden. Zwar entwickelten sich (laut dem EuGH) die nationalen Rechtsvorschriften auf eine zunehmende Beschränkung der Werbung für Tabakerzeugnisse hin. Auch entspreche das der Überzeugung, dass die Werbung den Tabakkonsum spürbar erhöht, wodurch es insgesamt wahrscheinlich werde, dass Hindernisse für den freien Verkehr z. B. von Presseerzeugnissen als Werbeträgern künftig entstehen. Ein auch andere Formen der Tabakwerbung umfassendes nahezu vollständiges Verbot lasse sich damit jedoch nicht rechtfertigen. Auch die Rüge der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen in der Werbebranche oder in der Tabakbranche greife nicht durch, solche müssten „spürbar“ sein, was bei nur entfernten bzw. mittelbaren Auswirkungen nicht der Fall sei.

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4 Argumente – 44 Teleologisches Argument

Der EuGH führt dann aus: „( . . . ) der Erlass einer Richtlinie, die bestimmte Formen der Werbung und des Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen verboten hätte, [wäre] auf der Grundlage von Art. 95 EG zulässig gewesen. Wegen des allgemeinen Charakters des in der Richtlinie normierten Verbotes der Werbung und des Sponsoring für Tabakerzeugnisse liefe jedoch eine teilweise Nichtigerklärung auf eine Änderung ihrer Bestimmungen durch den Gerichtshof hinaus; eine solche Änderung ist dem Gemeinschaftsgesetzgeber vorbehalten. Eine teilweise Nichtigerklärung der Richtlinie kommt daher nicht in Betracht.“ Im Ergebnis hat der Gerichtshof das Heranziehen der richtigen Rechtsgrundlage somit zum Großteil mit Verhältnismäßigkeitserwägungen verneint. Jedenfalls scheint ihn die Kritik im Maastricht-Urteil und von anderer Seite nicht ganz unbeeindruckt gelassen zu haben.507 Seit dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrags ist eine Tendenz zur Einschränkung des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts nur teilweise zu beobachten.508 Die im Rahmen des Vertrags von Nizza nun vollständig eingetretene Verwirklichung des Binnenmarktes wird die hier untersuchte Methode sicherlich nicht überflüssig machen, gerade weil die Zusammenarbeit in den Bereichen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der polizeilichen und justiziellen Koordination in Strafsachen zunimmt (ultra viresKontrolle des EuGH) und weil – auch neben den zu bewältigenden Problemen einer Osterweiterung – die europäische Integration weiter fortschreiten wird.

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Im Ganzen betrachtet, muss man jedenfalls die Kritik der Literatur an der „übergroßen Bedeutung“ der teleologischen Auslegung509 zurückweisen. Das zeigt nicht nur eine Analyse der im Vordergrund der Kritik stehenden Einzelentscheidungen, sondern das zeigt sich gerade bei einer Querschnittsbetrachtung der Alltagsarbeit des EuGH. Eine Inhaltsanalyse der EuGH-Begründungen des Jahrgangs 1999 mündet in die folgende Schlussfolgerung: „Nach dem Ergebnis der vorliegenden Untersuchung finden sich die zur Häufigkeit der Anwendung der teleologischen Auslegung in den Entscheidungen des EuGH vertretenen Ansichten indes nicht bestätigt. So wird, im Unterschied zu der von Buck vertretenen Auffassung, wonach es kaum ein Urteil gibt, in dem nicht teleologisch argumentiert wird, diese Argumentationsform tatsächlich in lediglich 122 der 259 Entscheidungen des Jahrgangs 1999 angewendet. Dies bedeutet, dass die Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 überwiegend keine teleologische Argumentation enthalten. Völlig 507 Siehe zu der Richtlinie und den Folgen des Urteils auch: Schroeder, W., Vom Brüsseler Kampf gegen den Tabakrauch, in: EuZW 2001, S. 489 ff. Dauses, M., „ . . . sed perseverare in errore. . .“, in: EuZW 2001, S. 577; s. auch EuGH, Rs. C-36 / 98, Kompetenz des Rates zum Abschluss des Donauschutzübereinkommens, in: NVwZ 2001, 1389 ff.; EuGH Rs. C-6 / 99, Nationale Kompetenzen beim Inverkehrbringen von Genmais, in: NVwZ 2001, S. 61 ff. 508 So z. B. durch die „Keck“-Rechtsprechung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit. Dagegen ist aber der Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch das Urteil „Angonese“ (Wirkung zwischen Privaten) deutlich ausgedehnt worden. 509 Vgl. dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 199.

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unhaltbar erscheint darüber hinaus die von Bleckmann vertretene Ansicht, wonach der EuGH nicht nur ausnahmsweise, sondern in rund der Hälfte seiner Entscheidungen ausschließlich teleologisch argumentiert. Tatsächlich ist die teleologische Auslegung im Jahrgang 1999 nämlich nur in fünf Entscheidungen des EuGH die häufigste Argumentationsform. Die einzige, oder ausschließliche Argumentationsform ist sie im Jahrgang 1999 in keiner einzigen Entscheidung des EuGH. Insgesamt zeigt sich im Vergleich sogar, dass die teleologische Auslegung – mit deutlichem Abstand – dem Verweis auf frühere Rechtsprechung und der grammatischen Auslegung nachgeordnet ist. So wird die teleologische Auslegung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt 234-mal verwendet. Im Vergleich hierzu finden die Verweise auf frühere Rechtsprechung 1198-mal – und damit fünfmal so häufig – und die grammatische Auslegung 569-mal – und damit immerhin noch mehr als doppelt so häufig – Anwendung.“510

45 Normbereichsargument Die kategoriale Trennung von Recht und Wirklichkeit in der herkömmlichen 467 Lehre hat sich als nicht haltbar erwiesen.511 Die Realitäten kommen auch nicht erst mit der konkreten Rechtsfrage ins Spiel. Vielmehr ist es der konstitutive Sinn von rechtlichen Regelungen, ordnend in die soziale Wirklichkeit einzugreifen, die so zugleich zu einem ihrer Momente wird. „Die amtlichen Wortlaute des geschriebenen und die variierenden Formulierungen des ungeschriebenen (Gewohnheits-) Rechts kommen geradewegs aus dem Leben, sind eine Form bestimmt organisierter Interaktion in entwickelten Gesellschaften; und sie zielen auf dasselbe Leben anordnend zurück.“512 Das heißt, „die zu ordnenden Lebensverhältnisse, der Sachbereich, werden insoweit als Normbereich zum Bestandteil der rechtlichen Regelung, als sie mit ihrer Sachstruktur auf den normativen Gehalt der Vorschrift einwirken.“513

Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, S. 91. Vgl. Müller, F., Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, in: ders., Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, 1977, S. 257 ff., 259 ff. 512 Müller, F., Reine Sprachlehre – Reine Rechtslehre – Aufgaben einer Theorie des Rechts. Notizen zu Kelsen und Wittgenstein, in: ders., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 98 ff., 117. 513 Passavant, O., Norm, Normativismus, in: Achternberg, N. (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1986, 2 / 380. Zur Verwendung und Entwicklung der Kategorie Normbereich im europäischen Kartellrecht vgl. Kuhn, T., Kooperative Aspekte von Gemeinschaftsunternehmen im europäischen Kartellrecht, im Erscheinen 2006. 510 511

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4 Argumentformen – 45 Normbereichsargument 451 Die Verschränkung von Recht und Wirklichkeit in der Normstruktur

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Für die juristische Entscheidungstätigkeit sind „Recht“ und „Wirklichkeit“ keine selbständig gegebenen Größen, die in einem lediglich äußeren Verhältnis zueinander stehen und erst nachträglich miteinander in Beziehung zu setzen wären. „Vielmehr bilden die Anordnung, das Normprogramm, und das dadurch Geordnete wirksame Momente der Normkonkretisierung von nur relativer Selbständigkeit.“514 „Sache“ und „Norm“ sind als Konstituens rechtlicher Normativität zu betrachten.515 Auf den Punkt gebracht, lässt sich Recht daher als ein „sachbestimmtes Ordnungsmodell“516 charakterisieren, „als verbindlicher Entwurf einer Teilordnung für die Rechtsgemeinschaft“. 517 Auch in der Sache hat der Jurist seine Entscheidung anhand des Normtextes zu erarbeiten und zu begründen. Dem Normtext kommt somit in Bezug auf die Realitäten „eine zweifache Verweisungsfunktion“ zu, „indem er den Rechtsarbeiter anweist, auf den Sachverhalt Bezug zu nehmen und ihn normativ (neu) zu gestalten.“518

451.1 Die Rückkopplung des Gesetzes an reale Entwicklungen 469

Das Konzept „Normbereich“519 hat als erstes die Verschränkung von Recht und Wirklichkeit in operationaler Weise für die juristische Arbeit fruchtbar gemacht. In Zeiten radikalen technischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels bewährt es sich als praktisches Instrument nicht nur für die Arbeit der Gerichte, sondern auch des Gesetzgebers. Die Herausforderungen, die sich für die Exekutive durch Internet und neue Medien ergeben, sind immens. Auch hier geht es zunächst darum, die Sachstrukturen aufzunehmen, um das Neue der so genannten Electronic Governance überhaupt erfassen zu können. Nach dem herkömmlichen Verständnis von Verwaltung ist diese auf eine räumlich strukturierte Bevölkerungsgruppe als Wertegemeinschaft bezogen und sind Staaten für Menschen einer geografischen Region zuständig. Diese traditionelle Vorstellung wird jetzt unplausibel. 514 Passavant, O., Norm, Normativismus, in: Achternberg, N. (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1986. 515 Passavant, O., Norm, Normativismus, in: Achternberg, N. (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1986. 516 Vgl. Müller, F., Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, S. 168 ff. 517 Passavant, O., Norm, Normativismus, in: Achternberg, N. (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1986. 518 Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 132. 519 Seit Müller, F., Normstruktur und Normativität, 1966.

451 Die Verschränkung von Recht und Wirklichkeit

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Fast alle Rechtssysteme der Welt beruhen auf geographischer Nähe und dem 470 Wohnort. Regeln und Gesetze haben eine gewisse territoriale Reichweite, und die Menschen in dieser Region sind an sie gebunden. „Aber die Nutzer globaler Datennetze werden geographische Grenzen nicht immer akzeptieren wollen. Solche neuen Regelungssysteme wären ein epochaler Wechsel von der repräsentativen Demokratie hin zu einer Partizipationsgesellschaft. In einem solchen System würden sich die Machtverhältnisse drastisch ändern. Es gibt dann nicht mehr nur eine Regierung, sondern viele virtuelle Interessensgruppen, mit denen sich jede Offizialmacht permanent auseinandersetzen muss.“520 Die durch den Einsatz der Informationstechnologie eröffnete „neue Erreichbarkeit“ ganz allgemein, das heißt, der von den herkömmlichen Begrenzungen von Zeit und Raum weitestgehend befreite Zugang zu Daten und Informationen, bewirkt im Verein mit den entsprechenden interaktiven Kommunikationsmöglichkeiten eine grenzüberschreitende „neue Gestaltbarkeit“521. Zunächst für Politik und Demokratie im engeren Sinn zieht dies einen ,Struktur- 471 wandel‘ der Öffentlichkeit nach sich. Die herkömmlichen Medien verlieren ihr Informationsmonopol. Staatlich einschränkende Eingriffe in den Informationshaushalt, wie Zensur und Kontrolle, haben in der globalisierten Distribution von Inhalten kaum noch eine Chance auf Wirksamkeit.522 Zwar darf das darin liegende Gestaltungspotenzial nicht überschätzt werden, da Entscheidungen und deren Durchsetzung dennoch weitestgehend in den etablierten Institutionen, mit ganz eigenen Zugangsvorkehrungen verbleiben.523 Dennoch ist ein zusätzlicher Legitimationsdruck für Handlungsträger durch eine stärkere Partizipation von Bürgern und Betroffenen über die durch die neuen IKT eröffneten unmittelbaren Kommunikationsformen „wie Televoting, Livechats und Diskussionsforen“ denkbar.524 Politische Prozesse werden so vielleicht transparenter und verfügbarer. Dies betrifft auch das politische Handeln selbst, also die Gestaltung und Regelung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die neuen Information- und Kommunikationstechniken, allen voran das Internet, stellen dabei eine hervorragende Plattform potenziell weitestreichender Öffentlichkeitsarbeit dar.525 Vor allem der Hypertext erlaubt hier eine auf den Bürger abgestellte, für ihn leicht kontextualisierbare und durch ihn selbst entsprechend seinen Informationsbedürfnissen und -interessen selektier- und fortschreibbare Wissensdarbietung. Zugleich können ihm Interaktionsmöglichkeiten für Rückfragen und für eine individuelle Vervollständigung des Informationsangebots zur Verfügung gestellt werden.526 Erweitert wird das noch durch die 520 521 522 523 524 525 526

Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 38 f. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 35. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 168. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 169. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 169. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 77. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 78.

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4 Argumentformen – 45 Normbereichsargument

Möglichkeit für den Bürger, seinerseits Information und Wissen in den Entscheidungsprozess einzuspeisen, wie sie etwa interaktive Diskussionsforen und die unmittelbare Erreichbarkeit der Entscheidungsträger über E-Mail bieten.527 472

Insgesamt ergibt sich aus dem Einsatz der modernen Informations- und Kommunikationstechniken für das Regierungs- und Verwaltungshandeln ein Potenzial an Beschleunigung, Serviceverbesserung, Flexibilisierung und Kostensenkung528, sowie auch an Integration, Systematisierung und Rationalisierung529. Zugleich hat aber eben dieses Moment gewisse Veränderungen der herkömmlichen Strukturen zur Folge. Die gleichzeitige Verfügbarkeit von Information ermöglicht die Vernetzung. Deren Grundzug von Fragmentierung, Dezentralisierung, Virtualisierung und Selbstbezug eröffnet ein zusätzliches Reibungs- und Konfliktpotenzial zu den traditionellen Formen des Verwaltens als Fremdregulierung, Fachkompetenz, Zentralisierung, Gebietszugehörigkeit und Eingriff.530 Auf der einen Seite entsteht dadurch die Chance zu einer erneuerten politischen und Verwaltungskultur. Auf der anderen Seite hat dies aber auch einen spezifischen Handlungsbedarf zur Abwehr von Dysfunktionalitäten zur Folge.

473

Zentrales Problem ist vor allem die „Entterritorialisierung“. Denn die territoritale Basis ist eine zentrale Komponente des herkömmlichen Verwaltungsberiffs. Es werden unter Umständen stabile mentale Orientierungen aufgelöst. Dadurch ergeben sich neue Konfliktpotenziale. Deutlich wird das etwa in der Rechtsprechung und Rechtsauslegung, die mit der globalisierten Kommunikation die Chance eröffnet, sich dem territorialen Geltungsbereich zu entziehen oder durch „forum shopping“ und ähnliche Praktiken diese Bindungen zu umgehen. 531 Für den Gesetzgeber ist in Zeiten grundlegender Veränderungen ein experimentelles, auf indirekte Steuerung setzendes Konzept nötig, welches die jeweiligen Sachgesetzlichkeiten nicht übergeht, sondern mit rechtlichen Zielen verknüpft. Hier sind sowohl Gesetzgeber als auch Gerichte auf das Konzept Normbereich angewiesen.

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Die Entwicklung von neuen Medien wie dem Internet zeigt das deutlich; das soll hier exemplarisch skizziert werden. In diesem Fall entsteht bereits das Problem, allein schon die Voraussetzung einer Bezugnahme zu erfüllen. Auf die Frage, was das Internet denn nun sei, scheint die Antwort schwierig: „( . . . ) there was nothing else beyond URLs, HTTP and HTML. There was no central computer ,controlling‘ the Web, no single network on which these protocols worked on, not even an organization anywhere that ,ran‘ the Web. The Web was not a physical ,thing‘ that existed in certain ,place‘. It was a ,space‘ in which information could exist“.532 527 528 529 530 531

Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 79. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 170. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 170. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 171. Lucke, J. v., Regieren und Verwalten im Informationszeitalter, 2003, S. 169 f.

451 Die Verschränkung von Recht und Wirklichkeit

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Und zwar ein Raum jeglicher Information, die irgendjemand in das Netz gibt, erreichbar für jeden, der sich in das Netz einklinkt, von überall, sofern man nur den Links des Hypertexts folgt. Mit den vom World Wide Web (WWW) bereit gestellten technischen Möglichkeiten der Verbreitung multimedialer Inhalte und ihrer Handhabung durch simple Mausbewegungen auf der Browseroberfläche beginnt der explosionsartige Siegeszug des „Internet“. Mit ihm realisieren sich jetzt Möglichkeiten, denen sich das Recht nicht mehr versperren kann. Durch die Verbreitung von Personalcomputern sowie die Entwicklung intuitiv graphischer Oberflächen und der Maus als mobiler und flexibler Verlängerung der Hand in diese Oberflächen hinein werden mit dem World Wide Web Inhalte ohne jene oft mühsamen Programmier- und Codierfähigkeiten zugänglich, die die „alten“, Netze wie das UNIX-basierte Usenet oder Telnet533 dem Benutzer noch abforderten.534 „Weder Kenntnisse einer Computersprache noch bestimmter Internetadressen waren fortan erforderlich, um sich im Internet (in der Gestalt des World Wide Web) zu bewegen. Ein jeder kann sich von einem link zum nächsten treiben lassen (,surfen‘), ohne sich mit den zugrundeliegenden Befehlen, Strukturen, Codes, Protokollen etc. auch nur ansatzweise auseinandersetzen zu müssen.“535 Und was für den Sprung nach vorn in der „Rezeption“, der Benutzung gilt, gilt in gewissem Sinn auch für die Produktion von Webcontent, wobei sich die Grenzen zunehmend verwischen. Mit den offenen Quellcodes des World Wide Web wird die Produktion von Inhalten potenziell für jedermann unproblematisch.536 All dies macht das Netz aber nicht nur zu einem unproblematisch allzeit gegenwärtigen und bereiten Medium. Es lieferte vor allem auch die Basis für die Kommerzialisierung des Netzes in Gestalt von E-Commerce und E-Business. „Das World Wide Web hat das Internet ( . . . ) nicht nur ,vereinfacht‘. Die ,benutzerfreundliche Umgestaltung‘ des Internet hat wesentlich dazu beigetragen, das Internet zu einem Wirtschaftsraum zu machen. Das Internet in der Gestalt, die ihm das World Wide Web, gegeben hat, ist ,big business‘.“537 Mit dem World Wide Web stellt sich für das Recht das Problem der Perforation 475 und der Auflösung von Grenzen. Das droht herkömmlichen Rechtsbegriffen zuerst 532 Berners-Lee, T. / Fischetti, M., Weaving the Web. The original design and ultimative destiny of the World Wide Web by its inventors, 2000, S. 36. 533 Vgl. unter http://www.w3.org. 534 Vgl. auch Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 70 f. 535 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 71. 536 Grundsätzlich zum Code als Regulierungs- bzw. Freisetzungsinstanz Lessing, L., Code and other Laws of Cyberspace, 1999, hier v.a. S. 43 ff., 100 ff. 537 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 71.

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einmal jeden referentiellen Boden zu entziehen. So verwischt sich etwa zunehmend die Grenze zwischen Rezipient und Produzent. Die Medientechniken des World Wide Web bieten die Möglichkeit, Content by doing zu entwickeln und durch entsprechende Tools ständig neue Inhalte zu generieren.538 Das betrifft nicht nur die Verbindungen von Texten zu immer neuen Texten. Es meint vor allem die Möglichkeiten der Erstellung und Distribution von Inhalten, ihren Austausch sowie die interaktive Arbeit daran. Ein aktuelles nichtkommerzielles Beispiel bietet etwa die von ihren Besuchern beständig fortgeschriebene Onlineenzyklopädie Wikipedia.539 Indem sich letztlich alles auf der Oberfläche des Web abspielt, verfällt die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem.540 Alles ist potenziell sichtbar und kann nur mit besonderen Maßnahmen vor den Augen Anderer verborgen werden.541 Aber jede dieser Maßnahmen fordert schon wieder eine mit den Techniken des Web leicht zu bewerkstelligende Gegenmaßnahme heraus, wie die unablässige Verbreitung von Spyware und Trojanern zeigt. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass mit dem Web die Grenzen zwischen Programmierung und Anwendung in Auflösung begriffen sind. Interaktivität, Manipulierbarkeit, Daten- und Infomanagement können zunehmend in das einzelne Ereignis einer Präsenz im Netz integriert werden. Das wird durch die Entwicklung von Sprachen wie PHP über eine mit ihnen gegebene unmittelbare Verzahnung der Erscheinung im Netz und einer Anweisung darauf möglich.542 Obsolet werden dabei, aufgrund der Konstruktion des Webs, die Grenzen zwischen den Medien. Alles, was der Botschaft nützlich sein mag, ist in einem einzigen integrierten Ereignis auch möglich. Die Ausdrucksmöglichkeiten erweitern sich in die Fläche und zunehmend auch in den Raum. Der Zwang zur linearen Botschaft löst sich in den Holismus der Aussage auf. Und dies wiederum verwischt in seiner Nutzung auch die Grenze zwischen „Kunst“ und Kommerz.543 Alles wird, zumal rückbezogen auf die Auflösung der Grenze von Rezipient und Produzent bzw. im kommerziellen Bereich von Anbieter und Konsument, durch seine Verfügbarkeit unmittelbar handelbar. Man denke nur an die täglich unzählbaren Transaktionen der Auktionsbörse Ebay.544 Und die Tauschbörse Napster zeigt, zum Verdruss des etablierten Musikgeschäfts, wie schnell dabei 538 Dazu hier nur Gabriel, N., Kulturwissenschaften und Neue Medien. Wissensvermittlung im digitalen Zeitalter, 1997, S. 49 ff.; Nickl, M., Web Sites – Die Entstehung neuer Textstrukturen, in: Bollmann, St. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 1998, S. 388 ff. 539 Siehe http: //en.wikipedia.org/wiki/Main_Page, bzw. http: //de.wikipedia.org/wiki/ Hauptseite. 540 Zum Problem Dyson, E., Release 2.0. Die Internetgesellschaft. Spielregeln für unsere digitale Zukunft, 1997, S. 249 ff. 541 BT / PlPr 13 / 170, S. 15377. 542 Siehe etwa http: //www.php.net/. 543 Dazu auch Hempel, St., Die Kommerzialisierung des Internet, in: Bollmann, St. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 1998, S. 204 ff. 544 Siehe http: //www.ebay.de/.

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herkömmliche Usancen hinfällig werden. Sie konnte erst durch Aufkauf neutralisiert werden, um dann allerdings Nachfolgern wie Kazaa Platz zu machen.545 Das weist darauf hin, dass vor der buchstäblichen Gleichgültigkeit des Web gegenüber allem, was mit ihm bewegt wird, noch eine weitere Grenze hinfällig zu werden droht, die zwischen „Gut“ und „Böse“. Vor der Leidenschaftslosigkeit der das Web tragenden Digitalisierung ist nichts ausgezeichnet. Durch das World Wide Web kommt jene Janusköpfigkeit zum Tragen, die die Phänomene des Internet überhaupt kennzeichnet. Indem man sich der einen Seite des Netzes bedient, muss man auch deren Kehrseite in Kauf nehmen. Individualisierung des Netzangebotes bedeutet immer auch Preisgabe von Privatsphäre mit den entsprechenden Einfallstoren für unliebsame Einblicke. Die Techniken der Spionage etwa sind zugleich auch die der Bots und Agenten,546 die das gezielte Sammeln von benötigten Informationen aus deren unübersehbar amorphen „Sintflut“547 im Netz betreiben. Mit World Wide Web wurde auch jene „Büchse der Pandora“ geöffnet548, die das Recht fast zwangsläufig auf den Plan ruft und sein Bemühen als zugleich fast hoffnungslos erscheinen lässt. „Diejenigen, deren Rolle in der Verwaltung von Grenzen und Territorien besteht, werden durch transversale und multipolare Kommunikation bedroht, die Grenzen auflöst. Die Wächter des guten Geschmacks, die Garanten der Qualität, die Vermittler und Wortführer sehen ihre Position durch die Einrichtung von immer direkteren Beziehungen zwischen Informationsproduzenten und -benutzern bedroht.“549 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass in dem Moment, in dem eine faustische Utopie vom Internet als einem „freien Grund“, auf dem freie Menschen stehen, mit dem World Wide Web aus dem Reich einer von Netzveteranen gepflegten Legende in die Realität von täglich Abermillionen Transaktionen versetzt wurde, das Internet jegliche Unschuld einer anarchischen Utopie verloren hat.550 Nicht nur, dass mit der Kommerzialisierung die Macht des Geldes darüber hereinbrach. Vielmehr wurde es von nun an durch die geradezu „biblischen“ Plagen der Viren, Würmer und des Spam heimgesucht, die es nötig machten, immer dichtere und raffiniertere Schutzmauern in Gestalt von Firewalls, Blockaden und Filtern zu errichten.551 Der freie Verkehr, den nichts hindert als die Siehe http: //www.kazaa.com/us/index.htm. Vgl. Mandel, Th. / Leun, G. v. d., Einleitung, in: Bollmann, St. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 1998, S. 13 ff., 25 f. 547 Lévy, P., Cyberkultur. Universalität ohne Totalität, in : Bollmann, St. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 1998, S. 60 ff., 86. 548 So Jordan, K., Die Büchse der Pandora, in: Bollmann, St. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 1998, S. 45 ff. 549 Vgl. Lévy, P., Cyberkultur. Universalität ohne Totalität, in : Bollmann, St. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Hamburg 1998, S. 60 ff., 60 f. 550 Dazu Montani, M., Paradise lost, in: Bollmann, St. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 1998, S. 236 ff. 545 546

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kontingent technische Überlastung der Leitungen, ist eben auch die ideale Brutstätte für Epidemien der Spionage, der Zerstörung und der Entwertung. Die Freiheit der Inhalte sperrt sich etwa nicht gegen Kinderpornographie. Und die Freiheit des Zugangs verweigert sich niemandem, es sei denn, man sperrt ihn mühsam durch aufwändige Maßnahmen aus dem radikal privatisierten Raum aus. Nicht von ungefähr haben Gesetzesinitiativen für das Internet immer wieder ihren Anlass in schlagzeilenträchtigen Skandalisierungen des Netzes gefunden552, die es etwa im deutschen Raum unzulässig machen sollten, „dass rechtliche Freiräume entstehen, die sich einem wertenden Zugriff durch den Gesetzgeber auf dem Hintergrund unseres Grundgesetzes und der darin festgehaltenen Werteordnung entziehen.“553 476

Wie aber soll der Gesetzgeber überhaupt reagieren können, wenn sich der zu regelnde „Gegenstand“ nicht fassen lässt? Wie soll er entsprechend seiner Aufgabe ordnend in eine Wirklichkeit eingreifen, die sich ihm durch ihre universale Präsenz und beständige Transformation entzieht?554 „Die amtlichen Wortlaute des geschriebenen und die variierenden Formulierungen des ungeschriebenen (Gewohnheits-)Rechts kommen geradewegs aus dem Leben, sind eine Form bestimmt organisierter Interaktion in entwickelten Gesellschaften; und sie zielen auf dasselbe Leben anordnend zurück.“555 Wie soll sich Recht hier noch als ein „sachbestimmtes Ordnungsmodell“556 charakterisieren, „als verbindlicher Entwurf einer Teilordnung für die Rechtsgemeinschaft“ 557 formieren können? Das Problem, welches das Recht mit dem Internet hat, mag zwar in seiner Ausprägung besonders gravierend sein, sofern dieses „eine gänzlich neue und zuvor unbekannte Dimension von Kommunikation geschaffen und damit die Kommunikation ,revolutioniert‘“ hat.558 Es ist aber nicht neu. Es taucht immer dann auf, wenn technischer Fort551 Dazu Bellovin, S. M. / Cheswick, W. R., Firewalls. Sicherheitsschleusen zum Internet. Schutz vernetzter Systeme vor cleveren Hackern, 1995. 552 Siehe etwa DER SPIEGEL Nr. 43 vom 25. Oktober 1993, S. 233 ff. und entsprechend zur Auswirkung dieser Thematisierung von Kinderpornographie im Netz Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 181 f. 553 BT / PlPr 13 / 170, S. 15377. 554 Grundlegend dazu Lévy, P., Cyberkultur. Universalität ohne Totalität, in: Bollmann, St. / Heibach, Chr. (Hrsg.), Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 1998, S. 60 ff. 555 Müller, F., Reine Sprachlehre – Reine Rechtslehre – Aufgaben einer Theorie des Rechts. Notizen zu Kelsen und Wittgenstein, in: ders., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, S. 98 ff., 117. 556 Vgl. Müller, F., Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., 1994, S. 168 ff. 557 Ebd. Dazu Christensen, R., Recht / Norm, in: Achternberg, N. (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1986. 558 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 17.

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schritt559 vom Gesetzgeber fordert, nicht nur auf das fragliche Phänomen zu reagieren, sondern auch neue Risiken zu bewältigen. Dass von der mit dem Stichwort „Internet“ belegten Technologie Risiken ausgehen, ist unbestreitbar. Man denke nur an die Probleme des Persönlichkeits- und Datenschutzes, die aus dem Einsatz mit der Kommerzialisierung des Internets einhergehender Beschaffungstechniken wie etwa Logins oder Cookies entstehen.560 Man denke an das Problem des Jugendschutzes, das aus der Verbreitung pornographischer Inhalte als einem der blühendsten und mächtigsten Geschäftszweige im Netz erwächst, nicht zu vergessen auch die Präsenz von gewaltverherrlichenden, rassistischen und rechtsradikalen Inhalten.561 Oder man denke an die Fragen des Urheberschutzes, die aus der Möglichkeit des Downloads von einzelnen Inhalten bis hin zu ganzen Dateisystemen von Websites resultieren.562 Zugleich ist nicht zu vergessen, dass das Internet inzwischen Teil des sozialen Lebens geworden ist. „Die Informations- und Kommunikationstechniken sind eine Technik ,besonderer‘ Art (was ihre Gefährlichkeit angeht) und zudem integraler Bestandteil der sogenannten Informationsgesellschaft, in der wir entweder bereits leben oder auf die wir uns zumindest unaufhaltsam zu bewegen.“563 Das haben nach anfänglicher Unsicherheit auch die Recht setzenden Instanzen europaweit und national erkannt.564 Es ist nicht mehr die 559 Allgemein zum Problemkreis „Recht und Technik“ hier nur Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 18 ff. 560 Allgemein dazu Dyson, E., Release 2.0. Die Internetgesellschaft. Spielregeln für unsere digitale Zukunft, 1997, S. 295 ff. 561 Siehe dazu nur die Beantwortung der großen Anfrage an die Bundesregierung BT-Drs 14 / 4173, auch unter: http: //www.dud.de/dud/documents/btdrs14 – 6321.pdf. 562 Siehe allgemein Dyson, E., Release 2.0. Die Internetgesellschaft. Spielregeln für unsere digitale Zukunft, 1997, S. 213 ff. 563 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 20. 564 Exemplarisch für die jeweiligen Einfindungsphasen etwa der „Bangemann-Report“ aus dem Jahr 1994. Siehe European Commission, White paper on growth, competitiveness and employment, COM (93) final; der Aktionsplan der Europäischen Kommission aus dem gleichen Jahr, European Commission, Europe’s Way to the Information Society – An Action Plan, COM (94) final; sowie weiter auch Europäische Kommission, Entwicklung neuer Rahmenbedingungen für elektronische Kommunikationsinfrastrukturen und zugehörige Dienste – Kommunikationsbericht 1999, KOM (1999) 539. Im nationalen Rahmen etwa der Zwischenbericht der Enquete-Kommission Neue Informations- und Kommunikationstechniken aus dem Jahr 1983 oder der Forschungsbericht aus dem Jahr 1984. Siehe Enquete-Kommission, Neue Informations- und Kommunikationstechniken, Zwischenbericht, 28. März 1983, BT-Drs. 9 / 2442; Bundesregierung, Bundesbericht Forschung 1984, 4. Juni 1984 BT-Drs. 10 / 5324; sowie weiter auch Bundesregierung, Info 2000 – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, 7. März 1996, BT-Drs. 13 / 2196; Enquete-Kommission, Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Schlussbericht zum Thema Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft, 22. Juni 1998, BT-Drs. 13 / 1104. Dazu die eingehenden Darstellungen Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des

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Frage, ob sich der Gesetzgeber des Internets annehmen soll. Es fragt sich nur noch, wie er dies tun kann. 477

Zwingende Vorgaben folgen dabei aus der technischen Struktur und Entwicklung. Das betrifft zum ersten die „technische Existenzform“ des Internets, also seine Verbreitungs- und Distributionskanäle. Dieses materielle Netz ist einerseits in der Hand kommerzieller Betreiber, wirft aber andererseits in Hinblick auf die Aufgabe der Technologieförderung die Frage eines ungehinderten Zugangs sowie die nach den Standards des entsprechenden Datenverkehrs auf. Da sind als zweites Element die Inhalte, die gerade im Zeichen der Konvergenz der Medien das Problem aufwerfen,565 mit welchen rechtlichen Mitteln Schutz und Sicherheit im Netz rechtlich gewährleistet werden können.566 Dies umso mehr, als hier neben Fragen des Persönlichkeitsschutzes auch massive wirtschaftliche Interessen im Spiel sind.567 Entsprechend lassen sich bei den Bemühungen der EU Übertragungsregeln und Inhaltsregeln unterscheiden.568 Man sucht nach einem ganz neuen Rechtsrahmen, der dem Phänomen der Konvergenz der Medien dadurch Rechnung tragen soll, dass zwischen den übertragenen Inhalten und der eigentlichen ÜbertraGesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, Berlin 2003, S. 91 ff. für das europäische Recht und ebd., S. 162 ff. für das deutsche Recht. Ansonsten Boehme-Neßler, V., Cyberlaw. Lehrbuch zum Internetrecht, 2001. Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 91 ff. Zur ausführlichen Darstellung der amerikanischen Gesetzgebung Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 22. 565 Siehe etwa im europäischen Rahmen Europäische Kommission, Grünbuch zur Konvergenz der Branchen Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie und ihren ordnungspolitischen Auswirkungen. Ein Schritt in Richtung Informationsgesellschaft, 3. Dezember 1997, KOM (97) 623. Dazu Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 136 ff. 566 Dazu etwa Europäische Kommission, Grünbuch der Kommission der europäischen Gemeinschaften, Urheberrecht und verwandte Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, Juli 1995, KOM(95) 382 endg. 567 Dazu Johannes, L., Zur Ökonomie des Internet, in: Beck, K. / Vowe, G. (Hrsg.) Computernetze – ein Medium öffentlicher Kommunikation?, 1997, S. 203 ff. 568 Siehe Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und Rates über gemeinsame Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen, KÖM (98) 297, ABI. EG Nr.C104 v. 14. 4. 1999, S. 49 ff.; Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte rechtliche Aspekte des elektronischen Geschäftsverkehrs im Binnenmarkt, 18. November 1998, KÖM (1998) 586 endg. Dazu V. Géczy-Sparwasser, Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, Berlin 2003, S. 150 ff.

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gung strikt unterschieden wird, und der die Übertragung für alle Medien „fortan einheitlich und nur die spezifischen Inhalte in gesonderten Vorschriften regeln will.“569 Das vorrangige Interesse des europäischen Gesetzgebers gilt dem Wirtschafts- 478 faktor Internet. „Die EU schuf Regeln für den durch das Internet eröffneten Wirtschaftsraum, wollte diesen ermöglichen, fördern und stärken.“570 Dabei folgt dessen Regulierung zum einen den traditionellen Grundlinien der Garantie der Freizügigkeit des europäischen Binnenmarktes und dient andererseits zugleich dem Schutz des Verbrauchers. Das kommt schon in den allerersten Überlegungen zum Ausdruck, noch bevor das World Wide Web das Netz endgültig zum wirkungsmächtigen Wirtschaftsfaktor machte. Mit dem „Bangemann“-Report und dem Weißbuch zu den „Herausforderungen“ des „Eintritts in das 21. Jahrhundert“ aus dem Jahr 1993 setzte der „Bewusstwerdungsprozess“571 der normsetzenden Instanzen der EU über das damals noch diffus als „Informationsgesellschaft“ bezeichnete Phänomen ein. Zwar ist im Bangemann-Report noch nicht ausdrücklich vom Internet die Rede. Immerhin wird aber, vor allem unter dem Konkurrenzdruck der Entwicklung und Förderung der neuen Technologien in den USA und Japan, in der Telekommunikation, dem Rundfunk, der mobilen Telekommunikation und der Satellitenkommunikation sowie in den aufkommenden Netzwerken ein revolutionäres Potenzial erkannt, das es in Europa zu entwickeln gilt und dem ein gemeinsamer rechtlicher Rahmen zu verschaffen ist. Den ersten Schritt dahin unternimmt die Europäische Kommission mit ihrem Aktionsplan aus dem Jahr 1994.572 Nach diesem wird dem privaten Sektor eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung neuer Märkte zugemessen. Die Kommission als Normgeber kann sich demnach auf die Rolle eines „Katalysators“ beschränken573, indem sie auf der einen Seite die Freiheit des Zugangs zu den neuen Märkten gewährleistet, zugleich aber auch für eine Standardisierung und Kompatibilität der Übertragungsprotokolle sorgt, so eine Integration der verschiedenen Marktsegmente ermöglicht und auf der anderen Seite den nötigen Daten- und Urheberschutz bereitstellt. „Als erstes Aktionsfeld nannte der Aktionsplan Maßnahmen, die zu einem freien Wettbewerb führen soll569 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 251 f. 570 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 253. 571 Vgl. Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 126. Siehe auch ebd., S. 122 ff. überhaupt zum Normsetzungsverfahren in der EU. 572 Siehe European Commission, Europe’s Way to the Information Society – An Action Plan, 19. July 1994, COM (94) 347 final. 573 Vgl. European Commission, Europe’s Way to the Information Society – An Action Plan, 19. July 1994, COM (94) 347 final, S. 3.

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ten – insbesondere die Liberalisierung der Infrastruktur.“574 Das Internet selbst kommt dabei zunächst nur als Technik, als Übertragungsprotokoll in den Blick. Und auch der Bericht der Kommission aus dem Jahr 1996575 vermerkt es zunächst nur als Medium der Verbreitung anstößiger Inhalte. Das Hauptinteresse gilt nach wie vor dem Ganzen der rasanten Entwicklung der neuen Technologien und den daraus erwachsenden Problemen, wie dem Schutz des geistigen Eigentums, der Datenverschlüsselung oder dem der digitalen Signaturen zur Authentizitätssicherung. Vor allem aber wird nun die Gefahr eines Auseinanderdriftens der nationalen Gesetzgebungen gesehen, die auf die neuen Technologien und Medien allzu hastig und unkoordiniert zu reagieren drohen. Transparenz und Konvergenz treten daher als Aufgaben einer europäischen Rechtssetzung in den Vordergrund, ohne dass dabei über den ohne Zweifel gegebenen Regelungsbedarf hinweg gegangen werden soll. „So kann man festhalten, dass die Kommission die Informationsgesellschaft nun in ihrer Komplexität wahrnimmt, und zwar als ein Phänomen, das erhebliche Veränderungen wirtschaftlicher Art mit sich bringt, dessen Tempo eine gesetzgeberische Reaktion erschwert, das aber gleichwohl eine Reaktion auf Gemeinschaftsebene erfordert – allein die Art und Weise dieser Reaktion ist noch nicht klar. Das Internet scheint dabei als eine Facette der Informationsgesellschaft, der Blick der Kommission geht auf das Gesamtphänomen, nicht auf einen Ausschnitt desselben.“576 479

Dies ändert sich mit der „Mitteilung der Kommission über illegale und schädigende Inhalte im Internet, Oktober 1996“577, die auf das Internet hin gesehen gewissermaßen die Vorgeschichte einer europäischen Normgebung abschließt. Jetzt wird das Internet als ein ganz eigenes Phänomen wahrgenommen. Damit verlagert sich der Schwerpunkt des regulatorischen Interesses auf das Netz, welches nunmehr als entscheidender Wirtschaftsfaktor und Motor des Phänomens der Konvergenz gesehen wird: „So ist es nicht mehr die Informationsgesellschaft, die ein erhebliches wirtschaftliches Potential beinhaltet, sondern es ist das Internet, das als Handelsplattform zu einem neuen Wirtschaftsraum geworden ist.“578 Das gilt dann auch und gerade für das World Wide Web (WWW). Zugleich 574 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 130. 575 Siehe Europäische Kommission, Die Bedeutung der Informationsgesellschaft für die Politik der Europäischen Union – Vorbereitung auf die nächsten Schritte, 24. Juli 1996, KOM (96) 487 endg. 576 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 133. 577 Siehe Europäische Kommission, Illegale und schädigende Inhalte im Internet, KOM (96) 487 (endg.). 578 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 134.

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mahnt die nicht zuletzt durch das WWW geförderte Ausbreitung illegaler und schädigender Inhalte sowie überhaupt der dadurch ermöglichte Missbrauch für kriminelle Machenschaften eindringlich den Schutzbedarf an. In beiden Aspekten, dem der Freiheit und dem der Abwehr, konzentriert sich die Wahrnehmung des europäischen Normgebers also von jetzt an auf das Internet. Dieses wird als der entscheidende Wirtschaftsraum der Zukunft ausgemacht, dem sich denn auch das Regulierungsbemühen etwa der „Mitteilung der Kommission Europäische Initiative für den elektronischen Geschäftsverkehr“ konsequent widmet579 – und zwar mit dem erklärten Ziel, „dass auf europäischer Ebene ein einheitlicher ordnungspolitischer Rahmen für den elektronischen Geschäftsverkehr geschaffen wird“.580 Für diesen sollen als „Leitlinie“ dann die folgenden Grundsätze gelten:581 Zum ersten sollen Vorschriften nicht um jeden Preis erlassen werden, sondern erst dort einspringen, wo eine Selbstregulierung durch die Beteiligten nicht greift. Zum zweiten soll dementsprechend auch die Rücksicht auf die Freiheiten des Binnenmarktes, insbesondere auf die Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs- sowie die Niederlassungsfreiheit im Vordergrund stehen. Was dann zum dritten auch heißt, dass sich die Vorschriften nach den Realitäten der Unternehmen richten sollen, indem „sie die gesamte „Transaktionskette“ berücksichtigen und sämtliche Hindernisse für diese bzw. in dieser beseitigen“582, ohne dass dabei, zum vierten, das Allgemeininteresse vernachlässigt wird. Dies gilt insbesondere etwa für den Verbraucherschutz als einem zentralen Schutzanliegen europäischer Normierungen. Gegenstand der Regulierung sollen Geschäftsgründung, Vertragsaushandlung und Vertragsabschluss im elektronischen Zahlungsverkehr sein. Diese Regeln sollen Wirtschaftskräfte freisetzen. Auf der Seite der Gefahrenabwehr und des öffentlichen Interesses liegen der Datenschutz, der Schutz der Privatsphäre, der Urheberrechtsschutz sowie im weiteren auch die Besteuerung. All dies soll in einem durch entsprechende Leitlinien geschaffenen öffentlichrechtlichen Rahmen geordnet werden und damit weder allein den nationalen Gesetzgebungen, noch lediglich privatrechtlichen Regelungen oder dem freien Spiel der Kräfte überlassen bleiben. Damit beweist das Regulierungsbemühen insgesamt eine „Grundtendenz“ der „Zurückhaltung“: „Die Kommission möchte nur dort regeln, wo dies insbesondere zur Erreichung eines freien Binnenmarktes unbedingt erforderlich ist. In erster Linie soll jedoch dem freien Spiel der Marktkräfte, freiwilligen Kodizes und damit der Selbstregulierung der Vorrang eingeräumt werden“.583 579 Europäische Initiative für den elektronischen Geschäftsverkehr, Mitteilung, KOM (97), 487 (endg.) Siehe auch Europäische Kommission, Aktionsplan zur Förderung der sicheren Nutzung des Internet, November 1997, KOM (97), 582 (endg.). 580 Mitteilung elektronischer Geschäftsverkehr, KOM (97) 157, Punkt 37 f. 581 Siehe Mitteilung elektronischer Geschäftsverkehr, KÖM (97) 157, Punkt 39. 582 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 135.

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Das Konzept einer indirekten und experimentellen Steuerung wird auch aus dem Grünbuch der Kommission aus dem Jahr 1997 deutlich, das sich mit dem Phänomen der Konvergenz von Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie befasst.584 Konvergenz wird dabei verstanden als die „die Fähigkeit verschiedener Netzplattformen, ähnliche Arten von Diensten zu übermitteln, oder die Verschmelzung von Endgeräten wie Telefon, Fernseher und PC“.585 Damit wird die herkömmliche Trennung von Rundfunk und Telekommunikation sowie auch von Individual- und Massenkommunikation obsolet. An die Stelle treten Sprachtelefonie im Internet, e-mail, mobiler Zugriff auf das World Wide Web, Datendienste über digitale Rundfunkplattformen, Webcasting von Nachrichten und vieles andere mehr. Zu unterscheiden sind, der Kommission zufolge, dabei drei Ebenen: die der technischen Konvergenz, die der Konvergenz der Angebote und die der Konvergenz im Nutzungsverhalten.586 Damit erhebt sich auch die Frage nach einer Konvergenz der entsprechenden Regulierungen des Umgangs mit dem Internet. Diese versteht sich keineswegs von selbst. Vielmehr bedarf sie einer dezidierten rechtspolitischen Entscheidung gegen eine ansonsten um sich greifende Unübersichtlichkeit von national-rechtlichen Eingriffen. Die daraus erwachsende unkoordinierte Vielzahl und Unterschiedlichkeit von Beschränkungen etwa des Zugangs- und Genehmigungsverfahrens könnte sich dann leicht zu einem Hemmnis für die Entwicklung des Internet als eines entscheidend übergreifenden Markt- und Wirtschaftsfaktors auswachsen. Angesichts dessen sieht die Kommission im Wesentlichen drei Optionen für eine Regulierung des Internet. Entweder man bleibt beim herkömmlichen vertikalen Regulierungsmodell, was unterschiedliche Vorschriften für die verschiedenen betroffenen Branchen zur Folge hätte. Oder man stellt den bestehenden Regelungen für Telekommunikation und Rundfunk eine eigene für die neuen Dienste zur Seite. Oder aber man führt schrittweise ein neues, horizontales Regulierungsmodell für sämtliche Dienste ein. „Diese Option reicht am weitesten. Sie erfordert eine fundamentale Neubewertung und Reform der heutigen Regulierung. Dies setzt nicht unbedingt völlig neue Gesetze voraus, sondern vielmehr Überlegungen, wie bestehende Rahmen angepasst werden können, um Flexibilität zu fördern, Ungereimtheiten zu beseitigen, Diskriminierung innerhalb von Bereichen und bereichsübergreifend zu vermeiden, sowie zu gewährleisten, dass 583 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 137. 584 Europäische Kommission, Grünbuch zur Konvergenz der Branchen Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie und ihren ordnungspolitischen Auswirkungen. Ein Schritt in Richtung Informationsgesellschaft, 3. Dezember 1997, KOM (97) 623. 585 Europäische Kommission, Grünbuch zur Konvergenz der Branchen Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie und ihren ordnungspolitischen Auswirkungen. Ein Schritt in Richtung Informationsgesellschaft, 3. Dezember 1997, KOM (97) 623, S. 1. 586 Allgemein dazu auch Hoffmann-Riem, W. / Schulz, W. / Held, Th., Konvergenz und Regulierung. Optionen für rechtliche Regelungen und Aufsichtsstrukturen im Bereich Information, Kommunikation und Medien, 2000.

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das Erreichen von Zielen des öffentlichen Interesses sichergestellt wird. Anstatt nur auf einige Dienste angewendet zu werden, würde diese Option die Schaffung eines Rahmens zulassen, der alle Branchen umfasst.“587 Mit dieser Option würde man nicht mehr nur mit den herkömmlichen rechtlichen Instrumentarien auf das in der Art seiner Integration völlig neuartige Phänomen Internet reagieren. Vielmehr würde man umgekehrt den Charakter rechtlicher Regulierungen selbst auf die sich daraus ergebenden Erfordernisse und Anforderungen hin ausrichten. Man würde also nicht mehr nur überkommenes Recht der neuartigen Sache überstülpen, sondern einen Eigensinn von Recht aus den Eigenheiten dieser Sache entwickeln. Auch diese Einsicht ist eine Folge des Konzepts Normbereich. Entsprechend gehen denn auch vom Grünbuch der Kommission Impulse für eine breite Diskussion eines öffentlich-rechtlichen Rahmens für das Internet aus, wobei der Aspekt der „durch das Internet bewirkten Veränderungen der Kommunikationstechnologielandschaft und (der) möglicherweise dadurch erforderlichen Änderungen des rechtlichen Rahmens“588 in den Vordergrund rückt. Das macht die „Mitteilung der Kommission zur Entwicklung neuer Rahmenbedingungen für elektronische Kommunikationsinfrastrukturen – Kommunikationsbericht 1999“589 deutlich: „Dieser Bericht bietet die Möglichkeit, die bestehende Regelung zu revidieren, um zu gewährleisten, dass sie die Entwicklung von Wettbewerb und Wahlfreiheit für den Verbraucher fördert und weiterhin Zielen von allgemeinem Interesse dient. In der vorliegenden Mitteilung werden die Hauptkomponenten der politischen Vorschläge der Kommission für einen neuen Rechtsrahmen vorgestellt, der die gesamte Kommunikationsinfrastruktur und zugehörigen Dienste abdeckt. Damit wird einer zentralen Botschaft der Konsultation zur Konvergenz von Medien, Telekommunikation und Informationstechnologien Rechnung getragen, in der ein horizontales Konzept für die Regelung der Kommunikationsinfrastruktur gefordert wurde.“590 Dabei lässt die Kommission keinen Zweifel daran, dass dies auf die einschneidenden Veränderungen überkommener Strukturen durch das Internet zurückzuführen ist: „Das Internet revolutioniert weitgehend die traditionellen Marktstrukturen, indem es eine gemeinsame Plattform für die Bereitstellung einer breiten Palette an Diensten schafft. Es verwischt die Unterschiede zwischen Sprach-, Bild- und 587 Europäische Kommission, Grünbuch zur Konvergenz der Branchen Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie und ihren ordnungspolitischen Auswirkungen. Ein Schritt in Richtung Informationsgesellschaft, 3. Dezember 1997, KOM (97) 623, S. 41. 588 Vgl. Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 140. 589 Siehe Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission zur Entwicklung neuer Rahmenbedingungen für elektronische Kommunikationsinfrastrukturen – Kommunikationsbericht 1999, KOM (1999) 539. Siehe zu den Auseinandersetzungen auch Europäische Kommission, Ergebnisse der öffentlichen Konsultation zum Grünbuch KOM (97) 623, KOM (99) 108. 590 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission zur Entwicklung neuer Rahmenbedingungen für elektronische Kommunikationsinfrastrukturen – Kommunikationsbericht 1999, KOM (1999) 539, iii.

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Datenübertragungsdiensten, verändert bisherige Preisbildungsmodelle für Kommunikationsdienste radikal und ist eine Herausforderung für bestehende rechtliche Strukturen.“591 Grundlegendes Ziel der Regelungen, die sich diesen Herausforderungen zu stellen haben, ist die Förderung des Wettbewerbs auf einem liberalisierten Markt. Unter den Bedingungen der Konvergenz ist dafür aber ein neuartiger Rechtsrahmen erforderlich, der die Sachgesetzlichkeiten mit politischen Vorgaben verknüpft. Um das zu erreichen, soll nur noch ein einziger Rechtskomplex für den gesamten Bereich der Kommunikationstechnologien geschaffen werden. Mit dieser Orientierung hat der europäische Normgeber seine Findungsphase abgeschlossen und geht zu deren Umsetzung in die Rechtspraxis Europas über. Vollzogen wird sie durch ein ganzes Bündel von Richtlinien bzw. Richtlinienvorschlägen. Diese folgen in Reaktion auf das Phänomen Internet diesem in zwei verschiedenen Schichten gewissermaßen von außen nach innen, von der als erstes wahrnehmbaren technisch materiellen Seite der Übertragung zu den transportierten Inhalten und Funktionen. 481

Der erste, der „allgemeine“ Bereich „ist der Vorschlag eines neuen Rechtsrahmens für die gesamten Kommunikationstechnologien und die zugehörigen Dienste – und damit auch für das Internet“.592 Er besteht bisher aus fünf Richtlinienentwürfen, die alle das Ziel verfolgen, in einer „ ,einheitliche(n)‘ Regelung sämtlicher Kommunikationstechnologien“ „ein auf Allgemeingenehmigungen basierendes Genehmigungssystem“ einzuführen.593 Materie der Normierung ist die gesamte Kommunikationsinfrastruktur einschließlich aller ihr zugehörigen Dienste. Zum zweiten soll durch eine Verordnung der Wettbewerb im Bereich der Internetnutzung durch die „Liberalisierung der letzten Meile (unbundling the local loop)“594 verstärkt werden. Schließlich soll zum dritten der Schutz von Verbrauchern und Privatsphäre gewährleistet sein.

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Überblickt man diese wesentlichen Aktivitäten des europäischen Normgebers zur Regelung der neuen Kommunikations- und Informationstechnologien, so lassen sie drei, vor allem aus den sachlichen Eigenheiten des Internet verständliche Phasen erkennen. Am Anfang steht, entsprechend dem ersten „Hype“, der von hochgespannten Erwartungen und mitunter utopischen Vorstellungen auch zum 591 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission zur Entwicklung neuer Rahmenbedingungen für elektronische Kommunikationsinfrastrukturen – Kommunikationsbericht 1999, KOM (1999) 539, iv. 592 Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 144. 593 Vgl. Géczy-Sparwasser, V., Die Gesetzgebungsgeschichte des Internet. Die Reaktion des Gesetzgebers auf das Internet unter Berücksichtigung der Entwicklung in den U.S.A. und unter Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, 2003, S. 145. Zum „Regelungspaket“ selbst siehe Europäische Kommission, Ergebnisse der öffentlichen Konsultation zum Kommunikationsbericht 1999, KOM (2000), 239. 594 Dazu Liikanen, E., Rede auf der Konferenz „Barriers in Cyberspace“, 2000, S. 8.

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ökonomischen Potenzial des Netzes gekennzeichnet war, ein erstes diffuses Orientierungsbemühen in der heraufziehenden Informationsgesellschaft. Triebfeder war die Wahrnehmung einer globalen Herausforderung sowie der Notwendigkeit, im Inneren den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu begegnen. Die Ziele der Bemühungen wurden, entsprechend der janusköpfigen Auswirkung des Internet (global entgrenzter Freiraum für Artikulation, Information und Interaktion einerseits und zugleich unbezähmbare Einbruchsstelle für Manipulation, Subversion und Intrusion andererseits) vor allem in zwei Perspektiven angesetzt: zum einen aktiv und „positiv“ in Richtung der Entfaltung eines freien Wettbewerbs der Nutzung der neuen Technologien; zum andern eher „passiv“ und „negativ“ in Richtung einer Abwehr der aus dieser Nutzung zugleich erwachsenden Gefahren. Das konkretisiert sich in den Richtlinienvorschlägen der Europäischen Kommission in einer zweiten Phase, entsprechend der zunehmend konkreteren Entfaltung und Umsetzung der mit dem World Wide Web eröffneten Möglichkeiten. Dabei werden zum einen die Zusicherung und Handhabung der Technologien unter der leitenden Vorgabe der Liberalisierung und Harmonisierung geregelt. Zugleich wird der Nutzung ein weitreichender rechtlicher Schutz zugesichert. Der dafür entworfene Rechtsrahmen zeigt, dass, ein weiteres Mal entsprechend der sachlichen „Natur“ vor allem des Internet, nämlich tendenziell jegliches Regulierungsbemühen anarchisch zu unterlaufen und dagegen seinen Eigensinn subversiv zu entfalten, Recht gerade hier nicht von der geordneten Sache unberührt bleiben kann. Das Konzept Normbereich verknüpft rechtlich explizite Regeln mit praktisch 483 impliziten und technischen Standards und ist zur Erfassung und Strukturierung auch eines derartigen Vorgangs geeignet. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht das Rundfunkverfassungsrecht unter ausdrücklichem Bezug auf den Begriff „Normbereich“ vorbildlich entwickelt. Die Entscheidungen über das Ordnungsmodell der Medien verknüpfen politische mit technischen und ökonomischen Vorgaben. Das öffentlich-rechtliche Grundrechtsregime wird dabei vom Gericht nicht aufgegeben, sondern unter Berücksichtigung der ökonomischen und technischen Strukturen modifiziert. So können die Medien ihren Informationsauftrag für die Demokratie erfüllen, ohne den politischen Vorgaben vollkommen untergeordnet zu werden. Die methodische Arbeit mit dem Normbereich bewährt sich dabei in den vielen Abgrenzungsproblemen des Medienrechts, wie z. B. der Differenzierung wertender und tatsächlicher Berichte und Äußerungen595 oder der Unterscheidung von Teilöffentlichkeiten mit spezifischen Voraussetzungen je nach Format (Comedy, Talk-Show, usw.). Entlang dieser Strukturen lässt sich auch das Recht der persönlichen Ehre zu medienspezifischen „Images“ ausdifferenzieren.596 595 Dazu BVerfGE 85, S. 1 ff. sowie Hoffmann-Riem, W., Nachvollziehende Grundrechtskontrolle, in: AöR 128 (2003), S. 173 ff. Allg. zu dieser Judikatur Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 9. Aufl. 2004, S. 56, 237 f. 596 Vgl. dazu BVerfG, in: NJW 1998, S. 1396 ff.; Ladeur, K.-H., Persönlichkeitsschutz und „Comedy“, in: NJW 2000, S. 1977 ff.; ders., Die Anpassung des privaten Medienrechts an die „Unterhaltungsöffentlichkeit“, in: NJW 2004, S. 393 ff.

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Mit dem Konzept Normbereich entsteht so eine Kooperation von Gerichten und Medienöffentlichkeit beim Herausbilden von Standards.597 Wichtig ist dabei, dass der methodische Ansatz „Normbereich“ nicht davon ausgeht, dass es je einen einzigen privilegierten Zugriff auf die Wirklichkeit in Form einer versionslosen Beschreibung gebe. Auf diese Weise kann man auch die produktive Rolle des Gerichtsverfahrens erfassen. Hier wird durch den Streit der Prozessparteien und mit Hilfe von Sachverständigen Erfahrungswissen neu produziert und das vorher schon Vorhandene reflexiv gemacht. Die Funktion des Rechts liegt nicht darin, das „richtige“ Bild der Wirklichkeit zu vermitteln, sondern die Reflexion der Selbstbeobachtungsfähigkeit organisierter Systeme zu ermöglichen.

451.2 Die wachsende Bedeutung des Normbereichs 484

In einer komplexen Ökonomie der Ungewissheit kann das Recht nicht mehr beanspruchen, den Möglichkeitshorizont, etwa unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, unmittelbar steuern zu wollen. Vielmehr geht es darum, die Selbstveränderungsfähigkeit einer pluralen Gesellschaft durch Mechanismen indirekter Steuerung zu erhalten. Das Recht lenkt nicht, sondern es erhält und bereichert die Relationen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen. Mit dem Konzept „Normbereich“ kann das Recht das Risiko, Wissen und Handlungspotenzial von marktförmiger, wissenschaftlicher und personaler Selbststeuerung integrieren. Das Recht wird damit responsiv und transformiert die vermeintliche Sicherheit hierarchischer Argumentationsmuster in das Handhaben von Ungewissheit und in ständige Revisionsbereitschaft.

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Das Recht reagiert damit auf den „Führungswechsel“ von normativen (Politik, Moral, Recht) hin zu kognitiven Erwartungstypen (Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie), der sich im Wandel von nationalstaatlich organisierten Gesellschaften zur Weltgesellschaft vollzieht. Dieser Wandel bewirkt, dass „auf der Ebene der Weltgesellschaft nicht mehr Normen (in Gestalt von Werten, Vorschriften, Zwecken) die Vorauswahl des zu Erkennenden steuern, sondern daß umgekehrt das Problem lernender Anpassung den strukturellen Primat gewinnt und die strukturellen Bedingungen der Lernfähigkeit aller Teilsysteme in Normierungen abgestützt werden müssen.“598

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Das zeigt sich besonders klar etwa im Hinblick auf die Regulierung der Gentechnik. Die unionale Rechtsmasse hierzu umfasst eine Fülle von Maßnahmen, darunter u. a. die Verordnung über gentechnisch veränderte Lebens- und Futtermit597 Vgl. dazu auch Ladeur, K.-H. / Augsberg, I., Auslegungsparadoxien, in: Rechtstheorie 2005, S. 143 ff. 598 Luhmann, N., Die Weltgesellschaft, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 57 (1971), S. 1 ff. (26) (Hervorhebung durch die Verf.); ausführlich hierzu: Fischer-Lescano, A. / Teubner, G., Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt am Main 2006.

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tel,599 die Verordnung über die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Organismen,600 die Richtlinie 98 / 44 / EG über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (Biopatent-Richtlinie). 601 Mit Verordnung 178 / 2002 wurde auf unionsrechtlicher Ebene die European Food Safety Authority602 gegründet, die maßgeblich mit Fragen der grünen Gentechnik befasst ist.603 Der nationale Gesetzgeber ist damit in zahlreiche Normen supranationaler Provenienz eingebettet,604 die über das Gemeinschaftsrecht aber auch noch hinausgehen. Der Regelungsrahmen im Bereich der Lebensmittelsicherheit und der damit betrauten internationalen Organisationen und Übereinkommen ist breit – Codex Alimentarius, WTO-Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS-Übereinkommen), Weltgesundheitsorganisation (WHO), Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Symptomatisch zum Ausdruck kommt die Normkollision in der Gentechnikregulierung in unterschiedlichen weltgesellschaftlichen Regime-Kontexten in einem Streit um die angemessene Risikosteuerung im Bereich der grünen Gentechnologie: Die Regime-Kollision kann organisatorisch mit der World Trade Organisation auf der einen und dem am 11. September 2003 in Kraft getretenen Cartagena Protokoll über die biologische Sicherheit zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt auf der anderen Seite benannt605 werden. Während die WTO dem Leitgedanken des freien Welthandels verpflichtet bleibt, ist das Ziel des Biosafety-Protokolls (das auch die EG unterzeichnet hat) die Gewährleistung eines sicheren grenzüberschreitenden Verkehrs von gentechnisch veränderten Mechanismen.606 Der Geltungsumfang dieses Protokolls ist von entscheidender Bedeutung für das Streitbeilegungsverfahren bei der WTO gegen ein seit 1998 bestehendes und mittlerweile (2004) aufgehobenes de facto-Moratorium hinsichtlich der Zulässigkeit gentechnisch veränderten Saatgutes.607 Die USA VO (EG) 1829 / 2003 vom 22. 09. 2003. VO (EG) 1830 / 2003 vom 22. 09. 2003. 601 ABl. EG Nr. C 110 S. 17. 602 http: //www.efsa.eu.int/. 603 Im Hinblick auf die europarechtliche Kennzeichnungspflicht siehe Thiele, D., Die neue europäische Kennzeichnungspflicht für genetisch veränderte Lebensmittel auf dem Prüfstand des Welthandelsrechts, EuR 2004, S. 794 ff. 604 Instruktiv: Calliess, Ch. / Korte, S., Das Recht der Grünen Gentechnik im europäischen Verwaltungsverbund. Zur Verzahnung staatlicher und europäischer Risikovorsorge im Kontext von Regulierung und Selbstregulierung, DÖV 2006, S. 10 ff. 605 Eine rein organisationale Betrachtungsweise würde den dahinterstehenden Rationalitätenkonflikt verkennen. 606 Das Protokoll ist abgedruckt in I.L.M. 39 (2000), S. 1027 ff. Umfassend zu dieser Konstellation: Cottier, Th., Implications for Trade Law and Policy: Towards Convergence and Integration, in: Bail, Ch. / Falkner, R. / Marquard, H. (Hrsg.), The Cartagena Protocol on Biosafety, 2002, S. 467 ff.; Loosen, K., Das Biosafety-Protokoll von Cartagena zwischen Umweltvölkerrecht und Welthandelsrecht, 2006; Böckenförde, M., Grüne Gentechnik und Welthandel, 2004; Bernauer, Th., Genes, Trade, and Regulation – the Seeds of Conflict in Food Biotechnology, 2003. 599 600

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4 Argumentformen – 45 Normbereichsargument

haben das Verfahren vor der WTO gemeinsam mit Kanada und Argentinien angestrengt, unternehmen damit einen „Generalangriff gegen die europäische Biopolitik“608 und werfen ihr vor, durch die Anwendung des in Art. 174 Abs. 2 EG-Vertrag aufgegebenen Vorsorgeprinzips609 zahlreiche Normen des WTO-Rechts verletzt zu haben.610 487

Für die hier zu treffende Entscheidung über transnationale Risikoregulierung unter Ungewissheitsbedingungen ist eine vertikal-holistische Werteabwägung fehl am Platz. Sie ginge am realen gesellschaftlichen Konflikt vorbei. Aber auch die Formulierung des Konflikts als ein Streit zwischen unterschiedlichen Risikobegriffen politischer Zentren (EU und USA) geht nicht tief genug, bleibt Oberflächenphänomenen des politischen Tagesgeschäfts verhaftet. Tatsächlich hat gerade die EU-Kommission den Vorsorgebegriff bereits dergestalt geschwächt,611 dass die Positionsdifferenzen zwischen den beiden Konfliktparteien vor dem Streitschlichtungsorgan der WTO nur noch in Nuancen sichtbar werden.612 WT / DS291, WT / DS292, WT / DS293. Müller-Jung, J., Grüne Gentechnik am Scheideweg, FAZ, 27. 6. 2003, S. 1. 609 Hierzu die Auffassung der Kommission in KOM(2000)1 vom 2. 2. 2000; aus rechtlicher Sicht zum europäischen Vorsorgebegriff: Lübbe-Wolff, G., Präventiver Umweltschutz – Auftrag und Grenzen des Vorsorgeprinzips im deutschen und im europäischen Recht, in: Bizer, J. / Koch, H. J. (Hrsg.), Sicherheit, Vielfalt, Solidarität. Ein neues Paradigma des Verfassungsrechts?, 1998, S. 47 ff. 610 Im Einzelnen: „(1) Suspension of consideration of and failure to consider various applications for endorsement or approval of agricultural biotechnology products; (2) undue delays in finalizing consideration of various applications for approval of agricultural biotechnology products; (3) bans on agricultural biotechnology products introduced by EC member States, which infringe both WTO rules and Community legislation. The measures in question taken by the European Communities and several of its member States infringe the following provisions of the WTO Agreements: (a) Articles 2.2, 2.3, 5.1, 5.2, 5.5, 5.6, 7, 8 and 10.1 and Annexes B(1) and (5) and C(1)(a), (b), (c), (d) and (e) of the Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures (SPS Agreement); (b) Article 4.2 of the Agreement on Agriculture (AoA); (c) Articles I.1, III.4, X.1, X.3(a) and XI.1 of the GATT 1994; (d) Articles 2.1, 2.2, 2.8, 2.9, 2.11, 5.1, 5.2.1, 5.2.2, 5.2.3, 5.2.4, 5.6, 5.8 and 12 of the Agreement on Technical Barriers to Trade (TBT Agreement)“ (WT / DS293 / 17, 8. August 2003). 611 Hierzu: Ladeur, K-H., The introduction of the precautionary principle into EU law, Common Market Law Review 2003, S. 1455 ff.; Sadeleer, N. de, The Precautionary Principle in EC Health and Environmental Law, European Law Journal 12 (2006); S. 139 ff.; zu einer fundierten demokratietheoretischen Kritik an den Entscheidungsverfahren in der EU: Christian Joerges, What is left of the European Economic Constitution?, European Law Review 30 (2005), S. 461 ff. (insbes. S. 483 ff.); siehe auch die Entscheidungen des EuGH, Fälle T-13 / 99, Pfizer, Slg. 2002-I, 3305; T-70 / 99, Alpharma, Slg. 2002-I, 3495 ff.; C-39 / 03 P, Artegodan v. 24. Juli 2003. 612 So zu Recht die Kritik an der Operationalisierung des Vorsorgeprinzips durch die EUKommission von Hundsdorfer, S., Die Umsetzung des Vorsorgeprinzips in der Politik der Europäischen Union. Zum Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen vor dem Hintergrund des Gentechnikfalls in der WTO, 2005, abrufbar unter: http: //www.forum-ue.de/ fileadmin/userupload/publikationen/aghan_2005_vorsorgeprinzip_gmo.pdf, S. 17 ff. 607 608

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Der Konflikt, wie er hier zwischen Umweltregime und Wirtschaftsregime zum 488 Ausdruck kommt, ist vielmehr ein Rationalitätenkonflikt, in dessen Kern die Auseinandersetzung um das angemessene Verfahren von Risikoassessment und Risikomanagement steht.613 Auf der einen Seite ist der in den Art. 5.1 und 5.7 des SPSAbkommens (Application of Sanitary and Phytosanitary Measures) der WTO zum Ausdruck kommende hohe Standard wissenschaftlicher Rechtfertigung gesundheitspolitischer Maßnahmen anzusetzen,614 der bereits im Hormonstreitfall zu einer Niederlage der EU geführt hatte, da ihr Einfuhrverbot für hormonbehandeltes Rindfleisch nach Meinung des Appellate Body auf keinem bzw. einem nur unspezifischen Risikoassessment beruht habe.615 Auf der anderen Seite stehen die Bestimmungen des Biosafety-Protokolls, das viel detaillierter festlegt, was in einer Risikobewertung enthalten sein muss, was beim Risikomanagement zu beachten ist und inwiefern sozioökonomische Überlegungen in Entscheidungen für SPSMaßnahmen hineinspielen können.616 Beide Konzepte stehen für miteinander unvereinbare Inkommensurabilitätsnormen hinsichtlich der Kollision der eigen-rationalen kommunikativen Matrizen Wirtschaft, Technologie und Gesundheit.617 Das WTO-Streitschlichtungsorgan hat die Entscheidung dieses Falls bereits mehrfach verschoben618 und mittlerweile einen 800-seitigen Berichtsentwurf vorgelegt,619 der einen ersten Schritt zur Entwicklung abstrakt-genereller Inkompatibilitätsnormen im Verhältnis von Wirtschaftssektor und Gesundheitssektor bietet. Mit dem Konzept des Normbereichs kann durch Einbeziehung sozialtheoreti- 489 schen Wissens das Problem des Risikomanagements strukturiert werden: Der mo613 Siehe hierzu: Busch L. / Grove-White, R. / Jasanoff, S. / Winickoff, D. / Wynne, B., Amicus Curiae Brief submitted to the DSP of the WTO in the Case of EC: Measures affecting the approval and marketing of Biotech Products, 30. 4. 2004, abrufbar unter: http: //www. lancs.ac.uk/fss/ieppp/wtoamicus/amicus.brief.wto.pdf, S. 12 ff. 614 Auf die Normdetails soll hier nicht eingegangen werden. Die USA berufen sich auf die Anwendbarkeit von Art. 5.1 SPS, die EG sieht im Moratorium nur eine vorläufige Maßnahme ohne gesicherte Wissensbasis, weshalb Art. 5.7 SPS zur Anwendung kommen solle. Die Rechtsfertigungshürde für eine nach Art. 5.7 SPS zu behandelnde Maßnahme wäre deutlich niedriger. 615 EC-Hormones, WT / DS26, WT / DS48, Rdn. 124. 616 Siehe hierzu Hundsdorfer, S., Die Umsetzung des Vorsorgeprinzips in der Politik der Europäischen Union. Zum Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen vor dem Hintergrund des Gentechnikfalls in der WTO, 2005, abrufbar unter: http: //www.forum-ue.de/ fileadmin/userupload/publikationen/aghan_2005_ vorsorgeprinzip_gmo.pdf, S. 17 ff. 617 Zur speziellen Kollisionslage: Phillips, P., Alternative paradigms – The WTO versus the Biosafety Protokol for Trade in Genetically Modified Organisms, Journal of World Trade 34 (2000), 63 ff.; Gaston, G. L., The Biosafety Protocool and the World Trade Organization: can the two coexist?, Pace International Law Review 12 (2000), S. 107 ff.; generell: Grätz, J., Kollision oder Komplement? Zur Kompatibilität von WTO-Recht mit umweltvölkerrechtlichen Regimen, Kritische Justiz 39 (2006), S. 39 ff. 618 Zur Vorlage eines Berichtsentwurfs an die Streitparteien siehe Wüger, D., Biotech Products WTO Panel Report, ASIL Insight 10 (2006), Nr. 5, v. 8. März 2006, abrufbar unter: www.asil.org/insights.htm. 619 WT / DS21 – 23 / Interim v. 7. Februar 2006.

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derne gesellschaftliche Umgang mit Risiken erzeugt Systemkollisionen als Strukturprobleme der Gesellschaft, die über die Konflikte der Eigenrationalitätsmaximierung noch hinausgehen.620 Historisch hängt das mit der Umstellung von traditioneller Mehrfachabsicherung in multifunktionalen Einrichtungen zusammen. So war die Familie für alle Lebensbereiche zuständig und musste bei der Bewältigung von Lebensrisiken vielfache Rücksichten einbauen. Oikos, Polis, Korporation und Kirche waren in diesem Sinn multifunktionale Institutionen, die einen eher diffusen Umgang mit Risiken und entsprechend risikoaverse Einstellungen entwickelten. Die Moderne setzt demgegenüber auf Unifunktionalität in binär codierten Systemen. Für Risiken bedeutet das, dass sie nun von spezialisierten Funktionssystemen übernommen werden. Der eigentlich moderne Umgang mit Risiken besteht darin, dass diese nicht von einer einzigen Instanz, etwa einer zentralen politischen Institution, in all ihren Dimensionen und mit vielerlei Rücksichtnahmen bearbeitet werden; sondern dass sie in die Logik hochspezialisierter Sozialsysteme hinein übersetzt werden und damit nur noch je eindimensional als teilsystemspezifische Probleme wahrgenommen werden können. Das hat eine überaus produktive Seite: Mit ihren gesteigerten Teilrationalitäten und Problemlösungstechniken sind die Subsysteme in hohem Maß zur Risikobewältigung geeignet. Wissenschaft, Wirtschaft, Medizin haben beeindruckende Techniken zur Risikoabsorption entwickelt. Die positive Folge heißt, dass die gesellschaftlichen Risiken in ungeahntem Maß zunehmen und dennoch ausgehalten werden können und dass dies zugleich eine Steigerung gesellschaftlicher Chancen ermöglicht. Doch hat dieser Vorgang der Risikofragmentierung in Teilrationalitäten auch seine destruktive Seite: Er löst neuartige Konflikte aus, die dann im Recht als Normkollisionen wahrgenommen werden. Das Destruktive liegt in den nicht-koordinierten, unabsehbaren schädlichen Auswirkungen der systemspezifischen Risikoabsorption auf ihre gesellschaftlichen Umwelten. Die Befreiung der spezialisierten Systeme von vielerlei Rücksichten führt dazu, dass das jeweilige Teilsystem die Risiken für sich selbst sehr erfolgreich, für seine Umwelt aber buchstäblich „rücksichtslos“ bearbeitet. Was für das jeweilige System ein annehmbares Risiko darstellt, wird für andere Systeme und gesellschaftliche Umwelten zur Bedrohung bis hin zur Existenzgefährdung.621 So werden durch die eigentlich produktive Risikoübernahme durch ein einzelnes System hohe Risiken in anderen Systemen erzeugt. Erfolgreiche Risikoabsorption in einem Teilsystem resultiert dann in gesamtgesellschaftlichen Umweltschädigungen. 490

Verkennt man dies, droht Recht zum bloßen Vehikel der Durchsetzung etwa von ökonomischen, politischen, religiösen und wissenschaftlichen Rationalitäten zu werden. Macht, Effizienz, Wahrheit, Machbarkeit oder Sicherheit suchen die Stelle der Gerechtigkeit einzunehmen und ihre partialen Teilbereichslogiken gesellschaftsweit zu institutionalisieren, notfalls auch auf Kosten des gesellschaftlichen Luhmann, N., Soziologie des Risikos, 1991, 86 ff. Vgl. die auf Ludwik Fleck zurückgehende These des „How Institutions Think“ von Douglas, M., How Institutions Think, 1986. 620 621

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Pluralismus. Das birgt die Gefahr, dass die demokratisch legitimierte Ordnungsleistung des Rechts in den Imperialismus der jeweils stärkeren Rationalitäten umschlägt. Der Versuch, Konflikte durch eine autoritative Deutung einer vermeintlich höheren und objektiven Wertordnung zu lösen,622 ist zur Entscheidung dieser Rationalitätskonflikte, also der Kollisionslagen etwa zwischen Wirtschaft, Politik, Religion, Wissenschaft, ungeeignet. Denn zur Kommensurabilisierung des Inkommensurablen sind keine Abwägungsschemata für vermeintlich universelle Werte und Prinzipien gefragt; vielmehr sind die konfligierenden gesellschaftlichen Rationalitäten, die sich des Rechts zur Universalisierung ihrer partialen Logiken bedienen, zu identifizieren.623 Die gesellschaftlichen Realwidersprüche sind in der Rechtsfrage zu reformulieren und, so gefasst, miteinander zu vereinbaren. Der Kollisionsbereich ist jeweils durch den Widerspruch von Normen, die im Kontext unterschiedlicher Teilbereichsrationalitäten geformt wurden, herauszuarbeiten. Man muss das Recht darauf vorbereiten, auf destruktive Konflikte zwischen unverträglichen Handlungslogiken zu reagieren, und zwar nicht durch Wertabwägung, sondern durch Umwandeln abstrakter philosophischer Fragen in soziologische Analysen. Auch das ist eine Konsequenz des Konzepts „Normbereich“.

451.3 Der Begriff „Normbereich“ Der unverzichtbare Wirklichkeitszugriff muss in der Sprache vollzogen werden. 491 Eine unter Juristen verbreitete Sprachtheorie will sich dafür ein natürliches Band zwischen Sprache und Wirklichkeit zunutze machen.624 Danach soll „der Rechtsanwender ( . . . ) die wesensmäßigen Eigenschaften der im Sachverhalt strittigen Gegenstände, Abstrakta, etc. herausfinden; aus dem Baukasten der Sprache gilt es sodann die diese Merkmale bezeichnenden Ausdrücke herauszugreifen und sie zu dem gesuchten Begriff zusammenzusetzen, unter den sich schließlich der Sachverhalt subsumieren lässt.“625 Aber die Sprache verweist nicht etwa schon von sich aus auf die Wirklichkeit, so dass dies vom Juristen nur nachzuvollziehen wäre. Es lässt sich weder die Sache unmittelbar der Bedeutung der Begriffe entnehmen, noch lassen sich ihre Eigenarten aus irgendwelchen Begriffsmerkmalen herauslesen. Die Sprache gibt in einem realistisch genommenen Sinn keine „Repräsentation“, kein Abbild der Wirklichkeit her und schon gar nicht ein eindeutiges.626 Wirklichkeit wird vielmehr von Sprache präsentiert. 622 Kritik hieran auch bei Maus, I., Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat. Helmut Ridder zum 85. Geburtstag, Blätter für deutsche und internationale Politik 49 (2004), S. 835 ff. 623 Hier setzt Ladeur, K.-H. an, siehe ders., Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, S. 12 ff. 624 Ebd., S. 140. 625 In kritischer Wendung dagegen Jeand’Heur, B., Gemeinsame Probleme der Sprachund Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Müller, F. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik. 1989, S. 17 ff., 22.

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4 Argumentformen – 45 Normbereichsargument

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Das macht auch jenes Beispiel deutlich, das Wittgensteins Sprachphilosophie inspirierte: die Skizze eines Autounfalls. Diese gibt zwar in gewisser Weise ein Bild des Vorgangs. Es ist in einem strengen Sinn jedoch keine Reproduktion der Welt. Die Skizze trägt nicht unmittelbar Eigenschaften des Geschehenen, der „wirklichen Ereignisse“, „beinhaltet“ nicht solche Eigenschaften. Sie hat in diesem Sinne auch nicht die Welt zum Gegenstand.627 Vielmehr handelt es sich um ein Bild, das man sich von der Welt macht, um sich anhand dessen auf das fragliche Geschehen zu beziehen.628 Und die „Eigenschaften“ sind solche, die man selbst dem fraglichen Geschehen zumisst, um deutlich machen zu können, wovon dabei die Rede ist.629 All dies bestimmt sich von dem Zweck her, das Verhalten der Beteiligten beurteilen zu können. Deshalb interessieren an dem Vorgang nur die dafür relevanten Umstände. Und dieses Interesse wiederum bestimmt die Art von Bild, das man davon zeichnet. Wirklichkeit und „Sprache“ kommen so in der Strukturierung von Welt überein. Sie kommen aber nicht darin überein, dass die eine ein Abbild der anderen wäre. Ein Repräsentions- oder Abbildungsverhältnis besteht nicht.

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Es ist also nicht die Sprache, die sich auf die Wirklichkeit bezieht. Es sind die Sprecher.630 Sie legen sich im Akt der Bezugnahme jeweils auf eine Referenz fest. Verständlich machen können sie sich damit, indem sie das in einer von der Sprechergemeinschaft akzeptierten Weise tun. Sie halten sich an die für die Anwendung fixierte Referenz631, die sie sich durch den Worterwerb angeeignet 626 Grundsätzlich zur Kritik des entsprechenden Abbild- bzw. Repräsentationsmodells von Sprache hier Müller, F. / Christensen, R. Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 208; Müller, F., Einige Grundfragen der Rechtslinguistik, in: ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Neue Aufsätze (1995 – 1997), 1997, S. 55 ff., 60 ff. Zur linguistischen Kritik der Merkmalssemantik Busse, D., Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik, 1991, S. 29 ff. 627 Zu dieser Ansicht schien Wittgenstein nach Meinung seiner kanonischen Interpreten ursprünglich zu neigen und hat dann selbst die sogenannte Gegenstands- bzw. Abbildtheorie sprachlicher Bedeutung nachhaltig dekonstruiert. Dazu Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, 1984, §§ 1 ff. Differenziert zu Wittgensteins Ansichten hier Schulte, J., Wittgenstein. Eine Einführung, 1989, S. 67 ff., 74 ff. 628 Oder, wie es Wittgenstein, L., Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Band 6, 1984, S. 433 formuliert: „Begriff ist etwas wie ein Bild, womit man Gegenstände vergleicht.“ 629 Entsprechend zu den Fragen „nach der Bestimmtheit der Gegenstände, auf die referiert wird“ Wimmer, R., Referenzsemantik. Untersuchungen zur Festlegung von Bezeichnungsfunktionen sprachlicher Ausdrücke am Beispiel des Deutschen, 1979, S. 91 ff. 630 Dazu linguistisch Wimmer, R., Referenzsemantik. Untersuchungen zur Festlegung von Bezeichnungsfunktionen sprachlicher Ausdrücke am Beispiel des Deutschen, 1979, v. a. S. 109 ff. 631 Grundlegend zur Theorie der Referenzfixierung Kripke, S. A., Name und Notwendigkeit, 1981; Putnam, H., Die Bedeutung von „Bedeutung“, 2. Aufl. 1990, S. 40 ff.; linguistisch Wimmer, R., Referieren, in: Heringer, H. J. / Öhlschläger, G. / Strecker, B. / ders., Einführung in die praktische Semantik, 1977, S. 106 ff.; ders, Referenzsemantik. Untersuchungen zur Festlegung von Bezeichnungsfunktionen sprachlicher Ausdrücke am Beispiel des Deutschen,

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haben.632 „Referieren“ ist damit ein durch und durch „sozialer Vorgang ( . . . ) d. h. die jeweilige Bezugnahme eines sprachlichen Ausdrucks kann nicht im Sinne einer abstrakten Extension des Bedeutungsbegriffs gewonnen werden, sondern diese erfolgt sprecherabhängig.“633 „Zwingend“ ist die jeweilige Bezugnahme auf einen bestimmten Ausdruck nur insofern, als die jeweilige Sprechergemeinschaft darauf mit den normativen Praktiken der Zurechtweisung und Korrektur reagiert.634 Damit erhebt sich die Frage, woran diese Korrekturen überhaupt noch orientiert 494 sein können. Sprecher beziehen sich auf die Welt mittels Beschreibungen, durch die sie einander klar machen, welche Art von Gegenstand sie ins Auge gefasst haben.635 Sprecher sind verständlich, wenn sie dabei an standardisierte, stereotypisch verdichtete Beschreibungen anknüpfen.636 Ihre Akzeptanz beruht allein auf diesem erfolgreichen Gebrauch. Zwar versuchen Stereotype den von ihnen vermeinten Gegenständen Merkmale zuzuschreiben. Diese kommen den Objekten aber weder substanziell noch notwendig noch auch nur überhaupt zu. Ausschlaggebend sind sie allein als Teil des Begriffs, den sich die Sprecher von den Gegenständen der Welt machen. Und „zwingend“ daran ist wiederum der von der jeweiligen Gemeinschaft ausgehende und in den entsprechenden Praktiken ausgeübte „normative Druck“, sich gefälligst daran zu halten.637 „Entscheidend für das kommunikative Verständnis bzw. für erfolgreiches Referieren innerhalb der Sprechergemeinschaft ist ( . . . ) nicht die Wahrheitsfähigkeit eines Stereotyps oder einzelner Merkmale, sondern allein die (teilweise) Übereinstimmung der Sprechergemeinschaft hinsichtlich bestimmter Merkmale, die zur Kennzeichnung des jeweiligen Referenten dienen, mögen sie nun zutreffen oder nicht.“638 495 Tübingen 1979, v.a. S. 109 ff.; juristisch: allgemein zum Problem des Referierens im juristischen Bereich Jeand’Heur, B., Der Normtext: Schwer von Begriff oder Über das Suchen und Finden von Begriffsmerkmalen. Einige Bemerkungen zum Referenzverhältnis von Normtext und Sachverhalt, in: Müller, F., (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 149 ff.; ders. Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 139 ff. 632 Dazu Putnam, H., Die Bedeutung von „Bedeutung“, 2. Aufl. 1990, S. 65. 633 Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 140. 634 Dazu Christensen, R. / Kudlich, H., Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 150 ff.; Christensen R. / Sokolowski, M., Wie normativ ist Sprache? Der Richter zwischen Sprechautomat und Sprachgesetzgeber, in: Haß-Zumkehr, U. (Hrsg.), Sprache und Recht. Jahrbuch 2001 des Institut für Deutsche Sprache, 2002, S. 64 ff., 70 f. 635 Siehe auch Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Band 1, 1984, § 373: „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik.“ 636 Dazu Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 140 ff. in Anschluss an Putnam, H., Die Bedeutung von „Bedeutung“, 2. Aufl., 1990, S. 64 ff. Zur rechtslinguistischem Relevanz von Putnams Theorie auch Wittmann, R., Die Signifikanz der Sprachphilosophie H. Putnams für die Semantik der Rechtssprache, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1986, S. 369 ff. 637 Dazu Putnam, H., Die Bedeutung von „Bedeutung“, 2. Aufl. 1990, S. 67 ff. 24 Müller / Christensen

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Das heißt, „der Normtext gibt“ in seinem Verweis auf die soziale Lebenswelt nicht schon fertig „einen Begriff der geregelten Sachverhalte. Vielmehr zeichnet er lediglich die Form vor, in der solche Begriffe zu bilden sind. Und der Normtext enthält auch nicht schon Beschreibungen, die sich mit Wahrheit von Episoden des sozialen Lebens behaupten ließen. Vielmehr geben die Festlegungen des Normtextes lediglich die Bedingungen an, unter denen aufgrund von Belegen über solche Wahrheit zu entscheiden ist.“639 Den Bezug von Recht und Wirklichkeit muss der Rechtsarbeiter erst herstellen.640 Er vollzieht so für die Rechtserzeugung „stets von neuem die Benennungsfestsetzung, er greift nicht einfach nur auf schon vorhandene Referenzakte im Sinne eines kognitiven Erkennens zurück, sondern referiert selbst, vollzieht einen originären Sprechakt, indem er mit den Sprachdaten des Normtextes auf die Realdaten des Sachverhalts Bezug nimmt.“641 Die juristischen Begriffe, mit denen es der Rechtsarbeiter bei seiner Lektüre des Normtextes zu tun hat, haben lediglich Zeichenwert. Sie können den Juristen nur auf die Form des Bezugs verweisen, in den er den Normtext zur Wirklichkeit zu setzen hat. 496

Ein Problem bildet dabei die „Änderung der Referenzregel“.642 Dies zeigt sich vor allem in komplexen Regelungsmaterien. Es gilt aber auch schon für einfache Konstellationen. Zwar „gibt es durchaus Fälle, in denen Begriffe und Referenzen einfach liegen, typisch bei numerisch determinierten Normtexten (von Form-, Frist- und Verfahrensvorschriften); auch gibt es Fälle, die dank ihrer Standardsachverhalte routiniert erledigt werden. Aber jeder dieser Fälle kann aufgrund etwas abweichender Elemente bzw. aufgrund abweichenden Rechts- und Sprachhandelns problematisch werden; und die Hauptmasse der typischen Rechtsfälle ist von Anfang an hochkomplex. Die mit ihnen befassten Juristen arbeiten nicht einfach mit Begriffen, sondern nicht zuletzt an Begriffen.“643 Juristen haben bei dieser Arbeit allein schon als „Folge des Rechtsverweigerungsverbots“ auch „in der Sache“ zu entscheiden. Das heißt, sie müssen sich auf eine der möglichen Bezugnahmen festzulegen. „Der Zwang zur Entscheidung der jeweils anstehenden Rechtsfrage verpflichtet den Rechtsarbeiter, die Benennungsfestlegung, mithin die Frage der Verwendbarkeit des Normtextes auf den Sachverhalt eindeutig (ja / nein) zu beantworten.“644 Zugleich hat der Jurist auch eine gemäß ihrer Begründbarkeit „richtige“ Entscheidung darüber zu treffen. 638 Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 140 f. 639 Müller, F. / Christensen R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 177. 640 Entsprechend zur Theorie der Referenzfixierung hier Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 139 ff. 641 Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 155 f. 642 Allgemein dazu Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 144. 643 Müller, F., Einige Grundfragen der Rechtslinguistik, in: ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Neue Aufsätze (1995 – 1997), 1997, S. 55 ff., 61 f.

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Weder Sprache noch Wirklichkeit können dem Gericht die Entscheidung vor- 497 geben. Denn zu entscheiden ist über „Welten im Widerstreit“.645 Objektiv sind weder Sprache noch Wirklichkeit, sondern nur der Streit darum: „Wie sich die Sachen verhalten, d. h. wie unsere Wirklichkeit ist, kann nicht unabhängig von uns als jenen gesehen werden, im Bezug auf die sich die Sachen erst verhalten und erst zu Sachen werden. Wir machen sie zu Sachen in unserem Leben. Wie wir das machen, findet Ausdruck in unserer Sprache, i.e. unserer Lebensform. Nur im Bezug auf uns und im Hinblick auf das Spiel, das wir mit unserer Sprache spielen, verhalten sich Sachen. Sachverhalte, ob sie bestehen oder nicht, sind immer Sachverhalte eines Spiels.“646 Zu diesen Spielen, zu unserer Lebensform, gehört aber auch die Einsetzung von Autoritäten in Sachen Welt, von „Experten“. Ihnen obliegt das Verfertigen eines maßgeblichen Wissens darum, wie es sich in der Realität „tatsächlich“ verhält. Nicht privilegierte philosophische Schau, sondern soziale Praxis bestimmt also das Wissen um ein „wahres Wesen der Dinge“.647 Damit ist der Jurist konfrontiert, wenn er Wirklichkeitselemente in die Entscheidung einbeziehen will. Er muss die „sprachliche Arbeitsteilung“ berücksichtigen.648 „Jede Sprachgemeinschaft weist (eine) Art von sprachlicher Arbeitsteilung auf, das heißt, sie verwendet wenigstens einige Ausdrücke, für die gilt: Die mit diesen Ausdrücken verknüpften Kriterien kennt jeweils nur eine Teilmenge aller Sprecher, die diesen Ausdruck beherrschen, und ihre Verwendung durch andere Sprecher beruht auf einer spezifischen Kooperation zwischen diesen und den Sprechern aus den jeweiligen Teilmengen.“ Die letztgenannten sind daher auch die relevante Berufungsinstanz vor allem in jenen Zweifels- und Konfliktfällen, mit denen das Recht zu tun hat. In solchen Fällen werden „sich die anderen Sprecher auf das Urteil dieser sachkundigen Sprecher verlassen. Die Identifizierungsmethode, über die diese sachkundigen Sprecher verfügen, steht also auch dem gesamten Sprachkollektiv zu Gebote, selbst wenn nicht jedes einzelne Glied dieses Kollektivs über sie verfügt; auf diese Weise kann noch die ausgefallenste Wahrheit ( . . . ) Teil der sozialen Bedeutung werden und gleichzeitig fast allen Sprechern, die (ein) Wort beherrschen, unbekannt sein.“649 Juristen sind von Berufs wegen keine Fachleute für empirische Analysen. Des- 498 wegen sind sie auf die entsprechenden Experten angewiesen.650 Das Referenzpro644 Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 148. 645 Allgemein dazu Goodman, N., Weisen der Welterzeugung, 1984, S. 134 ff. 646 Strecker, B., Beweisen. Eine praktisch semantische Untersuchung, 1976, S. 93. Selbstverständlich redet Strecker hier vom „Spiel“ im Sinn des Sprachspielbegriffs bei Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, 1984, §§ 7, 23, 130. 647 Zu einem entsprechend pragmatischem Begriff von Wissen als Berufung auf den „guten Informanten“ siehe Craig, E., Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff, 1993, v. a. S. 44 ff. 648 Dazu Putnam, H., Die Bedeutung von „Bedeutung“, 2. Aufl. 1990, S. 37 ff. 649 Putnam, H., Die Bedeutung von „Bedeutung“, 2. Aufl. 1990, S. 38.

