Junge Menschen gehen ihren Weg: Längsschnittanalysen über Jugendliche nach der Neuen Mittelschule [1 ed.] 9783737015103, 9783847115106

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Junge Menschen gehen ihren Weg: Längsschnittanalysen über Jugendliche nach der Neuen Mittelschule [1 ed.]
 9783737015103, 9783847115106

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Jörg Flecker / Brigitte Schels / Veronika Wöhrer (Hg.)

Junge Menschen gehen ihren Weg Längsschnittanalysen über Jugendliche nach der Neuen Mittelschule

Mit 15 Abbildungen

V&R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Soziologie der Universität Wien. Das Forschungsprojekt »Wege in die Zukunft« wird unterstützt aus Mitteln der Arbeiterkammer Wien (AK Wien), des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft (BMAW), des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) und des Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds (WAFF). Es wurde durchgeführt mit organisatorischer Unterstützung durch die Bildungsdirektion für Wien. © 2023 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Dean Drobot/Shutterstock Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1510-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I – Grundlagen Jörg Flecker / Brigitte Schels / Veronika Wöhrer Jugendliche gehen ihren Weg – theoretische Perspektiven und institutioneller Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Veronika Wöhrer / Susanne Vogl / Brigitte Schels / Barbara Mataloni / Paul Malschinger / Franz Astleithner Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie . . . . .

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Teil II – Bildungswege Raphaela Kogler / Susanne Vogl / Franz Astleithner Übergänge, Entscheidungen und Verlaufsmuster: Bildungs- und Berufsorientierungen Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ona Valls / Jörg Flecker Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf: Wer profitiert von der Durchlässigkeit des Bildungssystems? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teresa Petrik »Du bist halt so der kleine Fisch im großen Teich«: Bildungs- und Berufsaspirationen Jugendlicher vor dem Hintergrund familiärer Prekarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Rojin Bagheri / Brigitte Schels Soziale Unterschiede in der Lehrer_innenempfehlung und deren Bedeutung für den weiteren Bildungsweg nach der NMS . . . . . . . . . . 129

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Inhalt

Teil III – Geschlecht Paul Malschinger / Brigitte Schels Zukunftsorientierungen von Mädchen und Jungen nach Abschluss der NMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Veronika Wöhrer »Mich sehen eigentlich fast viele wie einen Jungen.« Geschlechtsuntypische Berufswünsche von Jugendlichen . . . . . . . . . . 173 Sophie Augustin / Marie Chahrour Trans*identität im Jugendalter – Bewusstwerdungs- und Anerkennungsprozesse einer Jugendlichen in Wien. Eine interpretativ-rekonstruktive Längsschnittuntersuchung über drei Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Teil IV – Handlungsfähigkeit und Partizipation Teresa Petrik / Simeon Hassemer »Ich bin ja selbst ein Ausländer«: Jugendliche und politische Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Barbara Mataloni Freizeit als Terrain für die Hervorbringung von Kontrollüberzeugung und Wohlbefinden im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Franz Astleithner / Susanne Vogl / Brigitte Schels / Raphaela Kogler Hohe Ziele in einem herausfordernden Umfeld? –Bildungsaspirationen von Migrant_innen und deren Umsetzung im Vergleich . . . . . . . . . . 261

Teil V – Schlussfolgerungen und Ausblick Jörg Flecker / Brigitte Schels / Veronika Wöhrer (Bildungs-)Wege nach der Neuen Mittelschule . . . . . . . . . . . . . . . 287 Kurzbiografien der Autor_innen des Bandes

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Vorwort

Wenn von Jugendlichen die Rede ist, die eine Neue Mittelschule – heute: Mittelschule – besuchen, denken viele zuerst an einen hohen Migrationsanteil, soziale Problemlagen und fehlende Perspektiven. So berechtigt der Blick auf Schwierigkeiten und Benachteiligungen der Schüler_innen aus einer Förderperspektive ist, so einseitig und unangemessen sind diese Assoziationen zugleich als Beschreibung für eine in sich heterogene Gruppe von Jugendlichen. In der breit angelegten Studie »Wege in die Zukunft« wurden junge Menschen aus Wiener Neuen Mittelschulen in den Jahr 2017 und 2018 in den Abschlussklassen befragt und danach vier Jahre lang auf ihrem weiteren Weg begleitet. Damit konnten erstmals umfassende Einblicke in die Zukunftsvorstellungen und Bildungs- und Berufswünsche Jugendlicher am Ende der Neuen Mittelschule und in ihre tatsächlichen Bildungsverläufe, ihre Berufswahl, ihre Freizeitaktivitäten und viele weitere Aspekte dieser Lebensphase gewonnen werden. Sie zeigen eine große Vielfalt an Lebenssituationen und häufig erfolgreiche Bildungskarrieren bei einer gleichzeitig hartnäckigen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Das Forschungsprojekt verwendete ein Mixed-Methods-Design mit qualitativen und quantitativen Befragungen und war als Längsschnittstudie konzipiert, das heißt, es wurden dieselben jungen Menschen in jährlichem Abstand mehrfach befragt. Die Autor_innen des vorliegenden Bandes nützen diese Anlage der Untersuchung und fokussieren insbesondere auf Übergänge und Veränderungen im Zeitverlauf nach Ende der Neuen Mittelschule. Damit wird ein detailreicher Blick auf eine Lebensphase dieser jungen Menschen möglich, in der sich für ihre weiteren Wege sehr viel entscheidet. Sichtbar werden die wahrgenommenen Möglichkeiten und die individuellen Entscheidungen und Bemühungen ebenso wie die strukturellen Bedingungen, die sowohl Ressourcen als auch Barrieren enthalten. Die Studie »Wege in die Zukunft« wurde 2016 als gemeinsames Forschungsprojekt am Institut für Soziologie der Universität Wien unter der Leitung von Jörg Flecker gestartet. Von Beginn an erhielten wir Unterstützung von unseren Kooperationspartner_innen, der Wiener Bildungsdirektion, der Arbeiterkam-

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Vorwort

mer Wien, dem Wiener Arbeitnehmer_innen Förderungsfonds, dem Bundesministerium für Arbeit und dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Im weiteren Verlauf entwickelte sich das Projekt zu einer Kooperation zwischen dem Institut für Soziologie und dem Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Die Karrierewege beteiligter Forscherinnen führten auch zur Zusammenarbeit mit der Universität Stuttgart und der Universität Erlangen-Nürnberg. Allen Kooperationspartner_innen, allen Projektmitarbeiter_innen und allen an den Erhebungen beteiligten Studierenden danken wir herzlich für die Unterstützung. Ein besonderer Dank geht an Irene Rieder für die organisatorische Betreuung des Forschungsprojekts und dieses Publikationsvorhabens. Jörg Flecker, Brigitte Schels, Veronika Wöhrer

Teil I – Grundlagen

Jörg Flecker / Brigitte Schels / Veronika Wöhrer

Jugendliche gehen ihren Weg – theoretische Perspektiven und institutioneller Rahmen

1.

Einleitung

Am Übergang in das Erwachsenenalter sind junge Menschen mit einer Reihe von Herausforderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen konfrontiert. Mit ihren Entwicklungsschritten und Entscheidungen stellen sie zentrale Weichen für ihre soziale Integration im Lebensverlauf. Es geht in dieser Phase meist um vieles zugleich: Bildung und Berufswahl, ökonomische Eigenständigkeit, Partnerschaft und Familiengründung sowie politische und soziale Teilhabe. Diese Schritte hängen unter anderem von sozialer Herkunft, Geschlecht, Ethnizität und individuellen Reifungsprozessen ab und sind zugleich institutionell strukturiert, so dass kritische Entscheidungszeitpunkte für Weichenstellungen bestehen, darunter der Übergang nach der obligatorischen allgemeinbildenden Schulzeit, der Sekundarstufe I. Die Jugend- und Übergangsforschung stellt sich, vereinfacht gesprochen, die Frage, wie die Werdegänge von jungen Menschen aussehen und wie sie sozial strukturiert sind. Das Forschungsprojekt »Wege in die Zukunft« schließt hier an und stellt junge Menschen in den Mittelpunkt des Interesses, die im Jahr 2017 die letzte Klasse einer Neuen Mittelschule (NMS) in Wien besucht haben.1 NMS werden in der Nachfolge der früheren Hauptschulen mehrheitlich von Jugendlichen besucht, deren Noten nicht den notwendigen Voraussetzungen für die allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) entsprechen oder die aus anderen Gründen nicht diesen Bildungsweg beschreiten. Während die AHS nach acht Jahren mit einer Berechtigung zum Universitätsstudium endet (Matura), dauert die NMS nur vier Jahre und bereitet Jugendliche auch für eine nachfolgende Berufsausbildung vor. Es handelt sich damit um junge Menschen, bei denen aufgrund ihrer sozialen Herkunft und bisherigen Schullaufbahn oftmals ver1 Mit dem Schuljahr 2020/21 wurde die Neue Mittelschule in Mittelschule umbenannt. Da die Kohorte, die an der Längsschnittstudie teilnahm, diese Schule vor der Umbenennung verlassen hat, sprechen wir in diesem Band einheitlich von Neuer Mittelschule (NMS).

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mutet wird, dass sie eine benachteiligte Gruppe sind, die im Vergleich zu jener der Jugendlichen in den allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) im Übergang in das Erwachsenenalter vor größeren Herausforderungen steht. Die ersten Befunde aus dem Projekt, die wir in einem früheren Sammelband (Flecker et al. 2020) veröffentlicht haben, zeigten auf, dass die Gruppe der NMS-Schüler_innen sowohl in ihrer sozialen Zusammensetzung als auch hinsichtlich Aspirationen und Plänen für die Zukunft weit heterogener ist als vermutet. Die jungen Menschen, die wir im Projekt über fast fünf Jahre begleitet haben, sind zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches in einem ersten Abschnitt ihrer damaligen Zukunft angekommen und haben zugleich noch viel Zukunft vor sich. Es ist Zeit, auf den Weg zu blicken, den die Jugendlichen nach dem letzten Schuljahr in der NMS zurückgelegt haben. Die in diesem Sammelband angelegte Längsschnittperspektive ist ein fruchtbarer Weg, um Erkenntnisse über das Zusammenspiel von sozialer Herkunft, Kontextbedingungen, institutionalisierten Rahmenbedingungen – insbesondere im Bildungssystem – und altersbedingten Entwicklungsprozessen in den Wegen von Jugendlichen ab der NMS aufzuzeigen (siehe auch Buchmann und Steinhoff 2017; Berngruber und Gaupp 2022). Die Studie »Wege in die Zukunft« schließt an aktuelle Jugendforschung an, die Weichenstellungen an kritischen Phasen im Bildungsverlauf in den Blick nimmt (z. B. Blossfeld und Von Maurice 2011; Scharenberg et al. 2014; Demanet und Van Houtte 2019), wie etwa nach der 8. Jahrgangsstufe der NMS, deren Konsequenzen sich bis in das Erwachsenenalter erstrecken. In der Längsschnittperspektive ergeben sich unterschiedliche Blickwinkel auf die Übergangsphase. Zum einen stellt sich die Frage, welche Bedingungen den Übergang nach der NMS prägen und so zur (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit beitragen. Zum anderen ermöglicht der Blick auf Verlaufsmuster und Prozesse über mehrere Jahre, die Entwicklung kumulativer Vorteile und Nachteile oder Möglichkeiten des Ausgleichs und der Bewältigung von Nachteilen zu erkennen (Vuolo et al. 2014; Buchmann und Steinhoff 2017). Thematisch war die Untersuchung nicht als spezialisierte Studie angelegt, die beispielsweise ausschließlich in die Bildungs- oder Übergangsforschung einzuordnen wäre. Vielmehr ging es uns um eine ganzheitliche Perspektive, die es ermöglichte, das Zusammenwirken und die Widersprüche verschiedener gesellschaftlicher Sphären – von der Familie über das Bildungssystem und die Jugendkultur bis zum Arbeitsmarkt – im Leben und im Lebensverlauf einzelner Personen zu analysieren. Dabei wurde eine qualitative mit einer quantitativen Paneluntersuchung verschränkt. Das Mixed-Methods-Design der Studie erlaubt es in besonderer Weise, dem Anspruch dieser dichten Lebensphase, in der Herausforderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen zusammentreffen, gerecht zu werden und die Phänomene sowohl in der Breite und ihrer Verteilung als auch in der Tiefe zu analysieren. Ziel war, sowohl die Wirkungen der struk-

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turellen Bedingungen auf das Leben junger Menschen aufzuzeigen als auch die Erfahrungen, Relevanzsetzungen und Entscheidungen einzubeziehen, die auf eine Reproduktion des Bisherigen oder aber auf eine Abweichung davon und eventuell dessen Veränderung hinauslaufen. In diesem Kapitel sollen der thematische und theoretische Rahmen der Studie abgesteckt und die ihren Teiluntersuchungen gemeinsamen Fragestellungen aufgezeigt werden. Es enthält grundlegende und das gesamte Projekt betreffende Überlegungen und Vorklärungen, während in den einzelnen Beiträgen im Hauptteil des Bandes die empirischen Ergebnisse und weitere spezifische Perspektiven und theoretische Zugänge vorgestellt werden. Eine Ausgangsüberlegung der Untersuchung lautete, dass die Jugendlichen von gesellschaftlichen Positionen in ihr Leben starten, die von der Klassenlage, Milieuzugehörigkeit und gegebenenfalls Migrationsgeschichte ihrer Herkunftsfamilie bestimmt sind. Insofern nicht jede Ausgangsposition mit gleicher Wahrscheinlichkeit zu bestimmten Endpositionen führt, wirkt sich die soziale Herkunft stark auf die möglichen Wege aus, die junge Menschen in ihrem Leben einschlagen und einschlagen können. Die Wege werden zudem vom Geschlecht der Personen beeinflusst, insofern die gesellschaftliche Geschlechterordnung auf die Entscheidungen der Jugendlichen und ihrer Eltern sowie auf die sich ihnen bietenden Möglichkeiten wirkt. Doch bei aller Bedeutung, die Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit haben, wurden Jugendliche in unserer Untersuchung auch als aktiv Handelnde konzipiert, die an ihrer Identität arbeiten, Ziele formulieren und erreichen wollen und unter Optionen auswählen.

2.

Institutionalisierte Übergänge

Lebensverläufe werden zunächst meist als Abfolge von Phasen gesehen, zwischen denen institutionalisierte Übergänge bestehen, etwa am Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II oder im Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem. An diesen Schwellen entwickeln sich pfadabhängig unterschiedliche Muster im Übergang von der Schule in den Beruf. Das österreichische Bildungssystem gehört zu jenen in Europa, die eine frühe Trennung der Kinder vorsehen (Heisig and Solga 2015), da bereits am Ende der vierjährigen Volksschule im Alter von etwa 10 Jahren die Schüler_innen auf die allgemeinbildende Schule (AHS), also das Gymnasium mit Matura, und die NMS aufgeteilt werden. Rund 60 % der Schüler_innen der 5. Jahrgangsstufe in Österreich besuchten im Schuljahr 2017/18 eine NMS, in Wien waren es 43 % (Statistik Austria 2021a). Zentrale Voraussetzung für den Übertritt in die AHS sind die Schulleistungen der Kinder am Ende der Volksschulzeit. Es ist bekannt, dass die frühe Trennung zu Bildungsungleichheit beiträgt, weil Schüler_innen aus benachtei-

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ligten sozialen Positionen weniger Zeit zur Verfügung haben, um ihre Nachteile zu kompensieren (Hanushek und Woessmann 2006) und Vorteile aus der heterogenen sozialen Zusammensetzung der Schulklassen zu ziehen (Reichelt et al. 2019). Für Österreich wurden insgesamt hartnäckige Bildungsungleichheiten nach Klassenlage festgestellt (Bruneforth et al. 2012; Herzog-Punzenberger 2017; BMBWF 2021). Zudem konnte gezeigt werden, dass sich intergenerationell verfestigte Bildungsklassen herausbilden mit Lehrabschlüssen einerseits und Hochschulbildung andererseits (Moosbrugger und Bacher 2018). Am Übergang von der NMS zur Sekundarstufe II, wenn das Gros der Jugendlichen 14 Jahre alt ist, existieren unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten auf allgemeinbildende oder berufsbildende Schulzweige. An dieser Schwelle ist das Bildungssystem insofern durchlässig, als nach der Sekundarstufe I, also nach Beendigung der NMS, ein Umstieg in maturaführende Schulen möglich ist und der Weg aus der NMS also nicht notwendigerweise in die (duale) Berufsausbildung führt. Schüler_innen mit guten Noten können auf die Oberstufe einer allgemeinbildenden höheren Schule (AHS-O) oder in berufsbildende höhere Schulen (BHS) wechseln, um nach vier oder fünf weiteren Schuljahren mit der Matura eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben. Umgekehrt kann nach der Unterstufe der AHS ebenfalls eine Berufsausbildung gewählt werden. Die Statistiken zeigen für Wien, dass sich in der 9. Schulstufe 38 % der Schüler_innen in der Oberstufe der AHS befinden und 62 % in einer berufsbildenden mittleren oder höheren Schule bzw. in einer dualen Berufsausbildung (Statistik Austria 2019). Durchlässigkeit bedeutet aber nicht, dass die ungleichheitsverstärkende Wirkung der Mehrgliedrigkeit des Bildungssystems und der frühen Trennung damit kompensiert würden. Forschungsergebnisse in Deutschland zeigen eher, dass bei insgesamt seltener Mobilität zwischen den Bildungspfaden eher Kinder bzw. Jugendliche zum akademischen Bildungspfad »aufsteigen«, deren Eltern höhere Abschlüsse haben (Biewen und Tapalaga 2017; Blossfeld 2018). In den berufsausbildenden Zweigen haben Schüler_innen mit sehr guten schulischen Leistungen die Möglichkeit, eine berufsbildende höhere Schule (BHS) zu besuchen, in der sie i. d. R. nach fünf weiteren Jahren einen beruflichen Abschluss in Kombination mit der Matura erwerben. Eine grundlegende berufliche Ausbildung ohne Matura gibt es auf den i. d. R. dreijährigen berufsbildenden mittleren Schulen (BMS). Der Zugang zu BMS ist ebenfalls an gute Noten geknüpft. Zusätzlich gibt es sowohl an BHS wie auch an BMS je nach Standort mitunter noch weitere Auswahlverfahren, da die Anzahl der Schulplätze begrenzt ist. Berufliche Schulen gibt es für verschiedene Berufsfelder, von denen viele, z. B. Technik, Handel, Tourismus, Mode, Wirtschaft und Landwirtschaft, sowohl im mittleren als auch im höheren Bereich angeboten werden. Ein Wechsel von einer BHS auf die BMS ist daher möglich, umgekehrt faktisch schwieriger. Jugendliche, die sich für einen raschen Eintritt in den Arbeitsmarkt über eine Lehre als

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Facharbeiter_innen interessieren, besuchen im Anschluss an die NMS i. d. R. zunächst die einjährige Polytechnische Schule, da eine Lehre erst ab dem Alter von 15 Jahren möglich ist. Die Lehrausbildung, auch duale Ausbildung genannt, kombiniert eine Ausbildung am Arbeitsplatz im Betrieb mit allgemeiner Bildung an Berufsschulen. Für einen Lehrplatz müssen sich die Jugendlichen bei den Betrieben bewerben. Seit 2017 gibt es in Österreich die »Ausbildungspflicht«, die besagt, dass jeder junge Mensch unter 18 in Österreich eine Schule oder Ausbildung besuchen muss. Für die nicht unerhebliche Anzahl an Jugendlichen, die nach dem Ende der neunjährigen Schulpflicht aber keinen Schul- oder Ausbildungsplatz finden (Steiner et al. 2016: 79 schätzten die Anzahl auf jährlich 16.000) besteht also nicht (mehr) die Möglichkeit, direkt als Hilfsarbeitskraft in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Stattdessen werden im Rahmen der »AusBildung bis 18« unterschiedliche Maßnahmen angeboten, die zu einer weiteren Bildungs- oder Ausbildungsinstitution führen sollen. In diesen Maßnahmen werden junge Menschen auf unterschiedliche Arten unterstützt und auf die Lehrstellensuche oder die Berufstätigkeit vorbereitet. In der wissenschaftlichen Analyse wird die konzeptuelle Veränderung von der »Ausbildungsgarantie« zur »Ausbildungspflicht« auch durchaus kritisch gesehen (z. B. Atzmüller und Knecht 2016) und auf die Kritikpunkte teilnehmender Jugendlicher verwiesen (Wintersteller et al. 2022). Damit verfügt Österreich – ähnlich wie Deutschland oder die Schweiz – über ein ausgeprägtes Berufsbildungssystem, in dem die Berufsbildungsabschlüsse eng mit den späteren Möglichkeiten am Arbeitsmarkt verknüpft sind. Obwohl damit Vorteile etwa mit Blick auf Erwerbseinstieg und berufliche Passung verbunden sind, bestehen auch Grenzen der beruflichen Mobilität über das Erwerbsleben (Bol et al. 2019), so dass die frühen Bildungsentscheidungen und die Berufswahl zentrale Weichenstellungen sind. Vor diesem Hintergrund herrschen in der Gesellschaft bestimmte Vorstellungen von einem erfolgreichen Übergang von der Schule in den Beruf vor, aus denen sich Anforderungen an junge Menschen ableiten. Die Normalvorstellung von einem Übergang nach der NMS entspannt sich über eine lineare sequentielle Abfolge entweder über die AHS in die akademische Bildung oder über den beruflichen Zweig in den Arbeitsmarkt. Im Vordergrund steht die Zuweisung von beruflichen Statuspositionen, weshalb das österreichische Übergangsregime auch als erwerbszentriertes System bezeichnet wird. Die Jugend wird als Vorbereitungsphase auf das Erwerbsleben verstanden und weniger – etwa im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – als Phase der Orientierung und des Ausprobierens (Walther 2006; siehe Kazepov et al. 2020 für einen Überblick). Dies betrifft insbesondere Schulabgänger_innen von der NMS. Anders als Jugendliche in der AHS, bei denen Fragen der Berufswahl erst zu einem späteren Zeitpunkt anstehen, brauchen Schüler_innen der NMS vielfach eine berufliche

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Orientierung für den nächsten Übergang, bei dem sie sich mit überwiegender Mehrheit für berufsbildende Schulen oder Lehrausbildungen entscheiden. Prozesse der Entstandardisierung und der Individualisierung haben jedoch dazu geführt, dass lineare Abfolgen im Übergang von der Schule in den Beruf seltener geworden sind, während die Anzahl der Übergänge und ihre Dauer zugenommen haben. Jugendliche orientieren sich nach einer Entscheidung um, wechseln die Ausbildung und/oder den Schulzweig oder nehmen Freiwilligendienste oder »gap years« wahr. Damit sind sowohl Vor- als auch Nachteile verbunden. So sind die Möglichkeiten für die Jugendlichen vielseitiger geworden und erweitern ihren Spielraum, enge Pfade zu verlassen. Doch erleben sie auch zunehmend Unsicherheiten und vielfältige Anforderungen. Sie sind gefordert, sich in der Fülle von Möglichkeiten zu orientieren, Entscheidungen aktiv zu treffen und mitzuwirken (Olk 1985; Holstein und Gubrium 2000; Walther und Stauber 2007). Abhängig von ihrer sozialen Herkunft sind die Jugendlichen auch in unterschiedlichem Maße mit Vor- und Nachteilen konfrontiert, wenn sie je nach finanzieller Ausstattung der Herkunftsfamilie und Unterstützungspotential der Eltern die Unsicherheiten mehr oder weniger abfedern können. Die Diskussion zur Entstandardisierung der Jugendphase geht dabei über den Übergang von der Schule in den Beruf hinaus. Die Lebensbereiche des Konsums, der Intimität, der Erwerbstätigkeit, der politischen Partizipation etc. weisen keine synchronen Jugendphasen mehr auf, d. h., der Übergang in die Selbständigkeit und damit ins Erwachsenenalter erfolgt in manchen Bereichen viel früher als in anderen, wird in einzelnen Bereichen immer früher erreicht, in anderen weiter hinausgeschoben. Es ist auch nicht gesichert, dass Übergänge nicht wieder zurückgenommen werden, also die einmal erreichte Selbständigkeit etwa in wirtschaftlicher Hinsicht und beim Wohnen wieder aufgegeben werden muss (Pohl et al. 2011).

3.

