Vorwärts zum neuen Menschen?: Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949-1989) 9783412216535, 9783412222093

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Vorwärts zum neuen Menschen?: Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949-1989)
 9783412216535, 9783412222093

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Vorwärts zum neuen Menschen?

Zeithistorische Studien Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Band 54

Emmanuel Droit

Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949–1989)

Aus dem Französischen übersetzt von Michael Esch

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin. Aus dem Französischen übersetzt mit freundlicher Unterstützung durch: Centre Marc Bloch, Berlin/Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam/Centre de Recherches Historiques de l’Ouest (CERHIO)/Centre National du Livre, Paris/Büro für Buchund Verlagswesen der Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin Die Originalausgabe des Buches ist 2009 unter dem Titel »Vers un homme nouveau? L’éducation socialiste en RDA (1949–1989)« im Verlag Presses Universitaires de Rennes in Rennes erschienen.

Emmanuel Droit ist Maître de Conférences an der Universität Rennes und Assoziierter Forscher am Centre Marc Bloch in Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Hofansicht der 14. POS Willi Bredel, Berlin-Mitte, April 1971 (Foto: Klaus Lehnartz)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-22209-3

Inhalt

Vorwort ............................................................................................................................... 9 Einführung ......................................................................................................................... 11 Eintritt ins „Innere der Schule“ ............................................................................... 11 Die Wahl der Schule als Untersuchungsgegenstand ........................................... 13 Das Untersuchungsgebiet: Ost–Berlin ................................................................. 15 Ein neuer Pfad über ein historiographisches Feld ............................................... 16 Behördenarchive und Vor-Ort-Überlieferung ..................................................... 19 Der Wert der Fotografie und der oralen Überlieferung ..................................... 21 Erster Teil Die Schule neuen Typs (1949–1959)..................................................................... 25 Kapitel I Neue philosophische und strukturelle Grundlagen .................................................. 29 Die Bedeutung des Wortes Erziehung in der DDR ............................................ 29 Eine strukturelle Revolution: Von der Einheitsschule zur polytechnischen Schule ...................................................................................... 36 Die Anpassung der schulischen Programme und Lehrbücher .......................... 47 Kapitel II Der Lehrkörper zwischen politischen Forderungen und sozioprofessioneller Autonomie .................................................................................... 51 Soziologische Beschreibung des Lehrpersonals ................................................... 52 „Die Lehrer sind alle für den Frieden, aber sehr wenige sind Kämpfer für den Frieden“ ................................................................................................................. 57 Der Lehrkörper und die Ausreisen nach Westen ................................................. 63 Die Lehrkräfte und die Ablehnung der sowjetischen Pädagogik ..................... 68 Kapitel III Die Elternausschüsse: Ein Instrument in den Händen der SED? ........................... 75 Die neuen Elternbeiräte ............................................................................................ 75 Die Zusammensetzung der Elternausschüsse ....................................................... 77 Die Zurückweisung der Politisierung der Elternausschüsse .............................. 81 Ein zweischneidiges Kontrollinstrument .............................................................. 83

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Inhalt

Kapitel IV Die neuen institutionellen Akteure des schulischen Feldes ..................................... 87 Die Eingliederung der Jugendorganisationen in das schulische Milieu .......... 87 Die hauptamtlichen Funktionäre der Jugendorganisationen: Eine Anerkennung mit Hindernissen ................................................................... 94 Das System der Patenschaften zwischen den Schulen und den Betrieben ..... 101 Die Wirklichkeit der Patenschaften zwischen den Schulen und den Betrieben .............................................................................................................. 104 Kapitel V Die symbolischen Transformationen des schulischen Raumes ............................... 111 Die neue schulische Toponymie .............................................................................. 111 Die Inneneinrichtung der Schulen ......................................................................... 114 Eine neue sozialistische Zeitordnung ..................................................................... 120 Die Schule als Diffusionsvektor ritueller Politik: Die Jugendweihe ............... 122 Die schwierige Durchsetzung des sozialistischen Rituals ............................ 122 Die Funktion der Schule bei der Jugendweihe .................................................... 132 Kapitel VI Die Schüler und die sozialistische Schule: Verhaltensformen und Repräsentationen .................................................................... 139 Soziologischer Überblick .......................................................................................... 139 Die „Chamäleon“-Mehrheit ..................................................................................... 144 Das Erlernen des „Tun als ob“ ........................................................................... 145 Die Feindseligkeit gegenüber den Russen ...................................................... 148 Für Frieden und Wiedervereinigung ............................................................... 150 Die in den Jugendorganisationen engagierte Minderheit: Zwischen identitärer Affirmation und politischer Stigmatisierung ................. 153 Die religiöse Minderheit: Zwischen Zurückhaltung und Diskriminierung ..... 158 Die Provokation oder Äußerungsformen der Abweisung der ungebremsten Politisierung ................................................................................................................. 165 Kapitel VII Die sozialistische Schule und der ­„Kampf gegen den westlichen kulturellen Einfluss“ ......................................................................................................... 169 Ein in West und Ost verurteiltes kulturelles Phänomen .................................... 170 Die Einheitsfront von Macht und Eltern im Kampf gegen die Comics ......... 172 Die repressive Schiene: Zwischen Druck, Kontrollen und Denunziationen ................................................................................................... 174 Die pädagogisch-verführerische Schiene ........................................................ 176



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Der Eigensinn der Schüler ........................................................................................ 179 Zusammenfassung des ersten Teils .......................................................................... 180 Zweiter Teil Die stabilisierte sozialistische Schule (1959–1989)....................................... 183 Kapitel VIII Die Stabilisierung des polytechnischen Erziehungssystems .................................... 187 Die Lehrkräfte: Zwischen Feminisierung, generationeller Erneuerung und Korpsgeist ............................................................................................................ 187 Zur Frage der sozialen Mobilität nach 1961 ......................................................... 198 Die Arbeiterkinder und der Zugang zur Oberschule ................................... 198 Die Verwendung der Eingaben oder: Wie umgeht man die soziale Hürde? ............................................................... 201 Die formelle Stabilisierung der Jugendorganisationen im  schulischen Feld ........................................................................................................... 211 Die Internalisierung der Zugehörigkeit .......................................................... 211 Die Verjüngung der Funktionäre der Jugendorganisationen ...................... 219 Die Jugendweihe: Eine wiederangeeignete sozialistische Tradition ............... 222 Kapitel IX Die sozialistische Schule und die Herausforderungen der ostdeutschen Wirtschaft ........................................................................................................................... 231 Unter dem Zeichen der­ „­wissenschaftlich-­­technischen ­Revolution“ .............. 231 Die Schwerpunktverlagerung auf die naturwissenschaftlichen Fächer .... 231 Die Schaffung von Spezialschulen, oder: Eine elitäre Ausbildung ............ 235 Die Mathematik-Olympiaden .......................................................................... 237 Ein neues Patenschaftssystem: Für die Vertiefung der Beziehungen zwischen Schülern und Arbeitern ......... 240 Die produktive Arbeit im Betrieb, oder: Die Praxis der Enttäuschung .......... 246 Kapitel X Generationen des real existierenden Sozialismus? ..................................................... 257 Die Schüler und ihre sozialistische Umwelt ......................................................... 258 Stolze ostdeutsche Bürger? ................................................................................ 259 Die Schüler und der Sozialismus ..................................................................... 261 Die Haltung gegenüber der UdSSR ................................................................. 262 Der „proletarische Internationalismus“ und die Trikont-Solidarität ........ 266 Die Wahrnehmung Westdeutschlands .................................................................. 270 Die BRD als Bezugspunkt ................................................................................. 270