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blem wird damit zur Schnittstelle mit den jeweils thematisch angesprochenen anderen Wissenschaften. Zwar hat der Rechtsarbeiter die neuen Erkenntnisse für seine Fragestellung zu gewichten. Ihm kommt dabei aber nicht die Rolle eines Richters über die Wahrheiten der Welt zu. Vielmehr „erfordert Normbereichsanalyse ( . . . ) eine Zusammenarbeit, welche die nichtjuristischen Beteiligten nicht an ihnen fremde normative Fragestellungen ketten, sondern vielmehr die methodische und politische Verantwortung für das Ganze der rechtlichen Entscheidungsvorgänge bei den normkonkretisierenden Juristen belassen soll.“651 Das Recht ist als Sollensaussage auf die Formung der Realität bezogen. Man braucht, um die Tragweite einer Regelung einschätzen zu können, Informationen über die Wirklichkeit. Es geht hier um das Verknüpfen des rechtlichen Sprachspiels mit anderen Sprachspielen und mit Wissenschaften wie Ökonomie, Soziologie, Technik usw. Diese Verknüpfung muss man zunächst einmal erkennen, sonst ist die juristische Argumentation unvollständig. Aber auch wenn man sie erkennt, gibt es noch spezifische Fehlerrisiken. In jeder Geisteswissenschaft sind andere Disziplinen mit Stellvertretern präsent: z. B. Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Rechtslinguistik, usw. Ein Problem entsteht dann, wenn diese interne Repräsentation den Anschluss an den Stand der Diskussion verliert und damit unter Niveau arbeitet. Ein Übergriffsfehler652 liegt vor, wenn die nötige Rückkopplung an die Fachwissenschaften unterbleibt und der Richter sich freihändig zum Soziologen, Linguisten, usw. aufschwingt. Insoweit wird die Festlegung auf einen Bezug des Normtextes zu blinder Dezision, und der abstrakte Normativismus kehrt durch die Hintertür in die Entscheidung zurück. 499

Sein Gegenstück hat der Übergriffsfehler im Unterwerfungsfehler. Zwar haben sich Juristen über die Kriterien einer nach Stand des gesellschaftlichen Wissens angemessenen Referenzfixierung für den Normtext bei den Experten kundig zu machen. Aber sie können deren Ergebnisse nicht blindlings übernehmen. Das heißt, „das Hervorheben einzelner Tatsachen und Strukturen aus dem Sachbereich als ,grundlegend‘ – im Sinn von normativ mitbegründend – erfolgt nicht nach empirischen Gesichtspunkten durch den Sozialwissenschaftler, sondern nach juristischen durch den Rechtsarbeiter, der für die Entscheidung des fraglichen Falles verantwortlich ist.“653 Entzieht sich der Jurist dieser Verantwortung, so hält ein prinzipienlos opportunistischer Soziologismus durch die Hintertür Einkehr in die Entscheidung. Rechtsarbeit verkommt so zu einer bloßen Politik des Falls. Der Unterwerfungsfehler besteht in der umstandslos normativen Wendung einer faktischen Gegebenheit. Tatsächliche Tendenzen aber sind juristisch an das Normprogramm rückzukoppeln. Wenn das Normprogramm solche Entwicklungen gerade 650 Grundsätzlich dazu Müller, F., Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, in: ders., Rechtsstaatliche Form – Demokratische Politik, 1977, S. 257 ff., 268 f. 651 Müller, F. / Christensen R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 482. 652 Vgl. zu diesem Begriff Kuhn, T., Preishöhenmissbrauch (excessive pricing) im deutschen und europäischen Kartellrecht, in: Wirtschaft und Wettbewerb 2006, S. 591. 653 Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 238.

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verbieten will, dann können sie nicht zur Erarbeitung des Inhalts der Rechtsnorm mit herangezogen werden. Methodisch gewendet, bedeutet dies, dass Realdaten beim Konflikt mit textbezogenen Konkretisierungselementen zurücktreten müssen. Sonst würde man das Recht jeder Tatsächlichkeit ausliefern und damit verraten. Juristen sind nicht an Realität um deren selbst willen interessiert. „Juristische 500 Referenzakte – wir erinnern uns – sind nicht nur darauf ausgerichtet, auf Weltgegenstände Bezug zu nehmen, sondern und sogar primär, diese normativ zu gestalten.“654 Die „Empirie“, der sich Juristen durch die Konsultation von Experten im Rahmen der sprachlichen Arbeitsteilung zu stellen haben, um zu einem ausgewiesenen Wissen um die Sache zu kommen, hat ihre „Grenzen in der Begriffsbildung“.655 Die Begriffe mit den ihnen entsprechenden Wirklichkeitsmodellen ziehen die Grenzen dafür, was sich sinnvoll von Welt sagen lässt. Die Wirklichkeitsmodelle selbst entspringen dem Umgang mit Welt und wandeln sich daher ständig. Aber sie sind zugleich den sozialen Praktiken zur Festschreibung des fraglos Gültigen unterworfen.656 In diesem Sinn „dienen Begriffe ( . . . ) zum Begreifen. Sie entsprechen einer bestimmten Behandlung der Sachlagen.“657 Als solche „leiten sie uns zu Untersuchungen. Sind Ausdruck unseres Interesses, und lenken unser Interesse.“658 Das Interesse des Juristen liegt darin, einen Konflikt rechtlich zu entscheiden. 501 Auf Grund der Bindungen, die ihm dabei auferlegt sind, ist er in diesem Interesse nicht frei. Er ist an die Vorgaben des Normtextes gebunden. Dementsprechend sind auch seine weiteren Untersuchungen vorgezeichnet. „Als in den Gesamtprozess der Rechtsgenerierung integriertes Moment darf die juristische Norminterpretation zwar nicht lediglich nachzeichnen, was an sozialen Konventionen bereits existiert; dem steht der kontrafaktische Bewährungscharakter des Rechts entgegen, gemäß dem rechtlich-normative Erwartungen im Unterschied zu kognitiven auch jenseits ihrer beständigen Befolgung bestehen. Gleichzeitig bleibt aber eine Verkopplung mit der sozialen Wirklichkeit unabdingbar ( . . . ).“659 Diese Orientierung an außerrechtlichen Vorgängen ist – systemtheoretisch ausgedrückt – keine Durchbrechung 654 Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 131. 655 Vgl. Wittgenstein, L., Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Band 6, 1984, S. 237. 656 Eine ausführliche philosophische Erörterung all dessen findet sich bei Wittgenstein, L., Über Gewissheit. Werkausgabe Band 8, 1984, S. 113 ff. Rechtsmethodisch in diesem Sinn Jeand’Heur, B., Sprachliches Verhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 155 f. 657 Wittgenstein, L., Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Band 6, 1984, S. 431. 658 Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, 1984, § 570. 659 Vgl. dazu Ladeur, K.-H. / Augsberg, I., Auslegungsparadoxien, in: Rechtstheorie 2005, S. 143 ff., 172.

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der Selbstreferenz des Rechts.660 Dies zeigt schon die Überlegung, dass Selbstund Fremdreferenz grundsätzlich untrennbar sind.661 Zudem macht die Bezugnahme auf Realdaten diese zum Teil des Rechtssystems. Damit ist die Öffnung des Rechts zu seiner Umwelt hin keine Ausnahme von der Geschlossenheit des Rechtssystems. Vielmehr handelt es sich um eine Verdoppelung der Schließung, wobei in der Form des re-entry die Unterscheidung Recht / Nicht-Recht ins System aufgenommen wird.662 Die Wirklichkeitselemente erarbeitet sich der Jurist am Maßstab des Normprogramms, das „die Aufgabe (erfüllt), den Regelungsgehalt der Vorschrift zu transportieren. Es handelt sich hier gleichwohl um eine metaphorische Schreibweise, da ein solcher Gehalt nicht im Gesetz vorhanden ist, sondern allein vom Rechtsarbeiter durch Bearbeitung der normtextuell zur Verfügung stehenden Eingangsdaten hergestellt wird. Das Normprogramm ,beinhaltet‘ in diesem Sinne die Konsequenzanweisung, anhand derer der Rechtsarbeiter aus dem Fallbereich der Vorschrift die Teilmenge der normativ erheblichen Tatsachen ( . . . ) festsetzt.“663 Der Begriff des Normbereichs umfasst all jene Tatsachen, die der Jurist als „Realdaten“ durch die Ausforschung der den Fall bestimmenden Gegebenheiten gewonnen hat, welche mit dem Normprogramm vereinbar sind, das der Jurist anhand der „Sprachdaten“ formuliert. Es sind damit all jene Tatsachen, die die Entscheidung in der Sache mit zu tragen vermögen.664 502

Der Normbereich lässt sich nach zwei Seiten hin abgrenzen. Zum einen fällt er nicht schon mit der im einzelnen Rechtsstreit zur Verhandlung anstehenden Sache zusammen. Der – auf der Ebene genereller Fakten – angesprochene „Sachbereich“ „umfaßt ( . . . ) all diejenigen Realdaten, auf welche Juristen überhaupt, d. h. bei allen bisherigen Verwendungsweisen, mit dem jeweiligen Normtext Referenzbezüge hergestellt haben.“665 Als „Fallbereich“ ist er zudem in der Regel auf jene Bezugnahmen zu reduzieren, die im einzelnen für die aktuell anstehende juristische Beurteilung des fraglichen Rechtsfalls ein Rolle spielen. Der Jurist „produziert“ damit von der Sache her zunächst also nur „ein fallrelevantes Wirklichkeitsmodell“.666 Wollte man dieses schon gleich mit dem Normbereich in eins set660 Vgl. dazu aus Sicht der Systemtheorie: Ladeur, K.-H. / Augsberg, I., Auslegungsparadoxien, in: Rechtstheorie 2005, S. 143 ff., 173. 661 Vgl. dazu Vesting, Th., Gegenstandsadäquate Rechtsgewinnungstheorie – Eine Alternative zum Abwägungspragmatismus des Bundesdeutschen Verfassungsrechts?, in: Der Staat 2002, S. 73 ff., 82 f. 662 Vgl. dazu Teubner, G. / Zumbansen, P., Rechtsentfremdungen: Zum gesellschaftlichen Mehrwert des 12. Kamels, in: Teubner, G. (Hrsg.), Die Rückgabe des 12. Kamels: Niklas Luhmann in der Diskussion über Gerechtigkeit, Stuttgart 2000, S. 189 ff., 192 f. 663 Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 157. 664 Grundlegend zu alledem Müller, F., Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, S. 168 ff., 184 ff., 250 ff. 665 Jeand’Heur, B., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 157. 666 Ebd., S. 157.

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zen, so hieße das, seinen normativen Gehalt soziologistisch im Tatsächlichen aufgehen lassen. Die Tatsächlichkeit des Falls, die Modellierung seiner Realitäten ist aber erst einmal in Hinblick auf ihre rechtliche Relevanz zu sortieren. Der Normbereich ist nicht schlichtweg ein vom Normtext betroffener Wirklichkeitsausschnitt. Vielmehr stellt er dessen normative Überformung und Formierung dar. Die „im Tatsächlichen wurzelnden Sachelemente gehören nur insoweit zum Normbereich, als sie sich bei Konkretisierung der Norm für einen bestimmten Sachverhalt als unentbehrliche Bestandteile konkreter Normativität nachweisen lassen.“667 „Normbereich“ ist kein realistischer, zugleich ist es auch kein dogmatischer Begriff. Er ist nicht mit dem des Regelungs- oder Schutzbereichs von Normen zu verwechseln. Wollte man den Normbereich einem angeblich vorgegebenen Regelungsgehalt des Normtextes umstandslos zuschlagen, so hieße das, ihn normativistisch-positivistisch um seine Sachgebundenheit zu verkürzen. Beim Normbereich handelt es sich überhaupt nicht um einen ontologischen und 503 schon gar nicht um einen substantiell abstraktiven Begriff. Er ist vielmehr im Vorgang einer Normbereichsanalyse prozesshaft und daher praktisch zu bestimmen.668 Durch ihn wird eine Forderung an den Juristen formuliert, der dieser im Dienst der Begründbarkeit und damit der Legitimität seiner Entscheidung nachzukommen hat: „ ,Normbereich‘ ist ( . . . ) ein Arbeitsbegriff. Auch er benennt eine Arbeitsanforderung an die im demokratischen Rechtsstaat ( . . . ) tätigen Juristen.“669 Um diese Forderungen einzulösen, genügt es allerdings nicht, Wirklichkeit und Recht unverbindlich aufeinander zu beziehen, weil „durch nicht strukturierte, nicht gewichtete ,Wechselseitigkeit‘ von Norm und Sachverhalt die Gefahr eines methodisch ungebändigten Soziologismus und damit nicht nur einer Kadijustiz, sondern einer Kadimethodik und -rechtstheorie gegeben ist.“670 Es kommt stattdessen auf präzise Schritte an. Das zunächst als Fallbereich konstruierte Wirklichkeitsmodell wird zum entscheidungsrelevanten Normbereich fortentwickelt. Dieser ist dem Juristen nicht als feste Größe vorgegeben oder als Bestandteil der Rechtsnorm dieser inhärent; auch der Normbereich ist Produkt des Konkretisierungsvorgangs,671 in dessen Rahmen er mit Hilfe der Konsequenzanweisung ermittelt wird; sprich: in Einklang mit den jeweiligen Ergebnissen der Arbeit am Normprogramm. Der ganze Prozess ist gekennzeichnet von der Kontrolle, der Bestätigung oder der Revision

667 Müller, F., Thesen zur Struktur von Rechtsnormen, in: ders., Rechtsstaatliche FormDemokratische Politik. Beiträge zu Öffentlichem Recht. Methodik, Rechts- und Staatstheorie, 1977, S. 257 ff., 267. 668 Näher dazu Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 235 ff. 669 Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 238. 670 Müller, F., Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl., 1994, S. 336. 671 Konkretisierung hat natürlich nicht nur eine methodologische, sondern vor allem auch eine praktisch-prozedurale Seite. Vgl. dazu auch Röthel, A., Die Konkretisierung von Generalklauseln, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 213 ff., 230.

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der in einem Bereich gewonnenen Resultate im Licht der jeweils für das andere Moment erarbeiteten. Diese Arbeitsweise löst nicht nur die Bestimmung von Recht als einem sachbestimmten Ordnungsmodell für die Entscheidung im Einzelfall praktisch ein. Sie tut dies auch auf eine durch methodische Nachvollziehbarkeit und inhaltliche Begründbarkeit gerechtfertigte Weise.

452 Das Problem einer dynamischen Normbereichsanalyse

504

Die Normbereichsanalyse wirft im Europarecht eigene Legitimationsfragen auf, wenn man sie dort mit den dynamischen Vorgaben des Primärrechts verbindet. Dann besteht die Gefahr, dass der EuGH als politischer Motor der Integration faktische Entwicklungen einfach ins Normative verlängert. Es ist daher auf die vom Normprogramm gezogene Grenze besonders zu achten.

452.1 Begriff der dynamisch-evolutiven Auslegung 505

Neben dem Effektivitätsprinzip, also dem Ansatz, dem Gemeinschaftsrecht zur größtmöglichen Wirksamkeit zu verhelfen, spielt die dynamische oder evolutive Auslegung in der Judikatur des Gerichtshofs eine besondere Rolle. Zum Teil fasst man sie unter die Ausrichtung der teleologischen Argumente an der Sachgemäßheit672 der Regelung, zum Teil als Unterart der teleologischen Interpretation673 und schließlich wird sie auch noch als neben der Teleologie stehende eigenständige Methode behandelt.674 Der Sache nach handelt es sich um eine Normbereichsanalyse, die unter der primärrechtlichen Vorgabe einer immer enger werdenden Gemeinschaft durchgeführt wird. Demnach ist eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift im Licht der Entwicklung, welche sie seit ihrem Inkrafttreten genommen hat, zu interpretieren.675 Die Methode ist der Literatur zufolge dann anzuwenden, wenn sich seit der Entstehung eines geschriebenen Rechtssatzes die in ihm enthaltenen „unbestimmten Rechtsbegriffe“ weiter entwickelt haben.676 Ein unbestimm672 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 213 ff. Ein Beispiel dafür wäre etwa die Rechtsprechung des EuGH zu In-House-Geschäften und der Notwendigkeit zur Ausschreibung bei der Beauftragung von Enkel-Gesellschaften: EuGH, in: NVwZ 2006, S. 800 ff., 802, Rdnr. 58 und 64 ff. 673 Blank, J., Europäische Fusionskontrolle im Rahmen der Art. 85, 86 des EWG-Vertrages, 1991, S. 100. 674 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 238 ff. 675 Vgl. Oehmichen, A., Die unmittelbare Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Verträge der EG, 1992, S. 132; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 238. 676 Vgl. Dumon, F., Die Rechtsprechung des Gerichtshofes; Kritische Prüfung der Auslegungsmethoden, Teil III, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976,

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ter Rechtsbegriff ist aber sprachwissenschaftlich keine sinnvolle Kategorie.677 Sprache und Text gewinnen Bestimmtheit nur in Situationen ihrer Verwendung. Es gibt keine sprachwissenschaftliche Klasse von Begriffen, denen im Unterschied zu anderen „Unbestimmtheit“ zukäme. Als rationaler Kern spontaner juristischer Laienlinguistik ist lediglich anzuerkennen, dass sich die Frage nach der Bestimmtheit678 bei manchen Begriffen besonders deutlich und häufig stellt. Diese machen damit aber nur auf ein Problem aufmerksam, das prinzipiell für alle Begriffe gilt. Jeder Rechtsbegriff hat einen Wirklichkeitsbezug und wird so potenziell durch tatsächliche Entwicklungen beeinflusst. „Entwicklung“ bedeutet dabei die Veränderung der Lebensbedingungen in der Gesellschaft, der Bedürfnisse oder Möglichkeiten, Mittel und Techniken sowie der wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Auffassungen.679 In den Präambeln zur Einheitlichen Europäischen Akte und zum EG-Vertrag bekennen sich die Mitgliedstaaten als Verfassunggeber der Gemeinschaft zur Verantwortung Europas, sich darum zu bemühen, in verstärktem Maß geeint, geschlossen und solidarisch zu handeln, um ihre gemeinsamen Interessen wirkungsvoller zu verteidigen. Zielvorgabe ist der engere Zusammenschluss der europäischen Völker und das Bestreben, deren Volkswirtschaften zu einigen und eine harmonische Entwicklung zu fördern.680 Dieser übereinstimmende Wille zeigt sich besonders im Grundsatz der fortschreitenden Integration, der die verantwortlich Handelnden nicht nur politisch bindet, sondern der auch eine grundlegende Struktur in der Systematik des Gemeinschaftsrechts darstellt. All dies fordert eine fortschrittliche Auslegung im Sinn europäischer Lösungen.681 Der Wille, nationale Rechte auf Souveränität im Lauf der Zeit in einer europäischen aufgehen zu lassen, liegt den Verträgen zugrunde und muss daher auch Richtschnur für die genetische Interpretation sein.682 Das Vorantreiben der wirtschaftlichen und politischen Integration ist zwar in erster Linie den politischen Organen und deren Rechtssetzungsbefugnissen übertragen; doch müssen die EuGH-Richter allein schon deshalb an der Integrationsfunktion gleichfalls teilhaben, weil nach westlichem Demokratieund Staatsverständnis auch die Gerichtsbarkeit am Ausgestalten des politischen und rechtlichen Prozesses beteiligt ist.683 S. III-90; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 238. 677 Die sprachwissenschaftliche Fundierung fehlt typischerweise bei solchen spontanen juristischen Sprachtheorien. Vgl. dazu etwa Röthel, A., Die Konkretisierung von Generalklauseln, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S 213 ff. 678 Schübel-Pfister, I., Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 385 ff. sowie 457 ff. 679 Dumon, F., Die Rechtsprechung des Gerichtshofes; Kritische Prüfung der Auslegungsmethoden, Teil III, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. III-93. 680 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 213 m. w. N. 681 Ophüls, C. F., Über die Auslegung der Europäischen Gemeinschaftsverträge, in: Greiß, F. / Meyer, S. W. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für Alfred Müller-Armack, 1961, S. 279 ff., 289. 682 Ebd., S. 289; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 239.

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4 Argumentformen – 45 Normbereichsargument

452.2 Anwendungsbeispiele und Verknüpfung mit Teleologie 506

Als Ausgangspunkt für die dynamische Auslegung gilt das „C.I.L.F.I.T.“-Urteil: „Schließlich ist jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstandes zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen.“684 Nach diesem Urteil ist eine Vorlagepflicht auch eines letztinstanzlichen Gerichts nach Art. 234 Abs. 3 EG unter anderem dann nicht gegeben, wenn der EuGH schon entschieden hat. Es bleibt dem Gericht aber dennoch unbenommen, den EuGH um Vorabentscheidung zu ersuchen.685 Das ergibt nur dann einen Sinn, wenn die schrittweise Entwicklung des Gemeinschaftsrechts dazu führen kann, dass der Gerichtshof dem fraglichen gemeinschaftsrechtlichen Begriff in dieser neuen Vorabentscheidung eine andere Tragweite beimisst als in seiner früheren Judikatur.

507

Die Voraussetzungen für die dynamische Auslegung hat der Gerichtshof im „Reed“-Urteil686 präzisiert. Fraglich war dort, ob die Lebensgefährtin eines britischen Staatsangehörigen wie dessen „Ehegatte“ im Sinn des Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1612 / 68 zu behandeln ist. Die Klägerin vertrat die Ansicht, die rechtliche und soziale Entwicklung habe dazu geführt, dass der Begriff des „Ehegatten“ im Sinn der Verordnung so zu verstehen sei, dass nicht verheiratete Partner – zumindest in einem Fall wie dem vorliegenden – den Ehegatten soweit wie möglich gleich gestellt sein müssten. Demgegenüber waren die – in diesem Fall betroffene, weil eine Aufenthaltserlaubnis verweigernde – niederländische Regierung und die Kommission der Auffassung, dass eine inhaltsgleiche Entwicklung in der gesamten Gemeinschaft und nicht nur in einem einzigen oder nur in einigen Mitgliedstaaten festgestellt werden müsse, wenn man sich im Weg einer dynamischen Auslegung auf die Änderung der gesellschaftlichen Standards oder der Rechtsauffassung berufen wollte. Da nach dem damaligen Stand von 1986 kaum von einem Konsens über die etwaige Gleichstellung von nicht verheirateten Partnern mit Ehegatten gesprochen werden könne, scheide eine erweiternde – dynamische – Auslegung des Art. 10 der Verordnung aus. Der Gerichtshof schloss sich dieser Ansicht der niederländischen Regierung und der Kommission an. Da es um die Interpretation einer Bestimmung in einer Verordnung ging, folgerte er aus deren Allgemeinverbindlichkeit entsprechend der Legaldefinition einer Verordnung im Sinn des Art. 249 II EG, „( . . . ) daß die Auslegung einer Bestimmung dieser Verordnung durch den Gerichtshof Konsequenzen in allen Mitgliedstaaten hat und daß eine Auslegung von Rechtsbegriffen, die auf die gesellschaftliche Entwicklung gestützt wird, aufgrund einer Untersuchung der Lage in der gesamten Gemeinschaft und 683 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 213 f. 684 EuGH, Slg. 1982, S. 3415 ff., 3430, Rn. 20 (C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità). 685 Im Einzelnen siehe unten. 686 EuGH, Slg. 1986, S. 1283 ff. (Niederlande / Reed).

452 Das Problem einer dynamischen Normbereichsanalyse

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nicht nur in einem einzigen Mitgliedstaat erfolgen muß.“687 Somit hat also eine sich wandelnde Praxis in den Mitgliedstaaten eine einheitliche zu sein, um im Rahmen einer dynamischen Auslegung berücksichtigt zu werden.688 Ein sprechendes Beispiel für den Einsatz der dynamischen Interpretation durch 508 den EuGH ist das Gutachten nach Art. 228 VI EGV (jetzt Art. 300 VI EG) über die Vereinbarkeit des Entwurfs für ein internationales Naturkautschukabkommen mit dem EG-Vertrag.689 Primär war dabei fraglich, wie weit der Regelungsbereich der gemeinsamen Handelspolitik im Sinn der Art. 110, 113 EGV (jetzt Art. 131, 133 EG) reicht. Dabei legte der Gerichtshof den Begriff der „gemeinsamen Handelspolitik“ dynamisch im Licht der fortschreitenden Integration aus690: „Wenn auch anzunehmen ist, daß der beherrschende Gedanke zur Zeit der Ausarbeitung des Vertrages der der Liberalisierung des Handelsverkehrs war, so hindert doch der Vertrag die Gemeinschaft nicht daran, eine Handelspolitik zu entwickeln, die für bestimmte Erzeugnisse auf eine Regulierung des Weltmarktes anstelle einer bloßen Liberalisierung des Handelsverkehrs abzielt.“691 Die dynamische Auslegung kann, so wie sie der EuGH hier im Naturkautschuk-Gutachten verwendete, dazu führen, dass Sachverhalte, die ursprünglich nicht unter das Gemeinschaftsrecht fielen, mit dem allmählichen Fortschreiten der Integration unter den Vertrag fallen bzw. abweichend von der bisherigen Rechtsprechung entschieden werden müssen.692 Dabei erkennt der Gerichtshof auch die Grenzen dieser Methode im Normprogramm an.693 Weitere Anwendungsbeispiele für die dynamische Auslegung sind das noch 509 näher zu besprechende „Erasmus“-Urteil694 sowie das Urteil „Kommission gegen Vereinigtes Königreich“ vom 09. 07. 1991.695 In der letztgenannten Entscheidung war der Umfang des Begriffs der Basislinie in der Verordnung Nr. 170 / 83 umstritten, wobei das Gericht insbesondere mit der Problematik konfrontiert war, dass andere Gemeinschaftstexte denselben Ausdruck mit einem offenbar anderen Bedeutungsgehalt verwenden. Der EuGH gelangte zu einer funktionsdifferenten Ebd., S. 1300, Rn. 13 des Urteils. In dem zu entscheidenden Fall stellte der Gerichtshof fest, dass Art. 10 der Verordnung mit dem Begriff „Ehegatte“ ausschließlich eine Beziehung meint, die auf einer Ehe beruht. 689 EuGH, Slg. 1979, S. 2871 ff. (Gutachten 1 / 78). 690 EuGH, Slg. 1979, S. 2871 ff., Rn. 43 ff. (Gutachten 1 / 78). 691 Ebd., S. 2913, Rn. 44 des Gutachtens. 692 Vgl. Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1982, S. 1177 ff., 1180; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 245. 693 Vgl. Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1982, S. 1177 ff., 1181; Meyer, P., Die Grundsätze der Auslegung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Jura 1994, S. 455 ff., 457. 694 EuGH, Slg. 1989, S. 1425 ff. (Kommission / Rat). 695 EuGH, Slg. 1991, S. I-3533 ff. (Kommission / Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland). 687 688

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4 Argumentformen – 45 Normbereichsargument

Auslegung des Begriffs. Er begründete das mit der Verfolgung unterschiedlicher Ziele und wählte eine Variante, welche „die einzige ist, die die Erreichung der Ziele der fraglichen Verordnung ermöglicht“.696 Der Gerichtshof wandte sich also von der üblichen Verwendungsweise des Terminus ab und gab einem gemeinschaftsfreundlichen Verständnis im Hinblick auf eine ausgeweitete und verbesserte Erhaltung der Fischereibestände und auf den Schutz gewisser Fischereitätigkeiten den Vorzug. Dabei begründete er die funktionsdifferente Auslegung mit Systematik und Normbereichsanalyse.697 510

In dem bereits erörterten Urteil „Gravier“698 wird deutlich, dass der EuGH auch die dynamische Auslegung mit dem „effet utile“ verknüpft: „Die in Artikel 128 EWG-Vertrag angesprochene gemeinsame Politik im Bereich der Berufsausbildung entwickelt sich also schrittweise. Sie ist im übrigen ein unentbehrlicher Bestandteil der Tätigkeit der Gemeinschaft, zu deren Zielen unter anderem die Freizügigkeit, die Mobilität der Arbeitskräfte und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer gehören. Insbesondere der Zugang zur Berufsausbildung ist geeignet, die Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu fördern, indem er den einzelnen die Möglichkeit gibt, eine Qualifikation in dem Mitgliedstaat zu erwerben, in dem sie ihre Berufstätigkeit ausüben wollen, sowie die Möglichkeit, in dem Mitgliedstaat, dessen berufliches Bildungssystem die entsprechende Spezialisierung anbietet, ihre Ausbildung zu vervollkommnen und ihre besonderen Fähigkeiten zu entwickeln. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Voraussetzungen für den Zugang zur Berufsausbildung in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrags fallen.“ Zentral wichtig ist die dynamische Interpretation auch in der Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit und zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Die zu diesem Problemkreis ergangenen Urteile stellen Leitentscheidungen und mittlerweile Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts dar, die zum Aufbau einer europäischen Rechtsordnung und zur Errichtung eines umfassenden Rechtsschutzsystems maßgeblich beigetragen haben.699

452.3 Grenzen der dynamischen Interpretation 511

Auslegung, orientiert am „gegenwärtigen Stand der Integration“, heißt nicht zwangsläufig extensive Auslegung. Denn Integrationsförderung in Form von Kompetenzerweiterungen steht nur den Mitgliedstaaten sowie in Form von HarmonisieEbd., S. 3576, Rn. 34. Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 214 f. 698 Rs. 293 / 83 (Gravier). 699 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 215. 696 697

452 Das Problem einer dynamischen Normbereichsanalyse

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rungsmaßnahmen dem Gemeinschaftsgesetzgeber zu.700 Schon aus Gründen des „judicial self-restraint“ hat der EuGH daher die dynamische Interpretation in einem einschränkenden Sinn angewandt, indem er hervorhob, dass es beim „gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts“701 bzw. beim „derzeitigen Stand seiner Entwicklung“702 nur eine sehr beschränkte oder noch gar keine gemeinschaftsrechtliche Lösung des entsprechenden Sachverhalts gibt.703 Auf diese Weise stellte das Gericht klar, dass mit der fortschreitenden Integration eine erweiternde Auslegung der betreffenden Sekundärrechtsvorschrift nicht automatisch verbunden sein muss.704 Für dieses Konzept spricht vor allem, dass sich Sekundärrecht im Rahmen der Gemeinschaftskompetenzen jedenfalls leichter ändern lässt als Primärrecht. Nur bei Primärrecht kann man sagen, dass angesichts der Schwerfälligkeit eines Verfahrens nach Art. 48 EU die Judikative die Aufgabe hat, im Weg der dynamischen Auslegung auf neue Entwicklungen in der Wirklichkeit zu reagieren; aber nur so lange dies nicht dazu führt, dass die im Vertrag niedergelegten Ziele aufgehoben werden.705 In der Rechtssache „Preussen Elektra“706 ging der Gerichtshof vom „gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts im Bereich des Umweltschutzes“ aus und schränkte mit Hilfe der dynamischen Auslegung den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht ein. Preussen Elektra ist ein Elektrizitätsversorgungsunternehmen, das in Deutschland mehr als 25 konventionelle und Kernkraftwerke sowie ein Stromverteilungsnetz auf Hoch- und Höchstspannungsebene betreibt. Das deutsche Stromeinspeisungsgesetz von 1990, das 1994 und 1998 geändert wurde, verpflichtet öffentliche Elektrizitätsversorgungsunternehmen (unabhängig davon, ob sie in privater oder öffentlicher Hand sind), den in ihrem Versorgungsgebiet erzeugten Strom aus erneuerbaren Energien, darunter Windstrom, zu Mindestpreisen abzunehmen, die über dem tatsächlichen wirtschaftlichen Wert dieses Stromes liegen. 700 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 245. 701 EuGH, Slg. 1980, S. 31 ff., 56 (Kommission / Italien); EuGH, Slg. 1980, S. 151 ff., 166, (Land Berlin / Wigei); EuGH, Slg. 1986, S. 1855 ff., 1867 (Schloh / Auto Contrôle Technique); EuGH, Slg. 1992, S. I-249 ff., 283 (Bachmann). 702 EuGH, Slg. 1978, S. 1787 ff., 1806 (Hansen / Hauptzollamt Flensburg). 703 Vgl. z. B. EuGH, Rs. C-290 / 90, S. 3317, Rn. 15, 16 (Kommission / Deutschland): „Bei diesem Stand des Gemeinschaftsrechts läßt sich kaum vermeiden, daß zwischen den Mitgliedstaaten vorübergehend – zumindest bis zu einer umfassenden Harmonisierung der zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes erforderlichen Maßnahmen – Unterschiede bei der Qualifizierung der Erzeugnisse fortbestehen. Unter diesen Umständen obliegt es ( . . . ) den nationalen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle, für jedes Erzeugnis festzustellen, ( . . . ).“ 704 Vgl. Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1982, S. 1177 ff., 1181. 705 Vgl. Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 246 m. w. N. 706 EuGH, Rs. C-379 / 98, Urt. v. 13. 03. 2001 (Preussen Elektra), EuZW 2001, S. 242 ff. = DVBl. 2001, S. 633 ff.

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4 Argumentformen – 45 Normbereichsargument

Die deutsche Regierung hatte 1990 den Entwurf des ursprünglichen Gesetzes der Kommission mitgeteilt, die ihn genehmigte, nachdem sie zu der Ansicht gelangt war, dass er den energiepolitischen Zielen der Gemeinschaften entspreche. 1998 wurde diese Regelung geändert und ein Verfahren zur Aufteilung der sich aus der Abnahmepflicht ergebenden Mehrkosten zwischen den Versorgungsunternehmen und den Betreibern der vorgelagerten Netze eingeführt. Schleswag muss als regionales Versorgungsunternehmen in Schleswig-Holstein den in ihrem Versorgungsgebiet erzeugten Strom aus erneuerbaren Energien abnehmen. Diese Abnahmepflicht führt zu erheblichen Mehrkosten. Schleswag verlangte daher von Preussen Elektra nach dem Aufteilungsverfahren des deutschen Gesetzes die Zahlung verschiedener Beträge, die sie im Rahmen ihrer Abnahmepflicht verauslagt hatte. Preussen Elektra erhob vor dem LG Kiel Klage auf Rückzahlung eines Betrags von 500.000,– DM, den sie ursprünglich als Erstattung für Mehrkosten aus der Abnahme von Windstrom an Schleswag gezahlt hatte. Die Begründung lautete, diese Zahlung sei nicht mit Gemeinschaftsrecht vereinbar, da sie auf einer umgestalteten Beihilferegelung beruht habe, die bei der Kommission nicht notifiziert worden sei. Das LG Kiel legte nach Art. 234 EG vor und fragte, ob es sich bei der Änderung des Gesetzes um das Umgestalten einer staatlichen Beihilfe im Sinn von Art. 92 EGV (Art. 87 EG) handele und ob die dadurch geschaffene Regelung u. a. gegen das Verbot mengenmäßiger Handelsbeschränkungen verstoße. 512

Der EuGH entschied, dass keine Beihilfe im Sinn des Art. 87 EG vorliege.707 Außerdem stellte er fest, dass eine nationale Regelung, die den Wirtschaftsteilnehmern dieses Mitgliedstaats die Verpflichtung auferlegt, einen gewissen Prozentsatz ihres Bedarfs an einem bestimmten Erzeugnis bei einem inländischen Lieferanten zu decken, den innergemeinschaftlichen Handel zumindest potenziell behindern könne.708 Allerdings seien dabei das Ziel des streitigen Gesetzes und die Besonderheiten des Strommarktes zu berücksichtigen. Die Regelung diene dem Umweltschutz, da sie dazu beitrage, die Emissionen von Treibhausgasen zu verringern. Das mit ihr verfolgte Ziel gehöre somit zu den vorrangigen Zielen der Gemeinschaft (Kyoto-Abkommen von EG und MS unterzeichnet, Beschluss 94 / 69 / EG, Richtlinien 96 / 92 / EG und Entscheidung 646 / 2000 / EG; s. auch Art. 174 II Unterabs. 1 EG). Der EuGH gelangte daher zu dem Ergebnis, dass die deutsche Regelung unter diesen Umständen und beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet des Elektrizitätsmarktes nicht gegen Art. 28 EG verstößt. Hieran sieht man klar, dass dynamische Auslegung auch zugunsten der nationalen Kompetenzen angewandt werden kann. 707 Zur Begründung und Kommentierung Kuhn, T., Implications of the „Preussen Elektra“ – Judgment of the European Court of Justice on the Community Rules on State Aid and the Free Movement of Goods, in: Legal Issues of Economic Integration, Volume 28, 2001, Number 3, S. 361 ff., 362 ff. 708 Das heißt die Dassonville-Formel ist erfüllt; s. auch Rs. C-72 / 83 „Campus Oil“ und C-21 / 88 „Du Pont de Nemours Italiana“.

452 Das Problem einer dynamischen Normbereichsanalyse

383

Die Entscheidung hat eine große Bedeutung für den Bereich der Marktfreihei- 513 ten. Bis 1992 wurden diese im Vertragstext als „vorrangige Grundprinzipien“ des EG-Rechts genannt. Diese Formulierung wurde durch den Vertrag von Maastricht gestrichen. Nunmehr stehen die Marktfreiheiten gleichberechtigt neben allen anderen Prinzipien, Grundsätzen und Zielen des Vertrags. Erst 1986 wurde durch die EEA eine Kompetenz für den Umweltschutz (Art. 130r-t, jetzt Art. 174 – 176 EG) eingeführt. Seit der Streichung der früheren Formulierung für die Marktfreiheiten stellte der Fall Preussen Elektra den ersten ernsthaften Konflikt zwischen Art. 28 EG und dem Umweltschutz dar. Der EuGH hat dem Umweltschutz (jedenfalls in einer speziellen Fallkonstellation) den Vorzug gegeben. Im Rahmen des Europäischen Rates von Stockholm, am 23. und 24. 03. 2001, haben sich die Staats- und Regierungschefs auf Betreiben Frankreichs (mit Unterstützung Deutschlands) erneut nicht auf einen verbindlichen Termin zur vollständigen Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes geeinigt. Trotzdem muss der Gerichtshof die entsprechenden Konflikte entscheiden. Der EuGH hat mit diesem Urteil nicht etwa eine politische Rolle als Motor der Integration übernommen, sondern die Begrenztheit der eigenen Kompetenz deutlich anerkannt. Denn eine immer enger werdende Gemeinschaft ist rechtlich nur in den Grenzen der jeweils bereichsspezifischen Normprogramme gefordert.709 Eine Verbindung der Normbereichsanalyse mit den dynamischen Vorgaben des Primärrechts muss genau hier ihre Grenze finden. Eine Betrachtung, die sich am jeweiligen Stand der Integration orientiert, ist daher angebracht und anhand der Systematik des Gemeinschaftsrechts auch gerechtfertigt; denn es handelt sich um eine nur bedingt „natürlich“ gewachsene Rechtsordnung, die auf fortschreitende Integration (und deren genaue Beobachtung) angelegt ist. Aber sie muss im konkreten Einzelfall vom Normprogramm begrenzt bleiben.

46 Rechtsvergleichendes Argument Die Analyse der Rechtsprechung des EuGH hat gezeigt, dass er die Lösungen 514 der nationalen Traditionen nicht einfach aufnimmt und unverändert im Gemeinschaftsrecht abbildet, sondern sie schöpferisch fortbildet. Es stellt sich die Frage, ob diese Arbeitsweise mit der Rolle eines Gerichts noch zu vereinbaren ist; denn damit gerät der EuGH in die Position eines Gesetzgebers erster Stufe, der nicht nur die Bedeutung von Normtexten fallbezogen festsetzt, sondern selber Normtexte schreibt. Die rechtsvergleichende Auslegung ist eine der neuen Methoden des EuGH. Dabei ist sie in den Mitgliedstaaten nicht etwa unbekannt.710 Sie wird von der Wis709 Vgl. auch Buerstedde, W., Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 78 ff. 710 Zur rechtsvergleichenden Auslegung europäischen Privatrechts durch die nationalen Gerichte vgl. Schwartze, A., Die Rechtsvergleichung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 5 ff., 17 ff.

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4 Argumentformen – 46 Rechtsvergleichendes Argument

senschaft als wichtiges Instrument juristischer Textarbeit eingefordert. Die häufige Anwendung scheitert nur daran, dass Komparatistik in der Alltagspraxis der Gerichte zu aufwändig ist. Wenn diese Art der Argumentation von einem nationalen Gericht vorgenommen wird, ist es klar, dass Lösungen anderer Rechtskreise nicht „eins zu eins“ übernommen werden können, sondern einer Bewertung an Hand der verfassungsrechtlichen Vorgaben und auch der Systematik der einfachgesetzlichen Rechtslage bedürfen. Nationale Richter bleiben an ihre eigenen Gesetze gebunden und können im Spielraum des methodisch und verfassungsrechtlich Möglichen höchstens einzelne Lesarten variieren. 515

Die Lage beim EuGH ist vergleichbar, und doch wieder anders. Vergleichbar ist zunächst, dass auch der EuGH die nationalen Lösungen nicht einfach übernehmen kann. Auch er braucht eine Bewertung, und zwar vom Gemeinschaftsrecht her. Deswegen handelt es sich auch beim EuGH um eine wertende Rechtsvergleichung. Die Wertung ergibt sich dabei aus der Perspektive auf eine immer enger werdende Gemeinschaft hin. Der Unterschied zur Situation nationaler Gerichte liegt aber darin, dass dem EuGH eine gesetzgeberähnliche Rolle zukommt. Art. 6 Abs. 2 EU und Art. 288 Abs. 2 EG ordnen nicht nur an, bei der Auslegung von Grundrechten die Traditionen der Mitgliedstaaten rechtsvergleichend zu berücksichtigen. Diese Vorschriften gehen weit darüber hinaus. Sie gebieten dem EuGH, die Gemeinschaftsgrundrechte und die Grundsätze des Staatshaftungsrechts unter Bezug auf die Traditionen der Mitgliedstaaten überhaupt erst zu schaffen. Die überkommenen Regeln funktioneller Gewaltenteilung werden hiermit durchbrochen. Das Gericht stellt insoweit unter Bindung an die vom Gesetzgeber geschaffenen Normtexte nicht nur Rechtsnormen her, sondern es setzt selber normtextähnliche Rechtsquellen und nähert sich so einem Gesetzgeber erster Stufe an. Wie die Legitimität und die Grenzen einer solchen Arbeit des europäischen Gerichts zu bestimmen sind, ist eine für die juristische Methodik neue Fragestellung.

461 Normative Vorgaben

516

Zunächst ist festzustellen, dass sich in den Urteilen des Gerichtshofs in der Regel keine Hinweise auf rechtsvergleichende Überlegungen finden.711 Das Gebot zur Rechtsvergleichung wurde in der Anfangsphase meist von den Generalanwälten und / oder ex post durch die Literatur erfüllt. Es handelt sich hier um dasselbe Phänomen, das auch im Rahmen der grammatischen Auslegung zu beobachten war: Das Ausarbeiten der Sprachvariationen in den Mitgliedsländern wird vom Generalanwalt vorgenommen und anschließend vom EuGH, wenn überhaupt, in der Begründung nur kurz erwähnt. 711 Vgl. dazu auch Schwartze, A., Die Rechtsvergleichung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 5 ff., 15 ff.

461 Normative Vorgaben

385

461.1 Art. 6 Abs. 2 EU und die Gemeinschaftsgrundrechte Eine tragende Rolle hat die rechtsvergleichende Interpretation im Bereich und 517 bei der Gewinnung der Gemeinschaftsgrundrechte gespielt.712 Nach Ansicht des EuGH (ständige Rechtsprechung) waren die EG-Grundrechte aus den ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen des primären EG-Rechts auf der Grundlage der Gemeinsamen Erklärung des Rates, des Europaparlaments und der Kommission von 1977 über Grundrechte, die sich an die EMRK anlehnte, ferner aus der Erklärung über die Grundrechte und Grundfreiheiten von 1989, aus der EMRK, die über Art. 6 Abs. 2 EU Bindungswirkung für die EG erhält,713 und aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten herzuleiten. Nach dieser ständigen Judikatur gehören die Grundrechte „zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die der Gerichtshof im Einklang mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und mit den völkerrechtlichen Verträgen, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, zu wahren hat“.714 Dabei kommt der EMRK besondere Wichtigkeit zu.715 Aber auch ohne ausdrückliche Erwähnung sind nach Ansicht des Gerichts etwa das Eigentum, die freie Berufsausübung, die Achtung des Privatlebens, die Meinungsfreiheit und das Recht auf ein „fair trial“ vor einem „tribunal“ bei Entscheidungen über ein „civil right“ i. S. d. Art. 6 EMRK im Gemeinschaftsrecht grundsätzlich geschützt.716 Allerdings bleibt festzuhalten: die Grundrechte der EMRK sind nicht als solche Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. Vielmehr bilden die als „allgemeine Rechtsgrundsätze“ geltenden Gemeinschaftsgrundrechte eine eigenständige Ordnung, für deren Formulierung der EMRK nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs717 sowie unmittelbar nach Art. 6 Abs. 2 EU – neben den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten – besondere Bedeutung zukommt.718 Art. 6 Abs. 2 EU stellt somit ebenso wie Art. 288 Abs. 2 EG eine verpflichtende Methodenanweisung an den Gerichtshof dar.719 Der EuGH hat in seiner Rechtspre712 Ausführlich: Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 357 ff. 713 Zur Kompetenz des EuGH vgl. Kingreen, Th., Art. 6 EU-Vertrag, in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.): Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auflage, 2002, Rn. 32 sowie Dörr, O. / Marger, U., Rechtwahrung und Rechtschutz nach Amsterdam, in: AöR 125 (2000), S. 387 ff. Zu den sog. Rechtserkenntnisquellen dabei vgl. ebd., Rn. 33 ff. m. w. N. 714 Verbundene EuGH, Slg. 1989, S. 3165 ff., 3184 (Dow Chemical Ibérica SA), m. w. N. 715 Insbesondere Urteile in den EuGH Slg. 1991, S. I-5569 ff. (Meico-Fell / Hauptzollamt Darmstadt); EuGH, Slg. 1989, S. 1263 ff. (Kommission / Deutschland); EuGH, Slg. 1975, S. 1219 ff. (Rutili / Minister des Inneren). 716 Siehe dazu Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 211 m. w. N. 717 EuGH, Slg. 1986, S. 1651 ff., 1682, Rn. 18 (Johnston / Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary); EuGH, Slg. 1997, S. I-2629 ff., 2645, Rn. 14 (Kremzov). 718 Pache, E., Anmerkung zu EuG, T-112 / 98 (Mannesmannröhren-Werke AG / Kommission), in: EuZW 2001, S. 345 ff., 351. 719 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 359.

25 Müller / Christensen

386

4 Argumentformen – 46 Rechtsvergleichendes Argument

chung unter Bezug auf Art. 6 Abs. 2 EU folgende Grundrechte als verbindlich anerkannt:720 Schutz der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit, 721 Vereinigungsfreiheit,722 Religions- und Bekenntnisfreiheit,723 Gleichbehandlung,724 Gleichheitsgrundsatz,725 Diskriminierungsverbot,726 Berufsausübungsfreiheit und Eigentumsschutz,727 Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit, 728 Schutz des freien Zugangs zur Beschäftigung,729 Schutz des Familienlebens, 730 Schutz der Privatsphäre und Unverletzlichkeit der Wohn- und Geschäftsräume,731 Arztgeheimnis.732 518

Die praktische Vorgehensweise des Gerichts wird etwa in der Rechtssache „Hauer“733 deutlich. Dort handelte es sich um ein Vorabentscheidungsersuchen, infolge dessen der Gerichtshof sich mit der Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 1162 / 76 „über Maßnahmen zur Anpassung des Weinbaupotenzials an die Marktbedürfnisse“ zu befassen hatte, welche die Neuanpflanzung von Weinreben für einen längeren Zeitraum untersagte. Der EuGH untersuchte, ob diese Verordnung gegen die Eigentumsgarantie verstößt, die im Gemeinschaftsrecht „in Anlehnung an die gemeinsamen Verfassungskonzeptionen der Mitgliedstaaten“ gewährleistet wird, wie sie sich in Art. 1 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention widerspiegeln.734

519

Mittlerweile wurde im Rahmen der Regierungskonferenz von Nizza eine EUGrundrechtscharta eingeführt.735 Sie stellt aber nur eine „feierliche Proklamation“ 720 Vgl. zur allgemeinen Problematik EuGH Slg. 1969, S. 419 ff. (Stander gegen Stadt Ulm); Slg. 1970 S. 1125 ff. (Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratstelle für Getreide und Futtermittel); Slg. 1974, S. 491 ff. (Nold / Kommission); Slg. 1978, S. 1365 ff., 1381 ff. (Defrenne / Sabena); Slg. 1987, S. 3719 ff. (Demirel / Stadt Schwäbisch Gmünd); Slg. 1989, S. 2609 ff., 2633 ff. (Wachauf / Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft). 721 EuGH Slg. 1970, S. 1125 ff., (Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratstelle für Getreide und Futtermittel). 722 EuGH Slg. 1974, S. 917 ff. (Gewerkschaftsbund, Massa und Kortner / Rat). 723 EuGH Slg. 1976, S. 1589 ff. (Prais / Rat). 724 EuGH Slg. 1975, S. 1219 ff. (Rutili / Minister des Inneren). 725 EuGH Slg. 1977, S. 1753 ff. (Ruckdeschel / Hauptzollamt Hamburg-St.Annen). 726 EuGH Slg. 1978, S. 1365 ff. (Defrenne / Sabena). 727 EuGH Slg. 1979, S. 3727 ff. (Hauer / Land Rheinland-Pfalz); Slg. 1980, S. 907 ff., 1010 ff. (Valsabbia / Kommission); Slg. 1986, S. 2897 ff. (Keller); Slg. 1989, S. 2263 ff. (Schräder / Hauptzollamt Gronau). 728 EuGH Slg. 1984, S. 19 ff. (VBVB und VBBB / Kommission); Slg. 1989, S. 4285 ff., 4304 (Oyowe und Traore / Kommission). 729 EuGH Slg. 1987, S. 4097 ff. (Unectet / Heylens). 730 EuGH Slg. 1989, S. 1263 ff. (Kommission / Deutschland). 731 EuGH Slg. 1989, S. 2859 ff. (Hoechst / Kommission). 732 EuGH Slg. 1992, S. I-2575 ff. (Kommission / Deutschland). 733 EuGH Slg. 1979, S. 3727 ff., 3747 (Hauer / Land Rheinland-Pfalz). 734 Ebd., S. 3745. 735 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. 12. 2000, Abl. 2000 C 364 / 01 v. 18. 12. 2000; zu den rechtlichen Wirkungen der Charta vgl. etwa Grabenwarter, Ch., Die

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des Europaparlaments, des Rates und der Kommission dar und ist im Hinblick auf Dogmatik und Verbindlichkeit nicht mit dem Grundrechtskatalog im GG vergleichbar. Der EuGH wird sie wohl vor allem als zusätzliche Auslegungshilfe bezüglich der Gemeinschaftsgrundrechte anwenden. Diese Charta richtet sich an die EG-Organe und die Mitgliedstaaten. Auch sie entfaltet daher Bindungswirkung auf dem Weg über Art. 6 Abs. 2 EU. Sie lässt sich insoweit durchaus als Kodifikation der bereits existierenden, durch die rechtsvergleichende Methode gewonnenen Gemeinschaftsgrundrechte verstehen.

461.2 Art. 288 Abs. 2 EG und rechtsstaatliche Grundsätze Auch in der Verweisung des Art. 288 Abs. 2 EG auf die allgemeinen, den Mit- 520 gliedstaaten gemeinsamen Rechtsgrundsätze ist eine allgemeingültige Methodenanweisung zu erblicken.736 Offenbar geht der Gerichtshof hiervon aus, denn die Methode der wertenden Rechtsvergleichung737 kommt nach seiner Judikatur auch Charta der Grundrechte für die Europäische Union, in: DVBl. 2001, S. 1 ff., 11; Magiera, S., Die Grundrechtscharta der Europäischen Union, in: DÖV 2000, S. 1017 ff., 1019 f.; s. auch GA Alber, S., „Die Selbstbindung der europäischen Organe an die Europäische Charta der Grundrechte“, EuGRZ 2001, S. 349 ff. Der EuG hat sich in einigen Urteilen schon auf die Charta bezogen (EuG, Slg. 2002, II-313 = EuZW 2002, S. 186 ff., 187, Rn. 48 – max. mobil Telekommunikationservice GmbH / Kommission). Ebenso einige Schlussanträge von Generalanwälten (vgl. GA Alber, Slg. 2001, I-4009 ff., 4112, TNT Traco / Poste Italiane u. a.; GA Tizzano, Slg. 2001, I-4881 – BECTU; GA Jacobs, Slg. 2002, I-6677 – Union de Pequeños Agricultures / Rat). Der EuGH selbst hält sich allerdings zurück (vgl. EuGH, NJW 2005, S. 1177 ff. – Kommission / T-mobile Austria GmbH (vormals max. mobil Telekommunikationservice GmbH). Es wird der Komplexität dieser Regelung nicht gerecht, wenn man sie unter Fortführung einer in der Philosophie längst überwundenen Redeweise als Konkretisierung gemeinsamer europäischer Werte versteht. Vgl. Schmitz, T., Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Konkretisierung der gemeinsamen europäischen Werte, in: Blumenwitz, D. / Gornig, G. H. / Murswiek, D. (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005, S. 73 ff. Zur Einschränkung der Rechte der Charta vgl. Bühler, M., Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtscharta, Berlin 2005, S. 212 ff. 736 Ipsen, H. P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 114; Schweitzer, M., Anmerkung zum EuGH-Urteil v. 28. 10. 1975 – Rs. 36 / 75 in: NJW 1976, S. 469 ff., 470; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 347. Diskussion der rechtsvergleichenden Auslegung bei Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, im Erscheinen 2003, § 7 A IV. Bisher nach dem Manuskript zitiertes Buch Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, ist jetzt erschienen. Bitte „im Erscheinen 2003“ ersetzen durch „2005“ und die Zitierweise „§ 7 A IV“ ersetzen durch „S. 165 ff.“. Kritisch zur Praxis des Gerichtshofs S. 61 ff., 132 ff., 166 ff. 737 Vgl. dazu Kingreen, Th., Art. 6 EU-Vertrag, in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.): Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auflage, 2002, Rn. 39; Heintzen, M., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht in der Europäischen Union, in: EuR 1997, S. 1 ff., 9; Schilling, Th., Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, in: EuGRZ 2000, S. 3 ff.; Meessen, K. M., Zur Theorie allgemeiner 25*

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4 Argumentformen – 46 Rechtsvergleichendes Argument

beim Gewinnen rechtsstaatlicher Prinzipien zum Tragen. Die erzeugten bzw. gefundenen „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ müssen gemeinschaftszielkonform sein, also tendenziell der feststellbaren rechtspolitischen Fortentwicklung der Gemeinschaft möglichst gut entsprechen. Dieses Vorgehen stellt ein Lückenschließungsverfahren dar, das sich mit der Rechtsangleichung nach Art. 95, 94 EG als Integrationsinstrument ergänzt und daher gemeinschaftsrechtlich gerechtfertigt ist.738 521

Die wertende Rechtsvergleichung als Methode der Gewinnung rechtsstaatlicher Grundsätze hat in der Praxis besonders beim Widerruf begünstigender Verwaltungsakte eine Rolle gespielt. Schon der Gerichtshof der EGKS stellte mit Hilfe einer „rechtsvergleichenden Untersuchung“ fest, dass „ein Verwaltungsakt, der dem Betroffenen subjektive Rechte verliehen hat, grundsätzlich nicht widerrufen werden kann, sofern er rechtmäßig war“. Hingegen sei der „Widerruf eines infolge Rechtwidrigkeit fehlerhaften Verwaltungsakts“ in allen Mitgliedstaaten und somit auch im Gemeinschaftsrecht zulässig.739 Diesen Grundsatz hat der EuGH später in der Rechtssache „SNUPAT“ ergänzt, als er feststellte, dass die Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten den rückwirkenden Widerruf eines rechtswidrigen Verwaltungsakts stets dann zulassen, wenn dieser auf falschen oder unrichtigen Angaben der Beteiligten beruhte.740 Der EuGH unterstrich in den Leitsätzen dieser Entscheidung, dass ein rechtswidriger begünstigender Akt mit rückwirkender Kraft widerrufen werden könne, wenn das öffentliche Interesse das Interesse der Begünstigten an der Beibehaltung einer Lage, die sie für dauerhaft ansehen durften, überwiegt.741 Mittlerweile hat sich dieser Grundsatz über die Zulässigkeit des Widerrufs im Gemeinschaftsrecht derart verfestigt, dass in den neueren Urteilen742 nicht mehr deutlich wird, wie er einst durch wertende Rechtsvergleichung ermittelt wurde. Beispielsweise verweist der Gerichtshof, wie häufig, in dem Urteil „Alpha Steel“ auf seine frühere Judikatur und stellt fest, dass die Rücknahme eines rechtswidrigen Aktes zulässig ist, soweit sie innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt und falls das Gemeinschaftsorgan, das den Widerruf vornimmt bzw. anordnet, in ausreichendem Maß das etwaige Vertrauen der Kläger auf die Rechtmäßigkeit berücksichtigt hat.743

Rechtsgrundsätze des internationalen Rechts: Der Nachweis allgemeiner Rechtsgrundsätze des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: JIR 1975, S. 283 ff., 301 ff.; Zweigert, K., Der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, in: RabelsZ 28 (1964), S. 601 ff., 610 f. 738 Vgl. Ipsen, H. P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 114; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 347 f. 739 EuGH Slg. 1957, S. 83 ff., 118 f. (Algera u. a. / Gemeinsame Versammlung der EGKS). 740 EuGH Slg. 1961, S. 109 ff., 173 (SNUPAT / Hohe Behörde der EGKS). 741 Ebd., S. 116. 742 Vgl. EuGH Slg. 1965, S. 893 ff., 911 (Lemmerz / Hohe Behörde der EGKS); EuGH Slg. 1982, S. 749 ff., 764 (Alpha Steel / Kommission).

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Ohne in den Urteilsgründen eine eingehende rechtsvergleichende Untersuchung 522 vorzunehmen, stellte der Gerichtshof in der Rechtssache „Alvis“ den allgemeinen Grundsatz des rechtlichen Gehörs in verwaltungsrechtlichen Verfahren auf. Er begründete dies so: „Nach einem im Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft allgemein anerkannten Rechtssatz müssen die Verwaltungen dieser Staaten ihren Bediensteten vor Erlass von Disziplinarmaßnahmen Gelegenheit zur Stellungnahme zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen geben. Dieser Rechtssatz ( . . . ) ist auch von den Organen der Gemeinschaft zu befolgen.“744 Seit dem Urteil „Hofmann-La Roche“ ist dieses Prinzip integraler Bestandteil des EG-Rechts. Danach stellt die Gewährung des rechtlichen Gehörs in allen Verfahren, die zu Sanktionen wie Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können, einen „fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ dar, der auch in einem Verwaltungsverfahren beachtet werden muss.745 Dieser Grundsatz wurde vom Gerichtshof schließlich auf alle Verfahren ausgedehnt, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen können.746 Ein weiteres Prinzip wurde vom EuGH festgestellt, ohne dass sich in den betref- 523 fenden Urteilen rechtsvergleichende Ausführungen finden (die allerdings in den Schlußanträgen der Generalanwälte auftauchen), nämlich der Grundsatz der Rechtssicherheit beim Erlass von Sekundärrecht. In der Rechtssache „Racke“ hielt der Gerichtshof fest, der Grundsatz der Rechtssicherheit verbiete es im Allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Inkrafttreten zu legen; es sei denn, das angestrebte Ziel des Aktes verlange etwas anderes und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen sei ausreichend berücksichtigt worden.747 Generalanwalt Reischl weist dabei bezüglich der Existenz dieses Grundsatzes in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf die Schlußanträge von Generalanwalt Warner in der Rechtssache „IRCA“ hin.748 Dort nahm Warner zu der Frage, bis zu welchem Grad nicht-strafrechtliche749 Rechtsvorschriften Rückwirkung haben können, eine umfassende vergleichende Untersuchung der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten vor.750 Er fragte auf dem Weg einer wertenden Rechtsvergleichung, welche Auswirkungen die Vorschriften und die Judikatur der Mitgliedstaaten für das Gemeinschaftsrecht haben. Seiner Ansicht nach steht es dem betreffenden Gemeinschaftsorgan vorbehaltlich EuGH Slg. 1982, S. 749 ff., 764 (Alpha Steel / Kommission). EuGH Slg. 1963, S. 107 ff., 123 (Alvis / Rat). 745 EuGH Slg. 1979, S. 461 ff., 511 (Hofmann-La Roche / Kommission). 746 EuGH Slg. 1986, S. 2263 ff., 2289 (Belgien / Kommission); EuGH Slg. 1989, S. 2859 ff., 2923 (Hoechst / Kommission). 747 EuGH Slg. 1979, S. 69 ff., 86 (Racke / Hauptzollamt Mainz). 748 GA Reischl, G., ebd., S. 97. 749 Bei Strafvorschriften gilt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein absolutes Rückwirkungsverbot, s. EuGH Slg. 1984, S. 2689 ff., 2718 (Regina / Kirk). 750 Schlußanträge GA Warner, J-P. in EuGH Slg. 1976, S. 1213 ff., 1236 – 1238 (IRCA / Staatliche Finanzverwaltung). 743 744

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4 Argumentformen – 46 Rechtsvergleichendes Argument

des Schutzes des berechtigten Vertrauens der Betroffenen grundsätzlich frei, rückwirkende Vorschriften zu erlassen. Allerdings werde vermutet, dass es von dieser Befugnis keinen Gebrauch gemacht habe, wenn aus der Fassung des Rechtsakts nicht die eindeutige Absicht hervorgehe, dass dieser Rückwirkung haben solle.751 524

Ein Beispiel aus der neueren Praxis des EuGH für einen „allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz“, der im Weg der wertenden Rechtsvergleichung Beachtung fand, ist jener, sich selbst nicht belasten zu müssen. In der Rechtssache „Mannesmannröhren-Werke“, entschieden in 1. Instanz am 20. 02. 2001752, vermutete die EG-Kommission, dass die Klägerin und andere Stahlrohrhersteller gegen EG-Wettbewerbsregeln verstoßen haben. Sie bat die Klägerin um umfassende Aufklärung, vor allem sollte sie die Themen von Zusammenkünften und die bei diesen getroffenen Entscheidungen mitteilen. Die Klägerin verweigerte die Antwort auf die im Verfahren streitigen Fragen. Das Gericht erkannte im Ergebnis ein auf Art. 6 EMRK gestütztes Auskunftsverweigerungsrecht an. Es führte jedoch weiter aus: „Die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten erkennen im Wettbewerbsrecht nicht generell ein Recht an, sich nicht selbst belasten zu müssen. Daher ist es für den Ausgang dieses Verfahrens ohne Bedeutung, dass nach Auffassung der Kl. ein solcher Grundsatz im deutschen Recht besteht.“753 Ebenfalls anhand der wertenden Rechtsvergleichung stellte der EuGH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf.754

461.3 Das Berücksichtigen nationaler Rechtsprechung 525

Nicht allein die positiven Vorschriften anderer Rechtsordnungen werden vom Gerichtshof zur Auslegung herangezogen. Auch die Judikatur verschiedener nationaler Gerichte wird vom EuGH beachtet. In der Rechtssache „MacQueen“755 ging es um die Reichweite der Berufsfreiheit für Augenoptiker. In dem belgischen Strafverfahren war dem Angeklagten 751 GA Warner, J-P., ebd., S. 1238 f. mit einer Einschränkung für Durchführungsverordnungen der Kommission. 752 EuGH, Rs. T-112 / 98 (Mannesmannröhren-Werke AG / Kommission), nicht rechtskräftig, als Rs. C-190 / 01 beim EuGH anhängig, EuZW 2001, S. 345 ff. 753 Ebd., S. 350, Rn. 84. 754 Dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 353 ff. mit Hinweis auf EuGH Slg. 1955 / 1956, S. 197 ff., 311 (Fédération Charbonnière de Belgique / Hohe Behörde der EGKS); EuGH und GA Dutheillet de Lamothe in EuGH Rs. 11 / 70, Slg. 1970, S. 1125 ff., 1137 f., 1149 f. (Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratstelle für Getreide und Futtermittel); EuGH Slg. 1980, S. 1979 ff., 1997 (Testa / Bundesanstalt für Arbeit); EuGH Slg. 1990, S. I-4023 ff., 4063 (Fedesa u. a.), EuGH Slg. 1985, S. 3887 ff., 3905, (Motte). 755 EuGH Urt. v. 1. 2. 2001, Rs. C-108 / 96, Dennis MacQueen, Derek Pouton, Carla Godts, Youssef Antoun und Grandvision Belgium SA, EuGRZ 2001, S. 108 ff.

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vorgeworfen worden, zur Heilkunde gehörende Handlungen vorgenommen zu haben, die nach den belgischen Gesetzen den Augenärzten vorbehalten sind. Inhaltlich entschied der EuGH, dass Art. 52 EGV (jetzt Art. 43 EG) es beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts den zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, das nationale Recht der Heilkunde folgendermaßen auszulegen: Im Rahmen der Korrektur rein optischer Sehfehler des Kunden ist die objektive Untersuchung des Sehvermögens, d. h. eine Untersuchung nach einer anderen Methode als jener, bei der allein der Kunde seine Sehfehler bestimmt, aus Gründen des Schutzes der Volksgesundheit einer besonders qualifizierten Gruppe wie den Augenärzten (unter Ausschluss u. a. der Augenoptiker, die keine Ärzte sind) vorbehalten. Der Gerichtshof verwies hierbei erstmals rechtsvergleichend auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.756 Das im Ausgangsverfahren als Grundlage der Strafverfolgung herangezogene streitige Verbot war in keiner gesetzlichen Bestimmung des nationalen Rechts ausdrücklich vorgesehen; es ergab sich vielmehr aus der von der Cour de Cassation 1989 vorgenommenen Interpretation einer Reihe nationaler Vorschriften mit dem Ziel, beim Schutz der Gesundheit der Bevölkerung ein hohes Niveau zu erreichen. „Offenbar ist diese Auslegung auf eine Einschätzung der Gefahren für die Bevölkerung gestützt, die sich ergeben können, wenn den Augenoptikern die Vornahme bestimmter Untersuchungen des Sehvermögens erlaubt würde. Eine solche Einschätzung kann sich aber im Laufe der Jahre ändern, insbesondere nach Maßgabe der im betreffenden Bereich erzielten technischen und wissenschaftlichen Fortschritte. Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß das deutsche Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 7. 8. 2000 zu dem Ergebnis gelangt ist, daß die Gefahren, die sich ergeben könnten, wenn den Augenoptikern die Vornahme bestimmter Untersuchungen des Sehvermögens ihrer Patienten wie der Tonometrie und der computergestützten Perimetrie erlaubt würde, nicht geeignet seien, ein Verbot solcher Untersuchungen durch die Augenoptiker zu rechtfertigen.“757 Das vorlegende Gericht habe daher anhand der Vorschriften des Vertrags über 526 die Niederlassungsfreiheit sowie der Erfordernisse der Rechtssicherheit und des Schutzes der Volksgesundheit zu prüfen, ob die Auslegung des innerstaatlichen Rechts durch die nationalen Stellen weiterhin eine hinreichende Grundlage für die durchgeführte Strafverfolgung ist. Somit stand nach Auffassung des Gerichtshofs die Niederlassungsfreiheit den belgischen Regelungen nicht entgegen, auch wenn dieselben Fragen in anderen Mitgliedstaaten, u. a. in Deutschland, entgegengesetzt beantwortet werden.

756 757

1 BvR 254 / 99, EuGRZ 2000, S. 480 ff. Ebd., Rn. 35 und 36 des Urteils.

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4 Argumentformen – 46 Rechtsvergleichendes Argument 462 Struktur der rechtsvergleichenden Auslegung

527

Der EuGH führt die rechtsvergleichende Auslegung unter der wertenden Perspektive des Gemeinschaftsrechts durch. Legitim ist dieses Vorgehen nur dann, wenn er die Traditionen der Mitgliedstaaten dabei fortbildet; nicht jedoch, wenn er von nationalstaatlichen Lösungen abweicht, ohne Argumente aus der Systematik oder der objektiv begründeten Teleologie auf einer Seite zu haben. 462.1 Die praktische Vorgehensweise des Gerichts

528

Grundsätzlich bedeutet Rechtsvergleichung das Miteinandervergleichen von verschiedenen nationalen Rechtsordnungen.758 Dafür steht dem EuGH eine eigens geschaffene Abteilung „Forschung und Dokumentation“ zur Verfügung, in der Juristen aus allen EU-Ländern vertreten sind. Auf Vorschlag des Berichterstatters, des Generalanwalts oder eines anderen Mitglieds des Gerichtshofs kann in jeder Rechtssache eine „note de recherche“ angefordert werden, in der auf der Grundlage einer genau vorgegebenen Fragestellung die Rechtslage in den einzelnen Mitgliedstaaten und in ausgewählten Drittländern (häufig dem Recht der Vereinigten Staaten) berichtet wird. Die rechtsvergleichenden Ergebnisse werden der Studie vorangestellt. Deren Bewertung wird dann allein vom Gerichtshof vorgenommen. Auch die Zusammensetzung der Spruchkörper des EuGH mit Vertretern möglichst unterschiedlicher Rechtstraditionen ermöglicht im übrigen eine ständige Rechtsvergleichung, indem die einzelnen Richter ihre vom nationalen Rechtsdenken geprägten Ansichten in die Beratungen einbringen.

529

Bei der oben dargestellten Diskussion des vom EuGH im Weg der rechtsvergleichenden Auslegung entwickelten Staatshaftungsrechts war zu erkennen, dass er bei der Ausgestaltung der Haftungskriterien einen erheblichen Spielraum hat und dass seine Kompetenz in diesem Bereich „rechtsschöpferische Züge“ trägt.759 Die Aufgabe des EuGH, die ihm von Art. 288 Abs. 2 EG übertragen wird, ähnelt der des IGH in Den Haag, gemäß Art. 38 Absatz 1 c seiner Satzung nach den „general principles of law recognized by civilized nations“ zu entscheiden.760 Die Methode dient sowohl der Gewinnung ungeschriebenen als auch der Konkretisierung geschriebenen Gemeinschaftsrechts.761 Dabei erteilt Art. 288 Abs. 2 EG dem Gerichtshof eine streng bindende Anweisung für den seltenen Fall, dass zwischen sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechts758 Zweigert, K. / Kötz, H., Einführung in die Rechtsvergleichung, Band l: Grundlagen, 2. Aufl., 1984, S. 2. 759 Gilsdorf, P. / Oliver, P., Art. 215 EGV, Rn. 12, 72, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D. (Hrsg.), Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 5, Art. 210 – 248 EGV, 5. Auflage, 1997. 760 Ebd. 761 Ausführlich: Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 283 ff.

462 Struktur der rechtsvergleichenden Auslegung

393

ordnungen einmal Übereinstimmung besteht.762 Wo solche übereinstimmenden Regeln nicht existieren, dürfen und müssen vom Gerichtshof neue geschaffen werden.763

462.2 Die wertende Perspektive der Rechtsvergleichung Die Zulässigkeit der rechtsvergleichenden Auslegungsmethode ist im Gemein- 530 schaftsrecht selbst angelegt. Nach Art. 288 Abs. 2 EG und dem gleichlautenden Art. 188 Abs. 2 des EAG-Vertrags muss die Gemeinschaft im Bereich der außervertraglichen Haftung, d. h. der Amtshaftung, den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden „nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, ersetzen.764 Die beiden Normtexte verweisen den Gerichtshof somit ausdrücklich auf das Amtshaftungsrecht der Mitgliedstaaten, also auf die Lösungen, welche die nationalen Rechtssysteme für die Problematik bereitstellen. 765 Allerdings bezieht sich dieser Verweis ganz allgemein auf die gemeinsamen 531 Rechtsgrundsätze, nicht allein auf jene Vorschriften, die in den Mitgliedstaaten die Staatshaftung regeln.766 Der Wortlaut des Art. 288 Abs. 2 EG („gemeinsam“) scheint Indiz dafür zu sein, dass der EuGH nur solche „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ in das Gemeinschaftsrecht übernehmen darf, die sich in allen Mitgliedstaaten nachweisen lassen.767 Diese Begrenzung birgt jedoch die Gefahr, in einer Art 762 Daig, H.-W., Zur Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bernstein, H. / Drobnig, U. / Kötz, H., (Hrsg.), Festschrift für Konrad Zweigert, 1981, S. 395 ff., 407. 763 Weis, H., Die außervertragliche Haftung der EWG gemäß Art. 215 Abs. 2 EWGV, in: JA 1980, S. 480 ff., 481; in diesem Sinne wohl auch Lageard, S., Art. 288 EG, Rn. 8, in: Lenz, C. O., (Hrsg.), EG-Vertrag, 2. Aufl. 1999. 764 Streng zu unterscheiden sind die „Allgemeinen Rechtsgrundsätze“ von den „Allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“. Erstere stellen die Antwort auf Fragen dar, die in allen vergleichbaren Rechtsordnungen auftauchen, also in gewissem Sinn mit dem Recht schlechthin zu tun haben. Bei der Entwicklung dieser Grundsätze ist insbesondere auf gemeinschaftsexterne Erkenntnisse zurückzugreifen, wie z. B. die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Letztere hingegen beziehen sich auf Probleme, die dem Gemeinschaftsrecht spezifisch sind und daher ausschließlich aus Geist und System des EG-Vertrages entwickelt werden müssen. Siehe Krück, H., Art. 164 EGV, Rn. 22, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D. (Hrsg.), Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 3, Art. 137 – 209a, 5. Auflage, 1997. 765 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I, (Hrsg.): Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-24; Daig, H.-W., Zur Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bernstein, H. / Drobnig, U. / Kötz, H. (Hrsg.), Festschrift für Konrad Zweigert, 1981, S. 395 ff., 400, 406. 766 Lageard, S., in: Lenz, C. O., EG-Vertrag, Art. 288, Rn. 7, 2. Auflage 1999; Gilsdorf, P. / Oliver, P., Art. 215 EGV, Rn. 12, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D. (Hrsg.), Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 5, Art. 210 – 248, 5. Auflage, 1997.

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4 Argumentformen – 46 Rechtsvergleichendes Argument

„Bilanzierungsverfahren“ unter Abstrich aller nicht übereinstimmenden Elemente die für die Gemeinschaftshaftung relevant bleibenden Rechtssätze auf einen kleinen Rest an Gemeinsamkeiten zu beschränken.768 Ein solches Vorgehen würde dazu führen, die Haftung der Gemeinschaft auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner zu bestimmen und die für den Geschädigten nach Rechtsgrundlage und Umfang des Ersatzanspruchs am wenigsten günstige Regelung anzuwenden. Darüber hinaus sind übereinstimmende Prinzipien des Amtshaftungs- und des allgemeinen Schadensersatzrechts, die mit dem Begriff „allgemeine Rechtsgrundsätze“ gemeint sind,769 kaum gleichzeitig in allen Mitgliedstaaten anzutreffen.770 Zudem kann sich der Beurteilungsgegenstand ändern, weil neue Mitgliedstaaten in den Kreis der Rechtsvergleichung aufzunehmen sind.771 Vor allem nach der geplanten Erweiterung der EG würde Art. 288 Abs. 2 EG bei einem derartigen Verständnis (Feststellung des kleinsten gemeinsamen Nenners) praktisch nie zu einer Haftung der Gemeinschaft führen.772 Dabei wird Art. 288 Abs. 2 EG auch nicht durch den Vertrag von Nizza geändert, der gerade die Probleme der Osterweiterung regeln soll. Folglich sind auch die neuen Mitglieder in die Rechtsvergleichung aufzunehmen, ohne dass es einer Neuermittlung bedarf. Auch muss der Gerichtshof nicht das arithmetische Mittel der nationalen Lösungen oder diejenige zugrundelegen, die von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten getragen wird.773 Es herrscht Einigkeit, dass vielmehr nicht ein rezeptives, sondern ein „wertendes Vorgehen, bei dem insbesondere die speziellen Vertragsziele und die Besonderheiten der Gemeinschaftsstruktur berücksichtigt werden müssen“, erforderlich ist.774 Der EuGH hat daher 767 Krück, H., Art. 164 EGV, Rn. 25, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D. (Hrsg.), Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 4, Art. 137 – 209a, 5. Auflage 1997; Weis, H., Die außervertragliche Haftung der EWG gemäß Art. 215 II EWGV, in: JA 1980, S. 480. 768 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 335; Ipsen, H. P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 113. 769 Daig, H.-W., Zur Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bernstein, H. / Drobnig, U. / Kötz, H. (Hrsg.), Festschrift für Konrad Zweigert, 1981, S. 395 ff., 406. 770 Schlußanträge des GA Gand in EuGH Slg. 1967, S. 331 ff., 366 f. (Kampffmeyer u. a. / Kommission). 771 Lageard, S., in: Lenz, C. O., EG-Vertrag, Art. 288 Rn. 7, 2. Auflage 1999; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 338 m. w. N.; Gilsdorf, P. / Oliver, P., in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D. (Hrsg.), Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 5, Art. 210 – 248, 5. Auflage, 1997; Art. 215 EGV, Rn. 12, weisen darauf hin, dass es in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit 1973 trotz Einbeziehung der Rechtsordnungen neuer Mitgliedstaaten in die zu berücksichtigenden gemeinsamen Rechtsgrundsätze zu keiner Neuorientierung gekommen ist. 772 Vgl. Weis, H., Die außervertragliche Haftung der EWG gemäß Art. 215 Abs. 2 EWGV, in: JA 1980, S. 480 ff., 481. 773 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 336 m. w. N. 774 So insbesondere GA Roemer in den Schlussanträgen zur Rechtssache 5 / 71, EuGH Slg. 1971, S. 975 ff., 990 (Schöppenstedt) m. w. N.; Gilsdorf, P. / Oliver, P., Art. 215 EGV, Rn. 12, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D. (Hrsg.), Kommentar zum EU-, EG-Ver-

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zu werten und nach der für das konkrete Problem besten Lösung zu suchen.775 Fraglich ist aber, ob man dabei auf eine Rechtsordnung abstellen kann, die sich als die „überlegenste“ erweist. Es lässt sich jedenfalls nicht einfach diejenige heranziehen, welche den Kläger am günstigsten stellt.776 Kein einzelnes nationales Staatshaftungsrecht kann einem anderen gegenüber so stark bevorzugt werden; es sei denn, es ist gemeinschaftsfreundlicher, das heißt, es gewährleistet hinsichtlich der Verwirklichung der Gemeinschaftsziele ein Optimum.777 Die Vertragsbindung des Gerichtshofs verlangt, eine rechtsvergleichend abstrakt als beste anerkannte Lösung dann nicht als Gemeinschaftsrechtssatz zu übernehmen, wenn sie der im Vertrag normierten Zielverwirklichung weniger entspricht als eine andere, wenn auch nicht so fortschrittliche Lösung.778 Im Rahmen der vom EuGH bei der Rechtsvergleichung getroffenen Wertung ist vor allem ein Abwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der Verwirklichung der Gemeinschaftsziele und den privaten Belangen der klagenden Gemeinschaftsbürger erforderlich.779 Hat die Gemeinschaft jedoch durch ihr Organ rechtswidrig gehandelt, kann kein Interesse an der praktischen Wirksamkeit und am Fehlen einer Kompensation derartiger Rechtsverstöße bestehen: Gemeinschaftsinteresse heißt nach Art. 220 EG auch Wahrung des Rechts. 462.3 Legitimität und Grenzen rechtsvergleichender Argumentation Die Abgrenzung zwischen dem Fortbilden nationaler Traditionen zum Gemein- 532 schaftsrecht und einer (die Rechtsvergleichung nur als Vorwand nehmenden) freien Rechtsschöpfung lässt sich natürlich nicht mit einer sprachlichen Formel ein für allemal fixieren. Dazu bedarf es immer der Beurteilung eines bestimmten Problems.780 Im Hinblick auf die kontrovers geführte Diskussion bietet sich dabei vor trag, Bd. 5, Art. 210 – 248, 5. Auflage, 1997; Lageard, S., Art. 288, Rn. 7, in: Lenz, C. O., EG-Vertrag, Art. 288, 2. Auflage, 1999. 775 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil l, (Hrsg.).: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. I-30; Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 581; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 336 f. 776 Gilsdorf, P. / Oliver, P., Art. 215 EGV, Rn. 12,; m. w. N, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., (Hrsg.), Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 5, Art. 210 – 248, 5. Auflage, 1997. 777 Vgl. Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 339. 778 Hoffmann-Becking, G., Normaufbau und Methode, 1975, S. 369. 779 Fuß, E. W.: Die allgemeinen Rechtsgrundsätze über die außervertragliche Haftung der europäischen Gemeinschaften, in: Abelein, M., (Hrsg.), Festschrift für Hermann Raschhofer, 1977, S. 43 ff., 54. 780 So etwa die Klagebefugnis und das Konzept individueller Rechte. Dazu Reiling, M., Zu individuellen Rechten im deutschen und im Gemeinschaftsrecht, 2005, 3. Kap. Annex., S. 57 ff.

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allem das Staatshaftungsrecht als Probierstein781 an. Es soll allerdings im Folgenden nicht eine endgültige Klärung dieses Streits „von den Höhen der Methodik herab“ vorgenommen werden. Vielmehr geht es nur darum, die methodischen Grundlinien der Argumente pro und contra Rechtsfortbildung im Staatshaftungsrecht sichtbar zu machen. 533

Die Kritik am EuGH782 geht von der Prämisse der herkömmlichen Lehre aus. Danach bedarf es zur legitimen Rechtsfortbildung zunächst einer Lücke und dann der Aufnahme eines vorhandenen Rechtsgrundsatzes, um diese Lücke zu füllen. Beide Voraussetzungen sind im Bereich des Staatshaftungsrechts zu untersuchen. Der EG-Vertrag sieht eine mitgliedstaatliche Haftung gegenüber Individuen nicht vor, obwohl eine entsprechende Gemeinschaftshaftung in Art. 288 EGV (n.F.) festgelegt ist und es auch seit jeher (in Art. 215 Abs. 2 EWGV und EGV a.F.) war. Es ist wenig wahrscheinlich, dass darin ein Versehen bei der Vertragsausarbeitung liegen sollte. Dagegen sprechen mehrere Argumente.

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Bei der Umgestaltung des EWG-Vertrages im Rahmen der Gründung der Europäischen Union wurde das Problem der mangelnden Vertragstreue der Staaten, besonders im Bereich der Richtlinienumsetzung, durchaus gesehen. Es wurde aber anders gelöst. Über Art. 228 Abs. 2 EGV ist seit Inkrafttreten des EUV eine erneute Verurteilung durch den EuGH und das Festsetzen eines Zwangsgeldes möglich. Von der Einführung einer Haftung gegenüber Individuen wurde bei der Ausarbeitung des EUV gerade abgesehen – die entsprechenden Beratungen waren zum Urteilszeitpunkt bereits bekannt.783 Daneben darf nicht vergessen werden, dass der EuGH selber im Jahr 1975 erfolglos den Vorschlag gemacht hatte, eine mitgliedstaatliche Haftung für Vertragsverstöße einzuführen.784 Die Richter dürften dabei davon ausgegangen sein, dass eine solche Vertragspflicht bislang noch nicht existierte, andernfalls wäre die vorgeschlagene Vertragsänderung überflüssig gewesen. Warum sie dann fünfzehn Jahre später (ohne entsprechende Änderungen des Vertragswerkes) von selbst entstanden sein sollte, ist nicht einsichtig. Es ist also davon auszugehen, dass entsprechende Vorschriften im Vertrag deshalb nicht enthalten 781 Zur rechtvergleichenden Darstellung vgl. Gromitsaris, A., Rechtsgrund und Haftungsauslösung im Staatshaftungsrecht, 2005, S. 40 ff. 782 Ossenbühl, F., Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, in: DVBl. 1992, S. 993 ff.; Danwitz, T. v., Zur Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, in: JZ 1994, S. 335 ff., 340 f.; ders., Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten, in: DVBl. 1997, S. 1 ff., 2 f.; Karl, J., Die Schadenersatzpflicht der Mitgliedstaaten bei Verletzung des Gemeinschaftsrechts, in: RIW 1992, S. 440 ff., 442 ff.; Nessler, V., Richterrecht wandelt EG-Richtlinien, in: RIW 1993, S. 206 ff., 209 ff.; Ukrow, J., Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 307 ff. 783 Vgl. mit diesem Hinweis Dänzer-Vanotti, W., Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I, 1995, S. 205 ff., 220; ders., RlW 1992, S. 733 ff., 740. 784 Bull, R., Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, in: EG Nr. 9 / 1975, S. 18 f., dazu Hailbronner, K., Staatshaftung bei säumiger Umsetzung von EG-Richtlinien, in: JZ 1992, S. 284 ff., S. 285.

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sind, weil sie in ihm nicht enthalten sein sollten.785 Gewiss ist kein Staat gehindert, Individuen Schadensersatz für von ihm begangene Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht zu gewähren; gleichwohl lässt sich eine solche Pflicht gegenüber der Gemeinschaft nicht aus dem EG-Vertrag herleiten.786 Die Rechtsfolge Schadensersatz kennt der Vertrag bei Vertragsverletzungen durch die Mitgliedstaaten ebenso wenig wie eine Individualklage gegen staatliches Verhalten vor dem EuGH. Aus diesem Grund überzeugt auch die Selbstverständlichkeit nicht, mit der das Gericht im Urteil Brasserie du pêcheur die Anwendbarkeit von Art. 215 Abs. 2 EGV (a.F.), der sich nur auf die Gemeinschaftsorgane bezieht, bejaht hat. Im Übrigen kann vom Bestehen eines entsprechenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes in den Mitgliedstaaten wohl nicht ausgegangen werden – kaum eine nationale Rechtsordnung kannte bis dato eine Haftung für legislatives Unrecht. Vor diesem Hintergrund erscheint es doppelt unwahrscheinlich, dass sie ein entsprechendes Haftungsinstitut implizit in den Vertrag aufgenommen hätten, ohne das gesondert zu erwähnen. Daneben darf nicht übersehen werden, dass der Gemeinschaft wohl kaum die 535 Verbandskompetenz zugestanden hätte, im regulären Rechtsetzungsverfahren einen sekundärrechtlichen Staatshaftungsanspruch einzuführen.787 Auch im Übrigen ist die Argumentation des EuGH, der diese Problemkreise nicht erwähnt, zumindest in bezug auf die verspätete Richtlinienumsetzung wenig einleuchtend. Vor allem überzeugt der Hinweis auf die Notwendigkeit effektiven Rechtsschutzes nicht. Dieser wäre nur dann betroffen, wenn in materieller Hinsicht überhaupt schutzbedürftige Individualrechte bestünden. Das kann aber kaum für die der Gemeinschaft gegenüber bestehende Pflicht zur fristgemäßen Richtlinienumsetzung gelten; besonders dann nicht, wenn die fragli785 Dänzer-Vanotti, W., Unzulässige Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofes, in: RIW 1992, S. 733 ff., 740; Ossenbühl, F., Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, in: DVBl. 1992, S. 993 ff., 995. Eilmansberger, Th., Zur Tragfähigkeit der Staatshaftungskonstruktion des EuGH, in: AustrJPIL 52 (1997), S. 1, 5 f. wirft die Frage auf, ob sich der Gerichtshof im Rahmen der von ihm im Rahmen von Art. 177 EGV a. F. (Art. 234 EGV n. F.) vorzunehmenden „Auslegung“ von Vertragsnormen überhaupt mit dem Rechtsfolgenregime bei deren Verletzung auseinandersetzen durfte. Dies bejaht er angesichts der langen Praxis des Gerichtshofs. Diese Bedenken gehen aber wohl zu weit: Zur Auslegung der Vertragsnormen gehört grundsätzlich nicht nur die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Tatbeständen, sondern auch die Festlegung der Rechtsfolgen bei ihrer Verletzung. Der „normale“ Inhalt einer Rechtsnorm dürfte in einem Tatbestand und einer Rechtsfolge liegen. 786 Dem entsprechend sprachen sich während des Verfahrens im Fall Francovich die Vertreter Großbritanniens, der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland entschieden gegen die Annahme eines gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch aus, vgl. EuGH, Slg. 1991, S. I-5357 ff., 5367 – 5369, (Francovich u. a.). 787 Frowein, J. Abr., Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsarbeit, in: ZaöRV 54 (1994), S. 1 ff., 9. Vgl. auch Karl, J., Die Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten bei Verletzungen des Gemeinschaftsrechts, in: RIW 1992, S. 440 ff., 440, der zutreffend darauf hinweist, dass auch in einem solchen Fall die Rechtsvereinheitlichung jedenfalls in der Organkompetenz des Rates gelegen hätte.

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4 Argumentformen – 46 Rechtsvergleichendes Argument

che Richtlinie schon nach Ansicht des EuGH nicht geeignet ist, im Weg unmittelbarer Anwendung Individualansprüche zu begründen.788 Art. 249 Abs. 3 entfaltet keine Drittwirkung gegenüber Individuen und kennt bei Verletzungen nicht die Rechtsfolge des Schadensersatzes.789 Daher ist die Kommission auch nie auf den Gedanken gekommen, einen Staat wegen Vertragsverletzung zu verklagen, weil er seinen Bürgern nach einer verspäteten Richtlinienumsetzung keinen Schadensersatz gezahlt hat.790 Für die durch den EuGH postulierte Staatshaftung wurde geltend gemacht, sie diene dem Schutz von Individualrechten und zugleich der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts und sichere damit dessen Effektivität.791 536

Auch EG-Richtlinien könnten rechtliche Wirkungen erzeugen, die unter Umständen zwar nicht in konkreten Individualrechten, wohl aber in einer rechtlichen Erwartung bestünden. Diese dürfe durch die zur Umsetzung verpflichteten Mitgliedstaaten nicht ohne weiteres zunichte gemacht werden und sei nicht weniger schutzwürdig als unmittelbar im Gemeinschaftsrecht begründete Individualrechte.792 Bestimme der Gemeinschaftsgesetzgeber den Schutzzweck einer Richtlinie in individualschützender Richtung, so bestehe die Amtspflicht des nationalen Gesetzgebers auch gegenüber dem dadurch begünstigten Personenkreis.793 Daneben erfordere die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften die wirksame Erfüllung der Pflichten aus den Gründungsverträgen.794 Daher sei der säumige Mitgliedstaat nach dem Grundsatz der effektiven Gewährleistung gemeinschaftsrechtlich begründeter Rechte zum Leisten von Schadensersatz verpflichtet.795 Bedenken 788 Hailbronner, K., Staatshaftung bei säumiger Umsetzung von EG-Richtlinien, in: JZ 1992, S. 284 ff., 285; Ossenbühl, F., Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, in: DVBl. 1992, S. 993 ff., 995. 789 Ossenbühl, F., Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, in: DVBl. 1992, S. 993 ff., 995. 790 Karl, J., Die Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten bei Verletzungen des Gemeinschaftsrechts, in: RIW 1992, S. 440 ff., 441. 791 Zuleeg, M., Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, in: JZ 1994, S. 1 ff.; Gellermann, M., Beeinflussung des bundesdeutschen Rechts durch Richtlinien der EG: dargestellt am Beispiel des Europäischen Umweltrechts, 1994, S. 347; im Übrigen stimmen dem EuGH grundsätzlich zu: Böhm, M., Voraussetzungen einer Staatshaftung bei Verstößen gegen primäres Gemeinschaftsrecht, in: JZ 1997, S. 53 ff., 55; Candela Castillo, J. / Mongin, B., Les infractions au droit communautaire commises par les Étates membres, in: RMC 1996, S. 51 ff.; Craig, P. P., Once More unto the Breach: The Community, the State and Damages Liability, in: L. Q. R. 113 (1997), S. 67 ff., 67; Goffin, L., A propos des principes régissant la responsabilité non – contractuelle des États members en cas de violation du droit communautair, in: C. D. E. 1997, S. 531 ff.; Streinz, R., Auswirkungen des vom EuGH „ausgelegten“ Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Recht, in: Jura 1995, S. 6 ff., 13 f. 792 Gellermann, M., ebd.; Zuleeg, M., Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europäischen Integration, in: JZ 1994, S. 1 ff. 793 Geiger, R., Die Entwicklung eines europäischen Staatshaftungsrechts: Das FrancovichUrteil des EuGH und seine Folgen, in: DVBI. 1993, S. 465 ff., 472. 794 Ebd., S. 467.