Jugendphase und soziale Ungleichheit

Kinder werden in Familien hineingeboren, die bestimmte Positionen im sozialen Raum im Sinne von Pierre Bourdieu (1987) einnehmen. Kinder und Jugendliche beginnen also ihren Lebensverlauf an einer bestimmten sozialen Position, und nicht jeder Lebensverlauf ist für sie gleich möglich und nicht jede spätere Position gleichermaßen erreichbar. Es gibt so etwas wie einen »objektiven Möglichkeitsraum«, der die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen aufgrund einer privilegierten oder nicht-privilegierten Klassenlage umschreibt (Riegel 2007: 249). Der Möglichkeitsraum wird etwa in der Regelmäßigkeit erkennbar, mit der es zu einer »Vererbung von Bildung« kommt, also eine be-

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stimmte soziale Herkunft stark die Wahrscheinlichkeit von Bildungsabschlüssen bestimmt. In diesem Zusammenhang geht es nicht nur um Bildungsungleichheit. Vielmehr steht das Bildungssystem im Fokus der Bourdieu’schen Theorie sozialer Ungleichheit, weil es die Klassenunterschiede gerade durch sein Prinzip der formalen Gleichheit fortschreibt. Indem es die kulturelle Ungleichheit von Kindern und Jugendlichen aus verschiedenen sozialen Klassen ignoriert, schreibt es im Ergebnis diese Ungleichheit fort, gerade wenn es die Schüler_innen gleich behandelt (Bourdieu 2018: 23). Zugleich trägt das Bildungssystem zur Legitimierung der sozialen Ungleichheit bei, indem es die gesellschaftlich bedingten Unterschiede der Fähigkeiten als individuelle Begabungsunterschiede erscheinen lässt und so die Reproduktion von Ungleichheit dem Anschein nach mit Chancengleichheit und Leistungsprinzip in Einklang bringt. In den Analysen der Bildungsverläufe der Jugendlichen aus NMS in Wien interessieren wir uns daher für das Ausmaß der Reproduktion sozialer Ungleichheit innerhalb dieser Gruppe von Jugendlichen. Dem Weg in die NMS zugrunde lag die frühe Trennung der Kinder im Alter von etwa 10 Jahren in diejenigen, die eine AHS besuchten, und jene, die die Sekundarstufe I in der NMS absolvierten. Die untersuchte Gruppe wurde also schon durch eine Auslese gebildet. Sie wies aber eine größere innere Heterogenität auf als erwartet (Flecker et al. 2020). Insofern lohnt es sich, die Reproduktion sozialer Ungleichheit nicht nur im Vergleich mit der eher sozial privilegierten Gruppe der Gymnasiast_innen, sondern auch unter den ehemaligen Schüler_innen der NMS zu untersuchen. Dies erlaubt es zudem, die Frage zu stellen, ob die frühe Trennung, die durchaus nach sozialen Kriterien erfolgt, eventuell bei den Übergängen nach der NMS kompensiert wird, d. h. sozusagen zweite Chancen genützt werden können. Konzipieren wir Jugendliche nicht nur als den strukturellen Bedingungen der Gesellschaft ausgeliefert, sondern auch als aktiv Handelnde, dann rückt ihre Handlungsfähigkeit ins Blickfeld. Es gilt also zu berücksichtigen, wie Jugendliche versuchen, im Rahmen der für sie »subjektiv erkennbaren Handlungsmöglichkeiten, über ihre Lebensbedingungen zu verfügen und diese zu erweitern« (Riegel 2007: 249). Dieser »subjektive Möglichkeitsraum« bleibt freilich an die soziale Position rückgebunden, insofern er durch das Denkbare und Undenkbare, das Erwünschte und Unerwünschte, das als erreichbar oder unerreichbar Wahrgenommene bestimmt wird. Diese mentalen Barrieren des Habitus wirken nach Bourdieu (2012) auf die Wahrnehmung jener Möglichkeiten, die jemand für sein oder ihr Leben als relevant ansieht, ohne dies aber zu determinieren. Wir können annehmen, dass heute vielfältige Einflüsse über die Herkunftsfamilie hinaus zum Wandel des subjektiven Möglichkeitsraumes beitragen. Der subjektive Möglichkeitsraum ist insofern von großer Bedeutung, als gerade an den Übergängen in der Jugendphase Prozesse der »Selbstexklusion«

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wirksam werden können. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einer Verzichtsleistung, wenn talentierte Jugendliche aus niedrigeren sozialen Klassen Bildungs- und Berufsalternativen mit höherem Status nicht in Betracht ziehen, weil sie diese nicht als angemessen für sich wahrnehmen (Bourdieu 1997). Die Jugendlichen erlernen und übernehmen, so die Annahme, im Prozess der familiären Sozialisation und sozialen Interaktion in ihrem engen sozialen Umfeld bereits früh soziale Schranken in der Berufswelt, die sich im selektiven Schulsystem weiter verfestigen, wenn die Jugendlichen je nach Schulzweigen über die Lehrer_innen und Lehrpläne, Berufsberater_innen und Mitschüler_innen mit selektiven Informationen und Erwartungen konfrontiert werden. Der Ausschluss von Berufsalternativen seitens der Jugendlichen perpetuiert in der Folge soziale Ungleichheiten (z. B. Hanson 1994). In einem weiteren Literaturstrang wird eine Selbstexklusion als Resultat von Zuschreibungsprozessen im Schulsystem thematisiert, in dem schulische Leistungen und Bildungsabschlüsse als unabdingbare Normalitätsanforderungen in der Leistungsgesellschaft transportiert werden (z. B. Solga 2004, 2005). So wird auch die NMS mit der steigenden Zahl von Maturant_innen wiederholt als »Restschule« diskutiert, in der viele Jugendliche den Anforderungen an Ausbildung und Arbeitswelt nicht genügen würden. Es sind vor allem die leistungsschwächeren Schüler_innen, die im Schulalltag die Diskrepanz zwischen ihren Noten und den Anforderungen erleben, insbesondere wenn sie mit dem Ende der Schulzeit Pläne für den nächsten Schritt konkretisieren müssen. Während die schulisch besseren Jugendlichen nach der NMS zu höheren Schulzweigen anschließen können, erfahren die Jugendlichen mit schlechten Noten ihr Scheitern an beschränkten Zugangsmöglichkeiten zu Ausbildungszweigen. Nach Solga (ebd.) besteht die Gefahr, dass die Jugendlichen ihre Misserfolge als persönliche Defizite interpretieren und das Versagen in ihr Selbstkonzept übernehmen. In der Konsequenz schrauben sie ihre Aspirationen und Bildungsanstrengungen zurück, um sich vor weiteren Misserfolgen zu schützen. Ob sich Prozesse der Selbstexklusion beobachten lassen und für welche Gruppen unter den Abgänger_innen der NMS, ist eine empirische Frage. Die im Projekt »Wege in die Zukunft« untersuchte Gruppe der Jugendlichen aus NMS in Wien erwies sich anhand der Daten der ersten Welle als vielfältiger, als man hätte annehmen können. Sowohl das Bildungsniveau der Eltern als auch deren Berufe streuen erheblich: 18 % der Mütter und der Väter hatten eine Hochschule abgeschlossen, 33 % der Väter und 24 % der Mütter eine Lehre. Sowohl 17 % der Väter als auch der Mütter arbeiteten in einem Beruf, der komplexe Problemlösung und Entscheidungsfindung erfordert. Zwar sind zwei Drittel der befragten Schüler_innen in Österreich geboren, doch haben ebenfalls zwei Drittel Eltern oder Großeltern, die in einem anderen Land geboren wurden. Hohe Bildungs-

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aspirationen waren am Ende der NMS weit verbreitet; die Jugendlichen hatten aus der frühen Trennung in AHS und NMS im Alter von 10 Jahren und ihrer Zuteilung zur NMS nicht den Schluss gezogen, dass ihnen Matura und Studium verwehrt seien. Als idealistische Bildungsaspiration gaben 45 % einen Hochschulabschluss an; von den Mädchen* sogar 51 % (Astleithner et al. 2020). Dies deutet zwar auf eine begrenzte Selbstselektion hin, doch auch in dieser Gruppe trugen hohe Bildungsabschlüsse der Eltern und ein »Migrationshintergrund« zu höheren Bildungsaspirationen der Jugendlichen bei. Insbesondere das aus der Migrationsforschung bekannte Phänomen der höheren Bildungs- und Berufsaspirationen migrantischer Familien für ihre Kinder (Becker und Gresch 2016) spricht gegen die Annahme einer einheitlichen Ausprägung des subjektiven Möglichkeitsraums nach Klassenlage. An der Schnittstelle von Soziologie und Sozialpsychologie wird in diesem Sinne thematisiert, dass Handlungsfähigkeit nicht umfassend sozialstrukturell vorgegeben ist, sondern von Jugendlichen erworben, d. h. auch auf- und abgebaut, werden kann. Sie wird oft vereinfachend als Persönlichkeitsmerkmal interpretiert, hat jedoch breitere Bezugspunkte. Handlungsfähigkeit umfasst subjektive Aspekte des Handelns, wie den Willen, das eigene Leben anzupacken, die Fähigkeit, die Zukunft zu planen, und das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Jugendliche entwickeln dies in Interaktion mit objektiven sozialen Strukturen und anderen sozialen Akteur_innen. Handlungsfähigkeit kann damit sowohl ein Mechanismus der Reproduktion von Ungleichheit und der Akkumulation von Vor- und Nachteilen sein als auch eine Erklärung dafür, warum manche Jugendlichen in bestimmten Situationen erwartungswidrig handeln bzw. sich besser stellen können, als anzunehmen wäre (Hitlin und Kirkpatrick 2015). Eine solche Vorgehensweise, die Jugendliche als aktiv Handelnde in den Blick nimmt, erlaubt es auch, eine Defizitperspektive zu vermeiden (Yildiz 2014). Die Ergebnisse der ersten Welle der Erhebung für das Projekt »Wege in die Zukunft« zeigten beispielsweise in sehr unterschiedlichem Ausmaß aktives Handeln in Entscheidungssituationen und verschiedene Bewältigungsstrategien von kritischen Ereignissen, wie etwa Krankheit oder Tod naher Angehöriger (Flecker et al. 2020). In der Analyse von Lebensverläufen spielen kritische Ereignisse oder Wendepunkte eine wichtige Rolle. Sie strukturieren die Lebensphase und können dem Leben an bestimmten Punkten auch eine andere Richtung geben (Elder et al. 2006). Kritische Momente im Leben konstituieren die Identitätskonstruktionen und Selbstkonzepte der jungen Menschen mit (Thomson und Holland 2015). Bereits in der ersten Welle der Untersuchung »Wege in die Zukunft« berichteten die Jugendlichen von einer Vielzahl kritischer Ereignisse, die teilweise als kritische Momente in ihrem Leben eingestuft werden können. So hatten in der letzten Klasse der NMS, also im Alter von 14 oder 15 Jahren, bereits 40 %

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den Tod einer nahestehenden Person, 25 % eine schwere Erkrankung einer nahestehenden Person, etwas mehr als 20 % Mobbing und knapp 19 % die Trennung der Eltern erlebt (Mataloni et al. 2020). Unter dem Gesichtspunkt sozialer Ungleichheit ist relevant, dass ein Teil der Jugendlichen eine Kumulation von belastenden Ereignissen berichtete. Auch ist nicht gleich verteilt, welche Art von Ereignissen im Leben vorkam. So berichteten Jugendliche aus Familien mit finanziellen Problemen häufiger über Ereignisse, welche die Aufmerksamkeit für die Schule beeinträchtigten. Jugendliche aus Haushalten mit Erwerbsarbeitslosigkeit hatten im Durchschnitt mehr belastende Ereignisse erlebt als andere.

4.

Geschlecht

Geschlecht ist eine der wichtigsten Strukturkategorien unserer Gesellschaft (Aulenbacher 2021), d. h. Geschlecht wird in den Sozialwissenschaften nicht als individuelles Merkmal verstanden, sondern als ein Bestandteil gesellschaftlicher Ordnungen. Das bedeutet unter anderem, dass es keinen gesellschaftlichen Bereich gibt, in dem Geschlecht gar keine Rolle spielt und dass gesellschaftliche Machtverhältnisse und Hierarchien durch Geschlecht (mit-)strukturiert werden. Dementsprechend spielt Geschlecht auch in der Jugend, in Bildungsinstitutionen, am Arbeitsmarkt und in Übergangssituationen eine wichtige Rolle. Wir folgen in unseren Analysen einem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Geschlecht, d. h., wir gehen mit West und Zimmerman (1987) bzw. mit Gildemeister und Wetterer (2002) davon aus, dass Geschlecht etwas ist, das sozial hergestellt wird. Candace West und Don H. Zimmerman (1987) entwickelten den Ansatz des »doing gender«, in dem sie betonen, dass Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtsidentität keine »natürlichen« Ausgangspunkte für menschliches Handeln sind, sondern sozial zugeschrieben und in fortlaufenden interaktiven Prozessen erzeugt und reproduziert werden. Geschlecht wird also als eine sehr wirkmächtige Konstruktion begriffen, die prinzipiell etwas Auszuhandelndes ist und daher auch historischen Wandlungsprozessen unterliegt. West und Zimmermann betonen, dass Geschlecht nicht nicht-getan werden kann. D. h. wir sind auch in Interaktionen, die eigentlich vordergründig nichts mit Geschlecht zu tun haben, nie als geschlechtslose Wesen beteiligt, sondern schreiben uns mehrheitlich selbst ein Geschlecht zu und werden von anderen geschlechtlich zugeordnet. Dementsprechend sind Prozesse des Heranwachsens, der Identitätsfindung, der Bildung, des Übergangs, der Berufswahl, der Berufsausübung etc. immer auch mit Geschlecht verknüpft – oder anders gesagt, ein doing student, doing transition oder doing occupation wird immer auch gleichzeitig ein doing gender sein.

Jugendliche gehen ihren Weg – theoretische Perspektiven und institutioneller Rahmen

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Mit Fenstermaker und West (1995) können wir ergänzen, dass dabei aber nie nur Geschlecht mitverhandelt wird, sondern dass es race, class und gender sind, die hier alle gemeinsam mitreproduziert werden. Deshalb ist auch die Frage, welches Mädchen*2, welcher Junge* oder welche non-binary Person gerade eine Bildungs- oder Berufsentscheidung trifft, relevant. Gerade die Kombination aus sozialer Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit und Geschlecht (mitunter auch Religionszugehörigkeit, Alter oder sexueller Orientierung) ist es, die Zugänge ermöglicht oder erschwert. Christine Riegel (2018: 224f.) verweist dabei auf Stereotype wie »bildungsferne Familien«, »unterdrückte muslimische Mädchen« oder »gewaltbereite, radikalisierte Jungen mit Migrationshintergrund«, die gerade in Bildungs- und Sozialarbeitskontexten immer wieder reproduziert werden und die Zu- und Übergänge junger Menschen mitstrukturieren. In der Kindheit und Jugend werden Vorstellungen von Geschlecht erlernt und erprobt, so dass schon Kleinkinder Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechternormen haben (vgl. u. a. Kubandt 2016). Das in unserer Gesellschaft vorherrschende Verständnis von Geschlecht – von der Geschlechterdifferenz, von Geschlechternormen und von Geschlechterstereotypen – wird auch an Kinder weitergegeben. Dies geschieht in der Familie, über Medien, aber auch in Bildungsinstitutionen, ist jedoch kein passiver Prozess: So betont unter anderem Hagemann-White (1984), dass Kinder und Jugendliche sich als Akteur_innen ihrer eigenen Lebenswelt gesellschaftliche Strukturen und damit auch Geschlecht in seiner dominanten Form aneignen. In der konstruktivistischen Sozialisationsforschung wird ebenfalls davon ausgegangen, dass Kinder und Jugendliche in der Aneignung von gesellschaftlichen Normen einen Spielraum haben (vgl. Tervooren 2006; Paseka 2007; Arztmann et al. 2017) und Geschlecht nicht nur entlang von normativen Vorstellungen, sondern spielerisch und auch in bewusstem Gegensatz dazu erprobt wird. In den Beiträgen in diesem Sammelband wird die soziale Wirkmächtigkeit von Geschlechterkonstruktionen beim Übergang nach der NMS deutlich, es werden aber auch ambivalente Aneignungen und subversive Verschiebungen von Geschlechterbildern gezeigt. In der Forschung zu Geschlecht am Übergang wird meist auf die unterschiedliche Verteilung von Jungen* und Mädchen* in Schulen und Lehrberufen sowie auf geschlechtstypische Berufswahlen verwiesen (u. a. Beicht und Walden 2015, 2019; Imdorf 2005). Dabei fällt auf, dass mehr Mädchen* maturaführende Schulen besuchen und abschließen, während mehr Jungen* in Polytechnischen 2 In diesem Text sowie im Beitrag von Wöhrer in diesem Band werden pauschale geschlechtliche Zuordnungen wie »Frauen« oder »Männer« mit einem Stern versehen, um zu zeigen, dass diese pauschalen Zuordnungen zu einem von zwei Geschlechtern nicht für alle damit gemeinten Personen passend sind.

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Jörg Flecker / Brigitte Schels / Veronika Wöhrer

Schulen und Lehrberufen zu finden sind (Statistik Austria 2021: 25). Innerhalb der berufsausbildenden Schulen und Lehrberufe wird stark geschlechtstypisch gewählt, d. h. Mädchen* stellen mehr als 75 % der Schüler_innen in wirtschaftsberuflichen, sozialberuflichen und pädagogischen Schulen, Jungen* 73 % in technisch gewerblichen Schulen (vgl. Statistik Austria 2021: 31). Auch bei den Lehrberufen gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede: Während bei Mädchen* Einzelhandel, Bürokauffrau und Frisörin die drei mit Abstand beliebtesten Lehrberufe sind, wählen Jungen* mehrheitlich Metalltechnik, Elektrotechnik und Kraftfahrzeugtechnik (Wirtschaftskammer 2022). Es gibt mehrere Theorien zu diesen geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Interessen und Berufsfeldern, wobei zumeist geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesse, sekundäre Herkunftseffekte sowie geschlechtsstereotype Zuschreibungen zu Berufsfeldern als Erklärungen herangezogen werden (Beicht und Walden 2019).

5.

Aufbau des Bandes

Dieser Band ist in vier Teile gegliedert. Nach dem kurzen Abriss über den theoretischen Zugang des Projekts in diesem Kapitel folgt die Darstellung des Forschungsdesigns und der verwendeten Methoden. Dabei werden im Einzelnen die Erhebungsmethoden des qualitativen Panels und die Fragebogenerhebung des quantitativen Panels über die Wellen hinweg beschrieben. Im zweiten Teil des Bandes sind vier Beiträge zum Thema »Bildungswege« versammelt. Raphaela Kogler, Susanne Vogl und Franz Astleithner analysieren mit Daten aus drei Wellen des qualitativen Panels, wie sich die Bildungs- und Berufsorientierungen der Jugendlichen im Zeitverlauf verändern. Sie arbeiten unterschiedliche Typen von Verlaufsmustern an diesen wichtigen Übergängen heraus. Auf Basis von vier Wellen des quantitativen Panels untersuchen Ona Valls und Jörg Flecker im zweiten Beitrag dieses Teils die Bildungs- bzw. Ausbildungsverläufe der Jugendlichen. Sie gehen der Frage nach, wie sich die Durchlässigkeit des Bildungssystems am Ende der Pflichtschulzeit auf die Bildungsungleichheit auswirkt und ob sie zu einer Korrektur der Benachteiligungen durch die frühe Trennung nach der Primarstufe geeignet ist. Im dritten Beitrag dieses Teils greift Teresa Petrik das Thema »soziale Ungleichheit« auf. Anhand einer ausgewählten jungen Frau stellt sie auf Basis der qualitativen Interviews mehrerer Wellen dar, wie Klasse, elterliche Erwerbsbiografien und Geschlecht Bildungsaspirationen prägen und Bildungswege beeinflussen. Rojin Bagheri und Brigitte Schels behandeln im vierten Beitrag die Frage, wie soziale Herkunft und das Feld der Schule zusammenwirken, um Privilegien und Benachteiligungen fortzuschreiben. Sie fokussieren dabei mittels Längsschnittdaten aus dem

Jugendliche gehen ihren Weg – theoretische Perspektiven und institutioneller Rahmen

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quantitativen Panel auf Empfehlungen sowie Er- und Entmutigungen von Lehrer_innen und deren Auswirkungen auf den weiteren Bildungsweg. Der dritte Teil des Bandes enthält Analysen zum Thema »Geschlecht«. Der erste Beitrag von Paul Malschinger und Brigitte Schels ist den Zukunftsorientierungen von Jungen* und Mädchen* sowie deren Veränderungen im Zeitverlauf gewidmet. Dabei wird die Frage nach der Stabilität der Zukunftsvorstellungen ebenso beantwortet wie jene nach den Geschlechterunterschieden und dem Einfluss der Bildungsinstitutionen. Im zweiten Beitrag dieses Teils analysiert Veronika Wöhrer geschlechtsuntypische Berufswünsche von Jugendlichen. Auf der Basis der qualitativen Interviews aus der ersten und zweiten Welle werden zunächst Ausbildungs- und Berufswünsche dargestellt und im Anschluss die Erzählungen jener Jugendlichen, die geschlechtsuntypische Berufe wählen möchten, im Hinblick auf die Entstehung dieser Berufswünsche tiefergehend ausgewertet. Im dritten Beitrag dieses Teils stellen Sophie Augustin und Marie Chahrour anhand eines Fallbeispiels den Wandel der Geschlechtsidentität einer jugendlichen Person dar. Auf Basis der qualitativen Interviews aus drei Wellen war es möglich, den Wandel von männlich über non-binary zu weiblich zu rekonstruieren und zu zeigen, welche Dimensionen beim Wandel der Geschlechtsidentität eine Rolle spielen. Im vierten Teil des Bandes geht es um Fragen der Handlungsfähigkeit und Partizipation. Im ersten Beitrag fokussieren Teresa Petrik und Simeon Hassemer biographische Voraussetzungen für politische Subjektivitäten und welche Rolle Identitäten, Erfahrungen und soziales Umfeld dabei spielen, und analysieren dafür die Interviews von zwei Jugendlichen im Verlauf von vier Wellen. Im zweiten Beitrag dieses Teils geht Barbara Mataloni der Frage nach, wie Jugendliche durch Freizeitaktivitäten ihren Handlungsraum erweitern können. Mittels Daten aus dem quantitativen Panel analysiert sie das Freizeitverhalten der Jugendlichen sowie die Entwicklung von Kontrollüberzeugung und Wohlbefinden. Der dritte Beitrag dieses Teils von Brigitte Schels, Franz Astleithner, Susanne Vogl und Raphaela Kogler stellt Analysen der Bildungsaspirationen und tatsächlichen Bildungswege von Jugendlichen vor, die selbst oder deren Eltern nicht in Österreich geboren wurden. Sie zeigen dabei die Vielfalt in dieser Untergruppe von Jugendlichen auf. Im letzten Teil des Bandes fassen Jörg Flecker, Brigitte Schels und Veronika Wöhrer die Beiträge zusammen und ziehen Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der Studie.

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6.

Jörg Flecker / Brigitte Schels / Veronika Wöhrer

Literatur

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Jörg Flecker / Brigitte Schels / Veronika Wöhrer

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Jugendliche gehen ihren Weg – theoretische Perspektiven und institutioneller Rahmen

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Veronika Wöhrer / Susanne Vogl / Brigitte Schels / Barbara Mataloni / Paul Malschinger / Franz Astleithner

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

1.

Einleitung

In der Studie »Wege in die Zukunft« werden Jugendliche aus Wien über fünf Jahre begleitet. Sie standen zum Zeitpunkt der Erstbefragung unmittelbar vor der Entscheidung, welchen Weg sie nach der NMS gehen wollen/sollen/können/ werden. In diesem Kapitel stellen wir die methodischen Grundlagen des Projekts vor, vom Gesamtdesign über die Zielgruppe hin zu den Datenerhebungen im qualitativen und quantitativen Strang. Die Datenerhebung ist als ein komplexes Mixed-Methods-Design konzipiert, bei dem sich qualitative und quantitative Stränge aufeinander beziehen und sich gegenseitig informieren (siehe Abbildung 1). Durch das sequentielle Design können aus unterschiedlichen methodischen Zugängen Erkenntnisse gewonnen werden, die sowohl die Breite als auch die Tiefe der Erfahrungen von Jugendlichen zugänglich machen. Ziel der Methodenverschränkung ist nicht die gegenseitige Validierung, sondern vielmehr das Gewinnen komplementärer Informationen und Aussagen. Die Forschungsfragen sind so komplex, dass nur die Kombination qualitativer und quantitativer Methoden eine entsprechend holistische Perspektive ermöglicht (expansion). Unterschiedliche Verfahren können gegenseitig Schwachstellen ausgleichen und blinde Flecken erhellen (Greene et al. 1989), um somit ein ganzheitlicheres Bild der Lebenswelt der Jugendlichen am Übergang zu erhalten. Durch die sequentielle Aufeinanderfolge der Methoden dienen außerdem die Ergebnisse aus einem Strang der Entwicklung oder Schärfung von Fragen im je folgenden Strang. Im Frühjahr 2016 startete das Projekt mit einer explorativen Pilot-Phase: Im Rahmen eines Forschungsseminars am Institut für Soziologie der Universität Wien wurden 21 narrativ-biographische Interviews in einer 4. Klasse einer NMS im 10. Wiener Gemeindebezirk durchgeführt und ausgewertet.1 Daran an-

1 Pohn-Lauggas, Maria (2016): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Verge-

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Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner Qualita ves Panel

Quan ta ves Panel

2016

Explora on

2017

1. Welle: Übergang nach NMS

2018

2. Welle: Familie

1. Welle: Übergang nach NMS

2019

3. Welle: Stadt

2. Welle: Familie

2020

4. Welle: Poli sche Orien erung

3. Welle: Stadt

2021

5. Welle: Covid19 und soziale Ungleichheit

4. Welle: Poli sche Orien erung

2022

5. Welle: Covid19 und soziale Ungleichheit

Abbildung 1: Schematische Darstellung des Mixed-Methods-Designs

schließend wurde von Herbst 2016 bis Frühjahr 2017 die erste qualitative Erhebungswelle des Panels zuerst mit Schulspaziergängen, Beobachtungen und anschließend mit 107 qualitativen Interviews umgesetzt. Rund ein Jahr später, Anfang des Jahres 2018, fand die erste quantitative Erhebungswelle mit einer standardisierten Online-Befragung statt, die von rund 3.000 Schüler_innen der 8. Schulstufe NMS ausgefüllt wurde. Damit startet das qualitative Panel2 auf die 8. Schulstufe an NMS in Wien im Schuljahr 2016/17, das quantitative Panel3 auf die 8. Schulstufe im Schuljahr 2017/18. Die befragten Jugendlichen waren aufgrund unterschiedlicher Schul-, Lebens- und Migrationsgeschichten zwischen 13 und 16 Jahre alt. Die erste Erhebungswelle sowohl des qualitativen als auch des quantitativen Längsschnittes wurde mit Schüler_innen der Abschlussklassen von NMS in Wien im Schulkontext durchgeführt, d. h. die qualitativen Interviews fanden während der Unterrichtszeit im Schulgebäude statt, die Onlinebefragungen wurden von Lehrkräften in schuleigenen Computerräumen administriert. In den Folgewellen wurden die Jugendlichen außerhalb des Schulsettings befragt – mit Vorteilen bezüglich möglicher Kontexteffekte, aber Nachteilen bezüglich Organisation, Teilnahmemotivation und Kontaktmöglichkeiten. Das Längsschnittdesign ermöglicht zu erfassen, wie sich das Leben der Jugendlichen in dieser wichtigen Lebensphase entfaltet, wie die Jugendlichen ihr sellschaftung junger Menschen in Wien. Qualitatives Panel, Pilotstudie. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien. 2 Flecker, Jörg, Jesser, Andrea und Wöhrer, Veronika (2016/2017): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Qualitatives Panel, Wave 1. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien. 3 Flecker, Jörg, Vogl, Susanne und Astleithner, Franz (2018): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Quantitatives Panel, Wave 1. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien.