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Inhalt

Die Schüler und die „deutsche Frage“: Zwischen der Hoffnung auf Wiedervereinigung und der Anerkennung der Teilung ............................................................................ 273 Der kulturelle Einfluss des Westens: Zwischen Stigmatisierung, Kriminalisierung und Toleranz .............................. 276 „Provokationen“ und „Fluchten“ in den Westen ................................................. 281 Kapitel XI Die Schule als Kaserne der ostdeutschen Nation ....................................................... 287 Von der „patriotischen Erziehung“ zur „Sozialistischen Wehrerziehung“ ..... 288 Die Implantierung der GST in die Ostberliner Schulen ................................... 291 Die Entwicklung der außerschulischen paramilitärischen Aktivitäten .......... 298 Die Schule als Rekrutierungszelle künftiger Offiziere ........................................ 303 Die Einführung der theoretischen und praktischen Wehrerziehung .............. 309 Die Einrichtung des theoretischen Unterrichts ............................................. 309 Das Praktikum oder das Leben in der Kaserne .............................................. 315 Kapitel XII Überwachen um zu erziehen: Die Stasi in der Schule .............................................. 325 Die „edukativen Konzepte“ der Stasi ..................................................................... 326 Die Rekrutierung von Schülern als inoffizielle Mitarbeiter .............................. 329 Schlussfolgerungen .................................................................................................... 333 Kapitel XIII Der Zusammenbruch des ostdeutschen Schulsystems .............................................. 339 Margot Honecker oder die Weigerung, die Realität wahrzunehmen ............. 339 Der Vorfall in der Carl von Ossietzky-Oberschule in Pankow ......................... 341 Der 9. Pädagogische Kongress und der Dialog der Tauben .............................. 344 Der Fall der Berliner Mauer und die Entdeckung des Westens ........................ 345 Die Demonstration vom 4. November 1989  ................................................ 345 Der Fall der Berliner Mauer ............................................................................... 348 Erste Eindrücke von Westberlin ....................................................................... 350 Die Schule nach dem 9. November 1989  ............................................................. 354 Die Wahrnehmung der Schüler ........................................................................ 354 Geschwächte Lehrkräfte? ................................................................................... 356 Die Jugendorganisationen: Zwischen Verwirrung und Kritik ................... 358 Resümee .............................................................................................................................. 361 Abkürzungen ..................................................................................................................... 368 Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................................ 370

Vorwort Ein anderer Blick Welche Erinnerung haben wir an das untergegangene „andere“ Deutschland, an die Deutsche Demokratische Republik, bewahrt? Vor allem eine negative: Die an eine allgegenwärtige politische Polizei mit ihren unzähligen IM, und die an ein dreifaches Scheitern: den Aufstand vom Juni 1953, der mit sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde, den Mauerbau im August 1961, der die panische Flucht der Einwohner in den Westen stoppen sollte, schließlich den Zusammenbruch dieser gleichen Mauer im November 1989, herbeigeführt von einer Protestbewegung, die unbezwingbar geworden war. Das alles eingefärbt von einer dominierenden Farbe, dem Grau. Ist diese Erinnerung trügerisch? Das sicherlich nicht. Aber sie reflektiert nur ­einen Teil der Realität und läuft Gefahr, andere, ebenso wichtige Aspekte aus dem Blick zu verlieren: dass die DDR vierzig Jahre lang, also über zwei Generationen, bestanden hat – und nicht nur infolge der Gewalt der Roten Armee; dass sie eine zeitlang als glaubhafte – und daher bedrohliche – Alternative zur BRD betrachtet wurde; dass sie von allen Regimes des sowjetischen Blocks das am authentischsten marxistische war und das am ernsthaftesten um den Aufbau des Sozialismus bemühte; dass sie in ihren Anfängen getragen war von der prometheischen Utopie einer neuen Gesellschaft und mehr noch eines neuen Menschen. Genau deshalb ist die exemplarische Untersuchung, die Emmanuel Droit durchgeführt hat, von so großem Interesse. Indem er nicht von den Strukturen, sondern von den Alltagspraktiken ausgeht, nicht von der Republik in ihrer Gesamtheit, ­sondern von einem kontextualisierten Ort – Ostberlin – und einem genau bestimmten Beobachtungsgegenstand – der Schule und der schulischen Wirklichkeit – schlägt er uns einen anderen Blick vor, der gleichzeitig lebendiger und differenzierter ist, einen Blick auf das Innere, der sich nicht von den ideologischen Illusionen täuschen lässt, die das Regime hervorgebracht hat, und sich in erster Linie auf die Akteure und ihre Interaktionen konzentriert. Und da Emmanuel Droit überdies über eine seltene Kenntnis der deutschen Realitäten verfügt, die er immer auf der Grundlage eines originellen Fragenkatalogs analysiert, erweitert seine Untersuchung unser Wissen über die DDR in die Tiefe. Wo wir uns Stabilität vorgestellt haben, zeigt er zwei völlig unterschiedliche Phasen: Die eine, die bis in die frühen 1960er Jahre reicht, ist getragen von einem voluntaristischen und autoritären Optimismus; die andere, spätere, zeichnet sich im Gegenteil durch ein Ende der Illusionen aus, durch Misstrauen und Kontrolle.

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Vorwort

Wo wir uns ein edukatives Monopol der Schule vorgestellt haben, zeigt er uns eine Vielzahl von Akteuren mit allen Konkurrenzen und Reibungen, die hieraus entstehen. Wo wir uns eine Priorität vorgestellt haben, die der ideologischen Formatierung zugesprochen wurde, zeigt er eine Faszination für die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer, die als ausgewiesene Motoren des Fortschritts gelten. Wo wir uns eine erstickende Gleichschaltung vorgestellt haben, zeigt er – neben einer immer intensiveren Überwachung – ein Übereinkommen der Mehrzahl der Familien, das nicht frei war von Ambivalenz, das Scheitern des Projekts einer Schaffung einer deutschen sozialistischen Nation und bis 1989 eine Weltsicht, in der die BRD den ersten Bezugspunkt bildet. Wo wir uns schließlich eine Gesellschaft vorgestellt haben, die von Einheitsgrau und Konformismus gezeichnet war, findet er dank der Quellen, die er zu finden verstanden hat, dank der Fotos, die er analysiert und der Interviews, die er geführt hat, die Farben des Lebens wieder. Weit davon entfernt, sich auf ein Regime und eine Ideologie reduzieren zu lassen, auf einen Überbau und eine Diktatur, wird die DDR dank Emmanuel Droit wieder zu dem, was sie auch gewesen ist: Eine Gesellschaft, die aus Millionen Kindern und Jugendlichen bestand, aus Männern und Frauen, mit ihren Leidenschaften, ihren Bemühungen und Niederlagen, ihren Träumen, ihren Werken und ihrem „Eigensinn“, Millionen Menschen, die vierzig Jahre lang – in einem strengen, von oben oktroyierten Rahmen – trotz allem ihr Leben aufgebaut und versucht haben, ihm einen Sinn zu geben – mitunter indem sie sich mit Leib und Seele mit dem Regime identifizierten, mitunter auch indem sie sich mehr oder weniger radikal davon abgrenzten, meist, indem sie mit ihm übereinkamen und sich gleichzeitig von ihm distanzierten. Etienne François

Einführung

„Man bestimmt nicht das Schicksal, indem man Kinder gängelt“. Jean Giraudoux, Kein Krieg in Troja, I, 9.

Eintritt ins „Innere der Schule“ Im April 1971 ist der westdeutsche Pressefotograf Klaus Lehnartz für eine Reportage in Ostberlin und macht eine Aufnahme von der 14. Polytechnischen Schule Willi  ­Bredel im Bezirk Mitte.1 Seit Anfang der 1970er Jahre ha­ben immer mehr

Abb. 1  Hofansicht der 14. POS Willi Bredel, Berlin-Mitte, April 1971

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Willi Bredel (1901–1964) war ein Dreher, Mitglied der KPD, der in den dreißiger Jahren durch die Veröffentlichung seines Romans Die Prüfung berühmt wurde. Er erzählt darin von seinen KZ-Erfahrungen 1933–1934. Nach seinem Exil in der ­UdSSR ließ er sich in der DDR nieder, wo er seine schriftstellerische Tätigkeit fortsetzte und sich gleichzeitig in der SED und ihren Massenorganisationen engagierte. 1954 wurde er in das Zentralkomitee der SED aufgenommen.