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hinsichtlich der Vertragsmäßigkeit der so postulierten Verpflichtung wurden teilweise unter Hinweis auf eine „Notgesetzgebungskompetenz“ des EuGH aus dem Weg geräumt – schließlich hätten es die Staaten als Setzer des primären Rechts unterlassen, eine entsprechende Norm im Vertrag zu verankern.796 Schließlich ergebe sich schon aus Art. 171 EGV (a. F.)797, dass Vertragsverstöße umfassend zu beseitigen seien.798 Art. 215 Abs. 2 EGV (a. F.) bekräftige, dass dem Gemeinschaftsrecht eine Haftung für Rechtsverletzungen zumindest nicht fremd sei; eine Haftung für die Verletzung von Individualrechten gebe es schließlich auch im Rahmen der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit.799 Für eine fundierte Kritik des EuGH muss man über die Prämissen der herkömm- 537 lichen Lehre hinausgehen. Denn der altbekannte Doppelschritt von Lücke und Aufweis eines angeblich existierenden Rechtsgrundsatzes ist bei der rechtsvergleichenden Interpretation nicht möglich. Schon die Konstruktion einer Lücke ist oft fragwürdig und von rechtspolitischen Wunschvorstellungen diktiert. Die Notwendigkeit, einen bestehenden Rechtsgrundsatz nachzuweisen, würde dagegen die rechtsvergleichende Auslegung insgesamt unmöglich machen. Denn die Tradition der Mitgliedstaaten ist widersprüchlich und darf selbst dort, wo sie das nicht ist, im Hinblick auf die Zwecke einer immer enger werdenden Gemeinschaft nicht unbesehen übernommen werden. Wenn man die allzu „beschützende“ Werkstatt des Rechts mit ihren zwei Ebenen von „Objektivität“ aus Gesetz und Prinzipien verlässt, werden dagegen operationale normative Maßstäbe aus den methodenbezogenen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts sichtbar. Entscheidend ist, ob man das Konkretisierungselement der praktischen Wirk- 538 samkeit als rechtspolitisch oder als objektiv teleologisches Argument ansieht. Begreift man es als rechtspolitisch, dann wäre die vom EuGH entwickelte Position eine den legitimen Rahmen verlassende richterliche Rechtsschöpfung. Wenn man es dagegen als objektiv teleologische Auslegung auffasst, dann könnte in den Grenzen der funktionellen Gewaltenteilung eine legitime Entwicklung angenommen werden. Weil der hier fragliche Zweck aber aus Wortlaut und Systematik des Primärrechts abgeleitet werden kann, handelt es sich nicht um eine rechtspolitische Wunschvorstellung, sondern in der Tat um ein legitimes normtextbezogenes Argument. Ebd., S. 468. Tryantafyllou, D., Haftung der Mitgliedstaaten für Nichtumsetzung von EG-Recht – Zur Europäisierung des Privatrechts, in: DÖV 1992, S. 564 ff., 566. 797 Art. 228 EGV n.F. 798 Prieß, H-J., Die Haftung der EG-Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, in: NVwZ 1993, S. 118 ff., 119. 799 Karl, J., Die Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten bei Verletzungen des Gemeinschaftsrechts, in: RIW 1992, S. 440 ff., 442, der allerdings nicht darauf eingeht, dass dieser Schadensersatzanspruch nicht dem geschädigten Individuum, sondern vielmehr seinem Heimatstaat zustehen dürfte, der ihn im Wege des diplomatischen Schutzes im eigenen Namen geltend macht. 795 796

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4 Argumentformen – 46 Rechtsvergleichendes Argument

Der Grundsatz der funktionellen Gewaltenteilung wirft hier noch besondere Probleme auf. Er verlangt von den Gerichten, sich auf eine Rolle als Gesetzgeber zweiter Stufe zu beschränken. Normtexte zu setzen bleibt Vorrecht der demokratisch legitimierten Legislativorgane. Die Richter haben dagegen die Aufgabe, die Bedeutung dieser Normtexte für einen Einzelfall zu entwickeln. Im Bereich des Art. 288 Abs. 2 EG schafft der EuGH allerdings Formulierungen, die als Normtexte fungieren. Es ist aber hervorzuheben, dass das Gericht die Normsetzungsprärogative der Gemeinschaftsorgane immer wieder anerkennt und sich nur im Bereich des Art. 288 Abs. 2 EG für berechtigt hält, Grundsätze auf dem Weg über wertende Rechtsvergleichung zu formulieren.800 Tatsächlich ist dieses Vorgehen gerechtfertigt: „Art. 288 Abs. 2 EG liefert ein eindeutiges Beispiel für eine verbindliche Methodenanweisung. Die Behauptung, Ermittlung, Vergleich und Synthese der mitgliedstaatlichen Rechtsinhalte werde darin dem Gerichtshof von den Vertragsparteien bloß ,empfohlen‘, ist unhaltbar. Mehr noch als am imperativen Wortlaut der Vorschrift stößt sie sich an der Überlegung, dass die Aufgabe, den umfassenden Bereich des Amtshaftungsrechts mit Normen auszufüllen, nach dem Prinzip der Gewaltenteilung eher dem Gesetzgeber zukommt als dem Richter. Verzichtet der Gesetzgeber zwar auf eine einzelne Regelung, äußert sich dafür aber ,ersatzweise‘ und ausdrücklich zum Weg der Rechtsfindung, so kann kein Zweifel an der Verbindlichkeit dieses methodischen Hinweises bestehen. Wer aus Art. 288 Abs. 2 EG klagt, muss sich darauf verlassen können, dass ein dem Amtshaftungsrecht aller (!) Mitgliedstaaten gemeinsamer – und somit auch dem Kläger vertrauter – Grundsatz vom Gerichtshof nicht beliebig beiseite geschoben wird.“801 539

Weil also die Konkretisierung des Art. 288 Abs. 2 EG zu dem Ergebnis führt, eine Durchbrechung der funktionellen Gewaltenteilung werde gerade in diesem Bereich von den Normen des Primärrechts gefordert, ist der EuGH zu diesem Vorgehen auch primärrechtlich ermächtigt. Ferner sprechen noch rechtspolitische Erwägungen für die Position des Gerichts. Denn die Francovich-Judikatur ist unter dem Gesichtspunkt des Europas der Bürger positiv zu bewerten. Es handelt sich um ein zusätzliches Instrument dafür, dass das Gemeinschaftsrecht beim Bürger „ankommt“. Diese Praxis bildet zusammen mit der gemeinschaftskonformen Auslegung des nationalen Rechts einen Ersatz für die fehlende horizontale Direktwirkung von Richtlinien als zusätzliche Sanktion für ein Fehlverhalten des Mitgliedstaats. Ein solches Fehlverhalten stellt nicht nur ein Versäumnis gegenüber der Gemeinschaft(-srechtsordnung) dar, sondern auch gegenüber den eigenen Staatsangehörigen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Voraussetzungen für den Eintritt der Schadensersatzpflicht nicht eben weit gefasst sind.

800 Vgl. dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 383; Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 405. 801 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 380 (Ausrufzeichen im Original).

471 Die primärrechtskonforme Interpretation

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Insgesamt kann man die Arbeitsweise des EuGH bei der rechtsvergleichenden Auslegung im Bereich des Staatshaftungsrechts akzeptieren, weil sich für die Durchbrechung der funktionellen Gewaltenteilung im Primärrecht eine spezielle Ermächtigung findet und weil sich das Gericht bisher an die durch den partikularen Charakter dieser Ermächtigung definierten Grenzen gehalten hat.

47 Konformauslegung im Gemeinschaftsrecht Von den Spielarten der Konformauslegung sollen hier die primärrechtskonforme und die sekundärrechtskonforme Variante diskutiert werden.802 Vor allem die zuletzt genannte wirft Legitimitätsprobleme auf.

471 Die primärrechtskonforme Interpretation

Um die Methode normativ anbinden zu können, ist das Rangverhältnis zwischen 540 den einzelnen Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts zu bestimmen. Es handelt sich um eine normkontrollierende Auslegung vom höherrangigen Recht her. Die Tatsache, dass der Gerichtshof auch eine Interpretation von Primärrecht in Übereinstimmung beispielsweise mit „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ praktiziert, ist hingegen keine Erscheinungsform der gemeinschaftskonformen, sondern der systematischen Auslegung des Europarechts.

471.1 Das Primärrecht als Verfassung Die Pflicht zur Interpretation von Sekundärrecht in Übereinstimmung mit Pri- 541 märrecht ist in dessen Höherrangigkeit begründet. Das Primärrecht wird häufig als die „Verfassung“ der Rechtsordnung Europas begriffen.803 Allerdings ist diese Einordnung umstritten.804 Zum Teil wird die Verfassungsqualität mindestens einge802 Zur primär- und sekundärrechtskonformen Auslegung mitgliedschaftlichen Rechts mit Schwerpunkt beim europäischen Privatrecht vgl. Köndgen, J., Die Rechtsquellen des europäischen Privatrechts, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 65 ff., 85 f. 803 So Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 394 ff.; vgl. als Überblick zur historischen Entwicklung des Problems Kleger, H. / Karolewski, I. P. / Munke, M., Europäische Verfassung, 2. Auflage, 2002, S. 19 ff. Vgl. zur Verfassungsgeschichte Giegerich, T., Von der Montanunion zur Europäischen Verfassung – Grundlinien einer 50-jährigen europäischen Verfassungsdiskussion, in: Hofmann, R. / Zimmermann, A. (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2005, S. 13 ff. Zum Verfassungsbegriff vgl. Streinz, R., (EG-)Verfassungsrechtliche Aspekte des Vertrags von Nizza, in: ZÖR 58 (2003), S. 137 ff., 138 – 141. 804 Vgl. zum Überblick über die vertretenen Positionen Kleger, H. / Karolewski, I. P. / Munke, M., Europäische Verfassung, 2. Auflage, 2002, S. 65 ff. m. w. N.

26 Müller / Christensen

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4 Argumentformen – 47 Konformauslegung im Gemeinschaftsrecht

schränkt im Hinblick auf die Besonderheiten der Gemeinschaft: Die Verträge sind aber „keine Verfassung im Vollsinn des Begriffs“, denn sie sind „nicht Ausdruck der Selbstbestimmung einer Gesellschaft über Form und Ziel ihrer politischen Einheit.“805 Oftmals werden die Argumente gegen eine europäische Verfassung noch stärker substantialistisch aufgeladen.806 Eine Verfassung setze ein Staatsvolk voraus, welches als politische Öffentlichkeit nur funktionieren könne aufgrund einer gemeinsamen Sprache und Kultur. Wenn man aber im Sinne des von der Romantik geprägten Nationenbegriffs807 ein homogenes Volk voraussetzen wollte, wäre Demokratie und Verfassung nirgends möglich: „Ist es insoweit wirklich zulässig, den Volksbegriff substantialistisch aufzuladen – und damit implizit die Volkssouveränität als zentrale Kategorie demokratischer Verfassungstheorie? Der Verdacht liegt nahe, das traditionelle Souveränitätsargument des nationalen Machtstaates erlebe hier eine Renaissance in neuem, demokratietheoretischem Gewand – eine Renaissance, die letztlich, wie beim alten Souveränitätsdogma auch, auf ein faktisches Problemlösungsverbot hinausliefe. Bedarf es – so wird man fragen müssen – wirklich der Existenz eines ,Volkes‘ mit vorgeformter sprachlich-kultureller Homogenität, um eine ,politische Öffentlichkeit‘ als einen verfestigten Kommunikationszusammenhang zu bilden? Lässt sich nicht mit zumindest gleicher Berechtigung die Behauptung aufstellen: erst verstärkte Transparenz der Entscheidungsverfahren kann ansatzweise die ,europäische Debatte‘ herbeiführen, derer es zur Herausbildung einer gemeineuropäischen politischen Öffentlichkeit bedarf. Letztlich werden beide Elemente – politische Öffentlichkeit wie Demokratie – nur in einem aufeinander bezogenen Entwicklungsprozess gemeinsam herausgebildet werden können. Dies soll nicht bedeuten, der Zusammenschluss in einer gemeinsamen politischen Einheit mit demokratischer Verfassung bedürfe nicht eines gewissen Maßes an Gemeinsamkeit. Doch darf man dieses Maß an politischer Gemeinsamkeit, das als Voraussetzung für den Prozess des Zusammenwachsens zu einer auf ein gemeinsames politisches Gemeinwesen bezogenen ,civil society‘ gefordert wird, sicherlich nicht zu hoch ansetzen.“808 Homogenität ist weder als Voraussetzung 805 Grimm, D., Vertrag oder Verfassung. Die Rechtsgrundlage der Europäischen Union im Reformprozess Maastricht II, in: ders. u. a. (Hrsg.), Zur Neuordnung der Europäischen Union, 1997, S. 9 ff., 17 f. Zur weiteren Entwicklung vgl. Hector, P., Zukunftsperspektiven der Europäischen Union – Im Licht der Europäischen Verfassung, in: Hofmann, R. / Zimmermann, A. (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2005, S. 197 ff. 806 Vgl. dazu Huber, P., Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? – Zur Demokratiefähigkeit der Europäischen Union, in: Drexl, J. / Kreuzer, K. F. / Scheuing, D. / Sieber, U. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1999, S. 27 ff.; Di Fabio, U., Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, in: Der Staat, 1993, S. 191 ff.; Murswiek, D., Maastricht und der pouvoir constituant, in: Der Staat, 1993, S. 161 ff.; Ossenbühl, F., Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende? in: DVBl, 1993, S. 629 ff.; Kirchhof, P., Brauchen wir ein erweitertes Grundgesetz, 1992. 807 Vgl. dazu Weiler, J. / Haltern, U. R. / Maier, S. C., European Democracy and ist Critique, in: Westeuropean Politics 18, Heft 3, S. 5 ff., 10. 808 Oeter, S., Europäische Integration und Nationalstaatlichkeit. Zum Souveränitätsdiskurs und der Frage nach der Legitimation der Staatsgewalt, in: Dialektik 1998 / 3, S. 113 ff., 123.

471 Die primärrechtskonforme Interpretation

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noch als Ziel sinnvoll, denn es schließt jenen Pluralismus aus, den man heute jedenfalls als Faktum nicht mehr bestreiten kann.809 Der Begriff Homogenität dient nur dazu, die Bruchlinien in einer vorhandenen Kultur zu verdecken: „Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist. Nicht, daß sie keine Identität haben kann, sondern daß sie sich nur insoweit identifizieren, ,ich‘, ,wir‘ oder ,uns‘ sagen und die Gestalt des Subjekts annehmen kann, als sie mit sich selber nicht identisch ist, als sie, wenn sie so wollen, mit sich differiert. Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst.“810 Der Begriff der Homogenität verdeckt also die intrakulturellen Differenzen, welche gerade für die weitere Entwicklung produktiv werden.811 Aber selbst die Kritiker der europäischen Verfassungsentwicklung kommen 542 nicht um die Feststellung herum, „dass die Verträge gegenüber der öffentlichen Gewalt der Europäischen Union wesentliche Funktionen wahrnehmen, die innerstaatlich der Verfassung zukommen.“812 Für die Zwecke der Methodik genügt diese Feststellung. Das Primärrecht hat als Rechtsquelle höheren Rang, verdrängt also niederrangiges Sekundärrecht, das sich demzufolge als eine Art „einfache Gesetzesebene“ bezeichnen lässt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob man der Rechtsprechung des EuGH folgt und die Gemeinschaftsrechtsordnung als autonome Rechtsquelle sui generis versteht, oder ob man sie mit herkömmlichen völkerrechtlichen Begriffen beschreiben will. Jedenfalls hat das von den Mitgliedstaaten durch Übertragung von Hoheitsrechten vertraglich geschaffene Primärrecht vor dem durch die Gemeinschaftsorgane geschaffenen Sekundärrecht Vorrang. Dies wird nicht zuletzt dadurch unterstrichen, dass der Gerichtshof keine Kompetenz hat, Primärrecht für ungültig zu erklären, wie sich aus Art. 234 Abs. 1 lit. b EG ergibt. Das Primärrecht ist seiner Erscheinungsform nach zwar uneinheitlich (drei Gründungsverträge, Protokolle [Art. 311 EG], Anhänge, etc.), stellt jedoch eine einheitliche Rechtsmasse dar, die in sich keiner qualitativen Hierarchisierung zugängig ist. Es genießt „normalen“ hierarchischen Vorrang als Rechtsquelle vor dem Sekundärrecht, ähnlich wie im innerstaatlichen Recht bei der Unterscheidung zwischen Verfassung und Gesetz.813 Dem steht nicht ent809 Vgl. dazu Sandkühler, H. J., Rechtsstaat und Menschenrechte unter den Bedingungen des ,faktischen Pluralismus‘, in: Dialektik 1998 / 3, S. 65 ff. Vgl. dazu Hanschmann, F., Sprachliche Homogenität und europäische Demokratie. Zum Zusammenhang von Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, 2004, S. 63 ff. Vgl. auch grundsätzlich Habermas, J., Ist die Herausbildung einer europäischen Identität nötig, und ist sie möglich?, in: ders., Der gespaltene Westen, Frankfurt am Main 2004, S. 68 ff. 810 Derrida, J., Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, 1992, S. 9 ff., 12 f. 811 Vgl. dazu auch Onuki, A., Europa – Überall und nirgends. Inter, versus Intrakulturalität, in: Dialektik 1997 / 2, S. 79 ff., insbesondere 83. 812 Grimm, D., Vertrag oder Verfassung. Die Rechtsgrundlage der Europäischen Union im Reformprozess Maastricht II, in: ders. u. a. (Hrsg.), Zur Neuordnung der Europäischen Union, 1997, S. 9 ff., 17.

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4 Argumentformen – 47 Konformauslegung im Gemeinschaftsrecht

gegen, dass spezielleres Sekundärrecht in seinem Anwendungsbereich das generelle Primärrecht präzisiert.

471.2 Normative Grundlagen 543

Eine weitere Prämisse für diese Methode bietet der Gedanke, dass der Gesetzgeber, der eine ranghöhere Norm durchführt, sich an dieser ausrichten wird.814 Ferner liegt ihr das Gebot der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung zugrunde. Daraus folgt eine Verpflichtung der Richter, die sich besonders aus dem höherrangigen Recht ergebenden grundsätzlichen Leitlinien und Positionen zu beachten. Dasselbe ist auch durch die Gewaltenteilung angeordnet, die im Spannungsverhältnis zwischen legislativer Macht und judikativen Kompetenzen ein Gebot der richterlichen Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) dahingehend begründet, die Kompetenzen der gesetzgebenden Gewalt zu respektieren. Das Gericht gesteht den mit der Rechtsetzung befassten Gemeinschaftsorganen einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu.815 Wenn die Subsidiarität nach Art. 5 Abs. 2 EG zu prüfen ist, bedarf es einer Bewertung komplexer Sachverhalte, die einer gerichtlichen Nachprüfung hinsichtlich der Tatsachenbeurteilung im Einzelnen nicht ohne weiteres zugänglich ist.816 Der Gerichtshof nimmt deswegen eine der Ermessensausübung angenäherte Kontrolle vor. Er prüft, ob ein offensichtlicher Irrtum oder ein Kompetenzmissbrauch vorliegt, bzw. ob das jeweilige Organ die Grenzen seines Gestaltungsspielraums offenkundig überschritten hat.817 Die Entscheidungsspielräume der Organe sind dabei aus Sicht des Gerichts unterschiedlich, so dass die gerichtliche Kontrolle differiert. Das erschwert die Systematisierung.818 Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane sind folglich nur dann zu verwerfen, wenn sie mit höherrangigem Recht unvereinbar sind. Durch diese Vorgehensweise wird die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts gestärkt, weil so eine Vertragswidrigkeit von vornherein vermieden wird.819

Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 395. Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 186. 815 Für einen weiten Ermessensspielraum Schmidhuber, P. M. / Hitzler, G., Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWG-Vertrag – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer föderalen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, in: NvWZ 1992, S. 720 ff., 724. 816 Vgl. dazu Borries, V., Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union, in: EuR 1994, S. 263 ff., 284; Callies, Ch., Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, 1999, S. 312 ff. 817 EuGH, NZA 1997, S. 23 ff. = EuZW 1996, S. 751 ff., Rn 55 ff. = NJW 1997, S. 1228 Leitsatz – Vereinigtes Königreich / Rat; EuGH, Slg. 1997, I-2405, Rn 54 ff. – Deutschland / Europaparlament und Rat. 818 Vgl. dazu Callies, Ch., Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, 1999, S. 317 ff. 819 Ebd., S. 188. 813 814

471 Die primärrechtskonforme Interpretation

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471.3 Struktur der primärrechtskonformen Interpretation Es ist geboten, die einzelnen Gesetze wie auch die Gesamtheit der Verträge des 544 Primärrechts so zu interpretieren, dass unter ihnen keine Widersprüche entstehen; sie sind gleichsam „harmonisierend“ auszulegen.820 Die Einheitlichkeit des Vertrags spricht auch im vertikalen Verhältnis zwischen Primärrecht und Sekundärrecht dafür, dass die im nachrangigen Sekundärrecht verwendeten Begriffe inhaltlich denen des Primärrechts entsprechen.821 Nach ständiger Rechtsprechung behandelt der Gerichtshof ihrem üblichen Wortsinn nach unklare Begriffe daher primärrechtskonform. Eine Bestimmung des sekundären (abgeleiteten) Gemeinschaftsrechts ist im Fall ihrer Mehrdeutigkeit so auszulegen, dass sie mit dem EG-Vertrag und den „allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts“ vereinbar ist.822 Die Konkretisierung, bei der eine Verordnungs- oder Richtlinienvorschrift mit 545 denen des höherrangigen Primärrechts in Einklang steht, ist einer solchen vorzuziehen, bei der das nicht der Fall ist.823 Es handelt sich also um eine Struktur wie bei der verfassungskonformen Auslegung.824 Der EuGH geht grundsätzlich von der Vermutung aus, dass der Normsetzende sich an den höherrangigen Normen ausrichten,825 sich an deren Vorgaben orientieren will. Dabei fungiert das höherrangige Gemeinschaftsrecht zum einen als Prüfungsmaßstab; zum andern dient es aber auch der Bestimmung des Inhalts der Norm niedrigeren Ranges.826 820 So Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-40. 821 So etwa der Gerichtshof in EuGH Slg. 1968, S. 311 ff., 330 (Milch-, Fett- und EierKontor / Hauptzollamt Saarbrücken). 822 EuGH Slg. 1991, S. I-1647 ff., 1672 (Rauh); EuGH Slg. 1983, S. 4063 ff., 4075 (Kommission / Rat); EuGH Slg. 1986, S. 3663 ff., 3707 (Kommission / Frankreich); EuGH Slg. 1986, S. 3713 ff., 3747 (Kommission / Dänemark); EuGH Slg. 1986, S. 3755 ff., 3812 (Kommission / BRD); EuGH Slg. 1986, S. 3817 ff., 3848 (Kommission / Irland); EuGH Slg. 1991, S. I-3617 ff., 3637 (Neu u. a.); EuGH, „Tretter“, EuZW 1993, S. 575 ff., 576, Rn. 11; EuGH Slg. 1994, S. I-223 ff., 253 (Herbrink); s. auch bereits EuGH Slg. 1969, S. 125 ff., 135 (Torrekens / Caisse Régionale de sécurité social du Nord de la France); EuGH Slg. 1967, S. 505 ff., 518 (Couture / Office National des Pensions) und EuGH Slg. 1966, S. 637 ff., 645 (Hagenbeek / Raad van Arbeid Arnheim); vgl. auch die Nachweise bei Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-40 f.; Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1982, S. 1181 f.; Grundmann, St., Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997, S. 332. 823 Vgl. EuGH Slg. 1986, S. 3755 ff., 3812 (Kommission / BRD). 824 Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 75. 825 EuGH Slg. 1976, S. 497 ff., 512, (Royer); Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1982, S. 1177 ff., 1181; Ophüls, C. F., Die Europäischen Gemeinschaftsverträge als Planungsverfassung, in: Kaiser, J. H. (Hrsg.), Planung, Band 1, Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft, 1966, S. 229 ff., 230.

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4 Argumentformen – 47 Konformauslegung im Gemeinschaftsrecht

Ein Unterschied zu der in Nationalstaaten bekannten verfassungskonformen Auslegung fällt jedoch auf; er ergibt sich aus dem dynamischen Charakter des Gemeinschaftsrechts. In den Bereich der vertragskonformen Auslegung sind nicht nur die Fälle einzuordnen, in denen der Gerichtshof die mit dem Vertrag vereinbare Auslegung wählt; sondern auch die, in denen er darum bemüht ist, die Interpretation des Sekundärrechts soweit wie möglich an den Bestimmungen des Primärrechts auszurichten, um dessen Zielsetzungen zu verwirklichen.827 Bereits in der Rechtssache „Ciechelski“ 828 hatte der EuGH festgestellt, eine Verordnung sei im Zweifel so auszulegen, wie es den primärrechtlich festgelegten Zielen (in diesem Fall denen der Artikel 48 – 51 EWGV) am ehesten entspricht. Das heißt, die vertragsrechtskonforme Auslegung gebietet es, vertragliche Zielsetzungen so weit wie möglich auszuschöpfen. Eine anders erfolgende Interpretation vermag aber die Wirksamkeit des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts nicht unbedingt zu beeinträchtigen.829 Diese Auslegung des Sekundärrechts, die sich am höherrangigen Recht ausrichtet und dessen Zielsetzung weitestgehend zu verwirklichen sucht („effet utile“ / Effektivitätsgrundsatz), erweist sich auch hier als ein gemeinschaftsrechtlicher Fall von systematisch-teleologischer Interpretation.830 Auf der anderen Seite darf das Ergebnis der Konkretisierung nicht über das von den Vertragsbestimmungen jeweils verfolgte Ziel hinausschießen; d. h. sie ist so durchzuführen, dass das Resultat nicht den Vorgaben der Vertragsvorschriften und den systematischen Zusammenhängen widerspricht.831 Beispielsweise darf eine Verordnung nicht so interpretiert werden, dass das Ergebnis über ihre Zielsetzung hinausgeht und sich „gleichzeitig außerhalb der Zweckbestimmung und des Rahmens“ der primärrechtlichen Grundlage der Verordnung stellt.832

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Man sollte die primärrechtskonforme Auslegungsmethode nicht als besonderen Fall der systematischen begreifen.833 Es handelt sich bei ihr nicht wie bei dieser 826 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-40; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 186; Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 187. 827 Grundmann, St., Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997, S. 334. 828 EuGH Slg. 1967, S. 239 ff., 250 (Ciechelski / Caisse Régionale de Sécurité Sociale); vgl. auch den Schlußantrag des Generalanwalts Lamothe in EuGH Slg. 1970, S. 1125 ff., 1159, (Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratstelle für Getreide und Futtermittel). 829 Grundmann, St., Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997, S. 335. 830 Ebd., S. 335. 831 Ebd., S. 335. 832 EuGH Slg. 1980, S. 75 ff., 85 f. (Jordens-Vosters / Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Leder – en Lederwerkende Industrie).

472 Sekundärrechtskonforme Auslegung von Primärrecht

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um die Zusammenschau von Normen, die hierarchisch auf einer Stufe stehen. Vielmehr werden Vorschriften miteinander abgeglichen, die innerhalb derselben Rechtsordnung einen unterschiedlichen Rang haben. Nicht zuletzt dies rechtfertigt den gedanklichen Vergleich mit dem nationalen Auslegungsgrundsatz der verfassungskonformen Auslegung834: zu der Wirksamkeitskontrolle tritt innerhalb des Auslegungsspielraums des einfachen Rechts noch eine am Zweck orientierte Inhaltsbestimmung.

472 Sekundärrechtskonforme Auslegung von Primärrecht

Begrifflich möglich ist auch die sekundärrechtskonforme Auslegung des Primär- 548 rechts, also die von höherrangigem Recht in Übereinstimmung mit Recht niedrigeren Ranges. Es handelt sich dann um eine Art von „gesetzeskonformer Verfassungsauslegung“.835 Fraglich ist jedoch, ob sich ein solches Vorgehen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs überhaupt nachweisen lässt836; und falls ja, stellt sich die weitere Frage nach der Legitimität dieses Vorgehens.837

472.1 Beispiele für eine umgekehrte Konformauslegung Das zeitlich erste Beispiel, das in der Literatur dafür angeführt wird, ist das Ur- 549 teil in der Sache „Bosch“838 aus dem Jahr 1961. Nach Auffassung Pernices stützt sich der Gerichtshof in diesem Urteil zur Auslegung des Art. 85 EGV (heute Art. 81 EG) auf den Standpunkt der Verfasser der VO Nr. 17. Diese Lesart ist aber bei genauer Betrachtung unplausibel. Es geht dabei um die Frage, ob Artikel 85 EGV (heute Art. 81 EG) schon mit Inkrafttreten des Vertrages anwendbar war und 833 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil I, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. I-40; Ewert, H. A., Der Beitrag des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zur Entwicklung eines europäischen Sozialrechts, 1987, S. 59 f. 834 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 186 / 187. 835 Pernice, I., Art. 164, Rn. 31, in: Grabitz, E., und Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 102a – 248 EGV (Maastrichter Fassung), Stand Oktober 1999, 2000, in Anlehnung an Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, 1995, Rn. 85. 836 Grundmann, St., Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997, S. 337 f. 837 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 195 – 198. Vgl. dazu auch Leible, S., Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, Berlin 2006, S. 116 ff., 125 f. 838 EuGH Slg. 1962, S. 97 ff. (Kleedingverkoopbedrijf de Geus / Bosch u. a).

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4 Argumentformen – 47 Konformauslegung im Gemeinschaftsrecht

ob die Vorschrift bereits von diesem Zeitpunkt an ihre volle Wirksamkeit entfalten konnte. Der EuGH legte Art. 85 EGV im Hinblick auf Art. 88 und 89 EGV (heute Art. 84 und 85 EG) und den Effektivitätsgrundsatz aus und kam, unabhängig von der VO, zu dem Ergebnis, Art. 85 EGV sei vom Inkrafttreten des Vertrages an anwendbar, weder Art. 88 noch 89 EGV enthielten aber Übergangsregelungen für schon bestehende Kartelle. Beide Normen seien nicht geeignet, die vollständige Anwendung von Artikel 85 zu gewährleisten, besonders also die Nichtigkeitsfolge auszulösen. Nach Formulieren dieses Auslegungsergebnisses führte das Gericht weiter aus839: „Übrigens ist festzustellen, daß die Verfasser der Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (Amtsblatt S. 204 / 62 – Anm.: das ist die VO Nr. 17 / 62) offensichtlich vom gleichen Standpunkt ausgegangen sind. ( . . . ) Hiernach haben die Verfasser der Verordnung offenbar gleichfalls angenommen, daß bei Inkrafttreten der Verordnung Kartelle im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 bestehen würden, über die noch keine Entscheidung im Sinne von Absatz 3 hat ergehen können, ohne daß sie deswegen nichtig wären“. Folglich legt das Gericht Art. 85 und 86 EGV tatsächlich ohne Rückgriff auf das Sekundärrecht aus, um lediglich anschließend festzustellen, dass die Verfasser der Ersten DurchfVO zu diesen Bestimmungen offenbar „vom gleichen Standpunkt ausgegangen sind“. 550

In gleicher Weise verfuhr der Gerichtshof in der Rechtssache „Walrave“840 aus dem Jahr 1974. Dort ging es um die Vereinbarkeit einer Regelung des internationalen Radsportverbandes „Union Cycliste International“ mit den Vorschriften der Art. 7, 48 und 59 EGV (heute Art. 12 / 14, 39 und 49 EG), denen gemeinsam ist, dass sie in ihrem Geltungsbereich jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung verbieten.841 Dabei stellte der EuGH eine begrenzte horizontale Direktwirkung der Vertragsvorschriften fest, indem er aus Gründen der Effektivität des Gemeinschaftsrechts (vor allem hinsichtlich des Binnenmarktes) die Auffassung vertrat, es stehe außer Frage, dass das Diskriminierungsverbot der Art. 48 und 59 EGV (heute Art. 39 und 49 EG) nicht nur für Akte der staatlichen Behörden gelte; es erstrecke sich auch auf sonstige Maßnahmen, die eine kollektive Regelung im Arbeits- und Dienstleistungsbereich enthalten: „Ohne Zweifel beziehen sich die Artikel 60 Absatz 2, 62 und 64 (heute Artikel 50 Abs. 2 und 53 EG) im Dienstleistungsbereich speziell auf die Beseitigung staatlicher Maßnahmen; dieser Umstand gestattet es aber nicht, sich über die allgemeine Fassung des Art. 59 EGV (heute Art. 49 EG), der nicht auf den Ursprung der Behinderungen abstellt, hinwegzusetzen. Im übrigen steht außer Frage, daß Artikel 48 (heute Art. 39 EG), der für unselbständige Erwerbstätigkeiten die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung vorschreibt, gleichermaßen Verträge und sonstige Vereinbarungen erfaßt, die nicht von staatli839 840 841

Ebd., S. 112 f. EuGH Slg. 1974, S. 1405 ff. (Walrave / Union cycliste international). Ebd., S. 1418, Rn. 4 / 10.

472 Sekundärrechtskonforme Auslegung von Primärrecht

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chen Stellen herrühren. Folglich bestimmt Artikel 7 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1612 / 68, daß das Diskriminierungsverbot auch für Einzelarbeitsverträge und sonstige Kollektivvereinbarungen gilt. Die in Artikel 59 aufgeführten Leistungen unterscheiden sich ihrer Natur nach nicht von den in Artikel 48 erwähnten, sondern nur dadurch, daß sie außerhalb eines Arbeitsvertrages erbracht werden. Allein dieser Umstand kann es nicht rechtfertigen, den Freiheitsraum, den es zu wahren gilt, enger zu fassen.“ Auch hier wird wieder die Methodik des Gerichtshofs deutlich: er legt die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EG im systematischen Vergleich mit Art. 39 EG aus. Das maßgebliche Verständnis des Art. 39 EG, nämlich dessen Anwendbarkeit auch auf private Aktionen, gewinnt der Gerichtshof unabhängig von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht. Diese Sicht bestätigt er mit dem zusätzlichen Argument, dass eine sekundärrechtliche Konkretisierung des Art. 39 EG eben dieses Verständnis der Vertragsvorschrift klar ausdrückt. Das zeigt die Formulierung „folglich bestimmt Artikel 7 der VO“. Weil die Vertragsvorschrift zu einem klaren Ergebnis führt, kann das Sekundärrecht dieses Ergebnis bestätigen. Besonders deutlich wird das, wenn man die nachfolgende Rechtsprechung zur horizontalen Direktwirkung von Art. 39 EG in den Urteilen „Bosman“842 und „Angonese“843 mit dem Urteil „Walrave“ vergleicht. In „Bosman“ stellte der Gerichtshof in Rn. 117 fest, dass Art. 39 Abs. 2 EG ein 551 ausdrückliches Diskriminierungsverbot bezüglich Beschäftigung, Entlohnung und sonstigen Arbeitsbedingungen statuiert. Sodann führte er in Rn. 118 und 119 aus: „Diese Bestimmung wurde u. a. durch Art. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612 / 68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ( . . . ) durchgeführt, wonach die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, durch die die Beschäftigung von ausländischen Staatsangehörigen zahlen- und anteilsmäßig nach Unternehmen, Wirtschaftszweigen, Gebieten oder im gesamten Hoheitsgebiet beschränkt wird, auf Staatsangehörige der übrigen Mitgliedstaaten keine Anwendung finden. Es verstößt gegen denselben Grundsatz, wenn in den Regelwerken von Sportverbänden enthaltene Klauseln das Recht der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten beschränken, als Berufsspieler an Fußballspielen teilzunehmen“. Auch hier wird deutlich, dass Sekundärrecht nicht zur Auslegung des höherrangigen Primärrechts dient, sondern allein zur Bestätigung des Ergebnisses. Ebenso klar ist der EuGH im Urteil „Angonese“, wo er in Rn. 36 feststellt, dass 552 das in Artikel 48 EGV ausgesprochene Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auch für Privatpersonen gilt und nicht länger nur für Kollektivregelungen. Zur Unterstützung dieser erweiternden Lesart verweist der EuGH bezüglich der Urteile „Walrave“ und „Bosman“ allein auf die Auslegung der Vertragsbestimmung, nicht auf den Inhalt der Verordnung. Denn diese erfasst nach EuGH, Slg. 1995, S. I-4921 ff., (Bosman). EuGH, Rs. C-281 / 98 (Roman Angonese / Casa di Risparmio di Bolzano), EuGRZ 2000, S. 306 ff. 842 843

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4 Argumentformen – 47 Konformauslegung im Gemeinschaftsrecht

ihrem Artikel 3 Absatz 1 nur Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder Verwaltungspraktiken der Mitgliedstaaten. Die Regelung ist daher „im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit einer Verpflichtung, die nicht auf derartigen Vorschriften oder Praktiken beruht, nicht einschlägig“.844 Da nur die primärrechtliche Bestimmung zu prüfen war, wird deutlich, dass in den von der Literatur angeführten Urteilen gewisse Unklarheiten allein daher rühren, dass in den zu entscheidenden Fällen sowohl Primär- als auch Sekundärrecht anwendbar bzw. möglicherweise verletzt war. Nichts anderes ergibt sich aus den Urteilen „Eggers“, „Royer“ und „Koestler“. 553

Im Urteil „Royer“ ging es um die Frage, worauf das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats beruht, in das Hoheitsgebiet eines anderen einzureisen und sich dort aufzuhalten.845 Zunächst stellte der Gerichtshof die Systematik der betroffenen Grundfreiheiten, Art. 39, 43 und 49 EG, dar. Sodann führte er in Rn. 19 / 23 aus: „Diese Bestimmungen sind als ein an die Mitgliedstaaten gerichtetes Verbot auszulegen, die Einreise von Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten in ihr Hoheitsgebiet und deren Aufenthalt dort zu beschränken oder zu behindern; sie gewähren jedem unmittelbar Rechte, auf die die genannten Artikel – in der Form, die sie später durch die ergänzenden Verordnungs- und Richtlinienbestimmungen zur Durchführung des Vertrages gefunden haben – anwendbar sind.“ In der Literatur wird dieses Urteil als Beispiel für eine sekundärrechtskonforme Interpretation des Primärrechts angeführt.846 Bezeichnenderweise endet das dazu ausgeführte Zitat genau hier. Denn schon der nächste Satz des Urteils macht die Möglichkeit, es hier als Beispiel zu verwenden, zunichte: „Diese Auslegung liegt allen zur Durchführung der genannten Vertragsbestimmungen ergangenen abgeleiteten Rechtsakten zugrunde.“ Der EuGH macht einmal mehr deutlich, dass das zur Durchführung der Vertragsbestimmungen geschaffene Sekundärrecht auf einem bestimmten Verständnis der primärrechtlichen Vorschriften beruht.

554

In „Koestler“847 wendete der Gerichtshof, nach dem Verständnis eines Teils der Literatur, die Art. 59 und 60 (heute Art. 49 und 50 EG) „im Licht“ der Vorschriften des vom Rat beschlossenen „Allgemeinen Programms zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs“ an.848 Dem widerspricht abermals der Wortlaut des Urteils849: „Mit Recht hat das Oberlandesgericht im vorlie844 Ebd., S. 307, Rn. 22; ferner sei auch Art. 7 der VO nicht zu prüfen, sondern allein Artikel 39 EG, ebd., S. 308, Rn. 27, 28. 845 EuGH Slg. 1976, S. 497 ff. (Royer). 846 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 196. 847 EuGH Slg. 1978, S. 1971 ff. (Société Générale Alsacienne de Banque / Koestler). 848 Pernice, I., Art. 164, Rn. 31 in: Grabitz, E. / Hilf, M., (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 102a – 248 EGV (Maastrichter Fassung), Stand Oktober 1999, 2000. 849 Ebd., Rn. 3 und 4.

472 Sekundärrechtskonforme Auslegung von Primärrecht

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genden Fall die Anwendbarkeit der Bestimmungen des EWG-Vertrages über die Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs angenommen. Leistungen der hier streitigen Art ( . . . ) stellen ohne Zweifel Dienstleistungen im Sinne von Art. 60 Abs. 2 EWG-Vertrag dar, der sich ganz allgemein auf alle kaufmännischen Tätigkeiten bezieht. Die fraglichen Geschäfte können auch nicht als rein innerstaatliche Dienstleistungen angesehen werden, da der Leistungsempfänger vor Beendigung der Vertragsbeziehungen der Parteien seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, so dass die Voraussetzung des Artikels 59 Absatz 1 EWG-Vertrag erfüllt ist, wonach die im Vertrag vorgesehenen Liberalisierungsmaßnahmen allen Erbringern von Dienstleistungen zugute kommen müssen, ,die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind‘. ( . . . ) Nachdem damit die Anwendbarkeit der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über die Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs festgestellt ist, ist zunächst die Bedeutung dieser Vorschriften für das vom Oberlandesgericht aufgeworfene Problem deutlich zu machen. Gemäß dem Grundsatz, auf dem Artikel 60 Absatz 2 beruht, ist der Wohnsitzstaat des Empfängers einer Dienstleistung gehalten, dem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Erbringer der Dienstleistung die gleiche Behandlung wie seinen eigenen Staatsangehörigen zu gewähren. Im Hinblick auf die Verwirklichung dieses Grundsatzes der Nichtdiskriminierung hat das am 18. Dezember 1961 vom Rat beschlossene ,Allgemeine Programm zur Aufhebung der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs‘ (ABl. 1962, S. 32 ff.) die nach dem Vertrag aufzuhebenden Beschränkungen wie folgt beschrieben: ( . . . )“. Auch hier zeigt der Gerichtshof lediglich auf, dass abgeleitetes Gemeinschaftsrecht einen (zum Zeitpunkt des Erlasses bereits bestehenden) Grundsatz konkretisiert, auf dem eine Vertragsvorschrift, hier Art. 50 EG, beruht. Als weiteres Beispiel für eine angebliche sekundärrechtskonforme Auslegung 555 des Primärrechts wird öfter das Erasmus-Urteil850 herangezogen, worin der Gemeinschaft eine Zuständigkeit zum Erlass von Rechtsakten auf dem Gebiet der Bildungspolitik zuerkannt wird. Die These einer umgekehrten Konformauslegung durch den EuGH wird folgendermaßen hergeleitet: „Zuerst wird vom Rat Sekundärrecht in Form des Beschlusses 63 / 266 erlassen, das über das Primärrecht hinausgeht, und dann wird das Primärrecht vom EuGH unter Berufung auf dieses Sekundärrecht weit ausgelegt, um noch weitergehendes Sekundärrecht kompetenzmäßig zu rechtfertigen. Eine solche sekundärrechtskonforme Auslegung des Vertragsrechts zur Begründung von Verbandskompetenzen der Gemeinschaft ist ( . . . ) methodisch inakzeptabel, da hierdurch die Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts auf den Kopf gestellt wird.“851 Aber diese Einschätzung wäre nur dann schlüssig, wenn man mit Teilen der Literatur annähme, dass diesem Urteil die Bodenhaftung im Prinzip der begrenzten EuGH, Slg. 1989, S. 1425 ff. (Kommission / Rat). Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 417. 850 851

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4 Argumentformen – 47 Konformauslegung im Gemeinschaftsrecht

Einzelermächtigung fehle.852 Der EuGH beruft sich demgegenüber jedoch auf den Wortlaut des früheren Art. 128 EWGV und auf teleologische Erwägungen. Unabhängig von der Überzeugungskraft dieser Argumente lässt sich jedenfalls sagen, dass der EuGH aus seiner Sicht keine umgekehrte Konformauslegung vornimmt. 556

Das wohl deutlichste Beispiel dafür, dass der Gerichtshof Primärrecht nicht anhand von Sekundärrecht auslegt, ist in dem Urteil „Eggers“853 zu finden. Die erste Frage des vorlegenden VG Bremen ging im Wesentlichen dahin, ob das Verbot der Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen (Art. 28 EG) und das allgemeine Diskriminierungsverbot die im Fall fraglichen Maßnahmen eines Mitgliedstaates erfassen; diese machen die Verwendung einer Qualitätsbezeichnung für ein nationales Fertigerzeugnis davon abhängig, dass das vorausgehende Herstellungsverfahren ganz oder teilweise in dem Mitgliedstaat abläuft, in dem die Fertigstellung erfolgt und aus dem das Erzeugnis folglich stammt. Für den Fall der Bejahung dieser Frage wird weiterhin gefragt, ob eine Maßnahme dieser Art nicht durch Art. 36 des Vertrages (heute Art. 30 EG) gerechtfertigt ist. Der Gerichsthof stellte klar: „Diese beiden Fragen sind gemeinsam und in erster Linie durch Auslegung der Art. 30 und 36 des Vertrages zu beantworten. Nach Artikel 30 des Vertrages sind alle Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Handel zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Für einen Verstoß gegen dieses Verbot genügt es, dass die fraglichen Maßnahmen geeignet sind, die Einfuhren zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern. Nach der sechsten Begründungserwägung zur Richtlinie Nr. 70 / 50 der Kommission vom 22. Dezember 1969 über die Beseitigung bestimmter Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sind unter diese Maßnahmen diejenigen einzuordnen und deshalb verboten, ,die auf jeder Handelsstufe in einer anderen Form als einer Beihilfe den inländischen Waren einen Vorzug einräumen, der auch an Bedingungen geknüpft sein kann, so daß diese ganz oder teilweise den Absatz der eingeführten Waren ausschließen‘. Im Lichte dieser Erwägungen werden in Artikel 2 Absatz 3 Buchstabe s der Richtlinie zu Recht diejenigen Maßnahmen als Maßnahmen gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung und als verboten angesehen, ,die nur den inländischen Waren Bezeichungen vorbehalten, die weder Ursprungsbezeichnungen noch Herkunftsangaben sind.‘“ Im Gegensatz zu der Auffassung eines Teils der Literatur wird hier nicht Artikel 30 EWG-Vertrag (heute Art. 28 EG) im Licht der sechsten Begründungserwägung und des Artikels 2 Absatz 3 der Richtlinie Nr. 70 / 50 ausgelegt. Vielmehr waren die Definition der Tragweite von Art. 28 EG und die Begründungserwägungen der Richtlinie der Maßstab, an dem der obige Artikel 2 Absatz 3 auszulegen war.854 852 So Streinz, R., Der „effet utile“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band II, 1995, S. 1491 ff., 1504 f. 853 EuGH Slg. 1978, S. 1935 ff., 1953, Rn. 22 – 23 (Eggers / Freie Hansestadt Bremen).

472 Sekundärrechtskonforme Auslegung von Primärrecht

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Das wird nicht zuletzt durch die Formulierung „im Lichte dieser Erwägungen werden in Artikel 2 ( . . . )“ deutlich. Im Ergebnis ist festzustellen, dass der Gerichtshof im Rahmen der Auslegung 557 von Vertragsbestimmungen zwar sekundärrechtliche Regelungen anführt; dies aber nur, weil sie nach seiner Auffassung Präzisierungen enthalten, neben denen er sich nicht um weitere den Vertragsartikeln entsprechende Inhaltsbestimmungen bemühen muss.855 Der EuGH legt also zunächst Primärrecht unabhängig vom Sekundärrecht aus. Dann zieht er zur Bestätigung Sekundärrecht heran, bei dessen Schaffung die Gemeinschaftsorgane offenbar vom selben Ausgangspunkt ausgegangen sind, sich also an dem (richtig verstandenen) Vertragsrecht orientiert haben. Sie haben dann auf dem Weg des notwendigerweise genaueren Sekundärrechts in bestimmten Bereichen die Prinzipien und Grundaussagen der einschlägigen Vertragsbestimmungen konkretisiert. Dies stimmt auch mit der in den untersuchten Urteilen oft anzutreffenden Konstellation überein, dass es sich bei dem einschlägigen Sekundärrecht um Durchführungsvorschriften zu Primärrecht während des Laufs von Übergangszeiten bis zur vollständigen Liberalisierung handelt. Der EuGH stellt regelmäßig fest, dass die sekundärrechtlichen Bestimmungen auf Grundsätzen bzw. einem bestimmten Verständnis des Primärrechts beruhen, die zum Zeitpunkt der Schaffung eben dieses Sekundärrechts durch die zuständigen Gemeinschaftsorgane schon vorhanden waren. Als weiteres Beispiel kann aus der neueren Judikatur des Gerichts das Urteil in 558 der Rechtssache „Guimont“856 dienen. Der Angeklagte in dem französischen Ausgangsverfahren war technischer Leiter einer Firma, die Käse herstellt. Die Strafverfolgungsbehörden warfen ihm vor, Emmentaler Käse ohne Rinde unzutreffend als „Emmentaler Käse“ etikettiert zu haben. Nach dem einschlägigen französischen Dekret wird nur Käse mit Rinde als „Emmentaler“ definiert. Es stellte sich also die Frage, ob es Art. 28 EG einem Mitgliedstaat verwehrt, auf Erzeugnisse, die in einem anderen rechtmäßig hergestellt und vertrieben werden, eine innerstaatliche Vorschrift anzuwenden, die den Vertrieb eines Käses ohne Rinde unter der Bezeichnung „Emmentaler“ in diesem Mitgliedstaat verbietet. Zur Interpretation des Art. 28 EG stellte der Gerichtshof zunächst in der Logik der „Dassonville“-Rechtsprechung fest, dass eine derartige nationale Vorschrift die Vermarktung der Erzeugnisse erschweren und damit den Handel zwischen den Mitgliedstaaten behindern kann. Sodann führte er aus857: „Eine solche Rechtsvorschrift kann nach der Rechtsprechung des EuGH dennoch in Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht stehen. Nach dieser Rechtsprechung kann eine in Ermangelung einer 854 So zutreffend Grundmann, St., Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997, S. 338. 855 Ebd., S. 337 f. m. Hinw. A. EuGH Slg. 1978, S. 1971 ff., 1979 f. (Société Générale Alsacienne de Banque / Koestler). 856 EuGH Rs. C-448 / 98 (Jean-Pierre Guimont), EuZW 2001, S. 158 ff. 857 Ebd., S. 160, Rn. 27 – 29.

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4 Argumentformen – 47 Konformauslegung im Gemeinschaftsrecht

gemeinsamen oder harmonisierten Regelung erlassene nationale Regelung, die ohne Unterscheidung auf heimische wie auf solche Produkte Anwendung findet, die aus anderen Mitgliedstaaten eingeführt wurden, mit dem EWG-Vertrag insoweit vereinbar sein, als sie notwendig ist, um zwingenden Erfordernissen, u. a. der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbaucherschutzes, gerecht zu werden (vgl. EuGH Slg. 1991, I-3069, Rdnr. 18 = NVwZ 1992, 157 – Denkavit), als sie in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck steht und als dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken (vgl. insbesondere EuGH, Slg. 1997, I-3689, Rdnr. 19 = EuZW 1997, 470 – Familiapress). In diesem Zusammenhang ist mit der Kommission die Richtlinie 79 / 112 / EWG des Rates vom 18. 12. 1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. EG 1979 Nr. L 33, S. 1) i. d. F. der Richtlinie 89 / 395 / EWG des Rates vom 14. 6. 1989 (Abl. EG Nr. L 186, S. 17) heranzuziehen, deren Art. 5 I in der entscheidungserheblichen Fassung bestimmte: ( . . . ). Diese Bestimmung zeigt die Bedeutung einer korrekten Verwendung der Bezeichnungen von Lebensmitteln für den Verbraucherschutz auf, gibt den Mitgliedstaaten jedoch nicht die Befugnis, Vorschriften über die Bezeichnungen zu erlassen, die die Einfuhr von Waren, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und vermarktet wurden, zu beschränken, wenn diese Vorschriften nicht in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen und dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken.“ Auch hier zieht der EuGH erneut Sekundärrecht nur zur Verdeutlichung eines bereits bestehenden Verständnisses des Primärrechts heran.

472.2 Legitimität der Methode? 559

Die Literatur vertritt, ausgehend von der Behauptung, diese Vorgehensweise werde tatsächlich vom Gerichtshof praktiziert, die Auffassung, die Konformauslegung in beiden Richtungen trage der Wechselbeziehung von höherrangigem und ausgestaltetem Recht sowie der Prärogative des Gesetzgebers bei der konkretisierenden Ausfüllung offener Vertragsnormen Rechnung.858 Ebensowenig jedoch, wie der Gerichtshof die sekundärrechtskonforme Interpretation von Vertragsrecht tatsächlich vornimmt, wäre diese Methode legitim. Gegen eine umgekehrte Konformauslegung sprechen die gleichen Bedenken wie gegen eine gesetzeskonforme Verfassungsauslegung im nationalen Recht. Die Normenhierarchie des Gemeinschaftsrechts würde durch ein derartiges Vorgehen auf den Kopf gestellt.859 Ferner hat der Gerichtshof nach Art. 220 EG „die Wah858 Pernice, I., Art. 164, Rn. 32 in: Grabitz, E. / Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 102a – 248 EGV (Maastrichter Fassung), Stand Oktober 1999, 2000.

472 Sekundärrechtskonforme Auslegung von Primärrecht

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rung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages“ zu sichern. Er kontrolliert mithin die Gemeinschaftsorgane bei der Rechtsetzung dahingehend, ob die von ihnen erlassenen Akte die Bestimmungen der „Gemeinschaftsverfassung“860 einhalten. Diese ihm zugewiesene Aufgabe kann er jedoch nicht wirksam erfüllen, wenn er Primärrecht so lange interpretiert, bis (zu dessen Ausführung erlassenes) Sekundärrecht nicht gegen die Vertragsbestimmungen verstößt.861 Das würde im Ergebnis eine neue Kompetenz der Gemeinschaft schaffen. Ein weiteres normatives Argument, welches gegen die „gesetzeskonforme Verfassungsauslegung auf Gemeinschaftsebene“ spricht, ist Art. 234 Abs. 1 lit. a) und b) EG. Nach lit. a) entscheidet der Gerichtshof über die Auslegung des Vertrags, wobei „Vertrag“ in diesem Sinn umfassend zu verstehen ist, nämlich als das gesamte Gemeinschaftsrecht .862 Gültigkeitsfragen können aber nur Sekundärrecht betreffen, für welches das Primärrecht Prüfungsmaßstab ist. Dürfte der Gerichtshof Primärrecht in Übereinstimmung mit Sekundärrecht auslegen, so würde damit eine Nichtigerklärung der abgeleiteten Rechtsvorschrift unterbleiben, welche der EuGH aber nach Art. 234 I lit. b), 230, 231, 233 EG vorzunehmen verpflichtet ist.863 472.3 Keine Korrektur, sondern nur Bestätigung Somit ist festzuhalten, dass der EuGH zur Bestätigung einer unabhängig von 560 abgeleitetem Gemeinschaftsrecht gewonnenen Auslegung des Primärrechts sekundärrechtliche Bestimmungen anführt und anführen darf, dass er aber weder eine sekundärrechtskonforme Interpretation von Vertragsbestimmungen tatsächlich vornimmt noch sie vornehmen dürfte.864 Auch wenn einige Urteile für sprachliche Irritationen sorgen, verbleibt das Gericht, bei genauer Betrachtung, im Rahmen seiner normativen Vorgaben. Es korrigiert gerade nicht Primärrecht durch Sekundärrecht, sondern zieht dieses nur zur Bestätigung heran. Deutlich sagt der EuGH in der Rechtssache „Antonissen“:865 „Diese Auslegung des EWG-Vertrags ent859 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 197. 860 Vgl. Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 394, der von der „verfassungsrechtlichen Rolle der Verträge“ spricht. 861 So zutreffend Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 198, 416 ff. 862 Streinz, R., Europarecht, 4. Aufl., 1999, Rn. 558, 346 ff. 863 Mit dieser Argumentationslinie sind gleichfalls die Begründungserwägungen für die Existenz und insbesondere die Legitimität der streitigen Vorgehensweise von Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 190, ausgehebelt, der im Wesentlichen auf die Wechselbezüglichkeit des Gemeinschaftsrechts und auf die Gebotenheit der Gültigkeitserhaltung des Sekundärrechts wegen des judicial self-restraint abstellt. 864 Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005, S. 164. 865 EuGH, Rs. C-292 / 89; Slg. 1991, S. I-745 ff., Rn. 14 (Antonissen).

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4 Argumentformen – 48 Konformauslegung im nationalen Recht

spricht im übrigen der Auffassung der rechtsetzenden Organe der Gemeinschaft, wie sie sich aus den Bestimmungen zur Durchführung der Freizügigkeit, insbesondere den Art. 1 und 5 der Verordnung ( . . . ) ergibt, die das Recht der Gemeinschaftsangehörigen, sich zur Stellensuche in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, und folglich auch das Aufenthaltsrecht dort voraussetzen.“ Es ist in der normalen Konkretisierungspraxis eben durchaus möglich, dass Sekundärrecht und Primärrecht gleich zu interpretieren sind.866

48 Konformauslegung im nationalen Recht 561

Der EuGH hat auch für die nationalen Gerichte eine Konformauslegung entwickelt und begründet. Danach besteht eine Pflicht der Gerichte der Mitgliedstaaten, soweit die Auslegungsmethoden des nationalen Rechts es zulassen, dieses so zu interpretieren, dass die Ziele des Gemeinschaftsrechts optimal wirksam werden.

481 Normative Grundlagen für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung

562

Damit die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung zur Pflicht der nationalen Gerichte werden kann, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein: Einmal muss dem Gemeinschaftsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht zukommen. Zum andern muss, jedenfalls solange man das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht nicht als einheitliche Rechtsordnung sieht, ein Mechanismus zur Regelung der Divergenz vorliegen.

481.1 Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts 563

Für eine Verpflichtung zur Auslegung nationalen Rechts in Konformität mit Gemeinschaftsrecht, insbesondere mit Richtlinien, spricht der „supranationale“ Vorrang des Europarechts.867 Aus Sicht der Europäischen Gemeinschaft genießen alle 866 EuGH Slg. 1997, S. I-6013 ff., 6051, Rn. 53 (Parfums Christian Dior); EuGH Slg. 1996, S. I-3457 ff., 3531, Rn. 40 (Bristol-Myers Squibb u. a.); nach beiden Urteilen sind Art. 30 EG und Art. 7 der Ersten Richtlinie 89 / 104 / EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften über die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1) gleich auszulegen. Ebenso Urteil EuGH, Rs. C-381 / 99 (Brunnhofer / Bank der österreichischen Postsparkasse), EuZW 2001, S. 568 ff., 569, Rn. 29: „Außerdem hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Richtlinie, die im Wesentlichen die konkrete Anwendung des in Art. 119 EGV genannten Grundsatzes des gleichen Entgelts erleichtern soll, in keiner Weise den Inhalt oder die Tragweite dieses Grundsatzes, so wie er in diesem Artikel definiert ist, berührt, ( . . . ) so dass die dort und in der Richtlinie verwendeten Begriffe dieselbe Bedeutung haben ( . . . )“.

481 Normative Grundlagen

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Normen des EG-Rechts Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich des Verfassungsrechts. Eine „völkerrechtliche Lösung“ wäre dagegen für die Gemeinschaft problematisch: Da die Mitgliedstaaten völkerrechtlichen Verträgen unterschiedlichen Rang einräumen, ergäbe sich eine unterschiedliche Rechtsverbindlichkeit europäischer Normen in den einzelnen Staaten. Nachfolgende gleichrangige oder höherrangige Gesetze auf nationaler Ebene würden eine einheitliche Geltung in den Mitgliedstaaten verhindern. Die letztverbindliche Auslegungskompetenz der nationalen Verfassungsgerichte würde unweigerlich zu unterschiedlichen Lösungen führen. Daher hat der EuGH schrittweise den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor na- 564 tionalem Recht festgestellt868: Bereits in der Rechtssache van Gend & Loos von 1963869 stellte der Gerichtshof fest, dass die Europäische Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung auf völkerrechtlicher Ebene darstellt, zu deren Wohl die Mitgliedstaaten in begrenztem Ausmaß ihre Souveränität beschränkt haben, und deren Subjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind. In seiner Entscheidung in der Rechtssache Costa / ENEL870 von 1964, die durch spätere Urteile bestätigt wurde871, hat der EuGH den Vorrang primären Gemeinschaftsrechts vor 867 So Klein, E., Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 9 f., 12 f.; Bach, A., Direkte Wirkung von EG-Richtlinien, in: JZ 1990, S. 1108 ff., 1110; Zuleeg, M., Die Rechtswirkung europäischer Richtlinien, in: ZGR 1980, S. 466 ff., 470 f.; ders., Das Recht der europäischen Gemeinschaft im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 22, 25, 31; Grabitz, E., Entscheidungen und Richtlinien als unmittelbar wirkendes Gemeinschaftsrecht, in: EuR 1971, S. 1 ff., 5; ders., Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966, S. 41 ff.; Ipsen, H. P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 58 f., 70 ff.; Beutler, B. / Bieber, R. / Pipkorn, J. / Streil, J., Die Europäische Union – Rechtsordnung und Politik, 4. Aufl., 1993, 2.2.4.3., 2.3.1.; Groß, W., Europa 1992: Einwirkungen des Europäischen Rechts in den innerstaatlichen Bereich der Bundesrepublik Deutschland, in: JuS 1990, S. 522 ff., 523; Nicolaysen, G., Europarecht I, 1991, S. 30; Dendrinos, A., Rechtsprobleme der Direktwirkung der EWG-Richtlinien unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Griechenland, 1989, S. 281; Lutter, M., Die Auslegung angeglichenen Rechts, in: JZ 1992, S. 593 ff., 605 f.; Salzwedel, J., Probleme der Umsetzung europäischen Gemeinschaftsrechts in das Umwelt- und Technikrecht der Mitgliedstaaten, in: Umwelt-Technik-Recht 7, 1989, S. 65 ff.; Spetzler, E., Die unmittelbare Wirkung von Richtlinienbestimmungen als neue Sanktionskategorie nach Art. 189 EWG-Vertrag, in: RIW 1989, S. 362 ff.; ders., Die Kollision des Europäischen Gemeinschaftsrechts mit nationalem Recht und deren Lösung, in: RIW 1990, S. 286 ff.; ders., Die richtlinienkonforme Auslegung als vorrangige Methode steuerjuristischer Hermeneutik, in: RIW 1991, S. 579 ff. 868 EuGH Slg. 1963, S. 1 ff., (van Gend en Loos / Niederländische Finanzverwaltung); EuGH Slg. 1964, S. 1251 ff., (Costa / ENEL); EuGH Slg. 1969, S. 1 ff., (Wilhelm / Bundeskartellamt); EuGH Slg. 1970, S. 1125 ff., (Internationale Handelsgesellschaft gegen Einfuhrund Vorratsstelle Getreide); EuGH Slg. 1978, S. 629 ff., (Staatliche Finanzverwaltung gegen Simmenthal); sowie aus jüngerer Zeit: EuGH, Urt. v. 14. 12. 2000, Rs. C-344 / 98, „Masterfoods Ltd. / HB Ice Cream Ltd. und HB Ice Cream Ltd. / Masterfoods Ltd., handelnd unter der Firm Mars Ireland“, EuZW 2001, S. 113 ff. 869 EuGH Slg. 1963, S. 1 ff. (van Gend en Loos / Niederländische Finanzverwaltung). 870 EuGH Slg. 1964, S. 1251 ff. (Costa / ENEL). 871 EuGH Slg. 1969, S. 1 ff. (Wilhelm / Bundeskartellamt).

27 Müller / Christensen

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4 Argumentformen – 48 Konformauslegung im nationalen Recht

nachfolgendem einfachgesetzlichen mitgliedstaatlichen Recht festgestellt. Dabei entwickelt der Gerichtshof ein dualistisches Grundverständnis bezüglich des Verhältnisses des Gemeinschaftsrechts zu nationalem Recht.872 Danach gilt, dass Gemeinschaftsrecht und nationales Recht nicht etwa Teil einer einheitlichen Rechtsordnung sind, sondern voneinander getrennt bestehen. Mithin ist nur das nationale Recht von den mitgliedstaatlichen Organen, nicht etwa das nationale Recht von den Gemeinschaftsorganen und Organen aus anderen Mitgliedstaaten automatisch anzuwenden. In der Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft873 von 1970 weitete der Gerichtshof den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auf den Vorrang sekundären Gemeinschaftsrechts sogar vor Grundrechten der nationalen Verfassungen aus. Dies bestätigte er in der Entscheidung Simmenthal II874 von 1978: der EuGH stellte explizit den Anwendungsvorrang des Europarechts vor jeder entgegenstehenden Bestimmung nationalen Rechts fest. Das Ziel der Judikatur des Gerichtshofs besteht in der Sicherung der einheitlichen Anwendung und der unbedingten Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts im Rahmen der übertragenen Hoheitsrechte. 565

Wie die Entwicklung nach der Entscheidung in Costa / ENEL zeigt, wird der dualistische Ansatz des Gerichtshofs durch eine monistische Konstruktion überlagert, denn Geltung, Rang und unmittelbare Anwendbarkeit werden nach seiner ständigen Rechtsprechung allein vom Gemeinschaftsrecht selbst bestimmt. Dies zeigt sich vor allem auch in Costa / ENEL selbst, sowie in van Gend & Loos, worin der EuGH feststellt, dass später erlassenes nationales Recht vorausgehendes Gemeinschaftsrecht nicht verdrängen kann. Der Ausgangspunkt der Theorie vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts liegt darin, dass die Mitgliedstaaten mit der Gründung der Gemeinschaften eine autonome Rechtsquelle, eine eigenständige Rechtsordnung geschaffen haben, die keine Wirkung hätte, wenn sie nicht innerstaatlichen Rechtsquellen überlegen wäre.

566

Die Konsequenzen dieser Rangüberlegenheit zeigen sich auch gegenüber den nationalen Gerichten. Deutlich wurde dies neuerdings in der Rechtssache Masterfoods.875 In dem Ausgangsrechtsstreit hat HB Speiseeis Wiederverkäufern kostenlos oder sehr preiswert Kühltruhen zur Verfügung gestellt, die diese ausschließlich für von HB hergestelltes Eis nutzen dürfen. Als Masterfoods auf dem irischen Speiseeismarkt tätig wird, soll sie die Wiederverkäufer dazu verleitet haben, auch von Masterfoods geliefertes Eis in diesen Kühltruhen aufzubewahren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die meisten Verkaufsräumlichkeiten der Wiederverkäufer in Irland nur Platz für eine einzige Kühltruhe boten. In dem Streit zwischen den beiSo zutreffend Bleckmann, A., Europarecht, 1997, Rn. 1087. EuGH Slg. 1970, S. 1125 ff. (Internationale Handelsgesellschaft gegen Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide). 874 EuGH Slg. 1978, S. 629 ff. (Staatliche Finanzverwaltung gegen Simmenthal). 875 EuGH, Urt. v. 14. 12. 2000, Rs. C-344 / 98 „Masterfoods Ltd. / HB Ice Cream Ltd. und HB Ice Cream Ltd. / Masterfoods Ltd., handelnd unter der Firm Mars Ireland“, EuZW 2001, S. 113 ff. 872 873

481 Normative Grundlagen

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den Firmen über die Zulässigkeit der Ausschließlichkeitsklausel wurde der irische High Court angerufen, der HB Recht gab, und die EG-Kommission eingeschaltet, welche zugunsten von Masterfoods entschied. Gegen diese Entscheidung wurde vor dem EuGH Klage erhoben. Auf Vorlage des irischen Supreme Court entschied der EuGH (Plenum): „Nimmt ein nationales Gericht zu einer Vereinbarung oder einer Verhaltensweise Stellung, deren Vereinbarkeit mit den Art. 85 I und 86 EGV (jetzt Art. 81 I EG und 82 EG) bereits Gegenstand einer Entscheidung der Kommission ist, so darf es keine Entscheidung erlassen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderläuft, selbst wenn Letztere im Widerspruch zu der Entscheidung eines erstinstanzlichen nationalen Gerichts steht. Hat der Adressat der Entscheidung der Kommission in der in Art. 173 V EGV (jetzt Art. 230 V EG) vorgesehenen Frist eine Nichtigkeitsklage gegen diese Entscheidung erhoben, so muss das nationale Gericht prüfen, ob es das Verfahren aussetzen soll, um eine endgültige Entscheidung über diese Nichtigkeitsklage abzuwarten oder um dem Gerichtshof eine Vorabentscheidungsfrage vorzulegen.“ Die Rangüberlegenheit macht sich natürlich auch gegenüber der Verwaltung der Mitgliedstaaten geltend. So ist etwa die Bestandskraft nationaler Verwaltungsentscheidungen zu durchbrechen.876 Allerdings formuliert der EuGH dafür einschränkende Bedingungen, die kumulativ vorliegen müssen. Damit soll ein Ausgleich zwischen dem gemeinschaftsrechtlichen Prinzip der Rechtssicherheit und der praktischen Wirksamkeit hergestellt werden. Auf dem Weg über die Einschränkung der Bestandskraft wird ein weiterer dezentraler Durchsetzungsmechanismus des Gemeinschaftsrechts geschaffen, ohne dieses Institut vollkommen aufzuheben. Allerdings dürfen gemeinschaftsrechtswidrige Verwaltungsakte nicht Grundlage für den Erlass neuer Verwaltungsentscheidungen werden.877 Nach der Rechtsprechung des EuGH, ausgehend von Costa / ENEL, bildet also 567 das Gemeinschaftsrecht eine eigene, den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hierarchisch übergeordnete Rechtsquelle. Für die normativen Vorgaben der gemeinschaftsrechtskonformen und der richtlinienkonformen Auslegung gilt daher: Gemeinschaftsrecht gleich welchen Ranges hat Vorrang vor nationalem Recht. Die Priorität des Gemeinschaftsrechts wird heute nur noch selten bestritten.878 Als Hauptargument wird vorgebracht, dass Gemeinschaftsrecht entgegenstehendes 876 EuGH, Urteil vom 13. 07. 2004 – C-82 / 03 – Kommission / Italien (Pflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 10 EG zur Zusammenarbeit mit der Kommission durch Auskunftserteilung im Rahmen des Verfahrens des Art. 226 EG); EuGH, Urteil vom 17. 06. 2004 – C-30 / 02 – Recheio (Zulässigkeit einer Ausschlussfrist von 90 Tagen für die Erhebung einer Klage); EuGH, in: EuZW 2004, S. 215 ff. = EWS 2004, S. 86 ff. – Kühne & Heitz. 877 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1999, S. 2517 ff. = NJW 1999, S. 2355 ff. = EuZW 1999, S. 405 ff. = NVwZ 1999, S. 977 – Ciola. Hierzu Epiney, NVwZ 2000, S. 36 ff., 37. Siehe auch EuGH, Slg. 2001, I-5063 = EuZW 2001, S. 477 ff. = NJW 2002, S. 2056 – Larsy. 878 Vgl. Di Fabio, U., Richtlinienkonformität als ranghöchstes Normauslegungsprinzip, in: NJW 1990, S. 947 ff. Zum Versuch, die Solange 2-Rechtsprechung des Bundesverfas-

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4 Argumentformen – 48 Konformauslegung im nationalen Recht

Nationalrecht nicht unwirksam macht. Wenn aber gleichzeitig zugegeben wird, dass Gemeinschaftsrecht bei Konflikten trotzdem allein den Fall regiert, wird daran deutlich, dass es sich hier um einen rein terminologischen Konflikt handelt. Die Frage von Geltungsvorrang oder Anwendungsvorrang kann für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung offen bleiben. Sie setzt nur Anwendungsvorrang voraus, den niemand bestreitet. 568

Obwohl damit im Ergebnis die Überlegenheit des Gemeinschaftsrechts auch in der Literatur überwiegend zur Begründung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung herangezogen wird,879 gibt es dennoch einige wenige Stimmen, die diese Begründung für überflüssig halten.880 Vor allem für die richtlinienkonforme Auslegung soll sich die Begründung allein schon aus Art. 10 und 249 Abs. 3 EG ergeben. Dieser Meinung ist zwar zuzugeben, dass der spezielle Mechanismus für die Begründung unverzichtbar ist. Denn das Gemeinschaftsrecht bildet (noch) keine einheitliche Rechtsordnung mit dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten. Aber andererseits würde allein dieser normative Mechanismus nicht ausreichen, wenn es nicht als tragenden systematischen Zusammenhang einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts gäbe. Es geht um die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, das regeln die Art. 10 und 249 Abs. 3 EG; aber eben um eine mit Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Daher braucht man für die Begründung auch der richtlinienkonformen Auslegung neben dem normativen Mechanismus auch noch den prinzipiellen Vorrang des europäischen Rechts.

481.2 Konfliktmechanismus im nationalen Recht 569

Häufig wird davon ausgegangen, es spreche eine Vermutung dafür, dass der nationale Gesetzgeber eine zur Umsetzung von Gemeinschaftsrecht erlassene Norm mit dem Willen geschaffen habe, mit dieser Norm den Auftrag des Gemeinschaftsrechts zu erfüllen.881 Daraus würde eine Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung kraft nationalen Rechts folgen.882

sungsgerichts bei Richtlinien so einzuschränken, dass sie nur bei deren Direktwirkung Anwendung findet: Weidemann, C., „Solange II“ hoch 3?, in: NVwZ 2006, S. 623 ff. 879 Klein, E., Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von europäischem Gemeinschaftsrecht, 1988, S. 9 f., 12 f.; Bach, A., Direkte Wirkung von EG-Richtlinien, in: JZ 1990, S. 1108 ff., 1110; Ipsen, H.-P., Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 58 f., 70; Dendrinos, A., Rechtsprobleme der Direktwirkung der EWG-Richtlinien unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Griechenland, 1989, S. 281. 880 Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 69. 881 Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: EuR 1991, S. 211 ff., 217; Meilicke, W., „Verschleierte“ Sacheinlage und EWGVertrag, in: DB 1990, S. 1173 ff., 1178 (m. Bsp.). 882 Scherzberg, A., Die innerstaalichen Wirkungen von EG-Richtlinien, in: Jura 1993, S. 225 ff., 231.

481 Normative Grundlagen

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Dagegen wird angeführt, eine derartige Vermutung lasse sich empirisch und normativ kaum begründen: Hätte der Gesetzgeber diese Absicht gehabt, so hätte er eine begrifflich engere, nur die gemeinschaftsrechtskonforme Entscheidung zulassende Formulierung gewählt.883 Dieser Einwand ist aber vor dem Hintergrund der generellen Unbestimmtheit von Sprache nicht tragfähig. Texte erlauben es niemals, ihre Lesarten von vornherein durchgängig festzulegen. Es spricht allerdings etwas anderes gegen die Ansicht, eine Pflicht zur gemein- 570 schaftsrechtskonformen Auslegung mit dem Willen des nationalen Gesetzgebers begründen zu können. Folgte man nämlich dieser Begründung, so stellte eine Nichtbeachtung dieser Pflicht allein eine Verletzung nationalen Rechts und nicht des EG-Rechts dar. Es bliebe auch fraglich, ob sich dieser „Wille des nationalen Gesetzgebers“ auch auf andere Gesetze, die nicht zur Umsetzung von Gemeinschaftsrecht gedacht waren, erstreckt. Das wird zumindest bei Gesetzen, die vor Erlass der Umsetzung bereits existierten, abzulehnen sein. Wollte man die richtlinienkonforme Auslegung nur durch den Willen des nationalen Gesetzgebers begründen, so bezöge sich die Pflicht allein auf die von diesem Willen umfassten nationalen Normen. Aber nach Ansicht des EuGH erstreckt sich die Pflicht zur richtlinienkonformen 571 Auslegung auf das gesamte nationale Recht. Sie gilt also auch für die bei Erlass der Richtlinie bereits geltenden Bestimmungen.884 Das spielt eine besondere Rolle dort, wo nationales Recht schon in seinem bisherigen Bestand einer Richtlinie konform ist.885 Diese Art der Auslegung erfasst grundsätzlich das gesamte nationale Recht, andernfalls würden sich schwierige Abgrenzungsprobleme ergeben. Wird etwa eine Richtlinie nicht durch eine spezielle Vorschrift des nationalen Rechts, sondern durch allgemeine Regelungen umgesetzt, so fragt es sich, ob auch diese, die ohne Bezug zu der betreffenden Richtlinie ergehen, als Umsetzungsvorschriften eingestuft werden können. Auch schon an dieser Schwierigkeit scheitert eine nationalstaatliche Begründung. Der entscheidende Gesichtspunkt liegt darin, dass der Verweis des EuGH auf Art. 10 EG für das gesamte nationale Recht trägt.886 Deswegen bedarf es einer Begründung durch Gemeinschaftsrecht.

883 Nettesheim, M., Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, in: AöR 1994, S. 261 ff., 267. 884 Scherzberg, A., Die innerstaalichen Wirkungen von EG-Richtlinien, in: Jura 1993, S. 225 ff., 232. 885 Steindorf, E., EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 455. 886 Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: EuR 1991, S. 211 ff., 220.

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4 Argumentformen – 48 Konformauslegung im nationalen Recht

481.3 Konfliktmechanismus im Gemeinschaftsrecht 572

Der Gerichtshof hat die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation nationalen Rechts auf Art. 10 EG gestützt, das Gebot richtlinienkonformer Auslegung nationalen Rechts im Besonderen auf Art. 249 Abs. 3 EG und auf die Richtlinie selbst. Gegen diese Position des EuGH wird eingewendet, dass im Fall der fehlenden bzw. fehlerhaften Umsetzung von Richtlinienrecht die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 226, 227 EG und die Anerkennung der unmittelbaren Wirkung ausreiche, um dem Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts zu genügen.887 Dagegen spricht jedoch, dass ein Mitgliedstaat sich im Sinn eines venire contra factum proprium widersprüchlich verhalten würde, wenn er sich trotz Anerkennung der Pflichten aus Art. 10 und 249 Abs. 3 EG das Schaffen oder Aufrechterhalten richtlinienwidrigen Rechts vorbehielte.888 Wegen der begrenzten Zwangsgewalt der Gemeinschaft ist das Vertragsverletzungsverfahren nicht in gleicher Weise geeignet, dem Gemeinschaftsrecht zur Wirksamkeit zu verhelfen. In Betracht käme nur eine Verhängung von Zwangsgeld nach Art. 228 Abs. 2 EG, der Gerichtshof könnte die Entscheidung des Mitgliedstaats aber nicht aufheben.889

573

Die Interpretation nationalen Rechts in Übereinstimmung mit Sekundärrecht hat der Europäische Gerichtshof, beispielsweise in der Rechtssache Adidas890 aus 1999, auf Art. 10 EG gestützt: „Schließlich ist, wenn der Vollzug einer Gemeinschaftsverordnung den nationalen Behörden obliegt, ( . . . ) der Rückgriff auf nationale Vorschriften nur in dem zur ordnungsgemäßen Anwendung dieser Verordnung erforderlichen Umfang möglich, soweit dies weder die Tragweite, noch die Wirksamkeit der Verordnung beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 1982 in den Rechtssachen 146 / 81, 192 / 81 und 193 / 81, Bay Wa u. a., Slg. 1982, 1503, Rn. 29). Diese nationalen Maßnahmen müssen aufgrund der durch Artikel 10 EG festgelegten Pflichten ganz allgemein die Anwendung der Gemeinschaftsverordnung erleichtern und dürfen ihre Durchführung nicht behindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 1970 in der Rechtssache 30 / 70, Scheer, Slg. 1970, 1197, Rn. 8).“

574

Die Möglichkeit der richtlinienkonformen Auslegung nationaler Transformationsgesetzgebung erkannte der Gerichtshof bereits in dem Urteil „Felicitas“891 an. 887 Di Fabio, U., Richtlinienkonformität als ranghöchstes Normauslegungsprinzip, in: NJW 1990, S. 947 ff., 951. 888 Lutter, M., Die Auslegung angeglichenen Rechts, in: JZ 1992, S. 593 ff., 605. In diese Richtung argumentiert der Gerichtshof im Übrigen, um zu begründen, dass der Staat sich gegenüber dem Einzelnen weder auf die Nichtumsetzung noch auf die unmittelbare Geltung von Richtlinien berufen kann. 889 Vgl. hierzu Dauses, M., Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EG-Vertrag, 2. Aufl., 1996, S. 120; Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, in: ZGR, 1992, S. 376 ff., 390. 890 EuGH Slg. 1999, S. I-7081 ff., 7107 f., Rn. 23 ff. (Adidas). 891 EuGH Slg. 1982, S. 2771 ff. (Felicitas gegen Finanzamt für Verkehrssteuern).

481 Normative Grundlagen

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Dort hielt er es für die Aufgabe der nationalen Justiz, die einheitliche Auslegung und Anwendung von innerstaatlichen Durchführungsvorschriften dadurch sicherzustellen, dass die Gerichte auf die allgemeinen Auslegungsgrundsätze zurückgriffen. Dies solle insbesondere dadurch erreicht werden, dass an den Willen des Gesetzgebers zur vertragsgemäßen Umsetzung angeknüpft wird.892 Erstmalig taucht die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation mitgliedstaatlichen Rechts in der Judikatur des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren „von Colson und Kamann“893 und im Urteil „Harz“894 aus dem Jahr 1984 in der Form der richtlinienkonformen Auslegung angeglichenen nationalen Rechts auf. Der EuGH betonte dort, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Pflicht der Mitgliedstaaten, das in ihr vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die aus Art. 10 EG, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, also auch den Gerichten obliege. Daher müssten mitgliedstaatliche Gerichte bei der Anwendung nationalen Rechts dieses im Licht des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie interpretieren, um das von Art. 249 Abs. 3 EG aufgestellte Ziel zu erreichen.895 Besonders hat der Richter das nationale Recht, das zur Umsetzung der jeweiligen Richtlinie bestimmt ist, in Übereinstimmung mit den aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Verpflichtungen zu konkretisieren, soweit er dazu nach nationalem Recht eine Kompetenz hat.896 Eine andere wichtige Frage der Reichweite dieser Pflicht behandelte der Ge- 575 richtshof in der Rechtssache „Kraaijeveld“.897 Ein nationales Gericht wurde im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung angerufen, mit der ein Flächennutzungsplan genehmigt worden war. Musste es dabei von Amts wegen die Frage aufgreifen, ob gemäß der Richtlinie eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen war? Der Gerichtshof führt dazu aus: „Ist also ein Gericht nach dem nationalen Recht verpflichtet oder berechtigt, von Amts wegen die sich aus einer zwingenden innerstaatlichen Vorschrift ergebenden rechtlichen Gesichtspunkte aufzugreifen, die die Parteien nicht geltend gemacht haben, so hat es im Rahmen seiner Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen, ob die Gesetzgebungs- oder Verwaltungsorgane des Mitgliedstaats innerhalb des in Artikeln 2 Absatz 1 und 4 Absatz 2 der Richtlinie festgelegten Ermessensspielraums geblieben sind, und dies im Rahmen der Prüfung der Nichtigkeitsklage zu berücksichtigen. Ist dieser Ermessensspielraum überschritten und haben daher die nationalen Bestimmungen insoweit außer Betracht zu bleiben, so ist es Sache der Träger der öffentlichen Gewalt 892 Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, in: ZGR, 1992, S. 376 ff., 378 mit Hinweis auf das Urteil „Felicitas“, an dem er selbst als Richter mitgewirkt hatte. 893 EuGH Slg. 1984, S. 1891 ff. (von Colson und Kamann / Land Nordrhein-Westfalen). 894 EuGH Slg. 1984, S. 1921 ff. (Harz / Deutsche Tradax). 895 Ebd., S. 1942, Rn. 26. 896 Ebd., S. 1942, Rn. 28. 897 EuGH Slg. 1996, S. I-5403 ff. (Kraaijeveld u. a).

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4 Argumentformen – 48 Konformauslegung im nationalen Recht

des Mitgliedstaats, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alle erforderlichen allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, damit die Projekte im Hinblick darauf geprüft werden, ob bei ihnen mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist ( . . . )“.898 Auch dies begründet der Gerichtshof vor allem mit Art. 10 EG, aber auch mit Art. 249 Abs. 3 EG und der Richtlinie selbst. 576

Dass der EuGH die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung aus Art. 10 und 249 EG ableitet, wird in der Literatur zum Teil kritisiert. Gegen eine Pflicht aus Art. 249 EG wird dessen systematische Stellung im fünften Teil des Vertrages „Die Organe der Gemeinschaft“ angeführt. Auch müsse man bedenken, dass der Artikel den Rechtsakten der Gemeinschaft bestimmte Wirkungen zuschreibt, nicht aber den Umgang mit kollidierendem nationalen Recht regelt.899 Diese formale Betrachtungsweise überzeugt aber nicht. Die Vorschrift statutiert ausdrücklich, dass die Mitgliedstaaten an das durch die Richtlinie festgeschriebene Ziel gebunden sind, dagegen Form und Mittel der (strengen) Umsetzungsverpflichtung selbst wählen dürfen. Eine Umsetzung darf nur dann unterbleiben, wenn das nationale Recht bereits dem Richtlininieninhalt entspricht. Mit dieser Bindung der Mitgliedstaaten wäre es unvereinbar, wenn die Gerichte und sonstigen innerstaatlichen Rechtsinstanzen dieser Bindung nicht durch die konforme Auslegung nationalen Rechts Rechnung trügen. Daneben wird auch eine Verpflichtung aufgrund Art. 249 Abs. 3 und 10 EG abgelehnt: mit dem Argument, dass nach dem Wortlaut der Art. 249 Abs. 3 und 10 EG nur die Mitgliedstaaten, nicht aber alle innerstaatlichen Stellen wie Gerichte und Behörden verpflichtet werden.900 Gegen diese Auffassung spricht, dass die Mitgliedstaaten notwendig durch ihre Organe handeln. Alle Träger hoheitlicher Gewalt sind Adressat der Pflichten der Art. 10 und 249 Abs. 3 EG.901 Der Begriff Ebd. Nettesheim, M., Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, in: AöR 1994, S. 261 ff., 268. 900 Di Fabio, U., Richtlinienkonformität als ranghöchstes Normauslegungsprinzip, in: NJW 1990, S. 947 ff., 953; s. auch Ehricke, U., Die richtlinienkonforme und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: RabelsZ 59 (1995), S. 598 ff., 615 f.; Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Europarecht 1991, S. 211 ff., 216. Daraus ergibt sich, dass Di Fabio konsequenterweise nicht nur die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung, sondern auch zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ablehnt. 901 Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, s. unten, insbesondere Urteile „von Colson und Kamann“, „Dorsch Consult“, „Fratelle Costanzo“ (bzgl. unmittelbarer Wirkung); s. auch Classen, C. D., Zur Bedeutung von EWG-Richtlinien für Privatpersonen, in: EuZW, 1993, S. 83 ff.; Götz, V., Europäische Gesetzgebung durch Richtlinien – Zusammenwirken von Gemeinschaft und Staat, in: NJW 1992, S. 1849 ff., 1856; Gellermann, M., Beeinflussung des bundesdeutschen Rechts durch Richtlinien der EG: dargestellt am Beispiel des Europäischen Umweltrechts, 1994, S. 17; Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, ZGR 1992, S. 376 ff., 379 f.; Ress, G., Die richtlinienkonforme „Interpretation“ innerstaatlichen Rechts, in: DÖV 1994, S. 489 ff., 489 f. 898 899

482 Grenzen der Auslegung

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„Mitgliedstaaten“ kann nicht allein mit deren Rechtssetzungsorganen gleichgesetzt werden. Dies gilt übrigens ebenso im allgemeinen Völkerrecht, auch dort sind alle staatlichen Organe von der jeweiligen Verpflichtung betroffen.902 Im Ganzen vermag also die Argumentation des EuGH zu überzeugen.903 Neben 577 dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts bedarf es zur Begründung der gemeinschaftsrechtskonformen Interpretation noch eines kombinierten Heranziehens von Art. 10 und 249 EG. Gegen eine Begründung allein mit Art. 10 EG spricht, „dass eine Kollision zwischen Richtlinien und nationalem Recht immer nur dann möglich ist, wenn die Richtlinie auf nationaler Ebene unmittelbar anwendbar ist.“904 An der Judikatur des EuGH lässt sich sehen, dass die konforme Interpretation einer unmittelbaren Anwendung der Richtlinie vorgeht. Daraus ergibt sich, dass bei richtlinienkonformer Auslegung die Richtlinie eine mittelbare Wirkung auf nationaler Ebene erlangt. Daraus wird gefolgert: „Daher kann die Argumentation, dass Art. 249 Abs. 3 EG nur den Umgang mit kollidierendem Recht regelt, nicht überzeugen, denn die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie stellt den Ausnahmefall zu Art. 249 Abs. 3 EG dar, der grundsätzlich nur die mittelbare Wirkung der Richtlinie im nationalen Raum vorsieht.“905 Gegen eine Argumentation allein mit Art. 249 Abs. 3 EG spricht, dass erst der systematische Zusammenhang zu Art. 10 EG seinen Inhalt deutlich macht. Art. 249 Abs. 3 EG regelt nicht nur die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht, sondern auch die Anwendung des nationalen Rechts unter dem Gesichtspunkt der Richtlinie.

482 Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung

Als zweistufiges Verfahren weist die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung 578 Grenzen auf, die sich einerseits aus dem Gemeinschaftsrecht und andererseits aus dem nationalen Recht ergeben.

902 Siehe auch Classen, C., Zur Bedeutung von EWG-Richtlinien für Privatpersonen, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 1993, S. 83, mit Hinweis auf Verdross, A. / Simma, B., Universelles Völkerrecht – Theorie und Praxis, 3. Aufl., 1984, §§ 1270 – 1280. 903 Neben den bereits genannten Urteilen ist insbesondere hinzuweisen auf das Urteil vom 17. 09. 1997 „Dorsch Consult Ingenieursgesellschaft mbH gegen Bundesbaugesellschaft Berlin mbH“, EuGH Slg. 1997, S. I-4961 ff., 4997, Rn. 43 (Dorsch Consult); s. auch Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 263; Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, ZGR 1992, S. 376 ff., 380; Rüffler, F., Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Österreichische Juristenzeitung 1997, S. 121 ff., 124. 904 Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 68. 905 Ebd.

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4 Argumentformen – 48 Konformauslegung im nationalen Recht

482.1 Grenzen aus den normativen Grundlagen des Gemeinschaftsrechts 579

Eine Grenze folgt aber nicht aus Art. 249 Abs. 3 EG. Man könnte denken, durch die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung könnte die Pflicht zur richtlinienkonformen Gesetzgebung umgangen werden. Allerdings besteht eine Umsetzungspflicht für die Mitgliedstaaten insoweit nicht, als nationales Recht bereits dem Richtlinieninhalt entspricht. Das kann auch gerade wegen der richtlinienkonformen Auslegung der Fall sein. Ergibt diese also, dass nationales Recht bereits der Richtlinie konform ist, kann eine Umsetzung unterbleiben.

482.2 Grenzen aus der Systematik des Gemeinschaftsrechts 580

Beschränkungen ergeben sich aus systematischen Zusammenhängen des Gemeinschaftsrechts, wie der Rechtssicherheit, dem Vertrauensschutz und dem Rückwirkungsverbot.906 Eine Einschränkung der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung bietet der Fall der Verletzung rechtlich geschützter Interessen Einzelner.907 Der Vertrauensschutz ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit längerem anerkannt.908 Er greift ein, sofern eine schutzwürdige Vertrauensgrundlage besteht und der Konflikt zwischen den betroffenen Individualinteressen und den Belangen der Gemeinschaft zugunsten der ersteren zu lösen ist.909 Voraussetzung ist jedoch, dass die Gemeinschaftsorgane durch ihr Handeln bestimmte Erwartungen geweckt haben.910 Der Grundsatz des Vertrauensschutzes darf aber nicht gegen eine klare 906 Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 275; Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, ZGR 1992, S. 383 ff.; Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: EuR 1991, S. 211 ff.; 221. 907 Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, in: ZGR, 1992, S. 376 ff., 384, 388; ders., Zur Unzulässigkeit von Übergangsmaßnahmen für Abschlussprüfer bei der Umsetzung der GmbH & Co. KG-Richtlinie, in: ZGR, 1993, S. 153 ff., 160; Borchardt, K.-D., Vertrauensschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, die Rechtsprechung des EuGH von Algera über CNTA bis Mulder und von Deetzen, in: EuGRZ 1988, S. 309 ff., 315; EuGH Slg. 1975, S. 421 ff. (Deuka gegen Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide [Deuka I]); EuGH Slg. 1975, S. 759 ff. (Deuka gegen Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide [Deuka II]). 908 Siehe dazu die Darstellung bei: Borchardt, K.-D., Vertrauensschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, die Rechtsprechung des EuGH von Algera über CNTA bis Mulder und von Deetzen, in: EuGRZ 1988, S. 309 ff. 909 Ebd., S. 311 f. 910 Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, in: ZGR, 1992, S. 376 ff., 384; mit Hinweis auf EuGH Slg. 1983, S. 1731 ff., 1744, Rn. 21 (Mavridis / Parlament); EuGH Slg. 1990, S. II-131 ff., 131 f., Lts. 2, (Chomel gegen Kommission).