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

31

Leben aktiv gestalten und verändern. Panelstudien, bei denen die gleichen Personen zu mehreren Zeitpunkten befragt werden, eignen sich besonders, um Konstanz und Wandel sowie die Mechanismen dahinter bzw. Folgen davon zu untersuchen. Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit von Längsschnittstudien ermöglichen das Nachvollziehen der »lived experiences of change« (Calman et al. 2013). Persönliche Lebenswege werden in ihrer Entfaltung verfolgt (McLeod und Thomson 2009; Neale et al. 2012). Damit eignen sich Paneldesigns auch insbesondere für die Untersuchung von Übergängen und kritischen Lebensereignissen (Thomson et al. 2002), um das Ineinandergreifen von Biographie, Geschichte und Gesellschaft zu analysieren und damit auch das Zusammenspiel von Struktur und Agency (Tomanovic´ 2019). Während Wandel einerseits ein großer Erkenntnisgewinn von Längsschnittstudien ist, stellt er andererseits die praktische, empirische Arbeit auch vor Herausforderungen. Längsschnittstudien zeichnen sich durch die besondere Herausforderung aus, dass die Teilnahmebereitschaft über mehrere Erhebungen aufrechterhalten werden muss. Deshalb wurden in den ersten Wellen möglichst viele Kontaktinformationen gesammelt, um in den nachfolgenden Wellen verschiedene Kanäle (z. B. postalisch, telefonisch, E-Mail, Social Media) für die Einladung nutzen zu können. Zudem wurden verschiedene Maßnahmen zur Panelpflege umgesetzt, um das Interesse an der Studie aufrechtzuerhalten und die Teilnahmemotivation zu fördern (mehr dazu weiter unten).

2.

Das qualitative Panel

Im Folgenden werden der Aufbau und die Daten des qualitativen Panels näher beschrieben. Dazu gehen wir zunächst kurz auf das Konzept des Lehr-Forschungsprojektes ein, das den Erhebungen des qualitativen Panels zu Grunde liegt. Danach beschreiben wir die Datenerhebung in den fünf Wellen, wobei etwas genauer auf die erste Welle eingegangen wird, da sie der Ausgangspunkt für alle anderen Wellen war. Nach einer Beschreibung der Panelpflege folgen die Samplebeschreibungen für die Interviews aus allen fünf Wellen.

2.1

Umsetzung als Lehr-Forschungsprojekt

Die praktische Gestaltung der Datenerhebung war vor allem im qualitativen Panel mit Lehrveranstaltungen am Institut für Soziologie der Universität Wien verknüpft. Bei der Durchführung waren somit neben den Wissenschaftler_innen der Steuerungsgruppe auch Masterstudierende beteiligt. Auf diese Weise trug das Projekt zu einer stärkeren Verschränkung von Forschung und Lehre bei und

32

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

ermöglichte den Studierenden Erfahrungen in der konkreten Forschungspraxis. In der fünften Welle wurde die Lehrveranstaltung in Kooperation mit dem Institut für Bildungswissenschaft durchgeführt, daher waren in dieser Welle auch Masterstudierende der Bildungswissenschaft beteiligt. Die Durchführung eines so großen Projektes als Lehr-Forschungsprojekt hat Vor- und Nachteile, die genauer in Wöhrer et al. (2020) diskutiert werden. Hier seien nur zwei Vorteile genannt: Der vergleichsweise geringe Altersunterschied zwischen Jugendlichen und Studierenden ermöglichte in manchen Fällen eine informelle und entspannte Gesprächsatmosphäre und die Lehrveranstaltung bot intensive Interviewtrainings und Vorbereitungen für die Gespräche mit den Jugendlichen. Die Erfahrungen der Pilotstudie, die ebenfalls im Rahmen eines Seminars durchgeführt worden war, waren hier eine wichtige Unterstützung. So konnten z. B. auf Basis der protokollierten Erfahrungen der Studierenden die Interviewführung im Kontext Schule, der Umgang mit potentiell schwierigen Themen wie Gewalt, Alkohol und Drogen oder auch der Umgang mit Berichten zu schwierigen emotionalen Situationen (Krieg, Flucht, Mobbing, belastende familiäre Verhältnisse) besprochen werden.

2.2

Ausgangspunkt: die Datenerhebungen der ersten Welle im Überblick

Die Datenerhebung der ersten qualitativen Welle erfolgte in Zusammenarbeit mit fünf NMS aus dem 6., 10., 16., 20. und 22. Wiener Gemeindebezirk. Bei der Auswahl der Schulen verfolgten wir einen »most different cases«-Ansatz (vgl. Przeworski und Teune 1970), d. h. Ziel war, dass sich die fünf beteiligten Schulen in Bezug auf die sozio-ökonomischen Merkmale der Schüler_innen bzw. deren Eltern möglichst unterschieden. Die konkrete Schulauswahl wurde in Absprache mit der Bildungsdirektion Wien getroffen. In einem nächsten Schritt wurde in jeder Schule von dem_der Direktor_in eine vierte Klasse ausgewählt. Die Datenerhebung startete mit 22 Schulspaziergängen (Wöhrer 2018) und wurde durch 36 teilnehmende Beobachtungen des Unterrichts ergänzt. Den Kern der qualitativen Erhebung der ersten Welle bildeten Interviews mit 107 Jugendlichen aus den vierten Klassen der NMS im Februar und März 2017. Im Herbst 2017 wurden zudem 17 Expert_inneninterviews mit Lehrpersonen aus allen fünf Schulen durchgeführt. Da die Interviews mit den Jugendlichen die wichtigste Datengrundlage für die Beiträge dieses Bandes darstellen, wird darauf nun näher eingegangen. Beweggründe, Methoden- und Datenbeschreibungen zu den Schulspaziergängen, teilnehmenden Beobachtungen und Expert_inneninterviews finden sich in Vogl et al. (2020) und Wöhrer et al. (2020).

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

33

Die ersten Interviews fanden im Februar und März 2017 statt und starteten mit einer autobiographisch orientierten Erzählaufforderung an die Interviewpartner_innen, aus dem Stegreif ihr Leben zu erzählen. Das narrative Interview geht auf Fritz Schütze (1983) zurück und zielt darauf ab, Interviewpartner_innen größtmöglichen Spielraum zu geben, um eigene Erzählungen zu generieren und diese entsprechend ihrem individuellen Relevanzsystem zu entfalten. Das Erzählpotential der Haupterzählung wird mithilfe narrativer Nachfragen im Rahmen eines immanenten Nachfrageteils ausgeschöpft (Schütze 1983: 285). Das Interview schloss mit einem exmanenten Nachfrageteil basierend auf einem vorab formulierten Leitfaden, der sich in dieser Erhebung in zwei Abschnitte gliederte: In einem ersten, allgemeinen Nachfrageteil wurden die Themen Familie, Kindheit, Freund_innen, Schule, Freizeit, Zukunftsvorstellungen, Vorbilder (sofern nicht im Gesprächsverlauf enthalten) nachgefragt, um die Vergleichbarkeit mit Folgeinterviews im Panel herzustellen. In einem zweiten, spezifischen Nachfrageteil ging es um Schule und den bevorstehenden Übergang nach der 4. Klasse NMS – das Schwerpunktthema der ersten Erhebungswelle. Die im Rahmen der Pilot-Phase erhobenen Interviews wurden als Ausgangsbasis für die Entwicklung der exmanenten Nachfrageteile herangezogen. Zum Abschluss des Interviews erstellten die Jugendlichen eine Netzwerkkarte, in die wichtige Personen eingetragen werden konnten, und füllten einen Kurzfragebogen gemeinsam mit den Interviewer_innen aus, um grundlegende demographische und sozialstatistische Daten zu erheben. Die Interviews dauerten zwischen 43 und 248 Minuten, wobei der Durchschnitt bei etwa eineinhalb Stunden lag. Die Erzählbereitschaft und -kompetenz war dabei individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Interviews der ersten Welle wurden auf Grund der Vorgaben der Schulen von zwei Interviewer_innen geführt – eine Person übernahm die Gesprächsleitung (Eingangsfrage und Nachfragen), die zweite Person beobachtete. Sowohl Interviewer_in als auch Beobachter_in verfassten ein ausführliches Interviewmemo, um die Daten für Auswertungen bestmöglich zu kontextualisieren.

2.3

Datenerhebungen in den Wellen zwei bis fünf

Die Datenerhebungen der weiteren Wellen fanden nicht mehr in der Schule statt, dementsprechend wurden die Interviews nur von einer Person durchgeführt, die auch jeweils das Interviewmemo verfasste. Die Jugendlichen wurden auf Basis der Kontaktdaten, die sie in der ersten Welle bekannt gegeben hatten, erneut kontaktiert. Für die Welle 24 wurde zunächst der Kontakt per SMS und Whats4 Zartler, Ulrike und Vogl, Susanne (2017/2018): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie

34

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

App gesucht, weil Telefonanrufe meist unbeantwortet blieben. Wenn die Telefonnummer nicht mehr aktiv war (sechs Fälle) und wenn die Kontaktaufnahme per Telefon unbeantwortet blieb, wurde schrittweise weitere Kontaktkanäle genutzt: Facebook und Instagram, E-Mail, Post und eine in Welle 1 benannte Kontaktperson. Dabei wurden von Dezember 2017 bis März 2018 48 Jugendliche interviewt, 17 Jugendliche verweigerten explizit, andere reagierten nicht auf die diversen Kontaktaufnahmen (zu einer detaillierteren Darstellung der Rekrutierung der zweiten Welle siehe Vogl und Zartler 2021). Die Jugendlichen konnten entscheiden, wo das Interview stattfinden sollte. Die meisten entschieden sich für die Räumlichkeiten des Instituts für Soziologie, nur wenige schlugen andere Orte vor, beispielsweise Jugendzentren oder Cafés. Zwei Interviews fanden als Telefoninterviews statt, da die Jugendlichen dieses Format bevorzugten. Außerdem konnten die Jugendlichen eine Präferenz für den_die Interviewer_in aus der vorhergehenden Welle äußern. Zu unserer Überraschung war dies jedoch nicht häufig der Fall. Interviewer_innenwechsel scheint zwar wichtigen Prinzipien qualitativer Längsschnittforschung zu widersprechen, kann aber bei einer Durchführung in Verbindung mit Lehrveranstaltungen mit unterschiedlichen Teilnehmenden nicht vermieden werden. Wir konnten bei eingehenderen Analysen der Interviewdauer, Memos und Intervieweinstiege auch keinen Hinweis auf negative Einflüsse eines Interviewer_innenwechsels identifizieren (ebd.). Die Befragten waren anscheinend stärker an das Projekt gebunden als an einzelne Interviewer_innen. In Welle 2 wurden die Daten mittels problemzentrierter Interviews erhoben. Auch hier folgte auf eine narrative Einstiegsfrage, die sich nun auf das vorangegangene Jahr bezog, zuerst immanente und dann exmanente Nachfragen. Den Einstieg in die exmanenten Nachfragen bildete die Netzwerkkarte. Die Themenblöcke des exmanenten Teils waren überwiegend gleich wie in der ersten Welle. Doch diesmal lag der inhaltliche Schwerpunkt auf Familie und Freundschaften, daher wurde in diesem Bereich ausführlicher nachgefragt. Die Netzwerkkarte und der Sozialstatistikfragebogen wurden in Details angepasst, so wurden beispielsweise Halb- und Stiefgeschwister genauer erhoben. In der dritten Welle5 (Dezember 2018 bis März 2019) wurden die Jugendlichen erneut auf den oben beschriebenen Kanälen kontaktiert. Diesmal waren 28 Jugendliche bereit, ein Interview zu geben. Auch diese problemzentrierten Interviews fanden zum Teil in den Räumen an der Universität statt und zum Teil in anderen, von den Jugendlichen gewünschten Räumen. Ein Interview wurde als über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Qualitatives Panel, Wave 2. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien. 5 Wöhrer, Veronika, Kazepov, Yuri und Reinprecht, Christoph (2018/19): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Qualitatives Panel, Wave 3. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien.

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

35

Telefoninterview geführt. Das Schwerpunktthema dieser Welle waren Raum und Stadt, dementsprechend waren neben den gleichbleibenden exmanenten Fragen des Leitfadens diesmal mehr Fragen zu den Orten enthalten, an denen Jugendliche sich gern befinden, sich mit Freunden treffen etc. Die Netzwerkkarte und der Sozialstatistikfragebogen wurden beibehalten. Da die teilnehmenden Jugendlichen in jeder Welle weniger wurden und die im Panel verbliebenen Jugendlichen zu einem relativ hohen Prozentsatz schulisch erfolgreich waren und über vergleichsweise höhere soziale und kulturelle Ressourcen als andere Jugendliche aus der ersten Welle verfügten, beschlossen wir eine Aufstockung des Panels durchzuführen. Dafür kontaktierten wir Jugendliche an Orten, an denen sich unserer Einschätzung nach junge Menschen mit weniger erfolgreichen Bildungs- und Berufswegen finden: in unterschiedlichen Maßnahmen der Ausbildung bis 18 (niederschwellige Tageseinrichtungen, AusbildungsFit-Einrichtungen6, überbetriebliche Lehre). Wir kontaktierten – wie in Welle 1 – in diesem Fall zuerst die Institutionen und fragten dort die Jugendlichen, ob sie ein Interview machen möchten. So entstanden 17 Interviews, die zwischen Dezember 2019 und März 2020 in den jeweiligen Institutionen durchgeführt wurden. In diesen Interviews wurde die narrative Eingangsfrage aus der ersten Welle gestellt, d. h. nach dem gesamten Leben gefragt, aber mit den exmanenten Nachfragen aus dem Leitfaden der vierten Welle verknüpft. Zusätzlich zu Netzwerkkarte und Sozialstatistikfragebogen wurde von den Jugendlichen ein »Bildungsgraph« (Arztmann et al. 2017) ausgefüllt, um einen genaueren Überblick darüber zu bekommen, wie ihre bisherigen Bildungswege verlaufen waren. Von den Jugendlichen des regulären Panels waren in der vierten Welle7 (Januar bis Juli 2020) elf Jugendliche bereit, ein Interview zu geben. Da ab Mitte März 2020 ein strenger Lockdown verhängt wurde, wurden zwei der elf Interviews als Online-Interviews geführt. Das Schwerpunktthema dieser Welle war politische Orientierungen und politische Partizipation. Dieses Thema wurde vor allem mittels Bilder erhoben, die als Erzählimpulse dienten. Neben den problemzentrierten Interviews wurden wieder Netzwerkkarten und Sozialstatistikfragebögen ausgefüllt. In der fünften Welle8 wurden alle Jugendlichen aus dem Panel und aus der Aufstockungsgruppe kontaktiert. Zwischen Dezember 2020 und April 2021

6 Unterstützungsmaßnahme für Jugendliche im Übergang von der Schule in den Beruf. 7 Flecker, Jörg, Jesser, Andrea und Wöhrer, Veronika (2019/20): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Qualitatives Panel, Wave 4. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien. 8 Neuhauser, Johanna und Wöhrer, Veronika (2020/2021): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Qualitatives Panel, Wave 5.

36

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

wurden 20 problemzentrierte Interviews geführt (davon 14 mit Jugendlichen aus dem Panel und sechs aus der Aufstockung). Auf Grund der Pandemie wurden 19 Interviews digital durchgeführt, eines Face to Face in einem Park. Nachfragen zu Covid-19 und den pandemiebedingten Maßnahmen bildeten den Schwerpunkt dieser Erhebungswelle. Auch hier wurden wieder Netzwerkkarten und Sozialstatistikfragbogen ausgefüllt. Tabelle 1 gibt zusammenfassend einen Überblick über die Fallzahlen in den einzelnen Wellen im qualitativen Panel. Tabelle 1: Überblick über Fallzahlen in den einzelnen qualitativen Wellen 1. Welle

107

2. Welle 3. Welle

48 28

4. Welle 5. Welle

11 + 17 14 + 6

2.4

Panelpflege, Aufstockung und Datenmanagement

Die Jugendlichen wurden ab Welle 2 auf unterschiedlichen Wegen kontaktiert: Telefon, SMS, postalisch sowie über diverse Social-Media-Plattformen. Als Anreiz für die Teilnahme gab es für die Jugendlichen in der zweiten Welle Kinokarten sowie eine Verlosung zweier Tablets und in der dritten, vierten und fünften Welle Einkaufsgutscheine. Auch zwischen den Wellen gab es immer wieder Kontakt zu den Jugendlichen: Zwischen der ersten und der zweiten Welle wurden sie per SMS auf dem Handy angeschrieben, nach der zweiten Welle fand die Verlosung und die Übergabe der Tablets statt, die auch auf der Projekthomepage dokumentiert wurde. Nach der dritten Welle wurden die Jugendlichen zu einer ersten Ergebnispräsentation eingeladen, bei der sie Kommentare und Feedback geben konnten. Es kamen sechs Jugendliche, die von Studierenden und Wissenschaftler_innen des Instituts auf Postern und in Kurzreferaten Projektergebnisse in besonders sorgfältig anonymisierter Form präsentiert bekamen und diese diskutierten. Alle Interviews wurden audioaufgezeichnet und transkribiert und von allen Interviews wurden Memos angefertigt (mehr Informationen zu Memos, Transkription und Archivierung finden sich in Wöhrer et al. 2020). Zusätzlich dazu gibt es von allen Interviews aus Welle 1 und Welle 5 kurze Fallbeschreibungen. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie und des Instituts für Bildungswissenschaft, Universität Wien.

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

37

Für jede Welle wurde eine Excel-Liste angelegt, in der für jedes Interview alle Angaben aus dem Sozialstatistikbogen eingetragen wurden sowie anhand einer Schlagwortliste die wichtigsten erzählten Themen. Alle Personen und Wohnadressen in Memos, Protokollen, Transkripten und Fallbeschreibungen wurden pseudonymisiert. Zu diesem Zweck wurden bereits in der ersten Welle Listen mit Pseudonymen für die Schulklassen und Lehrpersonen sowie für jede_n Jugenliche_n und die von ihm_ihr genannten Personen erstellt, die über die Wellen hinweg weiterverwendet wurden und so Kontinuität im Längsschnitt ermöglichten. Alle nicht-anonymisierten Daten (Audioaufnahmen, Sozialstatistikfragebögen und Netzwerkkarten) wurden getrennt und gesichert gespeichert und für die Sekundärdatennutzung gesperrt.

2.5

Samplebeschreibung

Insgesamt nahmen am qualitativen Panel 122 Jugendliche teil, wobei nur sieben davon in allen fünf Wellen interviewt wurden, sechs weitere nahmen an vier Wellen teil. Auf Basis des Kurzfragebogens können die sozio-demographischen Merkmale der interviewten Jugendlichen für die unterschiedlichen Wellen eruiert werden. Diese sollen im Folgenden kurz in Bezug auf Alter, Geschlecht, Migrationsgeschichte und sozialen Hintergrund der Eltern dargestellt werden. Die ersten drei Punkte werden in Tabelle 2 zusammenfassend dargestellt. In einer zweiten Tabelle am Ende des Beitrags wird die Aufteilung auf Schulen und Bildungsinstitutionen festgehalten. Tabelle 2: Übersicht über die Wellen Welle 1

Zahl 107

Alter Geschlecht 13–16 67 Jungen 40 Mädchen

2

48

14–17 29 Jungen 18 Mädchen 1 non-binary

3

28

15–17 12 Jungen 16 Mädchen

Geburtsland 75 Österreich 9 Serbien je 3 Bulgarien, Türkei je 2 Afghanistan, Deutschland, Rumänien, Syrien je 1 Jugendliche_r 9 weitere Ländern 39 Österreich 2 Serbien je 1 Afghanistan, Bulgarien, Deutschland, Moldawien, Rumänien, Somalia, Syrien 21 Österreich je 1 Deutschland, Moldawien, Serbien, Somalia, Syrien, Rumänien, Türkei

38

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

(Fortsetzung) Welle Zahl 4 +AUF 28

Alter Geschlecht 16–18 12 Jungen 16 Mädchen

5

17–20 6 Jungen 14 Mädchen

20

Geburtsland 18 Österreich 2 Rumänien je 1 Afghanistan, Deutschland, Kosovo, Moldawien, Schweden, Serbien, Slowakei, Syrien 15 Österreich je 1 Afghanistan, Deutschland, Rumänien, Serbien, Syrien

2.5.1 Samplebeschreibung erste Welle Die 67 Jungen* und 40 Mädchen* waren zwischen 13 und 16 Jahre alt. Fast drei Viertel der befragten Jugendlichen waren in Österreich geboren, die anderen in 16 weiteren Ländern. Dabei nannte knapp jede_r fünfte Befragte ein anderes europäisches Land und jede_r Zehnte wurde außerhalb Europas geboren. Nach Österreich (75 Jugendliche) waren die meistgenannten Länder Serbien (neun), Bulgarien und Türkei ( je drei) und Syrien, Rumänien, Afghanistan und Deutschland ( je zwei Jugendliche). Rund ein Drittel der Befragten war in Österreich geboren, aber beide Eltern im Ausland, d. h. sie entsprachen der sogenannten zweiten Generation. Ein weiteres knappes Drittel waren Jugendliche der sogenannten ersten Generation, d. h. selbst im Ausland geboren. Die Angaben zum Bildungsabschluss und dem Ausmaß der Berufstätigkeit der Eltern wiesen viele fehlende Werte auf, d. h. die Jugendlichen konnten oder wollten dazu keine Angaben machen. Dazu kommt, dass die internationale Vergleichbarkeit von Bildungstiteln ohnehin schwierig ist. Zu den Herkunftsfamilien der Befragten ergab sich dennoch folgendes Bild: Die meisten Eltern hatten einen Pflichtschulabschluss als höchsten Bildungsabschluss (31 % der Mütter, 43 % der Väter). Einen Hochschulabschluss hatten 20 % der Mütter und 15 % der Väter, Matura weitere 20 % der Mütter und 15 % der Väter (siehe Tabelle 7). 2.5.2 Samplebeschreibung zweite Welle Die 48 Interviews aus Welle 2 wurden mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 durchgeführt. Darunter waren 29 Personen, die sich als Jungen*, 18, die sich als Mädchen* und eine Person, die sich als non-binary identifizierte. 39 Jugendliche (81 %) waren in Österreich geboren, neun in anderen Ländern: Serbien (zwei),

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

39

Bulgarien, Syrien, Afghanistan, Moldawien, Deutschland, Somalia und Rumänien. Als höchste Bildungsabschlüsse der Eltern gaben die meisten einen Pflichtschulabschluss an (17 Mütter, 13 Väter), gefolgt vom Lehrabschluss (acht Mütter, 13 Väter), einem Studium (sechs Mütter, zwei Väter) und gar keinem Schulabschluss (vier Mütter, zwei Väter). 2.5.3 Samplebeschreibung dritte Welle Von den 28 Jugendlichen, die in Welle 3 interviewt wurden, identifizieren sich 16 als Mädchen* und 12 als Jungen*. In dieser Welle gibt es also erstmals einen Überhang an weiblich identifizierten Personen, der auch in den weiteren Wellen so bleibt. Die Befragten waren zwischen 15 und 17 Jahren alt. 21 Jugendliche, das entspricht 75 %, wurden in Österreich geboren, sieben in folgenden anderen Ländern: Türkei, Syrien, Serbien, Moldawien, Deutschland, Rumänien und Somalia. Die Eltern der meisten Jugendlichen hatten als höchsten Schulabschluss einen Pflichtschulabschluss (acht Mütter, acht Väter), knapp gefolgt von Lehrabschluss (fünf Mütter und neun Väter), dann folgte ein Studienabschluss (sechs Mütter und drei Väter), keinen Schulabschluss hatten fünf Mütter und drei Väter. 2.5.4 Samplebeschreibung vierte Welle und Aufstockung vierte Welle In der vierten Welle wurden elf Jugendliche aus dem Längsschnittpanel interviewt und 17 weitere Jugendliche erstmals befragt. Von diesen 28 Jugendlichen bezeichneten sich 19 (68 %) als weiblich und neun (32 %) als männlich. Die Befragten waren zwischen 16 und 18 Jahre alt. 18 Jugendliche waren in Österreich geboren, die anderen zehn in Rumänien (zwei), Moldawien, Schweden, Deutschland, Kosovo, Slowakei, Serbien, Syrien und Afghanistan. Als häufigsten höchsten Bildungsabschluss nannten die Jugendlichen sowohl bei Müttern (zehn) als auch bei Vätern (neun) einen Lehrabschluss, gefolgt vom Pflichtschulabschluss (sieben Mütter und fünf Väter), der dritthäufigste höchste Abschluss ist ein Studium, über das fünf Mütter und drei Väter verfügen. Es gab aber auch hier wieder einige Jugendliche, die den Bildungsabschluss ihrer Eltern nicht nennen bzw. nicht in diese Kategorien einordnen konnten.