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Einführung

Journalisten infolge der Ostpolitik Willy Brandts die Möglichkeit, Fotoreportagen über die DDR zu machen.2 Im Vordergrund bietet ein fast leerer Parkplatz Raum für Autos und Mopeds, die sicherlich dem Lehrkörper gehören. Vor dem Gebäude sind drei Fahnen gehisst, die sich aber, da praktisch kein Wind weht, nicht ohne weiteres identifizieren lassen. Es dürfte sich um die Fahnen der Jugendorganisationen handeln, also der Pioniere und der Freien Deutschen Jugend, sowie vielleicht um die Flagge der DDR. Im Hintergrund zeugen Architektur und Baumaterial des Schulgebäudes davon, dass es jüngeren Datums ist; höchstwahrscheinlich stammt es vom Ende der sechziger Jahre. Der Ausschnitt, den der Fotograf gewählt hat, lenkt den Blick allerdings auf einen Slogan, der in Großbuchstaben auf den Fenstern von drei Etagen der Hauptfassade angebracht ist: „Der Marxismus-Leninismus ist die wissenschaftliche Weltanschauung der sieg­reichen Arbeiterklasse!“ Angesichts der etwas ungelenken Buchstaben drängt sich die Vermutung auf, dass dieser für die kommunistische politische Agitation typische Slogan von den Schülerinnen und Schülern angefertigt wurde. Er fasst in wenigen Worten das offizielle Selbstbild zusammen, das das kommunistische Regime in Ostdeutschland seit seiner Einsetzung im Jahre 1949 verbreitet. Klaus Lehnartz will deutlich machen, dass die Schule in der DDR ganz offensichtlich ein staatliches Unternehmen ist, das die Schüler mit marxistisch-leninistischer Ideologie indoktriniert. Aber wie sieht außerhalb solcher offiziellen Rhetorik der schulische Alltag aus? Wie funktioniert das Schulwesen unter einem kommunistischen Regime? Seit der Gründung der DDR im Oktober 1949 behandelt die Mehrheit der westdeutschen Erziehungswissenschaftler und Historiker die Funktionsweise des ostdeutschen Schulsystems im Rahmen einer totalitarismustheoretischen Lesart, in der eine „Staatspartei“, die von der Gesellschaft getrennte Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), erstere umschließt und ihre innere Entwicklung bestimmt.3 Solche Ansätze reduzieren die Geschichte der Schule auf den Willen der ostdeutschen Führungskräfte, soweit er sich in ihren Reden, in Schulprogrammen und -büchern ausdrückt und in öffentlichen Manifestationen der politischen Agitation symbolisiert wird. Ohne den diktatorischen Charakter der DDR überdecken zu wollen, will die vorliegende Arbeit nicht das Opfer jener ideologischen 2

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Bereits 1967 machte der französische Fotograf Willy Ronis eine Bildreportage über die DDR. Siehe N. Neumann, „Wie erscheint sie so schön …“. Bilder von der DDR für ein französisches Publikum. Eine Fotoreportage von Willy Ronis, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaften, April 2004, S. 13–20. M. Christian/E. Droit, Ecrire l’histoire du communisme: l’histoire sociale de la RDA et de la Pologne communiste en Allemagne, en Pologne et en France, in: Genèses, N° 61, 2005, S. 118–133.

Die Wahl der Schule als Untersuchungsgegenstand

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Illusion sein, die von diesem modernen diktatorischen Regime produziert wird und der zufolge die DDR als in sich geschlossene, kohärente Realität erscheint. Denn letztlich sagt die Inszenierung ­einer Ideologie im öffentlichen Raum in Form von offiziellen Slogans, die seitens der höchsten Repräsentanten des Staates als Kode der politischen, sozioökonomischen und kulturellen Ordnung festgelegt werden, nichts darüber aus, was diese Slogans für diejenigen bedeuten, die ihnen täglich ausgesetzt sind  – das heißt für den Lehrkörper und die Schüler. Das vorliegende Buch will aber nicht nur die Kluft zwischen den pädagogischen Intentionen der DDR und der Alltagsrealität ausmessen, und es will auch nicht nur eine traditionelle Studie über die Institution Schule als Ort des Erwerbs von Kenntnissen und Fertigkeiten bieten. Sein Ziel besteht darin, den Leser dazu einzuladen, in diese ostdeutsche Schule gleichsam „hineinzutreten“, d. h. die diskursive und strukturelle Ebene zu verlassen, um zu den Spuren erlebter Erfahrungen zu gelangen, die uns vielleicht helfen zu verstehen, wie das sozialistische Schulsystem zwischen 1949 und 1989 im Alltag funktioniert hat.

Die Wahl der Schule als Untersuchungsgegenstand Die Historikerin Sandrine Kott hat in ihrer Einführung für eine Sondernummer der Revue d’histoire moderne et contemporaine aus dem Jahre 2002 zur Sozialgeschichte der Macht im kommunistischen Europa darauf hingewiesen, dass die Wahl eines Untersuchungsgegenstandes dann gerechtfertigt ist, wenn er einen heuristischen Wert hat, d. h. wenn er zum Wissen über das Forschungsfeld und zu seinem Verständnis beiträgt.4 Im Rahmen der vorliegenden Studie ergibt sich dieser Beitrag daraus, dass Werkzeuge und Konzepte herangezogen werden, die der Soziologie entliehen sind. Die Institution Schule erlaubt es, die Art, in der die politischen, sozialen und kulturellen Logiken eines Staates zum Ausdruck kommen, von unten zu untersuchen. Unabhängig davon, welcher Natur das jeweilige politische Regime ist, bleibt die Schule diejenige Institution, die dazu dient, allen Staatsbürgern die herrschenden politischen und kulturellen Normen einzuimpfen. Wir folgen der These von ­Pierre Bourdieu, dass die Schule eine zentrale Rolle dabei spielt, das staatliche Mono­pol auf symbolische Gewalt durchzusetzen.5

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S. Kott, Pour une histoire sociale du pouvoir en Europe communiste: introduction thématique, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, N° 2, avril-juin 2001, S. 13. In der Soziologie Pierre Bourdieus spielt die Schule diejenige Rolle, die bei Max Weber der Kirche zukommt.

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Einführung

In der sowjetischen Besatzungszone, später der DDR, bildet die Schule den Kern eines prometheischen Projektes radikaler Transformation der Ge­sellschaft. Mehr denn eine Maschinerie zur Unterrichtung von Kindern wird die Schule in der DDR als eine Matrix von Kultur und politischer Identität konzipiert, die eine neue Gesellschaft konstruieren und ihr Weiterbestehen sichern soll. Das schulische Feld ist so konfiguriert, dass dieses staatliche Projekt sich gegen keinerlei Konkurrenz behaupten muss: Durch eine Direktive der Sowjetischen Militär­administration in Deutschland (SMAD) vom 25. August 1945 werden die privaten Schulen geschlossen. Infolgedessen sind die Kirchen nicht in der Lage, sich im Bereich des Schulwesens als Konkurrenzinstitution zum Staat zu etablieren. Als am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet wird, weist die Leitung der SED der Schule eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll das politische System reproduzieren, und sie soll in den jüngeren Generationen eine sozialistische kulturelle Identität verankern. Sie soll die Wiege des neuen sozialistischen Menschen6 sein, dessen Umrisse von den ostdeutschen Pädagogen in einer dreifachen – deutschen, marxistischen und sowjetischen – Tradition gezeichnet werden. Auf sie konzentrieren sich alle Hoffnungen, den Aufbau und die Verstetigung einer sozialistischen Gesellschaft zu erleben, in einer Rückkehr zu dem Glauben, dass die Transformation einer Gesellschaft über Erziehung erfolgt. Anfänglich getragen von einem ungeheuren pädagogischen Optimismus, bemüht sich die SED – mit mehr oder minder großem Erfolg – den einzelnen Alters­ klassen jeweils angemessene Normen und Werte zu vermitteln, auf die die „sozialistische Zivilisation“ aufgebaut sein soll. Diese Anspielung auf Norbert ­Elias erlaubt uns nun eine erste Frage hinsichtlich des sozialistischen Subjekts:7 Wie internalisieren die Individuen jene sozialistischen Normen, die von der Schule transportiert werden? Werden diese in fine ein Bestandteil ihrer Identität? Aus diesen Fragestellungen erwächst die Hypothese, dass die sozialistische Erziehung auf der Internalisierung von Zwängen beruht, die über das Individuum selbst und über sein sozia6

Siehe hierzu u. a. Stefan Plaggenborg, Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln u. a. 1996 sowie Sabine Dengel, Untertan, Volksgenosse, Sozialistische Persönlichkeit: Politische Erziehung im Deutschen Kaiserreich, dem NS-Staat und der DDR, Frankfurt/M. 2005. 7 Das Selbst/self ist seit dem Pragmatismus der Gegenstand zahlreicher Arbeiten der amerikanischen Soziologie, insbesondere der Analysen von Mead. E. Goffman hat gezeigt, dass das Ich sozial fragmentiert und das Individuum eine Art Nomade ist, der entsprechend den Umständen von einer Rolle in eine andere gleitet. Das Ich existiert demnach lediglich in der Form von Rollen, die von den Akteuren abhängig vom Kontext, Ort und Öffentlichkeit eingenommen werden. E. Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patien­ ten und anderer Insassen, Frankfurt/M. 1973; ders., Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt/M. 1986. Siehe auch G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M. 1973.