482 Grenzen der Auslegung

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Gemeinschaftsbestimmung angeführt werden.911 Ob diese Voraussetzungen auch durch die richtlinienkonforme Auslegung erfüllt sein können, ist bisher mangels konkret zu entscheidender Fälle nicht geklärt.912 Einschränkungen aufgrund des Rückwirkungsverbots und der Rechtssicherheit können sich ergeben, wenn die Richtlinie noch nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt ist. Sobald dies aber geschehen ist, entfällt diese Grenze. Aus teleologischen Gründen beschränkte der Gerichtshof die Pflicht der nationa- 581 len Gerichte zur „harmonischen“ oder „sympathischen“ Auslegung im Hinblick auf ein durch sie erzieltes unerwünschtes Ergebnis im vertikalen Verhältnis Staat – Bürger. In der Rechtssache „Kolpinghuis Nijmegen“913 aus dem Jahr 1986 wurde von einem Mitgliedstaat beantragt, nationales Recht im Licht einer fehlerhaft umgesetzten Richtlinie gegen eine private Partei auszulegen. Der Gerichtshof betonte, dass die Verpflichtung der nationalen Gerichte, beim Interpretieren des relevanten staatlichen Rechts den Inhalt der Richtlinie zu beachten, durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die Teil des Gemeinschaftsrechts bilden, vor allem durch die Regeln des Vertrauensschutzes und des Rückwirkungsverbots, beschränkt wird. Denn der EuGH hatte bereits im Urteil „Pretore di Salò gegen Unbekannt“914 entschieden, dass eine Richtlinie nicht von sich aus und unabhängig von zum Zweck ihrer Umsetzung erlassenem mitgliedstaatlichen Recht die Wirkung haben kann, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen, die konträr zu den Vorschriften der Richtlinie handeln, zu begründen oder zu verschärfen.915 Der Grundsatz der Rechtssicherheit führt also im Fall der strafrechtlichen Verantwortung zu einem Verbot der richtlinienkonformen Auslegung, sofern hierdurch das strafrechtliche Rückwirkungsverbot verletzt würde.916 Strukturell bleibt also festzuhalten, dass der EuGH hier einen Gleichlauf der Ergebnisse zwischen vertikaler Direktwirkung und gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung schaffen möchte: beides kann nicht zu Lasten Einzelner wirken. Auch im Verhältnis zwischen einzelnen Bürgern kann die Systematik des Ge- 582 meinschaftsrechts zu einer Grenze der richtlinienkonformen Auslegung führen. In der Rechtssache „Marleasing“917, in welcher der Gerichtshof mit einer horizontaEuGH Slg. 1988, S. 2213 ff., 2240, Rn. 24 (Hauptzollamt Hamburg-Jonas / Krücken). Siehe Everling, U., Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, in: ZGR, 1992, S. 376 ff., 384; der zutreffend davon ausgeht, dass die Frage abstrakt schwer zu beantworten ist. 913 EuGH Slg. 1987, S. 3969 ff. (Kolpinghuis Nijmegen). 914 EuGH Slg. 1987, S. 2545 ff. (Pretore di Salò / X). 915 EuGH Slg. 1987, S. 3969 ff., 3986, Rn. 13 (Kolpinghuis Nijmegen). 916 Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 276; Dendrinos, A., Rechtsprobleme der Direktwirkung der EWG-Richtlinien unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Griechenland, 1989, S. 208, 300; Zuleeg, M., Der Beitrag des Strafrechts zur europäischen Integration, in: JZ 1992, S. 761 ff., 764 f. 911 912

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4 Argumentformen – 48 Konformauslegung im nationalen Recht

len Situation, das heißt einem Rechtsstreit von zwei Privatpersonen vor einem nationalen Gericht, konfrontiert war, handelte es sich zugleich um eine Konstellation, in der – anders als in „Kolpinghuis“ – die richtlinienkonforme Auslegung des staatlichen Rechts keiner Partei eine strafrechtliche Verantwortlichkeit auferlegen, wohl aber die Rechtsposition einer Partei in nachteiliger Weise beeinflussen würde. Ferner gab es – anders als etwa in den Rechtssachen „Harz“ und „Kolpinghuis“ – keine mitgliedstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen, die im Licht der Richtlinie hätten ausgelegt werden können; sondern lediglich staatliches Recht, das der Richtlinie zeitlich voranging und nicht dazu bestimmt war, diese umzusetzen. Der Gerichtshof statuierte, dass die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Interpretation nationalen Rechts auch in einem rein privaten Rechtsstreit besteht und dass dies auch für nationales Recht gilt, das älter ist als die Richtlinie.918 583

Dabei spielen Vertrauensschutzgesichtspunkte eine Rolle. Denn der Bürger konnte hier darauf vertrauen, dass die Richtlinie vor ihrer Umsetzung keine Anwendung im Weg richtlinienkonformer Auslegung finden durfte.919 Aber auch der andere Bürger muss darauf vertrauen können, dass die Richtlinie entsprechend der Verpflichtung nach Art. 249 Abs. 3 EG Beachtung findet, sofern die konforme Auslegung möglich ist. Beide Interessen müssen als gleichwertig erachtet werden, so dass kein vorrangiger Vertrauensschutz besteht.920 Das steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung zu einer weiteren Form der „indirekten Wirkung“ von Gemeinschaftsrecht zwischen Privaten, nämlich der Möglichkeit, sich in einem privaten Rechtsstreit auf die vertikale Direktwirkung einer Bestimmung einer Richtlinie zu berufen.921 Ebenso stimmt dieses Ergebnis mit der frühzeitigen Anerkennung der Möglichkeit, dass durch die richtlinienkonforme Auslegung auch Private belastet werden können, in der Rechtssache „Harz“ überein.922 917 EuGH Slg. 1990, S. I-4135 ff. (Marleasing); bestätigt u. a. in den nachfolgenden Urteilen: EuGH Slg. 1992, S. I-131 ff. (Strafverfahren gegen X); EuGH Slg. 1993, S. I-6911 ff. (Wagner Miret) = EuZW 1994, S. 182 ff.; und EuGH Slg. 1993, S. I-4367 ff. (Marshall [Nr. 2]). 918 Ebd., S. 4403, siehe Rn. 8 des Urteils und Schlussanträge von GA van Gerven, W., S. 4381 ff., 4384 f., Rn. 7,8. 919 So Müller-Graff, P.-C., Europäisches Gemeinschaftsrecht und Privatrecht, in: NJW 1993, S. 13 ff., 21 f. 920 So auch Brechmann, W., Die richtlinienkonforme Auslegung: zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, 1994, S. 279; Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 107; Rüffler, F., Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Österreichische Juristenzeitung 1997, S. 121 ff., 130. 921 Siehe EuGH-Urteile: EuGH Slg. 1996, S. I-2201 ff. (CIA Security International); EuGH Slg. 1994, S. I-1829 ff. (Strafverfahren gegen Rafael Ruiz Bernáldez); auch: EuGH Slg. 1996, S. I-1347 ff. (Pafitis u. a.); sowie jüngst EuGH, Urt. v. 26. 09. 2000, Rs. C-443 / 98 (Unilever Italia / Central Food), EuZW 2001, S. 153 ff. 922 Dort war allerdings bereits eine Umsetzung in nationales Recht erfolgt. Wie in „von Colson und Kamann“ ging es um die alte – nicht richtlinienkonforme – Fassung des § 611a Abs. 2 BGB. Potenzieller Arbeitgeber war jedoch nicht der Staat, sondern ein privates Unternehmen. Bereits nach der alten Fassung des § 611a Abs. 2 BGB war aber das Vertrauen der

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Allerdings ist diese Belastung nicht grenzenlos zulässig. Auch hier ist wieder 584 eine vergleichende Betrachtung mit der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien heranzuziehen. Während die vertikale Direktwirkung auch von Richtlinien relativ unproblematisch ist, weil der Staat sich nicht auf sein eigenes Fehlverhalten berufen kann und dem Gemeinschaftsrecht Wirksamkeit zukommen muss, ist der Konflikt im Bereich der unmittelbaren Anwendbarkeit von EG-Recht zwischen Privaten anders gelagert. Denn bereits im Rahmen der vertikalen Direktwirkung ist anerkannt, dass diese nicht zu Lasten Einzelner wirken soll. Bei der horizontalen Situation handelt es sich aber um einen Rechtsstreit, an dem nur Private beteiligt sind. Eine Partei würde also im Fall von Direktwirkung der EG-Norm benachteiligt. Diese Konstellation entschied der Gerichtshof im Grundsatz unzweideutig in 585 der Rechtssache „Dori“.923 Es besteht hiernach keine horizontale Direktwirkung von Richtlinienvorschriften.924 Argumentativ stützte der EuGH dieses Ergebnis auf die Überlegung, dass zum einen der Bürger nicht Adressat der Umsetzungsverpflichtung sei, zum anderen eine Direktwirkung nicht zu Lasten des Bürgers gehen dürfe. Ferner würde eine Ausdehnung der Direktwirkung auf den Bereich der Beziehungen zwischen den Bürgern bedeuten, dass der Gemeinschaft im Ergebnis die Befugnis zuerkannt würde, mit unmittelbarer Wirkung zu Lasten der Bürger durch Richtlinien Verpflichtungen anzuordnen, obwohl sie dies nur in den Bereichen dürfe, in denen sie eine Befugnis zum Erlass von Verordnungen hat. Im Übrigen weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Bürger durch die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts und durch die Schadensersatzpflicht der Mitgliedstaaten hinreichend geschützt sei.925 Firma, bei einer Diskriminierung gar nicht sanktioniert zu werden, ausgeschlossen. Somit konnte eine weitergehende richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts im Hinblick auf eine effektivere Sanktion erfolgen. 923 EuGH Slg. 1994, S. I-3325 ff., 3355, Rn. 20 ff. (Faccini Dori). 924 Eine horizontale Direktwirkung hat der Gerichtshof auch für Primärrecht nur eingeschränkt anerkannt. Eine solche entfalten nur Diskriminierungsverbote (Art. 12, 39, 43, 141 EG), (vgl. Urteile „Bosman“, „Angonese“; „Defrenne“), das Wettbewerbsrecht (Art. 81, 82 EG), Art. 28 EG ( vgl. Urteile „Spanische Erdbeeren“, „Vlaamse Reisbureaus“) wohl nicht, Art. 49 EG (Urteil „Walrave“) ggf. bedingt / beschränkt. Im Sekundärrecht gilt sie jedenfalls für Verordnungen. 925 Generalanwalt Lenz schlug übrigens vor, es für die Vergangenheit bei dem Ergebnis zu belassen, für die Zukunft aber horizontale Direktwirkung von Normen in Richtlinien (wenn die van Gend & Loos-Kriterien erfüllt sind) im Weg der Rechtsfortbildung unter der Geltung des EG-Vertrages im Interesse einer einheitlichen und effizienten Anwendung des Gemeinschaftsrechts notwendig anzuerkennen, um die berechtigten Erwartungen zu erfüllen, die die Unionsbürger nach der Verwirklichung des Binnenmarktes und dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union hegen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist kürzlich eine neue Debatte aufgelebt, ob man nicht das Konzept der unmittelbaren Wirkung bzw. Direktwirkung über Bord werfen und Gemeinschaftsrecht einfach als höherrangiges innerstaatliches Recht qualifizieren solle, eine vor allem politisch äußerst brisante These; s. dazu Prechal, S., Does direct effect still matter?, in: CMLR 37 (2000), S. 1047 ff., 1047. Zu der nachfolgenden Diskussion siehe das Konferenzpapier der Konferenz „Direct Effect – Rethinking a classic of EC legal doctrine“ vom 01. 06. 2001 in Amsterdam.

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4 Argumentformen – 48 Konformauslegung im nationalen Recht

Wie bei der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien in privaten Rechtsstreitigkeiten ist der Grundsatz also klar, die Grenze im Einzelfall aber schwer zu ziehen. 586

1998 war der Gerichtshof mit der Rechtssache „Bellone“926 befasst. In dem Ausgangsverfahren ging es um eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 86 / 653 / EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter. Frau Bellone hatte mit Yokohama einen Handelsvertretervertrag abgeschlossen, war aber nicht, was nach italienischem Recht erforderlich war, in das entsprechende Register eingetragen gewesen. Nach der italienischen Rechtsprechung sind derartige Verträge nichtig; mit der Folge, dass die betreffende Person auch nicht auf Zahlung der Provisionen und Entschädigungen bezüglich der von ihr ausgeübten Tätigkeit klagen kann. Nach Ansicht von Frau Bellone und des Berufungsgerichts bestand ein gemeinschaftsrechtliches Problem, da die genannte Richtlinie die Einführung eines solchen Registers nicht vorsieht und daher diese den nationalen Vorschriften entgegenstehen könnte. Zunächst legte der EuGH die Richtlinie aus, vor allem im Hinblick auf Art. 43 EG, der in den Begründungserwägungen genannt war. Sodann kam er zu dem Ergebnis, dass das nationale Recht der Richtlinie und ihren Zielen widerspricht, und daher nicht anwendbar ist, das heißt außer Betracht bleiben musste. Das kommt einer horizontalen Direktwirkung bereits nahe. Dies wurde jüngst erneut in der Rechtssache „Unilever“927 deutlich. In seinem Urteil entschied der EuGH, dass das nationale Gericht in einem Zivilrechtsstreit zwischen Einzelnen über vertragliche Rechte und Pflichten die Anwendung einer nationalen technischen Vorschrift ablehnen muss, die während einer Aussetzungsfrist nach Art. 9 Richtlinie 83 / 189 / EWG des Rates vom 28. 3. 1983 ( . . . ) erlassen worden ist.

587

Mit dieser Entscheidung hat der EuGH erstmals die Berufung auf eine vom einzelstaatlichen Gesetzgeber missachtete Richtlinie in einem Rechtsstreit zugelassen, der allein die Erfüllung vertraglicher Verpflichtungen unter Privaten betraf.928 Zugleich macht die Entscheidung aber deutlich, dass die gefestigte Praxis zum grundsätzlichen Ausschluss der horizontalen Direktwirkung von Richtlinien nicht aufgegeben werden soll.929 Die Grenzziehung für die richtlinienkonforme Auslegung ist also in „vertikalen“ Situationen wie im Fall der vertikalen Direktwirkung recht eindeutig, in „horizonEuGH Slg. 1998, S. I-2191 ff. (Barbara Bellone / Yokohama). EuGH, Urt.v. 26. 9. 2000, Rs. C-443 / 98 (Unvilever Italia / Central Food), EuZW 2001, S. 153 ff. 928 Siehe aber die Möglichkeit der Berufung auf die vertikale Direktwirkung einer Richtlinie in einem privaten Rechtsstreit in „CIA“, „Ruiz Bernáldez“ und „Pafitis“, oben Fn. 189. 929 Siehe Anmerkung von Gundel, J., Neue Grenzlinien für die Direktwirkung nicht umgesetzter EG-Richtlinien unter Privaten, in: EuZW 2001, S. 143 ff. 926 927

482 Grenzen der Auslegung

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talen“ Konstellationen wie im Fall der horizontalen Direktwirkung dagegen äußerst schwierig. 482.3 Grenzen aus dem nationalen Recht In der Literatur wird zum Teil eine Begrenzung der gemeinschaftsrechtskonfor- 588 men Auslegung durch die Methodik des nationalen Rechts abgelehnt. Wenn nötig, sei die Konformauslegung auch contra legem (des nationalen Gesetzes) durchzuführen.930 Zu Recht wird aber dagegen eingewandt,931 dass eine solche Auffassung an der teleologischen Auslegung von Art. 249 Abs. 3 EG scheitere: „Sofern nämlich eine richtlinienkonforme Auslegung auch gegen den Wortlaut und Sinn der nationalen Gesetze verpflichtend ist, besteht keine Veranlassung mehr, zur Erreichung des jeweiligen Richtlinienziels eine Umsetzung in positives nationales Recht vorzunehmen. Gerade diese wird durch Art. 249 Abs. 3 EG bezweckt.“932Auch die Stellungnahme des EuGH zur Frage einer horizontalen Drittwirkung von Richtlinien spricht eindeutig dagegen. Im Urteil in der Rechtssache „Strafverfahren gegen Luciano Arcaro“933 lässt sich beobachten, dass der Gerichtshof in einem Fall, in dem das Endergebnis als Form von horizontaler Direktwirkung angesehen werden kann, es nicht einfach dem mitgliedstaatlichen Gericht überlässt, zu entscheiden, wie weit es mit der Auslegung nationalen Rechts im Licht der Richtlinie gehen möchte. Hier zeigt sich eine Auslegungsgrenze. Es handelt sich aber nicht um ein Gleichsetzen der Wortlautgrenze mit der Konkretisierungsleistung der grammatischen Auslegung. Vielmehr ist dies offenbar eine Grenze, die durch die potenzielle Auswirkung der Interpretation gezogen wird. In seinem Schlussantrag zur Arcaro-Entscheidung führt der Generalanwalt aus, dass die fragliche Auslegungsmethode nicht in einer Art und Weise angewendet werden könne, durch die es zu einer eigentlichen Neuschreibung der nationalen Vorschrift kommen würde. Das wäre nämlich gleichbedeutend mit der Einführung einer Direktwirkung von Richtlinienvorschriften „durch die Hintertür“. Eine Grenze findet die Methode der richtlinienkonformen Auslegung, wie die 589 verfassungskonforme Auslegung934 im deutschen Recht, im umfassend ausgeleg930 Vgl. Grundmann, St., Richtlinienkonforme Auslegung im Bereich des Privatrechts – insbesondere: der Kanon der nationalen Auslegungsmethode als Grenze?, in: Zeitschrift des Europäischen Parlaments 1996, S. 400 ff., 419 ff.; ders., EG-Richtlinie und nationales Privatrecht, in: JZ 1996, S. 274 ff., 282; Dendrinos, A., Rechtsprobleme der Direktwirkung der EWGRichtlinien unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Griechenland, 1989, S. 288. 931 Frisch, M., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, 2000, S. 91. Domröse, R., Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, Berlin 2006, S. 153 ff.; Riesenhuber, K. / Domröse, R., Die richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre, in: RIW 2005, S. 47 ff. 932 Ebd. 933 EuGH Slg. 1996, S. I-4705 ff., 4730, Rn. 41, 42 (Strafverfahren gegen Luciano Arcaro).

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4 Argumentformen – 48 Konformauslegung im nationalen Recht

ten Wortlaut des innerstaatlichen Gesetzes. Hier sind noch einmal das „von Colson und Kamann“-Urteil und das „Harz“-Urteil zu erwähnen: Der nationale Richter hat vor allem das staatliche Recht, das zur Umsetzung der jeweiligen Richtlinie bestimmt ist, in Übereinstimmung mit den aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Verpflichtungen zu interpretieren und anzuwenden, und zwar unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt.935 Ebenso deutlich wird dies im Urteil in der Rechtssache „Wagner Miret gegen Fondo de Garantía Salarial“.936 Zwar habe jedes nationale Gericht bei der Behandlung des innerstaatlichen Rechts davon auszugehen, dass der Staat die Absicht hatte, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen voll nachzukommen. „Wie der Gerichtshof (Slg. I 1990, 4135 Tz. 8 – Marleasing) entschieden hat, muß das nationale Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit dieser verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Art. 249 Abs. 3 EG nachzukommen. Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung gilt für ein nationales Gericht besonders dann, wenn ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall der Ansicht war, daß die bereits geltenden Vorschriften seines nationalen Rechts den Anforderungen der betreffenden Richtlinie genügen. Dem Vorlagebeschluß scheint sich entnehmen zu lassen, daß die nationalen Vorschriften nicht in einem der Richtlinie ( . . . ) konformen Sinn ausgelegt werden und daher nicht sicherstellen können, daß den leitenden Angestellten die in der Richtlinie vorgesehenen Garantien zugutekommen. Für diesen Fall ergibt sich aus dem Urteil Francovich, daß der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet ist, leitenden Angestellten die Schäden zu ersetzen, die ihnen dadurch entstanden sind, daß die Richtlinie 80 / 987 / EWG in bezug auf sie nicht durchgeführt worden ist.“ 590

Hierzu ist anzumerken, dass der Gerichtshof bereits in der Sache C-157 / 86 „Murphy gegen An Bord Telecom Eireann“937 festgestellt hatte, es sei Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich sei, dürfe es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden. In einem solchen 934 Wegener, B., Art. 220, in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Rn. 27; vgl. auch Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EGrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: Europarecht 1991, S. 211 ff., 213 ff.; Ress, G., Die richtlinienkonforme „Interpretation“ innerstaatlichen Rechts, in: DÖV 1994, S. 489 ff., 491 f. 935 Ebd., Rn. 28. 936 EuGH (Wagner Miret gegen Fondo de Garantía Salarial), EuZW 1994, S. 182 ff., Rn. 20, 21, 22 m. Anm. Böhmer. 937 EuGH Slg. 1988, S. 673 ff., 690, Rn. 11 (Murphy / An Bord Telecom Eireann).

482 Grenzen der Auslegung

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Fall – aber auch erst dann – greift der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, wie das Urteil in „Wagner Miret“ zeigt. Die richtlinienkonforme Auslegung wird also durch die nationalen Auslegungs- 591 regeln begrenzt.938 Die Entscheidung darüber, was diese Regeln zulassen, liegt allein in der Kompetenz der nationalen Gerichte bzw. Rechtsanwender.939 Diese Beschränkung ist deshalb erforderlich, weil andernfalls die der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien gesetzten Grenzen fast beliebig unterlaufen werden könnten, lässt sich doch mit Hilfe der richtlinienkonformen Interpretation eine ähnliche Wirkung wie mit der Figur der unmittelbaren Wirkung erzielen. Es gilt also auch für die richtlinienkonforme Auslegung unter anderem die „Wortlautgrenze“. Die richtlinienkonforme Auslegung wirkt folglich nicht unbeschränkt; sondern gerade dann, wenn sie sich zu Lasten eines Einzelnen auswirkt, muss sie rechtstaatlichen Anforderungen genügen.940 Mit Hilfe der richtlinienkonformen Interpretation können daher im nationalen Recht keine neuen Institute geschaffen werden. Desgleichen ist es ausgeschlossen, dass auf diesem Weg eine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet oder auch nur erweitert wird.941 Wenn das nationale Recht gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, müssen die Gerichte es unangewendet lassen; dadurch entsteht eine Lücke, die dann allerdings nach den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts zu schließen wäre.942

938 Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: EuR 1991, S. 217. 939 Die Schwierigkeit, diese Grenze zu bestimmen, zeigt sich bei der Modifikation der Klagebefugnis zum Zweck der Durchsetzung des Europarechts. Vgl. dazu die klare Darstellung bei Calliess, Ch., Feinstaub im Rechtsschutz deutscher Verwaltungsgerichte, in: NVwZ 2006, S. 1 ff., 4 ff. Dazu auch Gellermann, M., Europäisierte Klagerechte anerkannter Umweltverbände, in: NVwZ 2006, S. 7 ff. 940 Langenfeld, C., Zur Direktwirkung von EG-Richtlinien, in: DÖV 1992, S. 955 ff., 965. 941 Jarass, H., Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, in: EuR 1991, S. 211 ff., 218. 942 Vgl. dazu Domröse, R., Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 154 f.

28 Müller / Christensen

5 Rationalität und Überprüfbarkeit der Rechtsprechung des EuGH 592

Nach der Darstellung der Argumentationsstrukturen kann jetzt die Ausgangsfrage nach Rationalität und Überprüfbarkeit der Arbeit des Gerichts diskutiert werden. Neben Lob gibt es hier auch scharfe Kritik: „Dem EuGH ist im deutschen Schrifttum wiederholt vorgeworfen worden, er habe mit einigen seiner Urteile die Grenzen legitimer Rechtsfortbildung überschritten. Das Gericht mißachte die gebotene richterliche Zurückhaltung und verletze das Prinzip der Gewaltenteilung, indem es – teilweise contra legem – freie Rechtsschöpfung betreibe.“1 Mit freier Rechtsschöpfung würde der EuGH in der Tat seine Kompetenzen überschreiten. Der für die Gemeinschaft grundlegende Gedanke der begrenzten Einzelermächtigung wird in Art. 7 Abs. 2 S. 2 und 249 Abs. 1 EG formuliert2 und gilt natürlich auch für den EuGH.3 Das Gericht hat demnach keine Kompetenz-Kompetenz,4 sondern nur rechtlich begrenzte Einzelermächtigungen: „Wegen des für die Gemeinschaftsverträge geltenden Prinzips der enumerativen Einzelermächtigung muss sich die Kompetenz des EuGH aus diesen Verträgen ableiten lassen.“5 Über diesen Ausgangspunkt ist man sich in der Diskussion einig. Fraglich ist jedoch, wie diese Grenzen richterlicher Kompetenz jeweils zu bestimmen sind.

51 Normative Vorgaben für die Teilung und Kontrolle richterlicher Gewalt 593

Die Grenzen für die Kompetenz des EuGH werden durch die methodenbezogenen Vorgaben6 im Primärrecht festgelegt.7

1 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 401. 2 Vgl. Peters, A., Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 152 ff.; Streinz, R., Europarecht, 4. Aufl., 1999, Rn. 355. 3 Vgl. Koenig, Ch., Institutionelle Überlegungen zum Aufgabenzuwachs beim EuGH in der Währungsunion, in: EuZW 1993, S. 661 ff.; Brandt, K., Der EuGH und das europäische Gericht I. Instanz (EuG) – Aufbau, Funktion und Befugnisse, in: JuS 1994, S. 300 ff.; Hirsch, A., EuGH und nationale Gerichtsbarkeit, in: NVwZ 1998, S. 907 ff.; Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 710. 4 Eine solche maßt sich nur der totale Staat an. Zur Entwicklung des Begriffs m. w. N. Peters, A., Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 149 ff., 153 ff. 5 Streinz, R., Europarecht, 4. Aufl., 1999, Rn. 355.

511 Schranken aus allgemeinen Staatszielbestimmungen

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Wie sich aus Art. 6 EU ergibt, versteht sich die Gemeinschaft aus der Tradition 594 ihrer Mitgliedstaaten als rechtsstaatliche Demokratie mit Gewaltenteilung. Die „strukturelle Homogenität“8 zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten lässt zwar entwicklungsbedingte Abweichungen zu,9 sonst aber gilt: „Fundamental gesehen, müssen auf Gemeinschaftsebene dieselben Grundanschauungen der pluralen, liberalen und sozialen Demokratie sowie des gewaltenteilenden Rechtsstaates wie innerhalb der Mitgliedstaaten sichtbar werden, wenn diese der EG / EU wesentliche Bestandteile ihrer bisher staatlichen Befugnisse anvertrauen. Ebenso wenig wie nichtdemokratische Staaten Mitglied der Union werden oder auf Dauer bleiben können (Art. F Abs. 1 = 6 neu EGV), kann die Gemeinschaft im Kern wesensmäßig anders strukturiert sein als ihre Glieder.“10 Aus der allgemeinen Staatszielbestimmung einer gewaltenteilenden und rechtsstaatlichen Demokratie ergeben sich Schranken für die vom EuGH ausgeübte richterliche Gewalt.

511.1 Das Rechtsstaatsprinzip als Forderung nach Kontrolle richterlicher Gewalt Der Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip11 liegt schon in Art. 220 EG (136 EAGV, 595 Art. 31 EGKSV) mit dem Auftrag zur Wahrung des Rechts. Neben einer Vielzahl weiterer Regelungen, wie Art. 5 Abs. 3 EG, 6 Abs. 2 EU, ist hier vor allem die Präzisierung durch die Judikatur des EuGH wichtig. Folgende Rechtsstaatsprinzipien wurden vom EuGH bisher als für die Gemeinschaft verbindlich anerkannt: Grundsätze über Widerruf und Rücknahme von Entscheidungen,12 Prinzip „ne bis 6 Groh, T., Methodenrelevante Normtexte im Gemeinschaftsrecht, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, 2004, S. 263 ff. 7 Vgl. dazu Mähner, T., Der Europäische Gerichtshof als Gericht, 2005, S. 208 ff. 8 Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 240. 9 Winter, G., Institutionelle Strukturen der Europäischen Union, in: DÖV 1993, S. 173 ff. Grundlegend zum Verständnis und zur Typologie europäischer Staatlichkeit Schiffauer, P., Leviathan oder Hydra. Versuch über Staatlichkeit und europäische Integration, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, Berlin 2004, S. 23 ff. Demgegenüber ist die an eine in der Philosophie längst überholte Terminologie gebundene Redeweise von der Wertegemeinschaft verkürzend. Vgl. als Beispiel Rensmann, T., Grundwerte im Prozess der europäischen Konstitutionalisierung. Anmerkungen zur Europäischen Union als Wertegemeinschaft aus juristischer Perspektive, in: Blumenwitz, D. / Gornig, G. H. / Murswiek, D. (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005, S. 49 ff. 10 Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 241. 11 Dazu Häberle, P., Europäische Verfassungslehre, 2002, S. 399 ff. Zur Rechtsstaatlichkeit als änderungsfestem Teil des Primärrechts vgl. Siechert, M., Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union, 2005, S. 665 ff. 12 EuGH Slg. 1957, S. 83 ff. (Algera u.a / Gemeinsame Versammlung der EGKS). Vgl. dazu aus neuerer Zeit EuGH Slg. 2001, I, S. 5107 ff. (Kommission / Belgien).

28*

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5 Rechtsprechung des EuGH – 51 Normative Vorgaben

in idem“,13 Verhältnismäßigkeitsprinzip, 14 Bindung des innerstaatlichen Richters an übergeordnete Gerichtsentscheidungen, 15 Schutz des guten Glaubens,16 Prinzip der Rechtssicherheit,17 Vertrauensschutz,18 Untersuchungsgrundsatz,19 Anspruch auf rechtliches Gehör und Akteneinsicht,20 Anspruch auf faires Verfahren,21 Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Vertrauensschutz,22 Vertraulichkeit der Rechtsberatung,23 Rückwirkungsverbot,24 Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und Rechtsweggarantie,25 Recht auf Verteidigung.26 596

Im Hinblick auf die richterliche Gewalt enthält das Rechtsstaatsprinzip die Notwendigkeit von Kontrolle. Es fordert, dass beim Ausüben staatlicher Gewalt bestimmte Legitimitätsmaßstäbe eingelöst werden: „Seine Legitimität findet der bürgerliche Rechtsstaat gerade darin, möglichst weitgehend mit formalisierter, kontrollierbarer, sprachlich vermittelter, konstitutioneller Gewalt auszukommen und möglichst wenig die deswegen entlegitimierte ,bloße‘, d. h. die aktuelle Gewalt einsetzen zu müssen.“27 Die Legitimierungsweise des Rechtsstaats ist dabei als eine doppelte gedacht: einmal als Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit im Sinn der Betriebsrationalität. Dann aber auch als inhaltliche Legitimität, wonach die individuellen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft von staatlichen Eingriffen abgeschirmt werden und in den grundrechtlich garantierten Aktionsformen ihre Eigengesetzlichkeit als Pluralismus verschiedener Lebensformen entfalten können.28 Auf der Ebene praktischer Rechtsarbeit entfaltet sich der Anspruch des EuGH Slg. 1969, S. 1 ff. (Wilhelm / Bundeskartellamt). EuGH Slg. 1973, S. 1091 ff. (Balkan–Import–Export / Hauptzollamt Berlin-Packhof); Slg. 1985, S. 3039 ff. (OBEA / Cormann); Slg. 1990, S. I-4023 ff., 4057 ff. (Fedesa u. a.). Vgl. dazu aus neuerer Zeit EuGH Slg. 2001, I, S. 385 ff. (Italien / Kommission); Slg. 2001, I, S. 5689 ff. (Jippes). 15 EuGH Slg. 1974, S. 33 ff. (Rheinmühlen I); Slg., 1974, S. 139 ff. (Rheinmühlen II). 16 EuGH Slg. 1975, S. 221 ff. (Airola / Kommission). 17 EuGH Slg. 1975, S. 421 ff. (Deuka gegen Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide [Deuka I]); Slg. 1980, S. 1205 ff. (Amministrazione delle Finanze dello Stato / Denkavit italiana); Slg. 1984, S. 1075 ff. (Klopenburg / Finanzamt Leer). 18 EuGH Slg. 1975, S. 533 ff. (CNTA / Kommission); Slg. 1983, S. 2633 ff. (Deutsche Milkontor / Deutschland); Slg. 1990, S. I-395 ff., 418 ff. (Delacre u. a. / Kommission). Vgl. dazu EuGH Slg. 2001, I, S. 5107 ff. (Kommission / Belgien). 19 EuGH Slg. 1978, S. 207 ff. (United Brands / Kommission). 20 EuGH Slg. 1979, S. 461 ff. (Hofmann-La Roche / Kommission); Slg. 1989, S. 3283 ff., 3343 ff. (Orkem / Kommission). 21 EuGH Slg. 1980, S. 691 ff. (Pecastaing / Belgien). 22 EuGH Slg. 1982, S. 749 ff. (Alpha Steel / Kommission). 23 EuGH Slg. 1982, S. 1575 ff. (AM & S / Kommission). 24 EuGH Slg. 1984, S. 2689 ff. (Regina / Kent Kirk). 25 EuGH Slg. 1986, S. 1651 ff. (Johnston / Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary). 26 EuGH EuZW 1991, S. 729 ff. (SAMAD). 27 Müller, F., Recht – Sprache – Gewalt, 1975, S. 31. 13 14

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Rechtsstaatsprinzips als Forderung nach Rationalität und Kontrolle an Stelle sprachloser Gewalt. Ein Urteil als bloß rechtspolitische „Dezision vom Ergebnis her“ wäre in diesem Sinn als bloße Gewalt anzusehen, als Herrschaft von Menschen über Menschen; statt als Herrschaft, die durch Recht und durch Prozesse sprachlicher Vermittlung mediatisiert ist. Ein Richter als apokrypher Gesetzgeber, der seine Entscheidung an die von der Legislative formulierten Normtexte nicht in methodisch nachvollziehbarer und verallgemeinerungsfähiger Weise rückbindet, zerstört neben der stabilisierenden Funktion der Rechtsordnung auch die rechtsstaatliche Legitimität. Der Richter soll statt dessen „rechtmäßig“ entscheiden, nicht durch Dezision29 kraft selbst gesetzter Gewalt, sondern nur kraft abgeleiteter Gewalt. Der vom Gericht erarbeitete und die Entscheidung tragende Leitsatz muss daher in methodisch nachvollziehbarer Verbindung zu dem vom Gesetzgeber erlassenen Normtext stehen. Nur dann hat das Gericht die in der Entscheidung steckende Gewalt nicht geschaffen, sondern sie funktionell vermittelt. Nur dann handelt es sich um konstitutionelle Gewalt, die allein rechtsstaatlich legitim ist. Unter dem Rechtsstaatsprinzip gilt somit, dass der Richter auf eine normtextorientierte Entscheidung verpflichtet wird, welche den tragenden Leitsatz mittels kontrollierbarer und nachvollziehbarer methodischer Maßstäbe am Normtext legitimieren kann.

511.2 Die Gewaltenteilung als Forderung nach geteilter Rechtsetzung Die klassische Vorstellung der Gewaltenteilung in drei voneinander einigerma- 597 ßen klar getrennte Bereiche von Staatsgewalt ist für die Gemeinschaft zu modifizieren. Das erklärt sich aus ihrer historischen Entwicklung und ihrer Anbindung an die Mitgliedstaaten.30 Daraus folgt die Funktionsordnung „einer Aufteilung sowohl der wesentlichen legislativen als auch der gouvernemental / exekutiven Befugnisse auf die ,genuin europäische‘ Kommission und vor allem den mitgliedstaatlich geprägten Rat unter Verweisung des Parlamentes bislang auf eine begrenzte Mitwirkung. Nur in der Judikative des Gerichtshofes vereinigt sich in der sonst bekannten Weise Funktion und Institution. Bis das direkt gewählte Parlament sich die national üblichen Kontrollfunktionen mindestens in einem politischen Sinne erkämpft hat, bleibt die Rechtskontrolle des EuGH über den Rat das Gegengewicht zu dessen Vorhandstellung. Der eigentliche Sinn des Gewaltenteilungsgedankens, durch Funktionen- und Machtverteilung auf unterschiedliche Organe Müller, F., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 13 ff. Vgl. zu diesem Begriff Müller, F., Juristische Methodik und politisches System, 1976, S. 19 ff. 30 Vgl. Simson, W. v. / Schwarze, J., Europäische Integration und Grundgesetz, in: Benda, E. / Maihofer, W. / Vogel, H.-J., Handbuch des Verfassungsrechts (I), 2. Aufl., 1995, S. 53 ff., 66 f.; allgemein auch Häberle, P., Europäische Verfassungslehre, 2002, S. 403 ff., insbes. S. 405 f., 136 ff. 28 29

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5 Rechtsprechung des EuGH – 51 Normative Vorgaben

die politische Gewalt zu mäßigen, in den Bahnen des Rechts zu halten sowie Freiheit zu stiften (,Checks and balances‘) ist freilich in diesen besonderen Formen auch in der Gemeinschaft verwirklicht.“31 598

Der Gewaltenteilungsgrundsatz ist für das Präzisieren richterlicher Bindungen von großer Bedeutung. Allerdings muss man sich von der zu einfachen Vorstellung gewaltenteilender Rechtsanwendung freimachen, wonach Judikative und Exekutive Gesetze lediglich im Weg der Erkenntnis anwenden. Wenn man von diesem positivistischen Vorurteil abrückt und den komplexen Prozess der Rechtserzeugung nach den Stationen Normtext – Rechtsnorm (Leitsatz) – Entscheidungsnorm (Urteilsformel) differenziert, lässt sich auch die Gewaltenteilungslehre wirklichkeitsnäher fassen.32 Der Gesetzgeber hat demnach nur, aber auch ausschließlich, die Kompetenz zur Setzung von Normtexten. Die Judikative hat demgegenüber die Zuständigkeit zur Setzung von Rechtsnormen und Entscheidungsnormen unter der einschränkenden Bindung an die von der Legislative hervorgebrachten Normtexte. Die Gesetzgebungsorgane können damit nur in normativ besonders geregelten Bereichen, wie etwa der Immunität, Einzelfälle bis hin zur Entscheidungsnorm gestalten. Im Normalfall ist der Legislator auf die Setzung von Normtexten beschränkt und kann nur durch möglichst präzise Formulierungen das Berücksichtigen seiner Vorstellungen bei der Entscheidung des Einzelfalls zu gewährleisten versuchen. Umgekehrt kann die Judikative nur in normativ angeordneten und eng begrenzten Ausnahmefällen selbst Normtexte setzen. Diese Ausnahme gründet für den EuGH im klaren Auftrag der Art. 6 Abs. 2 EU und 288 Abs. 2 EG. In diesem Bereich hat er jedenfalls vorübergehend gesetzgeberähnliche Funktionen. Dabei hält der EuGH die Grenzen dieses speziellen Bereichs peinlich genau ein. Außerhalb dieser Ermächtigung sieht er sich als durch das Gesetz beschränkt an. Er kann dort Rechts- und Entscheidungsnormen nur so setzen, dass sie auf legislatorisch vorgegebene Wortlaute methodisch rückführbar sind. Falls das Gericht seine die Entscheidung tragenden Leitsätze in diesem allgemeinen Bereich selbst gesetzten Quasi-Normtexten33 zurechnet, verletzt es damit auch das Prinzip der Gewaltenteilung.

511.3 Demokratieprinzip als Forderung nach gesetzlicher Rückbindung juristischer Entscheidungen 599

Demokratie ist ein zentrales Staatsziel der Gemeinschaft.34 Die Verwirklichung gerade dieses Staatsziels weist noch viele Defizite auf.35 Gewiss wird man auch im Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 243. Vgl. dazu und zum Folgenden Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 88 u. ff. 33 Vgl. zu diesem Begriff Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 61, 67, 96, 118 f. 34 Vgl. Kluth, W., Die demokratische Legitimation der EU, 1995; Hrbek, R., Federal Balance and the Problem of Democratic Legitimacy in the EU, in: AuWi 1995, S. 43 ff.; Schmidhuber, P. M., Föderalistische und demokratische Grundlagen des europäischen 31 32

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klassischen Konzept der Demokratie über Modifikationen im Hinblick auf die Größe der Gemeinschaft nachdenken müssen.36 Aber jedenfalls bei der Ausübung richterlicher Gewalt bleibt der Gedanke der Legitimationskette zentral. Trotzdem kann man auch im Europarecht nicht verlangen, dass der Richter seine Entscheidung dem Normtext einfach entnimmt. Als Container ist das Gesetz überfordert. Aber als methodischer Zurechnungspunkt ist der Normtext in der Demokratie unverzichtbar. Das heißt, die Grenze seiner Kompetenz ist dem Richter nicht schon als Bedeutung des Textes vorgegeben; sie ist in der Praxis seiner eigenen Textarbeit einzufordern. Das Ausüben richterlicher Gewalt in einer rechtsstaatlichen Unionsrechts, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band II, 1995, S. 1265 ff.; Graf Kielmannsegg, P., Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs, M. / Kohler-Koch, B., Europäische Integration, 1996, S. 47 ff.; sowie Scheuing, D. H. (Hrsg.), Europäische Demokratie, 1998; grundlegend Peters, A., Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 626 ff. sowie Häberle, P., Europäische Verfassungslehre, 2002, S. 294 ff., 305 ff., 192 f. Zur Geschichte Tiedtke, A., Demokratie in der Europäischen Union, 2005, S. 23 ff. Vgl. als grundlegende Reflexion der sprachlichen Dimension Hanschmann, F., Sprachliche Homogenität und europäische Demokratie. Zum Zusammenhang von Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, Berlin 2004, S. 63 ff. sowie Turégano-Mansilla, I., Constitution and Democracy in the European Construction Process. Regarding Some Reflection by Jürgen Habermas, in: Ferrer-Beltrán, J. / Narváez-Mora, M. (Hrsg.), Law, Politics and Morality: European Perspectives II, Berlin 2006, S. 11 ff. 35 Vgl. zur Diskussion und weiteren Nachweisen Peters, A., Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 743 ff. sowie Häberle, P., Europäische Verfassungslehre, 2002, S. 135. Weiterführend: Oeter, S., Europäische Integration und Nationalstaatlichkeit. Zum Souveränitätsdiskurs und der Frage nach der Legitimation der Staatsgewalt, in: Dialektik 1998 / 3, S. 113 ff.; Gerstenberg, O., Genesis und Geltung. Verfassung und Demokratie ohne Nationalstaat, in: Dialektik 1998 / 3, S. 101 ff.; Derrida, J., Die vertagte Demokratie, in: ders., Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, 1992, S. 81 ff., insbesondere 85 f. Überblick außerdem in Kleger, H. / Karolewski, I. P. / Munke, M., Europäische Verfassung, 2. Auflage, 2002, S. 163 ff. Zu den Chancen und Risiken der europäischen Traditionen vgl. Bodei, R., Das andere Blut Europas, in: Dialektik 1997 / 2, S. 33 ff.; Losurdo, D., Europaideen und Kriegsideologien, in: Dialektik 1997 / 2, S. 49 ff.; Burgio, A., Vom Partikullaren zum Universellen. Zum Problem des Fundamentalismus, in: Dialektik 1997 / 2, S. 95 ff. Darstellung der These von Demokratiedefizit auch bei Tiedtke, A., Demokratie in der Europäischen Union, 2005, S. 29 und kritische Diskussion S. 45 ff. Vgl. auch Sander, F., Repräsentation und Kompetenzverteilung, Berlin 2005, S. 303 ff. 36 Natürlich ergeben sich hier eine Vielzahl von Fragestellungen. Eine wichtige Beziehung besteht auch zwischen dem Demokratieprinzip und dem Subsidiaritätsprinzip. Vgl. dazu Walther, M., Subsidiarität und Flexibilität. Überlegungen zum „Dezentralisierungspotenzial“ des Subsidiaritätsprinzips in der Europäischen Union, in: Blickle, P. / Hüglin, Th. / Wyduckel, W. (Hrsg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, 2002, S. 117 ff.; Calliess, C., Subsidiaritätsprinzip und Solidaritätsprinzip als rechtliches Regulativ der Globalisierung von Staat und Gesellschaft – dargestellt am Beispiel von EU und WTO, in: ebd., S. 371 ff.; Pieper, S., Das Subsidiaritätsprinzip im europäischen Gemeinschaftsrecht sowie in der politisch-rechtlichen Praxis der Union, in: ebd., S. 445 ff. Vgl. zum Prinzip der Subsidiarität aus neuerer Zeit EuGH, Urteil vom 09. 11. 2001 – Rs. C-377 / 98 – Niederlande / EP und Rat. Zum Ausbau der demokratischen Legitimation durch den Vertrag von Nizza vgl. Tiedtke, A., Demokratie in der Europäischen Union, 2005, S. 154 ff.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 51 Normative Vorgaben

Demokratie ist an eine Grundentscheidung für die Grenzen der Praxis gebunden: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben verlangen vom Richter, dem engeren, dem spezifischeren Kontext bei der Bedeutungsbestimmung – auf derselben normativen Ebene – den Vorrang einzuräumen. Der Widerstreit um die Durchsetzung von Wirklichkeits- und Textinterpretationen ist hier besonderen Anforderungen unterworfen. Diese sollen unter den streitenden Parteien Waffengleichheit herstellen und sind sowohl im Primärrecht als auch in den Satzungen der Gerichtshöfe festgeschrieben. Sie werden als methodologische Standards von der Wissenschaft präzisiert. Unter den Vorgaben des mit dem Normtext gesetzten Textformulars und der an die methodenbezogenen Normen des Primärrechts rückgebundenen Standards methodischer Zurechnung sind die Möglichkeiten zur Durchsetzung einer bestimmten Interpretationsweise schon viel stärker eingeschränkt und damit besser kontrollierbar als etwa in der Politik. So wird sich unter den Bedingungen des demokratischen und gewaltenteilenden Rechtsstaats diejenige Interpretation am ehesten durchsetzen lassen, die das von den textuellen Vorgaben bestimmte Gelände am besten zu nutzen weiß. Wenn der Text auch keine objektiv ein für alle Mal feststehende Bedeutung hat, so gibt es doch zu der verkörperten Zeichenkette eine Anzahl von mitgebrachten Verwendungsweisen, welche als früher gewählte Interpretationen in Gestalt von Entscheidungen oder von juristischer Dogmatik die im vorliegenden Fall zu findende Lesart beeinflussen. Wer seine Interpretation des Normtexts gegen eine andere durchbringen will, kann an den mitgebrachten Verwendungsweisen nicht vorbeigehen. Trotzdem haben diese Gebrauchsvarianten des Normtextes aber nicht den fraglosen Status der substantiellen Bedeutung. In der juristischen Praxis sieht man das allein schon daran, dass sowohl Entscheidungen anderer Gerichte als auch dogmatische Aussagen nicht einfach „anwendbar“ sind, sondern in aller Regel selbstverantwortlich bewertet werden müssen. Zudem können die von der entstehungsgeschichtlichen Interpretation erschlossenen Verwendungsweisen von den Ergebnissen anderer Konkretisierungselemente verdrängt werden. Aber all diese die Durchsetzung einer bestimmten Lesart jeweils erschwerenden Bedingungen sind nicht etwa durch „die“ Sprache, sondern durch die eines normierten Sprachspiels vorgegeben: Sie sind legitimatorische Standards eines bestimmten, nämlich des rechtsstaatlichen und demokratischen Sprachspiels der Gerichte.

512 Schranken aus spezifischen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts

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Spezielle Schranken ergeben sich einmal aus den schon oben bei den Konkretisierungselementen diskutierten methodenbezogenen Normen des Primärrechts und zum anderen aus den subjektiven Gewährleistungen, die sich im Rahmen der europäischen Gerichtsverfassung entwickelt haben.37 37 Zur Rolle von EuGH und EGMR als europäische Verfassungsgerichte vgl. Häberle, P., Europäische Verfassungslehre, 2002, S. 459 ff. Zur Geschichte des Europäischen Gerichts-

512 Schranken aus spezifischen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts

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512.1 Das Grundrecht auf einen fairen Prozess Das gerichtliche Verfahren muss Argumente liefern, die vom Gericht in der Be- 601 gründung verarbeitet werden und damit dem Urteil eine überprüfbare Grundlage verschaffen. Nur wenn diese Voraussetzungen gewahrt sind, kann garantiert werden, dass der Richter in seiner Rolle als Sprachnormierer seinerseits einer Normierung unterliegt. Das europäische Verfahrensrecht hat sich auf der Grundlage der Satzungen der 602 Gerichtshöfe der Gemeinschaften, der Verfahrensordnung des EuGH und des EuG entwickelt. Das Verfahren ist in einen schriftlichen und einen mündlichen Teil gegliedert. Der schriftliche dient der Vorbereitung und hat mit seinen strengen Präklusionsvorschriften zu einem für oberste Gerichte schnellen Verfahren geführt. Der mündliche Teil findet grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung statt und beginnt mit dem Vortrag des Berichterstatters. Nach Beweisaufnahme, Anhörung und den Plädoyers der Parteien kommt der Schlussantrag des Generalanwalts. Die Urteilsverkündung erfolgt nach geheimer Beratung in einem gesonderten Termin. Diese Struktur ist von den Traditionen der Mitgliedstaaten geprägt. Zentrales Element ist dabei das Grundrecht auf einen fairen Prozess,38 das ein 603 Kernelement des europäischen Rechtsstaatsverständnisses bildet.39 Entwickelt wurde es zunächst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf der Grundlage von Art. 6 EMRK.40 Es soll dem Bürger den Zugang zu einem neutrahofs vgl. Mähner, T., Der Europäische Gerichtshof als Gericht, 2005, S. 153 ff. Zur Rolle innerhalb der Europäischen Verfassung vgl. Kämmerer, J. A., Die Rolle des Gerichtshofs im Entwurf der Europäischen Verfassung, in: Hofmann, R. / Zimmermann, A. (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2005, S. 121 ff. 38 Pache, E., Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozess, in: NVwZ 2001, S. 1342 ff.; vgl. dazu Kingreen, Th., Art. 6 EU-Vertrag, in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.): Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auflage, 2002, Rn. 198. 39 Vgl. dazu Grabenwarter, Ch., Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Eine Studie zu Art. 6 EMRK auf der Grundlage einer rechtsvergleichenden Untersuchung der Verwaltungsgerichtsbarkeit Frankreichs, Deutschlands und Österreichs, 1997, S. 707. Danach ist Art. 6 EMRK als Verfassungsprinzip des europäischen Rechtsstaatsgedankens zu begreifen. Vgl. dazu auch Schwarze, J., Europäische Rahmenbedingungen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: NVwZ 2000, S. 241 ff.; sowie grundsätzlich zur Entwicklung des Europäischen Verfassungsrechts den Tagungsbericht von Hofmann, E., Welche Verfassung braucht Europa? Erstes interdisziplinäres „Schwarzkopf-Kolloquium“ zur Verfassungsdebatte in der Europäischen Union in Hamburg, in: NVwZ 2000, S. 289 f. Grundlegend zur europäischen Verfassungsentwicklung Peters, A., Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 360 ff.; zur Rolle des EuGH dabei insbesondere die S. 401 ff. sowie Häberle, P., Europäische Verfassungslehre, 2002, S. 208 ff. 40 EGMR, Urt. vom 21. 02. 1975, Series A 18, S. 18 – Golder; EGMR, Urt. vom 13. 05. 1980, Series A 37, S. 16 – Artico; EGMR, Urt. vom 07. 10. 1988, Series A 141, S. 10 – Salabiaku. Vgl. dazu Jacot-Guillarmod, O., in: MacDonald, R. St. J. / Matscher, F. / Petzold, H. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 381 ff.; Miehsler, H. / Vogler, T., Vorbemerkung zu Art. 6, in: Golsong, H. u. a. (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Stand: Mai 2000.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 51 Normative Vorgaben

len Gericht gewähren, welches nach einem fairen Verfahren objektiv entscheidet.41 Im Gemeinschaftsrecht gilt diese Gewährleistung als Grundrecht, das vom EuGH in einer langen Kette von Entscheidungen ausgearbeitet wurde: „Nach ständiger Rechtsprechung gehören die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat ( . . . ). Dabei lässt er sich von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. In diesem Rahmen kommt der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) besondere Bedeutung zu ( . . . ). So hat der Gerichtshof ausdrücklich den aus diesen Grundrechten entwickelten gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz anerkannt, dass jedermann Anspruch auf einen fairen Prozess hat ( . . . ). Diese Rechtsprechung wird durch Art. F Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union (nach Änderung jetzt Art. 6 Abs. 2 EU) bestätigt.“42 Im Unterschied zu Art. 6 EMRK gilt dieses Gemeinschaftsgrundrecht von vornherein für alle Verfahrensarten und hat im Gegensatz zum unterschiedlichen Geltungsrang der Menschenrechtskonvention in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft43 Vorrang vor dem nationalen Recht.44 Der Rang dieses Grundrechts wird noch dadurch unterstrichen, dass es eine ausführliche Regelung in der Europäischen Grundrechtscharta findet.45 41 Vgl. dazu Pache, E., Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozess, in: NVwZ 2001, S. 1342 ff., 1343; grundlegend EGMR, Urt. vom 21. 02. 1975, Series A 18, S. 18 – Golder sowie zusammenfassend Jacot-Guillarmod, O., in: MacDonald, R. St. J. / Matscher, F. / Petzold, H. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 381 f., m. w. N.; Burgi, M., Verwaltungsprozess und Europarecht, 1996, S. 2 f., m. w. N.; Peukert, W., Art. 6, Rn. 1, in: Frowein, J. Abr. / Peukert, W., EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996. 42 EuGH, in: NJW 2000, S. 1853 ff. = EuGRZ 2000, S. 160 ff., 161, Rn. 25 ff. vgl. auch weiterhin EuGH, in: NVwZ 2000, S. 905 ff. = NJW 2000, 2807 L = EuZW 2000, 346 = EuGRZ 2000, 44 ff., 46 f., Rn. 17 – Niederlande und Van der Wal / Kommission, sowie EuGH Slg. 1998, S. I-8417 ff., (Baustahlgewerbe / Kommission) = NJW 99, S. 3548 = EuZW 1999, S. 115 = EuGRZ 1999, S. 38, Rn. 20 f. 43 Vgl. dazu Ress, G., Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Vertragsstaaten: Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im innerstaatlichen Recht und vor innerstaatlichen Gerichten, in: Maier, I. (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, 1982, S. 260 ff., m. w. N.; Jacobs, F. / White, G., The European Convention on Human Rights, 2. Aufl., 1996, S. 15 ff., m. w. N.; Frowein, J. Abr., in: Isensee, J. / Kirchhof, P. (Hrsg.), HdbStR VII, 1992, § 180, Rn. 5, m. w. N. 44 Vgl. Schlette, V., Der Anspruch auf Rechtsschutz innerhalb angemessener Frist – Ein neues Prozessgrundrecht auf EG-Ebene, in: EuGRZ 1999, S. 369 ff., 373, m. w. N. sowie Schilling, Th., Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, in: EuGRZ 2000, S. 3 ff., 33 ff., m. w. N. 45 Vgl. zur Grundrechtscharta EuGRZ 2000, S. 189 ff.; Di Fabio, U., Eine europäische Charta, in: JZ 2000, S. 737 ff., m. w. N.; Baer, S., Grundrechtscharta ante portas, in: ZRP 2000, S. 381 ff.; Reich, N., Zur Notwendigkeit einer Europäischen Grundrechtsbeschwerde, in: ZRP 2000, S. 375 ff.; Jacque, J. P., La démarche initiee par le Conseil européen de Cologne, in: Revue universelle des droits de l’homme (RevUDH) 2000 (Ausgabe 12) S. 3 ff.

512 Schranken aus spezifischen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts

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512.2 Der Anspruch auf Gehör und Begründung Neben Anforderungen an das Gericht46 und an den Zugang zum Gericht47 erge- 604 ben sich aus dem Grundrecht auf ein faires Verfahren vor allem noch solche an den prozessualen Ablauf und an die Rolle der Beteiligten. Als Mittel zur Gewährleistung von Fairness dienen dabei Öffentlichkeit und Mündlichkeit.48 Vom Verlauf selber fordern EuGH und EGMR übereinstimmend eine Ausgestaltung als kontradiktorisches Verfahren nach dem Grundsatz der Waffengleichheit aller Verfahrensbeteiligten: „Der Grundsatz der Waffengleichheit gebietet, dass den Verfahrensbeteiligten die ausreichende, angemessene und gleiche Gelegenheit zur Stellungnahme zu allen entscheidungsrelevanten rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten des Verfahrens einschließlich der Möglichkeit zur Beantwortung des Vortrags der Gegenseite gewährleistet sein muss. Keiner der Verfahrensbeteiligten darf gegenüber anderen Verfahrensbeteiligten durch die Art der gerichtlichen Verhandlungsführung benachteiligt werden. Der gesamte Vortrag aller Verfahrensbeteiligten sowie alle von Amts wegen ermittelten Umstände sind an alle Verfahrensbeteiligten zu übermitteln, diesen muss Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt werden. Zusätzlich muss auch die Beweisaufnahme kontradiktorisch ausgestaltet sein, die Verfahrensbeteiligten müssen Beweisanträge stellen, an Zeugenbefragungen teilnehmen und jedenfalls grundsätzlich selbst oder durch ihre Prozessvertreter Fragen an alle Zeugen richten können.“49 Die Begründung dient dazu, die im Rahmen des rechtlichen Gehörs unter der 605 Vorgabe von Waffengleichheit vorgebrachten Argumente in den Prozess der Entscheidung einzubringen. Die Notwendigkeit einer Begründung zwingt den Richter, sich mit diesen jedenfalls auseinanderzusetzen. Als Darstellungszwang rationalisiert sie die Entscheidung. Deswegen wird sie von den europäischen Gerichten nicht nur aus den Justizgrundrechten, sondern schon aus dem Begriff der Rechtsprechung abgeleitet.

46 Vgl. dazu Peukert W., Art. 6, Rn. 122 ff., m. w. N., in: Frowein, J. Abr. / Peukert, W., EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996. 47 Vgl. dazu EGMR, EuGRZ 1984, S. 147 – Silver und EGMR, EuGRZ 1975, S. 91 – Golder; Kingreen, Th., Art. 6 EU-Vertrag, in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auflage, 2002, Rn. 199. 48 Vgl. dazu Pache, E., Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozess, in: NVwZ 2001, S. 1342 ff., 1345; EGMR, EuGRZ 1991, S. 415 – Helmers; EGMR, EuGRZ 1985, S. 225 – Axen; EGMR, EuGRZ 1985, S. 584 – Pretto; Kingreen, Th., Art. 6 EU-Vertrag, in: Calliess, C. / Ruffert, M. (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auflage, 2002, Rn. 200. 49 Pache, E., Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozess, in: NVwZ 2001, S. 1342 ff., 1345.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 51 Normative Vorgaben

512.3 Gesetzesbindung und Gerechtigkeit 606

Zentrales Element für das Einlösen der Vorgaben aus Staatszielbestimmungen, methodenbezogenen Normen und Justizgrundrechten ist die in Art. 220 EG statuierte Gesetzesbindung des Richters. Dabei ist die in diesem Kompositum enthaltene Wendung „Gesetz“ mehrdeutig. Sie kann sich auf den bloßen Wortlaut als Zeichenfolge oder auf die Zeichenbedeutung als „objektiven Inhalt“ beziehen. Die Mehrdeutigkeit setzt sich im Begriff der Gesetzesbindung fort. Das Postulat kann einmal als Bindung durch das Gesetz im Sinn der Erkenntnis einer objektiv vorgegebenen Bedeutung verstanden werden oder auch als Bindung an das Gesetz im Sinn einer richterlichen Konstitution dieser Bedeutung unter bestimmten Einschränkungen.

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Für das mit dem Stichwort „Bindung durch das Gesetz“ bezeichnete hergebrachte Modell ist die objektive Bedeutung des Normtextes der zentrale Gegenstand. Mittel ist die von einer Auslegungstheorie ermöglichte Erkenntnis der objektiven Bedeutung. Das Ausmaß der Bindung ist eine über das richtige Erkennen vermittelte Determination. Das Modell einer „Bindung an das Gesetz“ sieht die Zeichenfolge des Normtextes als Gegenstand an. Mittel der Bindung sind die verfassungsrechtlich begründeten Standards einer praktischen Bedeutungskonstitution. Ihr Ausmaß geht hier nicht bis zu vollständiger Determination, sondern zielt auf relative Plausibilität im Rahmen einer bestimmten Argumentationskultur. Der Versuch einer praktisch-methodischen Analyse des Gesetzesbindungspostulats stößt damit auf eine grundsätzliche Ambivalenz. Die Entscheidung muss im Europarecht anhand der Systematik der Staatszielbestimmungen und der methodenbezogenen Normen des Primärrechts getroffen werden.

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Art. 220 EG überträgt die rechtsprechende Gewalt dem EuGH unter der Vorgabe einer Bindung an das Gesetz. Wenn man den Anknüpfungspunkt dieses Postulats im richterlichen Handeln realistisch bestimmen will, sollte man sich von der positivistischen Fiktion lösen, der Richter entscheide nach dem Modell der Gegenstandserkenntnis. Eine Theorie der Bindung an das Gesetz kann diese immer noch wirksame Unterstellung des Gesetzespositivismus verabschieden. Es wird dann deutlich, dass der Vorgang der Entscheidung tatsächlich komplexer ist, als das Erkenntnismodell annimmt. Dem Richter liegen als Eingangsdaten50 seiner Entscheidung die Fallerzählung und die Normtexte vor. Die Verknüpfung beider Elemente erfolgt über verschiedene Stufen, wobei die dem Urteil oft vorangestellten Leitsätze eine besonders wichtige Funktion haben. Unter diesen vom Gericht selbst formulierten Text (also nicht unter den gesetzlichen) wird der Fall subsumiert und dann die Entscheidungsnorm als Urteilsformel abgeleitet. Dabei sollen die Leitsätze auf dem Weg über „Interpretation“ oder „Konkretisierung“ an die vom Gesetz50

Vgl. dazu Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 50 f., 86, 90.

512 Schranken aus spezifischen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts

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geber formulierten Normtexte methodisch vertretbar rückgebunden sein. In dem damit skizzierten Kontinuum von Satzverkettungen kann das Gesetzesbindungspostulat in einem von Gesetzgeber und Richter arbeitsteilig gestalteten Prozess seine Wirkung entfalten. Die herkömmliche Lehre einer Bindung durch das Gesetz versucht diesen ar- 609 beitsteiligen Prozess dadurch zu entdifferenzieren, dass sie Art. 220 als Verpflichtung auf die Gerechtigkeitsidee und als Ermächtigung zur gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung interpretiert: „Mit dem Wort ,Recht‘ wird der Inbegriff der Gerechtigkeitsidee der europäischen Verfassungskultur in das Gemeinschaftsrecht einbezogen, der in den Gründungsverträgen wie in den mitgliedstaatlichen Verfassungen einen jeweils spezifischen Ausdruck gefunden hat.“51 Die traditionelle Lehre ist zu dieser dogmatisch und methodisch schwer zu begründenden Interpretation gezwungen, weil sie die Gesetzesbindung als Bindung durch den vorgegebenen Inhalt des Gesetzes begreift. Wenn sich im Ernstfall der Entscheidung dieser präexistente Inhalt nicht nachweisen lässt, bedarf es einer weitergehenden Legitimationsquelle. „Die“ Gerechtigkeit bzw. die über die Gesamtheit der positiven Gesetze hinausgehende „Sinneinheit“ des Rechts sollen dort, wo das Gesetz versagt, den Inhalt richterlicher Entscheidung liefern. Aber unter der Geltung der im Primärrecht positivrechtlich enthaltenen metho- 610 denbezogenen Vorschriften und Staatszielbestimmungen kann die rechtliche Entscheidung von Konflikten nicht unmittelbar auf eine substantiell und holistisch gedachte außerpositive Gerechtigkeitsidee zurückgreifen. Die Lösung der Konflikte ist vielmehr auf unterschiedliche staatliche Funktionen und auf mehrere Stadien der Rechtserzeugung verteilt. Das Zusammenspiel von allgemeinen Staatszielbestimmungen, speziellen methodenbezogenen Normen des Primärrechts und von Justizgrundrechten führt im Ergebnis dazu, dass das Anstreben der von den Gerichten geforderten Gerechtigkeit arbeitsteilig erfolgt. Die Gesetzesbindung soll in diesem Rahmen dafür Sorge tragen, dass die Gewalt, die in den Texten und ihrer Interpretation steckt, geteilt und gehemmt wird. Deswegen wird der nach den Stadien Normtext – Rechtsnorm – Entscheidungsnorm zu differenzierende Vorgang der Rechtsverwirklichung unter verschiedene Gewalten aufgeteilt und mittels verallgemeinerungsfähiger methodischer Maßstäbe rechtsstaatlich kontrollierbar gemacht. 52 Geltungsstruktur: Rolle des Gesetzes für die Rechtserzeugung Für die Entscheidung der Frage, welchen Bindungen der EuGH unterworfen ist, 611 kann auf die bisher erarbeiteten Grundlagen zurückgegriffen werden. Die her51 Streinz, R., Europarecht, 4. Aufl., 1999, S. 119 unter Bezug auf Pernice, I., Art. 164, Rn. 7, in: Grabitz, E. / Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 102a – 248 EGV (Maastrichter Fassung), Stand Oktober 1999, 2000.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 52 Geltungsstruktur

kömmliche Lehre modellierte juristische Entscheidung nach dem Vorbild der Gegenstandserkenntnis. Damit wurden angesichts einer angeblich objektiv vorgegebenen Rechtsnorm Geltung, Bedeutung und Rechtfertigung gleichgesetzt. In einer avancierten Rechtserzeugungsreflexion können dagegen Unterscheidungen eingeführt werden. Die Rechtsnorm ist hier kein Gegenstand, sondern muss erst erzeugt werden (Normstruktur). Kriterium für das Gelingen dieses Vorgangs ist nicht die Erkenntnis einer vorgegebenen Bedeutung, sondern es sind die Konstruktionsanforderungen aus den methodenbezogenen Normen des Primärrechts (Legitimationsstruktur). Der Vorgang der juristischen Textarbeit ist nicht einfach Bedeutungskenntnis, sondern kreative Textproduktion im Hypertext des Rechts (Textstruktur). Es stellt sich damit die Frage, was „Geltung“ des Gesetzes im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion heißen kann. 521 Das Gesetz im legalistischen Rechtsstaatsverständnis

Zunächst ist zu prüfen, wie weit eine solche Rechtserzeugungsreflexion, die der gerichtlichen Praxis eine grundsätzlich schöpferische Rolle zubilligt, mit den Vorgaben der rechtsstaatlichen Demokratie vereinbar ist. 521.1 Hat der demokratische Gesetzgeber ein Sinngebungsmonopol? 612

Zum Teil wird mit verfassungstheoretischen Argumenten der Legislative ein Sinngebungsmonopol für die Rechtsentscheidung zugewiesen. Wenn die Strukturierende Rechtslehre dem Normtext als Eingangsdatum der Konkretisierung noch keine vorgegebene Bedeutung zuerkennt, verstoße sie gegen das Demokratieprinzip. Wenn man dem Gesetzestext keinen abgeschlossenen Sinn zuweist, sondern die aktive Rolle des Anwenders betont, verlagere man die sprachliche Sinngebung vom Gesetzgeber auf die Gerichte und zerstöre damit den demokratischen Legitimationszusammenhang zwischen Parlament, Gesetzestext und Gerichtsentscheidung.52 Kann man aber die Forderung nach einer demokratischen Genese von Rechtsentscheidungen wirklich dadurch einlösen, dass man dem Gesetzgeber ein Monopol auf die Aktivität sprachlicher Sinngebung zuschreibt?

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Eine derartige Annahme setzt eine bestimmte Sicht des Kommunikationsverhältnisses53 zwischen Gesetzgeber und Rechtsarbeiter voraus. Die Gesetzgebung 52 Maus, I., Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth, W. / Blanke, B. / Preuß, U. u. a., Ordnungsmacht?, 1981, S. 153 ff., 161. 53 Vgl. zum vorausgesetzten Kommunikationsmodell, ebd., S. 161 f. Die Forderung, Gesetzgebung und Rechtsanwendung als kommunikatives Verhältnis anzusehen, wird auch erhoben bei Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 99 ff.; zum Problem vgl. auch Band I der vorliegenden Methodik, Rn. 202 f., u. ö.

521 Das Gesetz im legalistischen Rechtsstaatsverständnis

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wird dabei mit dem Autor eines Textes und der Autor mit dem Gravitationszentrum des Textsinns gleichgesetzt. Aufgabe des entscheidenden Juristen wäre es demnach, die im Text verkörperten Gedanken des Gesetzgebers einfach nachzuvollziehen. Aber dieser Nachvollzug erweist sich gerade in der Praxis als uneinlösbare Fiktion. Der Normtext funktioniert vielmehr dadurch, dass er von einer vordefinierten Bindung durch den „Sender“ abgeschnitten ist.54 Die Leitsätze konkreter Entscheidungen können und müssen ihm zugerechnet werden. Das geht aber nur, weil bei jeder neuen Verwendung sein Sinn nicht einfach identisch wiedergegeben, sondern verschoben wird, und weil dadurch der Normtext unter Ablösung vom ursprünglichen Kontext auch neuen, unvorhergesehenen Situationen aufgepfropft55 werden kann. Der gesetzliche Wortlaut ist also nicht darauf angewiesen, dass ein – anthropomorpher – Autor ihn mit der Fülle seines gegenwärtigen Meinens stützt; sondern er kann in der Praxis als Zurechnungspunkt konkreter Entscheidung deshalb fungieren, weil dies gerade nicht der Fall ist und weil seine Bedeutung für weitere Bestimmung und Anreicherung im Rahmen der semantischen Praxis – in den rechtsstaatlich-demokratischen Grenzen des Wortlauts – offen bleibt.

521.2 Kann die gemeinsame Sprache die Geltung des Gesetzes garantieren? Die verfassungstheoretische Kritik an einer Rechtserzeugungsreflexion wird 614 zum Teil auch mit einem Kommunikationsmodell unterfüttert. Dabei knüpft man an den Begriff des Kommunikationscodes an. Von seiner Struktur her privilegiert ein Kommunikationsmodell den Sender, jedoch um den Preis, dass die Möglichkeiten von Sinnbestimmung durch den verwendeten Code bereits festgelegt sind.56 Vermittelt über den Sender ist es dann vor allem der Code, der den Inhalt der mitgeteilten Botschaft fixiert. Der Code kann folglich dazu dienen, die Sinngebungskompetenz der Rechtspraxis auszuschließen. Dann ergibt sich in der Argumentation aber eine gewisse Verschiebung: Die Sinngebungskompetenz geht jetzt vom Gesetzgeber auf den sprachlichen Code über. Die Legislative kann die Rechtsanwendung dann nur noch insoweit beeinflussen, als sie den sprachlichen Code und das damit gegebene Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit aufnimmt und höchstens präzisiert. Aus dieser Sicht57 bestimmt der Gesetzgeber den Sinn der 54 Vgl. dazu Derrida, J., Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 124 ff., 133 f. Allgemein zur Schrift als originales Supplement: ders., Grammatologie, 1983, S. 536 ff. 55 Vgl. zur Herauslösung aus dem Kontext und zur parasitären Aufpfropfung als Dementi einer wörtlichen Bedeutung: Derrida, J., Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 136. Vgl. dazu auch Gondek, H.-D., Die Universalien der Sprache und ihre Parasiten – Zur Infrastruktur kommunikativer Rationalität, in: DanieIzyk, R. / Volz, F. R. (Hrsg.), Parabel. Vernunft der Moderne, 1986, S. 104 ff., 114 f. 56 Vgl. dazu Descombes, V., Das Selbe und das Andere, 1981, S. 112 f.

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Vorschrift vermittels des von ihm verwendeten Codes sprachlicher Regeln. Diese Regeln legen ein bestimmtes Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit fest und entscheiden somit, auf welche Fälle der Normtext anzuwenden sein wird. Demnach kann die Rechtspraxis den Sinn des Gesetzes nicht aktiv bestimmen, weil dieser schon durch die Sprachregeln festgelegt ist, die der Legislator verwendet hat. Diese vom Kommunikationscode ausgehende Überlegung wird dann gegen die Strukturierende Rechtslehre gewendet: „Einem gleichsam sprachlosen Gesetzgeber stünde die rhetorisch kompetente richterliche Rechtsfindung gegenüber – eine Konstellation, die übrigens der Logik entbehrte, da die Kritik vermeintlich ontologischer Sprachauffassungen dem Gesetz abspräche, was sie in der Sprache von Urteilsbegründungen, rechtswissenschaftlicher Literatur oder Methodik für möglich hält“.58 Hier wird ein Widerspruch behauptet: einerseits billige eine Rechtserzeugungsreflexion der Praxis zu, darüber zu entscheiden, ob der Normtext auf den Fall angewendet werden kann; andererseits spreche sie dem Gesetzgeber diese Kompetenz aber ab. Es liegt hier aber kein Widerspruch vor, sondern ein Gegenüberstellen der unterschiedlichen Rollen, die Legislative und Judikative im Prozess der Rechtsverwirklichung haben. Nicht schon die sprachliche Bedeutung des vom Gesetzgeber hervorgebrachten Normtextes entscheidet tatsächlich darüber, auf welche Fälle er in der Folge Anwendung finden wird, sondern erst die Rechtsprechungspraxis kann und wird in einer unter bestimmten Anforderungen stehenden Serie von Entscheidungen über diese Anwendung befinden. 615

Mit Hilfe der traditionellen Bedeutungstheorie gelangt man zu einem Modell der Rechtsanwendung, das auf den ersten Blick den demokratietheoretischen Postulaten besser zu entsprechen scheint als die Theorie gerichtlicher Rechtserzeugung: Was bei einem Ansatz, der eine aktive Rolle der Rechtspraxis bei der Sinngebung zulässt, „freilich ausgeblendet bleibt, ist, daß Gesetzgeber und Rechtsanwender mit gleichen sprachlichen Verwendungsregeln und gleichem Wirklichkeitsverständnis operieren, weil (und sofern) sie sich im gleichen gesellschaftlichen Kontext befinden. Insoweit bilden die gelegentlich große historische Diskrepanz zwischen Gesetzgebung und -anwendung und die Tatsache, daß in abstrakter Zukunftsorientierung und in der Behandlung konkreter abgeschlossener Fälle sich für Normsetzung und – konkretisierung die Wirklichkeit in unterschiedlichem ,Aggregatzustand‘ befindet, das eigentliche Auslegungsproblem, nicht aber die durch unterschiedlichen Wirklichkeitsbezug vermittelte bzw. sprachtheoretisch begründete Unmöglichkeit einer Kommunikation zwischen Gesetzgeber und Richter. Daß eine ,Botschaft‘ des Gesetzes beim anwendenden Juristen nicht ankomme, ist auch nach dem faktischen Ablauf von Gesetzgebungsverfahren kaum zu befürchten, wenn Gesetzesentwürfe von Verwaltungsjuristen erstellt und von Parlamenten verabschiedet werden, die noch immer zu einem hohen Anteil aus Juris57 Maus, I., Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth, W. / Blanke, B. / Preuß, U. u. a., Ordnungsmacht?, 1981, S. 153 ff., 161 f. 58 Ebd., S. 161.

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ten bestehen“.59 Die Gleichheit der Sprachregeln soll hier also eine Sinngebung des Normtextes in Übereinstimmung mit dem Gesetzgeber gewährleisten. Der Zweck der Absicherung eines harmonierenden Verständnisses erfordert aber nicht nur, dass die im Gesetzestext verkörperten Sprachregeln feste und objektiv vorgegebene Größen sind, sondern diese Regeln müssen auch eine gewisse Homogenität aufweisen. Immerhin werden hierfür Argumente gesucht und auch Schwierigkeiten zugegeben: erstens ergäben sich die gleichen sprachlichen Verwendungsregeln und das gleiche Wirklichkeitsverständnis, „weil (und sofern)“ Legislative und Rechtsanwender sich im gleichen gesellschaftlichen Rahmen befinden. Dieser über die „Verhältnisse“ hergestellte Zusammenhang wird zweitens noch durch die Erwägung verstärkt, dass den Rechtsanwendern auf der Seite des Gesetzgebers weitgehend Juristen gegenüberstehen. Die gemeinsame Sozialisation und Professionalisierung soll also sicherstellen, dass im Kommunikationsverhältnis zwischen Legislative und Justiz die Botschaft des Gesetzes mitten ins adaptierte Verstehen des Rechtsanwenders trifft. Zwei Ausnahmen melden sich bei jener Argumentation allerdings störend zu 616 Wort. Einmal kann der historische Abstand zwischen Kodifizierung und Anwendung zu Verwerfungen führen; und zum anderen muss man berücksichtigen, dass sich bei zukunftsorientierter Normsetzung und einer vergangenheitsbezogenen Konkretisierung die Wirklichkeit in einem unterschiedlichen Aggregatzustand befindet.

521.3 Das Scheitern des legalistischen Rechtsstaatsverständnisses Dieser historische Abstand und dieser verschiedene Aggregatzustand sind die 617 Schwierigkeiten einer Gesetzesanwendung, die vom legalistischen Rechtsstaatsverständnis offen eingeräumt werden. Beides sind aber in der alten Sicht Probleme, die mit Hilfe der Auslegung gelöst werden können und die Decodierung der Botschaft des Gesetzgebers eigentlich nur etwas zeitraubender machen. Damit ist alles klassifiziert, und nichts kann die Idylle des Kommunikationsmodells mehr stören. Oder doch? Wie, wenn sich die genannten Störungen nicht als brave Ausnahmen der biederen Regel fügen wollten? Der gelegentlich große historische Abstand und 59 Maus, I., Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth, W. / Blanke, B. / Preuß, U., Ordnungsmacht?, 1981, S. 153 ff., 161 f.; zu der zwischen Gesetzgeber und Richter vermittelnden gemeinsamen Weltsicht vgl. auch Starck, Chr., Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1975), S. 43 ff., 60 ff., 90 Leitsatz 10; zu dem von Maus angesprochenen unterschiedlichen Aggregatzustand vgl. die Gesetzgebung und Rechtsprechung nach ihrer Zeitwirkung differenzierende Analyse bei Kirchhof, P., Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Die Hochschullehrer der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg (Hrsg.), Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986, S. 11 ff., 24 f. m. w. N.

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der unterschiedliche Aggregatzustand stören eine altehrwürdige Annahme, die folgendermaßen formuliert werden kann: Im Normalfall kommt die Botschaft, die der Gesetzgeber an den Rechtsanwender senden wollte, vermittelt über das Medium des Textes klar und deutlich an. Ausgehend von den Zeichen des Textes, gelangt man zu den „gleichen sprachlichen Verwendungsregeln“ und kann so den vorliegenden Fall der unzweifelhaften Botschaft des Gesetzes gemäß entscheiden. Kann die Umsetzung legislativer Texte im Normalfall so vor sich gehen? 618

Der hier als Ausnahme vom Regelfall des Verstehens erwähnte historische Abstand zwischen Gesetzgebung und Rechtsanwendung wurde schon oben bei der genetischen Konkretisierung untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass die Abwesenheit eines den Textsinn garantierenden gegenwärtigen Meinens sogar ermöglichende Bedingung für das Funktionieren des Normtextes ist.

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Ebenso verhält es sich mit der zweiten Unterstellung. Wenn man den „unterschiedlichen Aggregatzustand“ der Wirklichkeit im Normtext und im Prozess der Konkretisierung als erschwerende Ausnahme ansieht, die mit Hilfe sprachlichen Wissens überwunden werden könne, dann setzt man voraus, dass die Rechtsanwendung nichts anderes tut als vorgegebene Sprachregeln zu aktualisieren. Das wird aber von der Realität praktischer Rechtsarbeit beständig dementiert. Allein die vom legalistischen Rechtsstaatsverständnis angesprochene Botschaft des Gesetzes reicht zur Entscheidung des Falles nicht aus. Der Normtext kann die Leitsätze aller künftig zu entscheidenden Fälle mittels der sprachlichen Bedeutung seiner Oberbegriffe nicht vorwegnehmen. Es ist nicht einfach ein unterschiedlicher „Aggregatzustand“ der Wirklichkeit, der den legislativ formulierten Normtext von den durch den Rechtsarbeiter formulierten Leitsätzen trennt. Schon logisch kann das Allgemeine die mögliche Ausprägung der Einzelfälle nicht vollständig enthalten. Es geht nicht einfach darum, mittels Auslegung den unterschiedlichen Aggregatzustand der Wirklichkeit von Zukunft in Vergangenheit zu überführen, so wie man mittels Temperaturabsenkung Wasser zu Eis gefrieren lassen kann. Es fehlt vielmehr schon auf der logischen Ebene am Gemeinsamen einer entsprechenden Substanz.60 Was also beim alten legalistischen Rechtsstaatsverständnis als Erschwerung des Regelfalls erscheint, ist in Wahrheit dieser selbst. Es hat keinen Sinn, von der Sprache zu verlangen, dass sie sich nach unserer Vorstellung vom demokratischen Rechtsstaat richtet. Nur umgekehrt wird es sinnvoll: unsere Vorstellung vom demokratischen Rechtsstaat muss die Möglichkeiten der natürlichen Sprache berücksichtigen; denn jedes Sollen setzt ein Können voraus.

60 Vgl. dazu Römer, P., Hans Kelsen und das Problem der Verfassungsinterpretation, in: Abendroth, W. / Blanke, B. / Preuß, U. u. a., Ordnungsmacht?, 1981, S. 180 ff., 187.

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Der Weg vom Obrigkeitsstaat zum Rechtsstaat führt von der Semantik zur Prag- 620 matik. In der Vergangenheit wurde das Verständnis demokratischer Selbstcodierung legalistisch verkürzt: das Volk gibt sich im demokratischen Prozess Gesetze; wenn der Richter deren Inhalt ausspricht und anwendet, kommt der Volkswille zum Einzelnen zurück. Man verlässt sich dabei allein auf das Gesetz als Text. Das prozessuale Verfahren und die dort vorgebrachten Argumente, der Richter und seine Ausbildung, die kritische Kommentierung der Praxis durch Wissenschaft und Öffentlichkeit und noch weitere Umstände spielen in diesem Modell keine prinzipielle Rolle. Es sei vielmehr der objektive Inhalt des Gesetzes, der sicherstellt, dass die Selbstcodierung des Volkes in der staatlichen Praxis einlösbar bleibt. Eine auf ihre Bedeutungsinhalte hin problemlos durchsichtige und beherrschbare Sprache ist in dieser Sicht Grundvoraussetzung von Demokratie und Rechtsstaat. Damit mündet eine legalistische Verkürzung der Demokratietheorie in eine idealistische Verkürzung der Sprachtheorie; und beide verbinden sich zur Ikone rechtsstaatlicher Demokratie, welche abgehoben und anschlusslos über der staatlichen Praxis schwebt.

522.1 Die Steuerungskraft des Gesetzes Die zum Einlösen dieses Konzepts nötige Grundvoraussetzung ist nicht verfüg- 621 bar. Sprache ist nicht hinreichend transparent, und die Bedeutung von Texten verschiebt sich bei jeder Übertragung auf neue Kontexte; und diese sind wegen ihrer Unabschließbarkeit nie ganz beherrschbar. Deswegen ist man angehalten, nach der Verabschiedung idealistischer Sprachtheorien das Projekt der rechtsstaatlichen Demokratie neu zu denken. Die oft konstatierte Krise des Rechtsstaats liegt darin, dass man trotz der begrenzten Steuerungsfähigkeit des Gesetzes nicht einfach zur altliberalen Vorstellung einer Herrschaft des Gesetzes zurückkehren kann. Vielmehr müssen die auf der materiellen Stufe des Rechtsstaats entstandenen Aufgaben von wachsender Staatstätigkeit und erhöhter Steuerungsanforderung61 an die Gerichte bewältigt werden, ohne dabei hinter die technischen Standards des formalen Rechtsstaats zurückzufallen. Die Lösung dieses Problems verlangt einen Neuansatz, für den verschiedene 622 Bezeichnungen vorgeschlagen werden: prozedurales Recht,62 mediales Recht,63 re61 Besonders im Umweltrecht werden die komplexen Probleme indirekter Steuerung gut sichtbar und damit auch die notwendige Vernetzung des Rechts zu anderen Wissenschaften, was methodische Probleme aufwirft. Vgl. dazu als Beispiel: Unnerstall, H., Anforderung an die Kostendeckung in der Trinkwasserversorgung nach der EU-Wasserrahmenrichtlinie, in: NVwZ 2006, S. 528 ff., insbesondere S. 530.

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flexives Recht,64 usw.65 Die Rechtsprechung wird danach nicht mehr als Rechtsanwendung, sondern als Rechtsproduktion begriffen.66 Das Rechtsystem erscheint nicht mehr als Gesamtheit der Normen, sondern als Gesamtheit der Handlungen, die Normen erzeugen, und das heißt als Kommunikationssystem.67 Von dieser Voraussetzung aus kann man die Judikatur als Rechtserzeugung in Zusammenarbeit mit der Legislative und eben nicht mehr als bloße Rechtserkenntnis aus dem Gesetzestext begreifen. Dann stellt sich für den Rechtsstaatsgedanken ein neues Problem: das Normieren des Normierens.68 Das war aber gerade das Ausgangsproblem der Strukturierenden Rechtslehre seit Mitte der 60er Jahre. Der Rechtsstaat greift zu kurz, wenn er nur die „Anwendung“ des Rechts fordert, denn dieses wird vom Richter und dem konkreten Verfahren mit geschaffen. Weder das Gesetzbuch noch die Methodik können das Recht vorgeben. Erst im Prozess gewinnt es seine normative Bestimmtheit. Deswegen muss dieser Vorgang der Rechtserzeugung von den verfassungsrechtlichen Vorgaben her überformt werden. Damit bleibt im Prozess die Widerständigkeit des materiellen Rechts als Argumentationsinstanz erhalten. Das Verfahren stellt unter Ausnutzung der Konfliktperspektive der Beteiligten im Prinzip sicher,69 dass die relativ bessere Lesart des Gesetzes sich durchsetzt. Weil die Einheit der Rechtsordnung als stabiles Sinnzentrum weder methodisch noch im Verfahren verfügbar ist, bleibt der zum konkreten Verfahren relative Stand der Argumente das Beste, was erreicht werden kann.

62 Vgl. dazu Wiethölter, R., Entwicklung des Rechtsbegriffs, in: Gessner, V. / Winter, G. (Hrsg.), Rechtsformen der Verflechtung von Staat und Wirtschaft, 1982, S. 38 ff.; ders., Zum Fortbildungsrecht der (richterlichen) Rechtsfortbildung, in: KritV 1988, S. 1 ff. Zum prozeduralistischen Rechtsparadigma vgl. Habermas, J., Faktizität und Geltung, 1992, Kapitel IX. 63 Görlitz, A., Mediales Recht als politisches Steuerungskonzept, in: ders. (Hrsg.), Politische Steuerung sozialer Systeme, 1989, S. 13 ff. 64 Teubner, G., Reflexives Recht, in: ARSP 1982, S. 13 ff.; ders., Recht als autopoietisches System, 1989, Kapitel 5; ders. / Willke, H., Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, in: ZfRSoz 1984, S. 4 ff.; Willke, H., Ironie des Staates, Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, 1992. 65 Vgl. zu einem Überblick von weiteren Begriffen Görlitz, A. (Hrsg.), Postinterventionistisches Recht, in: Jahrbuch für Rechtspolitologie 1, 1989. 66 Vgl. Calliess, G.-P., Prozedurales Recht, 1999, S. 136. – Als Konzept seit: Müller, F., Normstruktur und Normativität, 1966. Zum europarechtlichen Begriff der Rechtsprechung vgl. Mähner, T., Der Europäische Gerichtshof als Gericht, 2005, S. 54 ff. 67 Vgl. dazu übereinstimmend für die Diskurstheorie Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns, 1981; ders., Faktizität und Geltung, 1992, und zum anderen aus der Sicht der Systemtheorie: Luhmann, N., Soziale Systeme, 1984; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993 und Teubner, G., Recht als autopoietisches System, 1989. 68 Vgl. dazu Calliess, G.-P., Prozedurales Recht, 1999, S. 149. 69 Vgl. dazu grundlegend Luhmann, N., Konflikt und Recht, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1999, S. 92 ff.

522 Das Gesetz im sprachreflexiven Rechtsstaatsverständnis

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522.2 Das Rechtsstaatsprinzip als kommunikative Ethik Der verfassungstheoretische Neuansatz der Strukturierenden Rechtslehre lässt 623 sich damit als (sprach)reflexiver Rechtsstaatsbegriff kennzeichnen. Der Richter muss, sprachlich gesehen, einen Bedeutungskonflikt entscheiden, indem er eine Sprachnorm aufstellt. Fraglich ist, ob er bei dieser Sprachnormierung selbst unter normativen Anforderungen steht. Der Bedeutungskonflikt70 führt also zu einem Paradox: „Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur: Unentschiedenes!) vorliegt. Denn andernfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müsste nur noch ,erkannt‘ werden.“71 Was kann also an einer Entscheidung über einander ausschließende Lesarten normiert werden? Beide sind verständlich und gehören damit zur Sprache. Zu entscheiden ist, welche von beiden die bessere sei. Es geht nicht um das Auffinden einer allgemeinen Sprachregel, sondern um eine konkrete Sprachnormierung: Welche von beiden – je in sich verständlichen – Lesarten des Gesetzes ist vorzuziehen? Hier liegt nun der Ansatzpunkt der verfahrensbezogenen Normen aus dem Um- 624 kreis des Rechtsstaatsprinzips.72 Die aus diesem und aus anderen methodenbezogenen Vorschriften abgeleiteten Forderungen nach Kontrollierbarkeit und Nachvollziehbarkeit juristischen Handelns beziehen sich auf den Prozess der Sprachnormierung. Deren Notwendigkeit, die sich aus dem Konflikt der Lesarten ergibt, macht zugleich auch Sprachkritik als eine metakommunikative Auseinandersetzung über die Sprachnorm möglich. Wenn Kommunikation kein durch vorgegebene Regeln automatisierter Vorgang ist, sondern Raum für sinnkonstitutive Akte bietet, dann enthält sie auch die Möglichkeit einer kommunikativen Ethik, die diese gestalterischen Eingriffe kritisierbar macht. Die linguistische Diskussion kann die strukturelle Möglichkeit von Bindungen beim Vorgang der Regelerzeugung dartun, indem sie auf die Sprachreflexion in ihrer Rolle für die Entwicklung einer kommunikativen Ethik hinweist. Der Rechtsstaat mit seinen Anforderungen an das Begründen juristischer Entscheidung kann insoweit als ein Institution gewordener Sonderfall kommunikativer Ethik angesehen werden. Er kodifiziert eine bestimmte Kultur des Streitens, die als Auseinandersetzung über sprachliche Normierung auch im alltäglichen Handeln vorkommt, die aber im juristischen Bereich durch Rechtsprechung und Lehre spezifisch ausgeprägt wird. Zur Konkretisierung seiner Maßstäblichkeit muss der Ist-Zustand der praktischen Rechtsarbeit an deren Soll-Vorgaben gemessen und dort, wo erforderlich, zu begrifflich verallgemeinerungsfähigen Strukturen fortentwickelt werden. 70 Vgl. dazu Kuhn, T. / Christensen, R., Was heißt individuelle Betroffenheit des Klägers oder wie behandelt man einen Konflikt um die Lesart des Gesetzes, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, 2004, S. 389 ff. 71 Luhmann, N., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 308. 72 Als Maßstab für die Beurteilung der Frage, was Praxis zu leisten hat, sind in interner Betrachtung die Anforderungen der Verfassung heranzuziehen. Vgl. Müller, F., Juristische Methodik, 7. Aufl.,1997, 208 ff.; und jetzt auch Brink, S., Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 46 ff.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 52 Geltungsstruktur

Wenn man also die Steuerungskraft des Gesetzes und die Rolle der Gerichte in der heutigen Gesellschaft realistisch einschätzt, sollte man den Rechtsstaatsgedanken von der zu einfachen Vorstellung bloßer Rechtsanwendung ablösen, das legalistische Rechtsstaatsverständnis verabschieden73 und es als sprachreflexives Rechtsstaatsverständnis reformulieren.74 Eine vom Rechtsstaatsprinzip her geprägte Rechtserzeugungslehre wird besser den Ansprüchen gerecht, die im Rahmen einer Wissensgesellschaft an Gesetz und Gerichte gestellt werden, ohne durch vorschnelle Rematerialisierungen hinter den fraglos erhaltenswerten technischen Stand des überlieferten formalen Rechtsstaatsbegriffs zurückzufallen.

522.3 Was heißt demokratische Genese der Rechtsentscheidung? 626

Führt nun aber der Abschied von den geschilderten kommunikationstheoretischen Vereinfachungen dazu, dass der Gesetzgeber beim Konkretisieren der von ihm gesetzten Normtexte ganz außerhalb der Betrachtung bleiben sollte? Bei realistischem Blick auf die sprachtheoretischen Bedingungen ergibt sich, dass zwar die überwiegende Aktivität der Sinngebung auf der Seite des Rechtsarbeiters liegt75; dieser muss aber das genetische Konkretisierungselement, soweit es für die Lösung seiner Probleme einschlägig ist, einbeziehen und bleibt insoweit an die politischen Ziele des Gesetzgebers gekoppelt.

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Wenn man dagegen mit der Tradition den Gesetzgeber zum Subjekt des Sinngebungsprozesses macht, schafft man, statt die Forderung nach demokratischer Genese der Rechtsentscheidung praktisch einzulösen, nur eine Fiktion. Erst wenn man die Möglichkeiten des Gesetzgebers, die Entscheidung eines konkreten Streitfalls zu beeinflussen, realistisch sieht, lässt sich genauer sagen, was demokratische Genese der Rechtsentscheidung heißen kann: „Das direkte Setzen von Entscheidungsnormen ist politisch geprägten demokratischen Verfahren in aller Regel entzogen. Es bleiben nur demokratische Entscheidungen im Bereich der öffentlichen Gewalt, die vielfach vermittelt sind, die in solcher Abschwächung das direkte Setzen von Rechts- und Entscheidungsnormen in künftigen Einzelfällen vorweg zu beeinflussen versuchen. Jene die Fälle unmittelbar regelnden Akte sind dem Amtsrecht vorbehalten ( . . . ). Die ehrliche Verpflichtung auf eine rationale Arbeitsmethode der Juristen, die sich rechtsstaatlicher Nachprüfbarkeit bewußt unterwirft und dadurch ihre Verfassungsbindung zu verwirklichen bestrebt ist, kann dazu führen, daß die in Normtexten formulierten Ergebnisse demokratischer Politik dann auch tatsächlich den Rechtszustand in der Gesellschaft prägen. Das Amtsrecht darf das Volksrecht nicht überspielen, sich nicht von ihm abkoppeln, es nicht aus73 Programmatisch für eine nachpositivistische Rechtstheorie formuliert bei Somek, A. / Forgó, N., Nachpositivistisches Rechtsdenken, 1996, S. 357 ff. 74 Vgl. dazu auch Somek, A., Rechtssystem und Republik, 1992, S. 475 ff. 75 Ebd., S. 139: „Das regelnde Subjekt ist nicht die Norm, sondern ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen.“

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zutricksen versuchen“.76 Eine demokratische Genese der Entscheidung wird also dadurch gewahrt, dass die Gerichte ihre selbstgesetzten Rechts- und Entscheidungsnormen im Rahmen der Standards einer rechtsstaatlichen Argumentationskultur den vom Gesetzgeber hervorgebrachten Normtexten vertretbar zurechnen können. Verletzt wird das Prinzip dieser demokratischen Genese dagegen durch ein gerichtliches Vorgehen, das wie in den spektakulären Fällen des echten „Richterrechts“ die Entscheidung der Streitfälle allein selbstformulierten Normtexten zurechnet77 und damit die demokratisch entstandenen anderen Normtexte, typischerweise (auch) die des Verfahrensrechts, überspielt. Geltung eines Gesetzes heißt also unter der Bedingung eines demokratischen Rechtsstaats, dass in der Begründung der Entscheidung ein Legitimationstransfer vom Normtext auf die Entscheidungsnorm rechtsmethodisch plausibel vollzogen wird.