40

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

2.5.5 Samplebeschreibung fünfte Welle In der fünften Welle wurden 20 Jugendliche interviewt, von denen sich 14 als weiblich (70 %) und 6 als männlich identifizieren. Die Jugendlichen waren zwischen 17 und 20 Jahren alt. 15 Jugendliche waren in Österreich geboren, die anderen fünf in Syrien, Serbien, Rumänien, Afghanistan und Deutschland. Die meisten Eltern hatten als höchsten Schulabschluss einen Pflichtschulabschluss (sechs Mütter, sechs Väter), knapp gefolgt von Lehrabschluss (sechs Väter und fünf Mütter), dann folgte ein Studienabschluss (drei Mütter und zwei Väter). 2.5.6 Veränderungen im Laufe der Wellen Die offensichtlichste Veränderung besteht in einer Abnahme an Diversität von Jugendlichen von Welle 1 bis Welle 5, die in Welle 4 auf Grund der Aufstockung noch einmal aufgebrochen wird. Die Altersdifferenz, die Herkunftsländer der Jugendlichen und auch die Bildungsabschlüsse der Eltern sind alle in der ersten Welle am breitesten gestreut. Durch die geringere Anzahl an Jugendlichen in den folgenden Wellen nimmt natürlich auch die Vielfalt an Hintergründen ab. Tabelle 3: Jugendliche in (Aus-)Bildungsinstitutionen Welle 2

Welle 3

Welle 4

Welle 5

AHS

Welle 1 (Pläne) 10 (9 %)

8 (17 %)

8 (29 %)

4 (14 %)

3 (16 %)

BHS BMS

33 (31 %) 24 (22 %)

11 (23 %) 17 (35 %)

5 (18 %) 6 (21 %)

3 (11 %) 0

5 (26 %) 2 (11 %)

Polytechnische Schule Lehre

12 (11 %)

8 (17 %)

0

0

0

18 (17 %)

1 (2 %)

7 (25 %)

4 (14 %)

6 (32 %)

Maßnahme unklar

4 (4 %)

3 (6 %) 0

1 (4 %) 0

17 (61 %) 0

0 0

nichts andere

6 (6 %)

0 0

1 (4 %) 0

0 0

2 (11 %) 1 (5 %)

Summe

107

48

28

28

19

Eine weitere Veränderung besteht darin, dass in der ersten und zweiten Welle noch deutlich mehr Jugendliche teilnahmen, die sich männlich identifizieren, ab der dritten Welle jedoch mehr weiblich identifizierte Jugendliche. Von 67 % und 60 % Jungen* in Welle 1 und 2 sank der Anteil auf 32 % bzw. 30 % in den Wellen 4 und 5. Interessanterweise nahmen auch an den Interviews aus der Aufstockung in Welle 4 mehr Mädchen* teil. Das ist insofern bemerkenswert, als es in den

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

41

Maßnahmen zur Ausbildung bis 18 insgesamt eine Mehrzahl an männlich identifizierten Teilnehmenden gibt (Steiner et al. 2019: 183, 258, 290). Für unsere Studie interessierten sich offenbar aber mehr Mädchen*. In Welle 2 ist eine Person, die sich als non-binary identifiziert. Der Prozentsatz an Jugendlichen, die nicht in Österreich geboren sind, bleibt über die Wellen annähernd bei 30 % (wobei die wenigsten mit 25 % in Welle 3, die meisten mit 35 % in Welle 4 und 5 vertreten sind). Insgesamt gibt es bei der Frage nach dem höchsten Schulabschluss der Eltern immer eine Gruppe an Jugendlichen, die diese Frage nicht beantwortet. Dies geschieht aus mehreren Gründen: weil sie es nicht wissen, weil die Abschlüsse, die die Eltern gemacht haben, nicht in dieses Kategoriensystem passen, das anhand des österreichischen Schulsystems erstellt wurde, oder weil sie keine Angabe machen möchten. Von denjenigen, die die Frage beantworten, geben in fast allen Wellen die meisten Jugendlichen einen Pflichtschulabschluss als höchste abgeschlossene Schulbildung der Eltern an. Als zweithäufigster Abschluss wird ein Lehrabschluss genannt. In Welle 4 werden mehr Lehr- als Pflichtschulabschlüsse genannt. Der Studienabschluss folgt durchgehend auf dem dritten Platz, d. h. zwischen 15 % (Welle 1 und 5) und 21 % (Welle 3) der Mütter haben ein Studium absolviert. Bei den Vätern sind es konstant etwas weniger. Interessant ist schließlich noch die Veränderung in Bezug auf die Bildungsinstitutionen, in denen sich die Jugendlichen jeweils aktuell befinden. In der ersten Welle sind die Jugendlichen alle in einer NMS, d. h. hier finden sich in Tabelle 2 die Pläne, ab Welle 2 sind es die derzeit besuchten Einrichtungen. Ein Vergleich über die Wellen kann auf Grund der stark unterschiedlichen absoluten Zahlen nur auf Basis der Prozentsätze erfolgen. Es fällt auf, dass relativ viele Jugendliche (40 %) den Besuch einer maturaführenden Schule planen. Es gelingt auch 40 %, dies in der zweiten Welle zu realisieren, allerdings sind ca. doppelt so viele wie geplant in der AHS, dafür deutlich weniger in der BHS. Es sind mehr Jugendliche in Welle 2 in einer BMS als geplant, dafür besuchen weniger einen Polytechnischen Lehrgang oder eine Lehre – was vermutlich daran liegt, dass jene Jugendlichen, die diese Bildungswege beschritten haben, aus dem Panel ausgestiegen sind. Dafür sind drei Jugendliche nun in einer Maßnahme der Ausbildung bis 18 – was niemand geplant hatte. Über die weiteren Wellen fällt auf, dass der Prozentsatz an Jugendlichen in maturaführenden Schulen höher wird, was auch zur Aufstockung gerade in Maßnahmen geführt hat. Dementsprechend sind in der dritten Welle fast die Hälfte der Jugendlichen in einer AHS oder BHS, weitere 45 % in BMS und Lehre und nur je eine Person in einer Maßnahme und eine gerade in gar keiner (Aus-)Bildungseinrichtung. In der vierten Welle sind sogar mehr als die Hälfte der Jugendlichen aus dem ursprünglichen Panel in einer maturaführenden Schule, die anderen absolvieren eine Lehre. Da die Aufstockung in dieser Welle nur in Maßnahmen der Ausbildung bis 18 durch-

42

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

geführt wurde, sind in dieser Welle dementsprechend viele Jugendliche dort zu finden. In der fünften Welle sind die besuchten Ausbildungsinstitutionen nun wieder etwas breiter gestreut, es sind über 40 % der Jugendlichen in einer maturaführenden Schule und weitere 40 % in einer BMS oder Lehre. Niemand besucht nun eine Maßnahme, einige Jugendliche der Aufstockung haben eine Lehrstelle gefunden, andere sind in einer BMS, zweien ist es nicht gelungen eine Ausbildungsinstitution zu finden, sie suchen noch. Die individuellen Wege der Jugendlichen unterscheiden sich stark und reichen von sehr linearen Bildungsverläufen bis zu mehrfachen Wechseln zwischen unterschiedlichen Institutionen. Manche dieser Wege führen von statushöheren Optionen in statusniedrigere (z. B. AHS zu Lehre), vereinzelte aber auch zu statushöheren (z. B. Polytechnische Schule zu BHS).

3.

Das quantitative Panel

3.1

Die Studie im Überblick

Die quantitative Längsschnittstudie ist in Form von Online-Fragebögen konzipiert, in denen ein gleichbleibender Kern von Fragen mit wechselnden Modulen zu den Schwerpunktthemen der einzelnen Wellen in jährlichen Abständen kombiniert wird. Zum einen werden durch die regelmäßige Wiederholung gleicher Fragen Veränderungen innerhalb der Gruppe der teilnehmenden Jugendlichen erfasst. Zum anderen ermöglichen die eingangs skizzierten jährlichen Schwerpunktthemen die Erhebung einer größeren Bandbreite an Fragestellungen (siehe auch Abbildung 1). Ausgehend von einer Befragung in der 8. Jahrgangsstufe im Schulkontext wurden zum Zeitpunkt der Ausarbeitung des Sammelbandes drei Wiederholungsbefragungen durchgeführt. Die zweite quantitative Welle9 fand zwischen Februar und Juni 2019 statt und war in drei Module gegliedert. Für die dritte Welle10 umfasste der Fragebogen zwei Module, die die Teilnehmer_innen von

9 Reinprecht, Christoph, Mataloni, Barbara und Molina Xaca, Camilo (2019): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Quantitatives Panel, Wave 2. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien. 10 Mataloni, Barbara, Molina Xaca, Camilo und Reinprecht, Christoph (2020): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Quantitatives Panel, Wave 3. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien.

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

43

März bis Mai 2020 ausfüllen konnten. Die vierte Welle11 war ebenso in zwei Module strukturiert und fand von März bis Mai 2021 statt. Daten, auf denen die folgende Beschreibung basiert, liegen bislang aus den ersten vier Wellen vor. Tabelle 4 fasst zentrale Informationen zu Fragebogenkonzeption und Befragungszeiträumen zusammen.

3.2

Fragebogenentwicklung und Datenerhebung

Die Entwicklung der Fragebögen über die einzelnen Wellen basierte jeweils auf einer Sichtung vorhandener Literatur sowie etablierter Messinstrumente in Jugendstudien. Zudem wurde die Fragebogenentwicklung durch die zeitlich versetzte Abfolge der quantitativen Studie im Nachgang zur qualitativen Studie unterstützt. Die Ergebnisse aus den qualitativen Studien wurden integriert, um Fragebogenfragen bzw. -items zu entwickeln und zu fokussieren. Insbesondere die Transkriptionen von qualitativen Interviews konnten mit Blick auf Sprachweise und Argumentationen berücksichtigt werden. Zudem wurden Formulierungen, Filterführungen und Fragebogenlänge über alle Wellen mit kognitiven Pretests und Standard-Pretests vor der Feldphase geprüft. Der kognitive Pretest wurde zunächst mit Einzelinterviews und ab der vierten Erhebungswelle, aufgrund von diversen Kontakteinschränkungen wegen COVID-19, mit digitalen Einzelinterviews durchgeführt. Mit dem kognitiven Pretest wurde der erste vollständige Entwurf des Fragebogens auf Verständlichkeit und Interesse an Jugendlichen in verschiedenen Ausbildungen überprüft. Mit diesen Erkenntnissen wurde der Entwurf adaptiert und der Standard-Pretest erstellt. Dieser Standard-Pretest wurde einer breiten Masse von jungen Erwachsenen in verschiedenen Ausbildungen, Berufen und Arbeitsmaßnahmen zur Verfügung gestellt. Der Standard-Pretest hat die Bearbeitungsdauer sowie die technische Funktionalität überprüft und die weitere Erarbeitung des Fragebogens wesentlich unterstützt. Während die erste Befragung in der Schule, die späteren Befragungswellen dagegen im außerschulischen Kontext stattfanden, wurde für die Entwicklung der Online-Fragebögen berücksichtigt, dass die Jugendlichen diese an unterschiedlichen Endgeräten (PC, Smartphone, Tablet) ausfüllen konnten und sie für eine hohe Teilnahmebereitschaft kurz und niederschwellig sein sollten. So wurden etwa die Fragen auf unterschiedliche Module aufgeteilt, die von den Teilnehmer_innen einzeln nacheinander bearbeitet werden konnten, um die 11 Flecker, Jörg, Schels, Brigitte und Malschinger, Paul (2021): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Quantitatives Panel, Wave 4. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien.

44

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

jeweilige Bearbeitungszeit zu minimieren. Die Panelteilnehmer_innen konnten nach Abschluss eines Moduls entscheiden, ob sie ein weiteres Modul sofort ausfüllen oder eine Einladung für das nächste Modul in den Folgetagen erhalten wollten. Tabelle 4: Die Datenerhebungen der quantitativen Wellen 1–4 im Überblick Welle Befragungszeitraum Befragungskontext

1* 9.1.–9. 3. 2018

2 21.2.–1. 6. 2019

Im Schulkontext

Außerschulisch

Fragebogenvariante

Onlinefragebogen

Kognitive Pretests/Standardpretest

20/ 90

Onlinefragebogen mit drei Modulen 16/45

3** 4.3.–7. 5. 2020

4 1.3.–30. 5. 2021

Onlinefragebogen mit zwei Modulen 16 / 157

Onlinefragebogen mit zwei Modulen 11/124

Anwendung Die kognitiven Pretests wurden eines Messinaufgrund der struments zur Freizeit von Ju- Corona-Begendlichen, das schränkungen zum Themendigital durchschwerpunkt geführt der 3. Welle entwickelt wurde * Siehe Vogl et al. (2020) für detaillierte Informationen zur Erhebung der ersten Welle, Beschreibung der Stichprobe und einen Vergleich mit zur Verfügung stehenden Administrativdaten. ** Nähere Informationen zur Entwicklung und Verbesserung des Messinstruments sowie den Gütekriterien finden sich in Mataloni (in Vorbereitung). Besonderheiten Entwicklung mit Student_innen in einem Forschungslabor

Test im Rahmen eines Seminars zu qualitativen Methoden der Kindheits- und Jugendforschung

Für die Datenerhebung wurden als Grundgesamtheit alle Jugendlichen im Abschlussjahrgang 2017/18 an NMS in Wien definiert. Der Zugang zu den Jugendlichen wurde in Zusammenarbeit mit der Bildungsdirektion ermöglicht, die die Kontakte zu den Schulen bereitstellte. Die Direktor_innen und die Klassenlehrer_innen erhielten Informationsschreiben mit den Zugangsdaten zur Online-Umfrage. Im Prozess des Feldmonitorings, das laufend die Datenqualität und die Rücklaufstatistiken kontrollierte, wurden nicht teilnehmende Schulen zuerst per E-Mail und dann telefonisch an die Umfrage erinnert und ggf. offene Fragen oder Bedenken besprochen. Die Erhebung wurde dann im Rahmen des Unterrichts in einem IT-Raum in Beisein der Klassenlehrer_innen durchgeführt. Im Rahmen der Studie wurden auch die Einwilligungen zur Panelteilnahme eingeholt und die Jugendlichen

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

45

konnten ihre Kontaktdaten (Postanschrift, E-Mail, Telefonnummer) selbstständig eintragen. Diese wurden zur weiteren Kontaktaufnahme, getrennt von den Befragungsdaten, in einer separaten Datenbank erfasst. Von allen Jugendlichen, die in der ersten Befragung Kontaktinformationen angegeben haben, wurden für die Wiederholungsbefragungen individuell generierte Codes erstellt, die passend für jedes mobile Endgerät abgerufen werden konnten. Diese einmaligen Codes wurden mithilfe von Brief-, E-Mail- und SMSSendungen übermittelt. Dabei wurde für die Feldphase jeder Folgewelle ein Kontaktplan erstellt, der für die Wellen sehr ähnlich war. Zu Beginn der Feldphase wurden alle Jugendlichen zunächst mit Briefsendungen und anschließend mit E-Mail- und SMS-Nachrichten kontaktiert. In der zweiten Kontaktphase wurden alle Panelteilnehmer_innen, die den Online-Fragebogen noch nicht begonnen oder noch nicht abgeschlossen hatten, nochmals angeschrieben. Schließich wurden die Verbleibenden mit bis zu vier Anrufversuchen kontaktiert. Die Möglichkeiten, die Jugendlichen zu den Wiederholungsbefragungen einzuladen und an eine Teilnahme zu erinnern, hängen von den verfügbaren Kontaktdaten und vom Teilnahmestatus ab. In den Befragungswellen wurden insgesamt jeweils zwischen 11.000 und fast 13.000 Kontaktversuche durchgeführt, um die aktiven Panelteilnehmer_innen mit gültigen Kontaktdaten zu erreichen.

3.3

Panelpflege und Incentives

Die individuelle Motivation der Befragten, sich an Wiederholungsbefragungen zu beteiligen, spielt für den Erfolg einer Längsschnittstudie eine zentrale Rolle. Dabei sind aus der Methodenliteratur mehrere Faktoren bekannt, die eine Teilnahmebereitschaft fördern. In der Literatur werden hier sowohl intrinsische Faktoren, wenn Teilnehmer_innen die Themen eines Forschungsprojekts als interessant ansehen (Woodman und Tyler 2007: 24), als auch altruistische Motive benannt, z. B. zu helfen und einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten (Seymour 2012: 54; Woodman und Tyler 2007: 25). Zudem können extrinsische Faktoren über verschiedene Formen der monetären und nicht-monetären Belohnung eine Teilnahme begünstigen (Seymour 2012: 52). Eine wichtige einfache Belohnungsform ist, sich für die Zeit und das Engagement der teilnehmenden Jugendlichen zu bedanken (Seymour 2012: 56) und Anerkennung zu geben (Cooper Robbins et al. 2011: 11). Schließlich ist auch die Verwendung von monetären Incentives (z. B. direkte Vergütungen, Geschenke oder Gutscheine) verbreitet. Obwohl diese als zusätzlicher Anreiz eine Teilnahme anregen können, wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass diese nicht die intrinsische Motivation teilzunehmen untergraben sollen (Seymour 2012: 55). Auch attraktive visuelle Ele-

46

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

mente können die extrinsische Motivation, sich an einer Studie zu beteiligen, erhöhen (Bailey et al. 2017: 41). Um intrinsische Teilnahmemotive zu fördern, wurden in der Kommunikation mit den Panelteilnehmer_innen verschiedene Wege gewählt. Im Rahmen eines Workshops12 wurden verschiedene »Kernaussagen« ausgearbeitet, die es ermöglichten, in einer altersgerechten Sprache den Nutzen der Studie zu vermitteln. So zielten die diversen Informationsmaterialien darauf ab, den Beitrag jeder einzelnen Teilnahme hervorzuheben, aber auch zu vermitteln, dass die Befragten Teil eines größeren Projekts sind, das die Lebenssituation Jugendlicher sichtbar machen möchte. Zudem wurden ausgewählte Ergebnisse in regelmäßigen Abständen rückgespiegelt. Veröffentlicht wurden diese in Form von News-Einträgen in einer an die Panelteilnehmer_innen gerichteten Webseite und als Posts auf der Instagram-Seite des Projekts.13 Unterstützend dazu wurden in der Panelpflege verschiedene Strategien angewendet, die einen zusätzlichen Teilnahmeanreiz darstellen können. Mit Blick auf extrinsische Faktoren haben nach jeder Erhebungswelle alle teilnehmenden Jugendlichen einen persönlichen »Dankeschön«-Brief zugeschickt bekommen. Unter diesen Jugendlichen wurden außerdem in Form eines Gewinnspiels Preise – Sachgeschenke und Gutscheine – verlost. Insbesondere ab der dritten Welle waren die Preise eher geringer im Wert, um eine höhere Anzahl anbieten zu können. Schließlich wurde eine einheitliche, attraktive »visual identity« für das Projekt ausgearbeitet, bestehend aus Logo, Farben und Schriftart, die bei der Gestaltung aller Informationen für die Panelteilnehmer_innen verwendet wurde (siehe als Beispiel Abbildung 2).

3.4

Datenmanagement und Anonymisierung

Nach Abschluss jeder quantitativen Erhebungswelle wurden die Daten zunächst für die Datenbank formatiert, indem das Datenmaterial in einem gängigen, für die Auswertungssoftware erkennbaren Format, wie SPSS und STATA, abgespeichert wurde. Im nächsten Schritt wurden die erhobenen Daten von frühzeitigen Abbrüchen bereinigt. Weiter wurden die Antworten auf offene Fragen kodiert und in die Datenbank übertragen. Zudem wurden die Datensätze auf Übertragungsfehler überprüft, da Sonderzeichen aufgrund Formatveränderungen fehlerhaft dargestellt wurden, und Variablennamen und -labels ergänzt. Danach wurde das Datenmaterial abgespeichert und die Bereinigungsschritte 12 Als externe Expert_innen beteiligt waren Stefan Kalnoky, Soziologe und Lehrer in einer berufsbildenden höheren Schule in Wien, und Alessia Scuderi, Grafikerin und Social Designerin. 13 Projektwebseite: https://www.wegeindiezukunft.at und Instagram-Seite: https://www.instag ram.com/wege_in_die_zukunft.

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

47

Abbildung: 2 Deckblatt und eine Innenseite des Informationsfolders 2019

wurden dokumentiert. Für jede quantitative Erhebungswelle wurde ein Codebuch erstellt. Damit können die Variablennamen strukturiert zugeordnet werden. Jegliche Informationen, die Rückschlüsse auf die Panelteilnehmer_innen zulassen, wie die Vor- und Zunamen und die Postanschrift, wurden aus den zur wissenschaftlichen Verwendung abgespeicherten Datensätzen entfernt, um Standards der Anonymisierung von sensiblen Daten einzuhalten. Um die Daten aus den einzelnen Befragungswellen miteinander verknüpfen zu können, wurde zu Beginn der ersten Erhebungswelle eine individuelle Personenkennziffer vergeben, die über die Erhebungswellen nicht variiert.

48 3.5

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

Teilnehmerzahl und Ausfälle von der ersten bis zur vierten Welle

3.5.1 Entwicklung der Teilnehmer_innenzahl Ein Überblick über die Teilnehmer_innenzahlen findet sich in Tabelle 5. Dabei werden die vollständig ausgefüllten Fragebögen berichtet bzw. für die Wiederholungsbefragungen ab Welle 2 berücksichtigt. Tabelle 5: Realisierte Interviews in den Befragungswellen im Überblick Fragenmodule Begonnene Interviews

Welle 1 3.078

Welle 2 851

Welle 3 744

Welle 4 717

Vollständige Interviews Vollständige Interviews Modul 1

2.850* tnz

777

683

674

Vollständige Interviews Modul 2 Vollständige Interviews Modul 3

tnz tnz

717 679

591 tnz

603 tnz

* Hierbei handelt es sich um den dublettenbereinigten Datensatz, der alle Fälle beinhaltet, die den Fragebogen zumindest bis zum Fragenblock Bildungsaspirationen beantwortet haben, so dass zentrale Untersuchungsvariablen verfügbar sind.

Die Grundgesamtheit für die Erhebung bilden alle Jugendlichen im Abschlussjahrgang 2017/18 an NMS in Wien. Das waren über 7.500 Schüler_innen an 117 Schulen mit insgesamt 351 Klassen. In der ersten Befragungswelle haben 3.078 Jugendliche die Befragung begonnen, 2.850 haben die Fragebögen vollständig ausgefüllt. Diese Jugendlichen verteilten sich auf 99 Schulen und 236 Klassen. Ausfälle gab es sowohl auf der Ebene der Schulen und Klassen als auch der Jugendlichen. So haben sich 18 NMS in Wien gar nicht an der Studie beteiligt, bei den teilnehmenden Schulen haben bei 46 nicht alle Klassen teilgenommen. Schließlich kam auf Ebene der Schüler_innen vor, dass Jugendliche eine Teilnahme verweigerten oder ihre Eltern gaben kein Einverständnis. Die Teilnahmerate an der ersten Befragungswelle liegt somit insgesamt bei rund 40 % (Vogl et al. 2020). In den Folgewellen konnten 679 Jugendliche in Erhebungswelle 2, 591 Jugendliche in Erhebungswelle 3 und 603 Jugendliche in Erhebungswelle 4 befragt werden. Dies zeigt die Stabilität an der Teilnahme der Jugendlichen ab der zweiten Erhebungswelle. Von den 2.850 Teilnehmer_innen an der Erstbefragung, die vollständige Informationen gegeben haben, sind dies rund 21 bis 24 %. Von 308 Personen liegen Informationen über alle vier Befragungswellen vor. Die restlichen Jugendlichen konnten nur unregelmäßig über die Befragungswellen wiederholt erreicht werden. In jeder Welle findet sich auch ein kleiner Anteil von Jugendlichen, die in der ersten Befragungswelle zwar den Fragebogen nicht vollständig ausgefüllt, aber ihre Kontaktdaten angegeben haben und so in späteren Wellen erreicht werden konnten.