Das Untersuchungsgebiet: Ost–Berlin

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les Umfeld (Familie, Erzieher) auf dieses ausgeübt werden und die sich danach in Selbstzwänge verwandeln. Da die Schule in der DDR ein äußerst stark ideologisierter Ort ist, wo die Politik notwendigerweise Einfluss auf die Konstruktion der Identitäten der Schüler ausübt, muss besondere Aufmerksamkeit auf die Konstruktion des sozialistischen Subjekts und auf den Sozialisationsprozess im Rahmen dieser „Erziehungsdiktatur“ gelegt werden. Wir entfernen uns damit vom „vollautomatischen“ Modell der totalitären Schule, in der die Schule einzig und allein als „Fabrik“ zur Produktion künftiger sozialistischer Staatsbürger betrachtet wird.8 Der Versuch, in die Schule einzutreten, bedeutet auch, hinter der Institution die leibhaftigen Akteure in ihrer Interaktion mit der kommunistischen Macht wiederfinden zu wollen. Das Ziel besteht hier darin, eine „dichte Beschreibung“ der sozialen Sachverhalte zu leisten, das heißt die Beziehungen, Verhaltensweisen, Repräsentationen und die Handlungen der Akteure im schulischen Universum in den Blick zu nehmen. Wegen der Quellenlage und der nötigen Eingrenzung des Forschungsgegenstands werden die Schüler der Berufsschulen und der Sonderschulen in dieser Studie nicht berücksichtigt.

Das Untersuchungsgebiet: Ost–Berlin Das vorliegende Buch stützt sich im Wesentlichen auf eine Feldforschung im ehemaligen Ost-Berlin. Dieser Bezirk9 ist in jener Zeit auch die Hauptstadt der DDR. Es ist für diese Studie eine mikrohistorische Ebene gewählt worden. Die Wahl der „Frontstadt“, jener Grenzzone, wo sich das kommunistische Regime einer real existierenden (und bis 1961 unmittelbaren) Konkurrenz durch das kapitalistische Modell ausgesetzt sieht, impliziert zunächst einmal den Verzicht auf jeglichen Anspruch auf Generalisierung. Die Frage der Generalisierbarkeit stellt sich aber weniger hinsichtlich der Repräsentativität als vielmehr hinsichtlich der Validität der Ergebnisse. Der Prozess der Generalisierung besteht nicht darin, dass durch Addition oder Multiplikation eine Gesamtsumme errechnet wird. Wir gehen vielmehr davon aus, dass es bestimmte Ebenen gibt, die aussagekräftiger sind als andere, wenn es darum geht, bestimmte Fragestellungen zu entwickeln oder bestimmte Hypothesen zu überprüfen. Ein so komplexes Phänomen wie die Schule liest sich, je nachdem ob es auf einer Mikroebene, regional oder national in den Blick genommen wird, mit jeweils völlig anderen Begriffen. Auf der Mikroebene zu arbeiten bedeutet, eine 8

J. Rodden, Repainting the Little Red Schoolhouse. A History of Eastern German Education 1945–1995, New York 2002. 9 Der Bezirk war das Ergebnis einer Neugliederung der Verwaltung der DDR im Jahre 1952 und ersetzte die Länder; die DDR verabschiedete sich damit von der föderalistischen Tradition.

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Einführung

bestimmte soziale Erfahrung in ihrer ganzen Komplexität zu rekonstruieren. Es geht dabei nicht darum, ein Oben und ein Unten zu unterscheiden, eine Makro- von einer Mikroebene. Wir sind aber davon überzeugt, dass die Mikroebene am ehesten geeignet ist, die soziale Realität, um die es hier geht, in den Griff zu bekommen. Ost-Berlin ist in mancherlei Hinsicht ein außerordentliches Untersuchungsgebiet: Es ist gleichzeitig ideal und einzigartig. Ideal wegen seiner Stellung als Hauptstadt der DDR, da sich in dieser Stadt ein großer Teil der politischen und kulturellen Eliten aufhält (deren Kinder die Schule besuchen) und da das kommunistische Regime hier  – (proletarischer) Adel verpflichtet  – beträchtliche Mittel für die Erziehung aufwendet, um in der Konkurrenz mit Westberlin bestehen zu können. Einzigartig, weil es in Ost-Berlin möglich ist, westliche kulturelle Einflüsse sowie die Wahrnehmung außerordentlicher Ereignisse wie des Volksaufstands vom 17. Juni 1953, des Baus der Mauer am 13. August 1961 und deren Fall am 9. ­November 1989 aus nächster Nähe zu betrachten. Obschon Ost-Berlin das eigentliche Untersuchungsgebiet ist, werden auch Vergleichsmöglichkeiten im Raum in ländlichen Gebieten (Mecklenburg) und anderen Stadtregionen (Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Potsdam, Frankfurt/Oder) ge­nutzt.

Ein neuer Pfad über ein historiographisches Feld Das hier vorliegende Forschungsprojekt schreibt sich in eine sozialgeschichtliche Schule historiographischer Forschung ein, die seit den frühen 1950er Jahren besteht und die seit 1990 – seit der Öffnung der offiziellen Archive des abgesetzten Regimes – exponentiell an Beliebtheit zugenommen hat. Der im Folgenden verfolgte soziohistorische Ansatz wird allerdings in Deutschland in Arbeiten über die Institution Schule bislang kaum angewandt. Diesseits des Rheins ist die Schule in erster Linie ein Untersuchungsobjekt für Erziehungswissenschaftler. Anders als in Frankreich hat sich hier bislang kein Historiker in die Materie eingearbeitet. Der Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Schulsystem datiert in der DDR wie in der BRD auf die Mitte der 1950er Jahre und ist selbstverständlich geprägt vom ideologischen Klima des Kalten Krieges. In der DDR beschreibt die Forschung in den Bänden der Monumenta Paedagogica in eher hagiographischer Manier die Etappen, die schließlich zur Einrichtung der sozialistischen Schule geführt haben.10 In der BRD wird die Forschung dadurch behindert, dass die Archive nicht zugänglich sind. Immerhin verfügt die westliche Forschung über die einschlägigen Gesetze und Verordnungen, was allerdings dazu 10 K.-H. Günther/G. Uhlig, Geschichte der Schule in der DDR 1945–1971, Berlin (Ost) 1974.