53 Die Wortlautgrenze oder das Recht auf Sprache Die Wortlautgrenze ist eine in der Tradition der Mitgliedstaaten im Grundsatz 628 weitgehend anerkannte Größe. Unklarheit herrscht allerdings über ihre praktische Handhabung. Das liegt daran, dass sich die Diskussion in der Frage festgefahren hat, was die Wortlautgrenze sei. Es gilt, diese unfruchtbare Was-Frage durch die Frage nach dem „Wie“ der textuellen Strategie zu ersetzen.

531 Die Wortlautgrenze aus der Sicht der europarechtlichen Literatur

In der Literatur78 wird dem EuGH vorgeworfen, dass er die Wortlautgrenze nicht 629 durchgängig anerkenne, sondern sie oft überspiele. Dabei wird eine bestimmte Konzeption von „Wortlautgrenze“ vorausgesetzt.79 Das traditionelle europarechtliche Schrifttum versteht „Auslegen“ als Erkennen des normativen Sinnes oder Gehalts von geschriebenen Rechtsvorschriften.80 Ge76 Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 90 f. und Bd. I der vorliegenden Methodik, z. B. Rn. 110 f. 77 Vgl. ebd., S. 100. 78 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 406. 79 Zur Kritik der herkömmlichen Konzeption und der Entwicklung einer Alternative vgl. Groh, T., Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption, 2005, S. 174 ff. 80 Vgl. Constantinesco, L.-J., Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Band I: Das institutionelle Recht, 1977, S. 808, sowie Bernhardt, R., Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge; insbesondere in der neueren Rechtsprechung internationaler Gerichte, in: BaöRV 40 (1963), S. 1 ff., 17; Blank, J., Europäische Fusionskontrolle im Rahmen der Art. 85, 86 des EWG-Vertrages, 1991, S. 89.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 53 Das Recht auf Sprache

genstand der Auslegung ist demgemäß nicht einfach die Ausdrucksseite, das heißt der Text als Zeichenkette, sondern von vornherein die Inhaltsseite als unterstellte objektive Bedeutung des Textes. Die Wortlautgrenze liegt dann in der objektiv vorgegebenen Bedeutung. 531.1 Die Suche nach einer objektiv vorgegebenen Grenze 630

Im Mittelpunkt der herkömmlichen Lehre steht der semantisch gewendete „Mythos des Gegebenen“.81 Ganz so, als hätte Quine ihr nicht schon vor mehr als einem halben Jahrhundert den Todesstoß versetzt82, huldigen juristische Theoretiker weiter der Idee, „dass es eine Bedeutung sprachlicher Ausdrücke gibt, die diese für sich haben“. „Von diesem Gegebenen wird schlicht ausgegangen.“83 Wie jeder Mythos, so lebt auch dieser vom Glauben wider allen praktischen Verstand. Schon die bescheidene Nachfrage, warum denn dann überhaupt ein mehr oder weniger aufwändiges Verfahren nötig ist, um aus dem Gesetz auf das Recht im Einzelfall zu erkennen, stört ihn in seiner Selbstverständlichkeit auf. Sprache ist ohne Praxis eben nicht zu haben. Sie offenbart die den Streit (vorläufig) beilegende Bedeutung nicht von selbst, wie es der ganze Aufwand herkömmlicher Auslegungslehren unfreiwillig bestätigt. Allein schon mit der Frage nach Sprache feiert das Problem der Entscheidung seine Wiederkehr. Den Unterschieden im Gebrauch, der von Sprache gemacht wird, kann nicht jegliche Bedeutung abgesprochen werden. Sie wären sonst im wahrsten Sinn des Wortes „nichts sagend“: nicht einmal Sprachgebrauch, sondern nur Lallen, Geräusch. Dies gilt im Gerichtsverfahren nicht nur für die Einlassungen der Parteien und die Vorträge der Profession; es gilt ebenso für den Gebrauch, den das Gericht namens des Volkes vom Gesetzestext macht. Wenn die Bedeutung der Gesetzestexte objektiv vorgegeben wäre, müsste die Entscheidung des Falles nur verkündet werden. Wir bräuchten kein Verfahren. Dessen tatsächliche Durchführung und die damit verbundenen Anstrengungen vieler Personen machen als eine Praxis klar, dass die Bedeutung des Normtextes eben nicht einfach gegeben ist.

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Als Retter aus der Not bietet ein Teil der neueren Rechtslehre die Gebrauchstheorie der Bedeutung an.84 Aus den Regeln des Gebrauchs soll sich ergeben, wel81 Dazu grundlegend Sellars, W., Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, 1999 (urspr. 1956). Des näheren hier Bertram, G. W., Prolegomena zu einer Rekonstruktion der linguistisch-epistemischen Wende – Von Quine und Sellars zu Husserl und Derrida, in: Journal Phänomenologie 13, 2000, S. 4 ff., 5 ff. 82 Siehe Quine, W. v. O., Zwei Dogmen des Empirismus, in: ders., Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, 1979, S. 27 ff., v. a. 27 ff. 83 Bertram, G. W., Prolegomena zu einer Rekonstruktion der linguistisch-epistemischen Wende – von Quine und Sellars zu Husserl und Derrida, in: Journal Phänomenologie, 13, 2000, S. 4 ff., 7. 84 Siehe Herbert, M., Rechtstheorie als Sprachkritik. Zum Einfluß Wittgensteins auf die Rechtstheorie, 1995, v. a. S. 78 ff. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht Busse, D., Der Regel-

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che Art von Verwendung sprachliche Ausdrücke zulassen: „Die Anknüpfung der grammatischen Auslegung an den allgemeinen Sprachgebrauch, d. h. an die Umgangssprache, liegt insofern am nächsten, weil angenommen werden kann, daß derjenige, der etwas sagen will, die Worte mit dem Sinn gebraucht, in dem sie gemeinhin verstanden werden.“85

531.2 Die normative Wendung sprachlicher Konventionen Die Forderung nach normativen Sprachregeln als einer sicheren Grundlage juris- 632 tischer Auslegung wird in der europarechtlichen Literatur ausdrücklich erhoben. Man müsse davon ausgehen, „daß als Sinngehalt einer rechtlichen Regelung nur angenommen werden darf, was der authentische Text nach den maßgeblichen Regeln sprachlicher Konvention – kurz des maßgeblichen Sprachgebrauchs – als möglichen Sinn trägt. Dabei ist jedoch zu betonen, daß sich der Sprachgebrauch aus Semantik und Pragmatik zusammensetzt. Unter Semantik wird hier sprachliche Verständigung unter Bedachtnahme auf den im Sprachgebrauch üblichen Wortoder Satzsinn (Wort- oder Satzsemantik) einer Äußerung verstanden. Zur Pragmatik gehören alle sonstigen, im Spachgebrauch vorfindbaren Konventionen der Verständigung.“86 Und damit über Pragmatik keine Missverständnisse aufkommen können, wird in der Fußnote noch klarstellend hinzugefügt: „Jedenfalls ist hier zu betonen, daß es sich auch bei den pragmatischen Interpretationskriterien um Konventionen des Sprachgebrauchs und daher um übliche Formen der Verständigung handelt ( . . . ). Anzumerken ist noch, daß die hier vertretene Ansicht, wonach sprachliche Kommunikation nur nach Maßgabe von (semantischen und pragmatischen) Konventionen möglich ist, in der Sprachforschung keineswegs unumstritten ist. ( . . . ).“87 Die normative Wendung der sprachlichen Konventionen soll hier der Auslegung eine sichere Grundlage verschaffen. Die Gebrauchsregeln bestimmen dann die Bedeutung und weisen zugleich dem 633 Sprecher die Grenzen anerkannt möglicher Rede. Kurzum, Regeln „legen fest, unter welchen Umständen“ ein Ausdruck „sinnvoller- bzw. korrekterweise verwendet werden kann.“88 Zwar bleibt es jedem unbenommen, so zu reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist; um den Preis allerdings, nicht ernst genommen zu werden oder sich mit dem, was man zu sagen hat, nicht mehr verständlich machen zu können. In diesem von der Absicht auf Verständigung ausgehenden Druck wechselseiCharakter von Wortbedeutungen und Rechtsnormen. Ein Grundproblem von Gesetzesbindung und Auslegungsmethodik in linguistischer Sicht, in: Mellinghoff, R. / Trute, H.-H. (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 23 ff. 85 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 84. 86 Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 32 ff. 87 Ebd., S. 33 Fn. 63. 88 Glock, H.-J., Wie kam die Bedeutung zur Regel?, in: DZfPh 2000, S. 429 ff., 431.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 53 Das Recht auf Sprache

tiger Konformität liegt, Kripkes kommunitaristisch gewendetem Wittgenstein zufolge, die ganze Normativität von Sprache.89 Und so verdankt ihm, wie Kathrin Glüer resümiert, die Sprachphilosophie „einen neuen Slogan: ,Bedeutung‘ ist normativ‘.“90 Mit der Regel im Rücken soll sich dann der Richter an das kritische Geschäft machen können, darüber zu befinden, inwiefern Äußerungen der Verfahrensbeteiligten im Rahmen einer verbindlichen Verwendungsweise des Gesetzes liegen. Die Regel soll ihn in die Lage versetzen, sprachlich die Spreu vom Weizen zu trennen und dementsprechend sein Urteil zu fällen. 634

Die Regelmäßigkeit, die man in der Kommunikation bei aller Unübersichtlichkeit und allem Streit durchaus auch findet, ist damit durch stabile Konventionen erklärt. Hinter dem vordergründigen Lärm liegen wirkungsmächtig die Regeln, die durch ein differenziertes Ineinandergreifen von semantischen und pragmatischen Vorgaben Stabilität garantieren. Aber damit man nun nicht glaubt, es werde bloß die sichtbare Armut durch das stille Wirken der Pauverté erklärt, erhalten wir auch noch Hinweise darauf, wie diese Regeln zu gewinnen seien: „Der Nachweis der Existenz maßgeblicher Kommunikationskriterien und vor allem ihrer Ausprägungen und jeweiligen Gewichtungen ist im Sprachgebrauch nicht immer ganz unproblematisch. Zwar kämen dafür empirische Untersuchungen in Betracht. Von einem leicht durchführbaren Blick in Grammatik- und Wörterbücher abgesehen, wären derartige Untersuchungen allerdings mit einem beachtlichen Aufwand verbunden. Würde man für die Lösung sämtlicher Rechtsprobleme eine solche empirische Absicherung verlangen, dann wäre die Vollziehung vor schwer zu bewältigende Probleme gestellt. Schon aus diesem Grund ist einem Rechtsetzer nur schwer zusinnbar, daß derartige Untersuchungen im Regelfall zur Auslegung seiner Anordnungen von ihm gewollt sind. Dazu kommt, daß in den hier zu besprechenden Rechtsordnungen für diese aufwändigen Ermittlungen kein Verfahren vorgesehen ist, was ebenfalls gegen ihre Gebotenheit spricht. Außerdem würden sie die Verfahrensdauer in kaum mehr vertretbarer Weise in die Länge ziehen und wohl auch das Kostenrisiko für die Parteien erhöhen.“91

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Zum Glück gibt es einen Ausweg aus dieser schwierigen Lage: „Aus diesen Gründen ist anzunehmen, daß nach dem Willen der Rechtsetzer eine Auslegung ihrer Anordnungen in diesen Rechtsordnungen unter Rückgriff auf die Sprachkom89 Siehe Kripke, S. A., Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Eine elementare Darstellung, 1987. Zur Kritik Glüer, K., Sprache und Regeln. Zur Normativität von Bedeutung, 1999, S. 84 ff.; sowie dies., Bedeutung zwischen Norm und Naturgesetz, in: DZfPh 2000, S. 449 ff., v. a. S. 454. Vgl. zur Kripke-Diskussion Boghossian, P., The Rule-Following Considerations, in: Mind 1998 (1989), S. 507 ff.; Horwich, P., Meaning, Use and Truth, in: Mind 104 (1995), S. 355 ff.; Zalabardo, J., Kripke’s Normativity Argument, in: Canadian Journal of Philosophy 27 (1997), S. 467 ff. 90 Glüer, K., Schwerpunkt: Sprache und Regeln. Ist Bedeutung normativ?, in: DZfPh 2000, S. 393 f., 393. 91 Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 39.

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petenz der Interpreten im Regelfall ausreichend ist. Bestärkt wird diese Annahme durch die Einsicht, daß die Berufung auf die eigene Sprachkompetenz als Methode der Sinnermittlung in der allgemeinen Kommunikationspraxis vorherrschend ist.“92 Hier drängen sich Einwände auf. Aber jedenfalls dem nächsten Satz wird man zustimmen: „In der praktischen juristischen Argumentation bereitet die Begründung eines Auslegungsergebnisses unter Berufung auf die eigene Sprachkompetenz wohl auch keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.“93 Es ist tatsächlich nicht unangenehm, sich selbst und den eigenen Sprachgebrauch als Regel auszugeben. Fraglich ist aber, ob es andere überzeugt. Das stille Wirken der Regel scheint nach den gängigen Vorstellungen von Spra- 636 che einleuchtend, muss sich aber von der Praxis eines anderen belehren lassen.94 Vor Gericht geht es nicht erst noch um ein Verstehen sprachlicher Ausdrücke. Die Feuerprobe darauf haben die Äußerungen der Parteien bereits vorher bestehen müssen, damit ihr Anliegen überhaupt als ein rechtliches gelten kann. Das wird ihnen durch prozessuale Auflagen wie etwa die Formulierung von Schriftsätzen und das Einschalten professioneller Juristen abverlangt. Im Verfahren steht also nicht mehr die Frage einer Regelkonformität zur Debatte. Vielmehr treten die sich entgegenstehenden Rechtsmeinungen in einen semantischen Konflikt ein, der auf die im Fall verbindliche Bedeutung des Gesetzestextes ausgeht.95 Es handelt sich für die Parteien also, allgemein gesprochen, nicht darum, welche Bedeutungen ein Ausdruck hat, sondern darum, welche ihm hier zukommen soll; und auch nicht darum, was der Regel gemäß ist, sondern darum, was für die Entscheidung als Regel festgesetzt wird. Als eine unabhängige Instanz kann die Regel dann aber nicht mehr auftreten. Sie ist es gerade, die als Einsatz im semantischen Kampf auf dem Spiel steht, indem die Parteien versuchen, jeweils ihre Lesart des Normtextes durchzusetzen.96 Auch in ihrer pragmatischen Wendung kann Sprache den Konflikt der Bedeutungen somit nicht entscheiden.

531.3 Das Scheitern des sprachlichen Normativismus Der von der herkömmlichen Lehre vorausgesetzte semantische Normativismus 637 scheitert an den Unwägbarkeiten von Sprache als Praxis.97 Die Verhältnisse im Ebd., S. 40. Ebd. 94 Grundsätzlich angesichts der praktischen Verhältnisse von Verständigung Davidson, D., Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Picardi, E. / Schulte, J. (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, 1990, S. 203 ff., 227. 95 Ausführlich dazu Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 59 ff. 96 Näher dazu Christensen, R. / Sokolowski, M., Recht als Einsatz im semantischen Kampf, in: Felder, E. (Hrsg.), Semantische Kämpfe, erscheint 2006 in der Reihe Linguistik – Impulse & Tendenzen. 92 93

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5 Rechtsprechung des EuGH – 53 Das Recht auf Sprache

Gerichtssaal treiben nur das auf die Spitze, was im Alltag regelmäßig vorkommt. Die Entscheidung über Regelkonformität einer Äußerung kann nicht durch die Sprache als solche vorgegeben sein; nicht einmal das Urteil darüber, ob sich die Verwendung eines Ausdrucks noch im Rahmen des Üblichen bewegt. Schon gar nicht vermag eine Norm bzw. Regel eindeutig zu fixieren, was in jedem Einzelfall ihre korrekte Befolgung sei.98 Regeln vermögen daher auch nicht die Verwendung sprachlicher Ausdrücke auf eine ihnen zukommende Bedeutung festzulegen, wie es der Normativismus behauptet.99 638

Um das leisten zu können, müsste die Regel für die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke im Sinne Searles konstitutiv sein.100 Nimmt man das jedoch ernst, so könnte die Regel paradoxerweise eben deshalb einen abweichenden Sprachgebrauch nicht vom korrekten unterscheiden: „Denn jeder semantisch inkorrekte Gebrauch“ würde, wie Kathrin Glüer zu Recht einwendet, damit zu einem „Bedeutungswandel oder -verlust“. Das heißt, dass mit der Alternative „korrekt / bedeutungslos“ der Verstoß gegen die Regel als Alternative einfach entfällt.101 Der semantische Normativismus scheitert an der Konstituierungsthese, die ihm seine Durchschlagskraft verleihen sollte. Denn wenn man diese aufweicht, indem man Bedeutung als Basis für die Unterscheidung von Korrektheit oder Inkorrektheit, von Konformität oder Verstoß zulässt, verliert die Regel ihr Privileg, die Ermöglichungsbedingung sinnvoller Rede zu sein.102 Sie ist dann nur noch einer der vielen Gesichtspunkte dafür, sich über einen bestimmten Sprachgebrauch Klarheit zu verschaffen; nur noch „eine behelfsmäßige Durchgangsstation zwischen Satz und Interpretation, welche die Erkenntnis der Struktur erleichtert, für die richtige Interpretation von Äußerungen aber keineswegs notwendig ist.“103 97 Klassiker zu diesem Thema sind zunächst Quine, W. v. O., Truth by Convention, in: ders., The Ways of Paradox and other essays, Cambridge 1966, S. 77 ff.; Sellars, W., Some Reflection on Language Games, in: ders., Science, Perception and Reality, 1991, S. 321 ff.; Davidson, D., Kommunikation und Konvention, in: ders., Wahrheit und Interpretation, 1990, S. 372 ff. Eine Übersicht findet sich bei Wikforss, A., Semantic Normativity, in: Philosophical Studies 102 (2001), S. 203 ff. 98 Siehe Kripke, S. A., Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Eine elementare Darstellung, 1987. 99 Neben den wichtigen Werken von Brandom, R. B., Expressive Vernunft, 2000, ders., Begründen und Begreifen, Eine Einführung in den Inverentialismus, 2001, finden sich wichtige Diskussionen der Normativitätsthese noch bei Gampel, E. H., The Normativity of Meaning, in: Philosophical Studies 86 (1997), S. 221 ff.; Millikan, R., Truth Rules, Hoverflies, and the Kripke-Wittgenstein paradox, in: Philosophical Review 99 (1990), S. 323 ff. 100 So Glock, H.-J., Wie kam die Bedeutung zur Regel?, in: DZfPh 2000, S. 429 ff., 443 ff. Dagegen Glüer, K., Bedeutung zwischen Norm und Naturgesetz, in: DZfPh 2000, S. 449 ff., 462 ff. 101 Vgl. Glüer, K., Bedeutung zwischen Norm und Naturgesetz, in: DZfPh 2000, S. 449 ff., 460. 102 Vgl. dazu Glüer, K., Dreams and Nightmares: Conventions, Norms and Meanig in Davidson’s Philosophy of Language, in: Kotatkou u. a. (Hrsg.), Interpreting Davidson, 2001, S. 207 ff.; Glüer, K. / Pagin, P., Rules of Meaning and Practical Reasoning, in: Synthese 117 (1999), S. 207 ff.

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Kripke verlangt deshalb der Regel zu Recht nicht mehr als Übereinstimmung ab. 639 Die aber ist, wie Wittgenstein geltend macht, in erster Linie nicht eine solche der Definitionen von Bedeutung, sondern nur eine in den Urteilen darüber;104 und die mögen so oder so ausfallen. Mit der Frage nach der Bedeutung ist alles wieder offen. Jede Abweichung, so wissen Linguisten seit langem, ist von daher „kreativ“. Sie kann immer auch als Vorschlagen einer neuen Regel, als Vorstoß zu einer Regeländerung gesehen werden.105 Dem Juristen wird das im eigenen Haus, im Gerichtssaal tagtäglich demonstriert. Im semantischen Konflikt ums Recht steht hier Wort gegen Wort im Hinblick auf das, was im Streitfall die verbindliche Regel sein mag. Wegen der praktischen Instabilität des Regelhaften bricht der juristischen Praxis 640 der „objektive“ Erkenntnisgegenstand weg. Es fragt sich, was die Regel hier überhaupt noch tragen kann. Donald Davidsons, vor allem gegen Kripke gewendete Antwort lautet: gar nichts.106 Bedeutung gewinnen Äußerungen ganz ohne Regeln, durch Interpretation. Um zu ihrem Verständnis zu gelangen, braucht es im Prinzip nicht einmal eine gemeinsame Sprache. Bildete diese eine unabdingbare Voraussetzung, so wäre es unerklärlich, dass es zum Verständnis auch noch der scheinbar abstrusesten Wortverdrehungen und Sprachspielereien kommen kann, wie Davidson anhand der so genannten „Malapropismen“ zeigt.107 Worauf es für die Verständigung ankommt, sind insoweit weder Regeln, noch ist es eine gemeinsame Sprache. Nötig ist vielmehr, „dass wir dem anderen etwas liefern, das als Sprache verständlich ist.“108 Möglich wird das dadurch, dass unsere Äußerungen immer in einem weiten Zusammenhang von Praktiken und Überzeugungen stehen. Dazu gehört ferner, dem anderen zu unterstellen, dass er weiß, wovon er redet und was er tut und dass er sich im Großen und Ganzen seine Überzeugungen auf den gleichen Wegen wie wir auch bildet. Dieses „Prinzip der Nachsicht“109 besagt nicht, dass Verstehen zu völliger Konformität zwingen würde. Es bietet im Gegenteil die Grundlage dafür, Divergenzen festzustellen. Von „Sprache“ bleibt damit nur noch ein kontextsensib103 Mayer, V., Regeln, Normen, Gebräuche. Reflexionen über Ludwig Wittgensteins „Über Gewissheit“, in: DZfPh 2000, S. 409 ff., 418. 104 Siehe Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, 1986, § 242. 105 Vgl. Heringer, H. J., Praktische Semantik, 1974, S. 26. 106 Siehe Davidson, D., Die zweite Person, in: DZfPh 2000, S. 395 ff., v. a. S. 396 ff. Zuvor schon ders., Kommunikation und Konvention, in: ders., Wahrheit und Interpretation, 1990, S. 372 ff. 107 Siehe Davidson, D., Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Picardi, E. / Schulte, J. (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, 1990, S. 203 ff. 108 Davidson, D., Die zweite Person, in: DZfPh 2000, S. 395 ff., 401. 109 Zu diesem Prinzip in Hinblick auf die „Bedingungen des Verstehens“ hier nur Stüber, K., Donald Davidsons Theorie sprachlichen Verstehens, 1993, S. 144 ff.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 53 Das Recht auf Sprache

ler Differenzierungsprozess, der sich ständig verändert.110 Und was man die Bedeutung eines Ausdrucks nennt, ist dann eine mehr oder weniger flüchtige Momentaufnahme in diesem Prozess; ein Knoten im einem Netz von Differenzen, den Verständnis und Interpretation schürzen und den der nächste Akt der Verständigung wieder lösen kann. 641

Normativität kann nie aus der Sprache kommen, sondern immer nur von Sprechern. Sprachnormen sind durch und durch praktisch. Sie dienen den Zwecken der Vereinfachung und Stabilisierung von Kommunikation. Für Juristen nimmt die Frage einer Normierung von Sprache allerdings eine größere Schärfe an. Denn sie werden erst in dem Moment angerufen, in dem ein Konflikt über Normen für die Sprecher auf andere Weise unlösbar geworden ist. Sprachlich gesehen, hat der Rechtsstreit also nichts mit vorgängigen Normen zu tun. Er geht darum, was im Fall als Norm gelten soll. Der Richter entscheidet ferner darüber, was im Anschluss daran als normativ durchzusetzen ist.

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Weil alle Antworten auf die „Was-ist-Frage“ nach einer Wortlautgrenze in der praktischen Anwendung scheitern, soll jetzt eine andere gestellt werden: Wie kann die Praxis einer Grenzziehung in der Sprache funktionieren? Anknüpfungspunkt ist die Judikatur des EuGH. Im Unterschied zur obigen Querschnittsbetrachtung im Rahmen des grammatischen Konkretisierungselements soll nunmehr die exemplarische Einzelentscheidung im Vordergrund stehen. Dabei bieten sich vor allem die Urteile an, die schon zum Gegenstand sprachwissenschaftlicher Analysen gemacht wurden und auch in der Rechtswissenschaft eine Debatte ausgelöst haben.111

532.1 Die Relativierung des einzelsprachlichen Wortlauts Wie kann man unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit innerhalb der Sprache eine Grenze ziehen, ohne dabei willkürlich zu handeln? Dieses Problem stellte sich dem EuGH etwa anlässlich eines Streits um die Frage, was es heißt, Fische zu fangen. Folgendes war geschehen: „Im Frühjahr 1980 warfen britische Trawler in internationalen Gewässern in der Ostsee etwa 40 bis 80 Meilen vor der polnischen Küste leere Netze aus, die von polnischen Trawlern übernommen wurden. Diese schleppten die Netze, ohne sie zu irgendeinem Zeitpunkt an Bord zu hieven oder in Küstengewässer einzulaufen. Nach Abschluß des Schleppvorgangs fuhren die 110 Dazu Schalk, H., Zu den Zeichen selbst: Der Sinn der Bedeutung, in: Journal Phänomenologie 13, 2000, S. 2 f., 2. 111 Braselmann, P., Neun Sprachen vor Gericht, in: Die Zeit vom 22. Mai 1992, S. 48.

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britischen Trawler längsseits neben die polnischen Schiffe und hievten die Netze, deren Enden ihnen von den polnischen Schiffen übergeben wurden, an Bord. Sie entnahmen deren Inhalt und brachten den Fisch in das Vereinigte Königreich.“112 Es geht bei diesem Streit um „die Verhinderung von Zollhinterziehungen und der sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die eigenen Mittel der Gemeinschaft“.113 Der Normtext, um dessen Lesart gestritten wird, ist der Artikel 4 der Verordnung 643 Nr. 802 / 68 als „gemeinsame Begriffsbestimmung für den Warenursprung“, der wiederum für die Erhebung von Zollabgaben ausschlaggebend ist. In den für die Rechtssache 100 / 84 einschlägigen Sätzen besagt dieser Artikel: „1) Waren, die vollständig in einem Land gewonnen oder hergestellt worden sind, haben ihren Ursprung in diesem Land. 2) Als vollständig in einem Land gewonnene oder hergestellte Waren gelten: (...) e) Jagdbeute und Fischfänge, die in diesem Land erzielt worden sind. f) Erzeugnisse der Seefischerei, die von Schiffen aus gefangen worden sind, die in diesem Land ins Schiffsregister eingetragen oder angemeldet sind und die die Flagge dieses Landes führen;. . .“114

Ausschlaggebend ist nun die Frage, wie das „fangen“ mit dem „vollständig gewonnen“ überein zu bringen ist. Auch der Generalanwalt resümiert in diesem Sinn, die von den Parteien vorgebrachten „jeweiligen Argumente (seien) gestützt auf das Wort ,gefangen‘ (Buchstabe f) einerseits und auf das Wort ,gewonnen‘ (Buchstabe h) andererseits“.115 Die Gretchenfrage für die Berechtigung, Zollabgaben zu erheben, ist dann die, wie diese Ausdrücke semantisch abzuklären sind. Der Generalanwalt bringt diese Kontroverse um den Ursprung von Fisch als Ware auf den Punkt, an dem juristisch alles hängt, wenn er festhält: „Ihre Ansichten unterscheiden sich ( . . . ) in der Frage des Zeitpunkts, in dem der Fang stattfindet: Während die eine Partei die Ansicht vertritt, dieser Zeitpunkt falle mit dem Zeitpunkt zusammen, zu dem der Fisch ins Netz gerate, meint die andere, maßgeblich sei das Hieven des Netzes an Bord.“116 Auf der einen Seite ist der Kommission als Klägerin „die deutsche Fassung sehr sachdienlich“ dafür, in ihrem Interesse zu untermauern, dass „ ,gefangen‘ gleichbedeutend mit ,einfangen‘“ sei. Und das „bedeute“ eben „im Bereich der Schleppnetzfischerei ( . . . ) in dem vom Schiff hinter sich hergezogenen Netz festgehalten“. EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1178, Rn. 3 (Kommission / Vereinigtes Königreich). EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1175 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 114 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1179, Rn. 7 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 115 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1173 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 116 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich): (Hervorhebg. durch die Verf.). 112 113

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Die Kommission „nimmt mit anderen Worten an, es herrsche zwischen beiden Wörtern generell Synonymie, wobei das eine, nämlich einfangen, ihre Interpretation des konkreten Textes noch mehr stütze als ,gefangen‘.“117 Vordergründig mag ein nicht allzu intensiver Blick in das reich belegte Grimmsche Wörterbuch die Kommission bestätigen. Es führt an erster Stelle für das Stichwort „gefangen“ an: „einen gefangen nehmen, halten, führen, setzen“118, versagt sich aber schon in der Gegenprobe der gewünschten Eindeutigkeit.119 Die Kommission hält sich daher auch lieber an das textlich Nächstliegende und verweist zur Rechtfertigung ihrer Ansicht auf den französischen Wortlaut, der mit dem italienischen, griechischen, dänischen und niederländischen Wortlaut kompatibel sei.120 644

Gerade aber der niederländische Ausdruck „ut de zee gewonnen“ weist, zumindest für den deutschen Sprecher, nach erstem Augenschein in die Richtung des Standpunkts der Beklagten. Und die britische Regierung kann denn auch entlang dieses Signifikanten zwanglos die Brücke in die heimischen Gefilde des englischen Wortlauts „taken from the sea“ bauen. Nimmt man diese ungewöhnliche, als konstruiert zu vermutende Wendung Wort für Wort ins Deutsche herüber, so besagt sie genau den Standpunkt der Klägerin, dass der Fisch „aus der See genommen“ zu sein hat, um eben als „gefangen“ gelten zu können. Gegenüber der Bivalenz von „fangen“, so sekundiert hier eine sprachwissenschaftliche Analyse, „ist – anders als in der Verhandlung vermutet – auch das niederländische uit de zee gewonnen genauso wie taken from the sea zu verstehen. Beide Ausdrücke bedeuten ,herausgezogen‘ und sind somit eindeutig.“121 Den Gewässern sprachlicher Unsicherheit entkommt die britische Regierung damit allerdings nicht. Es sind noch nicht einmal zwei konträre Versionen des Normtextes gewonnen. Selbst ein solches Moment einer gewissen Klarheit durch Konfrontieren löst sich schon in dem Moment wieder in semantische Beunruhigung auf, in dem anschließend das französische „extraits de la mer“ sowie das italienische „estratti de la mar“ ins Spiel kommen. Auf den ersten Blick mag hier zwar die Signifikantenkette scheinbar mühelos in die von der Beklagten ins Auge gefasste Richtung gleiten. Der italienische Wortlaut mag im Übergang zu der von der Kommission favorisierten Sprache, dem Deutschen, noch entgegenkommend erscheinen, nämlich mit der Umschreibung „herausziehen, ausziehen“ oder auch 117 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 66. 118 Grimm, J. / Grimm, W., Deutsches Wörterbuch. Band 4. Forschel-Gefolgsmann, 1984, Sp. 2121. 119 Vgl. Grimm, J. / Grimm, W., Deutsches Wörterbuch. Band 3. E – Forsche, 1984, Sp. 175. 120 Siehe EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1172 (Kommission / Vereinigtes Königreich). Dort auch zur Anführung der fraglichen Ausdrücke in den verschiedenen Sprachfassungen der Vorschrift durch den Generalanwalt. 121 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 66.

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„entnehmen, herausholen, herausnehmen“ für „estrarre“; zumal sich als Beispiel etwa auch die Wendung „estrarre il sal dall’acqua marina“ findet. Offen für mehr als nur Nuancen bei solch intersprachlichem Transfer bleibt „estraggere“ dennoch. Denn dieses Wort findet sich ausgerechnet für die Umschreibung von „gewinnen“122, so dass man, wie im Übrigen auch für das französische „extrait“, den Bogen zum Bild des „Auszugs“, des „Extrakts“ schlagen kann,123 das der von der Kommission präferierten Vorstellung vom Fischfang nahe kommt. Der Fisch wird isoliert und separiert, „von seiner Umgebung getrennt“124; und er wird als ein „Auszug“ an Nahrung für den Menschen stabil konzentriert, „festgehalten“.125 So weit geht die Kommission in ihren Anstrengungen einer Grammatik aller- 645 dings nicht. Das Beispiel zeigt aber, dass Lexikographie das Spiel um Bedeutung nicht beendet, sondern es erst in Schwung bringt. Wörterbuchbelege ziehen keineswegs von der Sprache vorgegebene Grenzen zulässigen Sprechens, sondern geben nur Anregungen für unvorhergesehene Verständnisvarianten. Auf Kreuzproben der entsprechenden Belege zwischen den Gemeinschaftssprachen soll, trotz des Gebots von deren Gleichberechtigung, deshalb hier verzichtet werden. Sie könnten die sprachliche Vielfalt nur weiter vermehren126 und das „Spiel der Differenzen“ noch unübersichtlicher machen.127 Der Gewinn für die britische Regierung aus der lexikalischen Essenz der Wörter droht, anders gesagt, wieder zu schwinden. Ertragreich scheint zunächst zwar noch der französische Wortlaut; und in der semantischen Tendenz des „tirer une chose d’un milieu“ wird das „extraire“ auch noch eine Rolle für diese Argumentation spielen. Der Blick auf die Umschreibung „obtenir une substance en la séparant du corps dont elle fait partie“ muss die britische Freude am sprachlichen Fund nämlich gleich wieder trüben.128 Bei näherem Hinsehen ergeben auch der französische und 122 Zum Beleg Sansoni, Dizionario delle Lingue italiana e tedesca. Wörterbuch der italienischen und deutschen Sprache. Parte prima. Erster Teil. A. bacolo, 1970, S. 512. 123 Für französisch „extrait“ entsprechend „extraire“ als „Auszüge machen“, „die Quintessenz aus etwas ziehen“ siehe Weis, E., (Hrsg.), Langenscheidts Großwörterbuch Französisch. Teil 1 Französisch – Deutsch, 1979, S. 388. Für italienisch „estratto“ entsprechend „estrarre“ als „extrahieren, entziehen“ siehe Sansoni, Dizionario delle Lingue italiana e tedesca. Wörterbuch der italienischen und deutschen Sprache. Parte prima. Erster Teil. A . bacolo, 1970, S. 512. 124 Vgl. EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1170 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 125 Vgl. EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1172 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 126 Dazu Martiny, D., Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, in: ZeuP 1998, S. 227 ff., 234 ff., 236 ff. 127 Allgemein dazu im Zusammenhang mit dem Problem des Normtextes und der Arbeit damit Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 505 ff. 128 Zum Beleg siehe Larousse, Grand Larousse de la langue française. En six volumes. Tome troisième ES – INC, 1973, S. 1841.

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der italienische Wortlaut, genauso wie für das deutsche „fangen“, „zwei Sememe, die nicht disjunktiven Charakter haben“. Die translatorisch lexikalische Reihe für „extraire“ reicht von „gewinnen“ über „herausziehen“ bis hin zu „entnehmen“.129 „Dieselbe Situation ist in den italienischen und französischen Wörtern gegeben.“130 Demnach „kann die Wendung ,extraits de la mer‘ oder ihre Entsprechung in der griechischen, französischen, italienischen und niederländischen Fassung der Verordnung 802 / 68 sowohl ,aus dem Meer herausgenommen‘ als auch ,vom Meer getrennt‘ bedeuten. Selbst wenn die in der englischen Fassung verwendete Formel ,taken from the sea‘ die Bedeutung besitzt, die das Vereinigte Königreich ihr beimißt, nämlich die der ,vollständigen Entfernung aus dem Wasser‘, steht dem der in der deutschen Fassung der Verordnung verwendete Begriff ,gefangen‘ gegenüber ( . . . ).“131 646

Von daher wundert es nicht, dass gerade die britische Regierung hier der „einigermaßen absurde(n) Übung, alle Hilfsmittel der romanischen und germanischen Philologie aufzubieten, um in das Partizip ,gefangen‘ diese oder jene Bedeutung hineinzulesen“, frönt, wie der Generalanwalt meint.132 Um für ihren Prozessstandpunkt an Wortlaut zu retten, was zu retten ist, strapaziert sie „die Etymologie der im französischen und italienischen Text verwendeten Wörter“. Sie hofft, so für die Ausdrücke „extrait“ und „estratto“133 doch noch aufgrund von deren Herkunft vom lateinischen „extrahere“134 den Beweis antreten zu können, sie würden, wie dieser Term, „herausziehen“ bedeuten. Und „herausgezogen“ sei der Fisch nun einmal „erst, wenn die Netze, in denen er sich befindet, aus dem Wasser gehievt und an Deck des Schiffes geleert worden seien.“135 129 Zum Beleg siehe Weis, E. (Hrsg.), Langenscheidts Großwörterbuch Französisch. Teil 1 Französisch – Deutsch, 1979, S. 388. 130 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 66. 131 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1182, Rn. 15 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 132 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1173 (Kommission / Vereinigtes Königreich). Der Generalanwalt illustriert in guter Kenntnis seiner Muttersprache und des heimischen Rechts diese Ansicht dann in einer in der Tat gegen den Glauben an die Beweiskraft sprachlicher Bedeutung lesenswerten Weise damit, „daß der italienische Begriff ,estrazione‘ im hier gegebenen Zusammenhang einen Ursprung hat, der bestimmt nicht geeignet ist, den sprachwissenschaftlichen Streit zwischen der Kommission und dem Vereinigten Königreich als seriös erscheinen zu lassen. Dieser Begriff geht auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück und steht im Zusammenhang mit dem damaligen Gerangel verschiedener Zweige der staatlichen Verwaltung um die Kontrolle der Fischerei. Zum Schluß wurde diese als Industrie definiert; aber man mag es glauben oder nicht, ausschlaggebend war die Ähnlichkeit, die irgend jemand zwischen den Merkmalen der Fischerei und denjenigen des Bergbaus (im Jargon der Bürokratie ,industria estrattiva‘ genannt) erblickte.“ ,ebd., S. 1173 f. In der Tat so auch belegt durch Sansoni, Dizionario delle Lingue italiana e tedesca. Wörterbuch der italienischen und deutschen Sprache. Parte prima. Erster Teil. A . bacolo, 1970, S. 512. 133 Vgl. EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1172 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 134 Zum Beleg etwa Larousse; Grand Laroussse de la langue française. En six volumes. Tome troisième ES – INC, 1973, S. 1841. 135 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1172 (Kommission / Vereinigtes Königreich).

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Zwar bestätigen die Lexika einen solchen Blick in die Vergangenheit der fraglichen Wörter. Und man kann sich mit dem Griff zum „Kleinen Stowasser“ durchaus von dem damit behaupteten sprachlichen Tatbestand überzeugen; wenngleich schon wieder nicht ohne eine gewisse Selektivität, welche die etymologische Beweisführung in die Zirkelbahn zu schicken droht, zu beweisen, was sie beweisen soll.136 Denn der Stowasser stellt zur Wahl, sich dieses „extrahere“ im Deutschen der Gegenwart neben „herausziehen“ auch als „herausreißen“ zurechtzulegen. Wörterbücher und Etymologie lassen die Lesarten beider Parteien als legitim 647 erscheinen. Aber der EuGH muss trotzdem entscheiden: „Das Gericht gibt der Klägerin recht, es muß Zoll bezahlt werden.“137 So resümiert Petra Braselmann als Abschluss ihrer Analyse der grammatischen Argumente das Ergebnis des Streits um das Wort „fangen“ in der Rechtssache 100 / 84. „Damit verwirft“, so lautet weiter ihre Schlussfolgerung, das Gericht „letztlich die präziseren (niederländischen und englischen) Fassungen, also ,herausziehen‘, und monosemiert den polysemen Ausdruck in willkürlicher Weise, der nur durch den französischen, italienischen und deutschen Ausdruck mitabgedeckt wird.“138 Wie gut oder wie schlecht die Gründe auch sein mögen, die den EuGH bewogen haben, mit seinem Urteilsspruch den Weg einer Auslegung der Verordnung 802 / 68 zu gehen, den ihm der Generalanwalt gebahnt hatte, sie sind auf jeden Fall nicht willkürlich. Gerade eingedenk der linguistischen Grundweisheit der Arbitrarität von Zeichen 648 kann dem Gericht nicht einfach der Vorwurf der Willkürlichkeit dafür gemacht werden, dass es sich darauf festlegt, dass „( . . . ) fangen im Netz gefangennehmen (bedeutet)“.139 Nichts an der Sprache hindert, sich für einen Ausdruck auf diese oder jene Bedeutung zu verlegen, und sei sie auch ungewöhnlich.140 „Laßt uns nicht vergessen“, so Wittgenstein, „daß ein Wort keine Bedeutung hat, die ihm gleichsam von einer von uns unabhängigen Macht gegeben wurde“;141 und er 136 Laut Wittgenstein, L., Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Bd. 6, 1984, S. 173 ist es ohnehin das Schicksal des Beweisens, dass „nichts hinter dem Beweis“ für ihn einzustehen vermag. 137 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 66. 138 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 66. Allgemein zum Problem der Polysemie Müller, F., Warum Rechtslinguistik? Gemeinsame Probleme von Sprachwissenschaft und Rechtstheorie, in: Erbguth, W. / ders. / Neumann, V. (Hrsg.), Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch. Gedächtnisschrift für Bernd Jeand’Heur, 1999, S. 29 ff., 33 ff. 139 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 140 Siehe zur „Autonomie der Bedeutung“ Davidson, D., Denken und Reden, in: ders., Wahrheit und Interpretation, 1990, S. 224 ff., 237 f.; sowie ders., Kommunikation und Konvention, in: ebd., S. 372 ff., 385 f.

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warnt davor, zu glauben, „daß man eine Art wissenschaftlicher Untersuchung anstellen könnte, um herauszufinden, was das Wort wirklich bedeutet.“142 In diesem Fall also eine linguistische Untersuchung der genauen Beschreibung des Fischfangs durch die Verwendung von „herausziehen“. 649

In rechtsmethodischer Terminologie geht die Kritik am EuGH unter der Hand von einer fest im Normtext steckenden Bedeutung aus, so wenn sie davon spricht, „daß Übersetzungen oft nur teiläquivalent sind; die englische und niederländische Fassung ist viel spezifischer als die übrigen.“143 Woran soll sich das bemessen? „Ein Ideal der Genauigkeit ist nicht vorgesehen; wir wissen nicht, was wir uns darunter vorstellen sollen“.144 Im vorliegenden Verfahren zeigt sich das deutlich, die Beteiligten sind sich in dieser Frage alles andere als einig. Für den Generalanwalt kann im Zusammenhang der Verordnung 802 / 68 von Präzision nicht die Rede sein. Mit einer in solchen Zusammenhängen bei Juristen seltenen Unverblümtheit bekennt er, „daß ich zwar die Weisheit des Gemeinschaftsgesetzgebers bewundere, jedoch nicht seine schludrige und allzu oft ungenaue Sprache.“145 Für die beklagte britische Regierung liegt der semantische Wert der verschiedenen sprachlichen Fassungen des streitigen Ausdrucks „taken from sea“ („gefangen“) gleichfalls nicht in einer punktgenauen und unzweifelhaften Erfassung des fraglichen Vorgangs, sondern darin, „daß die Verfasser der Verordnung eine allgemeine Formulierung gebraucht und sich nicht auf den Begriff des ,Einfangens‘ bezogen“ hätten.146

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Maßstäbe für eine Bestimmtheit der fraglichen Normtexte gibt es nur von den kommunikativen Zwecken her.147 Die Frage etwa, ob ihr Mann wieder zu Hause sei, beantwortet die Gattin eines englischen Trawlerkapitäns mit aller Präzision, die man sich wünschen kann, wenn sie sagt, nein, er sei noch „auf Fischfang“. Und sie würde von ihrer Nachbarin wohl mit einem merkwürdigen Blick bedacht, wenn sie statt dessen antwortete: „No, he’s still taking fish from the sea.“ Ein Wort „bedeutet etwas, weil“ es „in der Kommunikation eine bestimmte Leistung er141 Wittgenstein, L., Das Blaue Buch. Werkausgabe Bd. 5, 1984, S. 52. Eingehend rechtslinguistisch dazu Busse, D. / Christensen, R. / Jeand’Heur, B. / Müller, F. / Sokolowski, M. / Wimmer, R., Gespräch über Strukturierende Rechtslehre und praktische Semantik, in: Müller, F. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 189 ff., 189 u. öfter. 142 Wittgenstein, L., Das Blaue Buch. Werkausgabe Bd. 5, 1984, S. 52. 143 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 66. 144 Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, 1984, § 88. 145 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1173 (Kommission / Vereinigtes Königreich). Dazu auch Martiny, R., Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, in: ZeuP 1998, S. 227 ff., 240 f. 146 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1181, Rn. 11 (Kommission / Vereinigtes Königreich): (Hervorhebg. durch die Verf.). 147 Im Hintergrund stehen kommunikative Mechanismen wie sie die Griceschen Konversationsmaximen beschreiben. Vgl. Grice, H. P., Logik und Konversation, in: Meggle, G. (Hrsg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, 1979, S. 243 ff.

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bringt.“148 Umgekehrt ergibt sich von den kommunikativen Anforderungen her, was „exakt“ oder „unexakt“ genannt werden soll und kann.149 „ ,Unexakt‘, das ist eigentlich ein Tadel“; der Vorwurf der Willkür an die Adresse des EuGH bestätigt das. „Und ,exakt‘ ein Lob. Und das heißt doch: das Unexakte erreicht sein Ziel nicht so vollkommen wie das Exakte. Da kommt es also auf das an, was wir ,das Ziel‘ nennen.“150 Hier ist die Kritik am EuGH eigentlich auf der richtigen Spur, denn linguistisch ist dieses Ziel in Bezug auf die Verordnung 802 / 68 für die „Frage des Ursprungslandes der Ware“, „die Klärung des Begriffs ,Fangen‘, der für die Zollverordnung entscheidend ist.“151 Rechtstheoretisch liegt das Problem nicht darin, wie genau die eine oder andere Fassung der Verordnung in sich sei, sondern in der Bestimmbarkeit des Normtextes als Maßstab der Entscheidung.152 Und so stellt es sich für jeden Normtext und für jede seiner nationalsprachlichen Fassungen gleichermaßen. Ansatzpunkt einer logischen Semantik des Fischfangs ist die Behandlung von 651 „fangen“ als Handlungsverb. Der Streit darum lässt sich etwa mit Hilfe der Unterscheidung von Gelingen und Erfolg führen. Reicht es für ein angemessenes Verständnis aus, wenn der Akt der Gewahrsamsnahme gelungen ist, das heißt, wenn man das Opfer im festen Griff hat153, erschöpft sich also die Handlung des Fischfangs im Gelingen? Das ist der Standpunkt der Kommission, der seinen Ausdruck in der Gleichsetzung von „fangen“ und „von der Umgebung getrennt“ findet.154 Die Parteien sind sich darüber einig, dass dies das Gelingen des Fischfangs ausmacht; auch die britische Regierung räumt ein, dass „das Schleppen des Netzes tatsächlich einen wichtigen Vorgang beim Fischfang darstelle“.155 Nur sei das eben nicht der „wesentliche“ Teil der Angelegenheit. Oder kommt es darüber hinaus auch noch darauf an, abzuwarten, ob es dem Opfer noch gelingt, im letzten Moment das Weite zu suchen? Dann bliebe der Erfolg versagt. Ist also erst dann von „fangen“ zu reden, wenn der Erfolg endgültig ist? Dies ist der Standpunkt der britischen Regierung. Hier sieht man erneut, dass sprachliche „Beweisgründe“ keine dem Normtext bereits vorgängig eigene Bedeutung nachzuweisen vermögen. Mit einem „Beweis“ 148 So auch Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 66. 149 Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, 1984, § 88. 150 Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd. 1, 1984, § 88. 151 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 64. 152 Ausführlich zum theoretischen Hintergrund F. Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl., 1997, Rn. 163 ff. 153 Das mag an die hier allerdings nicht relevante Notwendigkeit erinnern, auch noch in Bezug auf den Versuch zur Gefangennahme zu differenzieren, wie es bei der strafrechtlichen Würdigung eines Akts der Freiheitsberaubung eine Rolle spielen könnte. 154 Vgl. EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1173 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 155 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1181, Rn. 13 (Kommission / Vereinigtes Königreich).

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dieser Art verhält es sich, wie es Wittgenstein sogar für den am härtesten angesehenen, den mathematischen herausstellt: „Der Beweis ändert die Grammatik unserer Sprache, ändert unsere Begriffe. Er macht neue Zusammenhänge, und er schafft den Begriff dieser Zusammenhänge. (Er stellt nicht fest, daß sie da sind, sondern sie sind nicht da, ehe man sie nicht macht.)“156 652

Genau das ist der Weg, den die Parteien mit ihrer „Klärung des Begriffs ,Fangen‘“157 gehen, um sich diesen als „Ausdruck ihres Interesses“158 an Recht jeweils erst zu schaffen. Hier ergibt sich das vor allem aus dem „Ziehharmonikaeffekt“ des Identifizierens von Handlungen. Je nach Benennung des Anfangs und eines Endes, fällt die Antwort auf die Frage, was die Handlung eigentlich ausmacht, was sie „ist“, verschieden aus.159 Was also ein Fischfang sei, ist weder in der „Sache“ bestimmt, da diese erst in der Sprache zu einer solchen verdichtet wird; noch wird es durch die Sprache fixiert, da diese es ist, die in ihrem Reichtum die Vielfalt der Sache gerade erzeugt. Das Gericht lässt darüber auch keinen Zweifel, wenn es konstatiert, dass „eine vergleichende Untersuchung der verschiedenen sprachlichen Fassungen der Verordnung keine Schlußfolgerung zugunsten der vorgetragenen Ansichten (erlaubt), so daß man aus der verwendeten Terminologie rechtlich nichts ableiten kann.“160 Damit wird wieder deutlich, dass es hier nicht um Fragen der Präzision oder um die einer Bestimmtheit der Aussage gehen kann. Es ist gerade die Offenheit der Semantisierung, die es erlauben soll, über eine Form des Fischfangs zu befinden, an die vorher so recht niemand gedacht hatte. Die Kommission etwa will daraus Kapital für sich schlagen, dass „die Verordnung Nr. 802 / 68 ( . . . ) gemeinsame Fangaktionen der hier gegebenen Art im übrigen nicht (erwähne)“.161 Für die Parteien kommt es eben darauf an, die Verordnung 802 / 68 für ihr jeweiliges Interesse semantisch zu vereinnahmen.

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Das macht den praktischen Sinn der Synomisierung von „fangen“ und „einfangen“ aus, den der Generalanwalt und die linguistische Kritik in komplementärer Weise verkennen. Der erste, indem er meint, dass mit dem entsprechenden Bemühen der britischen Regierung „in gewisser Weise ein falscher Ton vorherrscht“.162 Die zweite, wenn sie schreibt, „unter linguistischem Aspekt irren hier sowohl die 156 Wittgenstein, L., Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Bd. 6, 1984, S. 166. 157 Vgl. Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 64. 158 Vgl. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, 1984, § 570; zur Behandlung des Problems der Genauigkeit: § 88. 159 Ausführlich dazu Harras, G., Handlungssprache und Sprechhandlung. Eine Einführung in die handlungstheoretischen Grundlagen, 1983, S. 23 ff. 160 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1182, Rn. 16 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 161 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1180 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 162 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich).

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Kommission als auch die Briten in der Wahl ihrer Argumente. Das Synonymie-Kriterium hat hier nichts zu suchen und es ist darüber hinaus widersprüchlich angewendet: Erstens gibt es keine absolute Synonymie auf Systemebene, d. h. es gibt nicht zwei Wörter, die in allen denkbaren Kontexten wirklich dasselbe bedeuten.“163 Das zu bestreiten hieße natürlich, ein halbes Jahrhundert hinter Quines furiose Kritik des ersten Dogmas des Empirismus zurück zu fallen.164 Seit ihr kann man nicht mehr erwarten, sich im Sinn der Identität „eine akzeptable Relation der Bedeutungsgleichheit zurecht(zu)legen“.165 Allerdings lässt Quines pragmatisierende Überwindung empiristischer wie auch linguistischer Dogmen die Synomisierungsbemühungen der Parteien im vorliegenden Fall gar nicht so widersprüchlich aussehen, wie Braselman meint, wenn sie schreibt: „Nimmt man zweitens Synonymie an, die ja in einem konkreten Text durchaus möglich ist, hält man also zwei Wörter für bedeutungsgleich, dann ist es widersinnig, auf ihren Bedeutungsunterschied abzuheben.“166 Das gälte aber nur dann, wenn man glaubte, dass Wörter in ihrer Bedeutung gleich „sind“. Anders sieht es aus, wenn man danach fragt, was denn Wörter in ihrer Bedeutung gleich „macht“, und zwar mit Gewalt, wie es Wittgenstein dem Wörterbuch nachsagt.167 Den Schlüssel dazu liefert ausgehend davon, dass die „Bedeutung eines Wortes ( . . . ) das (ist), was die Erklärung der Bedeutung erklärt“, Wittgensteins Bemerkung, damit könne diese Erklärung an die Stelle des Wortes treten.168 Dann ist es sehr wohl denkbar, dass zwei unterschiedliche, auch konträre Bedeutungsaussagen in unmittelbare Konkurrenz um die eine Bedeutung eines Wortes treten und sich diese in dem Maß gleich machen, in dem sie durchgesetzt werden. Vor Gericht geht es den Parteien stets darum, allein ihre eigenen Erklärungen als jene „Erklärung der Bedeutung“ an der Stelle169 eines Worts des Normtextes einzusetzen. Sie wollen so, dass es in ihrer eigenen Macht steht, welche Bedeutung ein Wort hat. Die von den Parteien im vorliegenden Verfahren gemachten Vorstöße 163 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 65. 164 Siehe Quine, W. v. O., Zwei Dogmen des Empirismus, in: ders., Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, 1979, S. 27 ff., v. a. 29 ff. Weiter auch ders., Das Problem der Bedeutung in der Linguistik, in ebd., S. 51 ff., 59 ff. 165 Vgl. dazu Quine, W. v. O., Unterwegs zur Wahrheit. Konzise Einleitung in die theoretische Philosophie, 1995, S. 21. 166 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 65. 167 Vgl. Wittgenstein, L., Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, 1984, S. 445 ff., 480. 168 Siehe Wittgenstein, L., Philosophische Grammatik, Werkausgabe Bd. 4, 1984, §§ 23 ff. 169 Zum „intransitiven“ Sinn von Bedeuten als Remedium gegen Hypostasierungen von Bedeutung siehe Quine, W. v. O., Der Begriff des Gebrauchs und sein bedeutungstheoretischer Stellenwert, in: ders., Theorien und Dinge, 1985, S. 61 ff., 63 ff.

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einer Synonymisierung sind die sprachliche Praxis eines semantischen Alleinvertretungs-, eines Totalitätsanspruchs auf den Normtext. 654

So gesehen ist es nicht ein „falscher Ton“, den die britische Regierung mit ihrem „Hinweis ( . . . ) auf die Folgen eines möglichen Reißens der Netze“ anschlägt; als Hinweis darauf, „der Fisch würde dann verloren gehen und könne infolgedessen erst als gefangen bezeichnet werden, wenn die Netze ohne Zwischenfälle an Bord gehievt worden seien“.170 Es ist genau der Streit um den Sinn des Artikels 4 Buchstabe f der Verordnung Nr. 802 / 68 von den „Erzeugnissen der Seefischerei“, „die von Schiffen aus gefangen worden sind“171, die in einem bestimmten Land beheimatet sind. Es zeigt auch nicht, wie der Generalanwalt meint, „daß die Parteien nur oberflächlich auf die Bedeutung des Wortes ,gefangen‘ eingehen.“172 Im Gegenteil: an dem Streit, den sie, munitioniert mit den Mitteln der Philologie, ausfechten, liegt alles zutage, was Bedeutung der Sprache ausmacht. Man kann sich das auch noch am Ausdruck „einfangen“ klar machen: anhand des Hinweises, „daß einfangen im Gegensatz zu fangen das zusätzliche Sem ,wieder‘ enthält“.173 Dieser Umstand wurde vor dem EuGH zunächst zugunsten der britischen Position ins Feld geführt: Fängt man etwas oder jemanden wieder ein, so zeige das, dass noch etwas Wichtiges zum wirklichen „gefangen haben“ fehlt, nämlich die Beute in endgültig sicherem Gewahrsam zu haben. Das Umgekehrte zugunsten der Kommission ist aber nicht weniger plausibel: Etwas „wieder“ tun kann man nur, wenn man es schon einmal getan hat. Das aber heißt, dass dann ein in sich abgeschlossenes Handeln, eben das „gefangen haben“, erneut vonstatten geht. Der rechtliche Streit wird durch den sprachlichen nicht entschieden, sondern nur durch eine neue Runde gejagt. Es geht den Parteien ja darum, das mit der Gleichsetzung von „Fang mit dem Einfangen“174 abgesteckte Feld der Auseinandersetzung um den Normtext dadurch zu beherrschen, dass ihnen die Einsetzung ihrer jeweiligen Bedeutungserklärung für „einfangen“ in das Wort „gefangen“ glückt, sie damit dessen Bedeutung für sich entscheiden. Je nachdem, wie dieser Konflikt um den Normtext ausgeht, handelt es sich bei der fraglichen Fangaktion rechtlich um einen Vorgang, bei dem zwei Akteure einander zuarbeiten, um „eine gemeinsame Fangaktion“; oder aber um zwei voneinander zu trennende Abläufe, um ein bloßes „Zusammenwirken“ der beiden Akteure verschiedener Nationalität. Dreh- und Angelpunkt ist der Augenblick, in dem die Leinen der Netze von den polnischen Schiffen an die britischen übergeben wurden. Denn je nach Sicht der Dinge ist hier noch gar nichts i. S. des Tatbestands geschehen, so die Beklagte; 170 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich): (Hervorhebg. durch die Verf.). 171 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1179 (Kommission / Vereinigtes Königreich): (Hervorhebg. durch die Verf.). 172 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 173 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 65. 174 Vgl. EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich).

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oder aber schon alles, so die Klägerin und im Ergebnis das Gericht, das seinerseits dabei dem Generalanwalt folgt. Nach deren Ansicht haben die Fische mit dieser Übergabe die Grenze zur Europäischen Gemeinschaft übertreten. Der Fang war von den Polen bereits gemacht, und die Fische haben sich daher in „Immigranten“, in zollpflichtige Importe verwandelt. Der Generalanwalt markiert den Moment, in dem die Entscheidung über den 655 Normtext vollzogen ist: „Danach bedeutet gefangen im Netz gefangennehmen, ungeachtet der Gefahr, daß dieses reißen könnte.“175 Durch Sprache eindeutig begründet werden kann diese Entscheidung nicht; sie legt aber den Grund dafür, durch sie Recht zu entscheiden. Sie setzt das Recht nicht ein, sondern ist der „Einsatz“176, der in Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht auf dem Spiel steht. Das weiß der Generalanwalt, wenn er „gesunden Menschenverstand und Recht miteinander in Einklang“ bringen will.177 Sieht man von den professionell rhetorischen Obertönen ab, so setzt er seinen Schnitt in das Gewebe aus Bedeutungen mit dem Skalpell anerkannter juristischer Methodik, wie auch Martiny vermerkt: „Methodisch wurde das Resultat ( . . . ) nicht über den Wortlaut, sondern auf einem anderen Weg – nämlich der systematischen und teleologischen Auslegung gewonnen.“178 Das Gericht hat die Maxime, welcher dabei gefolgt wird, in einer seiner seltenen Äußerungen zur Methodik179 mit Verweis auf eine frühere180 für die hier streitige Verordnung noch einmal so formuliert, dass „( . . . ) die fragliche Vorschrift ( . . . ), falls die sprachlichen Fassungen voneinander abweichen, nach dem allgemeinen Aufbau und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden (muß), zu der sie gehört.“181 Nach dem Aufbau der Vorschrift bezieht sich innerhalb des streitigen Artikels 4 der Verordnung 802 / 68182 die Formel „von Schiffen aus gefangen“ unter f) auf 175 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich): (Hervorhebg. durch die Verf.). 176 Dazu Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 95. Allgemein zu den mit Diskursarten verbundenen Einsätzen als den „Verkettungen zwischen Sätzen“ Lyotard, J.-F., Der Widerstreit, 1987, S. 149. 177 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 178 Martiny, D., Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, in: ZeuP 1998, S. 227 ff., 242. 179 Vgl. Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 2. 180 Es ist dies das „Urteil vom 27. Oktober 1977 in der Rechtssache 30 / 77, EuGH Slg. 1977, S. 1999 ff. (Bouchereau). 181 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1182, Rn. 17 (Kommission / Vereinigtes Königreich). Dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 159 ff.; Martiny, D., Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, in: ZeuP 1998, S. 227 ff., 241 f. 182 Zum Wortlaut EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1179, Rn. 7 (Kommission / Vereinigtes Königreich).

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die durch sie erläuterte Wendung „vollständig in einem Land gewonnene oder hergestellte Waren“ unter 2). Dem Generalanwalt geht es dem entsprechend um eine engere Auslegung der Verordnung 802 / 68 mit der Tendenz: „Ein Fang, ein Schiff;“ und zwar auf den Nachsatz hin, dass dieses jeweils eine Schiff „in diesem“, nämlich dem als Ursprung der Ware anzusetzenden Land, „ins Schiffsregister eingetragen oder angemeldet“ ist „und die Flagge dieses Landes“ führt.183 656

Da es um die konkretisierende Bestimmung des Normtextes, um die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Eintritt der Rechtsfolgen geht, tut der Generalanwalt gut daran, sich dabei des handwerklich weit weniger anfechtbaren systematischen Arguments zu bedienen.184 Er verweist auf die „Zivilrechtslehre sämtlicher Mitgliedstaaten: Danach werden bekanntlich Fische als gefangen und somit in das Eigentum des Fischers übergegangen angesehen, wenn sie ins Netz geraten und dadurch ihre natürliche Freiheit verlieren.“185 Nicht ohne Ironie kann er das Gegenargument der britischen Regierung mit der Waffe ihrer heimischen Rechtsprechung schlagen. Er verweist auf ein, wie er leicht süffisant betont, „bedeutsames englisches Urteil“, nach dem „das Eigentum an Fisch, der in einem noch halb geöffneten Netz gefangen ist ( . . . ) nicht in so vollem Umfang (bestehe), daß der Berechtigte gegen jemanden, der sich des Fisches zu bemächtigen versuche, gerichtlich wegen ,trespass‘ vorgehe ( . . . ).“186 Ist das Netz aber geschlossen, so liegt es nahe fortzufahren, dann dürfte dies sehr wohl so sein. Diesen Umkehrschluss hält der Generalanwalt der Beklagten folglich auch entgegen: „Kann man daraus ableiten, daß die englischen Richter dann, wenn das Netz nicht halb geöffnet, sondern geschlossen wäre, wie es sicherlich in der vorliegenden Rechtssache der Fall war, den Besitzschutz in stärkerem Maße gewähren würden? Nach den Gesetzen der Logik ist dies wohl zu bejahen.“187

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Nun könnte man auf die Idee kommen zu sagen, die ganze Argumentation um den Zeitpunkt des Gefangenseins und um die Verteilung der Handlung auf polnische oder britische Fischer sei müßig. Das Netz sei doch ohnehin ein britisches. Der Fisch hat sich, wann auch immer man ihn end- und damit rechtsgültig als „gefangen“ ansieht, demnach nie irgendwo anders befunden als innerhalb der Grenzen der Gemeinschaft. Genau diesen Gedanken, „daß die Netze britisches Eigentum gewesen seien“, wehrt der Generalanwalt in einem zweistufigen Argument ab, das zugleich den Übergang von der systematischen zur teleogischen Interpretation bezeichnet. Vgl. EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1179, Rn. 7 (Kommission / Vereinigtes Königreich). Entsprechend zur „Rangordnung der Konkretisierungselemente“ Müller, F., Juristische Methodik, 7. Aufl., 1997, Rn. 494. 185 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 186 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 187 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 183 184

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Er erinnert für diese seines „Erachtens entscheidend(e)“ 188 Überlegung an das internationale Seerecht, nach dem „ganz eindeutig“ „ ,Schiff‘ nicht nur der Schiffsrumpf ist, sondern der Schiffsrumpf mit all seinem Zubehör, d. h. im Fall des Fischereifahrzeugs, mit Motor, Masten, Segeln, Tauen und den Fanggeräten, zu denen auch die Netze gehören:“189 Das Netz, in dem der Fisch zappelt, ist damit Teil „eine(r) ,res composita‘ und natürlich (nach einer allgemein anerkannten Vorschrift des Völkerrechts), wenn es sich auf See befindet, ein territoire flottant des Staates, zu dem es gehört.“190 Mit dem systematischen Argument kann der Generalanwalt seine Sicht als die 658 Bedeutung des Normtextes fixieren: in Bezug auf das, was das „vollständig gewinnen“ als „einfangen“ angeht und auf den „Ursprung der Ware“ als dem einen „Land“ in Gestalt von „Schiffen, die in diesem Land in das Schiffsregister eingetragen oder angemeldet sind und die die Flagge dieses Landes führen“:191 „Das Ergebnis, zu dem wir aufgrund dieser Begriffe gelangen können, ist offensichtlich: Der Fisch, der im Netz gefangen wird, gelangt hierdurch in den Zollbereich desjenigen Staates, dessen Flagge das Fischereifahrzeug führt, das dieses Netz verwendet.“192 Gewiss hat sich damit „im Ergebnis die deutsche Fassung gegen die anderen Sprachen durchgesetzt.“193 Das ließ sich angesichts des Normtextes und seiner „derart divergierenden Fassungen“194 offenbar nicht vermeiden. Daraus aber, wie Braselmann, den Schluss zu ziehen, der Streit hätte sich überhaupt „erübrigt“, hätte man auf eine „Urfassung“ als Maß aller semantischen Dinge rekurrieren können, um damit einer „sehr viel objektiveren Sprachpraxis“ mächtig zu sein, geht an der „Sache“ des Rechts als einem Verfahren vorbei.195 Selbst wenn man eine Urfassung hätte, um „die anderen Sprachfassungen nur als Übersetzungen behandeln“ zu können, so würde dies „die inhaltlichen Probleme nur auf die Ausarbeitung und Auslegung der Urfassung vorverlagern“, wie Martiny zu Recht geltend macht; ganz abgesehen davon, dass dies gegen geltendes Europarecht verstoßen würde, nämlich „in eklatantem Widerspruch zur Sprachengleichheit (stünde)“.196 Es gibt wenig Sinn, die alte Illusion einer dem Normtext immanenten Bedeutung durch Siehe EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 f. (Kommission / Vereinigtes Königreich). EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1174 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 190 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1175 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 191 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1179 Rn. 7, (Kommission / Vereinigtes Königreich). 192 EuGH Slg. 1985, S. 1169 ff., 1175 (Kommission / Vereinigtes Königreich). 193 Martiny, D., Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, in: ZeuP 1998, S. 227 ff., 242. 194 Ebd., S. 227 ff., 241. 195 Siehe Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 74 ff. 196 Siehe Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: EuR H. 1 1992, S. 55 ff., 74 ff. 188 189

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die neue einer jeweiligen „Mutter aller Texte“ zu ersetzen, nur weil die Last sprachlicher Unentschiedenheit im Europarecht gesteigert fühlbar wird. Demgegenüber zeigt sich der EuGH in der praktischen Arbeit, wie sie hier im Einzelnen nachgezeichnet wurde, bemerkenswert auf der Höhe avancierter Semantik und Übersetzungstheorie.

532.2 Die Nationalsprache als Argumentationsinstanz 659

Da im Europarecht die Bedeutungsdivergenz zugunsten einer einheitlichen Auslegung überwunden werden muss, verschiebt sich das Rechtfertigen der Entscheidung durch innersprachliche Bedeutungen auf das der Festsetzung einer bestimmten Bedeutungsvariante durch andere Auslegungselemente. Als Beispiel soll das Urteil des EuGH vom 12. 7. 1979 in der Rechtssache 9 / 79 dienen:197 Die deutsche Klägerin erhielt von der Raad van Arbeid Hengelo Zahlungen einer Familienbeihilfe nach niederländischem Recht. Diese Zahlungen wurden aber eingestellt, weil ihr Ehemann in Deutschland berufstätig war und dort Kindergeld bezog. Der „Raad van Arbeid“ meinte nämlich, im niederländischen Text von Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 574 / 72 sei zwar von der „echtgenote“ (Ehefrau) die Rede; doch sei darunter auch der „echtgenoot“ (Ehemann) zu verstehen, was den Anspruch der Klägerin ausschließen würde. Der EuGH hatte im Vorlageverfahren also zu entscheiden, ob mit „echtgenote“ im Sinn von Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 574 / 72 auch ein Ehemann gemeint sein könnte.

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Bei einer rein innersprachlichen Konkretisierung des Sinns von „echtgenoot“ käme man dank der insoweit trennscharfen Wirkung des grammatischen Elements nicht dazu, unter einer Ehefrau auch einen Ehemann zu verstehen. Der geschlechtsspezifische Unterschied kann nicht überbrückt werden, denn er liegt der sprachlichen Unterscheidung der Wortlaute „echtgenoot“ und „echtgenote“ zugrunde. Es hätte, um auch den Ehemann zu erfassen, ein geschlechtsneutraler Begriff wie „Ehegatte“ verwendet werden müssen. Die Bedeutung der niederländischen Fassung wäre also Ehefrau und nicht Ehemann, auch wenn alle anderen europäischen Sprachversionen den Ehemann einschlössen. Bezöge man die gleichberechtigte Verbindlichkeit aller Wortlaute auf diese Bedeutung innerhalb einer einzigen Sprachfassung, läge eine unlösbare Divergenz vor. Auch der EuGH stellt eine solche fest, sagt jedoch: „Die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung der Gemeinschaftsverordnungen verbietet es aber, diese Fassung für sich alleine zu betrachten, und zwingt dazu, die Vorschrift 197 EuGH Slg. 1979, S. 2717 ff., 2718 ff. (Koschniske / Raad van Arbeid): Diese Entscheidung wird sprachwissenschaftlich eingehender untersucht von Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGHUrteilen, in: Gemeinschaftsrecht 1992, S. 55 ff., 61 ff.

532 Die Wortlautgrenze in der Rechtsprechung des EuGH

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unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in den anderen Amtssprachen auszulegen.“ Er nimmt dann einen Textvergleich vor: er betrachtet die anderen Versionen und stellt fest, dass sie den Ehemann umfassen; schließlich „bestätigt“ er dieses Ergebnis durch das Ziel der Vorschrift. Der EuGH bedient sich also vor allem der systematischen Auslegung. Damit lässt er alle Wortlaute gleichermaßen in den Prozess der Rechtskonkreti- 661 sierung einfließen. Eine inhaltliche Verbindlichkeit einer einzelnen Variante ergibt sich nicht. Die einzelsprachliche Bedeutung bleibt aber als Argumentationsinstanz in dem von der grammatischen Auslegung eröffneten Plausibilitätsraum relevant. Das heißt, von ihrer Vorgabe kann man nur dann abweichen, wenn man stärkere Argum“‘. Hier ist dann für das Festlegen der Bedeutung auf die allen Fassungen gemeinsamen systematischen und teleologischen Auslegungselemente zurückzugreifen. Die Wortlaute der diversen Varianten bieten zunächst nur Plausibilitäten an, die im Lauf der Konkretisierung noch auf eine bestimmte gemeinschaftliche Bedeutung festgelegt werden müssen. Hier ist dies der „Ehegatte“, vor allem aufgrund des Gleichheitssatzes. Diese Norm liefert das Argument, um die Grenzen des holländischen Wortlauts zu überwinden. Wird nun mit dieser Vorgehensweise die rechtsstaatliche Grenzfunktion des Wortlautes übergangen oder wurde die niederländische Sprachfassung durch die Entscheidung des Gerichts vergewaltigt198? Die Wortlautgrenze wäre innerhalb dieser Fassung dann überschritten, wenn man allein diese für die Konkretisierung heranziehen wollte.199 Die Wortlautgrenze ergibt sich im Europäischen Gemeinschaftsrecht aber nicht 662 mehr zwingend aus dem konkretisierten Sinn einer einzelnen Sprachvariante, sondern erst auf einer weiteren Ebene mit Hilfe zusätzlicher Elemente. Das ist eine Konsequenz aus der Verbindlichkeit sämtlicher Wortlaute. So wie sich innerhalb einer Nationalsprache aus dem Wortlaut mehrere Bedeutungen ergeben können, unter denen man sich entscheiden muß, geschieht dies auch im Gemeinschaftsrecht: zunächst in der einzelnen Sprachfassung und dann auf der „gemeinschaftlichen Ebene“ aus den in allen Nationalsprachen vorkommenden Bedeutungsvarianten. Die Gemeinschaftsbedeutung wird erst in einem von den verschiedenen Sprachversionen umfassten Plausibilitätsraum ausgewählt. Mit dieser Anerkennung einer Mehrzahl von Varianten, die sich aus den verschiedensprachigen Wortlauten ergeben, kann der EuGH seine Rechtsentscheidung nicht mehr, wie herkömmlich die nationale Justiz, in einem normativen Konzept von Wörtlichkeit verstecken. Er ist gezwungen, die Bedeutungsfestsetzung aus anderen Erwägungen herzuleiten. Die aktive Sprachnormierung, die er dabei betreibt, So Braselmann, P., ebd., S. 62. Würde es sich bloß um einen offensichtlichen Übersetzungsfehler handeln, so entfaltete dieser Wortlaut natürlich keine Grenzfunktion. Hierzu auch Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 67 c, 310. 198 199

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5 Rechtsprechung des EuGH – 53 Das Recht auf Sprache

hat er in deren Vorgang ausdrücklich zu rechtfertigen. Er muss die tragenden juristischen Sachgründe offenlegen und greift dabei, nolens volens, auf andere Auslegungselemente zurück. So erklärt er etwa auch im Leitsatz der Entscheidung „Pierre Boucherau“: „Falls die Fassungen voneinander abweichen, muß die Vorschrift daher nach dem allgemeinen Aufbau und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.“200 663

Es ist aber zu beachten, dass die uneinheitlichen Versionen von Bedeutung trotzdem weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Man kann auf Systematik und Zweck nicht blind zurückgreifen; die festgestellten Varianten geben die Plausibilitätsräume vor, aus denen dann eine gemeinschaftliche Formulierung ausgewählt wird. Diese Spielräume entstehen zunächst aus der grammatischen Interpretation. Hierbei werden die herkömmlichen Verwendungsweisen der Begriffe auf ihren Alltagsoder Fachgebrauch hin untersucht und in ihren Kontext eingebettet. Dafür kann die Sprachwissenschaft gewisse Hilfen bieten. Allerdings ist bei der Bedeutungsfestlegung zu beachten, dass aufgrund der Funktion der Rechtstexte stets Zweckbestimmungen mit einfließen, die mit gängigen bedeutungstheoretischen Modellen nicht zu erfassen sind.201 Vor allem kann sprachwissenschaftlich keine für das Recht eindeutige Bedeutung ermittelt werden. Entscheidend ist daher nicht, ob Juristen tiefgründige philologische Erwägungen anstellen; sondern vielmehr, dass die angewandten normtextbezogenen Auslegungselemente rechtsstaatlich nachvollziehbar sind.202 Diese stellen Untersuchungsrichtungen dar, die dazu dienen, Kontexte in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. 203 Es geht nicht darum, das Unmögliche zu erreichen, d. h. entsprechend der positivistischen Doktrin eine objektiv schon feststehende Bedeutung nur aufzufinden. Vielmehr muss der Jurist die Wahl einer der Bedeutungsvarianten und damit seine sprachnormierende Tätigkeit durch bestimmte Konkretisierungselemente rechtfertigen. Auf die anderen Faktoren wird vom EuGH eher nur im Sinn einer unterstützenden Funktion hingewiesen; und jedenfalls wird die aktive Sprachnormierung204 nicht mehr in einem traditionell positivistischen normativen Konzept von Wörtlichkeit versteckt.

664

Insgesamt zeigt sich die Bedeutung von Art. 314 EG als sprach- und methodenbezogene Norm in der Arbeit des Gerichts sehr deutlich. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat mit dieser Vorschrift auf ein Problem reagiert, das in seinem UmEuGH Slg. 1977, S. 1999 ff., 2002, (Bouchereau). Busse, D., Rechtssprache als Problem der Bedeutungsbeschreibung. Semantische Aspekte einer institutionellen Fachsprache, in: Sprache und Literatur, 1998, Heft 81, S. 24 ff., 43. 202 Insoweit schlägt die linguistische Kritik an den sprachlichen Untersuchungen des EuGH bzw. der Generalanwälte bei Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: Gemeinschaftsrecht 1992, Heft 1, S. 55 ff., 73, nicht durch. 203 Christensen, R., Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 263. 204 Wimmer, R., Zur juristischen Fachsprache aus linguistischer Sicht, in: Sprache und Literatur, 1998, S. 8 ff., 20. 200 201

532 Die Wortlautgrenze in der Rechtsprechung des EuGH

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fang und seiner Dringlichkeit neu ist: das der Mehrsprachigkeit. Zwar stellt es sich in gewisser Weise auch in jeder Rechtsordnung von Einzelstaaten. Sprache ist nirgends ein homogenes System, sondern existiert, genau genommen, nur im Plural; und gerade im Recht werden ständig Konflikte um Bedeutungsdivergenzen ausgetragen. Aber innerhalb einer Nationalsprache lässt sich dieser Konflikt noch leichter hinter dem Mantel vorgeblicher Bedeutungserkenntnis verbergen. Eine derartige Entlastungsstrategie ist im Gemeinschaftsrecht nicht mehr möglich. Art. 314 EG ist insoweit ein Novum unter den methodenbezogenen Normen. Im Völkerrecht gibt es mit Art. 33 IV WVK eine gewisse Parallele.205 Aber diese konnte man noch auf die Besonderheiten des Völkerrechts zurückführen und entsprechend einschränken. Im Verfassungsrecht ist die Frage einer Mehrsprachigkeit auch innerhalb der einzelnen Sprache noch weitgehend verdrängt.206 Mit Art. 314 EG ist nun aber das Mehrsprachigkeitsproblem mitten im Recht einer entstehenden Verfassung gestellt. Dieser Artikel ist nicht lediglich eine Garantie von Sprachreservaten. Er stellt das methodische Problem, wie unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit eine juristische Entscheidung überhaupt getroffen werden kann. Methodisch liegen vor allem zwei Folgen auf der Hand: Zunächst werden für die 665 entscheidenden Richter die Anforderungen an grammatische Auslegung beträchtlich gesteigert. Das Nachschlagen im Wörterbuch oder die so genannte Lehnstuhlmethode (als Besinnen auf die persönliche Sprachkompetenz) können sich jetzt nicht mehr als bloß nachvollziehende Bedeutungserkenntnis maskieren. Außerdem muss der Richter eine Vielzahl von Nationalsprachen zur Kenntnis nehmen und deren Bedeutungsvariationen offenlegen. Aber nicht nur, dass die grammatische Auslegung komplexer wird. Vor allem wird jetzt endlich auch die Begründungslast deutlich sichtbar, die immer auf speziell juristischen Argumenten zur Entscheidung solcher Divergenzen liegt. Dabei tragen vor allem die Systematik und das objektiv teleologische Argument die Last der Sprachnormierung. Es zeigt sich dann, dass die Wortlautgrenze eine komplexe Größe, die nicht dem Text einfach abgelesen werden kann.

205 Vgl. dazu Schweitzer, M., Art. 248, Rn 7, in: Grabitz, E. / Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 102a – 248 EGV (Maastrichter Fassung), Stand Oktober 1999, 2000; Geiger, R., Art. 248, Rn 4, in: EG-Vertrag, Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 2. Aufl., 1995; Weber, A., Art. 248, Rn 8, in: Groeben, H. v. d. / Thiesing, J. / Ehlermann, C.-D., (Hrsg.), Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 5, Art. 210 – 248 EGV, Art. H-S EUV, 5. Aufl., 1997. 206 Eine gewisse Ausnahme stellt die Schweiz dar. Vgl. dazu Albrecht, U. / Schneider, C., Brauchen wir einen neuen Sprachenartikel, in: Gesetzgebung heute, 1990 / 3, S. 47 ff. sowie Albrecht, U. / Schneider, C., Brauchen wir einen neuen Sprachenartikel, in: Gesetzgebung heute, 1990 / 3, S. 121 ff. Die dortigen Regeln sind zwar sprachbezogen, indem sie Mehrsprachigkeit schützen, aber nicht methodenbezogen.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 53 Das Recht auf Sprache

532.3 Die Wortlautgrenze als Praxis einer Grenzziehung 666

Wo aber liegt die Grenze für die Kompetenz des Richters, über Sprache zu entscheiden, da doch eine derartige Grenze nicht bereits von der Sprache selbst gezogen wird? Der schon in den nationalen Rechtsordnungen schwierige Umgang mit der „Wortlautgrenze“ wird im Gemeinschaftsrecht durch die Mehrsprachigkeit noch weiter erschwert. Die Erfahrungen mit einer mehrsprachigen Rechtsordnung bringen einen in der Praxis tätigen Richter zu folgender Einschätzung: „Die Bedeutung des Wortlautargumentes ist aus zwei Gründen zu relativieren. Zum einen, weil jedenfalls in einer mehrsprachigen Rechtsordnung die Wortlaute oder wohl besser: die Wortbedeutungen auch beim optimalsten Übersetzungsversuch vielfach nie völlig übereinstimmen werden. Gerade Unterschiede in den verschiedenen Gesetzestexten können deutlich machen, dass ( . . . ) der ,richtige Wortlaut‘ jedenfalls fallbezogen sich mit keinem der verschiedensprachigen Gesetzestexte deckt. Solche Unterschiede können gerade in einem mehrsprachigen Gremium die Augen öffnen für Auslegungsalternativen, auf die man sonst vielleicht nicht gekommen wäre. Zum andern aus Gründen des Sprachwandels, eines Phänomens, das sich sogar im gleichen Gesetz finden kann – eine besondere Form von Mehrsprachigkeit. Für den deutschen Sprachbereich kommt ein dritter Grund hinzu: Es gibt gar nicht eine einheitliche deutsche Sprache; vielmehr unterscheiden sich die Sprachgebräuche in den drei Ländern Österreich, Deutschland und der Schweiz.“207 Sprachphilosophie und Linguistk nach ihrem heutigen Stand können diese zutreffend genannten Schwierigkeiten nicht etwa beseitigen, sondern müssen sie im Gegenteil noch dramatisieren. Donald Davidson zufolge wird es sogar immer „eine endlose Zahl verschiedener Sprachen geben“. Und zwar solche, die sich nicht dem Erfindungsreichtum beispielhungriger Linguisten verdanken, sondern Sprachen, „die alle mit den tatsächlichen Äußerungen eines Sprechers übereinstimmen“.208 „Denn wenn wir es genau nehmen, sprechen wahrscheinlich keine zwei Leute tatsächlich die gleiche Sprache.“209

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Nun soll es immer nur das eine Recht für alle geben. Das gebieten Grundsätze wie die Gleichheit vor dem Gesetz und die Rechtssicherheit. Für die Formulierung dieses einen Rechts gibt es aber im Gemeinschaftsrecht eine Vielzahl von Sprachen. Darüber hinwegsetzen kann sich der Jurist nicht; schon gar nicht der Richter, dem es obliegt, über Recht und Unrecht zu entscheiden. Das eine Recht darf nicht das Recht nur des Einen sein, darf nicht willkürlich gesprochen werden. Dagegen stehen Grundsätze wie die Fallgerechtigkeit und das Recht auf Gehör im Gerichtsverfahren. 207 Schubarth, M., Die Bedeutung der Mehrsprachigkeit der schweizerischen Gesetze für die höchstrichterliche Rechtsprechung in LeGes 2001 / 3, S. 49 ff., 52. 208 Davidson, D., Die zweite Person, in: DZfPh 2000, S. 395 ff., 397. 209 Davidson, D., ebd., S. 401.

532 Die Wortlautgrenze in der Rechtsprechung des EuGH

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Andererseits darf sich der Richter auch nicht dadurch behelfen, den Verfahrensbeteiligten nach dem Mund zu reden. Nur: welcher der vielen Sprachen soll sich der europäische Richter bedienen, um dem Buchstaben des Gesetzes die eine allgemeine Bedeutung zu verleihen? Die Aufgabe im Rechtsstreit ist nicht erst die Herstellung von Verständnis, son- 668 dern dessen Bewertung. Der Streit entsteht nicht aus einem Mangel, sondern sozusagen aus einem Überfluss an Verstehen. Beide Gegenparteien haben das Gesetz je auf ihre Weise durchaus verstanden. Es geht gerade um einen Konflikt einander ausschließender Lesarten desselben Gesetzes. Das führt zu einem Paradox: „Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur: Unentschiedenes!) vorliegt. Denn andernfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müßte nur noch ,erkannt‘ werden.“210 Beide Lesarten sind je in sich verständlich und gehören damit zur Sprache. Welche von beiden ist vorzuziehen? Der Richter erklärt nicht die Bedeutung, die der Text bereits vor dem Fall hatte, sondern er produziert für den Fall eine Lesart und stellt damit eine insoweit verbindliche Sprachnorm auf. Wie kann der Wortlaut des Gesetzes hier als Grenze wirken? Die Verknüpfung zwischen Gesetzgeber und Richter darf weder zu stark noch 669 zu schwach gefasst werden. Zu stark wäre es, wenn man vom Gesetzgeber verlangte, alle künftigen Lesarten und damit die Bedeutung seiner Texte im voraus zu determinieren. Diese Forderung des Positivismus scheitert an den sprachlichen Realitäten. Zu schwach gefasst wäre die Verknüpfung andererseits, wenn die Wahl des Ausgangspunkts für die Entscheidung ins freie Belieben des Richters gestellt wäre. Denn der Gesetzgeber kann durch die Vorgabe des Ausgangstextes den schöpferischen Prozess der Rechtsnormsetzung – linguistisch gesehen – nachdrücklich „irritieren“. In diesem Sinn könnte man das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und juristischem Entscheider als strukturelle Kopplung bezeichnen. Zu den Dienstpflichten etwa des Richters, den Normtext als Ausgangspunkt zu nehmen, kommen noch die methodenbezogenen Normen der Verfassung und ihre Präzisierung durch die Wissenschaft hinzu. So entsteht eine dreigliedrige Kette zwischen Gesetzgeber, Wissenschaft und Umsetzung, exemplarisch durch die Justiz. Die Rechtsnorm als die generelle Bedeutung des geltenden Rechts für „einen Fall wie diesen“ setzt der Richter. Hier ist der Gesetzgeber mit der Determination in aller Regel überfordert. Den Ausgangspunkt seiner Entscheidung muss sich der Richter aber von außen als Normtext vorgeben lassen. Andernfalls wäre die Beeinflussung durch den Gesetzgeber als rationaler Kern von Gewaltenteilung und richterlicher Bindung aufgehoben. Das verfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip ist eine Entscheidung für die Pra- 670 xis einer Grenze: es verlangt vom Rechts„anwender“, dem engeren, spezifischeren Kontext bei der Bedeutungsbestimmung den Vorrang einzuräumen. Unter den Vorgaben des durch den Normtext gesetzten Textformulars (des „Gesetzes“) und der 210

Luhmann, N., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 308.

31 Müller / Christensen

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5 Rechtsprechung des EuGH – 54 Recht auf Argumente

an die methodenbezogenen Normen des Primärrechts rückgebundenen Standards methodischer Zurechnung sind die Möglichkeiten zum Durchsetzen einer bestimmten Interpretationsweise im Europarecht deutlich stärker eingeschränkt und damit kontrollierbarer als in einem nur auf das politische Sprachspiel bezogenen semantischen Konflikt. Eine Grenze juristischer Textarbeit ergibt sich so als Relation zwischen drei Faktoren: Der vom Gesetzgeber verabschiedete Normtext als Zeichenkette muss Ausgangs- und Zurechnungsgröße der Entscheidung sein. Die von der Wissenschaft entwickelten methodischen Instrumentarien eröffnen Kontexte für die Bedeutungsbestimmung. Ausgehend von den methodenbezogenen Normen der Verfassung können diese Kontexte in eine Rangfolge gebracht werden, gleichzeitig sorgt der prozessrechtliche Rahmen des Gerichtsverfahrens für ihre Verendlichung. Außerdem gibt es zur weiteren Kontrolle den Instanzenzug, unterstützt von der begleitenden Kritik der Wissenschaft am Tun der Gerichte. All diese Faktoren, zusammengenommen, ergeben die Gesetzesbindung. Der Rechtsstaat ist nicht monologisch-richterbezogen, sondern diskursiv-verfahrensbezogen. Er verlässt sich nicht auf einsame Erkenntnis, sondern fordert eine öffentliche Diskussion, in der sich die besseren Argumente für die Lesart des Gesetzes durchsetzen sollen. Damit kommen für die Praxis der Grenzziehung zwei weitere Probleme in den Blick: einmal die Anforderungen an die Konstruktion von Sprachnormen als Rechtsnormen. Zweitens die Begründung der Entscheidung als Überprüfungsbasis und als Verarbeitung der im Verfahren vorgebrachten Argumente.

54 Rangfolge oder das Recht auf Argumente 671

Wenn man nicht länger davon ausgeht, die Rechtsnorm sei in der Bedeutung des Normtextes vorgegeben, wenn man sie als Konstruktionsaufgabe des Richters begreift, dann wird die Art und Weise der Rechtsnormerzeugung zum entscheidenden Maßstab. Die Konstruktion erfolgt, soviel wurde bei der Wortlautgrenze deutlich, mit Hilfe von Argumenten. Überprüfbar ist sie nur dann ausreichend, wenn sich eine Gewichtung oder eine Rangfolge dieser Argumente angeben lässt. In der europarechtlichen Literatur werden Möglichkeit und Notwendigkeit einer Rangfolge von Argumenten kontrovers diskutiert.211 Zum Teil wird behauptet, eine Rangordnung von Argumenten führe zu einer Isolierung der Auslegungsinstrumente und sei unverträglich mit der Aufgabe der Justiz, zu einer einzelfallbezogenen Abwägung zu gelangen.212 Andererseits wird eine solche Rangordnung im Interes211 Vgl. Riesenhuber, K., Die Auslegung, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 186 ff., 205 ff. 212 Zuleeg, M., Die Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in: EuR 1969, S. 97 ff., 99. Pechstein, M. / Drechsler, C., Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Riesenhuber, K. (Hrsg.): Europäische Methodenlehre, 2006, S. 91 ff., 106.

541 Die Diskussion von Vorrangregeln in der Literatur

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se der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht nur gefordert, sondern zum Teil auch mit sprachlichen Erwägungen begründet.213 Im Folgenden soll zunächst anhand der Vorschläge und der Kritik in der Literatur die allgemeine Möglichkeit einer Rangordnung erörtert werden. Dann wird das Problem in der Rechtsprechung des EuGH entwickelt und wird erprobt, ob dessen Ansätze verallgemeinert werden können.

541 Die Diskussion von Vorrangregeln in der Literatur

Oft wird die Debatte um Vorrangregeln im Gewand der sogenannten Aus- 672 legungslehren geführt. Diese haben immer schon versucht, eine Rangfolge juristischer Argumente vom Ziel der Interpretation her zu begründen. Diese Versuche waren allerdings schon auf der immanent theoretischen Ebene gescheitert. Denn weder lässt sich ein einheitlicher „Wille des Gesetzgebers“ aufweisen, noch war ein „Wille des Gesetzes“ zu finden, der die Vielfalt der Interpretationen um ein festes Zentrum gruppieren könnte. Ohne die Basis des Auslegungsziels werden aber auch die von der Auslegungstheorie abgeleiteten Vorrangregeln gegenstandslos. Erhalten bleibt jedoch das Problem: Wenn die Erzeugung einer Rechtsnorm aus einer Argumentation hervorgeht, muss man das Gewicht der vorgebrachten Argumente beurteilen können.