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

49

3.5.2 Ausfälle Die Ausfälle der Teilnehmer_innen an der ersten Befragung und im Längsschnitt sind für die Verallgemeinerung der Aussagen aus den Studien und für die Interpretation von großer Bedeutung. Daher werden diese im Folgenden näher beschrieben. Für die erste Welle können dabei wenige Informationen über die Schulen und Schüler_innenschaft in Wien herangezogen werden. Ausfallanalysen auf Schulebene zeigen, dass die Teilnahmebereitschaft der Schulen nicht wesentlich nach Wohnbezirk und Geschlecht der Schulleitung variierte. Auch auf Ebene der Schüler_innen zeigen sich in der Zusammensetzung der Teilnehmer_innen keine gravierenden Abweichungen zur Grundgesamtheit mit Blick auf Geschlecht und Geburtsland. Lediglich Jugendliche, die mit den Eltern Deutsch sprechen, sind deutlich überrepräsentiert. Da geringe Ausfälle bei Subgruppenvergleichen relevant sein können, wurde für die erste Welle mit Unterstützung von GESIS Mannheim eine Gewichtungsvariable berechnet, um den Datensatz auf bekannte Randverteilungen anzupassen. Die von der Bildungsdirektion Wien bereitgestellte Information zum Schulstandort, dem Geschlecht, dem Wohnbezirk und dem Geburtsland wurde dafür herangezogen. Basis dafür war der Datensatz mit vollständig ausgefüllten Fragebögen. Vertiefende Informationen können bei Vogl et al. (2020) nachgelesen werden. Die Gründe für die Ausfälle über die Wiederholungsbefragungen sind vielfältig. Zum einen ist der Befragungsmodus relevant. So ist auch aus anderen Übergangsstudien bekannt, dass im Klassenkontext – wie hier in der Erstbefragung – durchweg hohe Teilnahmebereitschaften erzielt werden. Die Erreichbarkeit geht jedoch zurück, wenn die Jugendlichen nicht mehr im Schulkontext für eine Befragung erreicht, sondern individuell dafür kontaktiert werden (z. B. Hupka-Brunner et al. 2021). Dann stimmen die Kontaktinformationen nicht (mehr) oder die Jugendlichen nehmen sich nicht die Zeit. Außerdem nehmen Personen seltener an Befragungen teil, wenn sie vergleichbare Situationen aus dem Alltag nicht gewohnt sind oder die Befragung an einen Test erinnert (Stoop et al. 2010: 124). So sind Ausfälle auch mit soziodemographischen Merkmalen assoziiert, etwa dem Bildungsstand. Zudem wurde bereits in Kapitel 3.3 in diesem Beitrag auf intrinsische Motivationen und das Interesse an dem Thema hingewiesen. In unserem Kontext muss daher angenommen werden, dass gerade Jugendliche mit schlechteren schulischen Leistungen und jene, die sich ungern mit Kernthemen aus der Befragung, wie etwa Bildungs- und Berufswahl beschäftigen, eine Teilnahme vermieden. Für die zweite Befragungswelle ist es möglich, die berichteten Übertritte der Schüler_innen aus der Studie »Wege in die Zukunft« mit den Daten der Statistik Austria zu vergleichen (siehe Tabelle 6). Dabei fällt auf, dass die Teilneh-

50

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

mer_innen an der zweiten Welle zu einem überproportional großen Teil junge Menschen sind, die im ersten Jahr nach der NMS die maturaführenden Schulen (BHS, AHS) besuchen. Teilnehmer_innen, die eine Polytechnische Schule besuchen oder einer sonstigen Aktivität nachgehen, waren dagegen unterproportional häufig zur weiteren Panelteilnahme bereit. Dies korrespondiert mit den Ausfällen im qualitativen Panel. Tabelle 6: Übertritte von NMS (8. Schulstufe) in Sekundarstufe II Welle 2

Wien 2018/19

Häufigkeit

Prozent

Häufigkeit

Prozent

NMS Polytechnische Schule

18 160

2% 20 %

352 2192

4% 26 %

Sonderschule / Berufsvorbereitungsjahr Berufsschule / Lehre

6 50

1% 6%

90 503

1% 6%

Berufsbildende mittlere Schule (BMS, 101 HASCH, Fachschule etc.) Berufsbildende höhere Schule (BHS, HAK, 312 BAKIP, HLW, HTL etc.)

12 %

1391

17 %

38 %

1913

23 %

Allgemeinbildende höhere Schule (AHS, Gymnasium) Anderes / k.A.

12 %

710

9%

Gesamt Quelle: Statistik Austria (2020: 217)

94 71

9%

1220

15 %

812

100 %

8371

100 %

Betrachtet man die Zusammensetzung der befragten Jugendlichen über die einzelnen Wellen nach ausgewählten soziodemographischen Merkmalen, die in der ersten Welle erhoben wurden (siehe Tabelle 7), so fällt auf, dass in den Wiederholungsbefragungen zunehmend mehr Mädchen* als Jungen* erreicht werden konnten. Mit Blick auf den sozialen Hintergrund der Jugendlichen zeigt sich, dass die Eltern der befragten Jugendlichen als höchste abgeschlossene Ausbildung überwiegend über einen Pflichtschul- oder Lehrabschluss verfügen, gefolgt von Matura und Studium. Gefragt nach dem Geburtsland hat der Großteil der Jugendlichen angegeben, in Österreich geboren worden zu sein, und dass zumindest die Mutter oder der Vater außerhalb Österreichs auf die Welt kamen. Daraus ergibt sich die größte Zuordnung zur zweiten Generation, gefolgt von Jugendlichen, die ankreuzten, nicht in Österreich geboren worden zu sein und somit zur ersten Generation gezählt werden. In der Zusammensetzung der Teilnehmer_innen über die Folgewellen zeigen sich nur geringe Veränderungen. Auch mit Blick auf die Bildungsaspirationen zeigt sich nur eine geringfügig höhere Teilnahmebereitschaft an den Folgewellen unter dem großen Anteil der

51

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

Jugendlichen, die als höchste Ausbildung die Matura oder ein Studium anstrebten. Etwas deutlicher ist anhand der Schulnoten zu erkennen, dass eher leistungsstärkere Schüler_innen an den Folgewellen teilgenommen haben.14 Auch hier zeigt sich, dass in Bezug auf einige sozialstatistische Daten (Geschlecht, Migrationsbiographie, Bildungsinstitution) sowohl die Zusammensetzung der Jugendlichen als auch die Veränderungen der Zusammensetzung über die Wellen im qualitativen und im quantitativen Panel Ähnlichkeiten aufweisen. Tabelle 7: Zusammensetzung der Teilnehmer_innen im Überblick nach ausgewählten soziodemographischen Charakteristika in Prozent Ausgewählte soziodemographische Charakteristika Geschlecht Jungen

Welle 1

Welle 2

Welle 3

Welle 4

52,7

50,9

48,6

46,6

Mädchen Gesamt

47,3 100

49,1 100

51,4 100

53,4 100

Fallzahlen Bildungshintergrund Mutter aus Welle 115

2.850

772

705

667

Matura / Studium Pflichtschule und / oder Lehrabschluss

38,2 49,9

34,6 50,9

36,0 50,4

35,2 51,3

Kein Schulabschluss Gesamt

11,9 100

14,5 100

13,6 100

13,5 100

Fallzahlen Bildungshintergrund Vater aus Welle 115

1.994

546

508

491

Matura / Studium Pflichtschule und / oder Lehrabschluss

32,7 53,8

32,1 54,0

31,4 55,5

32,5 53,4

Kein Schulabschluss Gesamt

13,5 100

13,9 100

13,1 100

14,1 100

14 Die Schulnoten wurden für die Fächer im letzten Zeugnis erfragt. Die Schulnoten aus den Gruppen vertiefter bzw. grundlegender Allgemeinbildung in den Hauptfächern wurden in eine siebenteilige Notenskala zusammengefasst, wobei »1« der bestmöglichen Note und »7« der schlechtesten Note entspricht. Wenn jemand die Gruppe der grundlegenden Allgemeinbildung besuchte, wurde zur entsprechenden Note 2 addiert, wodurch sich bei grundlegender Allgemeinbildung ein mögliches Spektrum von »3« bis »7« ergibt. Eine »3« in der Gruppe der vertieften Allgemeinbildung hat somit den gleichen Wert wie eine »1« in der Gruppe der grundlegenden Allgemeinbildung. 15 Der Bildungshintergrund der Eltern, der »Migrationshintergrund« sowie die Noten in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch wurden ausschließlich in Welle 1 abgefragt.

52

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

(Fortsetzung) Ausgewählte soziodemographische Charakteristika Fallzahlen »Migrationshintergrund« aus Welle 115

Welle 1

Welle 2

Welle 3

Welle 4

1.942

533

488

483

Kein »Migrationshintergrund« 1. Generation 2. Generation Gesamt

20,4 27,2 52,4 100

20,7 26,4 52,9 100

22,1 25,4 52,5 100

22,9 25,3 51,8 100

Fallzahlen Bildungsaspirationen

2.850

772

705

667

Matura und höher Niedriger als Matura

70,8 29,2

69,7 30,3

72,5 27,5

71,2 28,8

Gesamt Fallzahlen

100 2.815

100 697

100 564

100 664

Durchschnittsnote aus Welle 1 Deutsch

3,5

3,4

3,3

3,2

Mathematik Englisch

3,7 3,4

3,5 3,3

3,5 3,2

3,3 3,1

Gesamt Fallzahlen

100 2527

100 714

100 654

100 620

Quelle: Datensätze der Erhebungswellen 1–4 von »Wege in die Zukunft«. Auswertungen für Fälle jeweils mit gültigen Angaben.

Vor dem Hintergrund der Ausfälle in den einzelnen Befragungswellen können sich die statistischen Auswertungen im Längsschnitt nur auf Teilpopulationen der Schüler_innen an Wiener NMS, die im Schuljahr 2017/18 eine 8. Jahrgangsstufe besucht haben, beziehen. Wenn sich die Teilnehmer_innen an den Panelwellen in relevanten Merkmalen von den Jugendlichen unterscheiden, die für weitere Befragungswellen nicht zur Verfügung standen, kann die Aussagekraft der Auswertungen eingeschränkt werden. Als Lösung werden Gewichtungsund Imputationsverfahren wie auch inferenzstatistische Kontrolle für Selektivitäten diskutiert, die jedoch abhängig von Fragestellung und Auswertungsinteressen Entscheidung der Forscher_innen sind (z. B. Asendorpf et al. 2014, Steinhauer und Zinn 2014).

Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

4.

53

Resümee und Ausblick

Es gibt eine reichhaltige Forschung, die den Übergang von der Schule im Jugendalter betrachtet. Das Projekt »Wege in die Zukunft« zeichnet sich darüber hinaus durch das Mixed-Method-Design aus, das den Anspruch hat die vielfältigen Weichenstellungen in dieser Lebensphase, etwa mit Blick auf Ausbildung, Berufswahl, Freizeit und Familie, im komplexen Zusammenspiel von individuellen Strategien, soziostrukturellen und institutionellen Bedingungen zu erfassen. Es gibt nur wenige Studien, die ein Sample von jungen Menschen mit quantitativen und qualitativen Methoden erforschen, und noch weniger, die dabei auch ein Längsschnitt-Design verfolgen. Spezifisch an der vorliegenden Studie ist die Sequenz von Befragung und Interview, so dass qualitative Befunde die Analysen für eine größeren Stichprobe befruchten. Die quantitativen und qualitativen Erhebungswellen folgen so einer gemeinsamen Logik und gemeinsamen inhaltlichen Schwerpunkten. Gemeinsam können sie Zusammenhänge zwischen bestimmten individuellen und strukturellen Faktoren und Übergangswegen nach der Schulzeit aufzeigen. Über die rund sechsjährige Projektlaufzeit sind damit reichhaltige Daten entstanden, die für die Jugend-, Bildungs- und Ungleichheitsforschung in Österreich fruchtbar sind und Befunde für politische Akteur_Innen bereitstellen. Am Institut für Soziologie und später auch am Institut für Bildungswissenschaft waren Professor_innen und wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen ebenso beteiligt wie Studienassistentinnen und Studierende, so dass in dem Projekt neben grundlegender Forschung auch ein wichtiger Beitrag zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses anhand von Qualifikationsarbeiten und Methodenlehre geleistet wurde. Der Beitrag des Projektes zur Literatur hat sich bereits in den Publikationen auf Basis der Daten der ersten Befragungswelle gezeigt, etwa dem ersten Sammelband (Flecker et al. 2020), verschiedenen Policy Briefs (Wöhrer et al. 2020; Vogl et al. 2020; Valls et al. 2022) und Beiträgen in internationalen Fachzeitschriften (International Journal of Qualitative Methods, Longitudinal and Life Course Studies, Österreichische Zeitschrift für Soziologie). Im Längsschnitt der Studie »Wege in die Zukunft« zeigen sich jedoch auch die Herausforderungen, den Werdegang junger Menschen empirisch zu verfolgen, wie sie auch aus anderen Panelstudien bekannt sind. Auf Grenzen der Erreichbarkeit stößt man sowohl in Hinblick auf die Motivation der befragten Personen, sich wiederholt dem Thema zu widmen und sich die Zeit zu nehmen, als auch bei der organisatorischen Umsetzung, etwa der Aktualisierung von Kontaktinformationen und dem Erinnern, sich an der Studie zu beteiligen. Dabei hat sich gezeigt, dass sich der Aufwand lohnt, junge Menschen über mehrere Kanäle anzusprechen, etwa Instagram oder eine Website.

54

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

Der Generalisierbarkeit der Befunde sind hier, wie in den anderen Panelstudien auch (z. B. Ristau et al. 2015), durch die Ausfälle in Wiederholungsbefragungen Grenzen gesetzt. Die Selektivität zeigt sich im quantitativen Panel anhand verfügbarer Indikatoren über die Wellen als schwach ausgeprägt. Im qualitativen Panel wurde versucht die Ausfälle durch eine gezielte Aufstockung in Hinblick auf sozioökonomischen Hintergrund, Bildungswege und Geschlecht auszugleichen. Dennoch ist zu vermuten, dass gerade Jugendliche, die Schwierigkeiten und Unsicherheiten im Übergang nach der NMS erleben, eher zögern, an der Befragung bzw. dem Interview teilzunehmen. Hinzu kommt, dass gerade mit dem Abgang aus der NMS für die jungen Menschen eine dynamische Lebensphase beginnt und sie für Wiederholungsbefragungen nicht mehr erreichbar sind, wenn sie umziehen, Mobilnummern oder E-Mailadressen ändern. Vor diesem Hintergrund ist auch zu sehen, dass im quantitativen Panel viele der Jugendlichen nach der ersten Welle aus der Studie ausgeschieden sind und sich die Zahl der Teilnehmenden im qualitativen Panel in den ersten drei Jahren jeweils halbierte. Wir können also nicht ausschließen, dass sowohl in den folgenden quantitativen wie auch qualitativen Analysen bestimmte (Bildungs-)Wege, Ziele und Orientierungen unentdeckt bleiben. Dennoch zeigen die Beiträge eindrücklich die Vielfalt der Möglichkeiten nach Abschluss der NMS. Mit einer finalen fünften quantitativen Welle im Frühjahr 2022 wird die Längsschnittstudie »Wege in die Zukunft« abgeschlossen. In der letzten Befragung stehen die Stationen nach der NMS in der Retrospektive im Mittelpunkt des Interesses. Ein Ziel ist es, von möglichst vielen Jugendlichen, die nicht regelmäßig über mehrere Wellen teilgenommen haben, Informationen über ihren Werdegang zu erheben. Gerade die zahlreichen Jugendlichen, die in späteren Wellen erneut teilgenommen haben, ermutigen zu der weiteren Befragung. Neben inhaltlichen Studien zum Verlauf des Lebenswegs nach dem Abschluss der NMS stehen hier auch methodische Fragen an, etwa, welche Rolle Corona oder der zeitliche Abstand zur NMS hat.

5.

Literatur

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Methodische Grundlagen und Forschungsdesign der Panelstudie

55

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56

Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner

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Teil II – Bildungswege

Raphaela Kogler / Susanne Vogl / Franz Astleithner

Übergänge, Entscheidungen und Verlaufsmuster: Bildungs- und Berufsorientierungen Jugendlicher1

1.

Einleitung

Am Ende der Pflichtschulzeit stehen Jugendliche vor einem wichtigen Übergang: Sie müssen sich entscheiden, ob sie eine weiterführende Schule besuchen oder eine Lehre beginnen wollen. Was Jugendliche an Optionen und Möglichkeiten wahrnehmen und welche individuellen Präferenzen, die von diversen sozialen Faktoren geformt werden, am Übergang existieren, spielt bei ihren Entscheidungen eine wesentliche Rolle. Außerdem können sich Bildungs- und Berufsorientierungen im Lauf der Zeit verändern, allen voran durch biographische Erfahrungen. Auf Basis des qualitativen Interviewpanels über die ersten drei Wellen des Projekts »Wege in die Zukunft« untersuchten wir die Entwicklung dieser Orientierungen. So entstand am Ende eine Typologie der Berufs- und Bildungsorientierungsprozesse junger Menschen im Zeitverlauf. Identifizierte Idealtypen repräsentieren unterschiedliche Verlaufsmuster: »Konstante«, »zunehmend instabile und unkonkrete«, »diffuse« und »zunehmend konkrete« Verläufe zeigen verschiedene Muster, die aufgrund unterschiedlicher Bedeutungen sozialer Kontexte der Jugendlichen, ihres subjektiven Möglichkeitsraums, ihrer Selbstwahrnehmung und ihrer unterschiedlichen Handlungsstrategien am Übergang differenziert werden können.

1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Projekts »Wenn Träume (nicht) wahr werden«, gefördert durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank (OeNB) (Projektnummer: 18283, Projektleitung: Susanne Vogl).

60

2.

Raphaela Kogler / Susanne Vogl / Franz Astleithner

Übergänge, Wahlmöglichkeiten und Verlaufsmuster

Der Lebensverlauf bringt zahlreiche Übergänge mit sich, die institutionell gerahmt, aber auch durch individuelle Entscheidungen geprägt sind. Übergänge – sogenannte Transitionen – sind das Produkt einer Interaktion zwischen Lebensverlaufsmustern, individuellen Biografien und sozialen Strukturen (vgl. Sackmann und Wingens 2003; Furlong und Cartmel 2007; Heinz 2009; Walther et al. 2015). Sie sind wichtige Phasen des Wandels, die durch Fluidität und Momente der Unsicherheit gekennzeichnet sind (vgl. Evans und Furlong 1997; Bridges 2004). Der Übergangsprozess umfasst Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der persönlichen Entwicklung, die mit strukturellen Dimensionen außerhalb des Lebenslaufs zusammenhängen. Übergänge sind keine singulären Ereignisse, wie etwa der Auszug aus dem Elternhaus, sondern ganzheitliche und ergebnisoffene Prozesse mit fließenden Grenzen. Einerseits sind Übergänge daher durch Veränderungsprozesse und andererseits durch Entscheidungsprozesse gekennzeichnet. Beide Elemente sind jedoch eng miteinander verwoben und Entscheidungen in Übergangsphasen sind niemals isoliert, sondern immer als Teil des Lebensverlaufs zu sehen, der sowohl Wendepunkte – sogenannte turning points – als auch Routinen umfasst (vgl. Snee und Devine 2015). Übergänge können drei grundlegende Formen annehmen (vgl. Abbott 2001; Baur 2005, 2008): (1) »Zyklen« oder »Reproduktionen« (cycles) beschreiben wiederkehrende Muster mit immer wieder auftauchenden charakteristischen Merkmalen; (2) »Verlaufskurven« bzw. »Laufbahnen« (trajectories) beschreiben einen Weg in eine bestimmte Richtung, der selbst mitgestaltet und »auf Linie« gehalten werden kann; (3) »Wendepunkte« (turning points) bezeichnen Disruptionen und damit Wegveränderungen. Wichtig ist der Prozesscharakter und damit die Temporalität von Übergängen, die wir hier in den Mittelpunkt stellen. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf die Übergangsphase junger Menschen am Ende der NMS. Im Fokus stehen Veränderungsprozesse, Wandel (und Stabilität) aus einer Längsschnittperspektive sowie jene Faktoren, die diese Prozesse prägen. Unser Ziel ist es, auf Basis prozessorientierter qualitativer Längsschnittforschung Muster im Zeitverlauf aufzuzeigen. Verlaufsmuster, zeitliche Prozesse sowie subjektive Bedeutungszuweisungen können prozesshaft und nicht nur als Momentaufnahme erforscht werden (vgl. Neale 2019). Somit erleichtert dieser längsschnittliche Zugang ein Verständnis der Dynamik zwischen Kontext und Subjektivität (vgl. Vogl et al. 2018) und der Perspektive der jungen Erwachsenen selbst und ihren Eigeninterpretationen im Laufe der Zeit – im Gegensatz zu retrospektiven Betrachtungen eines bestimmten Moments im Lebenslauf junger Menschen (Vogl 2022). Ähnlich wie bei anderen Transitionsphasen ist der Übergang von Schule in Beruf institutionalisiert und wird durch individuelle Ressourcen, Präferenzen

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und Entscheidungen geprägt (vgl. Stauber und Walther 2013; Brzinsky-Fay 2014). Entscheidungen basieren auf dem, was ein Individuum als Optionen wahrnimmt, und folgen den Präferenzen, die durch die soziale Position und den Kontext geprägt sind. Objektive sowie subjektiv wahrgenommene Möglichkeiten werden auch als Möglichkeitsraum bezeichnet (vgl. Bourdieu 1996; Barrett 2015). Der objektive Möglichkeitsraum wird stark von der sozialen Stellung und den Ressourcen beeinflusst, da nicht jede_r die gleichen Chancen hat. Darüber hinaus bezieht sich der subjektive Möglichkeitsraum auf das Denkbare, das Undenkbare und die Wahrnehmung von Optionen für einen selbst, das Wünschenswerte und das Unerwünschte sowie das Machbare und das Unerreichbare (vgl. Du BoisReymond et al. 2001; Flecker und Zartler 2020). Der Möglichkeitsraum ist besonders relevant für den Entscheidungsprozess am Übergang. Er prägt und rahmt Bildungs- und Berufsorientierungen. Bildungs- und Berufsorientierungen sind eng mit dem Konzept der (idealistischen und realistischen) Aspirationen verknüpft, z. B. mit der Wahl einer bestimmten Schulform oder einer konkreten Vorstellung von einem bestimmten Beruf (vgl. Evans 2002; Astleithner et al. 2021). Bildungs- und Berufsorientierungen (BBOs) sind dynamisch und beziehen sich eher auf Absichten und Hoffnungen als auf distinkte Schritte in der beruflichen Entwicklung oder Entscheidungen über den Besuch konkreter Schultypen (vgl. Brändle und Müller 2014; Hermes 2017). Orientierungen sind daher allgemeine Ziele und Erwartungen, wie z. B. ein eigenes Unternehmen zu gründen oder eine Führungsposition zu haben. Berufliche Aspirationen sind konkreter und beziehen sich auf einen bestimmten Beruf, z. B. Mechaniker_in. Der Unterschied zwischen Aspirationen und Orientierungen liegt also in der Konkretheit der Vorstellung: Orientierungen sind genereller Natur und stärker auf allgemeine Präferenzen ausgerichtet. Sie ergänzen die konkreten Aspirationen bzw. Berufswahlideen, sind aber schwieriger zu (er-)fassen. Dennoch spielen sie eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Übergängen. Bildungs- und Berufsentscheidungsprozesse können nur als Produkt dieser Orientierungen verstanden werden, die ihrerseits durch ein Zusammenspiel von (Sozial-)Struktur und individueller, sozial eingebetteter Biografie geprägt sind (vgl. Cook und Woodman 2020). Die Erforschung dieser BBOs steht im Mittelpunkt unseres Beitrags und macht es notwendig, dass wir über die Erforschung der konkreten Berufswahl und/oder optimaler sowie problematischer Übergänge hinausgehen. Wir interessieren uns dafür, wie junge Menschen selbst diese Übergänge erleben, wie sie ihre Entscheidungen und Orientierungen gestalten und welche Rolle ihr sozialer Kontext und die strukturellen Zwänge, denen sie begegnen, dabei spielen. Auf diese Weise versuchen wir die Entstehung und Veränderung von BBOs sowie deren Verlaufsmuster bzw. Entwicklungsprozesse zu verstehen.

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Im Folgenden beschreiben wir kurz Forschungskontext und -zugang, stellen im Anschluss die entwickelte Typologie der Verlaufsmuster von BBOs junger Menschen vor, um danach die verschiedenen Typen von Orientierungsprozessen junger Menschen gegenüberzustellen. Am Ende resümieren wir die relevanten Dimensionen der Verlaufsmuster und binden sie an bestehende Literatur zurück.

3.