Ein neuer Pfad über ein historiographisches Feld

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führt, dass sie sich auf die Untersuchung der Bildungspolitik und der organisatorischen Struktur des ostdeutschen Schulsystems konzentriert.11 Sie betreibt ihre Studien implizit in vergleichender Perspektive zum westdeutschen Schulwesen; das Ziel besteht letztlich darin, das Schulsystem der anderen Seite zu delegitimieren. Tatsächlich haben westdeutsche Arbeiten jede Gelegenheit genutzt, die „totalitäre Erziehung“,12 die von den deutschen Wurzeln abgetrennte „sowjetisierte Schule“13, zu denunzieren, womit sie gleichsam der DDR jeglichen Anteil am deutschen päda­ gogischen Erbe absprechen. Der totalitaristische Ansatz hat das Forschungsfeld Schulsystem bis 198914 selbst in der Phase der „kritischen Immanenz“ in den 1970er Jahren bestimmt, als Politologen wie Glaessner und Ludz versuchen, die DDR in ­ihrer Eigenlogik zu verstehen und eine Autonomie der Gesellschaft vom „SEDStaat“ zu postulieren. Auch seit dem Beginn der neunziger Jahre und der Öffnung der Archive bleiben Analysen im Bereich der ostdeutschen Schulgeschichte in Deutschland weiterhin eine Domäne von Spezialisten, die meist einer totalitaristischen Sichtweise verpflichtet sind.15 Diese Arbeiten konzentrieren sich im Wesentlichen auf drei Punkte: die Entwicklung des Schulsystems,16 die pädagogische Theorie17 und die Unterrichts­ fächer.18 Neben solchen strukturellen oder didaktischen Themen hat eine bestimmte Gruppe von Akteuren in der schulischen Welt das Interesse der Forschung auf sich gezogen: die Figur des Unterrichtenden, und zwar insbesondere die des Neulehrers, jener neuen Lehrkräfte, die rekrutiert werden, um die Nazi-Lehrer zu ersetzen 11 S. Baske/M. Engelbert (Hg.), Zwei Jahrzehnte Bildungspolitik in der SBZ, 2 Bde., BerlinWest 1966. 12 M. G. Lange, Totalitäre Erziehung. Das Erziehungssystem der Sowjetzone Deutschlands, Frankfurt/M. 1954. 13 L. Froese, Sowjetisierung der deutschen Schule, Freiburg 1962; G. Möbus, Psychologie und Pädagogik des Kommunismus, Opladen 1957. 14 O. Anweiler, Schulpolitik und Schulsystem in der DDR, Opladen 1988. 15 C. Fuhr/C.-L. Furck (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI, Teil II: DDR, München 1998. 16 G. Geissler/U. Wiegmann, Schule und Erziehung in der DDR, Berlin 1995; dies., Pädagogik und Herrschaft in der DDR. Die parteilichen, geheimdienstlichen und vormilitärischen Erziehungsverhältnisse, Berlin 1996. 17 D. Benner/H. Sladek, Vergessene Theoriekontroversen in der Pädagogik der SBZ und DDR 1946–1961, Weinheim 1998. Siehe auch W. Cloer/R. Wernstedt (Hg.), Pädagogik in der DDR. Eröffnung einer notwendigen Bilanzierung, Weinheim 1994. 18 T. Grammes, Staatsbürgerkunde zwischen Katechetik und Dialektik: Interpretationsrahmen zu einer Problemgeschichte von Fachunterricht in der DDR, in: S. Häder/H. E. ­Tenorth (Hg.), op. cit., S. 155–182; C. Mätzing, Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus. Untersuchungen zu Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht in der DDR, Hannover 1999.

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Einführung

und die die „Husaren des Sozialismus“ sein sollen.19 Diese Arbeiten sind in ihrer Gesamtheit in hohem Maße insofern selbstreferentiell, als sie sehr häufig von dem Bemühen geprägt sind, Parallelen zum Dritten Reich zu ziehen, während der Vergleich mit anderen Ländern Ost- oder gar Westeuropas unterbleibt.20 In den meisten Fällen identifiziert und analysiert die deutsche Forschung die Machtstrukturen und -verhältnisse, die die sozialen Mechanismen bestimmen,21 aber in den allerseltensten Fällen – wenn überhaupt – ist die Rede von den Erfahrungen, Wahrnehmungen und Intentionen der Individuen. 1998 veröffentlicht die aus dem östlichen Deutschland stammende Soziologin Sonja Häder die Ergebnisse einer Untersuchung der Transformation des Schulalltags für die Kinder zwischen 1945 und 1958 am Beispiel einer Schule in Ost-Berlin.22 Im Wesentlichen auf der Grundlage oraler Überlieferung versucht sie zu erfahren, welche Erfahrungen Kinder gemacht haben, die unter dem kommunistischen Regime aufgewachsen sind, und vertritt die These von einer „Normalität des Alltags“, wie sie auch schon für den Nationalsozialismus formuliert wurde. Die subjektive Dimension und der Wille, die von einer Generation geteilten Erfahrungen zu rekonstruieren, bilden auch den Kern der Arbeit Dorothee Wierlings über die Generation von 1949.23 Die deutsche Historikerin ergänzt die Behördenarchive um eine ganze Reihe von Interviews und ist so in der Lage, in den ersten Kapiteln ihres Buches nicht nur den Sozialisationsprozess der Angehörigen dieser Altersklasse zu rekonstruieren, sondern auch die Art und Weise, in der sie ihre Kindheit und ihre Adoleszenz erfahren haben.

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B. Hohlfeld, Die Neulehrer in der SBZ/DDR 1945–1953. Ihre Rolle bei der Umgestaltung von Gesellschaft und Staat, Weinheim 1992; U. Mietzner, Enteignung der Subjekte – Lehrer und Schule in der DDR. Eine Schule in Mecklenburg von 1945 bis zum Mauerbau, Opladen 1998; P. Gruner, Die Neulehrer  – Ein Schlüsselsymbol der DDR-Gesellschaft. Biographische Konstruktionen von Lehrern zwischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Erwartungen, Weinheim 2000. 20 Zu den Möglichkeiten vergleichender Studien über die DDR und westeuropäische Länder siehe H. Kaelble, Die Gesellschaft der DDR im internationalen Vergleich, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 559– 580. 21 S. Häder/H.-E. Tenorth (Hg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur. Bildung und Erziehung in SBZ und DDR im historisch-gesellschaftlichen Kontext, Weinheim 1997. 22 S. Häder, Schülerkindheit in Ost-Berlin. Sozialisation unter den Bedingungen der Diktatur (1945–1958), Köln 1998. 23 D. Wierling, Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektiv­biographie, Berlin 2002.

Behördenarchive und Vor-Ort-Überlieferung

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Behördenarchive und Vor-Ort-Überlieferung Die Öffnung der Archive der ehemaligen DDR zu Beginn der 1990er Jahre, die einer bewussten Politik der westdeutschen Regierung entsprach, ist von dem Historiker Etienne François als „archivistische Revolution“ bezeichnet worden.24 Sie bietet dem Historiker des Kommunismus eine einzigartige und außergewöhnliche Gelegenheit: Er ertrinkt förmlich in den behördlichen Quellen. Es darf dabei aber nicht vergessen werden, dass die Materialien in den Behördenüberlieferungen zwei Dimensionen aufweisen: Auf der einen Seite müssen die Intentionen derer berücksichtigt werden, die die Berichte anfertigen und sie an die nächsthöhere Behörde weiterreichen.25 Auf der anderen Seite haben wir, die wir uns als Historiker in der Formulierung Marc Blochs am „Ende der Kette“ befinden, mit einer zunehmenden Anzahl von Filtern und Barrieren zu kämpfen, die sich zwischen den Historiker und die beschriebene Wirklichkeit schieben. Die Archive der DDR-Behörden sind für die 1950er Jahre von ungeheurem qualitativem Interesse, wenn es darum geht, die Umwälzungen in der Institution Schule zu verstehen. Ab den 1960er Jahren sind die offiziellen Berichte unabhängig von der Ebene, auf der sie angefertigt wurden, voll von Worthülsen und Phrasen – in einem solchen Maße, dass die Archive der DDR mit der Realität nicht mehr viel gemein haben: Sie reflektieren sie nicht mehr, sondern sie träumen sie. Der Historiker steht gleichsam vor einer Nebelwand, die eine Rekonstruktion der Realität behindert. Um diese ungünstigen Effekte der Behördenüberlieferung möglichst umgehen zu können, greifen wir außerdem auf Meinungsumfragen zurück. Die DDR schätzt Meinungsumfragen lange Zeit gering und hält die Soziologie für eine „bürgerliche Wissenschaft“. So wird das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig erst 1966 eingerichtet.26 Tatsächlich werden jedoch bereits in den 1950er Jahren vom

24 E. François, Révolution archivistique et réécriture de l’histoire: l’Allemagne de l’Est, in: H. Rousso/N. Werth (Hg.), Stalinisme et nazisme. Histoire et mémoire comparées, Bruxelles 1999, S. 331–354. 25 E. François, Les trésors de la Stasi ou le mirage des archives, in: J. Boutier/D. Julia (Hg.), Passés recomposés. Champs et chantiers de l’histoire, Paris 1995, S. 145–151. 26 Das von Walter Friedrich geleitete Institut unterstand dem Amt für Jugendfragen des Ministerrats. Es spiegelt die zunehmende Akzeptanz der Soziologie in der DDR, nachdem diese in den fünfziger Jahren wegen ihres „bourgeoisen“ Charakters verboten gewesen war. Siehe W. Friedrich (Hg.), Das Zentralinstitut für Jugendforschung 1966–1990. Geschichte, Metho­den, Erkenntnisse, Berlin 1999; E. Berlinger/B. Hausstein/E. Riedel, Jugend im ­Osten. Sozialwissenschaftliche Daten und Kontextwissen aus der DDR sowie den neuen Bundesländern (1969–1995), Berlin 1997. Siehe auch K. Henderson, The Search for Ideological Conformity: Sociological Research on Youth in the GDR unter Honecker, in: ­German History, vol. 10, N° 3, 1992, S. 318–334.