541.1 Eine Rechtserkenntnislehre kann keine Vorrangregeln begründen Häufig wird in der europarechtlichen Literatur vorgeschlagen, eine enge, am 673 Wortsinn orientierte Auslegung von einer weiteren, über ihn hinausgehenden zu unterscheiden:214 „Die grammatikalische Auslegungsmethode im Sinnverständnis der nationalen Methodenlehren erlangt dagegen ihre Bedeutung naturgemäß vor allem dann, wenn Rechtsbegriffe hinsichtlich ihres Inhaltes auf einen bestimmten Begriffskern begrenzt werden sollen. Die Mehrsprachigkeit des Gemeinschaftsrechts bedingt jedoch neben den rein linguistischen Problemen die Eigentümlichkeit, die aus den einzelnen Rechtsordnungen stammenden, augenscheinlich identischen Formulierungen und Begrifflichkeiten auf deren begriffliche Bedeutungsvielfalt zu untersuchen ( . . . ). Hier wachsen insbesondere der Rechtsvergleichung, der systematischen sowie teleologischen Methode, die auf das Ziel, den Geist, die Struktur und den Gesamtzusammenhang des Normgefüges abstellen, eine beson213 Vgl. Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 39; Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 34 f., 69. 214 Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnungen von Justiz und Hochschule, Teil I, (Hrsg.): Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1976, S. 7; Daig, H.-W., Zur Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bernstein, H. / Drobnig, U. / Kötz, H. (Hrsg.), Festschrift für Konrad Zweigert, 1981, S. 395 ff., 401.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 54 Recht auf Argumente

dere Aufgabe zu, die semantisch-textualen Ungereimtheiten auszugleichen und die tradierten Rechtsbegriffe dem Gemeinschaftsrecht anzupassen.“215 Hier springen die anderen Methoden also dann ein, wenn die Ermittlung des Wortsinns an den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts scheitert. Sie bilden sozusagen das zweite Glied der Auslegung. Eine derartige Rangordnung scheitert aber schon an der einfachen sprachlichen Tatsache, dass ein solcher Wortsinn auch unabhängig von den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts nicht einfach festgestellt werden kann. 674

Die europarechtliche Literatur hat auf diese Schwierigkeit reagiert, indem sie sich um eine sprachtheoretische Unterfütterung ihrer Position bemüht hat: „Vor allem treten Pragmatik und Semantik in der Alltagskommunikation und bei der Auslegung von rechtlichen Äußerungen in verschiedenen Erscheinungsformen und in unterschiedlicher Kombination und Intensität auf. So wird zur näheren Bestimmung oder zur Bestätigung einer semantischen Auslegung (z. B. Wortsinninterpretation) eine Rechtsvorschrift stets auf pragmatische Konventionen zurückgegriffen. Man kann diese – für die alltägliche Kommunikationspraxis ebenso wie für die juristische Interpretation typischen – Formen des Zusammenspiels von Pragmatik und Semantik als pragmatische Aspekte einer semantischen Interpretation bezeichnen.“216 Auch dieser Versuch, die ältere Tradition sprachtheoretisch zu reformulieren, scheitert daran, dass sich die gewünschten normativen Regeln in der Sprache weder semantisch noch pragmatisch nachweisen lassen.

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Tatsächlich ist die Aufgabe für die herkömmliche methodische Lehre unlösbar.217 Sie kann nicht zu einer Rangfolge juristischer Argumente kommen, weil es aus ihrer Sicht bei der Interpretation um die einheitliche Erkenntnis einer im Text vorgegebenen Bedeutung geht. Die Mittel dieser Erkenntnis sind dann gleichrangig, denn Erkenntnisinstrumente ordnet man nicht nach Gewicht, sondern allenfalls nach Erfolg oder Misserfolg. Bei einem Widerspruch zwischen den Ergebnissen verschiedener Konkretisierungselemente stellt sich dann nicht die Frage nach dem besseren Argument; sondern der Widerspruch wird in die Bedeutung hinein verlängert, die dann etwa als mehrdeutig oder inkonsistent gilt. Etwas anderes ergibt sich aber für die neue Sichtweise, die sich von der Fiktion des Ermittelns einer im Normtext vorgegebenen Bedeutung löst. Wenn die Bedeutung des Normtextes realiter in einem Argumentationsprozess erst hergestellt wird, dann stellen sich die Fragen nach dem besseren Argument und nach der Rangfolge mit systematischer Notwendigkeit.218 215 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 239. 216 Potacs, M., Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, S. 34. 217 Vgl. dazu Kaufmann, A., Gesetz und Recht, in: ders., Rechtsphilosophie im Wandel, 2. Aufl., 1984, S. 131 ff., m. w. N.; Hassold, G., Strukturen der Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 211 ff., 211 f.; Engisch, K., Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl., 1977, S. 235 f., Fn. 80; Pestalozza, Ch., Kritische Bemerkungen zu Methoden und Prinzipien der Grundrechtsauslegung in der BRD, in: Der Staat 1963, S. 425 ff., 433, jeweils m. w. N.

541 Die Diskussion von Vorrangregeln in der Literatur

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541.2 Sind Vorrangregeln prinzipiell unmöglich? Aus dem Scheitern einer überzeugenden Begründung von Vorrangregeln im 676 Rahmen der Rechtserkenntnislehre wird teilweise gefolgert, Vorrangregeln seien prinzipiell unmöglich.219 Es handle sich bei den Konzepten juristischer Methodik bloß um Handwerksregeln, denen schon im Hinblick auf ihre fehlende Einheitlichkeit eine Steuerungskraft nicht zukommen könne. Das Charakterisieren juristischer Methodik als Handwerksregel220 ist gewiss zutreffend. Aber daraus lässt sich kein Argument gegen Vorrangmodelle ableiten. Auch die wirklichen Handwerker sind es gewöhnt, jedenfalls unter dem Druck eines Architekten, Regeln und Präferenzen zu respektieren. Juristen müssen häufig das Einhalten von Regeln der Kunst in anderen Lebensbereichen überprüfen. Bei denen ihrer eigenen Kunst221 sind sie zwar, wie das Praktizieren des Rechtsbeugungsparagraphen und des gerichtlichen Willkürverbots zeigt, sehr vorsichtig. Beim Beurteilen anderer Berufsgruppen, wie etwa Mediziner oder Architekten, können sie gelegentlich strenger werden. All das belegt jedenfalls, dass Kunstregeln durchaus bindend sind und auch Präferenzen kennen. Nur deswegen konnte Robert Brandom in seiner Semantik die normativen Maßstäbe gerade der alltäglichen Sprachspiele entfalten.222 218 Vgl. als Nachweis der bisherigen Versuche zur Erarbeitung von Rangfolgekatalogen Rahlf, J., Die Rangfolge der klassischen juristischen Interpretationsmittel in der strafrechtswissenschaftlichen Auslegungslehre, in: Savigny, E. v. u. a., Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 14 ff., 17 ff. (Bejahung), 22 f. (Leugnung), 23 f. (unklare Stellungnahmen). Auch auf der Ebene der Argumentationstheorie wurde die Forderung, Argumente zu gewichten, wiederaufgenommen: Savigny, E. v., Die heterogene Basis als wissenschaftstheoretisch bedeutsames Merkmal der strafrechtsdogmatischen Argumentation, in: ders. u. a., ebd., S. 161 ff., 162; Clemens, Ch., Strukturen juristischer Argumentation, 1977, S. 20; Weinberger, O., Topik und Plausibilitätsargumentation, in: ARSP 1973, S. 17 ff., 24. – Siehe die vorliegende „Juristische Methodik“, Band I, Rn. 429 ff. 219 Vgl. zur Skepsis gegenüber einer Steuerung der Rechtspraxis durch Methodik: Haverkate, G., Gewißheitsverluste im juristischen Denken. Zur politischen Funktion der juristischen Methode, 1977; Scheuner, U., Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1975), S. 95 ff. Präzise Fragen bei Roellecke, G., Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: ebd., S. 7 ff., 42 mit einer als Paradoxon formulierten Schlussthese Nr. 22 sowie differenzierter Einschätzung der Bedeutung juristischer Methodik auf S. 38. Starke Relativierung der Bedeutung juristischer Methodik bei Wank, R., Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 77 und ff. 220 Vgl. Brown, N. / Jacobs, F. G., The court of Justice of the European Communities, 3. Aufl., 1989, S. 276, 291, wo „science“ der „judicial art“ in der Arbeit des EuGH gegenübergestellt wird. Zur Methodenlehre als Handwerkslehre vgl. Fikentscher, W., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. I: Frühe und religiöse Rechte / Römischer Rechtskreis, 1975, Vorwort S. IX; Wank, R., Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 78 ff. 221 Vgl. zu Jurisprudenz und Regeln der Kunst sowie dem Bezug zur Medizin: Gröschner, R., Hippokratische techne und richterliche Kunst, in: Kilian, M. (Hrsg.), Jurisprudenz zwischen techne und Kunst, 1987, S. 11 ff., insbes. 25 ff. 222 Brandom, R. B., Expressive Vernunft, 2000.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 54 Recht auf Argumente

Das alte Einheitlichkeitsargument bestreitet die Möglichkeit einer Bindung der Rechtspraxis mittels juristischer Methodik unter Hinweis auf die Varianz von Theorien und Lehrmeinungen, die hier vertreten werden.223 Der Pluralismus methodischer Ansätze mache es der Justiz unmöglich, sich an methodischen Grundsätzen zu orientieren. Tatsächlich gibt es in der juristischen Methodik zahlreiche wissenschaftliche Ansätze. Doch dieser Pluralismus kann nicht als Schaden angesehen werden.224 Wie die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion betont, ist eine Vielzahl miteinander konkurrierender Erkenntnis-Programme eine der wichtigsten Bedingungen für Fortschritt in der Sache und für die wechselseitige Kritik.225 Und die Justiz ist von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, ein geschlossenes Gesamtkonzept der juristischen Methodik zu entwickeln oder zu vertreten. Sie genügt rechtsstaatlichen Anforderungen schon dann, wenn ihre Argumentation nachvollziehbare und kontrollierbare Strukturen aufweist.226 Nur so kann die Praxis auch auf neue Einsichten der juristischen Methodendiskussion reagieren und ihre eigenen Standards weiterentwickeln. Die Rechtsprechung lehnt es aus guten Gründen ab, sich zu einem einheitlichen methodischen Konzept im Sinn einer bestimmten Rechts- oder Wissenschaftstheorie zu bekennen. Auch ohne eine unterstellte einheitliche Konzeption ist in der Art und Weise, wie Kontexte praktisch herangezogen werden, eine gewisse Rangfolge der Argumente zu erkennen.227 Diese Ansätze zu verallgemeinern und am Verfassungsrecht zu messen, ist eine der Aufgaben228 von Rechtstheorie und juristischer Methodik. Eine zweite liegt darin, neue Alternativen zu den praktischen Arbeitsweisen vorzuschlagen. Dafür ist gerade der Pluralismus eine wertvolle Voraussetzung. Gleichzeitig verhindert er in keiner Weise, dass die Methoden der Praxis das verfassungsrechtlich geforderte Maß an Rationalität erreichen können.

223 So kann etwa aus der Sicht von Roth-Stielow, K., Die Auflehnung des Richters gegen das Gesetz, 1963, S. 49, die Auslegung nur auf eine einzige und endgültig festgelegte Weise erfolgen. 224 Der Pluralismus ist in der juristischen Diskussion noch immer verdächtig. Notfalls wird er zum Ausdruck unaufgelöster gesellschaftlicher Widersprüche erklärt. Vgl. dazu Maus, I., Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth, W. / Blanke, B. / Preuß, U. u. a., Ordnungsmacht?, 1981, S. 153 ff., 156. 225 Vgl. dazu nur Spinner, H.F., Pluralismus als Erkenntnismodell, 1974, insbes. S. 74 ff. 226 Vgl. dazu Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, etwa Rn. 536 ff., 578, 580 ff. und öfter. 227 Vgl. dazu Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 429 ff. und öfter. Vgl. zu diesbezüglicher Skepsis: Krawietz, W., Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, 1978, S. 72; einschränkend in der Weise, dass Präferenzregeln von der Rechtsprechung überwiegend einzelfallbezogen aufgestellt würden: Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 71. 228 Vgl. dazu Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, 8. Aufl., 2002, S. 235 ff. Zu den Aufgaben juristischer Methodik vgl. auch noch Hassold, G., Strukturen der Gesetzesauslegung, in: Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 211 ff., 212 ff.

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Weitergehend wird deshalb von einzelnen Autoren behauptet, die juristische Methodik werde von der Praxis nicht als Mittel des Begründens oder Überprüfens ihrer Interpretationen eingesetzt, sondern diene nur als rhetorische Fassade für anderweitig gefundene Ergebnisse.229 Die Analyse der Praxis lässt diesen Schluss aber nicht zu. Man kann im praktischen Vorgehen des EuGH durchaus den Ansatz zu rationaler Gewichtung erkennen. Seine Operationen sind der Verallgemeinerung zugänglich und widerlegen die Behauptung völliger methodischer Beliebigkeit der Rechtspraxis. Eine angeblich fehlende Steuerungskraft juristischer Methodik wird auch noch 678 mit deren gleichbleibender Rolle bei politischen Systemwechseln begründet.230 Eine derartige Rolle lässt sich aber nicht nachweisen. Der immer als Beispiel herangezogene Systemwechsel von der Weimarer Republik zum Nazismus belegt das Gegenteil. Die damalige Diskussion lässt entgegen der üblichen Einschätzung sogar eine große Bedeutung der juristischen Methodik erkennen. Gerade der Einschnitt zwischen dem rechtsstaatlichen System von Weimar und dem totalitären des Nationalsozialismus macht deutlich, welches entscheidende Gewicht den Standards juristischer Argumentation für die Prägung einer Rechtsordnung zukommt. Nachdem die Nationalsozialisten die aus der Weimarer Zeit stammenden Ansätze zu einer rechtsstaatlichen Argumentationskultur völlig beseitigt hatten, konnten Vorschriften, deren Normtext unverändert geblieben war, nun zu gänzlich anderen Ergebnissen führen. Carl Schmitt hat 1935 die so genannte Analogienovelle im Strafrecht folgendermaßen kommentiert: „Gesetze, die sich zwar äußerlich als bloße ,Änderungen‘ geben, in der Sache aber das geänderte Gesetz im Ganzen umwandeln, indem sie tragende Bestimmungen des alten Gesetzes durch neue ersetzen ( . . . ). Sie schaffen kein neues Strafgesetzbuch, wohl aber ein neues Strafrecht, indem sie das Analogieverbot aufheben, durch ein Analogiegebot ersetzen und eine rechtsschöpferische Mitarbeit des Richters erwarten. Sie heben dadurch das bisherige Strafgesetzbuch aus den Angeln. Das ist eine fundamentale Wandlung, nicht eine bloße ,Änderung‘. Ein Strafgesetzbuch mit Analogieverbot und ein solches mit Analogiegebot sind nicht mehr identisch dasselbe Strafgesetzbuch. Hier liegt ganz offensichtlich mehr als eine äußerliche ,Gleich‘- oder ,Umschaltung‘ vor. Auch die mit unverändertem Wortlaut weitergeführten Regelungen stehen jetzt auf einer anderen Grundlage und in einem anderen juristischen Gesamtrahmen und erhalten dadurch einen neuen Inhalt“.231 Diese Aussage belegt, welche Bedeutung 229 Vgl. zur „Vorspiegelung“: Haverkate, G., Gewißheitsverluste im juristischen Denken. Zur politischen Funktion der juristischen Methode, 1977, S. 168; Simitis, S., Die Bedeutung von System und Dogmatik – dargestellt an rechtsgeschäftlichen Problemen des Massenverkehrs, in: AcP 172 (1972), S. 131 ff., 172; Eckold-Schmid, F., Legitimation durch Begründung, 1974, S. 19. Fraglich ist allerdings, ob sich „wirkliche“ von anderen Gründen abschichten lassen. Vgl. dazu Toulmin, S., Der Gebrauch von Argumenten, 1996, S. 41; Brecher, F., Scheinbegründungen und Methodenehrlichkeit im Zivilrecht, in: Festschrift für Nicklisch, 1958, S. 227 ff., 246 f. Vgl. zu Positivismus als rhetorischer Fassade auch Franssen, E., Positivismus als juristische Strategie, in: JZ 1969, S. 766 ff. 230 Wank, R., Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978, S. 77 ff.

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gesetzliche Auslegungsregeln und damit auch praktisch geltende argumentative Standards für eine Rechtsordnung haben.232 Eine Betrachtung dieses rechtsgeschichtlichen Einschnitts bestätigt die Skepsis in Bezug auf die Bedeutung der Methodik nicht, sondern widerlegt sie.

541.3 Vorrangregeln und einzelfallbezogene Gewichtung 679

Gegen die Möglichkeit einer rechtsstaatlich kontrollierbaren Rangfolge juristischer Argumente wird ferner vorgebracht, dass eine solche nicht abstrakt und generell vorherbestimmt werden könne233, sondern sich nur aus dem Gewicht der Argumente im Einzelfall ableiten lasse.234 Die Begründung dieser Sicht arbeitet mit dem Argument, hinter den Konkretisierungselementen stünden Interessen, die im konkreten Fall in unterschiedlicher Intensität betroffen seien.235 Die Zuordnung von Konkretisierungselementen und Interessen wird dabei folgendermaßen durchgeführt: „Wird beispielsweise von einer Auslegungshypothese behauptet, sie verstoße gegen den Wortlaut einer Vorschrift zuungunsten eines Täters, so wird damit ein Vertrauensinteresse der Rechtsunterworfenen zur Geltung gebracht. Wird von einer Auslegungshypothese gesagt, sie führe im allgemeinen zu ungerechten Ergebnissen, so wird hiermit ein Interesse an Entscheidungen artikuliert, die allgemein akzeptiert werden. Wird der Wille des historischen Gesetzgebers an Auslegungshypothesen herangetragen, so wird das Interesse, Auslegungshypothesen an die gesetzgeberische Entscheidung zurückzubinden, zur Geltung gebracht. Auslegungshypothesen werden dann unter dem Gesichtspunkt der ,Authenzität‘ analysiert“.236 Diese Sicht führt trotz ihrer Übersichtlichkeit aber zu neuen Schwierigkeiten. Schon der Ansatz einer Zuordnung von Konkretisierungselementen und Interessen erscheint als Repräsentationsmodell fragwürdig. Aber selbst davon einmal abgesehen, sind die Einzelheiten dieses Vorschlags recht problematisch. Dass die grammatische Auslegung das Vertrauen des Rechtsverkehrs schütze, ist ein altehrwürdiges Argument der objektiven Auslegungslehre. Wie in der neueren Literatur mehrfach gezeigt wurde, ist es jedoch nach dem Stand heutiger Sprachwissenschaft nicht mehr zu halten.237 Man müsste dafür eine homogene Alltagssprache Schmitt, C., Kodifikation oder Novelle?, in: DJZ 1935, Sp. 919 ff., 923. Dies wird auch durch eine intensive Untersuchung des nationalsozialistischen Strafrechts bestätigt, die gerade im Hinblick auf solche argumentativen Standards bloße Normtextkontinuität von Rechtskontinuität unterscheidet. Vgl. dazu Werle, G., Justizstrafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, dort vor allem den Schlussteil. 233 Vgl. dazu Honsell, Th., Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 17 ff.; Lorenz, K., Die Überzeugungskraft von Argumenten, in: ARSP Beiheft 9, 1977, S. 15 ff., 21 f. 234 Vgl. dazu etwa Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 71. 235 Schroth, U., ebd., S. 70. 236 Vgl. zur „Authenzität“ Schroth, U., ebd., S. 35 und öfter (Schreibung im Original). 231 232

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voraussetzen können, in die sich der juristische Diskurs zudem noch bruchlos einzufügen hätte. Ebensowenig lässt sich die Gerechtigkeit mit der allgemeinen Akzeptanz kurzschließen. Denn über die Frage, was als gerecht zu akzeptieren ist, herrschen in einer pluralistischen Gesellschaft sehr unterschiedliche Vorstellungen. Auch die Kopplung von historischem Gesetzgeber und „Authenzität“ verkürzt die wirklichen Zusammenhänge. Zwar wird zugegeben, dass die Legislative kein Kollektivorgan ist und ihr auch kein einheitlicher Wille unterstellt werden kann. Aber in dem Bild einer einheitlichen gesetzgeberischen Handlung als Bezugspunkt238 von „Authenzität“ wirkt immer noch die Fiktion eines homogenen Gesetzgebers nach. Die vielschichtigen Beziehungen zwischen Gesetzgebungsprozess und fertigem Normtext sind nur durch eine Semantik kompetitiven Handelns zu erfassen und lassen sich keineswegs auf ein „Authenzitätsinteresse“ nach dem Muster von Autor und Werk zurückführen.239 Die Konkretisierungselemente sind nicht Ausdruck isolierter Interessen; sondern Fragerichtungen, die dazu dienen, Kontexte in den Entscheidungsprozess einzubeziehen.240 Erst wenn man die vergebliche Suche nach einem hinter den Mitteln der Inter- 680 pretation stehenden Wesen aufgibt, kann man dann die Frage stellen, was es heißt, dass deren Ergebnisse für die Entscheidung „im Einzelfall“ verschiedene Aussagekraft haben. Der Einzelfall ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass in generelle Interessen verschieden intensiv eingegriffen wird; sondern dadurch, dass zwischen den Parteien Streit241 um die Fallerzählung und die Lesart des Normtextes besteht. Es stehen sich damit mindestens zwei konkurrierende Interpretationen gegenüber, die sich auf die von den Konkretisierungselementen erfragten Kontexte in unterschiedlicher Weise beziehen können. Zentral ist aber, ob die von einer der Interpretationen vorgeschlagene Verknüpfungsweise durch das Ergebnis eines bestimmten 237 Vgl. dazu Hegenbarth, R., Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982, S. 191 ff.; Baden, E., Zum Regelungsgehalt von Gesetzgebungsmaterialien, in: Rödig, J. (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 369 ff., 387, jeweils m. w. N. 238 Vgl. dazu Schroth, U., Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983, S. 87 und öfter. 239 Vgl. dazu Foucault, M., What Is an Author?, in: Harari, J. (Hrsg.), Textual Strategies, 1979, S. 141 ff.; Woodmansee, M., The Genius and the Copyright. Economic and Legal Conditions of the Emergenc of the ,Author‘, in: Eighteenth Century Studies 17 (1984), S. 425 ff.; Woodmansee, M., The Author, Art and the Market. 1994; Rose, M., The Author; Lunsford, A. / Ede, L.: Singular Texts / Plural Authors. Perspective on Collaborative Writing, 1990; Woodmansee, M. / Jaszi, P.: Die globale Dimension des Begriffs der Autorschaft, in: Jannidis, F. / Lauer, G. / Martinez, M. / Winko, S. (Hrsg.), Rückkehr des Autors, 1999, S. 391 ff.; Jaszi, P.: Toward a Theory of Copyright. The Metamorphosis of ,Authorship‘, in: Duke Law Journal 1991, S. 455 ff. 240 Vgl. dazu Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 225 ff., 304 ff. und öfter; ähnlich die Argumentation bei Roellecke, G., Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1975), S. 7 ff., 38. 241 Vgl. zu diesem Gesichtspunkt als „Regelkonflikt“: Rottleuthner, H., Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973, S. 22 ff.

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Elements eindeutig242 ausgeschlossen wird. Die fragliche Interpretation lässt sich dann nur noch dadurch „retten“, dass ein höherrangiges Element dieses Zwischenergebnis seinerseits eindeutig aus dem Feld schlagen kann. Es stehen sich also nicht generelle, sondern konkret erfragte Kontexte gegenüber.243 Diese werden auch nicht abstrakt abgewogen oder verglichen, sondern nur unter der Voraussetzung, dass ein Konfliktfall244 vorliegt, d. h. dass sie das Schicksal der sich im Streit befindenden Interpretationen in gegensätzlicher Weise beeinflussen. Wenn man also den oft beschworenen „Einzelfall“ näher betrachtet, wird deutlich, dass generelle Vorrangregeln nicht nur nötig, sondern auch möglich sind.

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Auch wenn von der Rechtsprechung nicht erwartet werden kann, ein theoretisches Gesamtkonzept juristischer Methodik zu entwickeln, so ist doch zur Vermeidung von Willkür methodische Rationalität erforderlich. Die Überzeugungskraft und das Gewicht von Argumenten sollten nicht entlang gesellschaftlicher Machtverhältnisse bestimmt werden, sie bedürfen möglichst objektivierbarer Kriterien und Vorzugsregeln. Solange die Rangfolgeprobleme nicht gelöst sind245, gilt insoweit, „daß diese Methodologie die Rechtfertigung beliebiger Ergebnisse gestattet“.246 Damit stellt sich die Frage, ob und wie sich solche Kriterien in der Praxis des EuGH nachweisen lassen.

Vgl. dazu Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 81. Insoweit kann man Honsell, Th., Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 17 zustimmen bei der Aussage: „Es gibt aber kein gängiges Argument, das generell durch ein anderes ausgeschlossen oder widerlegt würde“. Ein genereller Ausschluss wäre ein Argumentationsverbot. Hier geht es aber um den Konflikt zweier Argumente. Dieser lässt sich nur konkret feststellen. Aber die Regel für seine Entscheidung muss generalisierbar sein. 244 Vgl. zum Begriff Konflikt: Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, S. 373 ff. 245 In der juristischen Methodendiskussion werden die Schwierigkeiten einer Rangfolgebestimmung immer wieder hervorgehoben: So stellt etwa Bottke, W. fest, die herkömmlichen Konkretisierungselemente seien nur eine ungeordnete Sammlung von Topoi: Bottke, W., Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 266, Fn. 40. Das Fehlen dieser Vorzugsregeln bilde einen Hauptmangel der herkömmlichen Methodenlehre: Siebert, W., Die Methode der Gesetzesauslegung, 1958, S. 110; Bartholomeyczik, H., Die Kunst der Gesetzesauslegung, 2. Aufl., 1960, S. 9 ff. 246 Opp, K.-D., Soziologie im Recht, 1973, S. 124 f. Tatsächlich wird auch manchmal vorgeschlagen, das Gewicht des Arguments im Einzelfall zu entscheiden. Vgl. dazu Zippelius, R., Juristische Methodenlehre, 4. Aufl., 1985, S. 52: „Der grundsätzlichen Funktion des Rechts, gerechte Lösungen von Rechtsproblemen zu finden, entspricht es, Wahl und Gewichtung konkurrierender Auslegungsargumente von der Frage nach der Gerechtigkeit leiten zu lassen, also diejenigen Argumente zu bevorzugen, die in dem zu beurteilenden Fall zu einem billigen Ergebnis führen“. 242 243

542 Ansätze zu einer Rangfolge in der Praxis des EuGH

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542.1 Vorrangregeln im Rahmen einer Rechtserzeugungreflexion Wenn die Rechtsnorm in der Bedeutung des Normtextes nicht schon vorgegeben 682 ist, sondern erst im Verfahren durch Argumente erzeugt wird, stellt sich für eine juristische Methodik die Alternative, entweder als aufstufende Reflexion der Gerichtspraxis zu arbeiten oder nach einem formalen Apriori der Argumentation zu suchen. Als unhintergehbare Voraussetzung jeder Argumentation wird zum Teil die Herrschaftsfreiheit angesehen.247 Aber der Gedanke der Freiheit von Herrschaft hat eine solche Begründung nicht nötig. Vielmehr gilt die Überlegung, „daß unter den Bedingungen von Herrschaft eine Begründung nicht möglich, unter Bedingungen der Herrschaftsfreiheit nicht nötig ist. Solange Herrschaft besteht, läßt sich ,die Option für eine Regelung des Zusammenlebens in einer herrschaftsfreien Beratung ( . . . ) selbst nicht als Beschluß aller Betroffenen in einer herrschaftsfreien Beratung‘ ausweisen. Eine herrschaftsfreie argumentative Beratung aller Betroffenen läßt sich dann eben faktisch nicht durchführen. Ist dagegen der angestrebte Zustand schon erreicht, so ist eine Beschlußfassung gar nicht mehr nötig. Unter den Bedingungen von Herrschaft tritt ( . . . ) gar kein ,Einigungsproblem‘ auf, ,denn die Herrschaft ist schlicht abzuschaffen zugunsten einer Lösung der Probleme in herrschaftsfreier Beratung‘“.248 An die Stelle der Grundnorm muss man deswegen die Geltung einer Argumentation setzen. Eine Begründung ist gut, wenn sie gilt. Was heißt dabei „Geltung“ einer Argumentation? Argumentation ist eine Folge von Sprechakten, die man in Behauptung, Be- 683 gründung und Widerlegung einteilen kann; ein Vorgang also, den man aus jedem juristischen Verfahren kennt. Es gibt vor allem in den Rechtsmittelinstanzen ein großes Ausmaß impliziten Wissens darüber, wann eine juristische Begründung gültig ist. Um dieses implizite Wissen theoretisch erfassen zu können, bedarf es eines Blicks über den Zaun. Nützlich ist hier die Hilfe der philosophischen Argumentationstheorie. Diese entwickelte sich innerhalb der Philosophie von einem Spezialgebiet zu einer zentralen Bedingung für philosophisches Weiterdenken. Philosophie und Wissenschaftstheorie führen von verschiedenen Voraussetzungen her zu dem Ergebnis, dass die Rationalität einer Argumentation nicht von außen begründet werden kann. Denn für eine Letztbegründung fehlt uns ein der Argumentation entzogener Archimedischer Punkt. Die Praxis des Argumentierens selbst ist die einzige Instanz möglicher Verbindlichkeit. Das heißt aber nicht, die Philosophie müsKopperschmidt, J., Argumentationstheorie, 2000, S. 147 ff. m. w. N. Lueken, G.-L., Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens, 1992, S. 370 unter Bezug auf Nanninga, J., Zur Kritik der konstruktiven Ethik und Theorie des praktischen Wissens, in: Mittelstraß, J. (Hrsg.), Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen Handeln, 1979, S. 273 ff. 247 248

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se vor der faktischen Argumentation kapitulieren. Vielmehr sollte sie ihr Vorgehen ändern und statt Rationalität von oben überzustülpen, „von innen her“ im prinzipiell unabgeschlossenen Prozess der Argumentation arbeiten. Die Philosophie wird so als Argumentationstheorie zur reflexiven Aufstufung der Praxis. 684

Deren Bandbreite reicht von empirischen Analysen über rhetorische Erörterung der argumentativen Wirkmechanismen bis zu normativ ausgerichteten Versuchen, einen Regelkanon des Argumentierens zu erarbeiten. Das Problem bei dieser Tendenz liegt darin, dass die von ihr vorgeschlagenen Kriterien ihrerseits nicht anders als argumentativ entwickelt werden können. Objekt- und Metaebene sind von Anfang an vermischt. Deswegen kann auch der Anfang dieser Theorie nicht oberhalb praktischen Streitens liegen, sondern nur inmitten des Argumentierens; so ergeht es jeder Argumentation, die sich selbst zum Thema macht. Argumentationstheorie im Recht ist deshalb nicht von außen denkbar, vom Feldherrnhügel der Philosophie aus; sondern nur von innen, als mitarbeitende Reflexion.

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Wenn die philosophische Argumentationslehre diese Art von Reflektieren am Beispiel der Begründung von Rechtsentscheidungen vollzieht, ergibt sich Folgendes: Der Prozess wird durch die Rechtsmeinungen der Parteien, die sich gegenseitig ausschließen, ausgelöst. Durch das gerichtliche Verfahren werden die Parteien zu einer gewissen Distanzierung von ihren Positionen gezwungen, insoweit sie ihre Anträge begründen müssen. Mit dem Formulieren der Schriftsätze, mit dem Einschalten professioneller Juristen wird die eigene Rechtsmeinung einer Probe unterzogen, ob sie auch, unabhängig von der Person des Klägers oder des Beklagten betrachtet, Bestand haben kann. Schon damit ist der erste Schritt vom bloßen Meinungsstreit zum semantischen Konflikt um Gesetzestexte vollzogen, es beginnt der Vorgang der Argumentation. Diese hat, wenn man juristischer Erfahrung und philosophischer Analyse folgt, eine retroreflexive Struktur. Das heißt, der Begründungszusammenhang einer Rechtsansicht wirkt auf die Voraussetzungen, die in diese Begründung eingehen, zurück: eine Rückkoppelungsschleife, die sich aus der Dynamik des Argumentierens ergibt. Weil der Rechtsstreit gegenläufige Standpunkte klärt und zur Entscheidung bringt, steht nicht von vornherein fest, welche Annahmen als sicher in Anspruch genommen werden können. Erst im semantischen Kampf, im Argumentationsprozess selbst, wenn die Geltung der zur Begründung herangezogenen Rechtsansichten untersucht wird, kann die Bedeutung einzelner Aspekte der Argumentation sichtbar werden. Diese entfaltet sich erst in der Beziehung des einzelnen Elements zu den anderen. Der nächste Schritt kann dabei die vorherigen beeinflussen und zu ihrer Revision führen. Es wird also im Prozess die ursprüngliche Rechtsmeinung aufgrund der vorgebrachten Einwände und Widerlegungen ständig reformuliert, was wiederum zu einer Veränderung der Gegenargumente führen kann.

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Diese retroreflexive Abfolge der Argumentation kann idealerweise so lange weitergehen, bis eine gültige Version der streitigen Rechtsfrage erreicht ist.249 Dafür 249 Eine Einschränkung der allgemeinen Regel ergibt sich hierbei aus der Prozessordnung des EuGH. Wegen der Präklusionswirkung ist ein Vorbringen sämtlicher Angriffs- und Ver-

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müssen die Beteiligten eine ausreichende theoretische Basis verfügbar machen und alle Einwände ihres Prozessgegners ausräumen, beziehungsweise sie so reformulieren, dass sie in die Begründung der eigenen Rechtsmeinung integriert werden können. Mit diesem Status der Einwandfreiheit ist im Ergebnis eine gültige These erreicht250, ist im Prozess der Streit der Rechtsmeinungen richtig entschieden. Es gibt in der Argumentation bei alldem kein formales Apriori, das den Teil- 687 nehmern eines Diskussionszusammenhangs die Beurteilung von Überzeugungskraft und Geltungshöhe der vorgebrachten Argumente abnehmen könnte.251 Von einem alle Sprachspiele beherrschenden Metasprachspiel her lassen sich solche Regeln nicht entwickeln. Überzeugungskraft und Rang eines Arguments können nur relativ zum Horizont eines bestimmten tatsächlichen Sprachspiels252 beurteilt werden. Eine Interpretation ist dann besser, wenn sie die von der Zeichenkette und dem 688 mitgebrachten Bedeutungskonflikt bereitgestellten Anschlussmöglichkeiten für die Argumentation wirksamer nutzt. Wirksamer heißt hier, dass sie die Einwände beziehungsweise Widerlegungen des Gegners entweder in das eigene Vorbringen integrieren oder sie ausräumen kann. Wie macht man das? Was als Widerlegung gelten kann und wie man eine solche ausräumt oder inte- 689 griert, darüber gibt es im juristischen Bereich viel implizites Wissen. Formuliert wird dieses Wissen von der juristischen Methodik. Es bestehen für die Entscheidung des Konflikts von Argumenten Ansätze in der Praxis der Gerichte, die zwar noch einer Strukturierung bedürfen, die aber in die richtige Richtung weisen.

542.2 Die Praxis des EuGH Die Frage einer in der Gerichtspraxis enthaltenen Rangfolge von Argumenten 690 soll hier am Beispiel der Klagebefugnis von Einzelpersonen gegen Verordnungen erörtert werden. Das EuG hatte zunächst in der Rechtssache Jégo-Quéré et Cie s.A. gegen Kommission der EG253 die Möglichkeit für den Zugang von (natürlichen teidigungsmittel bereits im ersten Schriftsatz nötig, ein Nachschieben von Gründen also ausgeschlossen. Diese Einschränkung der allgemeinen argumentativen Dynamik dient der Verendlichung und Fokussierung des Rechtsproblems. Sie rechtfertigt sich im Hinblick auf Prozessökonomie und auf die Notwendigkeit von Entscheidungen innerhalb knapper Zeit. 250 Vgl. zu diesem Kriterium der Geltung von Argumentation Wohlrapp, H., Die diskursive Tendenz, in: ders. (Hrsg.), Wege der Argumentationsforschung, 1995, S. 395 ff., 400; sowie Lueken, G.-L., Konsens, Widerstreit und Entscheidung, in: ebd., S. 358 ff., 378. 251 Vgl. dazu Wohlrapp, H.: Die diskursive Tendenz, in: ders. (Hrsg.), Wege der Argumentationsforschung, 1995, S. 395 ff. 252 Vgl. zur Unübersetzbarkeit der Diskursgattungen und insbes. zur Inkommensurabilität des Wahrheits- und Gerechtigkeitdiskurses: Lyotard, J.-F., Der Widerstreit, 1987, S. 200 f., 207, 208, 215. 253 Rs. T-177 / 01, EuZW 2002, 412 ff.

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und juristischen) Einzelpersonen zur Gemeinschaftsgerichtsbarkeit erweitert. Der Begriff der individuellen Betroffenheit einer Person im Sinn des Art. 230 Abs. 4 des EG-Vertrages wird danach nicht mehr so ausgelegt, dass es Einzelpersonen nur ausnahmsweise gestattet ist, Verordnungen zu bekämpfen, sondern erhält eine neue Definition: Eine natürliche oder juristische Person ist durch eine Bestimmung eines generellen Gemeinschaftsrechtsaktes dann individuell betroffen, wenn die fragliche Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt254. Ausweislich der Pressemitteilung vom 3. Mai auf der Website des Gerichts geschah dies „in dem Bemühen um eine Stärkung des Rechtsschutzes der Bürger / Bürgerinnen und Unternehmen“. Der EuGH ist in seinem Urteil vom 25. 07. 2002, Unión de Pequenos Agricultores255, der Ansicht des Gerichts 1. Instanz entgegengetreten und hat seine bisherige Rechtsprechung bestätigt. Das EuG führt für seine Lesart an, dass die angegriffenen Vorschriften der Verordnung allgemeine Geltung haben, da sie sich abstrakt an unbestimmte Personengruppen wenden und für bestimmte objektive Sachverhalte gelten. Die allgemeine Geltung einer Vorschrift schließe jedoch nach ständiger Rechtsprechung nicht aus, dass diese Vorschrift bestimmte Wirtschaftsteilnehmer unmittelbar und individuell betrifft256. Die unmittelbare Betroffenheit der Kläger durch die Vorschriften, die ja selbst von der Kommission nicht bestritten worden war, nimmt das Gericht an257. Problematisch war allerdings die individuelle Betroffenheit der Kläger. 691

Nach der bisherigen Rechtsprechung konnte eine Einzelperson, die nicht Adressat der Maßnahme ist, einen Gemeinschaftsrechtsakt von allgemeiner Geltung nämlich nur dann anfechten, wenn dieser sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt258. Das Gericht erster Instanz – wie einige GeneralRdnr. 51 des Urteils. Rs. C-50 / 00; es handelt sich um eine Rechtsmittelentscheidung, in dieser Sache hatte das Gericht erster Instanz noch entsprechend der ständigen Rechtsprechung des EuGH entschieden. 256 Rdnrn. 23 – 26 des Urteils. Das Gericht verweist auf die Urteile des EuGH in den Rechtssachen Extramet Industrie gegen Rat, Slg. 1991, I-2501, Rdnrn. 13 und 14, Rs. Codorniu gegen Rat, Slg. 1994, I-1853, Rdnr. 19, Rs. Antillean Rice Mills, Slg. 2001, I-8949, Rdnr. 46, sowie auf das Urteil des EuG in der Rs. Emesa Sugar gegen Rat, Slg. 2001, II-3519, Rdnr. 47. 257 Voraussetzung hierfür ist, „dass sich die beanstandete Gemeinschaftsmaßnahme unmittelbar auf die Rechtsstellung des Einzelnen auswirkt und dass sie ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessenspielraum lässt, wobei die Durchführung rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Gemeinschaftsregelung ergibt, ohne dass dabei weitere vermittelnde Rechtsakte erlassen werden müssten“, vgl. EuGH, Rs. Dreyfus gegen Kommission, Slg. 1998, I-2309, Rdnr. 43 m. w. N., sowie EuG, Rs. Comafrica und Dole Fresh Fruit Europe gegen Kommission, Slg. 2001, II-1975, Rdnr. 96. 258 Ständige Rechtsprechung seit dem Urteil des EuGH vom 15. 7. 1963 in der Rs. 25 / 62, Plaumann gegen Kommission, Slg. 1963, 213 (238) = NJW 1963, 2246. 254 255

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anwälte259 , vor allem Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache „Union de Pequenos“260 – befürwortet allerdings eine erweiterte Auslegung des Begriffs der „individuellen Betroffenheit“ im Sinn von Art. 230 Abs. 4 EG und damit im Ergebnis eine erweiterte Möglichkeit der Direktklage für natürliche und juristische Personen gegen Verordnungen im Sinn von Art. 249 Abs. 2 EG. Zur Begründung führt das Gericht erster Instanz aus, dass nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH vielen Einzelpersonen jede Möglichkeit genommen ist, mit der Nichtigkeitsklage Gemeinschaftsbestimmungen zu bekämpfen, die zwar generellen Normcharakter aufweisen, sie jedoch unmittelbar in ihrer Rechtsposition betreffen. Ferner erinnert das Gericht daran, dass nach seiner Rechtsprechung261 der wirk- 692 same Zugang zu einem unabhängigen Richter ein Wesensbestandteil der auf dem EG-Vertrag aufbauenden Rechtsordnung ist. Diese hat ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der europäischen Organe übertragen wurde. Der Gerichtshof leitet dieses Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem zuständigen Gericht aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)262 ab. Darüber hinaus wurde dieses Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die am 7. Dezember 2000 in Nizza verkündet worden ist263, aufgenommen. Dementsprechend prüft das EuG, ob in einer Rechtssache wie der vorliegenden die Unzulässigkeit der Nichtigkeitsklage den Klägern dieses Grundrecht nehmen würde. Das Gericht ist dabei der Auffassung, dass die anderen möglichen Klagearten im vorliegenden Fall nicht dazu geeignet sind, die Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsvorschriften zu klären. Falls eine belastende Gemeinschaftsvorschrift (eine Verordnung) ohne das Erfordernis einer innerstaatlichen Durchführungsmaßnahme, gegen die ein innerstaatliches Rechtsmittel ergriffen werden könnte, wirksam wird, sei es für eine Einzelperson nämlich unzumutbar, wissentlich Gemeinschaftsrecht verletzen zu müssen, um Zugang zu einem nationalen Gericht zu erlangen und so gegebenenfalls den Gerichtshof im Weg eines Vorabentscheidungsverfahrens befassen zu können. Auch eine gegen die Gemeinschaften gerichtete Schadenersatzklage erlaube es dem Gemeinschaftsrichter nicht, seiner Aufgabe der umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle nachzukommen, da ein Schadenersatz gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten von allgemeiner Geltung nur unter sehr erschwerten Voraussetzungen 259 Z. B. GA Slynn in der Rs. 246 / 81 „Bethell“, Slg. 1982, 2277 (2299), GA Jacobs in der Rs. C-358 / 89 „Extramet Industrie“, Slg. 1991, I-2501, Nrn. 71 bis 74 und in der Rs. C-188 / 92 „TWD Textilwerke Deggendorf“, Slg. 1994, I-833, Nrn. 20 bis 23, sowie GA RuizJarabo Colomer in der Rs. C-152 / 95 „Associazione agricoltori della provincia di Rovigo u. a.“, Slg. 1996, I-6669, Nrn.40 und 41. 260 GA Jacobs in „Union de Pequenos“, Nr. 102. 261 EuGH, Rs. Les Verts gegen Parlament, Slg. 1986, 1339, Rdnr. 23. 262 EuGH, Rs. Johnston, Slg. 1986, 1651, Rdnr. 18. 263 AblEG 2000, Nr. C 364, S. 1.

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gewährt werde und sich die Überprüfung der angegriffenen Maßnahme nicht auf sämtliche Faktoren erstrecke, die die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme beeinträchtigen könnten; sie beschränke sich vielmehr darauf, die hinreichend qualifizierten Verstöße gegen Rechtsnormen zu sanktionieren, deren Zweck es ist, dem Einzelnen Rechte zu verleihen264. 693

Das Gericht befindet folglich, dass „im Lichte der Art. 6 und 13 EMRK sowie des Art. 47 Charta der Grundrechte“, um einen effektiven Rechtsschutz von Einzelpersonen zu sichern, eine natürliche oder juristische Person als durch eine Bestimmung eines generellen Gemeinschaftsrechtsaktes, die sie unmittelbar betrifft, individuell betroffen anzusehen ist, wenn die fragliche Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt. Die Zahl oder die Lage anderer Personen, die von der Bestimmung gleichfalls betroffen sind oder betroffen sein könnten, seien für diese Beurteilung unmaßgeblich265. In dem Urteil „Unión de Pequenos Agricultores“ kommt der EuGH zu einem gegensätzlichen Ergebnis. Der Gerichtshof führt zu der Frage, ob sich wegen fehlender nationaler Rechtsschutzmöglichkeiten oder aus sonstigen Gründen ein Bedürfnis zur Erweiterung des bisherigen Begriffsverständisses der individuellen Betroffenheit ergibt, zunächst sein in ständiger Praxis verwendetes Kriterium der „Heraushebung“ an. Eine natürliche oder juristische Person, die diese Voraussetzung nicht erfülle, könne keine Nichtigkeitsklage gegen eine Verordnung erheben.

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Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft ist, in der die Handlungen ihrer Organe darauf hin kontrolliert würden, ob sie mit dem EG- Vertrag und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zu denen auch die Grundrechte gehörten, vereinbar seien. Die Einzelnen müssten daher einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte in Anspruch nehmen können, die sie aus der Gemeinschaftsrechtsordnung herleiten; dies gehöre zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergäben. Dieses Recht sei auch in den Artikeln 6 und 13 der EMRK verankert266. Der EG- Vertrag habe ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe, mit der der Gemeinschaftsrichter betraut werde, gewährleisten solle. Zum Ganzen: EuG, Rdnr. 45 und 46 des Urteils m. w. N. Rdnrn. 44 – 47 und 51 des Urteils. Als weiteres Argument führt das Gericht an, dass der EG-Vertrag ein vollständiges Rechtsschutzsystem geschaffen hat, das den Gemeinschaftsrichter mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe betraut, und dass es daher angebracht ist, die bisherige enge Auslegung des Begriffs der individuell betroffenen Person i. S. von Art. 230 IV EG zu überdenken, freilich ohne im Ergebnis das vom Vertrag geschaffene Rechtsschutzsystem auf diesem Weg zu ändern, Rdnrn. 48 – 50 des Urteils. 266 Anders als GA Jacobs und das EuG in der Sache „Jégo“ verweist der EuGH nicht auch auf Art. 47 der EU-Grundrechtscharta. 264 265

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Nach diesem System hätten natürliche oder juristische Personen, die wegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen Gemeinschaftshandlungen allgemeiner Geltung nicht unmittelbar anfechten könnten, die Möglichkeit, die Ungültigkeit solcher Handlungen entweder vor dem Gemeinschaftsrichter inzident durch eine Klage gegen die in Anwendung der fraglichen Handlung getroffene Maßnahme der Gemeinschaft oder vor den nationalen Gerichten geltend zu machen, die sich, da sie die Ungültigkeit der genannten Handlungen nicht selbst feststellen könnten, mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof wendeten. Was den letztgenannten Fall betreffe, so sei es Sache der Mitgliedstaaten, ein 695 System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, mit dem die Einhaltung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet werden könne. Gemäß dem im EG- Vertrag aufgestellten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 10 EG) hätten die nationalen Gerichte die innerstaatlichen Verfahrensvorschriften so auszulegen, dass natürliche und juristische Personen die Rechtmäßigkeit einer in Anwendung einer Verordnung getroffenen nationalen Maßnahme gerichtlich anfechten und dabei die Gültigkeit der Verordnung in Frage stellen könnten. Der Gerichtshof hält für den Fall, dass die nationalen Verfahrensvorschriften es einem Einzelnen nicht gestatten, eine Klage zu erheben, mit der er die Gültigkeit der streitigen Gemeinschaftshandlung in Frage stellen kann, eine Direktklage mit dem Ziel der Nichtigerklärung beim Gemeinschaftsrichter nicht für zulässig, da der Gemeinschaftsrichter dann das nationale Verfahrensrecht auslegen müsste. Im übrigen sei der Begriff der individuellen Betroffenheit zwar aus Gründen eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes unter Berücksichtigung der verschiedenen Umstände, die einen Kläger individualisieren könnten, auszulegen, doch könne eine solche Auslegung nicht zum Wegfall dieser ausdrücklich im EG- Vertrag vorgesehenen Voraussetzung fuhren. Andernfalls würde der Gemeinschaftsrichter seine Befugnisse überschreiten267. Auch wenn ein anderes System der Rechtmäßigkeitskontrolle der Gemein- 696 schaftshandlungen allgemeiner Geltung als das durch den ursprünglichen Vertrag geschaffene und in seinen Grundzügen nie geänderte sicherlich vorstellbar sei, seien nur die Mitgliedstaaten gemäß dem Verfahren zur Änderung des EG- Vertrags (Artikel 48 EU) befugt, dieses System der Rechtmäßigkeitskontrolle der Gemeinschaftshandlungen allgemeiner Geltung zu ändern. Gerade der Unterschied der beiden gerichtlichen Instanzen macht hier die methodische Ebene sichtbar. Wenn man die vorgebrachten Argumente einordnet, ist eine implizite Rangfolge zu erkennen. Das Gericht erster Instanz gewinnt sein Verständnis des Art. 230 Abs. 4 EG aus dem „Gemeinschaftsgrundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“. Das ist an keiner Stelle des primären oder sekundären Gemeinschaftsrechts kodifiziert. Die im Rahmen der Regierungskonferenz von 267

Rdnr. 44 des Urteils.

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Nizza eingeführte EU-Grundrechtscharta268 stellt lediglich eine „feierliche Proklamation“ des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission dar und ist im Hinblick auf Dogmatik und Verbindlichkeit nicht mit dem Grundrechtskatalog im GG vergleichbar. Der Gerichtshof hatte die Gemeinschaftsgrundrechte schon selbst im Weg der rechtsvergleichenden Auslegung entwickelt. 697

Bei der Referenz auf das Gemeinschaftsgrundrecht (in beiden Urteilen) handelt es sich um eine Kombination von rechtsvergleichender und systematischer Konkretisierung. Rechtsvergleichend wird das Gemeinschaftsgrundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewonnen. Sodann wird Art. 230 Abs. 4 EG im Licht des Grundrechts ausgelegt. Der EuGH legt seinem Verständnis des Begriffs der „individuellen Betroffenheit“ vorrangig die grammatische Auslegung zugrunde. Das kommt bereits durch die Art der Formulierung zum Ausdruck, dass ein anderes Verständnis als das seiner ständigen Rechtsprechung zugrundeliegende „zum Wegfall der fraglichen Voraussetzung, die ausdrücklich im EG-Vertrag vorgesehen ist, führen“ würde. Der EuGH setzt also sein durch eigene Rechtsprechung geschaffenes Konzept dem Normtext einfach gleich. Die Begründung ist knapp. In Rdnrn. 44 und 45 des Urteils führt das Gericht aus, dass die individuelle Betroffenheit „( . . . ) zwar im Licht des Grundsatzes eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes unter Berücksichtigung der verschiedene Umstände, die einen Kläger individualisieren können, auszulegen [ist]; doch kann eine solche Auslegung nicht, ohne dass die den Gemeinschaftsgerichten durch den Vertrag verliehenen Befugnisse überschritten würden, zum Wegfall der fraglichen Voraussetzung, die ausdrücklich im EG-Vertrag vorgesehen ist, führen“. Ein anderes Verständnis käme einer Vertragsänderung gleich, die nach Art. 48 EU Sache der Mitgliedstaaten sei. In dieser Passage des Urteils wird deutlich, dass der EuGH sich aus Gründen der funktionellen Gewaltenteilung zwischen Gemeinschaft(-sorgan EuGH) und Mitgliedstaaten daran gehindert sieht, den Begriff der individuellen Betroffenheit anders als in seiner bisherigen Rechtsprechung auszulegen.

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Die Gründe, die für das Verständnis der Voraussetzung im Sinn des EuGH sprechen, sind genauer zu betrachten. Zunächst ist festzustellen, dass es zwar auch nach Ansicht des EuGH unzumutbar ist, wissentlich Gemeinschaftsrecht verletzen zu müssen, um die Rechtmäßigkeit einer Gemeinschaftshandlung überprüfen lassen zu können. Doch reicht laut EuGH das bisherige Rechtsschutzsystem mit den vorhandenen Klagearten für den Rechtsschutz des Bürgers aus. Das Gemeinschaftsgrundrecht gebiete also keine andere Auslegung. Der EuGH bestreitet nicht, 268 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. 12. 2000, Abl. 2000 C 364 / 01 v. 18. 12. 2000; Zu den rechtlichen Wirkungen der Charta vgl. etwa Grabenwarter, C., Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, in: DVBl. 2001, S. 1 ff., 11; Magiera, S., Die Grundrechtecharta der Europäischen Union, in: DÖV 2000, S. 1017 ff., 1019 f.; s. auch GA Alber, S., „Die Selbstbindung der europäischen Organe an die Europäische Charta der Grundrechte“, EuGRZ 2001, 349 ff.

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dass ein anderes als das derzeitige Rechtsschutzsystem, vor allem vor dem Hintergrund des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz, vorstellbar wäre; er hält sich aber nicht für befugt, den Begriff der individuellen Betroffenheit beim Stand des gegenwärtigen Primärrechts erweiternd (im Sinn des EuG) auszulegen. Im Grund handelt es sich um einen Konflikt zwischen grammatischer und systematischer Auslegung des Begriffs. Die Problematik der gegenläufigen Entscheidungen lässt sich dann auf folgende gemeinsame Formel bringen: gebietet es das Gemeinschaftsrecht, namentlich das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, den Begriff der individuellen Betroffenheit gemäß Art. 230 Abs. 4 EG im Sinn des Urteils „Jégo Quéré“ oder der bisherigen Rechtsprechung auszulegen, oder sind beide Auslegungsvarianten legitim? Ist das Zweitgenannte der Fall, so ist zu untersuchen, welches Auslegungsergebnis mehr überzeugt. Zur Entscheidung des dargestellten Konflikts muss die Stärke der vorgebrachten Argumente bewertet werden. Damit stößt man auf das alte Problem einer Rangfolge juristischer Argumente. Die Gerichte streiten um Wortlaut und Systematik von Art. 230 Abs. 4. Da 699 Art. 230 Abs. 4 EG seinem Wortlaut nach eine Anfechtung von Gemeinschaftshandlungen nur zulässt, wenn es sich um eine Entscheidung im Sinn des Art. 249 Abs. 4 EG handelt oder um eine Verordnung im Sinn des Art. 249 Abs. 2 EG, die in ihren Auswirkungen einer Entscheidung gleichkommt, ist nach Ansicht des EuGH der Begriff enger zu verstehen. Für diese Sichtweise ließe sich auch die innere Struktur des gesamten Art. 230 EG im Allgemeinen und seines Absatzes 4 im besonderen anführen. Denn Art. 230 EG differenziert in seinen Absätzen zwischen privilegierten, teilweise privilegierten und nicht-privilegierten Klägern. Die nach Artikel 230 Abs. 2 EG so genannten privilegierten Klageberechtigten müssen keine Klagebefugnis geltend machen269. Zum Teil wird sogar nicht einmal ein Rechtsschutzbedürfnis gefordert270. Die nach Artikel 230 Abs. 3 EG teilprivilegierten Klageberechtigten müssen eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen. Für die nicht-privilegierten nach Absatz 4 gelten die bislang diskutierten Erfordernisse der Adressatenstellung oder der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit. Somit stellt Absatz 4 gesteigerte Anforderungen an die Klagebefugnis, besonders im Verhältnis zur bloßen Betroffenheit in eigenen Rechten gemäß Art. 230 Abs. 3 EG. Ferner ergibt sich aus den einzelnen Fallvarianten, die in Absatz 4 von Art. 230 EG angelegt sind, dass diese vergleichbar sein müssen. Die Bestimmung sieht in der ersten Alternative vor, dass eine natürliche oder juristische Person, die Adres269 Vgl. Cremer, H. J., in: Calliess, Ch. / Ruffert, M., EG-Vertrag, 2. Auflage 2002, Art. 230 EG, Rn. 19 f.; Schwarze, EU-Recht, Art. 230 EG, Rn. 28. 270 Vgl. Cremer, H. J., in: Calliess, Ch. / Ruffert, M., EG-Vertrag, 2. Auflage 2002, Rn. 19 f.

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sat einer Entscheidung ist, diese im Weg der Nichtigkeitsklage angreifen kann. In der zweiten Alternative ist eine Anfechtungsmöglichkeit für eine sonstige unmittelbare und individuelle Betroffenheit durch eine Verordnung oder eine Entscheidung vorgesehen, deren Adressat eine dritte Person ist. Hier ist zu berücksichtigen, dass Art. 230 Abs. 4 EG eine Vergleichbarkeit der Situation der zweiten Alternative mit der der ersten verlangt. Es müsste mithin, was eine Verordnung angeht, eine dem Fall vergleichbare Betroffenheit vorliegen, in dem der Einzelne Adressat der Maßnahme ist. Nötig wäre eine Entscheidung gegenüber dem Kläger, die nur im Gewand einer Verordnung ergangen wäre, vergleichbar einem Einzelfall- oder Maßnahmegesetz im Sinn des Art. 19 I 1 GG. Folglich wäre eine enge Auslegung des Art. 230 Abs. 4 EG im Sinn der bisherigen ständigen Rechtsprechung des EuGH angezeigt. 700

Die unmittelbare und individuelle Betroffenheit muss also der Adressatenstellung vergleichbar sein. Dafür kann vom allgemeinen Sprachgebrauch und vor allem vom juristischen Fachsprachgebrauch her eine „unzweifelhafte und gegenwärtige Beeinträchtigung der Rechtsposition“ nicht ausreichen. Ebenso muss der Begriff der „Individualität“ eine andere Bedeutung haben als jener der „Unmittelbarkeit“. Heißt aber „unmittelbar betroffen“, „dass sich die beanstandete Gemeinschaftsmaßnahme unmittelbar auf die Rechtsstellung des Einzelnen auswirkt und dass sie ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessenspielraum lässt, wobei die Durchführung rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Gemeinschaftsregelung ergibt, ohne dass dabei weitere vermittelnde Rechtsakte erlassen werden müssten271“, dann kann der Begriff „individuell“ nicht – entsprechend dem Gericht erster Instanz – so verstanden werden, dass das Kriterium schon dann erfüllt ist, „wenn die fragliche Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihnen Pflichten auferlegt“. Die Unterscheidung wäre dann in Ähnlichkeit aufgehoben. Wenn man die vorgebrachten Argumente in eine Rangfolge bringen will, kann man auf die Normstruktur und die jeweilige Überzeugungskraft abstellen. Normstrukturell sind die Erwägungen gleichrangig272. Das EuG und Generalanwalt Jacobs favorisieren die systematische, der EuGH die grammatische Auslegung. Beide Argumentformen sind textbezogen. Die Bewertung ist folglich nach der Intensität und Stärke der Argumente, also anhand der in der Jurisprudenz verwendeten Kategorien Möglichkeit, Plausibilität und Evidenz vorzunehmen. 271 Vgl. EuGH, Rs. Dreyfus gegen Kommission, Slg. 1998, I-2309, Rdnr. 43 m. w. N., sowie EuG, Rs. Comafrica und Dole Fresh Fruit Europe gegen Kommission, Slg. 2001, II-1975, Rdnr. 96. 272 Einige Argumente des Generalanwalts lassen sich auf dieser Ebene aber nicht mehr als textbezogen charakterisieren und treten daher schon normstrukturell zurück; dazu im Folgenden.

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Danach sind zunächst beide Lesarten des Normtextes verstehbar bzw. möglich, 701 das heißt mit Argumenten begründbar. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Plausibilität. Die Lösung des EuGH überzeugt wegen der Struktur des Art. 230 EG und der Vereinbarkeit mit Verwendungsbeispielen aus dem allgemeinen und dem Fachsprachgebrauch. Die Argumentation des EuG und des Generalanwalts erreichen diese Stärke aus zwei Gründen nicht. Zum einen führen beide an, es gebe keinerlei Hindernisse, das Verständnis des Begriffs zu ändern. Doch gerade der Wortlaut der Bestimmung stellt ein solches dar. Die wortlautbezogenen Argumente hätten insoweit widerlegt werden müssen. Hier zeigt sich die enge Verzahnung von juristischer Methodik und allgemeiner Argumentationstheorie. Solange ein relevantes Gegenargument nicht widerlegt oder integriert ist, kann die beanspruchte Behauptung keine Geltung erreichen. Neben dem Wortlaut ist aber außerdem noch der Zweck der Gemeinschaftsordnung und ihres Rechtsschutzsystems im Allgemeinen und des Art. 230 Abs. 4 EG im besonderen zu berücksichtigen. Es ist folglich systematisch-teleologisch zu überprüfen273, ob der vom Gemeinschaftsrecht selbst geforderte effektive gerichtliche Rechtsschutz gegenüber allgemeinen Gemeinschaftshandlungen durch die Möglichkeiten, die Art. 235, 288 Abs. 2 EG und 234 EG vorsehen, ausreichend gewährleistet ist. Sowohl die Argumentation des EuG, als auch die des EuGH sind hierzu möglich, keine ist evident. Plausibel erscheint aber allein die Argumentation des EuGH. Denn bei der Lösung des Problems ist vor allem das Konzept des Rechtsschutzsystems im EG-Vertrag zu berücksichtigen. Rechtsakte von allgemeiner Geltung sollen im Regelfall gerade nicht von Einzelnen angefochten werden können, was nicht zuletzt im Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG zum Ausdruck kommt. Die vorgebrachten Überlegungen zu Ungereimtheiten in der EuGH-Rechtsprechung können ein anderes Ergebnis nicht stützen. Überlegungen zur Zweckmäßigkeit einer Änderung des Rechtsschutzsystems, die der Generalanwalt unter anderem mit der Frage „Ist die Zeit reif für eine Weiterentwicklung des Begriffs der individuellen Betroffenheit?“ einleitet, beschränken sich auf rechtspolitische Argumente, die normstrukturell hinter die Wortlautargumentation zurücktreten müssen. Auch die Behauptung eines völlig ineffektiven Rechtsschutzes ist nicht schlüssig. Selbst im deutschen Verfassungsrecht mit seiner starken Betonung des Art. 19 Abs. IV würde eine der Position des EuG entsprechende Ausweitung der Gesetzesverfassungsbeschwerde nicht als erforderlich angesehen werden.274 Das Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gebietet jedoch keine 702 der beiden kontroversen Auslegungsvarianten. Es sind keine zwingenden Gründe ersichtlich, das in der bisherigen Rechtsprechung des EuGH verwendete Erfordernis der „Heraushebung“ aufzugeben. Vielmehr ist bei den gegebenen SachverhalDarauf konzentrieren sich auch Gerichte, Generalanwalt und Parteien. Ob tatsächlich eine Klageflut über die Gemeinschaftsgerichte hereinbrechen würde, ist schwer abzuschätzen, jedoch nicht unwahrscheinlich. Zu den praktischen Konsequenzen s. die Anmerkung von Lübbig, T., Individuelle Betroffenheit durch EG-Verordnung, in: EuZW 2002, S. 415 f., 416. 273 274

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ten ein Vorrang der Wortlautargumentation des EuGH anzunehmen. Soweit Gericht erster Instanz und GA Jacobs systematisch argumentieren, sind die Argumente des EuGH im Hinblick auf ihre Intensität stärker, da sie im Gegensatz zu den systematischen nicht nur möglich, sondern auch plausibel sind. Soweit rechtspolitische Erwägungen herangezogen werden, etwa die Auswirkungen eines erweiterten Rechtsschutzes Einzelner auf die Akzeptanz der Gemeinschaft als solcher und die Schaffung eines „Europas der Bürger“, so treten diese bereits normstrukturell hinter die Argumente des EuGH zurück. Keine der beiden Lesarten ist aber evident. Kann im Einzelfall das vollständige Fehlen effektiver gerichtlicher Überprüfung von Gemeinschaftsmaßnahmen allgemeiner Geltung nachgewiesen werden, so kann eine andere Bewertung auf der Stufe der Plausibilität gerechtfertigt sein.275 Die Einzelanalyse zeigt also, dass der EuGH die Instrumente der juristischen Methodik zur Validierung streitiger Lesarten nutzt. Bei Konflikten gibt er dem spezifischeren Argument des engeren Kontextes Vorrang. Daraus ergibt sich ein besonderes Gewicht der textbezogenen, und hier vor allem der grammatischen und systematischen Elemente.276 Die normstrukturelle oder prinzipielle Gewichtung wird allerdings durch eine konkrete Bewertung ergänzt, welche eine weitere Verknüpfung von juristischer Methodik und allgemeiner Argumentationstheorie sichtbar macht. Eine Lesart ist möglich, wenn es dafür Argumente gibt. Sie ist plausibel, wenn sie Gegenargumente integriert oder widerlegt; und sie ist evident, wenn sie den gesamten Relevanzhorizont des Streites integriert oder widerlegt und damit ihre (argumentative) Geltung sogar über den vorliegenden Zusammenhang hinaushebt.

542.3 Lässt sich das Vorgehen des EuGH verallgemeinern? 703

Der EuGH lässt in seiner praktischen Textarbeit tatsächlich eine Rangfolge erkennen. Quantitativ sind grammatische und teleologische Auslegung die in seinen Urteilsgründen am häufigsten verwendeten Formen. Das spricht für ihre besondere Bedeutung, muss aber noch qualitativ bewertet werden. Zum Teil wird aus prominenten Entscheidungen abgeleitet, der EuGH praktiziere auch einen Vorrang der teleologischen Methode.277 Vor allem aus der Entscheidung Continental 275 Das Gericht erster Instanz hat sich mittlerweile „gefügt“, d. h. dem EuGH angeschlossen, s. EuG, Urt. v. 21. 03. 2003, Rs. T-167 / 02, „Etablissements Toulorge gegen EP / Rat“. Der EuGH hat – wie zu erwarten war – auch das Urteil des Gerichts erster Instanz in der Sache „Jégo Quéré“ mit Urteil vom 01. 04. 2004 aufgehoben, EuZW 2004, S. 343 ff. 276 Grundsätzlich: F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, 9. Aufl. 2004, S. 450 ff., 460. 277 Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1982, S. 1177, 1178.

542 Ansätze zu einer Rangfolge in der Praxis des EuGH

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Can278 wurde der Schluss gezogen, der EuGH räume der Teleologie sogar Vorrang vor dem Wortlaut ein. Das ist allerdings schon für die genannte Entscheidung nicht haltbar. Denn der EuGH setzt sich dort mit dem Wortlaut auseinander und kommt zu dem zutreffenden Ergebnis, er gebe für die Lösung des streitigen Problems nichts her. Deswegen stützt er seine Erwägungen dann nur noch auf Systematik und Teleologie. Einen Konflikt zwischen grammatischer und teleologischer Auslegung gab es dabei also gar nicht. Auch im Allgemeinen lässt sich ein Vorrang der Teleologie nicht nachweisen. Schon quantitativ ist das Wortlautargument häufiger und qualitativ bildet es für den EuGH das Ziel des Interpretationsvorgangs. Die Teleologie wird der Erreichung dieses Ziels untergeordnet, wie vor allem der Stellenwert der gemeinschaftsbezogenen Bedeutung zeigt. Schließlich ist die Teleologie nur ein unselbständiges Argument, weil der Zweck vom EuGH immer vorab begründet wird, entweder subjektiv mit der Entstehungsgeschichte oder objektiv mit der Systematik des Textes. Das teleologische Argument hat damit eine transitorische Struktur. Es entsteht aus den Materialien oder der Systematik und mündet in die grammatische Auslegung.279 Erst wenn man dies berücksichtigt, wird die tatsächliche Praxis des EuGH bezüglich der Rangfolge von Argumenten klar. Häufig wird hier ein Vorrang der Teleologie vor der genetischen Auslegung behauptet: „So hat sich der EuGH in den Urteilen ,APS‘ und ,Kommission / Rat‘ eindeutig für einen Vorrang der teleologischen gegenüber der genetischen Auslegung ausgesprochen, indem er betont, daß für die Ermittlung der zutreffenden Rechtsgrundlage eines Gemeinschaftsrechtsakts nicht die subjektive Auffassung des rechtsetzenden Organs entscheidend ist, die sich aus den Begründungserwägungen (Art. 190 EGV) ergibt, sondern das objektiv mit der Regelung verfolgte Ziel.“280 Tatsächlich geht es dort aber nicht um einen Vorrang der Teleologie, sondern um einen der Systematik vor der Entstehungsgeschichte. Denn auch in jenen Fällen war das teleologische Argument zuvor aus der Systematik entwickelt worden. Richtigerweise kann man in der Praxis des EuGH eine Priorität der Systematik 704 und des grammatischen Arguments vor der Entstehungsgeschichte feststellen: „Ein Vorrang der grammatischen vor der historischen Auslegung kommt in den Urteilen ,Antonissen‘ und ,Kommission / Italien‘ zum Ausdruck. Danach können Protokollerklärungen des Rates dann nicht zur Auslegung einer Verordnung oder Richtlinienbestimmung herangezogen werden, wenn der Inhalt der Erklärung im Wortlaut der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden und damit keine rechtliche Bedeutung erlangt hat.“281 Wegen dieses Vorrangs der näher am Text stehenden 278

EuGH Slg. 1973, S. 215 ff., 245 f. (Europemballage und Continental CAN / Kommis-

sion). 279 EuGH Rs. 206 / 01 Rn. 42 ff.; EuGH Rs. 260 / 00 Rn. 30 ff. und 48 ff.; EuGH 411 / 00 Rn. 45 ff.; EuGH Rs. 417 / 00 Rn. 47 ff.; EuGH Rs. 141 / 99 Rn. 97 ff. 280 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 384. Die herangezogenen Urteile finden sich in: EuGH Slg. 1991, S. I-2867 ff., 2898 (Kommission / Rat); sowie EuGH Slg. 1987, S. 1493 ff., 1520 (APS).

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5 Rechtsprechung des EuGH – 54 Recht auf Argumente

Argumente vor der Entstehungsgeschichte wird immer wieder davon gesprochen, dass der EuGH die objektive Auslegungslehre vertrete.282 Richtig daran ist nur, dass er die Kontexte ebenso gewichtet, wie die objektive Lehre es tut. Als Auslegungsdoktrin hat er sie aber niemals übernommen. Er begründet den Vorrang der textnäheren Gesichtspunkte mit Vertrauensschutzargumenten normativ, gerade nicht vom Ziel der Auslegung her. Ein weiterer, vor allem rechtsnormtheoretisch bedeutsamer Ansatz zur Gewichtung der Argumente zeigt sich in der Judikatur des EuGH beim Einbezug von typisierenden Annahmen über die Wirklichkeit. Bei den Grundfreiheiten, aber auch im Bereich der Kompetenzen und des Grundrechtskatalogs zeigt sich der Charakter gemeinschaftsrechtlicher Leitbegriffe als Verweisungsbegriffe auf die soziale Wirklichkeit besonders deutlich. Das Recht ist als Sollensaussage auf die Formung der Realität bezogen. Meist braucht man, um die Tragweite einer Regelung beurteilen zu können, Informationen über die Wirklichkeit. Es geht dabei um das Verknüpfen des rechtlichen Sprachspiels mit anderen Sprachspielen und mit Wissenschaften wie Ökonomie, Soziologie, Technik, usw. Diese Verknüpfung muss man als solche erkennen, sonst ist die juristische Argumentation unvollständig. Aber selbst wenn man sie erkennt, gibt es noch Fehlerrisiken. 705

Zu nennen ist hier zunächst der Übergriffsfehler. In so gut wie jeder Geisteswissenschaft sind die anderen Disziplinen in Gestalt von Stellvertretern präsent. Es gibt eine Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Rechtslinguistik, usw. Ein Problem entsteht, wenn diese interne Repräsentation den Anschluss an den Stand der Kunst verliert und unter Niveau argumentiert. Ein Übergriffsfehler liegt dann vor, wenn die erforderliche Rückkopplung an die Fachwissenschaften unterbleibt und der Richter sich zum Soziologen, Linguisten, usw. aufschwingt. Die Peinlichkeiten, die sich daraus ergeben können, zeigen sich besonders bei umstrittenen Begriffen. Die umgekehrte Struktur hat der Unterwerfungsfehler. Hier wird eine faktische Entwicklung einfach ins Normative verlängert. Tatsächliche Faktoren sind aber an das Normprogramm rückzukoppeln und daran zu messen. Wenn das Normprogramm solche faktischen Entwicklungen gerade verbieten will, dann können sie nicht zum Bestimmen der Regelungskraft des fraglichen Normtextes herangezogen werden. Methodisch gewendet bedeutet das, dass Normbereichsargumente im Fall des Konflikts mit textbezogenen Konkretisierungselementen zurücktreten müssen.

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Diesen Unterwerfungsfehler vermeidet der EuGH, indem er den normtextbezogenen Elementen Vorrang vor der Auslegung im Licht der nachfolgenden Praxis der Mitgliedstaaten gibt: „Im ,Defrenne‘-Urteil hat der EuGH diesbezüglich festgestellt, daß Art. 119 EGV in seiner Wirksamkeit nicht dadurch beeinträchtigt wer281 Anweiler, J., ebd., S. 384 f. Die herangezogenen Urteile finden sich unter EuGH Slg. 1991, S. I-745 ff., 778 (Antonissen); sowie EuGH Slg. 1988, S. 843 ff., 852 (Kommission / Italien). 282 Vgl. dazu Anweiler, J., ebd., S. 74.

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den darf, daß einige Mitgliedstaaten die ihnen vom Vertrag auferlegte Verpflichtung nicht erfüllt haben und die Gemeinschaftsorgane gegen diese Untätigkeit nicht mit der erforderlichen Schärfe eingeschritten sind. Selbst eine übereinstimmende nachfolgende Praxis aller Mitgliedstaaten, die in einer gemeinsamen Entschließung zum Ausdruck kommt, vermag sich über den Wortlaut des Art. 119 EGV nicht hinwegzusetzen, denn ihre Berücksichtigung würde auf eine unzulässige Änderung des Vertragswortlauts außerhalb des dafür in Art. N EUV vorgesehenen formellen Verfahrens hinauslaufen.“283 Nachdem weder der Begriff der Auslegung noch ein formales Apriori der Argumentation zu einer Lösung führen, bleibt nun noch zu fragen, ob sich in der Rechtspraxis selbst Anhaltspunkte für eine Lösung finden lassen. Die Judikatur lässt in der Tat eine Rangfolge der verwendeten Argumente erkennen, ohne dass diese aber näher begründet würde. An dieser Stelle liegt der Ansatzpunkt einer Rechtserzeugungsreflexion. Eine „wenigstens im Ansatz kontrollierbare Rangfolge“284 wird einer grundsätzlichen Analyse unterzogen. Dabei ist als Ausgangspunkt für den EuGH vor allem das Apriori seiner primär- 707 rechtlichen Grundlagen von Bedeutung.285 Diese werden als Strukturvorgaben für die Tätigkeit des Gerichtshofs aufgefasst. Zu denken ist dabei vor allem an Vorschriften wie Normenhierarchie, Tatbestandsbestimmtheit, Textklarheit, Rationalität und Kontrollierbarkeit286 juristischen Arbeitens. Diese rechtsstaatlichen Grundsätze stellen, soweit sie methodenbezogen sind, als normative Grundlage für den EuGH bestimmte Anforderungen an dessen Argumentationspraxis. Das Ergebnis dieser Einwirkung des Primärrechts auf die Argumentation lässt sich so formulieren: Hinter der vorgeblich objektiven Bedeutung des Gesetzestextes oder der Idee der Gerechtigkeit führt eine praktische Reflexion der Rechtswissenschaft der Sache nach zu einer rechtsstaatlichen juristischen Methodik.

283 Anweiler, J., ebd., S. 385. Das im Text herangezogene Urteil findet sich unter EuGH Slg. 1976, S. 455 ff., 473 (Defrenne / Sabena). 284 Anweiler, J., ebd. 285 Vgl. neben dem Ansatz der Strukturierenden Rechtslehre zur Notwendigkeit einer normativen Entscheidung methodischer Grundfragen auch Hassold, G., Wille des Gesetzgebers oder objektiver Sinn des Gesetzes – subjektive oder objektive Theorie der Gesetzesauslegung, in: ZZP 1981, S. 192 ff., 196 f. Die Bedeutung der Verfassung, jedenfalls im Hinblick auf die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes im Zusammenhang mit der Frage nach der Rangfolge der Auslegungsargumente, wird auch angesprochen bei Roellecke, G., Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1975), S. 7 ff., 39. 286 Die skeptische Frage, ob Vorrangregeln wirklich zu einem Gewinn an Rechtssicherheit und Berechenbarkeit führen, stellt Honsell, Th., Historische Argumente im Zivilrecht, 1982, S. 17. Bejaht wird diese Frage von Zöllner, W., Recht und Politik, in: Festschrift für die Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 131 ff., 146, Anm. 41. Weitere Nachweise für eine bejahende Stellungnahme bei Honsell, Th., ebd., S. 5, Fn. 9. Honsell ist zuzugeben, dass Vorrangregeln keine Kontrollierbarkeit im Sinne einer absoluten Vorhersehbarkeit der Entscheidung gewährleisten können. Trotzdem führen sie aber zu einem relativ größeren Ausmaß an Vorhersehbarkeit.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 54 Recht auf Argumente

Von Bedeutung sind dabei primärrechtlich nicht nur die methodenbezogenen Normen in Art. 220, 288 und 314 EG, sondern auch der aus den nationalen Traditionen entwickelte Rechtsstaatsgedanke, der als bürgerschützende und formstrenge Vorgabe dem Normtext eine zentrale Stellung zuweist.287 Wenn man über diese normativen Daten hinaus noch die von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Rechtsnormtheorie begrifflich berücksichtigt, wird deutlich, dass die von der Judikatur angestellten Überlegungen zur Rangfolge tatsächlich an die Normtextnähe der betreffenden Argumente anknüpfen. 708

Dieser Gesichtspunkt erlaubt es, die von den Konkretisierungselementen ins Spiel gebrachten unterschiedlichen Kontexte zu gewichten, wobei etwa ein Argument aus der Systematik des Gesetzes einem aus den Materialien im Zweifelsfall vorzuziehen ist.288 Mit einer solchen rechtsstaatlichen Rangfolge der Argumente kann die Verknüpfung von Normtext und tragendem Leitsatz an einem objektivierbaren Maßstab gemessen werden.289 Eine Interpretation ist, wie gesagt, dann besser, wenn sie die von der Zeichenkette und dem vorliegenden Bedeutungskonflikt gelieferten Anschlussmöglichkeiten für die Argumentation wirksamer nutzt; das heißt, dass sie die Einwände oder Widerlegungen des Gegners entweder in die eigene Argumentation integrieren oder sie ausräumen kann.

709

Eine Rechtserzeugungsreflexion kann auch die alte Frage der einzelfallbezogenen Wertung von Vorrangregeln lösen.290 Wenn man an die bereits praktizierten Kriterien anknüpft, ergibt sich im Fall von Konflikt oder Widerlegung die Notwendigkeit, in zwei Phasen zu gewichten. Erstens sind die Elemente normstrukturell oder abstrakt zu bewerten. Zweitens müssen sie konkret nach Intensität oder Schwere eingeordnet werden. Normstrukturell ist das Gewicht eines Arguments umso größer, je näher es am Normtext steht. Das heißt, textbezogene schlagen Normbereichselemente aus dem Feld, und diese wiederum bloß rechtspolitische Bewertungen, usw. Neben diese Einordnung des Elements in die Normstruktur als direkt textbezogen, indirekt textbezogen oder normtextgelöst291 muss dann noch eine konkrete Bewertung treten. Diese lässt sich kaum vom jeweiligen Fall abstrahieren. Als allgemeine Kriterien bieten sich Möglichkeit, Plausibilität und Evidenz an.292 Möglich ist in diesem Sinn ein Argument, das nicht von vornherein ausVgl. Müller, F., Die Einheit der Verfassung, 1979, S. 114 ff. Vgl. zu den entsprechenden Konfliktlagen ausführlich: Müller, F. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 429 ff. und öfter. 289 Eine Rangfolge der juristischen Argumente wird auch begründet bei Roellecke, G., Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1975), S. 7 ff., 38 f., allerdings ohne den Bezug zur Normtextnähe, aber mit der Andeutung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte, die etwa an die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes anknüpfen. 290 Vgl. zu Ansätzen für abstrakte Vorrangregeln im Gemeinschaftsrecht auch Buerstedde, W., Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 157 ff. 291 Zu dieser Unterscheidung Müller, F. / Christensen R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 431 f. 287 288

542 Ansätze zu einer Rangfolge in der Praxis des EuGH

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geschlossen ist. Plausibel heißt, dass es überzeugt, dass aber Alternativen bestehen. Evident ist ein Argument dann, wenn zur Zeit keine Alternativen denkbar sind.

55 Begründung oder das Recht auf legitime Entscheidung Der EuGH hat ein Recht auf Begründung gegenüber den Organen der Gemein- 710 schaft anerkannt: „Zu diesen Garantien gehören insbesondere die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevante Gesichtspunkte des Einzelfalles zu untersuchen, das Recht des Betroffenen, seinen Standpunkt zu Gehör zu bringen, und das Recht auf eine ausreichende Begründung der Entscheidung.“293 Für das Gerichtsverfahren wird dieser Anspruch von EuGH und EGMR übereinstimmend schon aus dem Begriff der Rechtsprechung294 abgeleitet: „Dass ein Verfahren nicht mit einem Orakelspruch enden darf, versteht sich von selbst.“295 Die europäischen Gerichte haben auch die Funktion der Begründung klar benannt: sie muss sich mit den von den Beteiligten vorgebrachten Argumenten auseinandersetzen.296 Zwar nicht bis ins letzte Detail mit allen für die einzelne Partei maßgeblichen, aber sie muss jedenfalls einen argumentativen Mindeststandard wahren.297 Das Recht auf Begründung bedarf der praktischen Einlösung. Dabei lassen sich 711 zwei Extrempositionen denken: einmal der Anspruch, die Begründung als Legitimationstransfer vom Gesetz auf die Entscheidung allein mit Hilfe der Semantik des Gesetzestextes abzuleiten. Dahinter steht noch immer die alte Montesquieusche Vorstellung vom Richter als Mund des Gesetzes. Zum anderen der Versuch, die Begründung als Auseinandersetzung mit den Argumenten zu behandeln, welche die Beteiligten für ihre jeweilige Lesart von Gesetz und Sachverhalt vorgebracht haben. Das ist eine pragmatische Haltung. Dahinter steckt das Vorhaben, das Konzept von Gewaltenteilung und rechtsstaatlicher Demokratie in einer realistischen Sicht der sprachlichen und medialen Gegebenheiten neu zu denken.

Luhmann, N., Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1993, S. 119, 163 f., 201 f., 204 f. EuGH Slg. 1991, S. I-5469 ff., 5499 (Technische Universität); EuGH Slg. 1989, S. 3283 ff., 3351 (Orkem / Kommission); EuGH Slg. 1991, S. I-3187 ff., 3241 (Al-Jubail Fertilizer / Rat); EuGH Slg. 1992, S. I-4785 ff., 4835, (Associación Espanola de Banca Privata u. a.). 294 Vgl. etwa EGMR, in: NJW 1999, S. 2429. 295 Miehsler H. / Vogler T., in: Golsong, H. u. a. (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2000, Art. 6 Rdnr. 377 m. w. N. 296 EKMR E 2. 4. 1973, 5460 / 72, CD 43, 107. 297 EKMR E 3. 2. 1971, 4607 / 70, CD 37, 153 f. 292 293

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5 Rechtsprechung des EuGH – 55 Recht auf Entscheidung 551 Die europäische Begründungstradition zwischen Ableitung und Argumentation

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Die Art, wie der Gerichtshof im Kraftfeld dieser gegensätzlichen Konzeptionen seine eigene Begründungskultur entwickelt,298 ist durch die historischen Bedingungen eines fortlaufenden Einigungsprozesses geprägt. Die Regeln in Satzung und Verfahrensordnung des EuGH lassen für das Ausfüllen durch die Praxis weiten Spielraum. Nach der Satzung sind die Urteile mit Gründen zu versehen; und aus der Verfahrensordnung ergibt sich als deren Inhalt „eine kurze Darstellung des Sachverhalts, die Entscheidungsgründe, die Urteilsformel einschließlich der Entscheidung über die Kosten.“ Die Schwierigkeit einer praktischen Konkretisierung liegt nun darin, dass die Gemeinschaft auf keine eigene Tradition zurückgreifen kann, obwohl doch gerade dieser Bereich von Begründungsstil und -praxis sehr stark durch die Überlieferung geprägt ist. Auch das römische Recht kann diese Basis nicht darstellen, weil es in den Mitgliedstaaten ganz verschieden rezipiert wurde.299

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Ausgangspunkt für die Begründungspraxis des EuGH war zunächst die enge, geradezu logizistische Tradition der romanischen Länder. Im Hinblick auf das Fehlen homogener Standards gerichtlicher Begründung in den Mitgliedstaaten und auf die politischen Umstände bei der Entstehung der Gemeinschaft lag es nahe, „daß sich der Gerichtshof in Verfahrens- und Formfragen in erster Linie an die französische Rechtsordnung anlehnte, der bei der Gründung der EGKS im Jahre 1950 ein besonderes Gewicht zukam. Vor allem war die EGKS als Verwaltungsgemeinschaft ausgestaltet, so daß Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit im Vordergrund standen. Diese sind aber in den meisten Gründerstaaten weitgehend vom französischen Recht beeinflußt. Deutsche Verfahrenspraxis hatte dagegen zunächst nur beschränkten Einfluß, denn das Grundgesetz war gerade erst in Kraft getreten, und die deutschen Gerichte mußten nach den Perversionen der Rechtsordnung durch Diktatur und Krieg ihren eigenständigen Weg noch finden. Die englische Tradition wurde erst ab 1973 nach dem Beitritt Großbritanniens zur Gemeinschaft wirksam, als sich die Praxis des Gerichtshofs bereits weitgehend verfestigt hatte.“300 Wichtig ist dabei die Einschränkung „weitgehend“. Denn seither hat sich die Begründungspraxis des EuGH tatsächlich weiter entwickelt. Sichtbar wird das allerdings erst, wenn man ihre Wurzeln in den wichtigen Rechtskreisen der Gemeinschaft in die Betrachtung einbezieht. 298 Vgl. dazu grundlegend Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff.; vgl. dazu außerdem Universitá degli studi di Ferrara (Hrsg.), La sentenza in Europa, Metodo, tecnica e Stile, Padova 1988; Klinke, U., Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1989, S. 64 f.; Streinz, R., Europarecht, 4. Aufl., 1999, S. 188. 299 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 132. 300 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 132.

551 Die europäische Begründungstradition

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551.1 Die Überschätzung der Semantik in der romanischen Tradition Die romanische Tradition ist besonders stark an der klassischen Vorstellung des 714 Gesetzbuchs orientiert. Die von der Aufklärung geschaffenen Kodifikationen, wie der Code civile, galten sehr lange als lücken- und widerspruchslos. Hier wirkte noch stark die christliche Vorstellung des heiligen Buches als mediales Paradigma nach.301 Die im Buch gerundete Totalität hat keine „losen Enden“, an die Rechtsmeinungen, Schriftsätze, Kommentare und Fußnoten anknüpfen könnten. Vielmehr ist das Gesetz als „manifestation de la volonté souveraine“ ein in sich vollkommen geschlossenes Ganzes.302 Die Rolle des Gesetzbuchs wird überschätzt und spiegelverkehrt die Rolle des Richters klar unterschätzt: „Das Gesetz galt allgemein als die Magna Charta der Freiheit, der Richter aber nur als sein gehorsamer Diener und Vollstrecker.“303 Der Gedanke, dass im Gesetz die Lösung für alle künftigen Fälle nicht schon enthalten sein könne, hat sich in der Wissenschaft erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts langsam durchgesetzt.304 Die Ersetzung der École de l’exégèse durch die École scientifique contemporaine führte dazu, dass der Wirklichkeitsbezug des Rechts soziologisch thematisiert wurde305 und dass die Umwandlung von sozialer Tatsächlichkeit in rechtlich strukturierte Aussagen von der Methodik überhaupt bemerkt werden konnte. Eine weitere wichtige Folge dieser Entwicklung lag darin, dass der Wortlaut des Gesetzes mit der Konkretisierungsleistung der grammatischen Auslegung nicht mehr gleichgesetzt wurde306, sondern dass nun auch die anderen Instrumente der juristischen Textarbeit zur Semantik des Textes zählten. Wenn in der deutschen Kritik dem EuGH immer wieder vorgehalten wird, er gehe mit der systematischen und teleologischen Interpretation über den Wortlaut hinaus,307 so ist dieser Vorwurf aus der Sicht der französischen Tradition schwer nachvollziehbar. Die Stärke dieses Traditionsstrangs liegt also 301 Vgl. dazu Wetzel, M., Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, 1991, S. 19 ff. 302 Fikentscher, W., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. I: Frühe und religiöse Rechte / Römischer Rechtskreis, 1975, S. 433 ff.; Gillissen, J., Introduction historique au droit, 1979, S. 473 ff.; Germann, O. A., Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl., 1967, S. 113 ff. 303 Gangl, H., Verfassungsfragen der Fünften Republik, 1964, S. 53. 304 Bürge, A., Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert zwischen Tradition und Pandektenwissenschaft, Liberalismus und Etatismus, 1991, S. 268 ff.; Gény, F., Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif, Bd. I, 1954, S. 257 ff., insbesondere S. 269 ff.; Müller-Erzbach, R., Wohin führt die Interessenjurisprudenz?, 1932, S. 43; Germann, O. A., Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl., 1967, S. 113. 305 Hier sind vor allem die Werke Génys, F., Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif, Bd. I, Paris 1954 und Science et technique en droit privé positif, Bände I bis IV, 1914 bis 1924 zu nennen. 306 Vgl. Bergel J. L., Théorie générale du droit, 1985, S. 266; David, R., Le Droit francais, Band l, 1960, S. 140; Fikentscher, W., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. I: Frühe und religiöse Rechte / Römischer Rechtskreis, 1975, S. 543. 307 Vgl. Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, S. 254.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 55 Recht auf Entscheidung

darin, dass die Semantik des Textes nicht auf die Bedeutungserkenntnis qua grammatischer Auslegung reduziert wird, sondern dass sie als holistische Aufgabe erscheint, welches den Einsatz aller Canones erfordert. 715

Trotz dieser Öffnung zum sozialen Umfeld und zum holistischen Problem der Textbedeutung hin bleibt die romanische Tradition von einem naiven, d. h. nicht sprachkritisch durchdachten Verständnis von Gewaltenteilung und rechtsstaatlicher Demokratie geprägt. Das zeigt sich gerade bei der Begründung von Gerichtsentscheidungen: „Übereinstimmend stellen die Gerichte ihre Entscheidungen als einfache, zwingende Deduktion aus den Rechtssätzen dar. Sie sprechen als ,bouche de la loi‘ in der Tradition Montesquieus und lassen keinen Zweifel an der Richtigkeit ihres Spruches erkennen. Erwägungen der materiellen Gerechtigkeit oder rechtsund gesellschaftspolitische Überlegungen, wie sie jedes Gericht anstellt, werden nach außen nicht sichtbar. Der Schein strenger Gewaltenteilung im traditionellen Sinn wird gewahrt. Der Geltungsanspruch, mit dem die Urteile gesprochen werden, läßt ein gefestigtes Verständnis vom Staat und seiner auf Tradition beruhenden Autorität erkennen. Dieser Staat braucht die Rechtsgenossen nicht zu überzeugen, er erwartet Gehorsam von dem Bürger gegenüber dem, was die Gerichte als Recht formulieren.“308 Der Rationalismus der Aufklärung mündet so in den Irrationalismus des Obrigkeitsstaats. Die juristische Sprache beeindruckt zwar die Laien, aber sie wird von den Juristen selbst als unklar und orakelhaft empfunden, so dass auch in der romanischen Welt längst eine Änderung der Begründungspraxis gefordert wird.309 Der Rationalismus, der einst genügte, um die feudale Ordnung zu kritisieren, genügt den Kommunikationsbedingungen einer pluralistischen Demokratie nicht mehr. Das heißt zwar nicht, man müsse den Rationalismus verwerfen. Aber man hat ihn heute auf seine medialen Bedingungen hin zu reflektieren.

551.2 Die Pragmatik der Texte in der deutschsprachigen Tradition 716

Die deutsche Tradition liefert ein komplexes Bild aus engem Textbegriff und gleichzeitig weiter gerichtlicher Rechtsfortbildungskompetenz. Zunächst fällt die Beschränkung des Textbegriffs auf, der die Semantik auf Bedeutungserkenntnis qua grammatischer Auslegung reduziert. Das macht sich bis in die europarechtliche Literatur hinein bemerkbar: „Im Gemeinschaftsrecht gilt wie im Völker- und im innerstaatlichen Recht als erster Grundsatz, dass der Text in seinem Wortlaut zunächst einmal aus sich selbst heraus auszulegen ist. Der normale und natürliche 308 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 133 f. 309 Vgl. dazu Chapus, R., Droit administratif général, I, 3. Aufl., 1987, S. 14; Touffait, A. / Tunc, A., Pour une motivation plus explicite des décisions de justice, in: RevTrimDrCiv. 1974, S. 487 ff.; Schlette, V., Die verwaltungsgerichtliche Konrolle von Ermessensakten in Frankreich, 1991, S. 68.