Qualitative Längsschnittanalyse und Typenbildung

Dieser Beitrag basiert auf einer Sekundärdatenanalyse der qualitativen Panelinterviews der Studie »Wege in die Zukunft« am Institut für Soziologie der Universität Wien und entstand im Rahmen des Projekts »Wenn Träume (nicht) wahr werden«. Wir fokussieren die Erfahrungen und Strategien von Jugendlichen in der Übergangsphase am Ende der NMS in Wien in Bezug auf Veränderung, Anpassung und Stabilität von BBOs im Zeitverlauf. Damit stehen die Lebenschancen junger Menschen in der Übergangsphase nach Abschluss der Mindestschulzeit in Wien im Fokus. In dieser Phase müssen sich die Jugendlichen für eine weiterführende Schul- oder Berufsausbildung entscheiden. Wir untersuchen, was diese Jugendlichen als wünschenswert, machbar oder unmöglich ansehen, oder welchen (unerwarteten) Gelegenheiten sowie Hindernissen sie begegnen, welche Strategien zur Bewältigung und Anpassung ihrer Pläne sie umsetzen und zwar im Drei-Jahres-Zeitraum (Welle 1 bis 3) ab dem letzten Jahr der Sekundarstufe I, also im Alter von etwa 14 Jahren (Flecker et al. 2020; Wöhrer et al. 2020)2. Aus den 26 Fällen, die an allen drei Wellen teilgenommen haben3 (siehe Beitrag von Wöhrer / Vogl / Schels / Mataloni / Malschinger / Astleithner in diesem Band), wurden mit Hilfe des theoretical samplings 14 Fälle im Rahmen des Projekts »Wenn Träume (nicht) wahr werden« ausgewählt, d. h. die Auswahl erfolgte prozesshaft nach dem Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung. Auf Basis von Vorüberlegungen und fortschreitenden Erkenntnissen werden dabei weitere Fälle ausgewählt, bis eine theoretische Sättigung erreicht ist 2 Wir danken dem Institut für Soziologie und den Mitgliedern der Steuerungsgruppe und den Mitarbeitenden im Projekt »Wege in die Zukunft«: Jörg Flecker, Andrea Jesser, Yuri Kazepov, Barbara Mataloni, Ana Mijic, Michael Parzer, Maria Pohn-Lauggas, Christoph Reinprecht, Maria Schlechter, Veronika Wöhrer, Irene Rieder, Camilo Molina und Brigitte Schels. Die Datenerhebung wurde von Jörg Flecker, Andrea Jesser und Veronika Wöhrer (Welle 1), Susanne Vogl und Ulrike Zartler (Welle 2) sowie Yuri Kazepov, Christoph Reinprecht und Veronika Wöhrer (Welle 3) geleitet. Ein besonderer Dank gilt André Schmidt und Barbara Mataloni, die bei der Organisation der Feldarbeit in Welle 1 und 2 geholfen haben, sowie Teresa Petrik in Welle 3. 3 In Welle 3 wurden in Summe 27 Jugendliche interviewt, es gab hier jedoch einen Fall, der in Welle 2 nicht an der Datenerhebung partizipiert hatte.

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– neue bzw. weitere Fälle also keine zusätzliche, theoretisch relevante Erkenntnis mehr bringen (vgl. Flick 2018; Strübing 2021). So wurden insgesamt acht Mädchen und sechs Buben als Einzelfälle analysiert. Die Logik von qualitativen Längsschnittanalyse besteht generell darin, fall-, themen- und zeitübergreifend zu arbeiten, um komplexe Überschneidungen zu erkennen (vgl. Vogl et al. 2018). Der iterative Analyseprozess ist multidimensional und umfasst mehrere Lesarten der Daten (vgl. Neale 2019). Daher kombinierten wir zwei analytische Ansätze: Zum einen wurden die Transkripte in MAXQDA thematisch kodiert. Diese induktiven Codes stellten manifeste Inhalte zu den Orientierungsprozessen der Jugendlichen dar und ermöglichten einen Vergleich zwischen Wellen und ebenso zwischen Fällen. Diese thematische Analyse wurde durch eine diachrone, prozessuale Fallanalyse ergänzt. Das InBeziehung-Setzen von retrospektiven und prospektiven Beschreibungen, Argumenten und Erzählungen über Wellen hinweg führt zu einer Prozessorientierung und zeigt, wie und warum sich Biografien in welche Richtung bzw. mit welchem Muster entwickeln (vgl. Neale 2021). Zum anderen nutzten wir den konstanten Vergleich und das Kodierungsparadigma der Grounded Theory Methodologie (vgl. Flick 2018; Strübing 2021), um ein kausales Verständnis hinter Transitionsprozessen zu entwickeln und Verlaufsmuster zu identifizieren. Auf der Grundlage dieser Analyseschritte entwickelten wir Idealtypen von Verlaufsmustern von BBOs, indem wir Fälle kontrastiert und die Ergebnisse auf eine abstraktere, theoretische Ebene gestellt haben (vgl. Burns 2015). Qualitative Typologien sind immer das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses: Nachdem in der Analyse Dimensionen für den Vergleich identifiziert werden, werden die Fälle zu Typen gruppiert, so dass sie innerhalb eines Typs so homogen wie möglich und zwischen den Typen so heterogen wie möglich sind (vgl. Kelle und Kluge 2010).

4.

Typologie der Verlaufsmuster von Bildungs- und Berufsorientierungen junger Menschen am Übergang

Auf Grundlage des beschriebenen Analysevorgehens wurde eine Typologie der Orientierungsprozesse junger Menschen am Übergang mit insgesamt vier Typen identifiziert. Diese Typen unterscheiden sich aufgrund Verlaufsmuster der verschiedenen BBOs, die unterschiedliche Entwicklungen und Grade an Konkretheit und Stabilität aufweisen. Im folgenden Abschnitt beschreiben wir diese vier Typen an Verlaufsmustern, die als »konstant«, »zunehmend instabile und unkonkrete«, »zunehmend konkrete« und »diffuse« Verläufe bezeichnet wurden. Anhand sozialer Faktoren (z. B. Familie und Peer-Gruppe), der Selbstwahrneh-

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mung (einschließlich des Konzepts der Selbstwirksamkeit) und der Strategien bei der Gestaltung des Übergangs sowie der Verlaufsmuster können die Unterschiede zwischen den Typen nachgezeichnet werden. Wir kategorisieren dabei die Verläufe und Entwicklung der BBOs bewusst nicht als gescheitert oder erfolgreich, außer die Jugendlichen beschreiben ihre Erfahrungen ausdrücklich selbst mit diesen Begriffen. Des Weiteren zeigen wir keine Fallstudien einzelner junger Menschen auf, sondern stellen Muster von Verläufen am Übergang vor und binden nur exemplarisch einzelne Aussagen Jugendlicher mit ein.

(1)

Konstanter Verlauf: stabile Berufs- und Bildungsorientierungen

Der konstante Verlauf zeichnet sich durch stabile Berufs- und Bildungsorientierungen über den gesamten Dreijahreszeitraum aus. Jugendliche mit einem solchen Verlaufsmuster haben bereits ab Welle 1 klare Vorstellungen von ihrem zukünftigen Beruf. Im Laufe der Zeit werden ihre Pläne noch konkreter und differenzierter. Diese jungen Menschen sind zielstrebig, ergreifen die Initiative und erkundigen sich eigenständig nach weiterführenden Schulen, die zu ihrem Traumjob führen können. Sie wählen eine Schule aus, die ihren Orientierungen entspricht. Auf diese Weise sind ihre BBOs auf ihre Fähigkeiten und Interessen abgestimmt. Sie zeigen Eigeninitiative, stellen sich potenziellen Herausforderungen und finden Lösungen. Außerdem legen sie großen Wert auf Bildung und Allgemeinwissen und haben ein umfassendes Verständnis des österreichischen Bildungssystems. In der Regel sind sie sehr gut in der Schule; wenn ihre Noten nicht zufriedenstellend sind, arbeiten sie entschlossen daran, sich zu verbessern. Sie eignen sich auch selbstständig abseits des Schulunterrichts Fachwissen an, indem sie z. B. in ihrer Freizeit an (Online- oder Offline-)Schulungen und Weiterbildungsmöglichkeiten teilnehmen. »Und ja und ich hoff, es gibt noch mehr so Kurse in Zukunft, weil das hat echt Spaß gemacht. Und da lernt man halt auch wirklich was, was einem weiter bringt dann auch in Zukunft.« (Fabian Lissauer4_Welle 3, 83–83)

Die Zielstrebigkeit scheint unabhängig von der Höhe des angestrebten Bildungsabschlusses oder des beruflichen Status zu sein – einige Jugendliche, deren BBOs diesem Idealtypus zugeordnet werden können, streben einen Hochschulabschluss, andere eine Lehre an – und die Entwicklung der BBOs verläuft geradlinig über den untersuchten Zeitraum hinweg (siehe Abbildung 1).

4 Alle Namen sind pseudonymisiert.

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Aspira#on

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Orien#erungsprozess Abbildung 1: Verlaufsmuster »konstant«5

Diese Jugendlichen sehen viele Möglichkeiten für ihre Zukunft, haben ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit und ihr Selbstwertgefühl wächst mit der Zeit. Sie kommen ihren Zielen durch eigene Anstrengungen näher, was sie stolz, selbstbewusst und optimistisch macht. Im Allgemeinen zeigen sie ein hohes Maß an Reflexion und denken auch über etwaige Hindernisse und generelle beruflichen Möglichkeiten nach. Familienmitglieder, allen voran Eltern und Großeltern, sind besonders wichtig für die Entwicklung der BBOs der Jugendlichen. Obwohl die Eltern keine eindeutigen beruflichen Präferenzen bzw. konkrete Berufsvorstellungen für ihre Kinder äußern, unterstützen und bestärken sie ihre Kinder in deren Bestrebungen und Autonomie. Jugendliche mit konstantem BBO-Prozess schätzen die Meinung ihrer Eltern und diskutieren mit ihnen über den künftigen schulischen oder beruflichen Weg. Sie haben das Gefühl, dass ihre Eltern ihnen vertrauen und ihnen Raum geben, ihren eigenen Weg zu finden. Außerdem erhalten sie von ihrer Familie instrumentelle und emotionale Unterstützung, die ihr Selbstvertrauen stärkt. Stabile Strukturen sind diesen Jugendlichen wichtig und helfen ihnen dabei, ihre Ziele zu verfolgen. Zudem äußern sich ihre Entschlossenheit und ihre klaren Vorstellungen darin, dass sie im Gegensatz zu anderen lieber über die (berufliche und schulische) Zukunft als über die Vergangenheit sprechen. »Könnten wir jetzt bitte über die Zukunft reden (…). Weil ich mag nicht mehr so viel über die Vergangenheit reden.« (Lena Fischer_Welle 1, 248–250)

Ihre Freund_innen sind ähnlich selbstbewusst, verfolgen ähnliche Bildungsziele und unterstützen sich gegenseitig in ihrem Orientierungsprozess. Allerdings distanzieren sich Jugendliche mit zielstrebigem, konstantem BBO von jenen 5 Die Darstellung der BBOs als gerade Linie ist natürlich eine Vereinfachung. Der Prozess könnte viele Mikrozyklen und kleinere Wendepunkte beinhalten, aber die Gesamtkurve verläuft eindeutig in eine bestimmte Richtung.

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Freund_innen oder Familienmitgliedern, die in ihrem beruflichen Weg gescheitert sind, und unterstreichen die Unterschiede zwischen sich selbst und solchen Personen: »Weil ich n sehr (-) breit gefächertes Allgemeinwissen habe und ich mich mit sehr tiefgründigen Sachen befasse, mit denen sich die meisten in meinem Alter noch nicht befassen.« (Lena Fischer_Welle 2, 277–283)

Stabile berufliche Ziele und konkret angestrebte Bildungswege der Jugendlichen stehen im Gegensatz zu Wandel in anderen Lebensbereichen, wie Freundschaften und Freizeitaktivitäten. Flexibilität und Spontanität außerhalb von Schule und Beruf sind diesen Jugendlichen persönlich wichtig, um den geradlinigen Plan und Verlauf ihres beruflichen Weges zu kompensieren.

(2)

Zunehmend instabiler und unkonkreter Verlauf: Bildungs- und Berufsorientierungen werden immer vager

Bei dem Typ »zunehmend instabiler und unkonkreter« Verlauf scheinen junge Menschen anfänglich zu wissen, was sie schulisch oder beruflich in Zukunft machen wollen: Sie beenden die NMS in Welle 1 mit einer bestehenden Berufsvorstellung – auch wenn diese nicht genau definiert sein muss – und sind optimistisch, ihre Wünsche in den nächsten Jahren zu konkretisieren. Im Laufe der Zeit stoßen diese Jugendlichen aber auf strukturelle Hürden, scheitern im Bildungssystem und müssen sich neu orientieren. Ihre Bildungs- und Berufswünsche werden unkonkreter und gleichzeitig instabiler. Jugendliche, deren BBOs zunehmend instabiler und unkonkreter werden, passen ihre Ambitionen an, was häufig eine Umorientierung auf andere und manchmal weniger prestigeträchtige Berufsfelder als die ursprünglich angestrebten bedeutet. Im Zeitverlauf kennzeichnen sinkende schulische Anstrengungen, das Gefühl des Scheiterns sowie vage und wechselnde Aspirationen diesen Typ. Abbildung 2 symbolisiert graphisch den Wandel der BBOs in Konkretheit und die zunehmende Instabilität des Orientierungsprozesses.

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Aspira#on

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Orien#erungsprozess Abbildung 2: Verlaufsmuster »zunehmend instabil und unkonkret«6

Weil Bildungsaspirationen nicht umgesetzt werden können ( jedenfalls nicht im untersuchten Drei-Jahres-Zeitraum), werden auch die beruflichen Orientierungen unbeständiger. Beispielsweise wird zunächst konkret von einem Berufswunsch (z. B. Mechaniker_in) berichtet. Dieser Wunsch wird im Laufe der Zeit vager (z. B. eine handwerkliche Lehre bis hin zu irgendeiner Lehre). Jugendliche mit einem solchen BBO-Verlaufsmuster wissen wenig über das Schulsystem bzw. institutionelle Möglichkeiten, wie sie neue oder alternative Ziele erreichen könnten. Mit der Zeit steigen daher Selbstzweifel, die zu Resignation und Untätigkeit führen können: »Weil es wär eigentlich Zeitverschwendung, wenn ich jetzt noch ein Jahr machen würde (-) weil ich weiß, wenn ich dieses Jahr schaffe, schaff ich das nächste ganz sicher nicht.« (Silviu Mutu_Welle 2, 212–212)

Nicht nur die BBOs, sondern auch die Einstellungen dieser jungen Menschen wandeln sich im Laufe der Zeit. Optimistische und konkrete Pläne für Bildung und Beruf wandeln sich in zunehmende Orientierungslosigkeit und Resignation. Diese Jugendlichen sehen keine weiteren Wahlmöglichkeiten mehr und haben das Gefühl, handlungsunfähig zu werden. Sie machen Dritte oder das Bildungssystem für ihre Misserfolge verantwortlich. Beispielsweise werden verpasste Fristen für eine Aufnahme in einer weiterführenden Schule auf mangelnde Unterstützung durch Eltern oder Lehrende zurückgeführt. Tatsächlich scheinen familiale und institutionelle Unterstützungen im Leben dieser Jugendlichen eher zu fehlen, was zur Folge hat, dass sie nicht mit ihren Eltern oder Freund_innen über ihre BBOs sprechen möchten. Die Situation ist in ihren Augen ungerecht, aber unveränderlich. Daher scheint eine Suche nach Unterstützungen und Informationen über andere Ausbildungsmöglichkeiten in ihren Augen irrelevant. Im Laufe der drei Jahre verlieren daher das Bildungssystem und der schulische 6 Die Darstellung der BBOs ist symbolisch zu verstehen, indem Schleifen ein »sich im Kreis Drehen« in Bezug auf Orientierungsprozesse bedeuten und ebenso Transformationen der Orientierungen aufgreifen.

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Erfolg subjektiv an Wert und werden vermehrt als Zeitverschwendung empfunden. Diese jungen Menschen geben ihre Träume immer mehr auf und scheuen sich davor, neue zu formulieren. »So ich weiß nicht was erträumen kann ich im Moment grad noch nicht so irgendwie.« (Silviu Mutu_Welle 3, 310)

Weil Jugendliche, deren BBOs zunehmend instabil und unkonkret verlaufen, keine eigenen Ideen mehr konkretisieren, folgen sie pragmatisch den Vorschlägen anderer. Auf diese Weise können sie zumindest auf einen gewissen Zuspruch hoffen. Meist sind es zwar nicht die eigenen Eltern, die konkrete Ratschläge formulieren, obwohl diese ihre Kinder durchaus unter Druck setzen, sich so schnell wie möglich für etwas zu entscheiden und Geld zu verdienen. Die Freundschaften dieser Jugendlicher sind im Gegensatz zu ihren BBOs langanhaltend und stabil und die Freund_innen haben ähnliche (Bildungs-)Biografien, Einstellungen und Verhaltensweisen in Bezug auf Arbeit und Schule: Sie haben entweder keine konkrete Orientierung, sind generell desinteressiert an ihrer beruflichen Zukunft oder haben Ziele, die mit ihrer persönlichen Ausgangslage schwer zu erreichen sind.

(3)

Zunehmend konkreter Verlauf: Vage Bildungs- und Berufsorientierungen wandeln sich zu einem konkreten Weg

Jugendliche, die in Welle 1 unklare oder gar keine Pläne haben, aber im Laufe der Zeit immer konkretere Bildungs- oder Berufsorientierungen formulieren, weisen ein zunehmend konkretes Verlaufsmuster des Berufs- und Bildungsorientierungsprozesses auf. Schulische und berufliche Pläne entwickeln sich schrittweise zu stabilen Orientierungen: In Welle 1 befinden sich die Jugendlichen in einer Orientierungs- und Findungsphase; sie wissen beispielsweise nur, dass sie eine weiterführende Schule besuchen möchten, haben aber (noch) keine eindeutige berufliche Aspiration oder sie wissen, dass sie nicht mehr zur Schule gehen möchten, formulieren aber keine Vorstellungen von einer konkreten beruflichen Tätigkeit. Zunächst scheinen diese Jugendlichen von den Wahlmöglichkeiten überfordert, Schritt für Schritt sehen sie dann das Positive an Wahlmöglichkeiten und an der Flexibilität im Handeln. Mit der Zeit konkretisieren sie ihre (Bildungs-)Aspirationen und stellen sich den Herausforderungen, um die Aspiration umzusetzen. Ihre Orientierungsprozesse werden mit der Zeit konkreter und stabiler (siehe Abbildung 3).

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Aspira#on

Bildungs- und Berufsorientierungen Jugendlicher

Orien#erungsprozess Abbildung 3: Verlaufsmuster »zunehmend konkreter«

Generell scheint der Wert von Bildung und Arbeit bei Jugendlichen dieses Typs am Beginn der Datenerhebung im Alter von 14 Jahren (noch) unklar zu sein, was eine Erklärung dafür sein kann, warum sie mit der Optionenvielfalt überfordert scheinen. Wenn Jugendliche im Laufe der Zeit Bestätigung und Zuspruch erhalten, gewinnen sie nicht nur an Selbstvertrauen, sondern setzen sich Zwischenziele (z. B. einen Schulabschluss), auch wenn das endgültige Ziel vielleicht noch unklar scheint. So hangeln sie sich Schritt für Schritt voran und haben das Gefühl von Handlungsfähigkeit. »Es hat sich jedes Jahr irgendwie bei mir geändert. Es ist immer anders gek- (/) ich weiß nicht wie ich das genau sa- (/) (schluckt) ich wollte (schluckt) (/) also ich will auf jeden Fall Matura haben (/) also Matura machen.« (Fahiimo Dalmar_Welle 3, 78)

Durch das Setzen von Zwischenzielen bahnen sich diese Jugendlichen einen Weg durch die Optionenvielfalt, lassen sich aber auch bewusst manche Möglichkeiten offen. »Weil mich interessiert sehr vieles, aber ich kann mich für nix entscheiden. Manchmal denk ich mir es gibt zu viel Auswahl manchmal denk ich mir es gibt zu wenig.« (Alexander Stankovic_Welle 1, 40f.)

Trotz zunächst verzeichneter Passivität und einem Entscheidungsunwillen, bleiben Jugendliche mit sich konkretisierenden Verläufen dadurch auch anpassungsfähig. Im Zeitverlauf werden ihre Orientierungen klarer definiert – das Selbstwertgefühl wächst mit ihrer Entscheidungsfähigkeit und durch ihre Anpassungsfähigkeit. Nach eigenen Angaben kommen diese Jugendlichen gut mit Veränderungen und neuen Herausforderungen zurecht. So finden sie sich nach der NMS Schritt für Schritt in einer neuen Schule oder an einem neuen Arbeitsplatz zurecht, passen sich an neue Lern- und Unterrichtsformen oder neue Ausbildende an. Sie ergreifen zunehmend mehr Initiative, und ihre Ambitionen wachsen – sie wollen ihre Zukunft selbst gestalten und glauben an sich.

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Durch das steigende Selbstvertrauen werden sie optimistischer, probieren verschiedene Möglichkeiten in einem Arbeitsumfeld aus und versuchen ihren eigenen Weg zu gehen. Austausch und Kommunikation über Bildungs- und berufliche Wege spielen in ihrem sozialen Umfeld dennoch eine untergeordnete Rolle. Ihre Freundschaftsnetzwerk verändert sich stetig, weil Beziehungen an die jeweilige Lebenssituation angepasst werden: Bei einem Schul- oder Arbeitsplatzwechsel finden sie neue Freund_innen. Im Allgemeinen haben Eltern nach Aussagen aufstrebender Jugendliche zwar hohe Erwartungen an sie, formulieren aber keine konkreten Berufspläne und drängen sie auch nicht gezielt in eine Richtung. Eltern dieser Jugendlichen unterstützen ihre Kinder jedenfalls emotional und glauben an ihre Fähigkeiten sowie daran, dass sie ihren eigenen Weg finden.

(4)

Diffuser Verlauf: keine konkreten Bildungs- und Berufsorientierungen

Aspira#on

Der letzte Idealtyp beschreibt jene Verläufe, bei denen Jugendliche ohne konkrete BBOs auch im Zeitverlauf einen diffusen Orientierungsprozess aufweisen. Diese Jugendlichen wissen nicht, was sie tun wollen oder sollen. Außerdem sind sie sich meist keiner Talente oder Interessen bewusst, die zu einem bestimmten Berufsbild führen könnten. Das verunsichert sie auch in Bezug auf ihre berufliche Zukunft sehr. Ihre Ideen sind zu unspezifisch, um weiterverfolgt zu werden, und sie verwerfen sie im Zeitverlauf. Lieber passen sie sich den Vorschlägen Dritter an. Auch wenn sie manchmal zaghafte Präferenzen formulieren, wissen sie nicht, wie sie diese erreichen können, was auch an mangelndem Wissen über Bildungsmöglichkeiten und die Arbeitswelt im Allgemeinen liegt. Abbildung 4 symbolisiert diesen instabilen und diffusen Orientierungsprozess über die drei Jahre.

Orien#erungsprozess Abbildung 4: Verlaufsmuster »diffus«

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Obwohl Jugendliche mit diffusem Verlaufsmuster generell den Wert von Bildung erkennen, unternehmen sie nichts, um eine höhere Bildung zu erreichen oder Pläne zu konkretisieren. In der Schule stehen sie außerdem vermehrt unter Druck: Ihre Noten werden schlechter, sie müssen (möglicherweise) die Schule wechseln oder eine Klasse wiederholen. Jugendliche dieses Typs wollen diese Schwierigkeiten zwar bewältigen, bleiben aber untätig und passiv. In Verbindung mit dem institutionellen Handlungsdruck führt dies zur Stagnation. Diese Jugendlichen handeln nur, wenn die Umstände sie dazu zwingen, aber selbst dann wählen sie den Weg des geringsten Widerstands. Diese Jugendlichen versuchen den unklaren und instabilen Orientierungsprozess vor sich selbst und anderen zu verbergen. Sie betonen immer wieder, dass es »keine Probleme gibt« (Adarsh Suresh_Welle 2, 24, 144). Ein Eindruck des Versagens oder Nicht-Wissens soll um jeden Preis verhindert werden, weswegen sie lieber untätig bleiben, als andere (vor allem ihre Eltern) zu enttäuschen. Ihre Eltern haben durchwegs hohe Erwartungen, aber dieser Druck führt nicht zu vermehrten Anstrengungen oder einem klaren Plan. Wenn diese Jugendlichen konkrete Aspirationen erwähnen, haben sie die Vorstellungen ihrer Eltern als eigene mögliche Zukunftsperspektive übernommen, vermischen dabei jedoch Bildungs- und Berufswege und scheinen sehr uninformiert: »Also nur eigentlich bisher also bis zur Uni, nach der Uni, ähmm, vielleicht so halt Lehre machen vielleicht, vielleicht Lehre oder arbeiten. Ja, mit Matura, ähm sagt immer meine Mutter halt, wenn man Matura hat, verdient man ein bisschen mehr, und ja ich werde in diesen kompletten Bereichen arbeiten.« (Adarsh Suresh_Welle 1, 138)

Freundschaften sind für diese Jugendlichen subjektiv nicht wichtig und wandeln sich im Laufe der Jahre. Ein Mangel an instrumenteller Unterstützung durch die Familie zeigt sich darin, dass z. B. schlechte Noten nicht durch Nachhilfe aufgefangen werden. Jugendliche, deren Orientierungsprozess eher diffus bleibt, weichen in allen drei Wellen Fragen nach ihren beruflichen Plänen aus, was ihre Unsicherheit in Bezug auf ihre Zukunft verdeutlicht. Ihr subjektiver Möglichkeitsraum bleibt ebenso vage wie ihre Aspirationen und sie scheinen im Orientierungsprozess verloren. Unsicherheit und mangelnde Handlungsfähigkeit, wachsende Selbstzweifel und konstant niedrige Selbstwirksamkeit sind – auch über die Zeit hinweg – charakteristisch.

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5.