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Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut (DPZI)27 sowie zu Beginn der sechziger Jahre von den regionalen Leitungsorganen der Freien Deutschen Jugend Meinungsumfragen durchgeführt. Über diese Meinungsumfragen hinaus hatten wir den Anspruch, „Vor-OrtArchive“ ausfindig und nutzbar zu machen. Dieser Versuch mündete schließlich in eine nicht enden wollende Treibjagd auf empirische Indizien, die häufig von der deutschen Forschung unbeachtet geblieben sind. Ein großer Teil der Forschungsaufenthalte in Berlin in den Jahren 2001 bis 2005 diente gerade dazu, diese VorOrt-Überlieferungen ausfindig zu machen.28 Wir verstehen unter diesem Begriff alle Quellen, die im Zuge des schulischen Alltags von lokalen Akteuren wie dem Schuldirektor oder dem Lehrkörper produziert werden: Protokolle von Lehrerkonferenzen, Schulchroniken, Klassenbücher usw. Diese Dokumente bieten einen Zugang zu Informationen, die in den behördlichen Quellen oftmals unterschlagen werden: Angaben über materielle Schwierigkeiten, über Spannungen innerhalb des Lehrkörpers, über die Konkurrenz zwischen Lehrenden und politischen Funktionären, über die Wirkung von Schulreformen, über die pädagogische Praxis. Die eigentliche methodologische Herausforderung besteht allerdings darin, zumindest auch über eine Gruppe von Akteuren zu arbeiten, die häufig als die „großen Stummen der Geschichte“ bezeichnet werden, nämlich über die Schüler. Abgesehen von Romanen und Autobiographien sind Äußerungen über das Alltagsleben an den Schulen von dieser Seite äußerst rar. Kinder und Jugendliche äußern sich nicht sehr oft in schriftlicher Form, sofern man nicht ihre Klassenarbeiten als Quelle heranziehen will, was wiederum ganz eigene methodologische Probleme aufwirft. Tatsächlich erfahren wir aus letzteren in erster Linie etwas über die Funktionsweise der Schule, das heißt darüber, wie und in welchem Maße die marxistisch-leninistische Lehre internalisiert wird und wie manche Schüler sie umfunktionieren, um die Grenzen akzeptablen Verhaltens zu erweitern. Die verfügbaren Quellen sind also, von wenigen Ausnahmen abgesehen, indirekt, da sie von Erwachsenen angefertigt werden: Der Schuldirektor, der Lehrende, der Funktionär der FDJ und der Schulinspektor sind diejenigen, die sich über die Schüler äußern. Um auf dieser Grund­ lage die Verhaltensweise einer Kategorie „stummer“ Akteure rekonstruieren zu kön-

27 Das Deutsche Pädagogische Zentralinstitut wurde 1949 gegründet und sollte als Vermittlungsinstanz zwischen dem Ministerium für Volksbildung und den Lehrkräften dienen. Es wurde damit betraut, Inspektionen und Untersuchungen durchzuführen sowie die offizielle Pädagogik zu verbreiten. Sein erster Leiter war Hans Siebert; sein persönlicher Nachlass findet sich im BBF. 1970 wurde das DPZI in die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, APW umgewandelt; ihr Vorsitzender war bis 1989 Gerhart Neuner. 28 E. Droit, L’éducation en RDA ou la quête de l’homme socialiste nouveau (1949–1990), in: Histoire de l’Education, Paris, N° 101, janvier 2004, S. 3–33.

Der Wert der Fotografie und der oralen Überlieferung

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nen, bedarf es sowohl der Vorstellungskraft des Historikers als auch einer breiten Palette von Quellen.

Der Wert der Fotografie und der oralen Überlieferung Angesichts der „Betonsprache“ und des „Schweigens“ großer Teile der schriftlichen Überlieferung haben wir unseren Quellenkorpus ergänzt um die Fotografie; ihre Einbeziehung besitzt einen Wert, der dem Forschungsprojekt zugute kommt. Dabei sollen die Fotografien nicht auf die einfache Rolle von Illustrationen beschränkt werden. Sie sind ihrerseits zu analysieren, um so einen intensiven Blick auf die Schulwirklichkeit werfen zu können: auf die symbolische Dimension der Einrichtung von Klassenräumen, auf die Erlebnisse der Akteure in der Institution (Aktivitäten, Feste, Rituale). Die aufgefundenen Bilder teilen sich in offizielle Fotografien29 zur Illustration von Büchern und Broschüren des Verlags Volk und Wissen einerseits, in Abzüge von Amateuren, die in den Vor-Ort-Überlieferungen erhalten sind, andererseits. Die Analyse der offiziellen Fotografien erlaubt eine Dekonstruktion der visuellen Politik des Ministeriums für Volksbildung, d. h. der Art, in der die Schule in der DDR gesehen werden sollte. Gleichzeitig scheint eine einfache Dichotomie zwischen offizieller und „privater“ Fotografie unangebracht, da sie in mancherlei Hinsicht zu sehr vereinfachen würde. Tatsächlich befinden sich beide Sphären in ständigem Kontakt miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Die Personen, die die Fotos machen, leben in einer Welt von Bildern, deren Motive von professionellen Pressefotografen vorgegeben sind – und damit letzten Endes vom Staat. Dieses Verhältnis zwischen Bild und Bildung, zwischen Bild und Bildkultur darf nicht unberücksichtigt bleiben, da die Individuen, die in einer bestimmten Bilderwelt leben, bewusst oder unbewusst das Bestreben haben können, die von den Behörden verbreiteten Motive zu reproduzieren. Vervollständigt wird der für diese Studie zusammengestellte Quellenkorpus durch Interviews. Es dürfte unnötig sein, daran zu erinnern, in welchem Maße Sozio­logie und Ethnologie seit langer Zeit Gebrauch von dieser Technik machen.

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Diese offiziellen Fotografien waren sämtlich das Werk professioneller Fotografen, die beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) beschäftigt waren. Der ADN wurde 1946 gegründet und befand sich vollständig unter Kontrolle der kommunistischen Partei bzw. ab Beginn der fünfziger Jahre des ostdeutschen Staates. Der ADN war die einzige offizielle Bildagentur in der DDR. Die Fotografen, die für ihn arbeiteten, erlebten ihre Arbeit als streng kontrolliert und häufig auch zensiert. Siehe M. Minholz/U. Stirnberg, Der Allge­ meine Deutsche Nachrichtendienst (ADN). Gute Nachrichten für die SED, München 1995.