551 Die europäische Begründungstradition

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Sinn der Worte in ihrem unmittelbaren Zusammenhang des Satzes usf. ist festzustellen. ( . . . ) Diese Aufgabe wird dadurch ungemein schwierig (und die Wortbedeutung relativiert), dass es nach der Sprachenregelung der EG jeweils zwölf authentische Texte gibt ( . . . ). Nur der EGKSV kennt die französische Fassung als einzig autoritative. Auch die häufige Verwendung einer ,Arbeitssprache‘ (insbes. englisch und französisch) bei der Herstellung eines Rechtstextes vermag angesichts der Gleichrangigkeit der Sprachen nur begrenzt Hilfe zu leisten. Es muss daher für den gemeinschaftsrechtlichen ,Wortlaut‘, wenn die sprachlichen Fassungen von einander abweichen, irgendwie eine Synthese gefunden werden ( . . . ). In solchen Fällen befindet man sich dann rasch jenseits einer rein textuellen Auslegung und wendet in der Angleichung der Sprachen bereits systematische oder teleologische Methoden mit an.“310 Die Konsequenz dieses engen Textbegriffs ist eine entsprechend große Selbstverständlichkeit bei der Rechtsfortbildung. Allerdings wird auch in der europarechtlichen Literatur diese aktive richterliche Rolle mit Hilfe der Wertungsjurisprudenz wieder in ein Erkenntnismodell zurück gebogen, das auf die in der Rechtsgemeinschaft vorhandenen Wertmaßstäbe bezogen sein soll.311 Trotzdem gibt es mit Topik, Diskursanalyse, Systemtheorie und Strukturierender Rechtslehre eine ganze Anzahl von methodischen Ansätzen, die sich um eine Erarbeitung der Pragmatik juristischer Texte bemühen.312 Neben Stellenwert und Bandbreite der Rechtstheorie wirken hier auch histori- 717 sche Besonderheiten mit, die eine fraglose Identifikation mit der Obrigkeit ausschließen. Das hat Folgen bis in den Stil gerichtlicher Begründungen hinein. Die Urteilspraxis deutscher Gerichte unterscheidet sich schon von der äußeren Form her erheblich von jener in der romanischen Tradition: „Ihre Urteile sind oft umfangreich und setzen sich jedenfalls bei wichtigen Rechtsfragen ausführlich mit den in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Ansichten auseinander. Urteile des Bundesverfassungsgerichts lesen sich gelegentlich wie Monografien. Deutsche Gerichte sind bemüht, durch richtiges methodisches Vorgehen und durch Wissenschaftlichkeit argumentativ zu überzeugen, während die Gerichte der meisten anderen Staaten in der Regel autoritativ entscheiden und die Legitimation in der ,Richtigkeit‘ der Entscheidungen suchen. Dieses unterschiedliche Vorgehen dürfte tieferliegende geschichtliche Ursachen haben. Die meisten Mitgliedstaaten sind weitgehend gefestigte Nationalstaaten, die davon ausgehen können, daß ihre Institutionen einschließlich der Gerichte von einem allgemeinen Konsens getragen sind. Von den deutschen Gerichten wird das offenbar nicht so selbstverständlich vorausgesetzt. Das dürfte mit den mehrfachen Brüchen in der nationalen Geschichte zusammenhängen. Deutsche Gerichte bemühen sich, durch Rationalität und Überzeugungskraft die Basis dafür zu schaffen, daß die Rechtsprechung insgesamt Oppermann, Th., Europarecht, 2. Aufl., 1999, S. 254 f. Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 101. 312 Vgl. Christensen, R. / Kudlich, H., Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 55 ff., m. w. N. 310 311

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5 Rechtsprechung des EuGH – 55 Recht auf Entscheidung

als Verwirklichung von Recht akzeptiert wird.“313 Dem deutschen Modell kommt damit zwischen der romanischen und der angelsächsischen Wurzel der europäischen Begründungspraxis eine wichtige Mittlerrolle zu.

551.3 Die Pragmatik der Fälle in der angelsächsischen Tradition 718

Die angelsächsische Tradition steht in scharfem Gegensatz zur romanischen. Das wird vor allem am zentralen Paradigma des Gesetzbuchs deutlich. Aus der Sicht der klassischen kontinentalen Lehre handelt es sich bei diesem um eine in sich geschlossene Ganzheit, die alle künftigen Fälle lückenlos zu regeln vermag. Im angelsächsischen Recht herrscht demgegenüber die Vorstellung des „Amendment“. Danach dient das Statue Law nur der Ergänzung und Verbesserung des Gewohnheitsrechts.314 Eine geschlossene, die Zukunft vorwegnehmende Kodifikation ist so ein fernliegender Gedanke.315 Im kontinentalen Modell war das Überschätzen des Gesetzbuchs mit einem Unterschätzen der Rolle des Richters verknüpft. Auch in dieser Hinsicht ist eine realistische Korrektur zu erwarten. Aus kontinentaler Sicht pflegt man im angelsächsischen Recht eine herausragende Stellung der Richter,316 die ihnen eine Machtfülle und ein soziales Ansehen verschaffen, welche persönlich geprägte Urteilssprüche zulassen. Das schlägt sich auch im Stil richterlicher Begründungen nieder: „Ein wesentlicher Unterschied zum kontinentalen Urteilsstil besteht vor allem in der persönlichen Färbung. Der Richter begründet die Entscheidung meist mündlich, und auch die schriftliche Fassung läßt das gesprochene Wort erkennen. Das Gericht ist keine anonyme Autorität, sondern die Persönlichkeit des Richters, bei Kollegialgerichten die des die Begründung vortragenden Mitglieds, die oft durch seine Kollegen ergänzt wird, wird sichtbar. Er scheut sich nicht, im Ich-Stil Meinungen zu bekennen und seine subjektive Einschätzung als solche zu kennzeichnen. Deshalb bestehen auch keine Bedenken gegen dissenting opinions, die in Frankreich nicht und in Deutschland nur beim Bundesverfassungsgericht zugelassen werden. Damit hängt zusammen, daß die Richter auch Erwägungen des Gemeinwohls oder der Einzelfallgerechtigkeit offen aussprechen, soweit ihnen die Präjudizien ausreichenden Spielraum einräumen.“317 313 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 135. 314 Hatschek, J., Englisches Staatsrecht, Band l: Die Verfassung, 1905, S. 153 ff. 315 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 124. 316 Kayser, U., Die Auswahl der Richter der englischen und amerikanischen Rechtspraxis, 1969, S. 159 ff.; Keeling, D., Das Richterbild in Großbritannien, in: DRiZ 1994, S. 98 ff., 98 f. 317 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 136.

551 Die europäische Begründungstradition

513

Eine weitere wichtige Folge aus dem fehlenden Glauben in die umfassende Ko- 719 difikation betrifft die Methode des Argumentierens. Es geht aus angelsächsischer Perspektive nicht um die Lösung eines abstrakten Rechtsproblems, sondern um die Herstellung von Gerechtigkeit im vorliegenden Fall. Man kann deshalb auch nicht aus der Kodifikation deduzieren, sondern muss induktiv von „precedent to precedent“ vorgehen.318 Allerdings ist die problemorientierte und induktive Vorgehensweise vor allem für den Bereich des common law kennzeichnend, nicht dagegen für den immer weiter wachsenden319 Bereich des statue law. Hier herrscht ein sehr enger Textbegriff, orientiert an der grammatischen Auslegung, der vor allem Überlegungen teleologischer und historischer Art weitgehend ausschließt.320 Diese enge Auslegung erklärt sich aus dem Bestreben, den Anwendungsbereich des Common Law gegenüber der Ausdehnung des Statue Law zu verteidigen.321 Das Gemeinschaftsrecht mit seiner notwendig starken Betonung von Zweck und Systematik muss daher für die angelsächsische Tradition als „incoming tide“ erscheinen, die einen grundlegenden Wandel in der Methode erfordert: „It would be absurd that the Courts of England should interpret it differently from the Courts of France, or Holland, or Germany ( . . . ) we must therefore, put on one side our traditional rules of interpretation. We have for years tended to stick too closely to the letter – to the literal interpretation of the words. We ought ( . . . ) to adopt the European methods ( . . . ) In interpretation of the treaty of Rome (which is part of our law) ( . . . ) we must certainly adopt the new approach.“322 Schließlich ist als Gegenstück zur kontinentalen Begründungskultur ein zentra- 720 ler Aspekt der angelsächsischen Tradition hervorzuheben: Im Vergleich zur deduktiven romanischen Tradition bemühen sich die Richter hier vor allem um eine überzeugende Rechtfertigung der getroffenen Entscheidung.323 Das Verfahren erscheint dann als Quelle von Argumenten, die es nicht nur zu diskutieren, sondern auch in der Begründung zu verarbeiten gilt. Das liefert ein Element, welches für Radbruch, G., Der Geist des englischen Rechts, 1956, S. 8. Teubner, W., Kodifikation und Rechtsreform in England, 1974, S. 21; Lashofer, J., Zum Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, 1992, S. 16. 320 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 137; Einzelheiten der Diskussion bei Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 116 ff., m. w. N. 321 Vgl. Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 116 f. 322 Lord Denning: Oppinion, in: Buchanan and Co Ltd. v. Babao Forwarding and Shipping Ltd. (1977), 2 W. L. R., S. 107 ff., 112. 323 Vgl. dazu Atiyah, P., Judgements in England, in: Universitá degli studi di Ferrara (Hrsg.), La sentenza in Europa, Metodo, tecnica e Stile, 1988, S. 140 ff.; Kriele, M., Das Präjudiz im kontinental-europäischen und anglo-amerikanischen Rechtskreis, in: Universitá degli studi di Ferrara (Hrsg.), La sentenza in Europa, Metodo, tecnica e Stile, 1988, S. 62 ff.; Cross, R. / Harris, J. W., Precedent in English Law, 4. Aufl., 1991. 318 319

33 Müller / Christensen

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5 Rechtsprechung des EuGH – 55 Recht auf Entscheidung

die Überwindung der sprachlichen Naivität des kontinentalen Rechtsstaatsverständnisses entscheidend wird. Nicht die Sprache des Gesetzes erbringt bereits die Grundlage des Urteils, sondern erst das Verfahren mit den Argumenten der Beteiligten. Es zeigt sich so ein praktischer Weg, um die Schranken des alten Kodifikationsdenkens zu überwinden. In seiner Charakteristik des angelsächsischen Begründungsstils formuliert der EuGH-Richter Ulrich Everling: „In den Urteilen kommt ferner das weitgehend von den Prozeßparteien bestimmte Verfahren zum Ausdruck. Das Gericht ist mehr als auf dem Kontinent Streitschlichter zwischen widerstreitenden Gegnern. Vortrag und Argumentation der Parteien spielen eine erhebliche Rolle und erfordern Antworten. Der Stil der Urteile ist meist bewundernswert lebendig und plastisch.“324 552 Von der Semantik des Obrigkeitsstaats zur Pragmatik des Rechtsstaats

721

Beim Betrachten der doch recht widersprüchlichen europäischen Modelle fragt es sich, ob eine einheitliche europäische Begründungskultur anders denn als Nivellierung von Besonderheiten überhaupt möglich ist. Die Antwort lautet: Es gibt diese Möglichkeit, aber realisiert ist sie in der Praxis des EuGH noch nicht.

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Zunächst zur Möglichkeit: Neben den Widersprüchen gibt es in der europäischen Tradition auch viele Gemeinsamkeiten. So ist zum Beispiel der Gedanke einer in sich geschlossenen Kodifikation zwar noch in der Begründungspraxis der Gerichte wirksam, aber in der Theorie sogar der romanischen Tradition längst überwunden. Auch ist das induktive Arbeiten entlang von Fällen auch der kontinental-europäischen Tradition nicht fremd. Nach der Rechtsprechung des Deutschen Verfassungsgerichts etwa wäre es Willkür, wenn ein Gericht von einer stabilen Entscheidungspraxis abweicht, ohne neue Argumente zu liefern.325 Außerdem ist im Rahmen des Staatshaftungsrechts die Pflicht anerkannt, höchstrichterliche 324 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 136. 325 Vgl. dazu Christensen, R. / Kudlich, H., Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 411 ff.; BGH, NJW 1963, S. 641 ff.; Schlüchter, E., Mittlerfunktion der Präjudizien, 1986, S. 109; Zweigert, K. / Kötz, H., Einführung in die Rechtsvergleichung, Band l: Grundlagen, 2. Aufl., 1984, S. 303 f.; Weller, H., Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, 1979, S. 43 ff., 111 ff.; Rabel, E., Gesammelte Aufsätze III, in: Laser, H. G (Hrsg.), Die Fachgebiete des Kaiser-Wilhelm-lnstituts für ausländisches und internationales Privatrecht, 1967, S. 180 ff., S. 180, 194 und Blaurock, U. (Hrsg.), Referate des 5. deutsch-französischen Juristentreffens in Lübeck vom 13. bis 16. 06. 1984: Die Bedeutung von Präjudizien im deutschen und französischen Recht, 1985. Für England: Cross, R. / Harris, J. W., Precedent in English Law, 4. Aufl., 1991, S. 6; Teubner, W., Kodifikation und Rechtsreform in England, 1974, S. 168 f.; Baker, J. H., An introduction to English legal history, 1990, S. 225 f.; Hatschek, J., Englisches Staatsrecht, Band l: Die Verfassung, 1905, S. 110 ff.; Lashofer, J., Zum Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, 1992, S. 9 ff.

552 Vom Obrigkeitsstaat zum Rechtsstaat

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Entscheidungen zu beachten; d. h. sie zu befolgen, außer wenn neue Argumente vorliegen. Umgekehrt kann es bei der sprachanalytischen Tradition angelsächsischer Rechtstheorie nicht schwer sein, die Pragmatik des Common Law auch auf die Arbeit mit Statue Law zu übertragen. Optimistisch könnte auch stimmen, dass es in den Stilelementen englischer und französischer Begründungen neuerdings Änderungstendenzen gibt: „Noch vor zwei Jahrzehnten bildeten gerade diese beiden Nationalstile in ihrer traditionellen Ausprägung einen starken Kontrast: Englischen Richtervoten kam es weniger auf eine bestimmte Form der Urteilsgestaltung an, sondern vielmehr darauf, dass der Weg der Entscheidungsfindung auf eine individuelle, von der Richterpersönlichkeit geprägte Ausdrucksweise offen nachvollziehbar gemacht wurde. Demgegenüber standen die traditionellen französischen Entscheidungen, die in äußerst knapper und distanzierter Form auf ein Minimum reduzierte Angaben aufweisen und deren Entscheidungsgründe auf das Ergebnis als Essenz komprimiert sind. Heutzutage treten die Eigenarten der Stilrichtungen nicht mehr so offen zutage; die englischen Richtervoten lassen in dem Bemühen um eine stärkere Systematisierung und einen höheren Abstraktionsgrad ihren ursprünglich anschaulichen und individuellen Stil vermissen, während die französischen Richtervoten zunehmend den Weg der Rechtsfindung offener und ausführlicher wiedergeben.“326 Eine Synthese der verschiedenen Traditionsstränge kann immer nur vorläufig 723 und instabil sein. Dem EuGH diese Aufgabe alleine aufzubürden, wäre sicher unangemessen. Denn schon in der Wissenschaft besteht nur geringe Bereitschaft, andere Traditionen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Typisch ist auch der Unwille nicht nur der Studenten, sondern auch der praktizierenden Juristen, Fremdsprachen zu lernen und sie in der Praxis anzuwenden.327 Aber gerade wegen der Schwierigkeit dieser Aufgabe ist der EuGH auf die begleitende Kritik der Wissenschaft angewiesen.328 Im Vordergrund dieser Kritik steht meistens die Kürze und Apodiktizität der Begründungen des Gerichtshofs. Zwar mögen dabei eine Fixierung auf einzelne Urteile und eine auf die Abwehr äußerer Einflüsse gerichtete nationalstaatliche Empfindlichkeit eine Rolle spielen, aber trotzdem erkennen auch EuGH-Richter ein deutliches Defizit in der Begründungsarbeit des Europäischen Gerichts.329 Deswegen hat es durchaus einen Sachkern, wenn Ossenbühl einen Vergleich des Deutschen Bundesverwaltungsgerichts mit dem EuGH so resümiert: „Genau besehen, bestehen nämlich gut erkennbare qualitative Unterschiede, die es zunächst einmal vorurteilsfrei festzuhalten gilt. Es sind Unterschiede der Rechts326 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 129. 327 Vgl. dazu Flessner, A., Juristische Methode und europäisches Privatrecht, in: JZ 2002, S. 14 ff., 22 f. 328 Vgl. dazu auch Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 142. 329 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 129.

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kultur. Die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit, namentlich auch das Bundesverwaltungsgericht, versteht Rechtsprechung als argumentatives Entscheiden. Die Rechtsprechung ist in ihren Entscheidungen nicht auf Autorität, sondern auf Rationalität gegründet. Ihr Ziel ist jedenfalls im Prinzip die Überzeugung durch Begründung. ( . . . ) Dem Konzept der argumentativen Entscheidung der deutschen Verwaltungsrechtsprechung steht eine Praxis gegenüber, die in maßgeblichen Teilen von der Autorität, nicht von der Rationalität lebt. Hier wird sich die Frage stellen, mit welchen Strategien wir die Rechtskultur der argumentativen Entscheidung in Europa einbringen können.“330 Natürlich darf man nicht glauben, nur am deutschen Begründungswesen könne der EuGH genesen. Trotzdem bleiben die hier erarbeiteten rechtsstaatlichen Standards eine notwendige Folie für die Kritik an der Arbeit des Gerichts. Geht man davon aus, dass eine Entscheidung, auch wenn in der Sprache nicht objektiv vorgegeben, dennoch Bindungen unterworfen ist, wird die Entscheidungsbegründung als Textsorte zentral. 724

Um ihre Rolle näher zu bestimmen, muss man sie in die rechtsstaatliche Textstruktur331 einordnen. Sowohl der Normtext als auch der gerichtliche Tenor sind anordnende Texte,332 die sich dadurch unterscheiden, im Prozess der Rechtsbildung auf unterschiedlichen Konkretisierungsstufen zu stehen. Während sich die Legitimität der Anordnung im Normtext allgemein aus der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers ergibt, muss die des Urteils im Einzelfall begründet werden; das heißt, es wird ein Legitimitätstransfer vom Normtext zum Tenor notwendig. Diesem Transfer dient die Begründung als rechtfertigender Text.333 Dafür kann allein das formale Vorliegen eines mit „(Entscheidungs-)Gründe“ überschriebenen Abschnitts nicht genügen. Die für das Einlösen des Gesetzesbindungspostulats nötige Überprüf- und Nachvollziehbarkeit muss vielmehr inhaltlichen und methodischen Standards gerecht werden. Wie sind diese zu verstehen? Ist der legitimierende Transfer ein semantischer, der zeigen muss, dass die ursprüngliche Bedeutung des Gesetzestextes den entschiedenen Fall immer schon enthalten hat? Oder ist er ein pragmatischer bzw. argumentativer, der zu zeigen hat, dass in einem rechtsstaatlichen Verfahren alle Argumente der Beteiligten wie auch der Stand von Ossenbühl, F., 40 Jahre Bundesverwaltungsgericht, in: DVBl. 1993, S. 753 ff., 761 f. Müller, F., Juristische Methodik und Politisches System, 1976, S. 80 ff.; 95 ff., ders. / Christensen, R., Juristische Methodik, Band I, 9. Auflage, 2005, Rn. 219 ff., 509 ff., 520 ff. Ebendort auch zum Begriff Normtext S. 156 ff. 332 Vgl. Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 117. 333 Vgl. Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 117, 121 ff. sowie Brink, S., Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, der bei der Rechtfertigungsfunktion weiter differenziert zwischen erklärender und kontrollierender Funktion der Begründung. 330 331

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Dogmatik und höchstrichterlicher Rechtsprechung unter Zurechenbarkeit zum Normtext verarbeitet wurden? Die herkömmliche Auffassung gerichtlicher Begründung hat mit dem Richter 725 und dem Gesetzestext nur zwei Instanzen im Blick. Weil sie Verfahren und Argumente der Beteiligten ausklammert, kann man sie als monologisch, richterbezogen kennzeichnen. Danach sollen entweder der Wille des Gesetzgebers oder der objektive Wille des Gesetzes garantieren, dass die Auslegungstätigkeit der Gerichte dem vorgegebenen Inhalt untergeordnet bleibt. Der Wille von Text oder Autor soll Grundlage eines deduktiven Begründungsmodells sein. Aber weder Autor noch Text sind in der Lage, die Aktivität des Lesers als des Dritten im Bunde von vornherein festzulegen.334 In der neueren Reformulierung des alten deduktiven Begründungsmodells, welche sich gern mit dem Adjektiv „semantisch“ schmückt, wird das Ziel einer vollständigen Determination der Aktivität des Lesers zwar abgeschwächt. Mit Hilfe der Semantik des Gesetzes lasse sich aber immerhin ein fester Bereich bestimmen, in dem der Bedeutungsgehalt des Gesetzes feststehe und jedem Streit entzogen sei.335 Diese Sicht scheitert jedoch an der praktischen Frage der Erfassung des Sprachgebrauchs. Wenn Regelhaftigkeiten des Sprachgebrauchs in der Linguistik benannt werden, 726 sind dies keine normativ verbindlichen „guiding rules“, sondern allein am empirischen Sprachgebrauch orientierte „fitting rules“.336 Außerdem findet sich in ihrer Formulierung eine aufschlussreiche Einschränkung, die meist lautet: „Normalbedingungen der Rede unterstellt.“ In dieser Einschränkung steckt die ganze Sprachtheorie.337 Denn näher ausformuliert, zielt dieser Vorbehalt auf den sogenannten semantischen Holismus ab. Nach dieser Einsicht lässt sich die Bedeutung eines Wortes nur in der entwicklungsoffenen Gesamtheit der Sprache bestimmen. Eine Regelformulierung sieht, für einen fiktiven Moment, von dieser Gegebenheit ab.338 Nur methodisch begrenzt und für bestimmte Zwecke (etwa die Erstellung 334 Vgl. dazu Christensen, R. / Kudlich, H., Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 123 ff., insb. S. 151 ff., sowie grundlegend die Diskussion zwischen Rorty, Culler, und Eco, in: Eco, U., Zwischen Autor und Text, 1994. Zur Position Ecos dabei noch Schalk, H., Umberto Eco und das Problem der Interpretation, 2000, insbesondere S. 151 ff., 171 ff. 335 Hilgendorf, E., Argumentation in der Jurisprudenz, 1991, S. 28 ff.; sowie Koch, H.-J., Das Postulat der Gesetzesbindung im Lichte sprachphilosophischer Überlegungen in: ARSP 1975, S. 27 ff.; ders., Deduktive Entscheidungsbegründung, in: Behrends, O. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990, S. 69 ff.; Rüßmann, H., Möglichkeiten und Grenzen der Gesetzesbindung, in: ebd., S. 35 ff. 336 Vgl. dazu Gloy, K., Sprachnormen als „Institutionen im Reich der Gedanken“ und die Rolle des Individuums in Sprachnormierungsprozessen, in: Mattheier, K. J. (Hrsg.), Norm und Variation, 1997, S. 27 ff., 30 f.; ders., „Variierende Übernahme“, in: Gloy, K. / Lagemann, J., Dem Zeichen auf der Spur, 1998, S. 17 ff., 25. 337 Vgl. dazu Gloy, K., Unbehagen an der Linguistik, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 29, 1984, S. 97 ff., 104 f.; ders., „Der Abgrund zwischen den Sätzen“. Eine Kluft zur Sprachtheorie?, in: Warmer, G. / ders., Lyotard. Darstellung und Kritik seines Sprachbegriffs, S. 81 ff., 152 f.

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eines Wörterbuchs) lässt sich der semantische Holismus ausklammern. Sobald man aber – wie in der herkömmlichen „juristischen Sprachtheorie“ – versucht, Regelformulierungen normativ zu wenden, kommt der Holismus unvermeidlich wieder zur Geltung. Denn sofort lässt sich der bloß partikuläre Charakter juristischer Regelformulierungen dadurch belegen, dass eine Anzahl von Gegenbeispielen beigebracht wird. 727

Der Versuch der alten deduktiven Begründungslehre, über die Semantik des Gesetzes einen festen Kern der Gesetzesbindung aufzuweisen, kann als gescheitert angesehen werden. Der Grund liegt in der fehlenden Komplexität ihrer „sprachphilosophischen Annahmen“. Man geht herkömmlich davon aus, bei der Interpretation bleibe die Textbedeutung identisch und es erfolge lediglich eine Verdeutlichung in anderen Worten. Aber die unterstellte Identität der Textbedeutung ist ihrerseits eine Frage der Interpretation. Man versteht Interpretation heute als Produktion neuer Texte aufgrund von alten, das heißt als Vermehrung und Erweiterung der Textgrundlage.339 Daher kann Schrift keine Determinationsgrundlage für die Herstellung von Recht sein: „Schrift ist nur eine Form, die eine Differenz von Textkörper und Interpretation, von Buchstaben und Geist des Gesetzes erzeugt. Es gibt keine schriftliche Fixierung des geltenden Rechts, ohne daß dadurch ein Interpretationsbedarf entsteht. Beides wird in einem Zuge, als eine Zwei-Seiten-Form erzeugt. Sobald Texte geschrieben sind, entsteht daher ein Problem der Interpretation.“340

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Der Richter hat im Rechtsstaat keine Kompetenz-Kompetenz, sondern eine umgrenzte Einzelermächtigung. Der Begriff Kompetenz-Kompetenz kommt aus der obrigkeitsstaatlichen Tradition und bedeutet, dass der Staat die unbeschränkte Kompetenz hat, sich selber Kompetenzen zu verschaffen. Auf die Gerichte der Gemeinschaft passt diese überlieferte Vorstellung nicht. Denn wie alle anderen Gemeinschaftsorgane hat auch der EuGH nur dann Kompetenzen341, wenn die Ver338 Vgl. dazu Mayer, V., Regeln, Normen, Gebräuche. Reflexionen über Ludwig Wittgensteins „Über Gewissheit“ in: DZfPh 2000, S. 409 ff., 418. 339 Das ist in der heutigen Diskussion einer der wenigen Konvergenzpunkte. Vgl. dazu für die Strömung des Poststrukturalismus Frank, M., Was ist Neostrukturalismus?, 1983, S. 573 ff.; für die postanalytische Tradition unter klarer Herausarbeitung der Konsequenz für die juristische Argumentation Somek, A., Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, insbesondere S. 80 ff.; für die neuere deutsche Philosophie der Interpretation vgl. Simon, J., Philosophie des Zeichens, 1989, S. 232; Abel, G., Übersetzung als Interpretation, in: ders. (Hrsg.), Das Problem der Übersetzung, 1999, S. 9 ff., 12; ders., Interpretationswelten, 1995, insbesondere S. 481 ff. mit Explikation der Bezüge zum postanalytischen Pragmatismus. Vgl. in diesem Sinne aber auch Luhmann, N., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 340, 362. Grasnick, W., Das Recht der Zeichen – Im Zeichen des Rechts, in: Simon, J. / Stegmaier, W. (Hrsg.), Fremde Vernunft, 1998, S. 228 ff. 340 Luhmann, N., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 362, vgl. auch ausführlich S. 245 ff. 341 Vgl. zu diesem Thema Schilling, Th., The Autonomy of the Community Legal Order: An Analysis of Possible Foundations, in: Harvard International Law Journal 37 (1996),

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träge ihm diese geben. Am europarechtlichen Grundprinzip der begrenzten Einzelermächtigung342 scheitert das obrigkeitsstaatliche Verständnis.343 Den Umstand, dass seine Entscheidung der Gesetzesbindung Genüge tut, muss der Richter in der Begründung seines Urteils darlegen. Dabei hat er sich mit den Interpretationen der Prozessbeteiligten und mit einschlägigen Entscheidungen anderer Gerichte auseinanderzusetzen. 344 So findet die Souveränität seiner Interpretation Grenzen. Im Rahmen der Begründungspflicht ist der Richter an überprüfbare Maßstäbe gebunden.345 Dieser Pflicht entspricht auf der Seite des Bürgers ein Recht auf Sprache. Er hat ein subjektives Recht darauf, dass der Richter seine Entscheidung nicht einfach nur fällt, sondern sie dem demokratisch erzeugten Normtext sprachlich zurechnen kann. Direkt mit Hilfe von Rechtsmitteln gegen die Entscheidung und indirekt mit Hilfe der fachlichen Kritik ist dieses Recht durchsetzbar.

S. 389 ff.; Weiler, J., The State „über alles“. Demos, Telos and the German Maastricht Decision, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. II, 1995, S. 1651 ff. 342 Vgl. dazu Peters, A., Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 152 ff. m. w. N. 343 Dem Begriff der begrenzten Einzelermächtigung wird oft die staatliche Kompetenzkompetenz entgegengesetzt. Kompetenzkompetenz lässt sich rechtsstaatlich verwenden, als verfassungsrechtlich begrenzte Befugnis streitige Kompetenzen voneinander abzugrenzen. Derselbe Begriff wird aber auch sehr häufig obrigkeitsstaatlich verwendet im Sinne einer staatlichen Allzuständigkeit. Im Sinne dieser Tradition heißt es dann: „Unser Staat vermag rechtlich schlechthin alles.“ Meier, O., Zur Lehre vom öffentlich-rechtlichen Vertrag, in: AöR 1988, S. 3 ff., 30 oder: „Die rechtliche ,Allgewalt des Staates‘ liegt nicht in der Summe der untergeordneten Kompetenzen, sondern in dieser Kompetenzhoheit.“ Zippelius, R., Allgemeine Staatslehre, 1999, S. 60. Vor allem in der Ausnahmesituation des Krieges realisiere sich die potenzielle Allumfassendheit des staatlichen Aufgabenbereiches. Vgl. dazu Krüger, H., Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 761. In dieser obrigkeitsstaatlichen Tradition wird dann der Gemeinschaft ein Staat abgesprochen und sie dem Völkerrecht zugeordnet. Vgl. dazu Münch, F., Die Abgrenzung des Rechtsbereichs der supranationalen Gemeinschaft gegenüber dem innerstaatlichen Recht, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 2 (1958), S. 73 ff., 77. In diesem Sinne auch Isensee, J., Integrationsziel Europastaat?, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I, 1995, S. 567 ff., 582. 344 Eine Inhaltsanalyse der EuGH-Entscheidungen vom Jahrgang 1999 kommt zu dem Ergebnis, dass der EuGH in 18 von 259 Fällen seine bisherige Entscheidungspraxis vom vorliegenden Fall abgrenzt als Antwort auf eine Rechtsansicht der Parteien hin. Vgl. dazu Dederichs, M., Die Methodik des EuGH, 2004, zitiert nach dem Manuskript, sowie die Entscheidungen EuGH Slg. 1999, I, S. 6983 ff. (Atlanta), Rn. 36; I, S. 5363 ff. (AssiDomän Kraft Product u. a.), Rn. 65 ff.; I, S. 5251 ff. (Lucaccioni), Rn. 28; I, S. 5127 ff. (Krüger), Rn. 27 ff.; I, S. 4399 ff. (ICI), Rn. 65; I, S. 2865 ff. (Angestelltenbetriebsrat der Wiener Gebietskrankenkasse), Rn. 16; I, S. 2491 ff. (Norbury Developments), Rn. 18; I, S. 1301 ff. (Consorzio Per La Tutela Del Formaggio Gorgonzola), Rn. 26; I, S. 185 ff. (Frankreich / Comafrica), Rn. 36; I, S. 259 ff. (Kommission / Portugal), Rn. 32; I, S. 513 ff. (Sektkellerei Keßler), Rn. 34; I, S. 1209 ff. (Eddline El-Yassini), Rn. 60. 345 Vgl. Müller, F. / Christensen, R. / Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 138 ff.

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Trotz aller tatsächlichen sprachlichen Vielfalt kann das Recht auf Sprache in jeder Rechtsordnung nur eingeschränkt gelten. Denn der Richter muss sich jedenfalls am Ende über die Pluralität der Sprachen hinwegsetzen, wenn er für diesen Streitfall die eine Entscheidung treffen soll. Die Mehrzahl der Sachverhaltserzählungen und Rechtsansichten muss er reduzieren, um dann sein Urteil zu fällen.346 Aber er hat diesen Vorgang in der Sprache zu vollziehen und sich mit den Irritationen und Anschlusszwängen auseinanderzusetzen, die sich aus dem Vortrag der Parteien ergeben. Damit ist die Frage, wie weit dem Rechtsunterworfenen ein Recht auf Sprache eingeräumt wird, für die Einschätzung einer Rechtsordnung zentral. Es gibt zwei Weisen des Umgangs mit der inneren Mehrsprachigkeit. Diese kann entweder zu Gunsten des Durchsetzens einer homogenen Sprache abgeschnitten, oder im Gegenteil als Begründungslast für die Entscheidung über Sprache aufgenommen und abgearbeitet werden. Im Extremfall einer totalitären Ordnung wird die innere Mehrsprachigkeit nivelliert. Das Recht des Rechtsunterworfenen auf Sprache, das heißt auf Argumente und Begründungen, wird ganz aufgehoben. Er wird durch eine Macht beurteilt, welche nur die Sprache zulässt, die sie vorher als fest und unveränderlich definiert hat.347 In einer freiheitlichen Ordnung gibt es dagegen Garantien für das rechtliche Gehör und den Einfluss der Verfahrensbeteiligten. Hier muss sich das Gericht mit ihrer Lesart der Gesetze und ihrer Sicht des Sachverhalts auseinandersetzen.

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Das monologische Modell mit seinen beiden Polen „richterliches Bewusstsein“ und „Gesetzestext“ ist – gemessen am Entscheidungsproblem – unterkomplex. Der Richter trifft seine Entscheidung nicht im luftleeren Raum allein mit dem Text. Es geht vielmehr ein antagonistisch geprägtes Verfahren voraus.348 In diesem werden Argumente für und gegen die Auffassung eines Sachverhalts, für und gegen eine bestimmte Lesart des Gesetzestextes beigebracht. Empirische Analysen machen deutlich, dass es sich im Gerichtsverfahren vor allem um argumentierende Erzählung bzw. erzählende Argumentation handelt.349 Diese Ausführungen hat der Richter zur Kenntnis zu nehmen, zu würdigen und er hat dem rechtlich besseren Ansatz der Lösung Vorrang einzuräumen. Mit dem Verlagern der Entscheidung aus dem „bewusstseinsphilosophischen“ in den diskursiven Rahmen praktischer Argumentationsvorgänge werden die Semantik des Gesetzes und die juristische Methodik vom Kopf auf die Füße gestellt. Semantische Probleme stellen sich in der Praxis Vgl. Schlag, P., Normativity and the Politics of Form, in: UpaLRev 139, S. 801 ff. Vgl. zur Gewalt als blindem Fleck juristischer Reflexion: Schlag, P., The problem of the subject, in: Texas Law Review 69 (1991), S. 1627 ff.; ders., Cannibal Moves. An Essay on the Metamorphosis the Legal Distinction, in: Stanfor Law Review 40 (1988), S. 929 ff. 348 Zum „strukturellen Antagonismus“ des Strafverfahrens und insbesondere der Hauptverhandlung vgl. Schünemann, B., Hände weg von der kontradiktorischen Struktur der Hauptverhandlung!, in: StV 1993, S. 607 ff. 349 Löschper, G., Bausteine für eine psychologische Theorie richterlichen Urteilens, 1999, S. 218 ff. Grundlegend zur Rolle des Erzählens im Gerichtsverfahren Grasnick, W., Über Schuld, Strafe und Sprache, 1987, S. 136 ff. 346 347

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des Argumentationsprozesses als Normierungskonflikte über die Sprachregel dar. Juristische Methodik wird von der unlösbaren Aufgabe entlastet, den Weg zur einzig richtigen Entscheidung zu weisen. Sie erscheint jetzt als eine soziale Technik zur Lösung von Bedeutungskonflikten über Sachverhaltsherstellung und Interpretation.350 Die Fragen nach der Bedeutung des Rechtstextes und nach den Methoden juris- 731 tischen Arbeitens bleiben zwar erhalten. Es ändert sich aber ihr Kontext. Sie stehen nicht mehr im Zusammenhang eines spekulativen Modells zur „Findung“ der einzig richtigen Entscheidung, sondern im praktischen Zusammenhang einer Beurteilung von Argumenten. Sprache entscheidet nur über Verständlichkeit.351 Ob aber ein verständlicher Sprachgebrauch angemessen, korrekt, usw. ist, entscheidet sich durch die normativen Einstellungen der an der jeweiligen sozialen Praxis Beteiligten. Das heißt, man kann Sprache besser verstehen, wenn man berücksichtigt, dass in konkreten Sprachspielen normative Praktiken durch entsprechende Attitüden der Teilnehmer begründet werden. Aber nicht „die Sprache“ entscheidet dabei über die Legitimität im Konflikt dieser Praktiken, sondern es sind die Beteiligten selbst. Die Normativitätsfrage verweist nicht auf eine in der Sprache bereits vorhandene normative Bedeutungssubstanz, sondern auf eine Praxis des Forderns und Lieferns von Gründen, den sogenannten „space of reason“.352 Normativität ist kein Naturprodukt der Sprache, das man abbauen könnte wie Bodenschätze. Sprache ist ein Marktphänomen. Legitimität kann man sich dort nicht umsonst besorgen. Man zahlt mit Argumenten. In der Praxis ihres Entscheidens wissen das die Richter. Sie sind zwar die Herren des Verfahrens, aber als solche zugleich in vielfacher Weise gebunden:353 innerhalb der Verhandlung durch die prozessualen Frage- und Antragsbefugnisse der Beteiligten, außerhalb vor allem dank der Kontrolle durch Rechtsmittelgerichte, aber auch durch die wissenschaftliche Begleitung der Judikatur sowie durch informelle Kontrollmechanismen innerhalb der Justiz.

350 Man kann also das, was Juristen praktisch tun, einschließlich der Anwendung der Logik, als Sozialverhalten ansehen und gewinnt damit eine Objektivität nicht in der spekulativen Ideensphäre von Willen oder Bedeutung, sondern in den tatsächlichen kommunikativen Operationen des Systems, vgl. Luhmann, N., Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 363, 367. 351 Vgl. dazu Davidson, D., Die zweite Person, DZfPh 2000, S. 395 ff., 401. Zur damit implizierten Kritik am Konventionalismus vgl. Davidson, D., Kommunikation und Konvention, in: ders., Wahrheit und Interpretation, 1990, S. 372 ff. 352 Brandom, R. B., Expressive Vernunft, 2000, S. 37. 353 Vgl. hierzu die interessante Untersuchung von Löschper, G. (Fn. 318), passim; aus diskurstheoretischer Sicht speziell für ein Strafverfahren auch Sauer, Ch., Der wiedergefundene Sohn, in: Hoffmann, L. (Hrsg.), Rechtsdiskurse, 1989, S. 63 ff.

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552.1 Von der Rechtsquelle zum Verfahren 732

Gesetzesbindung wird häufig als Bindung an eine Rechtsquelle verstanden. Inzwischen ist anerkannt, dass es sich bei der „Quelle“ um eine Metapher handelt. Auch wird jeder Praktiker sofort bestätigen, dass die Erkenntnis des Rechts aus dem Text des Gesetzes nicht möglich ist. Dazu braucht man ein ganzes Verfahren und eine große Menge weiterer Texte. Häufig wird daraus abgeleitet, im Recht sei eben alles beliebig. Die Entscheidungsdeterminanten lägen im Charakter des Richters, in seiner sozialen Herkunft oder seiner politischen Einstellung. Diese Theorie ist noch viel oberflächlicher als der klassische Gesetzespositivismus, den sie kritisieren will. Denn es bleibt dann bei der Determination durch eine Ebene der „Eigentlichkeit“ hinter dem tatsächlichen Geschehen und die praktischen Vorgänge bedürfen keiner Beobachtung mehr. An die Stelle dieser Trivialitäten muss man eine Analyse der Praxis setzen. Entscheidungen sind eben nicht beliebig. Wer jemals eine Begründung zu einem Urteil geschrieben hat, weiß, dass eine große Anzahl von Anschlusszwängen abgearbeitet werden muss. Da sind die im Verfahren vorgebrachten Argumente, meist eine beträchtliche Anzahl von Vorentscheidungen, die Kommentare, Gutachten, und dies alles muss noch auf das Gesetz bezogen werden. Statt von einem Extrem der Determination ins andere Extrem der Beliebigkeit zu fallen, muss man diese Anschlusszwänge strukturieren. Ausgehend von den Schwächen des gesetzespositivistischen Modells muss die tatsächliche Funktionsweise richterlicher Bindung in der Praxis beobachtet werden.

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Die herkömmliche Lehre hatte die richterliche Gesetzesbindung als monologische Erkenntnis aus einer vorgeordneten Rechtsquelle stilisiert. Das Urteil muss sich demnach in eine vertikale Systematik von Prinzipien und Rechtsidee einfügen. Ein Neuansatz muss die Gesetzesbindung pragmatisch als Konstruktion einer Rechtsquelle in einem mehrpoligen Verfahren begreifen. Das Urteil fügt sich dann in eine horizontale Systematik ein, bestehend aus Argumenten und Vorentscheidungen. Weil die Gerichte die vertikale Systematik in ihrer Praxis schon durch die horizontale Systematik ersetzt haben, stellt sich die Frage, wie dieser Übergang theoretisch zu strukturieren ist. Dabei kann man die inferenzielle Semantik nutzen. Diese geht davon aus, dass eine Erklärung von Sprache aus ihr vorgeordneten gemeinsamen Standards aller Sprecher im Regulismus scheitern muss. Stattdessen entwickelt sie die Alternative, Sprache in der Vernetzung gelungener Verständigung als sich selbst stabilisierendes System zu begreifen. In diesem Rahmen erscheint die Strategie der Gerichte als notwendig und unvermeidlich.

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Ein klarerer Begriff von Beobachtung erlaubt auch eine Präzisierung der Rolle der Rechtsquelle. Die Metapher der Rechtsquelle taucht im Zusammenhang der richterlichen Gesetzesbindung auf. Herkömmlich soll sie den Gegenstand dieser Bindung darstellen und ist mit dieser Rolle natürlich überfordert. Um ihre tatsächliche Bedeutung als Lieferant für die Legitimität der Gerichtsentscheidung zu bestimmen, muss man ihre Rolle im Verfahren untersuchen. Ein Normtext wird zur

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„Quelle“ durch die Herstellung, Aufrechterhaltung und richterliche Sanktionierung des Bezugs auf ihn. Diese Rechtsquelle wird aber nicht „erkannt“, sondern vielmehr in Verfahren ständig diskutiert. Was das heißt, macht eine medientheoretische Präzisierung im Begriff der Beobachtung deutlich: Beobachten vollzieht sich als beständiger Übergang. Dieser Übergang wird aufgenommen vom Begriff der Transkription.354 Das lateinische transcribere steht für Abschreiben oder Umschreiben. Zwischen Abschrift und Umschrift ist der Spielraum des Ereignisses zu erkennen und damit das mögliche Moment der Transgression. Dieses Bedeutungspotenzial ist auch im Recht nützlich, denn der Sinn der Rechtsquelle wird auf dem Weg vom Gesetzbuch ins Verfahren hin zur Begründung langsam aber beständig umgeschrieben. Vor seiner medientheoretischen Generalisierung wurde der Begriff der Tran- 735 skription schon in anderen Wissenschaften verwendet und entwickelt, etwa in der Soziologie, wo man damit das Übertragen eines qualitativen Interviews in eine quantitative und auswertbare Form bezeichnet; und in der Musikwissenschaft, in der man neben der Umschreibung von einer Notenschrift in die andere auch die Übertragung eines klingenden Werks in eine Notenschrift als Transkription begreift.355 Grundlegende Bedeutung hat der Begriff aber vor allem in der Linguistik gewonnen: Während in der Phonetik damit die Übertragung einer Schreibung oder eines Phonems in eine andere als die ursprüngliche bzw. der jeweiligen Sprache entsprechende Schrift benannt wird, steht Transkription in der Konversationsanalyse für das Übertragen von gesprochener Sprache, Gesprächen oder auch Gebärden in eine schriftlich fixierte Form. Die deutschsprachige Gesprächsanalyse hat für diesen „Transfer von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu Zwecken empirischer Sprachanalyse“356 das Verfahren der „halbinterpretativen Arbeitstranskription“ (HIAT) entwickelt.357 Bei diesem Verfahren zur Verschriftlichung mündlicher Dialoge wird Sinn aus nicht-wissenschaftlichen Kontexten zu wissenschaftlichen Zwecken umgeschrieben, wobei aber der Bezug zum Ausgangsmaterial trotz Verschiebung erhalten bleiben soll.358 354 Dazu Stanitzek, G., Transkribieren. Medien / Lektüre: Einführung, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre. 2002, 7 ff.; Jäger, L., Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 19 ff. 355 Krämer, S., Was haben ,Performativität‘ und ,Medialität‘ miteinander zu tun?, in: dies. (Hrsg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, 1998, S. 9 ff., 25. Dazu hier Stanitzek, G., Transkribieren. Medien / Lektüre: Einführung, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 7 ff.; Jäger, L. Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 19 ff. Als Quelle zu Folgendem http: //de.wikipedia.org/ wiki/Transkription, samt Weiterverweisen. 356 Redder, A., Professionelles Transkribieren, in: Jäger, L. / Stanitzek, J. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 115 ff., 115. 357 Siehe Ehlich, K. / Rehbein, J., Halbinterpretative Arbeitstranskription (HIAT), in: Linguistische Berichte 45 (1976), 21 ff. Dazu Redder, A., Professionelles Transkribieren, in: Jäger L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 115 ff., 129 ff.

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Die Idee der Transkriptivität wird in der Medientheorie gegenüber der linguistischen Gesprächsanalyse verallgemeinert: Transkriptionen sollen nicht einfach Umsetzung in der Form sein, sondern produktiv den Text reformulieren. Dabei ist aber die Transkription als die Inszenierung von Sinn nicht vollkommen autonom; vielmehr wird sie an dem Anspruch gemessen, gerade diesen Ausgangspunkt zu artikulieren. Zunächst scheint es sich beim Transkribieren um eine Angelegenheit zwischen Medien zu handeln, um einen Transfer von Medium zu Medium. Möglich ist dies dadurch, „dass Medien vor allem andere Medien enthalten“.359 Dadurch verweist ein Medium über sich hinaus. Das Transkribieren vermag diesen Verweis aufzunehmen und zu vollziehen. Die Transkriptionsvorgänge haben dabei den Charakter einer Transponierung360 oder einer Übersetzung.361 Wenn man mit Davidson davon ausgeht, dass „Übersetzen“ bereits in der eigenen Sprache beginnt, so wird deutlich, dass Transkribieren auch schon ein inframedialer Vorgang ist.362 Es ist also eine Transformation, die den Ausdruck als Verkörperung von Sinn in Szene setzt und so auf diesen rückbezogen bleibt, ohne von ihm vollkommen festgelegt zu sein. Dies ist genau die Spannung zwischen der Bedeutsamkeit eines Normtextes dank seiner Geltung und seiner Bedeutung an Recht, die er im Urteil als Ergebnis des Verfahrens findet, d. h. zwischen Normtext und Rechtsnorm.

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Bedeutungserschließung ist daher auf transkriptive Verfahren angewiesen, die es erlauben, „Projektionen aus dem Modus der Unbestimmtheit beziehungsweise Unlesbarkeit in den der Lesbarkeit zu versetzen.“363 Dieser Vorgang wird durch die Reflexivität von Sprache ermöglicht. Durch die Annahme der Lesbarkeit wird etwas zum Zeichen gemacht und dadurch weiteren Lesarten ausgesetzt. Das ist auch die Situation des juristischen Prozesses, in dem der Normtext den widerstreitenden Lesarten der Parteien ausgeliefert ist. Zur Auswahl einer verbindlichen Lesart bedarf es der Arbeit des Verfahrens, die aber insofern an den Normtext rückverpflichtet bleibt, als sie im Rechtsstaat beansprucht, ihn in Szene zu setzen. 358 Zu diesen Momenten des wissenschaftlichen Transkriptionsbegriffes Redder, A., Professionelles Transkribieren, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 115 ff., 115. 359 Liebrand, C. / Schneider, I., Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Medien in Medien, 2002, 9 ff., 9. 360 So werden bei der Gesprächsanalyse lautliche und gestische Artikulationen des Sprechers in eine Partitur von Graphemen übersetzt, wie etwa bei dem erwähnten Verfahren der halbinterpretativen Arbeitstranskription. 361 Dazu ausführlich Wetzel, M., Unter Sprache – Unter Kulturen. Walter Benjamins „Interlinearversion“ des Übersetzens als Inframedialität, in: Liebrand, C. / Schneider, I. (Hrsg.), Medien in Medien, 2002, 154 ff. 362 Dazu Jäger, L., Transkriptionen: inframedial, in: Liebrand, C. / Schneider, I. (Hrsg.), Medien in Medien, 2002, 123 ff.; sowie ausführlich Weber, S., Transkribieren und „Einsprachigkeit“, in: Liebrand, C. / Schneider, I. (Hrsg.), Medien in Medien, 2002, 129 ff. 363 Liebrand, C. / Schneider, I., Einleitung, in Liebrand, C. / Schneider, I. (Hrsg.), Medien in Medien, 2002, 9 ff., 10.

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Das Transkribieren folgt dabei der medialen Logik einer Sinnerzeugung aus der 738 Ausdruckswahrnehmung, die dadurch erst vollzogen wird. Der Vorgang des Transkribierens geht vom Präskript aus; dieses ist „das zugrundeliegende symbolische System selbst, das fokussiert und in ein Skript verwandelt wird“.364 Im Aspekt der Wahrnehmung wird durch die Transkription der Text als Ausdruck buchstäblich vorgestellt. Text ist dabei in einem weiten Sinn zu verstehen, „der auch Bilder, Stimmen, Architektur usw. als Gegenstände von Lektüre zu konzipieren gestattet.“365 Zu einem Ausdruck werden solche „Gegenstände“ dabei überhaupt erst durch die Annahme einer Lesbarkeit,366 nicht durch irgendeine Eigenleistung, die bloß aufzunehmen wäre. Es ist der „Verdacht“ von Sinn, der das Objekt damit zu einer der Gestaltung sich öffnenden Verkörperung macht. Diese Gestaltung vollstreckt die Transkription in Skripten als den „durch das Verfahren lesbar gemachten, das heißt transkribierten Ausschnitte(n) des zugrundeliegenden symbolischen Systems“.367 Man schreibt den Text als Gestalt in einen Sinn um. Dadurch verschwindet der Text im Verstehen. Den Status von Skripten erhalten Symbolsysteme nur dadurch, dass sie transkribiert werden, also aus Präskripten in semantisch auf neue Weise erschlossene Skripte verwandelt werden: „Tatsächlich stellt also jede Transkription die Konstitution eines Skripts dar, wiewohl das Verfahren zunächst auf ein schon vor seiner transkriptiven Behandlung existierendes symbolisches System trifft.“368 Es offenbart sich damit eine eigentümliche Beziehungslogik von Präskript, 739 Skript und Postskript: obgleich das Präskript der Transkription vorausgeht, ist es als Skript doch erst das Ergebnis der Transkription. Man darf deshalb nicht davon ausgehen, dass zwischen Präskript / Skript und Transkript ein einfaches Verhältnis der Abbildung besteht. So stellt die narrative Darstellung eines geschichtlichen Ereignisses als Transkript der in den Quellen dokumentierten, aber erst durch die Transkription narrativ selektierten und verbundenen Sachverhalte keine Abbildung dieser Sachverhalte dar, sondern konstituiert sie als historisches Ereignis. Die Aussage, dass sich die Geschichte erst im transzendentalen Rahmen des Wissens von ihr konstituiert,369 erklärt deshalb nichts anderes als die transkriptive Logik der 364 Jäger, L., Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 19 ff., 30. Jäger spricht in seinen früheren Arbeiten meist noch vom „Quelltext“ oder Prätext, hat diese Begrifflichkeit aber im Weiteren zugunsten von Präskript aufgegeben. 365 Stanitzek, G., Transkribieren. Medien / Lektüre: Einführung, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 7 ff.; 8. 366 Sonst werden sie als Unsinn abgetan. Vgl. dazu Jahraus, O., Systemtheorie, Dekonstruktion und Medientheorie, 2001, 113. 367 Jäger, L., Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 19 ff., 30. 368 Ebd. 369 So Riedel, M., Positivismuskritik und Historismus. Über den Ursprung des Gegensatzes von Erklären und Verstehen im 19. Jahrhundert, in: Blühdorn, J. / Ritter, J. (Hrsg.), Posi-

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Geschichtsschreibung: erst aus der Perspektive der darstellenden Transkriptionen der Quellen erhalten diese einen Status als Skript und damit eine Semantik. Die Quellen werden durch ihre narrativen Transkriptionen erzeugt und in einer bestimmten Hinsicht lesbar gemacht. 740

Die Transkription überschreibt den Text in einen geäußerten Sinn oder Gehalt. Sofern dieser als „geäußert“ erstellt wird, wird der Text auch vernehmlich. Er steht wiederum als Ausdruck vor dem Sinn, dessen Vollzug somit jene Differenz aufreißt, die Generationen von Sprachtheoretikern Kopfzerbrechen bereitete: der Bestimmung des Verhältnisses von Signifikant zu Signifikat.370 Als Moment von Transkription betrachtet, wird die Sache an den ihr zustehenden Ort praktischer Verantwortlichkeit überwiesen. „Transkripte sind also nicht nur keine Abbildungen von Skripten, sondern diese sind ihrerseits auch nicht einfach Derivationen des Transkriptionsverfahrens. Tatsächlich kann man die Relation von Transkript und Skript nach dem Zeichen-Muster der Relation von Signifikant und Signifié verstehen: Beide lassen sich erst ex post actu – nach dem Verfahren der Transkription – als konstituierte Momente eines synthetischen Ganzen verstehen. Die Transkription konstituiert ein Skript und macht es lesbar, versetzt dieses jedoch zugleich in einen Status, aus dem sich Angemessenheitskriterien für den Lektürevorschlag ableiten lassen, den das Transkript unterbreitet.“ 371

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Das Skript, welches jede Transkription erzeugt und durch das der Text als Verkörperung von Sinn vollzogen wird, geht in seiner Abhängigkeit von jener Transkription, der es seine Existenz verdankt, aber keineswegs auf. Vielmehr sind Skript und Transkript immer schon auf Postskripte hin geöffnet, welche diese Differenz auf transkriptive Angemessenheit hin beobachten. Damit sind die Rahmenbedingungen eines rekursiven Spiels gesetzt, innerhalb dessen das erzeugte Skript eine Art Eigenrecht erlangt.372 Skripte sind in ihrer Behauptung als Lesart des Präskripts immer Postskripten geöffnet, die genau diese Behauptung thematisieren und konterkarieren, indem sie durch einen solchen Anspruch die Stelle des Skripts für sich einzunehmen gedenken. Das ist der Streit der Lesarten im Verfahren.

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Wenn der Normtext durch den Leser vom Status einer Zeichenkette in Bedeutung überführt wird, entsteht ein Skript. Die Argumentation um die Vertretbarkeit von Lesarten eröffnet dann den Raum von Postskripten. Der Streit der Lesarten etabliert dabei das Skript als Rechtsquelle, wenn sich beide Parteien auf denselben

tivismus im 19. Jahrhundert. Beiträge zu seiner geschichtlichen und systematischen Bedeutung, 1971, im Anschluss an Johann Gustav Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen 1857, herausgegeben von Peter Leyh, 1977, 218, 236. 370 Zur ausführlichen Kritik siehe Jäger, L., Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 19 ff. 371 Ebd., 19 ff., 33 f. 372 Stanitzek, G., Transkribieren. Medien / Lektüre: Einführung, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 7 ff., 10.

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Normtext beziehen. Da aber jede Partei den Bezug der anderen bestreitet, ist der Inhalt der Quelle noch nicht definiert. Die Quelle gibt nicht den Ausschlag, weil sie ein Maß für die streitigen Lesarten enthielte, sondern allein deshalb, weil sie in den Transkriptionen stets als Skript enthalten ist. Die „Tatsachen“ liegen nicht als solche vor, sie sprechen nicht, „sondern wir 743 lassen sie sprechen“. Das geschieht im Rahmen einer Transkription, die dem Präskript den Status eines Skripts zuweist, so wie eine historische Überlieferung „erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandelt“ wird.373 Dieser Vorgang erfolgt allerdings nicht auf beliebige Art und Weise. „Weil es Postskripte gibt, die den Rekurs auf die Differenz von Skript und Transkript leisten, gilt vielmehr umgekehrt: ,Die Quellen haben ein Vetorecht.’“374 Gerade dieser Aspekt ist für die Logik von Transkriptionsprozessen von erstrangiger Bedeutung: sie eröffnen einen Prozess des rekursiven Bezugs, in dem Transkripte auf ihr Recht, ihre Korrektheit, auf andere Möglichkeiten hin zu befragen sind. Zwischen Trans- und Postskript erweist sich die Kontingenz des Skripts.375 Transkription stellt also „ein grundlegendes Verfahren des Lesbarmachens kultureller Semantik dar, wobei die intramediale reflexive Doppeltheit der Sprache bzw. die intermediale Dualität der ins Spiel gebrachten symbolischen Systeme oder Teilsysteme von entscheidender Bedeutung ist.“376 Sinn ist nur in Transkripten zu haben und verdankt sich allein der Performanz von Verständigungsprozessen. So wie in der Geschichtswissenschaft Quellen erst in der Narration erzeugt und 744 anerkannt werden, so werden auch in der juristischen Argumentation des Verfahrens die von den Parteien herangezogenen Rechtsquellen erst durch die anschließende Diskussion und die Bestätigung durch das Gericht anerkannt. Wenn aber die Quelle der Argumentation nicht übergeordnet, sondern eingeordnet ist, dann muss man das Modell vertikaler Erkenntnis durch eine horizontale Vernetzung ersetzen. Abstrakter formuliert: Juristisch ist damit eine Neubewertung der Kasuistik 745 ermöglicht. Es gilt der Vorrang der partikularen Fallerfahrung und des Einzelfallgesetzes (d. h. der Rechtsnorm) vor dem vorschnell generalisierenden Zugriff des 373 Droysen, J. G., Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen 1857, herausgegeben von Peter Leyh. Stuttgart 1977, 218, 236. 374 So Stanitzek, G., Transkribieren. Medien / Lektüre: Einführung, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 7 ff., 10, im Anschluss an Koselleck, R., Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, 176 ff., 204 ff. 375 Stanitzek, G., Transkribieren. Medien / Lektüre: Einführung, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 7 ff., 10. Zum Begriff des rekursiven Bezugs siehe Winkler, H., Diskursökonomie, 2004 (Fn. 35), 170. Im Unterschied zur Informatik bildet dieser Begriff hier keinen Gegensatz zur Iteration. 376 Jäger, L., Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Jäger, L. / Stanitzek, G. (Hrsg.), Transkribieren. Medien / Lektüre, 2002, 19 ff., 35.

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allgemeinen Gesetzes (d. h. des Normtexts). Doch müsste dies von einer klaren Politisierung des Fallrechts begleitet sein, die nicht bloß den individuellen Interessenausgleich im Einzelfallkonflikt anstrebt, sondern sich ausdrücklich als Experiment an gesellschaftlichen Institutionen versteht. Wenn all das nicht nur eine leere Formel zur Wiederbelebung des stillen Zivilrechts sein sollte, dann müsste es sich in prozeduralen Änderungen des Rechts niederschlagen; in Änderungen, die von der Kollektivierung der Klagebefugnis über öffentliche Beteiligungs- und Anhörungsrechte, über anspruchsvollere Beweisverfahren bis hin zu einem lernenden nachträglichen Umgang mit rechtskräftigen Urteilen reicht. An die Stelle einer schon im Gesetz vorhandenen Einheit tritt dann ein Stolpern des Rechts von Fall zu Fall. Der Zusammenhang im sonst blinden Experimentalismus wird nur durch die Argumentation als wechselseitige Beobachtung der Knoten im Netz verbürgt. Jeder Spruchkörper im Zentrum des Rechts ist verpflichtet, die Entscheidungen anderer Gerichte zu beachten. Das heißt, er muss ihnen nicht folgen, aber er kann mit einem neuen Argument abweichen.377

552.2 Von der Ableitung zur Vernetzung 746

Eine Vernetzung der EuGH-Rechtsprechung erfolgt nicht nur gegenüber den eigenen früheren Entscheidungen, sondern auch im Verhältnis zu anderen Gerichten. Hervorzuheben sind dabei vor allem die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Für Konflikte mit der nationalen Gerichtsbarkeit ist vor allem auf die Fälle Greil378 und Dory379 zu verweisen. Die Öffnung der Streitkräfte für Frauen wurde in der Literatur als Austesten der Grenzen einer vertretbaren Rechtsauslegung bezeichnet.380 Tatsächlich führt die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte auf Feldern, wo der Gemeinschaft eigene Regelungskompetenzen fehlen, zu gewissen Spannungen. Im Fall Dory wies der Gerichtshof den Einwand der Ungleichbehandlung von Männern zurück, indem er die mitgliedschaftliche Kompetenz für die Streitkräfte als sachlichen Grund anführte. In diesem Bereich wird die Gleichbehandlung der Geschlechter damit anders interpretiert als im Arbeitsleben.381 Dieser Unterschied kann nur damit erklärt werden, dass der EuGH auf Gebieten ohne Gemeinschaftskompetenz 377 Hierzu: Fischer-Lescano, A. / Teubner, G., Prozedurale Rechtstheorie: Rudolf Wiethölter, in: Buckel, S. / Christensen, R. / Fischer-Lescano, A. (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, S. 79 ff. 378 EuGH, Slg. 2000, I-69 ff. = NJW 2000, S. 497 ff. – Greil. 379 EuGH, Slg. 2003, I-2479 ff. = NJW 2003, S. 1379 ff. – Dory. 380 Tomuschat, C., „Das Europa der Rechte“, in: Festschrift für Ress, 2005, S. 857 ff., 872; Stein, T., Frauen in der Bundeswehr, in: EuZW 2000, S. 213 ff. Zur Verteidigung des EuGH vgl. Götz, V., Zum Einsatz von Frauen in bewaffneten Einheiten der Streitkräfte, in: JZ 2000, S. 413 ff. 381 Vgl. dazu Schwarze, J., Grundrechtsschutz durch den EuGH, in: NJW 2005, S. 3.459 ff., 3462.

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nur eine Vertretbarkeitskontrolle der Grundrechte vornimmt. Für die Entschärfung von Konflikten zwischen den europäischen Gerichten und den nationalen ist natürlich das Vorabentscheidungsverfahren das entscheidende Instrument. Wichtig ist hier, dass die europäischen Gerichte nur die vorgelegten Fragen beantworten. Ein Beispiel ist der Fall Berlusconi.382 Der EuGH hebt entgegen den Anträgen der Generalanwältin hervor, dass eine Richtlinie nicht die Wirkung habe, „die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften dieser Richtlinie (verstoßen), festzulegen oder zu verschärfen.“383 Dadurch wird die Kompetenz der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Strafrechts gewahrt. Wie wirkt nun diese Bindung durch Argumente? Die Netzwerktheorie trägt hier 747 die Einsicht bei, dass die wechselseitige Beobachtung der Gerichte als iterative Sequenz von Knotenentscheidungen aktualisiert wird, die jeweils als Entscheidungsprämissen in die Entscheidungen anderer Knoten eingehen. Die Möglichkeit eines Bindungseffekts, der aus einer bloßen Fremdbeobachtung eine interne Netzwerkbeobachtung macht, d. h. nach der Bindungswirkung von Präjudizien innerhalb eines vernetzten Zusammenhanges, muss zwischen der Scylla einer unveränderlichen Rechtsbindung durch Präjudizien und der Charybdis eines Präzedenzkonzepts, das auf bloße Persuasion oder gar lediglich auf zu harmonisierende Methodenkonzepte setzt, hindurchführen. Es bietet sich hier die „default deference“ an, also eine Vermutung, dass Entscheidungen von Gerichten für einander Präjudizcharakter haben. Was in Ansätzen bereits für das Verhältnis nationalstaatlicher Gerichte zu internationalen Gerichten Eingang in die Rechtspraxis gefunden hat,384 wäre darum auch generell zu fordern: gegenseitige Beobachtung, Berücksichtigung und Auseinandersetzung mit den jeweiligen Urteilsgründen. Ähnlich hat beispielsweise auch das Bundesverfassungsgericht das Verhältnis nationaler Gerichte zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Oktober 2004 neu justiert.385 Die Entscheidung des BVerfG ist dabei insofern zu kritisieren, als das Gericht in hierarchischen Normstrukturen denkt und in dieser Logik die Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention dem deutschen Verfassungsrecht subordiniert.386 Das war ein Affront, der unmittelbare Gegenwehr vor allem durch den Präsidenten des EGMR hervorgerufen hat.387 Denn die Gefahr besteht, dass 382 EuGH, in: EuZW 2005, S. 369 ff. = NJW 2005, S. 213 L-Berlusconi. Vgl. dazu die Schlussanträge von GA Kokott, V., 14. 10. 2004, verb. RS C-387 / 02, C 391 / 02 und C 403 / 02 – Berlusconi u. a. 383 EuGH, in: EuZW 2005, S. 369, Rn. 44 = NJW 2005, S. 213 L-Berlusconi u. a. 384 Ein Beispiel jüngeren Datums ist die viel zitierte Entscheidung des US-amerikanischen Supreme Court (Lawrence v. Texas, 539 U.S. 558 (2003)), in der das Gericht eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (Dudgeon v. United Kingdom, Eur. Ct. H. R. 45 (1981), 52) heranzieht. 385 BVerfG, 2 BvR 1481 / 04 vom 14. 10. 2004, BVerfGE 111, 307 ff. 386 Näher hierzu Mayer-Ladewig, J. / Petzold, H., Die Bindung deutscher Gerichte an Urteile des EGMR. Neues aus Straßburg und Karlsruhe, in: NJW 58 (2005), 15 ff., 18. 387 Wildhaber, L., Der Spiegel, Schelte aus Europa Seite. Gespräch mit dem Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Der Spiegel, 47 / 2004, 50 ff.

34 Müller / Christensen

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5 Rechtsprechung des EuGH – 55 Recht auf Entscheidung

nach dem durch das Maastricht-Urteil des BVerfG ausgelösten Kräftemessen zwischen EuGH und BVerfG und der Fülle an Literatur zum Rangordnungsverhältnis zwischen nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH nun eine erneute Subordinationsdebatte einsetzen könnte.388 Eine solche Diskussion wäre fehlorientiert, da sie in den überholten Kategorien eines Stufenbaus der Institutionen denkt, wo statt dessen Theorie und Praxis des Interdependenzaufbaus durch Vernetzung von Kommunikationsakten im transnationalen Menschenrecht gefordert wären.389 748

Marc Amstutz hat das im Verhältnis des EuGH zu den nationalen Gerichten am Beispiel der EuGH-Rechtsprechung zur „richtlinienkonformen Auslegung“ vorgeführt.390 In dieser Logik wäre auch die Provokation im Urteil des Bundesverfassungsgerichts unnötig gewesen, wenn es den Normpluralismus ernst genommen und stattdessen auf die Kompatibilisierung heterogener Geltungsanordnungen gesetzt hätte. Ein solcher Ansatz findet sich durchaus auch in diesem Urteil des Gerichts, wenngleich die öffentliche Wahrnehmung der Entscheidung durch die Hierarchisierungsfrage überlagert wird. Vor allem die vom Bundesverfassungsgericht skizzierte Präjudizienlehre ist dabei positiv hervorzuheben. Denn es gibt den nationalen Gerichten auf, „die Entscheidung des Gerichtshofs [des EGMR, die Verf.] im innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen, das heißt, die zuständigen Behörden oder Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen“.391 Folgerichtig verlangt das Bundesverfassungsgericht: „Die über das Zustimmungsgesetz ausgelöste Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs erfordert zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen. Das nationale Recht ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen.“392 In einer Entscheidung vom Dezember 2004 hat das Bundesverfassungsgericht denn auch klargestellt, dass sich die Bindungswirkung eines Judikats des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf alle staatlichen Organe erstrecke und diese grundsätzliche verpflichte, im Rahmen ihrer Zuständigkeit „einen fortdauernden 388 Aus der unübersehbaren Fülle der Literatur zum Verhältnis des EuGH zu den nationalen Verfassungsgerichten siehe Mayer, F. C., Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Letztentscheidung über Ultra-vires-Akte in Mehrebenensystemen, 2000, S. 19 ff. und 323 ff. 389 Unter Bezugnahme auf die genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch Zumbansen, P., Globalization and the Law: Deciphering the Message of Transnational Human Rights Litigation, German Law Journal 5 (2004), 1499 ff. 390 Amstutz, M., Zwischenwelten. Zur Emergenz einer interlegalen Rechtsmethodik im europäischen Privatrecht, in: Joerges, Ch. / Teubner, G. (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht, 2003, 213 ff. 391 BVerfG, 2 BvR 1481 / 04 vom 14. 10. 2004, Ziff. 50, BVerfGE 111, 307 ff. (324). 392 Ebd., Ziff. 48, BVerfGE 111, 307 ff. (324); vgl. auch generell Jenny Martinez, Towards an International Judicial System, Stanford Law Review 56 (2003), S. 429 ff.

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Konventionsverstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen. Gerichte sind zur Berücksichtigung eines Urteils, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, jedenfalls dann verpflichtet, wenn sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut über den Gegenstand entscheiden und dem Urteil ohne materiellen Gesetzesverstoß Rechnung tragen können.“ Dabei habe sich das jeweilige nationale Gericht in einer nachvollziehbaren Form damit auseinander zu setzen, wie das betroffene Grundrecht in einer den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Art und Weise ausgelegt werden könne.393 Diese jüngere Praxis transnationaler Präjudizienjurisdiktion in der Bundesrepu- 749 blik findet ihre Parallelen in zahlreichen anderen nationalen Rechtsordnungen. Für das Verhältnis US-amerikanischer Gerichte zu internationalen Spruchkörpern hat Alford eine Präjudizienlehre ausgearbeitet. Sein Ansatz unterscheidet zwischen unterschiedlichen „Deference-Modellen“, die an der einschlägigen US-Rechtsprechung ansetzen und so ein differenziertes Bild von Inkorporationsmöglichkeiten bieten. Dabei reflektieren die nationalen Inkorporationsregeln die Heterogenität der Funktionsweisen internationaler Spruchkörper, indem die nationalen Gerichte graduierte Bindungsregeln implementieren. 394 Diesen Modellierungen ist die Deference-Orientierung gemeinsam. „Default deference“ ist dabei gegenüber dem formalen „stare decisis“ der Präju- 750 dizienbindung schwächer, da sie nur eine Bindungsvermutung anordnet. Sie ist aber stärker als ein nur persuasiver Präzedenzfall, da sie Abweichungen nur unter starkem Begründungszwang erlaubt. Die Intensität dieses Begründungszwangs liegt zunächst darin, dass das Präjudiz in das jeweilige Verfahren eingeführt werden muss, auch wenn die Verfahrensbeteiligten dies nicht vorbringen. Es definiert also den Relevanzhorizont des Verfahrens. Außerdem muss dieses Präjudiz in der Begründung entweder integriert oder widerlegt werden. Sonst kann der Entscheidung des Gerichts keine Geltung zugesprochen werden. Damit schließt man an das vieldiskutierte Phänomen der Unsicherheitsabsorption in Netzwerken und formalen Organisationen an, das heißt an die regelmäßige Übernahme von Vorentscheidungen mit der Ausnahmemöglichkeit zur Abweichung, wenn überzeugende Gründe es fordern.395 Die Vermutung kann widerlegt werden, woraus folgt, dass jedes „distinguishing“ oder „overruling“ unter Begründungs- und Legitimationszwang steht.

393 BVerfG, 1 BvR 2790 / 04 vom 28. 12. 2004, Ziff. 28, abgedruckt in: NJW 2005, 1105 ff. (1107). 394 Alford, R., Federal Courts, International Tribunals, and the Continuum of Deference, Virginia Journal of International Law 43 (2003), S. 675 ff. (792 f.), mit umfangreichen Nachweisen zur US-amerikanischen Rechtsprechung; die rechts-isolationistische Gegenmeinung wird repräsentiert von Posner (2004), abrufbar unter: http: //www.legalaffairs.org/issues/JulyAugust-2004/feature_posner_julaug04.html. 395 Dazu siehe Luhmann, N., Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt 2000, 189 ff.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 55 Recht auf Entscheidung

552.3 Defizite in der Begründungsarbeit des EuGH 751

Der EuGH hat für seinen Begründungsstil noch keine endgültige Lösung gefunden. Das ist nicht verwunderlich, wenn man das Oszillieren der nationalstaatlichen Traditionen zwischen Semantik und Pragmatik berücksichtigt. Die Begründung eines gerichtlichen Urteils ist eben nicht nur eine logische und noch nicht einmal eine rein semantische Frage. Vielmehr geht es um das umfassendere Problem, wie viel Begründung eine Rechtsgemeinschaft fordert, um richterlichen Urteilen Legitimität zuzubilligen.396 Deswegen ist es angemessen, dass der EuGH die Begründungsfrage pragmatisch handhabt, indem er seine Praxis der Bewährung durch die wissenschaftliche Kritik aussetzt und dann weiterentwickelt. Als Fluchtpunkt dieser Evolution lässt sich eine größere Begründungsleistung erkennen, die allmählich den Übergang von der Semantik zur Pragmatik des Gesetzes vollzieht. Bei seiner Errichtung im Jahr 1952 war für den EuGH vor allem die romanische Tradition bestimmend. Erst 1979 hat sich das Gericht vom traditionellen französischen Urteilsstil („vu que“, „considérant que“) abgelöst. In der Folge dieser Entwicklung wurden auch die knappen Begründungen der romanischen Tradition zugunsten einer ausführlicheren Darstellung überwunden. Diese bleibt allerdings immer noch hinter der Leistung englischer und deutscher Gerichte zurück: Nationale Gerichtsbarkeiten werden in der Regel nicht zitiert,397 eine Diskussion von Meinungen aus der Wissenschaft findet nicht statt und dissenting opinions sind nicht erlaubt.

752

Es gibt aber auch noch andere Tendenzen: „Der Gerichtshof ging ( . . . ) in den 60er und 70er Jahren immer mehr dazu über, an frühere Urteile anzuknüpfen. Dazu trug wesentlich der Einfluß der englischen Juristen nach dem Beitritt Großbritanniens bei. Heute kann man fast von einer Präjudizienpraxis sprechen. ( . . . ) Das schrittweise Vorgehen von Fall zu Fall kennzeichnet die Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof. Allerdings muß der Gerichtshof Aussagen früherer Urteile gelegentlich ändern oder aufgeben. Das geschah bisher ohne ausdrücklichen Hinweis. Erst neuerdings hat er sich dazu offen bekannt und in drei spektakulären Urteilen ausdrücklich frühere Urteile korrigiert. Meist versucht er aber auch heute noch Formulierungen zu finden, mit denen er die vorangegangenen Urteile modifiziert und spezifiziert, ohne es zuzugestehen.“398 In der Gesamtbilanz überwiegen also noch deutlich die Defizite und erklären damit die geringe Überzeugungskraft der 396 Zur Legitimation durch Bewährung grundlegend Peters, A., Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 580 ff. 397 Dabei ist zu bedenken, dass auch das Zitat nicht immer eine seriöse Auseinandersetzung indiziert, vgl. dazu Holzleithner, E. / Mayer-Schönberger, V., Das Zitat als grundloser Grund rechtlicher Legitimität, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 318 ff., 346 f. 398 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 138.

552 Vom Obrigkeitsstaat zum Rechtsstaat

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Begründungen des Gerichtshofs für die argumentativen Traditionen des deutschen und angelsächsischen Rechtskreises. Allerdings findet man die fehlenden Teile der Begründung meist in den Schluss- 753 anträgen der Generalanwälte. 399 Hier wird eine ausführliche Darlegung der sprachlichen Plausibilitätsräume in den verschiedenen Mitgliedstaaten vorgenommen. Wenn man sich als Philologe oder Linguist der Mühe unterzieht, diese oft sehr detaillierten Untersuchungen nachzuvollziehen, lernt man viel und entwickelt einen großen Respekt vor der Leistung dieser Institution. Auch was die Arbeit an Systematik und Entstehungsgeschichte betrifft, findet man hier Erwägungen, die in ihrer Ausführlichkeit der Arbeit deutscher Gerichte nicht nur entsprechen, sondern sie noch übertreffen. Nur hier, in den Schlussanträgen des Generalanwalts, findet man die Praxis der für die Gemeinschaft so wichtigen rechtsvergleichenden Interpretation. Offen ist nur die Zuordnung dieser wissenschaftlichen Schätze. Gehören sie zur Begründung des Gerichts oder zum Prozessstoff? Jedenfalls folgt der EuGH den Schlussanträgen nicht immer; und auch wenn er das tut, ist damit immer noch offen, ob er das Vorbringen des Generalanwalts übernimmt oder nicht. Leider findet sich in den gerichtlichen „Gründen“ nur selten ein ausdrücklicher Bezug auf die Schlussanträge. Die vorhandenen Verweise betreffen sowohl den Sachverhalt als auch die methodische Argumentation. Zur Darstellung des Sachverhalts lauten solche Verweise typischerweise: „Wie der Generalanwalt in Nr. 101 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist unstreitig, dass die Lebenshaltungskosten in Karlsruhe in dem streitigen Zeitraum eindeutig niedriger waren als in Berlin.“400 Oder: „Wie der Generalanwalt in den Nrn. 55 bis 110 seiner Schlussanträge zu Recht ausgeführt hat, hat die Kommission zahlreiche Umstände vorgetragen, die zu belegen geeignet sind, dass die betroffene Ware den Qualitätsanforderungen des Artikels ( . . . ) weder zum Zeitpunkt der Ausfuhr, noch bei ihrem Eintreffen am Bestimmungsort genügt hat.“401 Es finden sich allerdings auch Verweise aus den Gründen in die Schlussanträge für methodische Argumente: „Wie der Generalanwalt in Nr. 22 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann bei der Übertragung des Betriebs auf einen anderen Erzeuger ( . . . ) nur diese Auslegung ( . . . ) gewährleisten, dass die Höchstzahl von 90 Tieren ( . . . ) nicht überschritten wird.“402 Vor399 Vgl. zu dieser Einrichtung Borgsmidt, K., Der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof und einige vergleichbare Institutionen, EuR 1987, S. 162 ff.; Schermers, H. G. / Waelbroeck, D., Judicial protection in the European Communities, 5. Aufl., 1992, S. 454 ff. In der Literatur wird häufig gesagt, dass man grundsätzlich alle Urteile des EuGH vor den Hintergrund der Schlussanträge lesen müsse. Vgl. dazu Schima, B., Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Feldner, B. / Forgó, N. (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 290 f. 400 EuGH Slg. 1999, I, S. 6709 ff. (Apostolidis), Rn. 19. 401 Vgl. dazu EuGH Slg. 1999, I, S. 6571 ff. (Spanien / Kommission), Rn. 40. 402 EuGH Slg. 1999, I, S. 3499 ff. (Wettwer), Rn. 28; vgl. auch EuGH Slg. 1999, I, S. 3387 ff. (Kommission / Montorio), Rn. 41: „Wie der Generalanwalt in Nr. 22 seiner Schlussanträge ausführt, ist diese Rüge offenkundig unzulässig. Nach Art. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ( . . . )“.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 55 Recht auf Entscheidung

bildlich ist der Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts in der Entscheidung C-6 / 98 vom 28. 10. 1999, worin es um Sendezeiten für Werbung im Fernsehen und die Auslegung des Begriffs „programmierte Sendedauer“ geht. Der EuGH verweist hier dreimal auf die Schlussanträge des Generalanwalts, in denen sich sorgfältige grammatische, genetische und historische Auslegungen finden. So heißt es in Rn. 23 der Entscheidung: „Wie der Generalanwalt in den Nrn. 18 bis 25 seiner Schlussanträge festgestellt hat, lassen die auf den Wortlaut des Art. 11 Abs. 3 der Richtlinie 89 / 552 in ihrer geänderten Fassung gestützten Argumente keinen eindeutigen Schluss darauf zu, ob diese Vorschrift das Brutto- oder das Nettoprinzip vorschreibt.“403 754

Hier könnte die nötige Weiterentwicklung im Hinblick auf ein stärker argumentatives Begründungskonzept ansetzen.404 Das Gericht müsste die Teile der Schlussanträge, die seine Entscheidung mitkonstituieren, in die „Gründe“ übernehmen. Dafür würde auch sprechen, dass es selbst die Institution des Generalanwalts dem Gericht zurechnet und deshalb im Unterschied zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Stellungnahme der Prozessbeteiligten insoweit nicht für nötig hält.405

755

Der vorgeschlagene Schritt erscheint im Hinblick auf die verfassungsrechtliche und rechtspolitische Situation des EuGH besonders dringlich, die Ulrich Everling so beschreibt: „Staatliche Gerichte beziehen ihre Legitimation aus den Verfassungen, durch die ihre traditionell überkommene Stellung eine Grundlage und Rechtfertigung erhält und demokratisch abgesichert wird. Der Gerichtshof stützt sich insoweit auf Art. 164 EGV, nach dem er ,die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages‘ sichert. Er ist allerdings nicht in gleicher Weise wie nationale Gerichte in ein Geflecht institutioneller Beziehungen eingebunden, denn das Verfassungssystem der Gemeinschaft ist noch nicht gesichert und bezieht seine Legitimation teilweise mittelbar von den Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof teilt insoweit die viel erörterte allgemeine Legitimationsschwäche der Gemeinschaft. Deshalb sind die verfahrensmäßigen Legitimationselemente besonders wichtig. Nach Max Weber legitimieren sich Institutionen durch ihre Rationalität, ihre Tradition und ihr Charisma. Für Gerichte stehen Verfahrensgrundsätze wie Öffentlichkeit und Transparenz der Urteilsfindung, Neutralität und Unabhängigkeit der Richter sowie Gleichbehandlung und rechtliches Gehör der Betroffenen im Vordergrund. Zentrale Bedeutung kommt der Plausibilität der Begründungen der getroffenen Entscheidungen, der Überzeugungskraft, die sie ausstrahlen, und der Antwort, die sie auf die Argumentation der Parteien geben, zu. Sie sind für den EuGH Slg. 1999, I, S. 7599 ff. (ARD), Rn. 23. Buerstedde, W., Der Schlussantrag am Anfang. Zur Rolle des Schlussantrags in einer juristischen Methodik des Gemeinschaftsrechts, in: Müller, F. / Burr, I. (Hrsg.), Rechtssprache Europas, 2004, S. 413 ff.; vgl. auch Buerstedde, W., Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 24 ff. 405 Pache, E., Das europäische Grundrecht auf einen fairen Prozess, in: NVwZ 2001, S. 1342 ff., 1343, 1345. 403 404

561 Legalität zwischen Richterrecht und Rechtserzeugung

535

Gerichtshof besonders wichtig.“406 Die Gemeinschaft befindet sich insgesamt in der verfassungsrechtlichen Situation der Herstellung von Legitimität durch Bewährung.407 Dazu hat der EuGH einen Beitrag in Form der Weiterentwicklung seiner Begründungskultur zu leisten.

56 Positivität, Legalität und Legitimität des Gemeinschaftsrechts Die Struktur Positivität – Legalität – Legitimität kennzeichnet die Formtypik ei- 756 ner Rechtsordnung.408 Danach genügt es für eine Rechtsordnung nicht, in Normtexten positiviert zu sein, sondern sie muss auch in den praktisch zu entscheidenden Fällen lege artis konkrete Rechtsnormen erzeugen (Legalität) und die Gerechtigkeitsfrage diskursiv offen halten (Legitimität). Die Positivierung des Gemeinschaftsrechts ist für viele zentrale Bereiche wie Grundrechte, Staatshaftung, innere Sicherheit, usw. noch lange nicht abgeschlossen. Hier hatte der EuGH bisher eine wichtige Rolle als Probegesetzgeber der Gemeinschaft. Damit wurde die Aufgabe des Gerichts innerhalb der funktionellen Gewaltenteilung überschritten. Aber der EuGH hat die Grenzen der normativen Basis im Primärrecht bisher eingehalten. Trotzdem bleibt diese Rolle des Gerichts problematisch.409 Die Setzung von Normtexten unter den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Primärrechts ist auf stärker demokratisch legitimierte Organe zu übertragen. Die weitere Rechtsetzung der Gemeinschaft muss der Bürokratie entzogen und dem demokratischen Prozess unterworfen werden. Dieses schon im Primärrecht enthaltene Vorhaben ist noch politisch durchzusetzen. Zudem muss der weitere Vorgang der Positivierung von einer ständigen Reflexion auf Legalität und Legitimität des Gemeinschaftsrechts begleitet werden.

561 Legalität zwischen Richterrecht und gebundener Rechtserzeugung

Die Ausgangsfrage dieses Abschnitts, ob der EuGH mit Hilfe von Richterrecht 757 die Kompetenzgrenzen der Gemeinschaft überschreitet, kann jetzt genauer untersucht werden.

406 Everling, U., Zur Begründung der Urteile des Gerichshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: EuR, 1994, S. 127 ff., 131. 407 Peters, A., Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 512 ff. 408 Vgl. zur Entwicklung dieses Gedankens Müller, F., Konstitutionalität – Legalität – Legitimität in der rechtsstaatlichen Demokratie, in: ders., Demokratie in der Defensive, 2001, S. 54 ff. 409 Zur Frage, inwieweit der EuGH eine Befugnis zur Kontrolle der Revision von Primärrecht hat, vgl. Siechert, M., Grenzen der Revision des Primärrechts in der Europäischen Union, 2005, S. 765 ff.

536

5 Rechtsprechung des EuGH – 56 Positivität des Rechts

561.1 Die Richterrechtsdoktrin verfehlt das Problem 758

Die herkömmliche Doktrin vom Richterrecht hat am positivistischen Verständnis der Rechtsnorm als Erkenntnisgegenstand festgehalten und nur dessen Erklärungsreichweite eingeschränkt, indem sie das Richterrecht als zusätzliche Rechtsquelle eingeführt hat. Der rechtserzeugende Anteil praktischer Rechtsarbeit wird damit in ein Jenseits der Normtexte verlagert und mit außergesetzlichen Maßstäben legitimiert. Eine Rechtserzeugungsreflexion bricht demgegenüber mit der Voraussetzung einer als Erkenntnisgegenstand vorgegebenen Rechtsnorm und versucht, deren praktische Herstellung als rechtsstaatlich rückgebundenen Prozess zu begreifen. Der schöpferische Anteil praktischer Rechtsarbeit als Sachproblem der Richterrechtsdiskussion kann damit im Diesseits einer rechtsnormtheoretisch fundierten Methodik erfasst werden. Die Schranken des „Richterrechts“ im Europarecht liegen danach nicht in außergesetzlichen Instanzen, sondern in der Struktur eines Prozesses, der bei der Herstellung der Rechtsnorm den primärrechtlichen Vorgaben genügt. Die Betrachtung wird damit „um ihre Achse“ gedreht, und zwar um die primärrechtlichen Anforderungen des Rechtsstaatsgebots als Angelpunkt. Die Bindung des Gerichts kann nicht auf die Rechtsnorm als vorgegebenen Gegenstand bezogen werden, sondern ist auf die Struktur eines Herstellungsprozesses zu beziehen.

759

Bisher war die Diskussion in einem irreführenden Verständnis richterlicher Tätigkeit gefangen: Der Abstand zwischen Normtext und Fallentscheidung sollte durch die Brücke juristischer Auslegung überwunden werden, deren Grundpfeiler vorgeblich fest in der präexistenten Rechtsnorm ruhten. Die Doktrin vom Richterrecht hat mit ihrer zunehmenden Ausdehnung ungewollt deutlich gemacht, wie brüchig dieses angeblich feste Fundament tatsächlich ist. Aber sie hat nicht die notwendige Folgerung gezogen, das immer weiter eingeschränkte Verständnis der Rechtsnorm als Erkenntnisgegenstand durch ein neues zu ersetzen. Eine Rechtserzeugungsreflexion macht demgegenüber klar, dass keine schon vorhandene Brücke uns die Anstrengung abnehmen kann, den Abstand zwischen Normtext und konkreter Entscheidung zu überwinden. Gefordert ist vielmehr eine Konstruktion der Rechtsnorm, die den vom Rechtsstaatsprinzip verlangten technischen Maßstäben genügt. 561.2 Die Rolle der Richter bei der Rechtserzeugung

760

Eine Rechtserzeugungsreflexion kann eine „Zwei-Welten-Lehre“ aus Normtexten und Rechtsprinzipien durch ein Präzisieren der Fragestellung überwinden. Der Richter ist Rechtsetzer, aber Rechtsetzer zweiter Stufe.410 Das heißt, die Rechts410 Vgl. zu diesem Stichwort als Kennzeichnung des von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelten Modells: Sendler, H., Richterrecht – rechtstheoretisch und rechtspraktisch, in: NJW 1987, S. 3240 ff., 3240.

561 Legalität zwischen Richterrecht und Rechtserzeugung

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norm ist nicht schon vorgegeben, sondern wird von ihm hergestellt. Dabei muss er die von ihm produzierte Rechtsnorm dem vom Gesetzgeber geschaffenen Normtext zurechnen. Darin liegt die Geltungsanforderung des Normtexts, die auf dem Weg über die Vorgaben des Primärrechts eine richterliche Dienstpflicht darstellt. Geltung ist aus dieser Sicht etwas, „das dem ,geltenden Recht‘, d. h.: der Normtextmenge (der Gesamtheit aller Normwortlaute in den Gesetzbüchern) zugeschrieben wird. Die Geltungsanordnung besteht darin, Rechtspflichten zu erzeugen: gegenüber den Normadressaten im allgemeinen darin, sich in ihrem Verhalten, soweit die Normtexte für dieses einschlägig erscheinen, an diesen verbindlich zu orientieren; und gegenüber den zur Entscheidung berufenen Juristen im Sinn einer Dienstpflicht, diese Normtexte, soweit für den Entscheidungsfall passend, zu Eingangsdaten ihrer Konkretisierungsarbeit zu machen, sie also für das Erarbeiten einer Rechts- und einer Entscheidungsnorm tatsächlich heranzuziehen und methodisch korrekt zu berücksichtigen.“411 Obwohl der Richter die Rechtsnorm selbst herstellt, ist er bei diesem Vorgang Bindungen unterworfen, die durch das Primärrecht begründet sind und die von Rechtstheorie und juristischer Methodik formuliert und präzisiert werden können.412 Im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion ist damit eine genauere Bestim- 761 mung des Ansatzpunktes richterlicher Bindung möglich. Während die herkömmliche Lehre Geltung und Bedeutung des Normtexts sowie das Legitimieren juristischen Handelns in eins setzen, kann der neue Ansatz hier Differenzierungen sichtbar machen. Geltung kommt dem Normtext zu, insoweit er als Eingangsdatum des Konkretisierungsprozesses herangezogen werden muss. Seine Bedeutung steht nicht schon am Anfang, sondern erst am Ende des Prozesses der Rechtsnormkonstruktion fest. Und die Frage, ob die durch juristisches Handeln festgesetzte Bedeutung einer Rechtfertigung fähig ist, entscheidet sich nicht auf der Ebene semantischer Theorie, sondern anhand der im Verfahren vorgebrachten und in der Begründung verarbeiteten Argumente.

561.3 Die Abgrenzung von Dezision und gebundener Rechtserzeugung Der normativ gesetzte und nicht schon objektiv vorgegebene Charakter einer 762 Grenze der Rechtsarbeit schließt nicht aus, dass diese Grenze im Einzelnen sehr wohl Trennschärfe zu entwickeln vermag. Vor allem das Zusammenwirken der Vgl. dazu Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 51. Vgl. zum Problem des Verhältnisses richterlicher Unabhängigkeit zu neueren Steuerungsmitteln der Justizverwaltung aus dem ökonomischen Denken: Schütz, C. / Schulze-Fielitz, H., Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, in: diess. (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, 2002, S. 9 ff.; sowie Berlit, U., Richterliche Unabhängigkeit und Organisation effektiven Rechtsschutzes im „ökonomisierten Staat“, in: ebd., S. 135 ff. 411 412

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5 Rechtsprechung des EuGH – 56 Positivität des Rechts

primärrechtlichen Vorgaben führt zum Ausschluss von Entscheidungen, die den Normtexten des geltenden Europarechts nicht regulär zugerechnet werden können. Diese durch die Wortlautgrenze ausgeschlossenen Entscheidungen sind nur noch Dezisionen; sie können in zwei Gruppen zusammengefasst werden: In der ersten ist die zu entscheidende Frage rechtlich geregelt, das heißt methodisch plausibel auf einen Normtext rückführbar, in der Entscheidung wird aber dessen Fehlen bzw. eine inhaltlich abweichende Regelung behauptet; das ist die Dezision durch Rechtsverbiegung. In der zweiten Gruppe ist die Fallfrage nicht geregelt; in dem Sinn, dass es keinen Normtext gibt, auf den eine plausibel formulierte Rechtsnorm regulär zurückgeführt werden könnte. Die Entscheidung unterstellt aber eine Regelung, und zwar mit dem politisch oder wirtschaftlich erwünschten Inhalt. Das ist dann Dezision durch Rechtsunterstellung. Ob eine Entscheidung unter eine dieser Gruppen fällt, kann nur beurteilt werden, wenn man die methodenbezogenen Normen des Primärrechts, die von Wissenschaft und Praxis auf dieser Grundlage entwickelten methodischen Standards und die Menge der geltenden Normtexte in ihrem Zusammenwirken als Maßstäbe heranzieht. Die Entscheidung des konkreten Streitfalls ist eben nicht in der sprachlichen Bedeutung des Normtexts bereits vorgegeben, sie wird vom zuständigen Rechtsarbeiter kreativ getroffen. Aber sie muss entsprechend den Standards einer primärrechtlich rückgebundenen Argumentationskultur dem unveränderten Wortlaut der Vorschrift zugerechnet werden können. 763

Die Untersuchung der Entscheidungspraxis des EuGH hat hier ergeben, dass er in der weit überwiegenden Tendenz seiner Judikatur methodisch kontrollierbar vorgeht und die Grenzen seiner Kompetenzen einhält.413 In der realistischen Einschätzung der Sprache ist der EuGH den nationalen Gerichten überlegen und im Bereich der rechtsvergleichenden Auslegung schafft er sogar neue Grundlagen. In seiner Begründungsarbeit bleibt er jedoch, vor allem wegen der unklaren Rolle des Generalanwalts, hinter dem zurück, was in den nationalen Rechtsordnungen schon erreicht ist.

413 Die Einschätzungen in der Literatur haben dazu bisher divergiert. Mit einem kritischen Schwerpunkt vgl. z. B. Dänzer-Vanotti, W., Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: Due, O. / Lutter, M. / Schwarze, J. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I, 1995, S. 205 ff.; Rasmussen, H., On Law and Policy in the European Court of Justice. A comparative study in judicial policymaking, 1986. Dagegen differenzierend unter genauer Betrachtung der Interpretationspraxis des EuGH: Edward, D., Judicial Activism – Myth or Reality? Van Gend en Loos, Costa v ENEL and the Van Duyn family revisited, in: Cambell A. I. L. / Voyatzi, M. (Hrsg.), Legal Reasoning and Judicial Interpretation of European Law, 1996, S. 29 ff.; Weiler, J., The Court of Justice on Trial, in: CMLR 24 (1987), S. 555 ff.