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Verlaufsmuster der Bildungs- und Berufsorientierungen im Überblick

Wie erleben Jugendliche ihre Übergänge am Ende der NMS und welche Verlaufsmuster in Bezug auf ihre BBOs zeigen sich in den folgenden drei Jahren? Die vier identifizierten Verlaufsmuster können als idealtypische Orientierungsprozesse verstanden werden. Relevante Kategorien für die Verlaufsmuster abseits konkreter bzw. vager BBOs sind der subjektive Möglichkeitsraum der Jugendlichen, ihre Selbstwahrnehmung und Selbstwirksamkeit sowie ihre Handlungsstrategien. Die Längsschnittperspektive der Analyse unterstützt dabei, einen etwaigen Wandel der BBOs fassbar zu machen. Tabelle 1 fasst die Ergebnisse nochmals zusammen, bevor die Verlaufsmuster übergreifend diskutiert werden: Tabelle 1: Typen von Verlaufsmustern jugendlicher Bildungs- und Berufsorientierungen Konstanter Verlauf »Ich erreiche meine Ziele.« berufliche Orientierung

konkret und stabil

schulische Orientierung und Bildungsweg

klar und wird konstant verfolgt

subjektiver Möglichkeitsraum

konstant großer Möglichkeitsraum mit klaren Zielen

Selbstwirksam- hohe Selbstkeit und Selbst- wirksamkeit bild und steigendes Selbstwertgefühl; optimistisch und entschlossen Handlungsstrategien

stetig aktives und selbstständiges Handeln

Zunehmend instabiler und unkonkreter Verlauf »Ich werde es nicht schaffen.« zunehmend vage und instabil wandelt sich und wird diffuser schrumpfender Möglichkeitsraum, da Optionen wegbrechen niedrige Selbstwirksamkeit und abnehmendes Selbstwertgefühl; Minderwertigkeitsgefühle und Selbstausgrenzung zunehmend verzögertes und pragmatisches Handeln

Zunehmend konkreter Verlauf

Diffuser Verlauf

zunehmend konkreter und stabiler

konstant vage und instabil

wandelt sich und wird zunehmend verfolgt durchgängig vager Möglichkeitsraum, der größer wird

unklar und permanent sich wandelnd

»Ich weiß nicht, auf was ich »Ich werde es mich konzenmal versuchen.« trieren soll.«

wachsendes Selbstwertgefühl nach anfänglicher Überforderung; anpassungsfähig, belastbar und entscheidungsfreudig zunehmend aktives und flexibles Handeln

konstant unklarer und wenig definierter Möglichkeitsraum zunehmende Selbstzweifel und geringes Selbstwertgefühl; überfordert und unsicher Stagnation und keine Strategien

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(Fortsetzung) Konstanter Verlauf »Ich erreiche meine Ziele.«

Zunehmend instabiler und unkonkreter Verlauf

»Ich werde es nicht schaffen.« Familiale Uninstrumentelle keine instruterstützung und und emotionale mentelle UnErwartung Unterstützung; terstützung; unklare Erwar- hohe, anhaltentungen de Erwartungen und Druck Freundschaften intensiv, aber stark und stabil; wechselnd; aber kontraebenso zielstre- produktiv für big und unter- den Orientierungsprozess stützend

Zunehmend konkreter Verlauf

Diffuser Verlauf

»Ich weiß nicht, auf was ich mich konzen»Ich werde es mal versuchen.« trieren soll.« emotionale Unterstützung; hohe, aber vage Erwartungen

weder instrumentelle noch emotionale Unterstützung; keine oder hohe Erwartungen wichtig, aber unbeständig wechselnd; und wechselnd; spielen keine spielen keine Rolle im Orien- Rolle im Orientierungsprozess tierungsprozess

Vergleicht man nun die Typen, so lassen sich zwei grundlegende Verlaufsmuster erkennen: Verlaufskurven (trajectories) und Zyklen (cycles). Trajektoren beschreiben einen fortlaufenden Prozess bzw. eine stetige Fortsetzung der Orientierung im Zeitverlauf (vgl. Baur 2005, 2008; Abbott 2016). Sowohl der »konstante« als auch der »diffuse« Verlauf repräsentieren ein solches Muster: Während beim ersten Typ kontinuierlich auf Bildungs- und Berufsziele hingearbeitet wird, fehlt beim zweiten stets ein klares Ziel. Die Orientierungsprozesse weisen demnach zwar Konstanz in Berufs- und Bildungsorientierungen im untersuchten Drei-Jahres-Zeitraumes auf, aber inhaltlich sind sie gänzlich gegensätzlich: konsequent klare BBOs vs. konsequent vage bzw. nicht vorhandene BBOs. Im Gegensatz dazu weisen die Verlaufsmuster »zunehmend konkret« und »zunehmend instabil und unkonkret« einen zyklischen Charakter auf: Der Orientierungsprozess dieser Wandlungstypen lässt sich als Spirale beschreiben, allerdings in entgegengesetzte Richtungen: Der zunehmend konkrete Orientierungsprozess beginnt breit und vage, wird aber mit der Zeit konkreter und eindeutiger – die Spirale spitzt sich zu. Im Gegensatz dazu zeichnet sich der zunehmend instabile und unkonkrete Orientierungsprozess zunächst durch eine konkrete Vorstellung aus, die aber unerreichbar bleibt, was zunehmend zu Resignation und Desorientierung führt: Die BBOs werden undefinierter und diffuser, d. h. die »Orientierungsspirale« wird breiter. Ausgehend von diesen Verlaufsmustern zeigen sich charakteristische Differenzen: Kontrastierend sind der subjektive Möglichkeitsraum, der die Entscheidungen und Ziele der jungen Menschen rahmt, die Handlungsstrategien und die Selbstwahrnehmung der Jugendlichen. Jugendliche mit konstantem

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BBO-Verlauf sind proaktiv und verfügen über einen durchgängig großen Möglichkeitsraum mit klaren Zielen und einem hohen Maß an Selbstwirksamkeit und steigendem Selbstwertgefühl. Hingegen ist der Möglichkeitsraum der Jugendlichen mit diffusen bzw. keinen Plänen durchwegs ungewiss und geht mit geringem Selbstwertgefühl und Unsicherheiten einher. Sie bleiben passiv und haben keine klaren Strategien. Ein schrumpfender Möglichkeitsraum, abnehmendes Selbstwertgefühl und Entmutigung kennzeichnen wiederum den Typ mit zunehmend unstabilem und unkonkretem Verlauf. Geringe Selbstwirksamkeit führt zu verzögertem Handeln und Entscheidungen werden nur pragmatisch getroffen, weil strukturelle Zwänge es erfordern. Es scheint auch eine Strategie zu sein, Aspirationen oder auch generelle BBOs zunehmend vage zu halten, um ein (weiteres) Scheitern zu vermeiden. In der Literatur findet man hierzu korrespondierend den Begriff des Cooling-out (vgl. Solga 2005). Cooling-out beschreibt eine Selbstselektion in Folge von Misserfolgserfahrung und Diskreditierung und der Antizipation von Chancenlosigkeit, aber auch Fremdselektion durch institutionelle Beschränkungen des Zugangs im (Aus-)Bildungssystem (vgl. Granato 2013). Im Gegensatz dazu sind Jugendliche mit zunehmend konkreten BBOs belastbar, anpassungsfähig und verfügen über einen wachsenden subjektiven Möglichkeitsraum und ein steigendes Selbstwertgefühl. Die Relevanz des sozialen Kontextes, insbesondere der Familie, spielt eine wichtige Rolle für die Ausgestaltung des Orientierungsprozesses: Familiäre Erwartungen sowie instrumentelle und emotionale Unterstützungsleistungen sind hierbei wichtige Faktoren (vgl. Zartler et al. 2020). So können hohe Erwartungshaltungen, gepaart mit wenigen Unterstützungsleistungen, enormen Druck auf die Jugendlichen ausüben, was beispielsweise bei jenen mit zunehmend instabilem und unkonkretem Verlauf der Fall ist. Eltern von Jugendlichen mit immer konkreteren Vorstellungen und Plänen haben ebenfalls hohe Erwartungen, bieten aber emotionale (und bedingungslose) Unterstützung. Bei zielstrebigen Jugendlichen stabilisieren umfassende Unterstützungsleistungen ihren konstanten Orientierungsprozess. Den Jugendlichen mit diffusen Orientierungsprozessen fehlt es gänzlich an Unterstützungen des sozialen Umfeldes.

6.

Diskussion und Fazit

Die vier Verlaufsmuster der BBOs junger Menschen am Ende der NMS repräsentieren unterschiedliche Entwicklungen: einerseits einen stetigen Prozess und andererseits Zyklen mit einem wiederkehrenden Muster. In der Übergangsphase müssen sich Jugendliche für eine weitere Schul- oder Berufsausbildung entscheiden. Sie reagieren auf die Herausforderungen des Übergangs mit unterschiedlichen Strategien und ihre Orientierungen und Aspirationen verändern

Bildungs- und Berufsorientierungen Jugendlicher

75

sich dynamisch. Sowohl Unsicherheiten als auch Wahlmöglichkeiten können einerseits zur Konkretisierung der Pläne oder auch zu zunehmender Überforderung führen, immer auch durch den sozialen und strukturellen Kontext gerahmt (vgl. Schoon und Lyons-Amos 2016: 13). Verlaufsmuster zeigen die Komplexität und Vielfalt von Orientierungsprozessen am Übergang jenseits von Erfolg und Misserfolg auf. Im Gegensatz zu anderen Studien konzentrierte sich diese Analyse nicht auf den Erfolg oder Misserfolg am Übergang oder die Höhe der Aspirationen (vgl. Bradley und Devadason 2008; Walther 2009; Stauber und Walther 2013). Nicht die Einschätzung ihres Werdegangs als gelungen oder problematisch, sondern das subjektive Erleben von persönlichen Wandlungsprozessen (vgl. Thomson et al. 2002) verdeutlicht, wie die Selbstwahrnehmung, der subjektive Möglichkeitsraum und (sich möglicherweise ändernde) Einstellungen und Strategien als zentrale Dimensionen bei der Entwicklung beruflicher und schulischer Orientierungen wirksam werden. Andere Typologien zu Übergängen von der Schule in den Beruf beruhen meist auf Querschnittsdaten und können Entwicklungen nur unzureichend verfolgen (vgl. Evans 2002; Sackmann und Wingens 2003; Dorsett und Lucchino 2014). In jüngster Zeit betonen aber reflexive Übergangs- und Doing-Transition-Ansätze die subjektiven, diskursiven Praktiken und damit einhergehenden Konfigurationen (vgl. Bridges 2004; Cuconato und Walther 2015; Wanka et al. 2020). Hier wird auch das Potenzial qualitativer Längsschnittdesigns zur Erforschung der interaktiven und dynamischen Prozesse von Übergängen erkannt. Die in diesem Beitrag identifizierten Verlaufsmuster veranschaulichen den Mehrwert einer qualitativen Längsschnittanalyse: Sie zeigen, wie junge Menschen Übergänge – und nicht nur singuläre Ereignisse – bewältigen. Je nach Zeithorizont der Analyse kann ein und dasselbe Muster jedoch unterschiedliche Formen annehmen (vgl. Baur 2005, 2008). So kann ein Verlaufsmuster beispielsweise zehn Jahre lang stabil sein, aber ein Wendepunkt im elften Jahr könnte dazu führen, dass der Verlauf zyklisch wird. Je nach Zeitpunkt einer Studie und dem erfassten Ausschnitt der Analyse des Prozesses können unterschiedliche Erkenntnisse gewonnen werden. Dies verweist auf die Zeitgebundenheit sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. Die hier dargestellten Ergebnisse umfassen drei Erhebungswellen, weswegen wir nichts über die zukünftigen Bildungs- und Berufswege dieser Jugendlichen sagen können. Es könnte Jo-Jo-Bewegungen geben (vgl. Biggart und Walther 2016), die als fragmentierte Übergänge betrachtet werden und reversibel sind, da einzelne Schritte wieder zurückgenommen werden können (vgl. Walther 2009: 123). Trotz individualisierter Lebensläufe zeigen die vorliegenden Ergebnisse allgemeinere Verlaufsmuster am Übergang junger Menschen nach der NMS in Wien. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie sich BBOs in der Übergangsphase

76

Raphaela Kogler / Susanne Vogl / Franz Astleithner

entwickeln. Vor allem etwaige negative Folgen diffuser Prozesse für die Selbstwahrnehmung und die Handlungsfähigkeit junger Menschen wurden offensichtlich. Daher könnte ein Appell für mehr institutionelle Beratungsmöglichkeiten und spätere Entscheidungszeitpunkte einigen dieser Jugendliche helfen, ihre beruflichen und schulischen Wege zu finden.

7.

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Ona Valls / Jörg Flecker

Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf: Wer profitiert von der Durchlässigkeit des Bildungssystems?

1.

Einleitung

Die frühe Aufteilung der Schüler_innen auf Bildungspfade – wie Gymnasium oder NMS – und die Mehrgliedrigkeit der Sekundarstufe I erhöhen die Bildungsungleichheit und befördern die »Vererbung« der Bildung. Diese Zusammenhänge wurden vielfach untersucht. Hingegen blieb die Durchlässigkeit des Schulsystems (Kerckhoff 2001) oder die Mobilität zwischen Bildungspfaden (Crul 2013) aufgrund eines Mangels an Daten (Baysu et al. 2018) wenig analysiert. Insofern Studien zeigen, dass die frühe Aufteilung der Schüler_innen soziale Ungleichheit verstärkt, ist aber von hohem Interesse, ob die Möglichkeiten zum Wechsel der Bildungspfade in der unteren und oberen Sekundarstufe die Chancen auf einen Bildungsaufstieg für benachteiligte junge Menschen erhöhen können. Der Übergang nach der Pflichtschulzeit ist einer der kritischsten Punkte des gesamten Bildungssystems. Österreich weist zwar eine frühe Aufteilung und ein gegliedertes Schulsystem auf (Raffe 2003), ermöglicht aber den Wechsel zwischen Bildungspfaden wie auch Wiederholungen von Klassen. Nach der vierjährigen Volksschule werden Kinder im Alter von 10 Jahren auf die beiden Wege der Sekundarstufe I aufgeteilt: NMS oder allgemeinbildende Schule. In der neunten Schulstufe, am Ende der Schulpflicht, können die Schüler_innen zwischen verschiedenen Möglichkeiten der schulischen Bildung auf der Sekundarstufe II und der dualen Berufsausbildung wählen. Es ist an diesem Übergang also möglich, auch in eine maturaführende Schule, wie AHS oder BHS, zu wechseln, obwohl nach der Volksschule eine NMS und keine AHS besucht wurde. Offen bleibt, ob das die Folgen der frühen Aufteilung verringert, indem der nach der Volksschule eingeschlagene Bildungsweg korrigiert werden kann. Wir behandeln in diesem Beitrag für die Gruppe der NMS-Absolvent_innen in Wien die Forschungsfrage, ob die Bildungsungleichheit in einem Bildungssystem mit früher Aufteilung der Schüler_innen durch die Möglichkeiten zur Mobilität zwischen Bildungspfaden reduziert oder gesteigert wird. Es geht also darum, zu

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Ona Valls / Jörg Flecker

erfassen, inwiefern bildungsbenachteiligte Jugendliche, die nach der Volksschule eine unpassende Zuweisung in die NMS erfuhren, die späteren Umstiegsmöglichkeiten für einen Bildungsaufstieg nutzen können. Oder kann demgegenüber die Mobilität zwischen Bildungspfaden eher von Jugendlichen zur Korrektur ihres Bildungsweges genutzt werden, die eine privilegierte soziale Herkunft aufweisen? Im nächsten Abschnitt werden der theoretische Zugang und der Forschungsstand vorgestellt. Im Anschluss erfolgt in Abschnitt 3 eine Beschreibung der Auswertungsmethode. Im vierten Abschnitt dieses Kapitels finden sich die Ergebnisse der Analyse und im Anschluss daran folgen Zusammenfassung und Schlussfolgerungen.

2.

Reproduktion von Bildungsungleichheit

Die Auswirkungen der frühen Aufteilung der Schüler_innen in verschiedene Bildungspfade auf die soziale Ungleichheit wurden vielfach untersucht. Bei der komplexen Entscheidung für einen bestimmten Bildungsweg spielen die Aspirationen, Erwartungen und Ressourcen der Schüler_innen eine Rolle, woraus sich eine Verstärkung der Ungleichheit ergibt (Strello et al. 2021; Van de Werfhorst 2019). Daher können Übergänge im Bildungssystem soziale Ungleichheit verstärken. Zugleich ist der Zeitpunkt der Aufteilung entscheidend, denn je jünger die Kinder sind, umso mehr fallen die Klassenlage und das Bildungsniveau der Eltern ins Gewicht (Reichelt et al. 2019; Strello et al. 2021). Viele Studien zeigen, dass die frühe Aufteilung Schüler_innen aus benachteiligter sozialer Herkunft (Breen und Jonsson, 2005; Van De Werfhorst und Mijs, 2010) oder mit »Migrationshintergrund« (Borgna und Contini 2014; Baysu, Alanya und de Valk 2018) benachteiligt. Schüler_innen, die ihren Bildungsweg aus einer benachteiligten sozialen Position beginnen (Familien mit niedrigem Bildungsniveau und/ oder Migrationsgeschichte) haben weniger Zeit zur Verfügung, ihre Nachteile zu kompensieren (Hanushek und Woessmann 2006) und von der Heterogenität in der sozialen Zusammensetzung der Schulklassen zu profitieren (Reichelt et al. 2019). Nach Boudon (1974) hat die soziale Herkunft einen »primären« Effekt auf den Bildungsweg, insofern sozial begünstigte Schüler_innen aufgrund ihrer Ressourcen und Aspirationen im Durchschnitt einen besseren Bildungserfolg, also bessere Schulnoten und Aufstiegsmöglichkeiten, haben. Der »sekundäre« Effekt der Herkunft besteht darin, dass Schüler_innen aus sozial begünstigten Familien bei gleichem Schulerfolg eher in der Lage sind, ehrgeizigere Bildungswege zu beschreiten. Auch wenn man den Schulerfolg kontrolliert, ist daher die Wahrscheinlichkeit, dass ein_e Schüler_in mit begünstigtem sozialem Hintergrund den Schulbesuch fortsetzt und einen anspruchsvolleren Bildungsweg einschlägt,

Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf

81

höher als bei Schüler_innen mit benachteiligter sozialer Herkunft (Martínez García 2007). Neben dem primären und sekundären Herkunftseffekt spielt auch ein Kompositionseffekt eine Rolle, insofern sich die soziale Zusammensetzung der Klasse oder der Schule auf die weitere Schullaufbahn auswirkt (Bruneforth et al. 2012). Das Bildungssystem trägt insgesamt zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei, indem sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche einen außergewöhnlich guten Schulerfolg brauchen, um weiterführende Schulen besuchen zu können, aber »mangels kulturellem Kapital geringere Chancen haben als andere, einen außergewöhnlichen Schulerfolg zu erzielen« (Bourdieu 2018: 20), was Bourdieu als »Überauslese« bezeichnete. Es ist also nicht nur die Diskriminierung der Kinder und Jugendlichen aus benachteiligten Klassenlagen oder aus migrantischen Familien, welche die soziale Ungleichheit über die Bildungsungleichheit fortschreibt, sondern auch die »Gleichbehandlung Ungleicher« (Gomolla und Radtke 2009: 275). Zudem wird in der an Bourdieu orientierten Forschung die »Selbstexklusion« von Schüler_innen betont, die darin besteht, dass Schüler_innen ihre Aspirationen und Entscheidungen auf das beschränken, was ihnen aufgrund ihrer sozialen Position erreichbar erscheint (Bourdieu 1987: 735; Skrobanek und Jobst 2010). Österreich weist eine hohe und hartnäckige Bildungsungleichheit insbesondere nach Klassenlage auf (Bacher 2005; Bacher et al. 2012; Kittler 2011; Bruneforth et al. 2012; Herzog-Punzenberger 2017; Statistik Austria 2018). Im aktuellen Bildungsbericht heißt es dazu: »Weiterhin besteht […] ein – auch im internationalen Vergleich hoher – Zusammenhang zwischen familiärer Herkunft und Bildungserfolg […]. Zudem konnten […] erneut sekundäre Herkunftseffekte auf den Bildungsweg nachgewiesen werden, d. h., dass Schüler/innen unterschiedlicher sozialer Herkunft auch bei vergleichbarem Kompetenzstand in unterschiedlichem Ausmaß höhere formale Bildungswege verfolgen« (BMBWF 2021). Moosbrugger und Bacher (2018) zeigen, dass die Bildungsexpansion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst mit größeren Möglichkeiten zum intergenerationalen Bildungsaufstieg einherging. Doch dieser Zusammenhang gilt nicht mehr uneingeschränkt. Während Personen, deren Eltern nur einen Pflichtschulabschluss erreichten, im Zeitverlauf immer häufiger eine Lehre absolvierten, ist bei anderen Gruppen inzwischen intergenerationale Immobilität festzustellen. Dies gilt für Personen, deren Eltern einen Lehrabschluss haben, und für Nachkommen von Akademiker_innen. Moosbrugger und Bacher (2018) weisen nach, dass sich entsprechend zwei verfestigte Bildungsklassen herausbilden: eine auf Niveau der Lehre und eine auf Hochschulniveau. Die frühe Aufteilung von Schüler_innen auf unterschiedliche Bildungsgänge wirkt sich auch auf die Schulleistungen aus. Wie Vandenberge (2006) nachwies, ist die Variation zwischen den Schulen in den Ländern mit früher Trennung

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Ona Valls / Jörg Flecker

höher als in Ländern mit Gesamtschulen wie Finnland, Schweden, Dänemark oder Norwegen. Auch andere Studien zeigen in Ländern mit früher Trennung größere Unterschiede in der Schulleistung nach sozio-ökonomischer Position als in Ländern mit Gesamtschulen oder mit einer Aufteilung innerhalb von Schulen (Van De Werfhorst und Mijs 2010; Heisig und Solga 2015; Burger 2016; Triventi et al. 2016). Darüber hinaus haben Autor_innen Unterschiede nach dem »Migrationshintergrund« festgestellt, der sich auf die kürzere Zeit zurückführen lässt, die migrantischen Schüler_innen zur Verfügung steht, ihr schulisches Potenzial zu zeigen (Van de Werfhorst und Heath 2018). Die verschiedenen Bildungspfade unterscheiden sich auch hinsichtlich der Qualität der Lernumgebungen, wobei auf den »akademischen« Bildungspfaden die besten Bedingungen festgestellt wurden (Van de Werfhorst 2019). Entsprechend stark ist der Zusammenhang zwischen früher Aufteilung der Schüler_innen, unterschiedlichen Lernmöglichkeiten und sozialer Ungleichheit zwischen den Bildungspfaden (Schmidt et al. 2015). Wenn die verschiedenen Bildungspfade aber zu unterschiedlichen Bildungschancen und Stigmatisierung führen, dann ruft die Mehrgliedrigkeit größere Abstände in den Schulleistungen nach sozialer Herkunft hervor und belegt, dass sie nicht meritokratischen Prinzipien folgt (Strello et al. 2021). Studien haben zudem ergeben, dass die Schüler_innen auf den »niedrigeren« Bildungspfaden negative Einstellungen gegenüber der Schule, niedrigere Bildungserwartungen sowie stärkere Gefühle der Vergeblichkeit entwickeln (Lee 2014; Karlson 2015). Insgesamt verstärken also jene Bildungssysteme, die Schüler_innen in jungem Alter auf verschiedene Bildungsgänge aufteilen, die soziale Ungleichheit und die Wirkung des sozioökonomischen Status auf den Bildungserfolg (Breen und Jonsson 2005; Van De Werfhorst und Mijs 2010; Moosbrugger und Bacher 2018).