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Es stellt sich aber die Frage, in welcher Weise diese vom Historiker „provozierte Überlieferung“ in der historischen Erzählung verwendet werden kann. Wir haben es hier mit dem selektiven Gedächtnis von Menschen zu tun, die durch das Herauf­ beschwören ihrer persönlichen Erinnerungen mitunter versuchen, ihr Handeln oder ihre Politik zu rechtfertigen. Trotz der methodologischen Probleme erlaubt es das Interview allerdings, die konkreten Erfahrungen ehemaliger Schüler mit der militärischen Erziehung oder der politischen Stigmatisierung der fünfziger Jahre zu untersuchen. Für die vorliegende Arbeit wurden dreißig halbstrukturierte Interviews geführt; bei der Auswahl der Gesprächspartner wurde nach Alter, Geschlecht, Grad der Zugehörigkeit zum Regime differenziert. Die interviewten Personen gehören also hinsichtlich ihrer Einschulung oder Berufstätigkeit in der Schule zwischen 1949 und 1989 unterschiedlichen Jahrgängen an. In einigen Fällen wurden mehrere Mitglieder einer Familie befragt, um die soziale Gliederung des Gedächtnisses, die Vermittlung von Werten, die Evolution von Verhaltensweisen (beispielsweise im Bereich des kulturellen Geschmacks) und Denkweisen über mehrere Generationen hinweg herausarbeiten zu können. Die Interviews geben nicht vor, repräsentativ zu sein, aber sie erlauben es, die Erfahrung der schulischen Welt dem jeweiligen Kontext entsprechend zu untersuchen. Die grobe Gliederung des Buches baut diachronisch auf der Unterscheidung zweier Perioden auf: 1949–1959/1961 und 1961–1989. Diese Gliederung ergibt sich aus der Forschungshypothese, auf der die Fragestellung der Arbeit aufbaut: Die Schule der DDR stabilisiert sich in den sechziger Jahren, indem sie ihren kontrollierenden, disziplinierenden und überwachenden Charakter auf Kosten ihrer politisch-pädagogischen Dimension und des utopischen Projekts des neuen sozialistischen Menschen verstärkt. Dieser Paradigmenwechsel ist begleitet vom Einüben der Verhaltensnormen und von der Ausdehnung der Dominanz auf die Schüler selbst, in Form von Kader- und Überwachungsfunktionen im Rahmen der Jugendorganisationen beziehungsweise für die politische Polizei. Wir haben das Jahr 1949 als terminus post quem gewählt, weil dieses Datum den Beginn des Aufbaus eines sozialistischen Schulwesens markiert. Wir werden selbstverständlich nicht umhin kommen, uns auch mit der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945–1949) zu beschäftigen, da diese Periode von tiefgreifenden Umwälzungen hinsichtlich der Strukturen und des Personals geprägt ist. Zwischen 1949 und 1959/1961 ist die Sozialisierung der Schüler bestimmt von den so­zialen und materiellen Folgen des Krieges, den umfassenden sozialistischen Transformationsvorhaben im Bereich der Schule (Struktur, räumlicher und zeit­licher Rahmen) sowie vom unmittelbaren Druck, den die Konkurrenz seitens des westlichen Modells ausübt. All dies läuft nicht ohne Reibereien und Regelverletzungen seitens derer ab, die die sozialistische Ordnung erlernen sollen.

Der Wert der Fotografie und der oralen Überlieferung

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Die Periode, die mit dem Abschluss der strukturellen Reformen und dem Bau der Mauer beginnt (1959/1961–1989), markiert einen Generationswechsel sowohl beim Lehrkörper als auch bei der Schülerschaft. Ihr entspricht eine Phase struktureller Stabilisierung der Institution Schule, die von nun an als Polytechnikum bezeichnet wird, in dem pädagogischen Akteuren wie dem Wirtschaftsbetrieb oder der Armee wichtige Funktionen übertragen werden. Die Verhaltensnormen wiederum werden von einer großen Mehrheit der Eltern akzeptiert. Sofern es „Provokationen“ in der Schule gibt, sind sie im Wesentlichen nicht mehr politischer, sondern kultureller Natur ( Jeans, lange Haare), auch wenn sie weiterhin als politisch wahrgenommen werden. Die relative Stabilität des schulischen Feldes erlaubt es den Erziehungsbehörden, bestimmte Werte wie Frieden, Vaterland und Sozialismus zu vermitteln, die die Schüler sich auf ihre Weise aneignen. Ungeachtet der Konstruktion eines mehr oder minder sozialistischen Subjekts orientiert sich die Mehrzahl der Schülerschaft, geprägt durch Medien und Familie, nach Westen. Diese Stabilisierung erfolgt parallel zu einer zunehmenden Verstärkung der disziplinarischen Dimension von Schule seit dem Beginn der 1970er Jahre. Die Schule wird zu einem äußerst intensiv betreuten Ort, der zunehmend die Tendenz hat, sich in ein Instrument zur Kontrolle und Überwachung zu verwandeln, vermittelt über eine fortschreitende Militarisierung der Erziehung und eine Politik der Rekrutierung von inoffiziellen Mitarbeitern durch die politische Polizei. Das prometheische Projekt der ersten Jahre, die Schaffung des neuen sozialistischen Menschen, wird somit reduziert auf die Herausbildung einer kleinen Elite überzeugter Sozialisten. In diesem Kontext ideologischer Erstarrung bricht das politische System im Herbst 1989 zusammen. Dieser Bruch wiederum bewirkt einen praktisch unmittelbaren Zusammenbruch der Strukturen erzieherischer Betreuung, die auf den Misthaufen der Geschichte geworfen werden.

Die Schule neuen Typs (1949–1959)

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Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Institution Schule von sämtlichen politischen Kräften der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) als ein wesentliches Instrument zur Formung des neuen Menschen und zur Begründung einer neuen sozialen und politischen Ordnung angesehen. Die Schulhistoriographie in der DDR verwendet die Attribute „antifaschistisch“ und „demokratisch“ zur Qualifizierung der Jahre 1949–1959, die sich durch grundlegende Veränderungen hinsichtlich der Struktur und des Personals aus­zeich­nen. Die Begriffe „antifaschistisch“ und „demokratisch“ konstituieren das Versprechen einer neuen Ordnung, die auf einer Reinigung und auf der Möglichkeit aufbaut, dass sich den Kindern über die Schule ein Weg zu sozialem Aufstieg öffnet. Tatsächlich aber verweisen sie konkret auf die Etablierung einer sozialistischen Schule, deren Funktion darin besteht, den wichtigsten Ort für die Verbreitung der Normen und Werte zu bilden, die die Legitimität des neuen politischen Systems begründen sollen. Die DDR bildet in dieser Hinsicht keinen historischen Sonderfall. Im Kaiser­reich sollte die Schule die Zöglinge gegen den Sozialismus immunisieren; in der Weimarer Republik sollte sie Nationalbewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln; unter dem Dritten Reich transportierte sie rassistische Konzep­ tionen.1 Der Umbruch im Bereich der Strukturen und des Personals beginnt unmittelbar im Anschluss an das Kriegsende und wird begleitet von philosophischen und pädagogischen Reflexionen über die Frage, was das neue erzieherische Projekt genau sein soll. Er wird in den frühen fünfziger Jahren von einer Transformation des räumlichen und zeitlichen Rahmens und der Einbeziehung der Institution Schule in ein Rekrutierungssystem der Jugendorganisationen und Unternehmen flankiert. Allerdings wird der Aufbau dieser sozialistischen Schule durch Spannungen zwischen den verschiedenen Akteuren des Erziehungsbereichs verzögert. Darüber hi­ naus muss sie sich gegen westlichen kulturellen Einfluss und gegen Handlungen des Widerstands, der Provokation, der Regelverletzung seitens der Schüler durchsetzen.

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H. Becker/G. Kluchert, Die Bildung der Nation. Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiser­reich zur Weimarer Republik, Stuttgart 1993.

Kapitel I Neue philosophische und strukturelle Grundlagen

Unmittelbar nach dem Krieg, in Reaktion auf die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur, aber auch auf autoritäre Erziehungstraditionen allgemein,1 orientiert sich der Wille, den neuen Menschen zu formen sowie Verhaltensweisen und Gewissen zu verändern einerseits an einer Rückkehr zu einem humanistischen Erziehungskonzept, andererseits hin auf eine grundlegende Reform des Schulwesens, wie sie von allen beteiligten politischen Akteuren gewünscht wird, sowie auf die Erstellung neuer schulischer Programme und Lehrbücher.

Die Bedeutung des Wortes Erziehung in der DDR Welcher Auffassung vom Menschen und von seinem Platz in der neuen Gesellschaft entspricht der Begriff Erziehung in der DDR? Die westdeutsche Historiographie hat die Wirksamkeit einer deutschen Tradition, die sich in Erziehungsfragen aus der Aufklärung ableitete, immer geleugnet. Mit dem Ziel, die BRD als einzige Erbin des deutschen humanistischen pädagogischen Denkens darstellen zu können, haben westdeutsche Forscher wie Leonhard Froese eine „sowjetisierte Schule“ denunziert, die von ihren deutschen Wurzeln abgeschnitten sei, womit gleichzeitig das ostdeutsche pädagogische Denken delegitimiert wurde.2 Die deutsche Sprache kennt zwei Begriffe für den pädagogischen Bereich: Bildung und Erziehung. In Frankreich stand der Begriff der instruction (Bildung; Ausbildung; Instruktion) lange Zeit in Konkurrenz zur immer etwas vage gebliebenen éducation (Erziehung; Edukation). Zwar ist eine Archäologie der Begriffe „Bildung“ und „Erziehung“ hier nicht am Platz; die Betrachtung dieses Paares ermöglicht es uns aber, die pädagogischen Konzepte in der DDR in eine Geschichte der longue durée zu integrieren. So reklamiert das pädagogische Denken der DDR eine dreifache Tradition: Das Erbe des deutschen pädagogischen Denkens seit dem 18. Jahrhundert, das Erbe des marxistischen Denkens und der deutschen Arbeiterbewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie den jüngeren Einfluss der sowjetischen Pädagogik. Das Konzept Bildung, das sich in der deutschen Sprache seit dem frühen 19. Jahrhundert etabliert hat, bezieht sich in seinen etymologischen Wurzeln auf 1 2

K. Jarausch, „Professor Unrat“, in: E. François/H. Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, München, Bd. 2, S. 315–331. L. Froese, Sowjetisierung …, op. cit.