562 Legitimität: Verdrängen und Fixieren der Gerechtigkeit

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562 Legitimität: Der Weg zwischen Verdrängen und Fixieren des Gerechtigkeitsproblems

Beim konkreten Einschätzen einer geltenden Rechtsordnung ist zu berücksichti- 764 gen, dass schon die Legalität kein Zustand ist, der ab einem bestimmten Zeitpunkt endgültig erreicht wäre. Die Wahrung und Fortentwicklung einer Rechtskultur ist eine praktische Daueraufgabe, die jeden Tag neu gelöst werden muss. Dabei darf man sich auch nicht allein auf die Gerichte verlassen, sondern diese bedürfen der unterstützenden Kritik durch demokratische Öffentlichkeit und Wissenschaft. Das gilt für die Frage nach der Legitimität noch stärker als für die der Legalität. Denn über die technisch-methodischen Anforderungen an die Konstruktion einer Rechtsnorm hinaus stellt sich hier das grundlegende Problem, auf die Anforderung der Gerechtigkeit zu hören, ohne diese handlich formulieren zu können.

562.1 Das Ausweichen vor der Gerechtigkeit Wenn man der Frage nach der Gerechtigkeit aus dem Weg gehen will, ver- 765 steckt man sich hinter der Fassade der Sprache oder des objektiv vorgegebenen Rechts. Der Algorithmus führt zur Lösung, eines personalen Einsatzes bedarf es nicht. Im Gemeinschaftsrecht versperrt die Tatsache der Mehrsprachigkeit diese altbekannte Strategie. Ein Algorithmus für eine nur technische Bewältigung ist hier nicht denkbar. Die Komplexität des Gemeinschaftsrechts würde dieses Axiom auch sofort widerlegen, das Auftauchen des Gerechtigkeitsproblems lässt sich nicht verhindern. Die alltäglichste technische Regelung kann auf ihrer Textoberfläche plötzlich von der Frage der Gerechtigkeit durchschnitten werden. In der Rechtssache Eheleute F.414 ging es etwa um die Vorlagefrage, ob behinderte Kinder von Wanderarbeitern einen Anspruch auf besondere Beihilfen nach nationalstaatlichen Regeln haben. Der Generalanwalt hatte zur Auslegung der entsprechenden Verordnung übergeordnete Gerechtigkeitsgesichtspunkte herangezogen.415 Der EuGH ist ihm zwar im Ergebnis, nicht aber in der Begründung gefolgt.416 In dieser Zurückhaltung des Gerichts wird sichtbar, dass Gerechtigkeit eben kein zuhandener Maßstab, sondern ein insistierendes Problem ist.417 Wenn EuGH Slg. 1975, S. 679 ff., 690 f. (Eheleute F / Belgien). Schlussanträge des Generalanwalts Trabucchi, ebd., S. 697 f. 416 Vgl. Bleckmann, A., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1982, S. 1177 ff. 417 Vgl. dazu Derrida, J., Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, 1991, S. 49 f.: „Eine Entscheidung, die sich nicht der Prüfung des Unentscheidbaren unterziehen würde, wäre keine freie Entscheidung, sie wäre eine programmierbare Anwendung oder ein berechenbares Vorgehen. Sie wäre vielleicht rechtens, nicht aber gerecht. ( . . . ) Wie es scheint, kann man niemals sagen, daß eine Entscheidung jetzt, im gegenwärtigen Augenblick vollkommen gerecht ist: entweder hat man sich noch nicht entschieden und dabei eine Regel befolgt (nichts erlaubt uns in diesem Fall zu sagen, die Entscheidung sei gerecht) – oder man 414 415

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5 Rechtsprechung des EuGH – 56 Positivität des Rechts

man sie schlicht als Maßstab handhabt, setzt man subjektive Vorstellungen an die Stelle objektiver Bindungen. Diese Gefahr sieht auch der Generalanwalt in der Rechtssache „Assider“.418 Es geht dort um die Frage, ob man Unternehmern und Privatpersonen dieselben umfassenden Klagerechte wie den Mitgliedstaaten einräumen muss: „Soll man also aus Gründen der Billigkeit versuchen, die Türe aufzubrechen, sie, wenn auch nicht ganz so weit, so doch wenigstens weiter zu öffnen? Hier, meine Herren, handelt es sich tatsächlich für den Gerichtshof um eine Gewissensfrage. Nichts ist für einen Richter, insbesondere wenn er letztinstanzlich urteilen muß, schwieriger, als der Versuchung zu widerstehen, das Gesetz mit der Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. Im vorliegenden Fall erachte ich dies nicht für möglich. Der Vertrag ist in diesem Punkt vollständig klar. Sein System, das vielleicht de lege ferenda beanstandet werden könnte, ist dennoch ein geschlossenes Ganzes: Ich glaube nicht, daß man aus einem noch so berechtigten Grunde seinen Sinn verfälschen kann.“419

562.2 Das Fixieren der Gerechtigkeit 766

Anders als der Gerichtshof versucht die Literatur über das Problem der Gerechtigkeit in Richtung auf einen praktisch handhabbaren Maßstab hinauszugelangen. Ausgangspunkt für die herkömmliche Auffassung der richterlichen Bindung war der Gedanke, dass, an Stelle von Menschen, mit dem Gesetz eine Regel herrschen sollte.420 Wann immer das Gesetz diese Regel nicht bereitstellen kann, soll „die Gerechtigkeit“ eine objektive Grundlage richterlichen Sprechens sichern. Danach „haben Gesetzesbegriffe regelmäßig einen Bedeutungsspielraum. Diese Unschärfezone der Wortbedeutungen läßt sich zwar durch Auslegung methodisch einengen, ganz beseitigen läßt sie sich jedoch regelmäßig nicht. Auslegung ist ( . . . ) daher keine exakte Methode, sondern läuft häufig auf eine Entscheidung zwischen mehreren zur Diskussion stehenden Auslegungsgrundsätzen und Auslegungsmöglichkeiten hinaus. Diese Entscheidung ist legitimerweise davon bestimmt, welche der zur Wahl stehenden Auslegungsalternativen zu einer möglichst gerechten Lösung führt.“421 Die traditionelle Auffüllung des Rechtsbegriffs beginnt also mit einer hat schon eine Regel befolgt – empfangen, bestätigt, erhalten, wieder erfunden –, die ihrerseits nicht absolut verbürgt werden kann; wäre diese Regel eine verbürgte Regel, wäre also die Entscheidung eine verbürgte Entscheidung, so hätte sie sich in ein Berechenbares verwandelt und man könnte wiederum nicht sagen, sie sei gerecht.“ Vgl. dazu auch Zenklusen, S., Adornos Nichtidentisches und Derridas différance, 2002, S. 106 ff. 418 EuGH Slg. 1954 / 55, S. 131 ff. (ASSIDER / Hohe Behörde der EGKS). 419 Schlussanträge des GA Lagrange, EuGH Slg. 1954 / 55, S. 131 ff., 186 (ASSIDER / Hohe Behörde der EGKS). 420 Vgl. dazu Kirchhof, P., Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Die Hochschullehrer der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg (Hrsg.), Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, 1986, S. 11 ff., 11.

562 Legitimität: Verdrängen und Fixieren der Gerechtigkeit

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scheinbaren Wendung gegen das Modell der Gegenstandserkenntnis, wonach „nicht ausschließlich ,positivistisch‘ gedeutet werden darf“.422 Es ist aus dieser Sicht „unrealistisch“423, den Richter nur an das geschriebene Gesetz binden zu wollen: „Denn wie immer man sich zu diesem Begriff (des Rechts) stellen mag, so steht er doch in größerer Nähe zum Begriff der Gerechtigkeit als der Gesetzesbegriff. Gerechtigkeitsvorstellungen fließen aber naturgemäß mehr durch die Rechtsprechung als durch Verwaltung und Regierung in die Rechtswirklichkeit ein.“424 Zwischen den im Original hervorgehobenen Begriffen Gerechtigkeit und Rechtsprechung vermittelt hier nicht das Gesetz, sondern das Wort „naturgemäß“, welches mit seinem unklaren Assoziationsfeld das Bild des salomonischen Richters gegen den gesetzesgebundenen Richter ausspielt.425 Erneut wird hier der Positivismus mit der richterlichen Bindung einfach kurzgeschlossen, mit dem Ablehnen des wirklich unrealistischen Erkenntnismodells in der Folge auch die Bindung an das geschriebene Gesetz verworfen. An dessen vakanter Stelle erscheint nun das Stichwort „Gerechtigkeit“, das eine weitere, hinter dem Gesetz liegende Ordnung suggeriert und dem richterlichen Handeln die geforderten „neuen Halterungen“426 geben soll: „Der Begriff ,Recht‘ in Art. 164 (neu Art. 220 EG) ist im umfassenden Sinne zu verstehen. Er kann nicht ausschließlich auf das Gemeinschaftsrecht bezogen werden. Vielmehr ist er Inbegriff der Gerechtigkeitsidee der abendländischen Verfassungskultur ( . . . ), die in den Gemeinschaftsverträgen wie in den staatlichen Verfassungen einen jeweils spezifischen Ausdruck gefunden hat, er greift über die geschriebenen Normen hinaus und verschmilzt die nationalen Rechtstraditionen.“ 427 Die in Art. 220 angesprochene Wahrung des Rechts wird damit zu einem Auftrag: „Dieser Auftrag ist denkbar weit angelegt und umfaßt eben nicht nur die Auslegung des Rechts, sondern gleichermaßen auch die Wahrung des Rechts, die angesichts des unvollkommenen Regelungsbestandes im europäischen Gemeinschaftsrecht nur im Wege der Rechtsfortbildung sichergestellt werden kann. Anders als die historisch gewachsenen nationalen Rechtsordnungen, die über einen gesicherten Bestand gemeinsamer Rechtsüberzeugungen 421 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 392 unter Bezug auf Zippelius, R., Juristische Methodenlehre, 6. Aufl., 1994, S. 10. 422 Holtkotten, H., Art. 97 II 2 b, in: Dolzer, R. / Vogel, K. u. a. (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 8, Art. 89 – 104, Stand März 2002. 423 Herzog, R., Art. 97, Rn. 5, in: Maunz, Th. / Dürig, G. (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. V, Art. 89 – 149, Stand Juli 2001. 424 Ebd., vgl. allgemein zum Begriff der Gerechtigkeit Robbers, G., Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. Über den Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1980. 425 Vgl. dazu Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 122 f. 426 Wassermann, R., Art. 97, Rn. 50, in: ders. (Hrsg.), Alternativkommentar zum Grundgesetz. Band II: Art. 38 – 146, 2. Aufl., 1989. 427 Pernice, I., Art. 164, Rn. 7, in: Grabitz, E. / Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 102a – 248 EGV (Maastrichter Fassung), Stand Oktober 1999, 2000.

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5 Rechtsprechung des EuGH – 56 Positivität des Rechts

und Rechtsansichten verfügen, muß eine solche gefestigte Rechtsordnung auf Gemeinschaftsebene erst noch geschaffen werden. Die Gemeinschaftsverträge sind dynamisch, d. h. auf fortschreitende Entwicklung angelegt, so daß die Gemeinschaftsrechtsvorschriften notwendigerweise vielfach offen formuliert und auf spätere Entfaltung und Ergänzung angewiesen sind. Diese Aufgabe kommt zwar in erster Linie dem Gemeinschaftsgesetzgeber zu, sie wird aber vom EuGH wahrgenommen, sofern der Gesetzgeber diesem Auftrag nicht nachkommt. Der EuGH kann und darf sich dieser Aufgabe im Rahmen der bei ihm zur Entscheidung anstehenden Rechtsstreitigkeiten nicht entziehen, will er sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung aussetzen und damit seinen Auftrag, die Wahrung des Rechts zu sichern, mißachten.“428 767

Methodisch und dogmatisch ist diese Interpretation des Art. 220 EG nicht überzeugend. Es kann schwerlich angenommen werden, dass hier dem Begriff des Rechts ein so weitreichender Inhalt unterstellt werden sollte. Denn ein solcher über die positiven Gesetze hinausgehender Begriff der Gerechtigkeit würde als holistisches Konzept die spezifisch europarechtliche Systematik der primärrechtlichen Bindungen richterlichen Handelns ganz auflösen. Weil die Gerechtigkeit gerade nicht als holistisches Konzept handhabbar ist, läuft sie in der Praxis auf eine Ermächtigung429 der jeweils letzten Instanz der Handlungskette zu einer unvermeidlich subjektiv willkürlichen Definition der Gerechtigkeit hinaus. Die den Richter verpflichtende inhaltliche Größe wäre damit mit der letztendlichen Zuständigkeit zu ihrer Definition gleichgesetzt.

562.3 Die Gerechtigkeit als Forderung nach weiteren Argumenten in der Rechtsprechung des EuGH 768

Der Unterschied zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz liegt darin, dass diese diskrete Daten und damit eine Verfügbarkeit des neuesten Wissenshorizonts braucht. Natürliche Intelligenz kann dagegen auch unter der Vorgabe eines vagen und defizitären Horizonts im Sinn einer Fluchtlinie funktionieren. Wenn nun diese Fluchtlinie in einer endgültigen Definition formuliert ist, wird die Rechtsordnung totalitär geschlossen, ihre Legitimität ist verspielt. Gerade das Europäische Gemeinschaftsrecht mit seiner Vielfalt von Sprachen und Kulturen lässt das nicht zu. Man kann dieses entwicklungsoffene Gebilde nicht auf ein einziges Sinnzentrum hin reduzieren, um es als Totalität handhabbar zu machen.

769

Dem EuGH ist dies vollkommen klar. Deswegen hat er es immer abgelehnt, Gerechtigkeit als vorhandenes Prinzip zu definieren. Das Gericht hat stets hervorgehoben, dass „das Gemeinschaftsrecht keine Rechtsgrundlage ( . . . ) aus Billig428 Borchardt, K.-D., Art. 164, Rn. 21, in: Groeben, H. v. d. / Thiersing, I. / Ehlermann, C.-D. (Hrsg.), Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 4: Art. 137 – 209a EGV, 1997. 429 Vgl. Müller, F., ,Richterrecht‘, 1986, S. 118 f.

562 Legitimität: Verdrängen und Fixieren der Gerechtigkeit

543

keitsgründen enthält.“430 Auch neuerdings hat der EuGH wieder daran erinnert, dass er „das Bestehen eines allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes objektiver Unbilligkeit bereits verneint hat.“431 Zu erwähnen ist auch die Rechtssache 299 / 84 (Neumann), der zufolge „das Gemeinschaftsrecht keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz kennt, nach dem eine geltende Vorschrift des Gemeinschaftsrechts von einer innerstaatlichen Behörde nicht angewandt werden kann, wenn diese Vorschrift für den Betroffenen eine Härte darstellt, die der Verordnungsgeber der Gemeinschaft erkennbar zu vermeiden gesucht hätte, wenn er bei der Normsetzung an diesen Fall gedacht hätte.“432 Trotzdem wird der Gerechtigkeits- oder Billigkeitstopos in der Rechtsprechung 770 des EuGH verwendet, allerdings nicht in verdinglichter Weise; so in der Rechtssache „Humblet“433, wo der Gerichtshof ein mit Hilfe der Canones bereits begründetes Ergebnis an der Gerechtigkeit dann nur noch bestätigt: „Zu den vorstehend dargelegten Gesichtspunkten tritt noch ein weiterer entscheidender Grund hinzu, nämlich der Umstand, daß die vollständige Befreiung von nationalen Steuern unerläßlich ist, um die Gleichheit der Gehälter im Verhältnis zwischen Beamten verschiedener Nationalität zu gewährleisten. Es wäre in höchstem Maße ungerecht, wenn zwei Beamte, für die das Gemeinschaftsorgan dasselbe Bruttogehalt festgesetzt hat, unterschiedliche Nettogehälter bezögen.“434 Ansonsten ist das Gerechtigkeits- oder Billigkeitsargument435 ein Anreiz für weitere Argumentation. Wenn der Aspekt der Gerechtigkeit das bisher erarbeitete Ergebnis nicht bestätigt, dann bedarf es eben zusätzlicher Argumente. „Die Gerechtigkeit“ wird aber nicht selbst zum entscheidenden Argument. Somit kann man dem methodischen Vorgehen des Europäischen Gerichtshofs 771 Legitimität zubilligen. Gerechtigkeit ist, als Problem, in der Arbeit eines jeden Gerichts enthalten. Das gilt selbstverständlich auch für den EuGH. Dieser geht zu Recht nicht über das Gerechtigkeitsproblem in Richtung auf eine Definition hinaus. Denn damit wäre das Recht verraten. Sobald Gerechtigkeit in einer vorgeblich endgültigen Formel fixiert wurde, wird sie zur Aufgabe der Dekonstruktion.

430

EuGH Slg. 1977, S. 1177 ff., 1189 (Balkan-Import-Export / Hauptzollamt Berlin-Pack-

hof). EuGH Slg. 1990, S. I-2681; I-2711. EuGH Slg. 1985, S. 3663 ff., 3690 (Neumann / Bundesanstalt für Landwirtschaftliche Marktordnung). 433 EuGH Slg. 1960, S. 1163 ff. (Humblet / Belgischen Staat). 434 EuGH Slg. 1960, S. 1163 ff., 1196 f. (Humblet / Belgischen Staat). 435 Vgl. als weitere Nachweise dieses Arguments EuGH Slg. 1964, S. 937 ff., 986, (Colotti / EuGH); EuGH Slg. 1969, S. 1 ff., 15 (Wilhelm / Bundeskartellamt); EuGH Slg. 1972, S. 1281 ff., 1290 (Boehringer / Kommission); EuGH Slg. 1978, S. 169 ff., 179 (Lührs / Hauptzollamt Hamburg-Jonas); EuGH Slg. 1976, S. 153 ff., 159 (Süddeutsche Zucker / Hauptzollamt Mannheim); EuGH Slg. 1982, S. 749 ff., 763 (Alpha Steel / Kommission). 431 432

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7 Personenverzeichnis* Abel, G. 247, 248, 518 Abelein, M. 395 Abendroth, W. 194, 196, 446, 448, 449, 450, 486, Achterberg, N. 345, 346, 352 Ackermann, Th 35, 183 Agerbeek, F. R. 280, 285 Alber, S. 387, 498 Albert, H. 218, 272 Albin, S. 70, 274 Albrecht, U. 479 Alexander, L. 287, 288 Alexy, R. 209 Alford, R. 531 Allison, D. B. 250, 252 Alter, K. J. 66, 176, 308 Amend, G. 211 Amstutz, M. 169, 174, 530 Andenas, M. 283, 286, 303, 306 Andresen, O. M. 151 Anweiler, J. 27, 28, 32, 39, 44, 45, 47, 49, 59, 62, 63, 67, 69, 71, 72, 80, 81, 83, 85, 86, 89, 116, 135, 136, 137, 138, 141, 184, 187, 188, 189, 192, 207, 211, 212, 317, 319, 322, 325, 329, 337, 340, 342, 344, 376, 377, 379, 381, 385, 387, 388, 390, 392, 394, 395, 400, 406, 407, 410, 411, 415, 434, 455, 457, 473, 503, 504, 505, 541 Apel, K.-O. 50, 215 Arnell, A. 276, 303, 306 Aston, J. D. 66 Atiyah, P. 513 Augsberg, I. 362, 373, 374 Bach, A. 149, 151, 168, 417, 420 Baden, E. 49, 313, 318, 489 Baecker, D. 278 * Die Zahlen beziehen sich auf die Seiten.

Baer, S. 442 Bail, Ch. 363 Baker, J. H. 514 Bär, R. 316 Barceló, J. J. 303, 305 Barthelmann, R. 333 Bartholomeyczik, H. 490 Baumann, M. 254 Bebr, G. 28, 212, 309 Beck, K. 354 Behrends, O. 517 Behrens, P. 169 Bellovin, S. M. 352 Benda, E. 437 Bengoetxea, J. 136 Benjamin, W. 251 Bergel J. L. 509 Bergermann, U. 226 Berlit, U. 537 Bernauer, Th. 363 Berndl, C. G. 223 Berners-Lee, T. 349 Bernet, R. 184 Bernhardt, R. 183, 211, 212, 455 Berteloot, P. 254 Bertelsmann, K. 306 Bertram, G. W. 265, 267, 269, 271 Beul, C. R. 161 Beutler, B. 62, 89, 325, 417 Bieber, R. 62, 89, 325, 327, 417 Bieling, H. J. 66 Biondi, A. 158, 159 Bisdom, L. 211 Bisdom, W. 31 Bizer, J. 364 Black, H. C. 287 Black, M. 29 Blank, J. 62, 183, 376, 455

7 Personenverzeichnis Blanke, B. 194, 196, 446, 448, 449, 450, 486 Blanke, H. J. 69, 335 Blanke, H. J. 335 Blaurock, U. 291, 293, 294, 514 Bleckmann, A. 33, 54, 77, 83, 85, 86, 88, 98, 149, 153, 165, 187, 210, 211, 327, 379, 381, 405, 418, 502, 539 Blickle, P. 439 Bloch, E. 311 Blomeyer, W. 308 Blühdorn, J. 525 Blumenwitz, D. 288, 387, 435 Böckenförde, M. 180, 363 Bocquet, C. 240 Bodei, R. 439 Bodenheimer, E. 288 Bogdandy, A. v. 128, 134, 162, 283, 284 Boghossian, P. 458 Böhm, R. 212, 398 Böhm-Amtmann, E. 318 Bohne, E. 318 Bolgár, V. 300 Bollmann, St. 223, 350, 351, 352 Bollnow, O. 49 Bonsiepe 223 Borchardt, K.-D. 426, 426, 542 Borgsmidt, K. 533 Börner, B. B. 212 Borries, V. 336, 404 Bos, M. 187 Bottke, W. 490 Brandom, R. B. 181, 267, 460, 485, 521 Brandt, K. 434 Braselmann, P. 255, 462, 464, 466, 467, 468, 469. 470, 471, 472, 475, 476, 477, 478 Brecher, F. 487 Brechmann, W. 151, 153, 165, 167, 425, 426, 427, 428 Bredimas, A. 45, 62, 145, 212 Bretz, K. G. 95 Brink, S. 235, 453, 516 Brocker, L. 294, 295 Brödermann, E. 126 Brosius-Gersdorf, F. 330 Brown L. N. 276, 309 Brown, N. 485

599

Buck, C. 28, 31, 34, 44, 54, 56, 57, 62, 64, 70, 77, 86, 135, 136, 142, 187, 211, 212, 241, 312, 326, 331, 338, 376, 377, 378, 380, 404, 406, 415, 483, 484, 511, 512, 513, 515 Buckel, S. 281, 528 Buerstedde, W. 239, 241, 319, 326, 383, 506, 534 Bühler, M. 387 Bull, R. 396 Burca, G. d. 164 Bürge, A. 509 Burgi, M. 442 Burgio, A. 439 Burr, I. 213, 242, 254, 275, 315, 403, 435, 439, 453, 534 Busch L 365 Bush, V. 222 Busse, D. 65, 220, 250, 270, 368, 456, 478 Bydlinski, F. 48, 77, 153, 288, 292, 293, 294 Caemmerer, E. v. 263 Caldewell, C. J. 280 Calliess, Ch. 34, 61, 66, 69, 72, 325, 385, 387, 432, 433, 439, 441, 443 Cambell A. I. L. 538 Canaris, C.-W. 48 Candela Castillo, J. 398 Capotorti, F. 305 Caussignac, G. 68, 315 Chapus, R. 510 Cheswick, W. R. 352 Christianos, V. 307, 309 Chryssogonos, K. 217 Cintura, P. 213 Classen, C. D. 93, 150, 424 Clauss, K. 63 Clemens, Ch. 485 Clever, P. 20 Collins, H. 170 Combrexelle, J. D. 307 Conklin, J. E. 228 Constantinesco, L.-J., 81, 183, 212, 455 Cornils, M. 161 Cottier, Th. 363 Coulmas, F. 254 Craig, E. 371 Craig, P. 164, 398

600

7 Personenverzeichnis

Craig, P. P. 398 Cremer, H. J. 499 Cross, R. 289, 309, 513, 514 Culler, J. 55 Daig, H.-W. 28, 393, 394, 483 DanieIzyk, R. 447 Danwitz, T. v. 21, 93, 158, 161, 187, 396 Dänzer-Vanotti, W. 20, 153, 187, 332, 396, 397, 538 Dauses, M. 77, 83, 85, 86, 88, David, R. 509 Davidson, D. 197, 240, 261, 312, 459, 460, 461, 467, 480, 521 Deckert, M. 128, 161 Dederichs, M. 34, 44, 47, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 310, 345, 519 Deleuze, G. 20, 190, Delors, J. 69 Dendrinos, A. 153, 417, 420, 427, 431 Depenheuer, O. 152 Derrida, J. 19, 22, 37, 53, 64, 65, 183, 184, 201, 202, 203, 204, 206, 209, 244, 246, 251, 252, 300, 403, 439, 447, 539 Descombes, V. 447 Detterbeck, S. 128, 161, Di Fabio, U. 150, 402, 419, 422, 424, 442 Dicke, K. 19 Dickschat, S. A. 25, 263 Dieter, J. 225 Diez, T. 66 Dölle, H. 31, 33 Dolzer, R. 541 Domröse, R. 135, 431, 433 Dorn, D.W. 337 Dörr, O. 385 Douglas, M. 366 Drechsler, C. 34, 62, 184, 210, 482 Dreier, H. 184 Drexl, J. 402 Dreyfus, H. L. 247 Droysen, J.G. 526, 527 Dschanek, A. 281 Du Plessis, L. 44, 46, 206 Due, O. 332, 337, 338, 339, 396, 412, 439, 519, 538 Duerr, H. P. 218 Dumon, F. 212, 263, 331, 376, 377

Dürig, G. 541 Dyson, E. 350, 353 Eckold-Schmid, F. 487 Eco, U. 517 Ede, L. 489 Edward, D. 538 Egli, U. 29 Ehlermann, C.-D. 28, 32, 44, 84, 85, 117, 118, 214, 241, 253, 255, 306, 395, 479 Ehlers, D. 126 Ehlich, K. 523 Ehmke, H. 214 Ehricke, U. 149, 303, 306, 309, 424 Eilmansberger, Th. 334, 397 Engberg, J. 256 Engel, Ch. 300 Engelbarts, D. C. 222 Engisch, K. 91, 314, 316, 318, 484 Epiney, A. 58, 99 Erbguth, W. 244 Esser, J. 49, 185, 217, 299 Everling, U. 22, 95, 137, 149, 153, 167, 187, 253, 312, 323, 422, 423, 424, 425, 426, 427, 508, 510, 512, 513, 514, 515, 532, 535 Ewert, H. A. 62, 81, 212, 213, 407 Falkner, R. 363 Fasching, H. W. 295, 296 Faßler, N. 247 Feeling, D. 28 Feldner, B. 276, 277, 302, 303, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 532, 533 Ferrer-Beltrán, J. 217, 439 Figal, G. 51 Fikentscher, W. 153, 293, 294, 295, 485, 509 Fischer, H. G. 122, 151 Fischer-Lescano, A. 169, 283, 362, 528 Fischetti, M. 349 Fix, U. 220 Flessner, A. 180, 265, 515 Fögen, M. T. 178 Forgó, N. 199, 200, 246, 276, 277, 302, 303, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 454, 532, 533, Foucault, M. 241, 489

7 Personenverzeichnis Frank, M. 64, 65, 518 Franssen, E. 487 Freisler, S. 222 Frey, H.-J. 244, 245, 252 Frisch, M. 71, 77, 79, 91, 150, 151, 152, 153, 154, 164, 165, 167, 167, 420, 425, 428, 431 Frizzoni, W. 68 Frommel, M. 214 Frosini, V. 239, Frowein, J. Abr. 397. 441, 442, 443 Früh, W. 275 Fuß, E. W. 395 Gabriel, N. 350 Gadamer, H.-G. 50, 51, 52, 214, 215 Gallas, H. 226 Gallas, T., 63, 68, 240 Gallie, W. B. 243 Gampel, E. H. 460 Gangl, H. 509 Ganten, T. O. 286 Gasché, R. 278 Gaston, G. L. 365 Gebauer, G. 197, 199 Géczy-Sparwasser, V. 349, 352, 353, 354, 355, 356, 357, 358, 359, 360 Geiger, J. 122 Geiger, R. 33, 128, 241, 398, 479 Geiger, Th. 261 Gellermann, M. 150, 167, 398, 424, 433 Gellhaus, A. 262 Gémar, J.-C. 240 Gény, F. 509 Gerdes, H. 221, 228, 230 Germann, O. A. 509 Gerstenberg, O. 22, 169, 439 Gessner, V. 452 Gillissen, J. 509 Gilsdorf, P. 117, 118, 392, 393, 394, 395 Ginsbergen, G. v. 253 Giordan, H. 239 Gizbert-Studnicki, T. 214, 215 Glock, H.-J. 457, 460 Gloy, K. 248, 517 Glüer, K. 458, 460 Gmelin, H. 315 Gochet, P. 250

601

Goffin, L. 398 Goldstein, L. 287 Golsong, H. 441, 507 Gondek, H.-D. 245, 246, 251, 252, 447 Goodman, N. 371 Görlitz, A. 452 Gornig, G. H. 387, 435 Götz, V. 122, 424, 528 Grabenwarter, C. 132, 133, 134, 498 Grabitz, E. 25, 35, 128, 134, 162, 212, 239, 241, 242, 332, 407, 410, 414, 417, 445, 479, 541 Graf Kielmannsegg, P. 439 Grafton, A. 225 Granovetter, M. 170 Grasnick, W. 518, 520 Grätz, G.L. 365 Greiß, F. 68, 253, 377 Grewendorf, G. 40 Grice, H. P. 468 Griller, S. 281 Grimm, D. 335, 402, 403 Grimm, J. 464 Grimm, W. 464 Groeben, H. v. d 28, 32, 44, 84, 85, 88, 117, 118, 212, 214, 241, 253, 255, 306, 392, 393, 394, 395, 479, 542, 549, 560, 563, 571 Groh, T. 46, 68, 213, 241, 265, 304, 305, 310, 320, 387, 415, 435, 455 Gromitsaris, A. 115, 116, 396 Gropp, M. 63 Gröschner, R. 292, 485 Großfeld, B. 150 Grove-White, R. 365 Grundmann, St. 140, 405, 406, 407, 413, 431 Guattari, F. 20 Gundel, J. 430 Günther, K. 169 Gussone, P. 192 Häberle, P. 435, 437, 439, 440, 441 Habermas, J. 50, 210, 317, 403, 452 Hailbronner, K. 122, 396, 398 Hakenberg, W. 162, 168 Halbach, W. 247 Hall, P. 170

602

7 Personenverzeichnis

Haltern, U. 66, 130, 132, 171, 175, 176, 177 Haltern, U. R. 402 Hanschmann, F. 242, 403, 439 Harari, J. 489 Hardisty, J. 287 Harenburg, J. 194, 195, 209, 216, 217 Harras, G. 243, 470 Harris, F. W. 289, 309 Hart, H. L. A. 216 Haß, U. 243 Hassemer, W. 40 Hassold, G. 184, 217, 484, 486, 505 Haß-Zumkehr, U. 369 Hatschek, J. 512, 514 Haug, W. 208 Haverkate, G. 485, 487 Hegenbarth, R. 489 Heibach, Chr. 223, 350, 351, 352, Heidbrink, L. 244, 245, 250, 252 Heidegger, M. 245 Heintzen, M. 93, 387 Held, Th. 358 Hempel, St. 350 Hennecke, F. 318 Henrichs, Ch. 128, 161 Heraklit 272 Herberger, M. 216, 222, 224 Herbert, M. 456 Herdegen, M. 211, 212 Heringer, H. J. 198, 255, 368, 461 Herrmann, Ch. 149, 150, 153, 166 Herzog, P. 25, 45, 241, 253, 263 Herzog, R. 69, 541 Hesselink, M. 258 Hess-Lüttich, E. W. B. 220, 222, 223, 225, 226 Heutger, V 256, 257, 258, 259, 260 Heymann, M. 69 Hierl, H. 69 Hilf, M. 25, 31, 35, 128, 134, 162, 211, 212, 239, 241, 242, 253, 332, 407,410, 414, 445, 479, 541 Hilgendorf, E. 517 Hillgruber, Chr. 21, 93, 187 Hinderling, H. G. 185 Hirsch, A. 37, 40, 244, 245, 246, 250, 251, 252, 434, 544, 555, 559, 561, 565, 566, 575

Hirsch, G. 307 Hoerster, N. 216 Höffe, O. 261 Hoffmann, L. 256 Hoffmann-Becking, G. 395 Hoffmann-Riem, W. 358, 361 Hofmann, Ch. 34 Hofmann, E. 441 Hofmann, R. 54, 335, 401, 402, 441 Holtkotten, H. 541 Holzleithner, E. 532 Hommelhoff, P. 152, 154 Honsell, Th. 63, 315, 488, 490, 505 Hörisch, J. 190 Horwich, P. 458 Hrbek, R. 437 Hruschka, J. 185, 245 Huber, O. 22, 228, 230 Huber, P. 151, 402 Hüglin, Th. 439 Hummer, W., 84, 210, 329 Hundsdorfer, S. 364, 365 Idensen, H. 223, 225, 227 Ipsen, H. P. 150, 211, 212, 322, 327, 387, 388, 394, 417, 420 Isensee, J. 442, 519 Iser, W. 226 Jachtenfuchs, M. 439 Jackson, B. S. 287, 289 Jacobs, F. 442 Jacobs, F. G. 485 Jacot-Guillarmod, O. 441, 442 Jacque, J. P. 442 Jaeckel, L. 283 Jaenicke, G. 129, 130 Jaestaedt, M. 93 Jäger, L. 523, 524, 525, 526, 527 Jahraus, O. 525 Jakobson, R. 244 Janetzko, D. 247 Jannasch, A. 20 Jannidis, F. 489 Jarass, H. 133, 149, 150, 153, 167, 168, 420, 421, 424, 426, 432, 433 Jasanoff, S. 365 Jaszi, P. 489

7 Personenverzeichnis Jeand’Heur, B. 197, 244, 346, 367, 369, 370, 371, 373, 374, 467, 468 Jhering, R. 198 Joerges, Ch. 169, 174, 364, 530 Johannes, L. 354 Judt, T. 19 Kadelbach, S. 282 Kaiser, J. 98 Kaiser, J. H. 405 Kaiser, K. 136 Kallmeyer, W. 221 Kämmerer, J. A. 441 Kamper, D. 197, 199 Karl, J. 396, 397, 398, 399 Karolewski, I. P. 401, 439 Kaufmann, A. 214 Kaufmann, E. 311 Kayser, U. 512 Keeling, D. 512 Keller, A. 185 Keller, R. 198, 248, 270 Kelsen, H. 193 Kennedy, T. 276, 309 Kenntner, M. 128, 132 Kilian, M. 485 Kimmerle, H. 49 Kirchhof, P. 20, 21, 311, 402, 449, 540 Kirchner, Ch., 84, 324 Kissel, O. R. 128 Kitschelt, H. 170 Klecatsky, P. 194 Kleger, H. 401, 439 Klein, E. 151, 417, 420 Klein, J. 220 Kluth, W. 134, 438 Knell, S. 181 Knops, O. K. 294, 295 Köbl, U. 316 Koch, H.-J. 209, 214, 364, 517 Koenig, Ch. 434 Koenig, K. 131 Kohler, J. 311 Kohler-Koch, B. 439 Köndgen, J. 183, 334, 401 Kopperschmidt, J. 491 Korioth, S. 93 Korte, S. 363

603

Kötz, H., 392, 514 Kralik, W. 295, 296 Krämer, H. 131 Krämer, S. 523 Krawietz, W. 486 Kremer, C. 162 Kreuzer, K. F. 402 Krieger, H. 128, 134 Kriele, M. 289, 294, 295, 299, 513 Kripke, S. A. 368, 458, 460 Kristeva, J. 225, 226 Krück, H. 212, 306, 393, 394 Krüger, H. 519 Krüger, U. 316, 318 Kudlich, H. 234, 369, 511, 514, 517 Kuhlen, R. 222, 223, 228 Kuhn, T. 94, 345, 372, 382 Kunig, Ph., 132, 133 Kutscher, H. 27, 28, 32, 56, 62, 69, 135, 191, 212, 325, 393, 395, 405, 406, 407, 483 Ladeur, K.-H. 361, 362, 364 Lageard, S. 114, 393, 394, 395 Lagemann, J. 517 Lakatos, I. 190 Lambers, H. J. 336 Landow, G. P. 223, 230 Langenbucher, K. 35, 183, 288, 292 Langenfeld, C. 151, 153, 433 Langridge, D. W. 275 Lankau, R. 229 Larenz, K. 48, 77, 153, 184, 185, 215, 295, 296 Larousse 465, 466 Laser, H. G. 514 Lashofer, J. 513, 514 Lauer, G. 489 Leible, J. 334, 335 Leible, S. 135, 136, 407 Leicht, R. 214 Lenz, C. O. 114, 167, 393, 394, 395 Lenzen, D. 197, 199 Lepsius, R. 169 Lerch, K. 66 Leun, G. v. d. 351 Lévy, P. 351, 352 Lewandowski, T. 29 Lewis, D. K. 269

604

7 Personenverzeichnis

Liebrand, C. 524 Liikanen, E. 360 Limbach, J. 275 Lind, G. 94, Liptow, J. 265, 267, 269, 270, 271 Loertscher, D. 68 Loosen, K. 363 Lorenzen, P. 217 Löschper, G. 520, 521 Lowe, P. 94 Lübbe-Wolff, G. 364 Lübbig, T. 501 Lucke, J. v. 347, 348 Lueken, G.-L. 491, 493 Luhmann, N. 176, 178, 277, 362, 366, 452, 453, 481, 507, 518, 521, 531 Lüke, G. 187, 211 Lundmark, Th. 287 Lunsford, A. 489 Lutter, M. 67, 70, 149, 152, 165, 417, 422 Lyotard, J.-F. 64, 473, 493 MacCallum, G. 316 MacCormik, N. 303, 306 MacDonald, R. St. J. 441, 442 Mader, L. 68 Magiera, S. 307, 387, 498 Mähner, T. 435, 441, 452 Maier, I. 442 Maier, S. C. 402 Maihofer, W. 437 Majone, G. 169 Man, P. d. 40, 251, 252 Mancini, G. S. 28 Mandel, Th. 351 Manici, G. 217 Marcic, R. 194 Marger, U. 385 Marquard, H. 363 Marshall, D. G. 51 Martinez, J. 530 Martinez, M. 489 Martiny, D. 244, 465, 473, 475 Matscher, F. 441, 442 Mattenklott, G. 197, 199 Mattheier, K. J. 248, 517 Maunz, Th. 541 Maus, I. 367, 446, 448, 449, 486

Mayer, F. C. 530 Mayer, V. 237, 461, 518 Mayer-Ladewig, J. 529 Mayer-Schönberger, V. 532 Meessen, K. M. 387 Megale, F. 239 Meier, O. 519 Meier-Hayoz, A. 153 Meilicke, W. 165, 420 Mellinghoff, R. 457 Meltzian, D. 190 Menke, Ch. 51 Mennicken, A. 209, 311 Merkl, A. 194 Merten, K. 275 Metallinos, A. 150, 154, 167 Meyer, H. 128 Meyer, M. 197 Meyer, S. W. 68, 253, 377 Michelfelder, D. P. 51 Miehsler, H. 441 Millikan, R. 460 Minsky, N. 247 Mittelstraß, J. 491 Mock, E. 19 Mohr, G. 19 Monaghan, H. P. 287 Mongin, B. 398 Montani, M. 351 Morin, E. 19 Mosler, H. 129, 130 Mössner, J. M. 33 Mounin, G. 239 Muhr, P. 199 Müller, Chr. 194 Müller, J. 211 Müller-Erzbach, R. 509 Müller-Graff, P.-C. 307, 428 Münch, F. 519 Münch, I. v. 132, 133, Munke, M. 401, 439 Münz, S. 221, 222, 223, 224, 226, 227, 228, 229, 233 Munzer, H. 311 Murswiek, D. 387, 402, 435 Musgrave, A. 190

7 Personenverzeichnis Nanninga, J. 491 Narváez-Mora, M. 217, 439 Nelson, T. H. 222, 224 Neri, S. 68 Neßler, V. 333, 334 Nessler, V. 396 Nettesheim, M. 133, 154, 239, 421, 424 Neumann, V. 244 Neuner, J. 185 Nick, M. 223 Nickel, G. 311 Nickl, M. 350 Nicolaysen, G. 212, 327, 417 Nußbaumer, M. 240, 262 Oberwexer, W. 128 Odersky, W. 337 Oehmichen, A. 211, 376 Oeter, S., 402, 439 Ogorek, R. 175 Öhlschläger, G. 198, 368 Oliver, P. 117, 118, 392, 393, 394, 395 Ophüls, C. F. 68, 253, 377, 405 Opp, K.-D. 490 Oppermann, Th. 45, 73, 135, 150, 320, 327, 337, 395, 400, 401, 404, 415, 434, 435, 438, 509, 511 Orrú, G. 295 Orth, W. 184 Ossenbühl, F. 20, 21, 122, 130, 131, 161, 396, 397, 398, 402, 515, 516 Pache, E. 284, 385, 441, 442, 443, 534 Pagenkopf, M. 150 Pagin, P. 460 Palandt, O. 130 Palmer, R. 51 Pantli, A.-K. 240 Papier, H. J. 129, 130 Passavant, O. 345, 346 Patterson, D. 287, 288 Paulson, S. 317 Pawlowski, H.-M. 185 Pechstein, M. 34, 62, 70, 184, 210, 482, Perelman, Ch. 318 Pernice, I. 69, 332, 407, 410, 414, 445, 541 Perry, S. R. 288 Peruzzo, G. G. 187

605

Pestalozza, Ch. 485 Peters, A. 434, 439, 441, 519, 532, 535 Peters, B. 243 Petersen, N. 282 Petzold, H. 441, 441, 529 Peukert, W. 442, 443 Philipps, L. 273 Phillips, P. 365 Picardi, E. 197, 459, 461, 554 Pieper, S. 439 Pieroth, B. 133 Pietrek, A. U. 303 Pilny, K. 287, 288, 289 Pipkorn, J. 62, 69, 89, 325, 336, 417 Plender, R. 62, 68 Potacs, M. 32, 58, 62, 67, 72, 73, 74, 75, 136, 137, 145, 146, 213, 385, 405, 457, 458, 483, 484 Prechal, S. 158, 159, 429 Preedy, K. 286, 334 Preis, U. 291 Preuß, U. 194, 196, 446, 448, 449, 450, 486 Prieß, H.-J. 122, 399 Putnam, H. 368, 369, 371 Quine, W. v. O. 240, 243, 250, 456, 460, 471 Rabel, E. 514 Radbruch, G. 513 Rahlf, J. 485 Raisch, P. 153 Rasmussen, H. 28, 186, 213, 538 Raz, J. 216 Rebmann, K. 129, 130 Redder, A. 523, 524 Rehbein, J. 523 Reich, N. 442 Reiling, M. 115, 395 Reinhardt, H. 20, 21 Reinhardt, M. 93 Reinhardt, P. 100 Rensmann, T. 435 Ress, G. 168, 211, 424, 432, 442 Ridder, H. 286 Ridyard, P. 94 Riechenberg, K. 309 Riedel, M. 525

606

7 Personenverzeichnis

Riese, O. 263 Riesenhuber, K. 24, 265, 319, 326, 482 Ritter, J. 525 Rixecker, R. 129, 130 Robbers, G. 541 Rödig, J. 185, 218, 312, 489 Roellecke, G. 485, 489, 505, 506 Römer, P. 194, 196, 450 Rose, M. 489 Ross, A. 216 Roth, W.-H. 164, 283, 286, Röthel, A. 375, 377 Roth-Stielow, K. 184, 208, 486 Röttinger, M. 35, 241 Rottleuthner, H. 214, 489 Rötzer, F. 247 Roxin, C. 296 Rudolph, E. 19 Rüffler, F. 167, 425, 428 Rüßmann, H. 209, 517 Sacco, R. 240 Sack, R. 167 Säcker, F. 129, 130 Sadeleer, N. de 364 Salzwedel, J. 20, 21, 151, 154, 417 Sander, F. 439 Sandkühler, H. J. 403 Sandner, W. 20 Sandrini, P. 254 Sansoni 465, 466 Sauer, Ch. 521 Savigny, E. v. 64, 485 Schaff, A. 29 Schalk, H. 462, 517 Schambeck, H. 194 Schauer, F. 287 Schecter, G. 222 Scheibeler, E. 37, 38, 42, 263, Schermers, H. G. 136, 533 Scherzberg, A. 150, 420, 421 Schestag, Th. 252 Scheuing, D. H. 402, 439 Scheuner, U. 485 Schiffauer, P. 435 Schilling, Th. 387, 441, 518 Schima, B. 276, 277, 303, 305, 306, 307, 308, 309, 310, 336, 533

Schindler, D. 283 Schlag, P. 520 Schleiermacher, F. D. E. 49 Schlette, V. 442, 510 Schlink, B. 209, 216, 217 Schlüchter, E. 291, 292, 514 Schmalz, D. 92 Schmid, A. 247 Schmidhuber, P. M. 69, 336, 404 Schmidt, M. 149 Schmidt-Jortzig, E. 19 Schmitt, C. 315, 488 Schmitz, T. 387 Schneider, C. 479 Schneider, I. 524 Schnupp, P. 228 Schnyder, B. 44, 185 Schoch, F. 20, 183 Schön, W. 154, 163 Schöndorf-Haubold, B 129, 131, 132 Schroth, P. W. 240 Schroth, U. 65, 214, 316, 317, 318, 446, 486, 488, 489 Schubarth, M. 44, 242, 253, 480 Schübel-Pfister, I. 25, 35, 242, 254, 262, 377 Schulte, E. 150 Schulte, J. 197, 198, 368, 459, 461, 554 Schultz, A. 60 Schulz, W. 358 Schulze-Fielitz, H., 537 Schünemann, B. 520 Schünemann, H.-W. 215 Schütz, C. 537 Schwartze, A. 113, 383, 384 Schwarze, J. 95, 98, 99, 341, 437, 439, 441, 519, 528, 538 Schweitzer, M. 25, 84, 210, 329 Schwemmer, O. 217 Searle, J. R. 247 Seel, M. 51, 265 Seibert, Th.-M. 198 Seifert, R. W. M. 292, 295 Sellars, W. 456, 460 Seltenreich, S. 128 Sendler, H. 203, 536 Sieber, U. 402 Siebert, W. 490

7 Personenverzeichnis Siemen, B. 95 Simanowski, R. 221, 223, 224, 226, 227, 230 Simitis, S. 487 Simma, B. 211, 425 Simon, D. 216, 305 Simon, J. 518 Simson, W. v. 437 Sitta, H. 262 Slaughter, A.-M. 66, 308, Slynn, G. 213 Smit, H. 25, 45, 241, 253, 263, Snell, J. 283, 286 Soerensen, M., 212 Sokolowski; M. 40, 41, 197, 198, 199, 220, 232, 235, 243, 244, 246, 250, 251, 252, 256, 259, 272, 369, 459, 468, 473, 516, 519, 550, 551, 552, 578 Somek, A. 199, 200, 243, 246, 454, 518 Sorg, R. 220, 223, 225, 226 Söring, J. 220, 223, 225, 226 Soskice, D. 170 Sperl, H. 68 Spetzler, E. 151, 154, 417 Spinner, H. F. 218, 486 Sproll, H.-D. 128, 161 Stäheli, U. 277, 278 Stanitzek, G. 523, 524, 525, 526, 527 Starck, Chr. 449 Stegmaier, W. 518 Stein, P. G. 19 Stein, T. 187, 528 Steindorf, E. 421 Steiner, G. 244, 246 Steinhauer, B. 167 Stern, G. 95 Stevens, L. 263 Stickel, G. 198 Stingelin, M. 20 Stolleis, M. 19, 203 Stone, J. 287 Storr, S. 131, 132 Storrer, A. 221 Stötzel, G. 198 Strauß, G. 243 Strauss, W. 68 Strawson, P. F. 312 Strecker, B. 198, 371

607

Streil, J., 62, 89, 309, 325, 417 Streinz, R. 73, 97, 122, 129, 130, 330, 331, 335, 337, 338, 339, 398, 401, 412, 415, 434, 445, 508 Stricker, G. 291 Strube, G. 247, Stüber, K. 461 Suerbaum, J. 283 Summers, P. 316 Summers, R. S. 303, 306 Sweet, A. S. 308 Sweete, A. S. 66 Szcekalla, P. 283 Taube, M. 95 Taupitz, J. 122 Teubner, G. 169, 170, 174, 362, 374, 452, 528, 530 Teubner, W. 513, 514 Thelen, M. 247 Thiele, D. 363 Thiesing, J. 28, 32, 44, 84, 85, 88, 117, 118, 212, 214, 241, 253, 255, 306, 392, 293, 394, 395, 479 Tiedemann, P. 27 Tiedtke, A. 439 Tombrink, Ch. 130 Tomuschat, C. 188, 191, 214, 528 Topitsch, H. 261 Toth, A. G. 303 Touffait, A. 510 Toulmin, S. 487 Trute, H.-H. 457 Tryantafyllou, D. 399 Tunc, A. 510 Turégano-Mansilla, I. 439 Ukrow, J. 187, 210, 241, 396 Ullmann, S. 29 Unnerstall, H. 92, 451 Valentine, D. G. 211 Varga, C. 19 Verdross, A. 211, 425 Veronesi, D. 239, 262 Versteyl, L.-A. 276 Vesting, Th. 374 Viebrock, J. 150

608

7 Personenverzeichnis

Vogel, H.-J. 437 Vogel, K. 541 Vogenauer, S. 24 Vogler, T. 441 Volz, F. R. 447 Vowe, G. 354 Voyatzi, M. 538 Waelbroeck, D. 136, 212, 533 Wagner-Döbler, R. 273 Waldenfels, B. 51 Walker, G. 94 Walther, M. 439 Wambsganz, C. 275 Wank, R. 48, 216, 314, 485, 487 Warmer, G. 517 Warnke, G. 51 Wassermann, R. 541 Weber, A. 28, 32, 44, 241, 253, 255, 479 Wegener, B. 34, 66, 72, 129, 130, 131, 133, 325, 432 Weiler, J. 66, 308, 402 Weinberger, O. 485 Weis, E. 465, 466 Weis, H. 393, 394 Weiß, W. 305 Weller, H. 289, 290, 514 Wellmer, A. 64 Wenz, K. 230 Werber, N. 176 Wetzel, M. 509, 524 White, G. 442 Wiener, A. 66 Wiethölter, R. 452, 528 Wikforss, A. 460 Wildhaber, L. 529 Will, M. R. 211 Willke, H. 452 Wilmars, J. M. d. 31

Wilss, W. 239 Wimmer, R. 197, 198, 243, 255, 260, 368, 468, 478 Windthorst, K. 128, 161 Wingert, L. 169 Winickoff, D. 365 Winkler, H. 246, 247, 527 Winkler, S. 281 Winko, S. 489 Winter, G. 435, 452 Wirth, U. 176 Wißmann, H. 307 Wittgenstein, L. 40, 41, 64, 65, 197, 198, 240, 241, 245, 248, 368, 369, 371, 373, 461, 467, 468, 469, 470, 471 Wittmann, R. 369 Wohlrapp, H. 493 Wolf, N. R. 247 Wolffgang, H.-M. 167 Woodmansee, M. 489 Wüger, D., 365 Wulf, Chr. 197, 199 Wundt, W. 311 Wünsche, K. 197, 199 Wyduckel, W. 439 Wynne, B. 365 Zalabardo, J. 458 Ziekow, J. 290, 291 Zimmermann, A. 54, 335, 401, 402, 441 Zippelius, R. 153, 311, 490, 519, 541 Zöckler, M. 149, 154 Zöllner, W. 505 Zufferey, J.-P. 68 Zuleeg, M. 31, 84, 85, 88, 327, 329, 398, 417, 427, 482 Zumbansen, P. 374, 530 Zweigert, K. 388, 392, 514

8 Sachverzeichnis* Abbildungsverhältnis 491 Ablösungsargument 418 Abrundungskompetenz 444 Achse Norm-Fall 267 Achse Norm-Wirklichkeit 267 Addition von subjektiver und objektiver Lehre 272 Algorithmus 325, 765 Alltagssprache 258 – homogene 679 Alltagstheorien 106 Amendment 718 Amtshaftung 134 Amtssprachen, Gleichbehandlung der 11 Analogie 82 Analogieschluss 82 Analogienovelle 678 angelsächsischer Rechtskreis 387 Anker 297, 298, 302, 307 Anwendungsvorrang 187, 567 Äquivalenz 201, 454 Äquivalenzgrundsatz 198 Arbeitstranskription, halbinterpretative 735 Argument 63 – Dynamik des teleologischen 433 – empirisches 105 – genetisches 364 – Gewicht eines 709 – grammatisches 26, 315 – historisches 364 – Legitimität teleologischer 432, 448 – normtextbezogenes 538 – normtextgelöstes 126 – objektiv teleologisches 538 – rechtspolitische 701 – rechtsvergleichendes 514, 531

– Sonderformen des teleologischen 433 – Stand der 310 – Stärke der 700 – Stärke der vorgebrachten 698 – systematisches 55, 271, 347, 364 – teleologisches 79, 87, 88, 364, 432 – Vorbehalt des besseren 244 – wortlautbezogene 701 Argumentation 683, 687, 742 – formale Apriori der 682 – Geltung einer 310, 682 – Grenzen rechtsvergleichender 532 – holistische 351 – Rationalität einer 683 – systematische 163 Argumentationskultur 399, 401, 404, 762 Argumentationslast 390 Argumentationsprozess 685 Argumentationstheorie 683, 701 – philosophische 683 Argumentform, objektiv teleologische 39 argumentum a fortiori 83 argumentum a maiore ad minus 83 argumentum ad absurdum 106, 434 Atmosphäre der Unsicherheit 375 Aufgabe der Gemeinschaft 98 Auskunftsverweigerungsrecht 524 Auslegung 41, 238, 240, 241, 407 – autonome 40 – dynamische 506, 507, 510 – dynamisch-evolutive 114, 505 – einheitliche 659, 660 – funktionsdifferente 61, 114, 509 – gemeinschaftsrechtskonforme 163, 164, 183, 186, 196, 203, 206, 440, 567, 590 – genetische 44, 76, 703

* Die Zahlen beziehen sich auf die Randnummern. Aufgenommen sind die wichtigsten Fundstellen.

610

8 Sachverzeichnis

– grammatische 10, 19, 21, 23, 24, 41, 58, 192, 193, 344, 364, 368, 466, 661, 700, 714 – Grenze der gemeinschaftsrechtskonformen 578 – Grenze der richtlinienkonformen 190, 582 – mittels teleologischer 93 – objektiv-teleologische 91, 94, 95, 101 – Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen 569, 576, 585 – primärrechtskonforme 164, 168, 172, 173 – rahmenbeschlusskonforme 194, 195 – rechtsvergleichende 132, 140, 149, 157, 162 – restriktive 35 – richtlinienkonforme 164, 186, 187, 188, 193, 195, 205, 210, 218, 568, 570, 572, 574, 577, 580, 583, 587, 588, 591 – Rückwirkung einer 408 – sekundärrechtskonforme 164, 458, 548, 555 – Struktur der rechtsvergleichenden 527, 529, 531, 534 – systematische 45, 56, 58, 61, 62, 540, 700 – teleologische 93, 364, 368, 466 – verfassungskonforme 163, 187, 188, 193, 545, 547 – vertikale 53, 63 – vertragskonforme 546 – völkerrechtskonforme 59, 165 Auslegungsdoktrin, subjektive 419 Auslegungsgrenze 588 Auslegungslehre 672 – objektive 704 – subjektive 64, 66, 419 Auslegungsmethode – primärrechtskonforme 547 – rechtsvergleichende 530 – systematische 53, 62 Auslegungspraxis, Änderung der 412 Auslegungsregeln, normative 269 Auslegungstheorie 270, 271 – herkömmliche 237 Auslegungsziel 270 Ausnahmecharakter 81 Ausnahmen 35, 446 Ausnahmevorschriften 62, 81

Authoring 306 autonomer Begriff 440 Autonomie 260 Autor 44, 45, 68, 292, 303, 613 Autorenfunktion 417 Autorenintention 46 Autorität, reziproke 353, 354 Bann der Wiedererinnerung 252 Baum 3, 9 Baummetapher 299 Bedeutsamkeit 736 Bedeutung 10, 21, 28, 29, 33, 54, 67, 234, 243, 253, 255, 256, 321, 356, 405, 630, 637, 638, 640, 651, 654, 760 – autonome 346 – die richtige 24 – einzelsprachliche 661 – Erklärung der 653 – Gebrauchstheorie der 631 – gemeinschaftsbezogene 9, 36, 39, 42, 56, 77, 91, 335, 345, 347 – Minimum der 22 – objektive 44, 231, 232, 246, 257 – reine 50 – zu viel 258 Bedeutungsbegriff, pragmatischer 358 Bedeutungsdivergenz 345, 664 Bedeutungserklärung 653 Bedeutungsfestsetzung 662 Bedeutungsgleichheit 653 Bedeutungskonflikt 335, 623, 730 – mitgebrachter 688 Bedeutungskonstitution 607 Bedeutungsreichtum 271 begrenzte Einzelermächtigung 592, 728 Begrenzung der Kompetenzen des Gerichtshofs 449 Begriff 12, 496 – Arbeitnehmer 171 – der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 185 – der öffentlichen Ordnung 460 – der richtlinienkonformen Auslegung 185 – der Sprache 255 – gemeinschaftsrechtlicher 131 – gemeinschaftsrechtsbezogener 129 – Recht 766, 767

8 Sachverzeichnis Begriffsbildung 500 Begründung 309, 605, 670, 710 – Apodiktizität der 723 – Funktion der 710 – Recht auf 711 Begründungserwägungen 76, 102, 703 Begründungskultur 712, 755 – europäische 721 Begründungsmodell, deduktives 725 Begründungspflicht 728 Begründungstradition, europäische 712 Beihilfen 199, 512 – nationale 200 Beihilferecht 365 Beobachtung – erster Ordnung 231, 232, 234 – zweiter Ordnung 55, 57, 231, 244, 246, 261, 263, 387 Berufsfreiheit 181 Bestandskraft 566 Bestimmbarkeit 650 Bestimmtheit 505, 650 Betriebsrationalität 596 Betroffenheit, individuelle 690, 691, 693, 695, 697, 698, 700, 701 Beweisaufnahme 604 Beweisregeln 198 binding authority 413, 415 Bindung – an das Gesetz 607, 608 – an Normtexte 406 – an Präjudizien als Argument 386 – argumentative 406 – durch das Gesetz 607, 609 Bindungswirkung, von EuGH-Entscheidungen 408 Browsing 306 Buch 46 – als mediales Paradigma 46 – heiliges 714 Buchmetapher 290, 299 Bundesstaat 188 Bundesverfassungsgericht 194, 236, 383, 384, 525, 747, 748 Canones 32, 33, 80, 188, 211, 276, 305, 311 case law 394, 397, 402 Chance sprachlicher Vielfalt 315

611

Charakter des Gemeinschaftsrechts 275 civil-society 541 Code 614 Common Law 719 Container 599 das Ganze 51, 312, 352, 359 Datenschutz 110 Decodierung 617 Deduktion 715 deduktive Begründungslehre 727 default deference 747, 750 Deference-Modell 749 degenerative Problemverschiebung 243 Dekonstruktion 771 Demokratie 599 – pluralistische 715 – rechtsstaatliche 711, 715 Demokratieprinzip 287, 599 Demokratietheorie 620 demokratische Genese der Rechtsentscheidung 626 demokratischer Rechtsstaat 619 Dezision 762 – vom Ergebnis her 596 Dezisionismus 256, 263 Dialog 212, 222 Differenzierung, funktionale 52, 86 Direktwirkung 206 – horizontale 452, 539, 550, 585, 586, 587 – vertikale 583, 584 Diskriminierung 111 Diskriminierungsrichtlinie 111 Diskriminierungsverbot 110, 169, 199 dissenting opinions 718, 751 distinguishing 750 Diversifikation der Legislative 422 doctrine of precedent 379 Dreieckswirkung 144 dritte Säule 194 Drittwirkung der Grundfreiheiten 452 Dynamik, des Argumentierens 685 Effektivität 437, 441, 454 Effektivitätsgrundsatz 196, 198, 439, 546 effet nécessaire 434 effet utile 4, 92, 147, 439, 440, 443, 446, 452, 510, 546

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8 Sachverzeichnis

Eigenrationalitätsmaximierung 489 eigenständige Rechtsordnung 275, 565 Eigentumsgarantie 181 Eingangsdaten 263 Eingangsdatum 266 Einheit – der Gemeinschaftsrechtsordnung 53, 543 – der Rechtsordnung 349, 622 – des Rechts 45, 55, 63, 271, 350 – des Textes 58 einheitliche Rechtsordnung 568 Einordnung methodischer Regeln 279 Einrücken 47 Einschreibung 259 einseitige Erklärungen 75 Einwandfreiheit 686 Einzelfallgerechtigkeit 268 Einzelsprache 42 Electronic Governance 469 Element, genetisches 459 EMRK 517, 603 Entscheidung 259, 260, 661, 668 – autonome 260 – contra legem 218, 225 – passive 260 Entscheidungsbegründung, als Textsorte 723 Entscheidungsnorm 265 Entscheidungssammlung 382 Entstehungsgeschichte 74, 77, 89, 271, 424 / 425 – Systematik der 703 Entterritorialisierung 473 Erfolg, kommunikativer 356 Ermessensentscheidungen 449 Ermöglichungsbedingungen des Verstehens 279 Erwartungstypen 485 Etymologie 646, 647 EuGH 4, 6, 513, 514, 515, 728 – Defizite in der Begründungsarbeit des 751 – Methodik des 277 EUR-lex 336 Eurodicautom 336, 340 Europäische Menschenrechtskonvention 160, 518, 747, 748 europäische Methodik 211, 225 Europäische Sozialcharta 182 39 Müller / Christensen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 603, 747 europäischer Haftbefehl 194 europäisches Gleichbehandlungsrecht 111 europäisches Rechtsschutzsystem 212, 213 European Commission’s Translation Service 336 ever closer union 450 evident 709 Evidenz 709 Experten 497 Extension 493 Fachsprache 258 Fachsprachgebrauch 701 – juristischer 700 Fallbereich 502, 503 Fallnorm 388 Fallnormlehre 389 Folgenbetrachtung 105, 434, 437 Fluchtlinie 52, 55, 768 Freiheit von Einwänden 310 Fremdreferenz 501 Führungswechsel 485 GATT 167 Gebrauchsbeispiele 320 Gebrauchsregeln 633 Gegenstand juristischer Textarbeit 258 Gegenstandserkenntnis 231, 238, 611 – Modell der 608 Gegenzeichnen 267 Geist des Rechts 361 Geltung 263, 266, 701, 761 – argumentative 194 – eines Gesetzes 627 – und Bedeutung 761 Geltungsanforderung des Normtextes 263 Geltungsstruktur 611 Geltungsvorrang 567 Gemeinsamer-Nenner-Regel 328 gemeinsames Minimum 345 Gemeinschaft – Funktionsfähigkeit der 437 – immer enger werdende 278, 419, 513, 515 – Kompetenzgrenzen der 757

8 Sachverzeichnis – Legitimationsschwäche der 755 – Verbandskompetenzen der 455 Gemeinschaftsbedeutung 39, 662 Gemeinschaftsgrundrechte 180, 517, 519 – auf einen wirksamen Rechtsbehelf 696, 697 Gemeinschaftsrecht 1, 2, 3, 213 – Vorrang des 188, 437, 562, 563, 564, 565, 567, 568, 577 Genauigkeit 649 Generalanwalt 516, 753 – Institution des 754 Gentechnik 486 Gerechtigkeit 51, 490, 609, 764, 765, 766, 767, 769 – als Forderung nach weiteren Argumenten 768 – als Sinnmitte 50 – arbeitsteilig 610 – Fixieren der 766 Gerechtigkeitsidee 609 Gerechtigkeitsproblem 764, 771 Gericht 128, 129, 130, 131, 276 – Bündel von 276 – wechselseitige Beobachtung der 747 gerichtliche Leitentscheidungen 382 Gerichtsbarkeit, Konflikte mit der nationalen 746 Gerichtsentscheidung – deklaratorisches Verständnis der 407 – deklaratorische Wirkung von 408 – konstitutive Wirkung der 409 Gerichtsverfahren, Rolle des 483 Gesamtsystematik 63, 359 Gesamtzweck 92, 103 Geschlossenheit des Rechtssystems 501 Gesetz 260, 264 – als Buch 51 – als Form 353 Gesetzbuch 51, 350, 714 – als gerundete Totalität 359 Gesetzbücher 302 Gesetzesbindung 263, 303, 606, 609, 670, 732 Gesetzesbindungspostulat 287 gesetzeskonforme Verfassungsauslegung 548 Gesetzesmaterialien 89, 421 – nichtveröffentlichte 431

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Gesetzespositivismus 257 Gesetzesverständnis, positivistisches 222 Gesetzesvorbehalt 82 Gesetzgeber 44, 45, 417, 598, 626, 679 – erster Stufe 514 – zweiter Stufe 304, 538 Gesetzgebung – als arbeitsteiligen Prozess 429 – Modell der 429 Gespenst 264 Gesprächsanalyse, linguistische 736 Gewalt 256, 360, 596 – abgeleitete 596 – aktuelle 596 – konstitutionelle 596 – richterliche 288, 599 Gewaltenteilung 216, 217, 219, 221, 223, 242, 396, 543, 597, 711, 715 – funktionelle 82, 515, 538, 539, 697, 756 Gewaltenteilungsgrundsatz 287, 598 Gewaltenteilungsprinzip 450 Gewaltentrennung 449 Gewohnheitsrecht 393 Gleichberechtigung der Sprachen 337 Gleichgewicht, institutionelles 449 Gleichwertigkeit 42 – aller Sprachen 345 – der Sprachen 317 Gleiten des Sinns 271 Glossen 294 Graphen 297 Grenze der nationalen Auslegungskultur 191 Größenschluss 83 Grundfreiheiten 62, 110, 369, 370, 517, 704 Grundfreiheitsschutzpflicht 371, 375 Grundfreiheitswirkung, horizontale 377 Grundrecht auf einen fairen Prozess 601 Grundrechte 62, 110, 369, 370, 517, 746 – Geltung der 373 – nationale 460 Grundrechtscharta 370, 373, 519 Grundrechtskollisionen 374 Grundrechtsschutzpflicht 372, 375 Grundsatz des rechtlichen Gehörs 522 Grundsätze, rechtsstaatliche 177

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8 Sachverzeichnis

Haftung für legislatives Unrecht 534 Handlung 652 Handwerksregel 676 Heraushebung 693, 702 Hermeneutik 280 – klassische 46, 48, 49 Herrschaftsfreiheit 682 Heteronomie 260 Hierarchisierung von Texten 308 Hier-und-Jetzt-Holismus 352 hinreichend qualifizierter Verstoß 204 historische Methode 77 holding 380 Holismus 220, 224, 349, 350, 352, 475 – ohne Ganzes 349 – semantischer 726 – vertikaler 221 holistische Struktur sprachlicher Bedeutung 312 Homogenität 541 Horizont 352 Horizontverschmelzung 48 Hypertext 291, 292, 294, 295, 296, 297, 300, 302, 305, 306, 350 – Begriff des 290 – Navigieren im 289, 303 Hypertextsystem 297 ideale Sprechsituation 309 idealistische Sprachtheorie 621 Ideolekte 315 IGH 529 im Namen des Volkes 262 implied powers 445, 446, 455 implied powers-Lehre 445, 461 implizite Normen 228 in claris non fit interpretatio 16, 19, 20 in dubio pro communitate 24, 442, 443, 445 Inferenz 357 Inferenzsemantik 352 Informationsgesellschaft 478, 482 Inhaltsanalyse 23, 42, 94, 364, 367, 466 Inkompatibilitätsnormen 488 Inländerdiskriminierung 174 Institution 213 Integration, Motor der 4, 453, 504, 513 Intention 67, 418 – auktoriale 67 39*

– vorausdrückliche 67 Intentionalität 67 – des Rechtsarbeiters 259 interaktionistischer Interpretationismus 358 Interessen 221 Interlegalität 212, 350 Internationaler Gerichtshof 275 Internet 293, 294, 469, 471, 474, 475, 476, 478, 479, 480, 482 Interpretation 727 – dynamische 511 – gemeinschaftsrechtskonforme 59, 572 – genetische 422 – Grenzen der dynamischen 511 – objektiv-teleologische 459 – primärrechtskonforme 540 – rechtsvergleichende 537, 753 – richtlinienkonforme 193, 206 – sekundärrechtskonforme 553, 559 – Struktur der primärrechtskonformen 544 – subjektiv-teleologische 94, 101 – systematisch-teleologische 546 – systematische 34 – teleologische 439, 505 – verfassungskonforme 187 – völkerrechtskonforme 166 Interpretationsgemeinschaft 221 Interpretationsmaschine, tragbare 254 Intertextualität 294, 295, 350 invisible-hand Phänomen 326 Joint interpreting and conference service 336 judicial self-restraint 168, 511, 543 Judikative 597, 598 judikatives Unrecht 157, 161, 215 juristische Methodik 676, 677 juristische Sprachtheorie 23 juristische Textarbeit 307 Kalkül 325 Kanten 292, 297 Kartellrecht 109 Kasuistik, Neubewertung der 745 Kerntest im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung 375 Kette von Lesarten 358 KI-Forschung 325

8 Sachverzeichnis Klagebefugnis 699 Klarheit 17, 18 Klarheitsregel 16, 18, 20 kleinster gemeinsamer Nenner 531 Knoten 292, 297, 298, 302, 303, 307 Kodifikation 51 Ko-Evolution 213, 215 Koexistenz-Völkerrecht 275 Kohärenz 366 – der Entscheidungspraxis 365 – der Gesetzestexte 365 – der Urteile 366 – relative 350 – pragmatische 224 Kollision von Wirtschafts- und Kommunikationsrechten 378 Kommunikationscodes 614 Kommunikationsfreiheit 378 Kommunikationsgeschichte 353, 354 Kommunikationsmodell 614 kommunikative Ethik 624 Komparatistik 514 Kompatibilisierung 748 Kompetenzen der Mitgliedstaaten 450, 453 Kompetenz-Kompetenz 445, 592, 728 Kompetenzüberschreitung 460 Kompetenzüberschreitungskritik 455, 456, 461 Kompetenz zur Rechtsfortbildung 236 Komplikation 243 Komplizierung 267 Kondensierung 353 Konditionalprogrammierung 222 Konfirmierung 353 Konflikt 499, 639, 698, 703, 705 – um Bedeutungen 258, 288, 319 – um Gesetzestexte 685 Konfliktfall 77, 680 Konformauslegung 163, 164, 168, 169, 170, 173, 175, 177, 179, 183, 195, 205, 549, 559, 574 – auch contra legem 588 – im nationalen Recht 561 – umgekehrte 549, 555, 559 – vorzeitige 210 Konkordanz, praktische 372

615

Konkretisierung – genetische 64, 66, 73, 78, 417, 419, 423, 426 – grammatische 14, 17, 331 – historische 64, 71 – Stellenwert genetischer 430 – teleologische 99, 103 Konkretisierungselement 679 – Rangfolge der 75 – und Interessen 679 Konstruktion, der Rechtsnorm 267 Konstruktivismus 68 Kontext 702 – gesamte 54 – Offenheit des 54 – Unbegrenztheit des 54 kontinentale Rechtstradition 382 kontinentaler Rechtskreis 387 Kontinuität der Rechtsstruktur 71 Kontinuitätsregel 71 Kontrollierbarkeit 707 Konvention 418 Konvergenz 9, 480 – der Medien 477 – von Medien 480 Kooperation der nationalen Gerichte 194 Kooperationsverhältnis 212 Kooperations-Völkerrecht 275 Kränkungsargument 420 Krise 318, 319 Kritischer Rationalismus 286 Kultur 541 künstliche Intelligenz 324, 325 Kunstregeln 676 – subjektive 279 Languageshopping 333 lecteurs d’arrêts (Urteilslektoren) 366 legal realism 221 legalistisches Rechtsstaatsverständnis 617, 619, 625 Legalität 756, 764 Legislative 612, 614 – und Judikative 614 Legitimation 755 Legitimationskette 599 Legitimationsstruktur 611 Legitimationstransfer 308, 711

616

8 Sachverzeichnis

Legitimationszusammenhang, demokratischer 612 Legitimität 596, 756, 764, 768, 771 Lehnstuhlmethode 665 Lehre – objektive 271 – subjektive 272 Leitsatz 382, 412 Lesarten, Streit der 741 Lesen 46, 68, 221, 408 Leser 48, 49, 68, 292, 295, 299, 303 – projektierter 68 lex ante casum 250 lexikalische Äquivalenz 321 Lexikographie 645 Link 293, 296, 297, 298, 307 Logik, transkriptive 739 Loyalitätsgebot 197 Lücke 82, 235, 239, 241, 533, 537 Lückenschließung 449 Maastricht-Urteil 465 maius minus continet 83 Malapropismen 640 Materialien 64, 69, 74, 75, 77, 417, 428 – Lückenhaftigkeit der 424 / 425 – zugängliche 431 Mehrdeutigkeit 29, 317 Mehrheitsregel 15 mehrsprachige Redaktion 72 Mehrsprachigkeit 9, 10, 12, 26, 72, 323, 328, 329, 336, 337, 343, 344, 666, 765 – des Gesetzgebers 423 – innere 729 – Risiken der 332 Meinungsfreiheit 375 Menschenwürde 460 Methode, rechtsvergleichende 519 Methodenanweisung 517, 520 methodenbezogene Normen 64, 189, 263, 269, 274, 276, 277, 282, 287, 304, 610, 664, 670, 707 Methodenehrlichkeit 403 Methodenkultur, nationale 217 Methodenlehre, gemeineuropäische 9 Methodik 211 – des Gemeinschaftsrechts 311

317, 664,

229, 288,

methodos 49 Minderheitsvoten 221 Modell, monologisches 730 Modell-Leser 68 Möglichkeit 709 Motor, politischer 448 Mündlichkeit 604 Mythos des Gegebenen 630 Mythos des Museums 319 nachpositivistische Methodologie 271 nationale Obergerichte 155 nationale Verfahrensautonomie 197 nationale Verfassungen 245 Nationalsprache 42 Nationalsprache als Argumentationsinstanz 659 Nationalstil 722 Natur der Sache 106 Navigation 301, 304 Navigieren in Textsystemen 296 ne bis in idem 595 Netz 326 Netzmetapher 299 Netzwerk 225, 292, 298 – Unsicherheitsabsorption von 750 Netzwerktheorie 747 neuronales Netz 325 Nichtigkeitsklage 62 Niederlassungsfreiheit 526 non-linear text 291 normative Sprachregeln 632 normative Wendung sprachlicher Konventionen 632 normatives Nichts 259 Normativität 216, 247, 252, 256, 266, 354, 406, 731 Normativitätsfrage 731 Normbereich 107, 109, 114, 118, 119, 125, 128, 130, 265, 266, 467, 469, 473, 480, 483, 489, 490, 502 – Begriff 491, 501 – rechtserzeugter 120 Normbereichsanalyse 112, 113, 122, 312, 313, 498, 503, 505, 509, 513 – dynamische 504 Normbereichsargument 467, 705 Normbereichselement 313

8 Sachverzeichnis Normen, methodenrelevante 404 Normenhierarchie 559, 707 Normenkontrolle 187 Normieren des Normierens 622 Normprogramm 41, 108, 119, 265, 266, 313, 499, 501, 503, 508, 513, 705 Normstruktur 231, 266, 468, 611, 700, 709 Normtext 258, 267, 399, 468, 495, 613, 669, 670, 742, 760 – als Zeichenkette 42 normtextähnliche Funktion 414 Normtextauslegung 312 Normtexthypothesen 265 Normtextnähe 707 note de recherche 528 obiter dicta 380, 381 Öffentlichkeit 604 – demokratische 764 – politische 541 Ontologie 244 Ordnung, öffentliche 28 overruling 380, 750 Paktentheorie 429 Paradox 282 Paradoxie 349 Partizipationsgesellschaft 470 persuasive authority 380 Phänomen der dritten Art 279, 281 Philologie 646 plausibel 709 Plausibilität 701, 702, 709 Pluralismus 541, 596, 677 Positivismus 250, 251, 263, 267 Positivität 756 Postskript 739, 741, 743 Präambel 89, 101, 370 Pragmatik 632, 674, 716 – der Fälle 718 Präjudizien 57, 354, 358, 369, 378, 380, 381, 386, 387, 389, 390, 395, 396, 402, 405, 415, 747, 750 – als Argument 393 – als subsidiäre Rechtsquelle 388, 392 – argumentative Bindung an 385 – faktische Wirkung von 406 – im angelsächsischen Rechtskreis 379

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– im kontinentalen Rechtskreis 382, 383 – Vermutung der Richtigkeit von 390 – wachsende Bedeutung von 363 – Widersprüche zwischen 369 Präjudizienjurisdiktion, transnationale 749 Präjudizienpraxis 752 Präjudizienvermutung 390 Praktikabilität 113, 114 Präskript 738, 743 Praxis – Anforderungen der 114 – einer Grenze 670 – selbst stabilisierende 356 – übereinstimmende nachfolgende 706 Präzedenzautorität 355 Präzedenzfall 355, 356, 379 Preisgestaltung 109 Preishöhenmissbrauch 109 Primärrecht 542 – als Verfassung 541 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 445, 458, 461, 463, 555 Prinzip der Nachsicht 640 Prinzipien 239, 244 – allgemeine 232 Privatrecht – europäisches 132, 348 – internationales 132 Probegesetzgeber 756 Problem der Gerechtigkeit 288 Problemstellung 243 Proposition 328, 330 propositionaler Gehalt 328 Prozess 622 – fairer 603 qualifizierte Rechtsverletzung 135 qualifizierter Rechtsverstoß 138 qualifizierter Verstoß 138, 153, 162 Qualitätsargument 420, 421 Quellen 739, 742 Rahmenbeschlüsse 194 Rahmenfunktion 249 Rangfolge 77, 189, 670, 671, 677, 679, 690, 700, 703, 706 – implizite 696

618

8 Sachverzeichnis

– in der Praxis 681 – rechtsstaatliche 708 Rangordnung 671, 673 Ratio 93 ratio decidendi 380, 381, 389, 402 Rationalismus, der Aufklärung 715 Rationalität 229, 284, 344, 683, 707 – im Plural 285 Rationalitätenkonflikt 488, 490 reader orientated criticism 68 Realdaten 107, 495 Recht 330, 359, 360, 489, 490 – als Hypertext 302, 305 – als Text 289 – anglo-amerikanisches 380 – auf Sprache 628 – der persönlichen Ehre 483 – diplomatisches 66 – Einheit des 52, 361 – Funktion des 483 – Grenzen aus dem nationalen 588 – Idee des 360 – intergouvernementales 194 – ist Streit 360 – Leistung des 52 – nationales 563, 564, 574 – römisches 382, 393, 712 – Streit um das 401 – und Moral 52 – und Wirklichkeit 468, 495 – Wahrung des 766 Rechtfertigung 761 rechtliches Gehör 303 Rechtsanwendung 267 Rechtsanwendungslehre 217 Rechtsarbeit 288 – Grenze der 762 – praktische 252 Rechtsbegriff, unbestimmter 505 Rechtsbeugung 155 Rechtserkenntnis 43 Rechtserkenntnislehre 43, 154, 226, 230, 264 Rechtserkenntnismodell 63, 247, 392 Rechtserzeugung 217, 622 Rechtserzeugungsreflexion 155, 211, 227, 230, 264, 288, 611, 709, 758, 761 – horizontale 222

Rechtsetzer, zweiter Stufe 760 Rechtsfortbildung 533, 716 – contra legem 190 Rechtsgrundsätze 246 – allgemeine 150, 242, 244, 517, 520, 530, 531 – gemeinsame 136, 157 Rechtsidee 51, 219 Rechtskraft 158, 160 Rechtskultur 317, 723 – europäische 339 Rechtsmeinung der Partei 685 Rechtsmissbrauch 205 Rechtsnorm 104, 251, 257, 259, 263, 265, 267, 412, 611, 669, 758, 760 Rechtsnormerzeugung 412 Rechtsnormtheorie 249, 251 Rechtsordnung – das Ganze der 43 – mitgliedstaatliche 213 Rechtsprechung 224, 681, 766 – als argumentatives Entscheiden 723 – Berücksichtigen nationaler 525 – frühere 364 – Verweis auf eigene 364 – Verweis auf frühere 364, 368, 466 Rechtsprechungsänderung 385, 415 Rechtsproduktion 257 Rechtsquellen 57, 217, 732, 734, 744 – Pluralität der 348 Rechtsquellenhierarchie 217 Rechtsquellenlehre, vertikale 217 Rechtsschöpfung, freie 592 Rechtsschutz – effektiver 693 – einstweiliger 198 Rechtssicherheit 191, 198, 268, 331, 334, 433, 523, 526, 580 Rechtssprache 400 – europäische 339, 340 Rechtsstaat 622, 624 – Krise des 621 Rechtsstaatsgedanke 707 Rechtsstaatsprinzip 269, 287, 385, 431, 595, 596, 670 – als kommunikative Ethik 623 Rechtssystem – Geschlossenheit des 348

8 Sachverzeichnis – inneres 51 Rechtsvergleichung 132, 516, 528, 531 – wertende 515, 520, 521, 523, 524, 538 re-entry 501 Referenz 493, 496 Referenzakte 500 Referenzfixierung 499 Referenzregel, Änderung der 496 referieren 493 Regel 637, 638, 639 – des gemeinsamen Nenners 22 Regelkonformität 636, 637 Regime-Kollision 486 Regulierungsmodell – horizontales 480 – vertikales 480 Reine Rechtslehre 247, 250 Repräsentation 491 Repräsentationsgedanken 67, 234 Repräsentationsmodell 86, 221, 234, 679 Repräsentationsverhältnis 330 Reserveontologie 232 retroreflexive Struktur 685 Rezeptionsästhetik 68 Rezipient und Produzent 475 Rhizom 3, 9 Richter 82, 216, 242, 263, 304, 728, 760 – als Mund des Gesetzes 711 – Rolle des 714 richterliche Unabhängigkeit 161 richterliches Unrecht 204 Richterpersönlichkeit 722 Richterprivileg 162 – nationale 215 Richterrecht 239, 758 – europäisches 4 Richterspruchprivileg 157, 203 Richtervoten – englische 722 – französische 722 Richtlinie 144, 146 – unmittelbare Wirkung von 584 Richtlinienumsetzung 535 Risiken, Umgang mit 489 Risikoabsorption 489 Risikofragmentierung 489 Risikomanagement 489 Risikosteuerung 486

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Rückkopplung an die Fachwissenschaften 498 Rücknahme 521 Rückwirkung 177, 523 Rückwirkungsverbot 580 Rundfunkverfassungsrecht 483 Sachbereich 265, 266, 502 sachbestimmtes Ordnungsmodell 468, 476 Sachelemente 118 Schlussanträge 754 – der Generalanwälte 753 – Verweis auf 753 Schlussformen 80 Schokoladenmasse 35 Schrankensystematik 373 Schrift 727 Schutzpflicht 373 – staatliche 371 Schutzpflichtkonzept 371, 376 Schutzpflichtkreisverdoppelung 372 Schutzpflichtproblematik 371 Segmente 293 Selbstbeschreibung 7 Selbstreferenz 501 Semantik 21, 325, 632, 674, 714, 716, 725, 727, 730 – des systematischen Arguments 349 – inferenzielle 222, 224, 733 – kompetitiven Handelns 429 – Überschätzung der 714 semantischer Kampf 402, 636, 685 semantischer Normativismus 637, 638 Signifikant und Signifikat 41 Sinn und Zweck 42, 91, 93, 103 Sinneinheit 78, 296, 609 Sinngebungsmonopol 612 Sinnmitte 55, 221 Sinntotalität 46, 48, 49 Sinnzentrum 359 Skript 738, 739, 741, 742, 743 Soziolekte 315 Soziologismus 499, 503 space of reason 731 spontane Sprachideologie 344 Sprachdaten 495 – sekundär vermittelte 107

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8 Sachverzeichnis

Sprache 9, 104, 246, 255, 256, 315, 317, 326, 341, 344, 359, 491, 493, 619, 640, 731, 733 – als Entdeckungszusammenhang 42 – als Legitimationsinstanz 24, 343 – als Praxis 254 – als Überprüfungsinstanz 42 – Gleichberechtigung der 30 – Gleichrangigkeit der 337, 716 – Gleichwertigkeit der 20 – legitimatorische Rolle der 342 – Normativität von 633 – Recht auf 728, 729 – und Wirklichkeit 614 Sprachengleichheit 658 Sprachenvielfalt 334 Sprachgebrauch 632, 634 – allgemeiner 631, 700 Sprachgesetzbuch 319 Sprachgewalt 256 Sprachkompetenz, eigene 635 Sprachkonflikt 257, 315 Sprachkritik 624 sprachliche Arbeitsteilung 497 sprachliche Gleichberechtigung 334 sprachliche Verwendungsregeln 617 sprachliches Verstehen 325 Sprachnorm 623, 641, 667 Sprachnormierung 259, 623, 662, 663, 665 sprachreflexives Rechtsstaatsverständnis 620, 625 Sprachregeln 614 Sprachrohr des Gesetzes 223 Sprachtheorie 12, 620 Sprachwissenschaft 663 Staatshaftung 145, 146, 149, 154, 155, 203, 204, 535 Staatshaftungsansprüche 147, 216, 223 Staatshaftungsrecht 132, 143, 150, 162, 531, 532 Staatszielbestimmung 594, 610 Staatsvolk 541 stare decisis 379, 750 statute law 394, 397, 402, 719 Stereotype 494 Steuerung – experimentelle 480 – indirekte 484

Steuerungskraft des Gesetzes 222, 621, 625 Steuerungsleistung des Gesetzes 219 stolpern 745 Strafrecht 746 Streitgegenstand 158 Streitkräfte 746 Struktur – metahierarchische 290 – monohierarchische 290 – polyhierarchische 290 strukturelle Kopplung 669 Strukturwandel der Öffentlichkeit 471 subjektive Willenstheorie 77 Subsidiarität 543 Subsidiaritätsgrundsatz 63, 453 Subsidiaritätsprinzip 74, 453 Subsumtion 265 Synonymie 643, 653 Syntagma 33, 35 Systematik 39, 43, 56, 61, 62, 63, 91, 100, 699 – erster Ordnung 368 – horizontale 53, 733 – vertikale 53, 733 – zweiter Ordnung 63, 216, 348, 358, 361, 367, 369, 377, 378, 430 Systemwechsel 678 Teleologie 42, 85, 89, 91, 103, 703 teleologische Reduktion 84, 207 Telos 93 Terminologie 339 Terminologisierung 337, 339 Text 48 – als Buch 49 – anordnender 308, 724 – rechtfertigender 308, 724 Textbedeutung 715 Textdivergenz 317 Textformular 258, 599 Textstruktur 288, 611 – des Rechtsstaats 308 – rechtsstaatliche 301, 307, 724 Textsysteme 298 Textvergleich 660 Textverweisungen 245 Theorie der Praxis 228 Theorie der Rechtsgewinnung 389

8 Sachverzeichnis Theorie und Praxis 7 Totalität 51, 349, 350, 714, 768 Tradition 47, 49 – angelsächsische 718, 720 – englische 713 – europäische 722 – kontinentale 386 – logizistische 713 – romanische 714, 717, 720, 722, 751 Transfer 724 Transformationspflicht 210 Transgression 734 Transkription 734, 735, 736, 738, 739, 740, 741, 742 Triangulation 104, 343 Turm von Babel 328 Turm(bau) zu Babel 327 Überfluss an Verstehen 280, 668 Übergangstheorien 253 Übergriffsfehler 106, 109, 122, 498, 705 Überlieferungsgeschehen 47, 49 übersetzen 322 Übersetzer 318 Übersetzung 29, 315, 323, 326, 327, 328, 329, 330, 339 Übersetzungsmaschine 324, 325 Übersetzungswissenschaft 321, 332 Überzeugungskraft 700 Umkehrschluss 80, 81, 84, 656 Umsetzungsfrist 208 – Ablauf der 210 Unbestimmtheit, der Übersetzung 328 Unentscheidbares 358 Ungewissheit 484 unmittelbare Anwendung 144 unmittelbare Wirkung 144, 194 Untersuchungen, empirische 634 Unterwerfungsfehler 106, 128, 499, 705 Urfassung 335, 658 Urteilspraxis deutscher Gerichte 717 usus modernus pandectarum 382 Vagheit 18 Verantwortlichkeit, strafrechtliche 591 Verantwortung 259, 260, 262, 264 Verbindung von Sprache und Willen 273 Verdoppelung des Rechts 235, 243

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Verfahren 720, 730, 732 – verwaltungsrechtliches 522 Verfahrensordnung 602 Verfassung 268, 541, 542 Verfassungstheorie, demokratische 541 Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten 370, 517 Verhältnismäßigkeit 179, 524 Verhältnismäßigkeitsprüfung 373 – Kerntest im Rahmen der 375 Vernetzung 217, 305, 350, 746 Versammlungsfreiheit 370, 375 Verständigung – Fälle gelungener 356 – Vernetzung gelungener 733 Verständlichkeit 337, 339, 345 Verstehen 46 Versteinerungsargument 419 vertikale Wirkung 144 Vertragsabrundungskompetenz 455, 461 Vertragsänderung 697 Vertragsverletzungsklage 62 Vertragsverletzungsverfahren 214, 215, 222 Vertragszwecke 54 Vertrauensschutz 200, 385, 580, 583 Vertrauensschutzprinzip 177 Vertriebsnetze 117 Vertriebssystem 115, 118, 120, 121, 122, 124, 125 – selektives 119 Verwaltung 469 – öffentliche 36, 38 Verwaltungsakt 202 – Widerruf begünstigender 521 Verwaltungskultur 472 Verweisungsbegriff 109, 110 – Leitbegriffe als 704 Verweisungsfunktion 468 Verwendungsweise, mitgebrachte 258, 599 Vetorecht 743 Vielfalt, sprachliche 645 Vielsprachigkeit 320, 333 Völkerrecht 22, 150, 165, 214, 275, 276, 440, 445 völkerrechtliche Lösung 563 völkerrechtlicher Methodencanon 276 Volkssouveränität 541 Vollzug, mitgliedstaatlicher 454

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8 Sachverzeichnis

von Fall zu Fall 745 Vorabentscheidungsverfahren 159, 214, 217, 409 Vorentscheidungen 353, 395, 411 – Bindungswirkung von 406 Vorgriff der Vollkommenheit 46, 49 Vorlagezahlen 214 Vorläufernormen 64, 71 Vorrang 567, 702 – der Teleologie 703 – der teleologischen Methode 703 Vorrangregel 672, 676, 679, 682 Vorsorgeprinzip 486 Waffengleichheit 604 Wahrung des Rechts 245 Warenverkehr 371 – freier 370 Warenverkehrsfreiheit 370 Wegfall der Bereicherung 199 Wertungsjurisprudenz 86, 391 Wesensaussagen 231 Wesensgehalt 375 Wettbewerbsverzerrungen 115 Widerlegung 689, 709 Widerruf und Rücknahme 595 Widersprüche 61 – Nester von 369 Widerstreit 497 Wiener Vertragsrechtskonvention 317 Wikipedia 475 Wille – des Gesetzgebers 66 – des nationalen Gesetzgebers 570 – vorausdrücklicher 67 Willensmetapher 78 Wirklichkeit, Abbild der 491 Wirklichkeitselement 107 Wirksamkeit – größtmögliche 188 – praktische 112, 439, 440, 444, 538 – volle 145, 149, 197, 204 Wirkung, nützliche 439 Wissenschaft 764

– vom Gesetze 248 Wissenschaftstheorie 286 – kritizistische 285 World Wide Web 293 Wörterbuch 319, 322, 326, 665 – Leistung des 321 Wörterbücher 192, 647 Wörterbuchkultur 319 Wortlaut 9, 16, 19, 22, 25, 26, 40, 41, 42, 95, 114, 194, 219, 256, 646, 655, 699, 714 – eindeutiger 19 – einzelsprachlicher 642 – Grenzfunktion des 661 Wortlautargument 364, 703 Wortlautgrenze 192, 217, 388, 389, 589, 591, 628, 629, 642, 661, 665, 666, 762 Wortlautinterpretation 14 Wörtlichkeit 663 Xanadu 291 Zeichenkette 258, 288, 599, 670 zeitlicher Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung 208 Ziehharmonikaeffekt 652 Zielargument 42, 283 Zielbestimmungen, allgemeine 53 Ziel der Einheitlichkeit 61 Ziel der Interpretation 672 Ziele des Gemeinschaftsrechts 98, 277 Zirkel 283 – hermeneutischer 49, 50 – logischer 283 Zitierpraxis, deutscher Gerichte 361 Zugang zum öffentlichen Dienst 36 Zuordnung der Methodik des Gerichtshofs 276 Zweck 85, 87, 89, 91, 97, 103 – des Vertrages 92 – Heterogonie des 417 Zweckargumente 91 Zweckauslegung 79, 347 Zweiweltenlehre 251, 263, 760 Zwischenwelten 220