2.1

Die Durchlässigkeit des Bildungssystems: Mobilität zwischen Bildungspfaden

Wie bereits erwähnt erlauben es einige Bildungssysteme, an verschiedenen Punkten zwischen den Bildungspfaden zu wechseln, Bildungsziele auf indirektem Weg zu erreichen und zweite Chancen wahrzunehmen. Damit wäre es im Prinzip möglich, die Wirkungen der frühen Trennung zu kompensieren. Mehrere Studien untersuchten die Durchlässigkeit oder Mobilität zwischen den Bildungspfaden in Ländern wie Deutschland (Jacob and Tieben 2007; Schindler 2015; Biewen und Tapalaga 2017; Blossfeld 2018), den Niederlanden (Jacob and Tieben 2007) oder Luxemburg (Backes und Hadjar 2017). Das System der Trennung in Bildungsgänge in Westdeutschland gilt als rigid, insofern die Entscheidung für einen »akademischen« oder »nicht-akademi-

Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf

83

schen« Weg schwer zu revidieren ist (Buchholz und Schier 2015). In einer Studie zeigen Biewen und Tapalage (2017), dass ein bedeutender Anteil von Jugendlichen den Bildungspfad wechseln und zweite Chancen nützen. Sie weisen aber auch darauf hin, dass diese Wechsel ebenso von der sozialen Herkunft abhängig sind wie die ursprünglichen Bildungswegentscheidungen. Die Einführung einer »zweiten Chance«, welche die soziale Ungleichheit in Bildungssystemen mit früher Aufteilungen hätte reduzieren sollen, erreicht dieses Ziel also nicht (Biewen und Tapalaga 2017). Insbesondere zeigte sich, dass ein Bildungsaufstieg wahrscheinlicher ist, wenn sich die Schüler_innen auf einem »niedrigeren« Bildungspfad befinden, als ihre Eltern absolviert haben. Die Entscheidungen, den Bildungsgang zu wechseln, sind also auch von der sozialen Herkunft beeinflusst (Biewen und Tapalaga 2017; Blossfeld 2018). Henz (1997), Jacob und Tieben (2010), Trautwein et al. (2011) und andere fanden einen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Wahrscheinlichkeit von Aufwärts- oder Abwärtsmobilität. Demzufolge ist im Fall eines Wechsels der Bildungspfade bei sozial benachteiligten Jugendlichen mit höherer Wahrscheinlichkeit ein Bildungsabstieg und bei sozial bevorzugten Jugendlichen ein Bildungsaufstieg festzustellen. Darüber hinaus weisen Buchholz et al. (2016) darauf hin, dass die soziale Selektivität sogar höher ist, wenn während der sekundären Bildungsstufe Mobilität ermöglicht wird. Generell ist die Mobilität zwischen »akademischem« und »nicht-akademischem« Bildungsgang im deutschen Schulsystem eher selten (Blossfeld 2018). Dies wird als überraschend bezeichnet, da ja vielfach darauf hingewiesen wurde, dass 30 bis 50 % der Schüler_innen beim Übergang von der primären zur sekundären Bildungsstufe falsch platziert wurden, wenn man ihre Fähigkeiten und Schulleistungen als Maßstab heranzieht. Blossfeld (2018) stellt auch fest, dass nur 11 % der Schüler_innen in Deutschland einen »Abstieg« zum »nicht-akademischen« und nur 5 % einen »Aufstieg« zum »akademischen« Bildungsgang erfahren. Nach seiner Untersuchung ist die Aufwärtsmobilität wahrscheinlicher, wenn die Eltern der Schüler_innen hohe Bildungsabschlüsse haben. Umgekehrt weisen Schüler_innen mit niedrig gebildeten Eltern eher Abstiege auf (Blossfeld 2018). Für Österreich zeigen Bruneforth et al. (2012) einen starken sekundäre Herkunftseffekt für den Übergang in die Sekundarstufe I sowie einen schwächeren solchen Effekt beim Übergang in die Sekundarstufe II. Schönherr et al. (2014) weisen nach, dass sich die Schüler_innen nach der Hauptschule (der Vorgängerin der NMS) relativ gleichmäßig auf Schulen mit Matura einerseits und Lehre und BMS andererseits aufteilen. Welcher Weg beschritten wird, hängt in hohem Maße vom Geschlecht des bzw. der Schüler_in und vom Bildungsabschluss der Eltern ab.

84

Ona Valls / Jörg Flecker

Vor diesem Hintergrund analysieren wir in diesem Beitrag, wie die Durchlässigkeit des Bildungssystems am Ende der Sekundarstufe I genutzt wird und ob damit eher eine Korrektur der ungleichheitsverstärkenden Wirkung der frühen Aufteilung erreicht werden kann oder sich die Bildungsungleichheit dadurch weiter verstärkt. Die Reproduktion von Bildungsungleichheit würde abgeschwächt, wenn Jugendliche, deren Eltern niedrige Bildungsabschlüsse aufweisen, tatsächlich die Möglichkeit nutzen, nach der NMS in eine maturaführende Schule zu wechseln. Wenn diese Mobilität aber eher von Schüler_innen genutzt wird, deren Eltern bereits hohe Bildungsabschlüsse haben, dann führt die Durchlässigkeit eher zu einer verstärkten Reproduktion der Bildungsungleichheit. Um die tatsächlichen Wirkungen der Durchlässigkeit aufzuzeigen, werden die Bildungsverläufe von Absolvent_innen von NMS in Wien herangezogen.

3.

Methoden

3.1

Datengrundlage

Der in diesem Kapitel dargestellten Analyse liegen Längsschnittdaten aus vier Wellen des Projekts »Wege in die Zukunft« zugrunde, in welchem von 2018 bis 2021 Jugendliche wiederholt befragt wurden, die im Schuljahr 2018/19 die letzte Klasse einer NMS (8. Schulstufe) in Wien besuchten. In die erste Welle wurden alle NMS in Wien einbezogen, wenn auch nicht alle Klassen und Schüler_innen an der Befragung teilnahmen. Dennoch umfassten die Daten der ersten Welle 2854 Schüler_innen und können als repräsentativ für die Wiener NMS-Schüler_innen bezeichnet werden. Die zu erwartende Panelmortalität war zwischen erster und zweiter Welle besonders hoch, was mit dem Wechsel aus der Pflichtschule und mit der Notwendigkeit der individuellen Kontaktaufnahme für die zweite Welle erklärt werden kann (siehe Tabelle 1, vgl. Vogl 2020). Nach der NMS verteilten sich die Schüler_innen auf verschiedene Schulen, weshalb die Befragung sich in den weiteren Wellen der Längsschnittstudie auf private Kontaktmöglichkeiten beschränken musste. Insgesamt beteiligten sich 1.141 Schüler_innen an mindestens zwei Wellen des Panels (siehe Tabelle 2). Tabelle 1: Panelsample und Samplemortalität Welle 1 (Baseline) Welle 2 Valid Missing cases

Welle 3

Welle 4

N

%

N

%

N

%

N

%

2.854 0

100 0

805 2.049

28,20 71,80

725 2.129

25,40 74,60

698 2.156

24,5 75,5

85

Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf

Tabelle 2: Teilnahme am Panel 1.141 Schüler_innen nahmen an mindestens zwei Wellen teil Wellen

N Schüler_innen

1., 2., 3. und 4. Welle 1., 2., und 3. Welle

381 146

1., 2. und 4. Welle 1., 3. und 4. Welle

79 93

1. und 2. Welle 1. und 3. Welle

199 105

1. und 4. Welle 1.713 Schüler_innen nahmen nur an Welle 1 teil.

138

Um eine Übersicht über die Verteilungen beim Übergang von der NMS in die Sekundarstufe II in Abschnitt 4 geben zu können, wurden die Daten der zweiten Welle, also nach dem Übergang, auf Basis von Daten der Statistik Austria gewichtet (siehe Tabelle 3). Für die weiteren Auswertungen wurden keine Gewichte verwendet. Tabelle 3: Übergang in die Sekundarstufe II – NMS-Schüler_innen, 2018–2019 Welle 2

W2 gewichtet

Statistik Austria

2018–2019 2018–2019 2018–2019 % 2,2

% 4,2

% Wien 4,2

Polytechnische Schule (oder Fachmittelschule (PTS / FMS)_W3) Lehre und Berufsschule

20,0

26,7

26,2

6,2

6,2

6,0

Berufsbildende mittlere Schule (BMS, HASCH, Fachschule etc.) Berufsbildende höhere Schule (BHS, HAK, BAKIP, HLW, HTL etc.)

12,5

17,2

16,6

39,0

23,5

22,9

Allgemeinbildende höhere Schule (AHS, Gymnasium)

11,7

8,6

8,5

0,7

2,9

2,9

NMS

Eine andere Schule/ Ausbildung

Sonderschule / Berufsvorbereitungsjahr Eine andere Schule AMS-Kurs, Produktionsschule

86

Ona Valls / Jörg Flecker

(Fortsetzung) Welle 2

W2 gewichtet

Statistik Austria

2018–2019 2018–2019 2018–2019 Anderes

% Suche nach Lehre, Schule oder Job 7,6 Arbeit (ohne Ausbildung) Ich kümmere mich um den Haushalt

% 10,7

% Wien 12,7

100

100

Anderes Keine Information/Möchte nicht antworten TOTAL

3.2

100

Beschreibung der Variablen

Bildungssituation: Schultypen, in denen sich die Schüler_innen während der jeweiligen Wellen des Panels befinden: NMS, Polytechnische Schule, Berufsschule, berufsbildende mittlere Schule (BMS, HASCH, Fachschule etc.), berufsbildende höhere Schule (BHS, HAK, BAKIP, HLW, HTL etc.), allgemeinbildende höhere Schule (AHS, Gymnasium), eine andere Schule (Sonderschule / Berufsvorbereitungsjahr, Produktionsschule), anderes (Erwerbsarbeit ohne Lehre, Schul- oder Lehrstellensuche, Hausarbeit oder Sorgearbeit im Haushalt). Mobilität zwischen Bildungsgängen in der Sekundarstufe I: Wechsel von der AHS in die NMS während der Pflichtschulzeit, also vor der 8. Schulstufe. Geschlecht: Männlich oder weiblich Bildungsniveau der Eltern: höchste abgeschlossene Bildungsstufe der Eltern (Pflichtschule, Sekundarstufe, Hochschule) »Migrationshintergrund«: kein »Migrationshintergrund«, erste Generation, zweite Generation, Generation 2,5 Mathematiknoten: 1, 2, 3, 4, 5 (Schüler_innen-Angaben) Englischnoten: 1, 2, 3, 4, 5 (Schüler_innen-Angaben) Deutschnoten: 1, 2, 3, 4, 5 (Schüler_innen-Angaben)

3.3

Auswertungsmethode

Zunächst wurden die gesamten Bildungsverläufe der Jugendlichen analysiert. Auf der Grundlage der Übergangsmöglichkeiten im österreichischen Bildungssystem wurde eine Typologie von Übergängen erstellt. Dies ergab folgende Ka-

87

Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf

tegorisierung der möglichen Übergänge von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II (und davor während der Sekundarstufe I): Übergang in die Berufsbildung: Polytechnische Schule, BMS oder Lehre; Schüler_innen sind stabil in der Sekundarstufe II Schulabgang oder vorläufige Positionen: Maßnahmen der »Ausbildung bis 18«, wie Orientierungskurse des AMS, Produktionsschule etc., Lehrstellensuche, Abgang – »Abstieg« in der Sekundarstufe II Übergang in maturaführende Schulen: Besuch von BHS oder AHS (ohne vorherigem Wechsel von der AHS in die NMS) Rückkehr in maturaführende Schule: früherer Wechsel von AHS in NMS und Besuch der AHS oder BHS nach der NMS Danach erfolgte eine multinomial logistische Regression mit der Typologie als abhängige Variable. Wegen der schwierigen Interpretation der multinomial logistischen Regression wurden Average Marginal Effects (AME) berechnet, um die Interpretation der Ergebnisse und Koeffizienten zu erleichtern. AME drücken den durchschnittlichen Effekt der unabhängigen Variablen auf die Wahrscheinlichkeit der Kategorie der abhängigen Variablen aus (Mood 2010), nachdem die Effekte der anderen unabhängigen Variablen im Modell kontrolliert wurden. Zudem erlauben es AME, die unbeobachtete Heterogenität teilweise zu kontrollieren, insbesondere jene, die nicht mit den unabhängigen Variablen des Modells verbunden sind. Die Analyse wurde schrittweise in zwei Modellen durchgeführt. Das erste Modell enthielt die Variablen Bildungsniveau der Eltern, Geschlecht und »Migrationshintergrund«, das zweite Modell die Noten in Mathematik, Englisch und Deutsch, um ihre vermittelnde Wirkung auf die sozio-demographischen Variablen zu erkennen. Um die selteneren Bildungs- bzw. Ausbildungstypen einbeziehen zu können, haben wir sie zusammengefasst. Dies betrifft einzelne Schultypen, wie die Sonderschule, aber auch die Optionen außerhalb des Bildungssystems, wie Erwerbsarbeit oder Hausarbeit. Sozioökonomischer Status Bildungsverläufe und Mobilität zwischen Bildungspfaden

(SES) Geschlecht

„Migra#onshintergrund“

Abbildung 1: Analysemodell

Schulleistung

88

Ona Valls / Jörg Flecker

4.

Auswertungsergebnisse

4.1

Die Komplexität der Bildungsverläufe

Die Daten der ersten Welle zeigen, dass 9 % der Schüler_innen in der 4. Klasse der NMS für die vorangegangenen Schuljahre einen Wechsel aus der AHS in die NMS angaben (siehe Abbildung 2). Wie in Abbildung 2 dargestellt, wechseln nach der vierten und letzten Klasse in der NMS 26,7 % in die Polytechnische Schule, 23,5 % in die berufsbildende höhere Schule, 17,2 % in die berufsbildende mittlere Schule und 8,6 % in die allgemeinbildende höhere Schule. 10,7 % suchten nach einer Lehrstelle oder Schule, 6,2 % befanden sich in einer Lehre und besuchten die Berufsschule, während 4,2 % die letzte Klasse der NMS wiederholten. Die deskriptiven Ergebnisse der zweiten und der dritten Welle zeigen eine große Vielfalt an Verläufen der Jugendlichen aus den NMS in der Sekundarstufe II (siehe Abbildung 3). Während der dritten Welle befanden sich die meisten dieser Schüler_innen in der berufsbildenden höheren Schule (30,4 %), gefolgt von der Lehre und Berufsschule (25,1 %), der berufsbildenden mittleren Schule (14,7 %) und der allgemeinbildenden höheren Schule (9,7 %). An einer Polytechnischen Schule waren im zweiten Jahr nach der NMS nur noch 3,1 %, während die Anzahl in »anderen Schulen« (5,4 %) oder »anderen Situationen« (11,7 %) zunahm. Abbildung 3 zeigt die Übergänge zwischen dem ersten Jahr in der Sekundarstufe II (Welle 2, 2019) und dem zweiten Jahr in der Sekundarstufe II (Welle 3, 2020), also welche Schule die Schüler_innen nach dem ersten Jahr in der Sekundarstufe II wählten, wobei nur Anteile größer als 5 % angezeigt werden. So fanden sich 78,6 % der Schüler_innen, die 2019 die 1. Klasse einer BHS besuchten, auch 2020 an einer BHS, während 21,4 % nach dem ersten Jahr an der BHS die Schule wechselten. Die größte Stabilität ist bei der AHS zu erkennen, bei der 83,8 % der Schüler_innen nach der ersten Klasse in diesem Schultyp verbleiben. Die Daten der vierten Welle im Jahr 2021 zeigen, dass die Stabilität mit der Zeit zunimmt: 87,7 % derjenigen, die im Jahr 2020 eine Lehre machten, taten dies auch im Jahr 2021. 88 % der BMS-Schüler_innen verblieben von 2020 zu 2021 in diesem Schultyp und 87 % der AHS-Schüler_innen setzten den Besuch der AHS fort.

4.2

Unterschiede nach dem Bildungsniveau der Eltern

Bei Schüler_innen, deren Eltern höhere Bildungsabschlüsse aufweisen, sind im Hinblick auf ein mögliches Scheitern riskantere Entscheidungen sowie eine höhere Mobilität zwischen den Bildungspfaden zu beobachten. Wie in Abbildung 4 dargestellt, wechselten 19 % der Schüler_innen mit höher gebildeten

Neue Mittelschule: 90,8

Gymnasium: 9,2

VOR DER NM S

BerufsbildendeMittlere Schule: 17,2

BerufsbildendeHöhere Schule: 23,5

PolytechnischeSchule: 26,7

2019

NMS: 4,2 Andere Schule: 2,9

Lehre (Berufsschule): 6,2

Allgemeinbildende Höhere Schule: 8,6

2020

Andere Schule: 5,4

AHS: 9,6

Andere Situation: 5,9

Lehrstellensuche: 5,8

Lehre (Berufsschule): 25,1

BMS: 14,7

BHS: 30,4

PolytechnischeSchule: 3,1

ÜBERGANG IN SEKUNDARSTUFE II

Suche nach Lehrstelle, Schule oderJob: 10,7

4. Klasse NMS: 100,0

2018

Andere Schule: 4,0

AHS: 11,1

Andere Situation: 5,2

Lehre (Berufsschule): 29,0

BMS: 19,5

BHS: 31,1

2021

Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf

89

Abbildung 2: Verlauf vor der 8. Schulstufe und Übergang in die (sowie in der) Sekundarstufe II (Wellen 1, 2, 3 und 4)

21,6

Abbildung 3: Verlauf von Welle 2 bis Welle 4, 2019–2021

NMS Andere Schule

Lehre (Berufsschule)

Allgemeinbildende Höhere Schule 83,8 69,9

16,8 40,0 Suche nach Lehrstelle, Schule oderJob 20,0

52,1 BerufsbildendeMittlere Schule 16,3

14,9

6,1

78,6 BerufsbildendeHöhere Schule

PolytechnischeSchule 40,3 9,3 6,5

2019

Andere Schule

AHS

Andere Situation

Lehrstellensuche

Lehre (Berufsschule)

BMS

BHS

87,7

88,0

12,9

9,1

80,6 85,6

87,0

7,3 13,1 49,2 16,4 21,3

2020 PolytechnischeSchule

7,4

Andere Schule

AHS

AndereSituation

Lehre (Berufsschule)

BMS

BHS

2021

90 Ona Valls / Jörg Flecker

HOCHSCHULE

MATURA

PFLICHT-ODER KEIN SCHULABSCHLUSS

Neue Mittelschule

Gymnasium 19,0

Neue Mittelschule

Gymnasium 9,4

Neue Mittelschule

Gymnasium 4,6

VOR DEN NMS

BILDUNGSABSCHLÜSSE DER ELTERN

81,0

90,6

95,4

SEKUNDARSTUFE I

4. Klasse NMS

2018

9,3

2,9

5,4

ÜBERGANG IN SEKUNDARSTUFE II

7,3

Andere Situation

BerufsbildendeHöhere Schule

BerufsbildendeMittlere Schule

Lehre (Berufsschule)

PolytechnischeSchule

NMS

Andere Schule

Allgemeinbildende Höhere Schule

15,8 Suche nach Lehrstelle, Schule oder 5,3 Job 6,8 18,5

10,2

29,1

25,2

20,8

14,4 13,1

22,5

5,9 8,7 1,7

20,2

22,7 29,7

3,1

2019

Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf

91

Abbildung 4: Verlauf vor der 8. Schulstufe und Übergang nach der Pflichtschule (Wellen 1 und 2) nach Bildungsabschlüssen der Eltern

92

Ona Valls / Jörg Flecker

Eltern bereits in der Sekundarstufe I von der AHS in die NMS, während dies im Durchschnitt nur bei 9 % vorgekommen ist. Daraus kann geschlossen werden, dass Familien mit hohen Bildungsabschlüssen für ihre Kinder nach der Volksschule möglicherweise trotz schlechter Noten und damit mit mehr Risiko die AHS wählten und dann in vielen Fällen ein Wechsel in die NMS notwendig wurde. Angesichts der Möglichkeit, im Gymnasium schlecht abzuschneiden, gehen Schüler_innen mit höher gebildeten Eltern mehr Risiko ein, wohl auch deshalb, weil sie über mehr Ressourcen verfügen, dem Risiko eines schlechten Schulerfolgs zu begegnen (Deil-Amen und Goldrick-Rab 2009; Torrents und Troiano 2021). Dazu kommt, dass Schüler_innen mit privilegierter sozialer Herkunft am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe von vornherein mit höherer Wahrscheinlichkeit die AHS wählen (Astleithner, Vogl und Mataloni 2020). Nach Bruneforth et al. (2012) können nur 29 % der Unterschiede in der Schulwahl an diesem Übergang mit Schulleistungen erklärt werden. Schüler_innen aus benachteiligten Klassenlagen wählen trotz guter Schulleistungen mit höherer Wahrscheinlichkeit die NMS, während Schüler_innen aus privilegierten Klassenlagen eher die AHS wählen, auch wenn sie schlechte Schulleistungen aufweisen. Ähnliche Zusammenhänge können für die Zeit nach der Pflichtschule gezeigt werden. Mit 18,5 % wechselte ein höherer Anteil der Schüler_innen, deren Eltern Hochschulbildung aufweisen, nach der Volksschule auf die AHS und danach in die NMS. Bei den Schüler_innen, deren Eltern nur die Pflichtschule oder die Sekundarstufe absolvierten, liegt dieser Anteil bei 6,8 %. Der Abstand beträgt 11,7 %. Deutlich mehr Schüler_innen aus Akademikerfamilien als andere Schüler_innen versuchten es also vor der NMS in einer AHS.

4.3

Typologie von Übergängen

In einem ersten Schritt der Analyse zeichneten wir die Bildungsverläufe der Jugendlichen im Panel nach, indem wir die Information über ihren jeweiligen Bildungsstatus während der vier Wellen verwendeten – soweit Information aus mindestens zwei Wellen vorhanden war. Ein etwaiger Wechsel des Bildungspfades von der AHS zur NMS vor der 8. Schulstufe wurde einbezogen.

93

Soziale Ungleichheit im Bildungsverlauf

Tabelle 4: Wechsel des Bildungspfades in Sekundarstufe I und II Sekundarstufe I NMS nach der Volksschule Allgemeinbildende höhere Schule (AHS) nach Volksschule und Übertritt in NMS Übergang von Sekundarstufe I zu Sekundarstufe II nach der NMS NMS-Repetition Polytechnische Schule (oder Fachmittelschule (PTS / FMS)) Übergang in die Lehre und Berufsschule Berufsbildung Berufsbildende mittlere Schule (BMS, HASCH, Fachschule etc.) Berufsbildende höhere Schule (BHS, HAK, BAKIP, HLW, HTL etc.)1 Allgemeinbildende höhere Schule (AHS, Gymnasium) Suche nach Lehrstelle, Schule oder Job AMS-Kurs, Produktionsschule Sonderschule / Andere Schule Berufsvorbereitungsjahr Anderes

Arbeit (ohne Ausbildung) Ich kümmere mich um den Haushalt Anderes

Schulen mit Matura

Schulabgang oder vorläufige Positionen

Im nächsten Schritt entwickelten wir eine Typologie von Übergängen, um die Auswertung der Daten aus den vier Wellen und die Darstellung der Ergebnisse zu vereinfachen. Dies betrifft zunächst die Optionen in der Sekundarstufe I: Schüler_innen können von der Volksschule direkt in die NMS gewechselt sein oder aber zunächst nach der Volksschule eine AHS besucht und dann von der AHS in die NMS gewechselt haben, was als Abstieg eingestuft werden kann. In der Folge werden die verschiedenen Möglichkeiten am Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II berücksichtigt: Polytechnische Schule, Lehre oder BMS werden als horizontale Übergänge klassifiziert. Der Übertritt in eine maturaführende Schule wird vielfach als Bildungsaufstieg gesehen, während ein Schulabgang oder der Übergang zu einem vorübergehenden Status (wie etwa im Haushalt) üblicherweise als Abstieg eingestuft werden. In die Bezeichnungen fließt also zur Vereinfachung der üblicherweise wahrgenommene Status von Schulen bzw. Bildungswegen ein, ohne dass wir hier eine Bewertung einbringen wollen. Die Zuordnung von Schüler_innen zu diesen Typen von Bildungsverläufen zeigt für die Absolvent_innen der Wiener NMS folgende Verteilung:

1 BHS-Abschlüsse zählen in internationalen Vergleichen als kurze tertiäre Bildung. Tertiäre Bildung umfasst Universitätsabschlüsse, aber auch kurze tertiäre Bildung (OECD, Eurostat and UNESCO Institute for Statistics, 2015).

94

Ona Valls / Jörg Flecker

– 44% – Übergang in die Berufsbildung: von der NMS in Polytechnische Schule, BMS oder Lehre; Schüler_innen sind stabil in der Sekundarstufe II – 37 % – Übergang in maturaführende Schulen: von der Volksschule in die NMS; Wechsel in AHS oder BHS in der Sekundarstufe II (dazu kommen 4 % in maturaführenden Schulen, die dem vierten Typ unten zugeordnet wurden) – 15 % – Schulabbruch oder vorübergehende Positionen: Abstieg in der Sekundarstufe II – 4 % – Rückkehr in maturaführende Schulen: früherer Wechsel von der AHS zur NMS und späterer Übergang nach der NMS in die AHS oder BHS Dieses Ergebnis zeigt, dass etwas weniger als die Hälfte der Jugendlichen aus der NMS in eine BMS oder Lehre übergehen und dort verbleiben. Nicht weniger als etwa 40 % gehen in Summe nach der NMS in eine maturaführende Schule über und bleiben dort in den folgenden drei Jahren. Die Mehrheit unter ihnen befindet sich in einer BHS. 4 % davon entfallen auf den für uns in theoretischer Hinsicht interessanten Typ des »Abstiegs« in die NMS mit späterer Rückkehr in eine maturaführende Schule. Eine bedeutende Minderheit von etwa 15 % zeigt keinen stabilen Verlauf in weiterführenden Schulen oder einer Lehre, sondern findet sich beispielsweise in Orientierungsmaßnahmen des AMS oder verlässt die Ausbildung.

4.4

Die Bildungsverläufe: Übergänge und Mobilität zwischen Bildungspfaden in der Sekundarstufe

Um die Bedeutung der Bildungsverläufe und insbesondere der Bildungsmobilität besser einschätzen zu können, wandten wir eine multinomial logistische Regression mit der Typologie als Ergebnis an und errechneten die Average Marginal Effets (AME), um die Koeffizienten leicht interpretieren zu können. Es zeigen sich bedeutende Unterschiede nach Bildungsniveau der Eltern, Geschlecht und »Migrationshintergrund« im Modell 1 (siehe Tabelle 5). Wenn Schulnoten in das Modell einbezogen werden, schwächt das die Wirkungen der sozio-ökonomischen Variablen ab, die aber in manchen Verläufen wirksam bleiben. Was den Typ »Übergang in die Berufsbildung« betrifft, stellten wir in Modell 1 fest, dass Jugendliche, deren Eltern einen Universitätsabschluss haben, mit einer um 14 Prozentpunkte (p