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die Schaffung und Formierung des Individuums als autonomen Subjekts.3 Es hängt eng zusammen mit einer philosophischen Reflexion über Subjektivität, das heißt über „die Berücksichtigung des Verhältnisses zu sich selbst bei der Konstituierung jeglichen Wissens“.4 Es ist deutlich geprägt vom „Geist der Aufklärung“ und insbesondere in Deutschland von der idealistischen Philosophie Kants und der Weimarer Klassik, wie sie sich in den Bildungsromanen eines Goethe inkarniert. Im Übrigen entwickelt Wilhelm von Humboldt eben auf der Grundlage des Kantschen Idealismus seine Bildungsphilosophie. Seit den pädagogischen Reformen, die Humboldt nach der napoleonischen Besetzung Preußens in den Jahren 1806/1807 in Gang setzt,5 ist es eng mit der Vorstellung einer allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit des Individuums als in autonomer Weise denkenden und handelnden Subjekts verknüpft. Der Staat hat die Aufgabe, diese Entwicklung im Rahmen von Institutionen zu fördern, soll aber nicht deren Inhalte bestimmen. Im 19. Jahrhundert ist die Bildung eines der Schlüsselkonzepte des liberalen deutschen Denkens, wie es sich im Bildungsbürgertum verkörpert.6 Dieser Tradition zufolge kommt der Bildung in dem Maße eine befreiende Funktion zu, in dem sie es dem Individuum gestattet, zur Autonomie aufzusteigen. Der Begriff Erziehung dagegen verbindet sich vor allem mit der Vorstellung eines Herausreißens aus dem Naturzustand. Bei Kant enthält er eine disziplinierende Dimension, indem er Lehre durch Zwang während der Kindheit vorsieht. Erziehung bedeutet die Dressur des Menschen, bedeutet, ihn zu zwingen, aus dem Naturzustand herauszutreten: Sie stellt eine erste, von äußerem Zwang geprägte Etappe auf dem Weg zur Autonomie dar.7 Er wird wieder aufgegriffen von Fichte in seinen berühmten Reden an die deutsche Nation von 1806 in Form eines

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G. Dohmen, Bildung und Schule: Die Entstehung des deutschen Bildungsbegriffs und die Entwicklung seines Verhältnisses zur Schule, 2 Bde., Weinheim, 1964–1965. Siehe auch N. Luhmann, das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 186–190. E. Prokob, „Victor Cousin, le philosophie et le sujet de l’éducation“, in: M. Gessmann/F. Heidenreich (Hg.), Bildung in Frankreich und Deutschland. Ideale und Politiken im Vergleich, Münster 2006, S. 42–70. C. Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, der Bildung und Reform des Bildungswesens in der preußischen Reform, Hannover 1975; Rudolf Vierhaus, „Die Brüder Humboldt“, in: E. François/H. Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 9–25. Dieser nicht ins Französische übersetzbare Begriff bezeichnet ein formiertes und gebildetes Bürgertum, zu dem etwa die Ärzte, Anwälte, Universitätsprofessoren und Gymnasiallehrer zählen. Gemeinsam ist ihnen eine humanistische Kultur, die auf dem Gymnasium erworben wurde. I. Kant, Werke. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Band 10, Darmstadt 1983, S. 698–699.

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Plädoyers, die deutschen Untertanen an eine Nation zu binden, die erst noch geschaffen werden muss: Er spricht hier von „Nationalerziehung“.8 An welche Tradition knüpfen die Pädagogen an, die nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR aktiv sind? Eine Durchsicht der Akten des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts (DPZI) und seiner Zeitschrift Pädagogik zeigt eine Veränderung in der Verwendung der Begriffe Bildung und Erziehung zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der 1960er Jahre. In der ersten Zeit, in den Jahren 1945–1949, dominiert der Begriff Bildung das schulische Feld in der Sowjetischen Besatzungszone. Er wird zusammen mit den attributiven Adjektiven humanistisch oder demokratisch gebraucht. In diesem Geiste verfassen Pädagogen unterschiedlicher politischer Richtung wie der Liberale Th ­ eodor 9 10 11 Litt , der Sozialist Max Kreuziger und die Kommunisten Robert Alt und Karl Sothmann12 im Jahre 1947 ein pädagogisches Manifest, in dem sie die Entwicklung des Individuums und seiner Autonomie ins Zentrum eines pädagogischen Projektes setzen, das die Heraufkunft der neuen demokratischen Gesellschaft ermöglichen soll. Seine Wurzeln findet der Text in der deutschen neohumanistischen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts (mit Bezugnahmen auf Goethe, Lessing, ­Schiller, Herder und Humboldt), er zeigt aber auch den Einfluss der Reformpädagogik13 des   8   9

J. G. Fichte, Rede an die deutsche Nation. Erste Rede, München 1922. Theodor Litt (1880–1962) ist ein Pädagoge und Philosoph, dessen pädagogisches Denken das Individuum ins Zentrum stellt. 10 Max Kreuziger (1880–1953) ist gleichzeitig Lehrer und – ursprünglich – sozialdemokratischer Politiker im Bezirk Prenzlauer Berg. In der Weimarer Republik leitet er eine Schule, die von pädagogischen Reformideen beeinflusst ist. Im Dritten Reich wird er von seinen Ämtern entfernt, und 1944 nach Sachsenhausen deportiert. Nach 1945 tritt er in die SED ein und übt Ämter auf lokaler Ebene sowie in der deutschen Erziehungsverwaltung aus. 11 Robert Alt (1905–1978) ist ein Pädagoge jüdischer Herkunft, der zunächst diskriminiert, dann nach Auschwitz deportiert wurde. Nach 1945 wird er Dozent an der Universität Berlin und wird eine der zentralen Persönlichkeiten der wissenschaftlichen ostdeutschen Bildungsforschung. Siehe U. Wiegmann, „Über vergessene, verschwiegene und verdrängte Ursprünge des marxistischen Erziehungsbegriffs bei Robert Alt“, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Band 10, 2004, Bad Heilbrunn, S. 75–100. 12 Karl Sothmann (1895–1993), Mitglied der KPD seit 1921, hat in den Jahren 1920–1930 innerhalb der Partei Verantwortung im Bereich der Bildung ausgeübt; 1945 ist er Leiter der akademischen Aufsichtsbehörde in Berlin. Er wird danach ein enger Berater Paul Wandels, bevor er die Abteilung für Theorie und Methode des DPZI übernimmt. BBF/DIPF, Nachlass Karl Sothmann. 13 Der Begriff Reformpädagogik bezeichnet eher einen historischen Zeitabschnitt (1890– 1933) denn eine bestimmte Strömung innerhalb des pädagogischen Denkens. Diese internationale pädagogiktheoretische Bewegung reagiert auf einen als autoritär beurteilten traditionellen Unterricht und legt das Hauptgewicht auf den Wissenserwerb. Ihre zahlreichen Theoretiker wie Dewey, Grunwald, Montessori, Key und Steiner betonen die Autonomie

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frühen 20. Jahrhunderts und der Zeit der Weimarer Republik: „Es ist das Programm einer humanistischen Bildung im einfachen wahren Sinne dieses Wortes. […] Vor ihm [dem Lehrer] muß das Bild vom Menschen in klarem Bewusstheit stehen, des Menschen als einer voll entwickelten Individualität einer menschlichen Ganzheit.“14 Im Kontext der Nachkriegszeit zielt dieses Programm darauf ab, ein Gegengewicht zur Schulpolitik des Nationalsozialismus zu entwickeln, die als Indoktrinierung aufgefasst wird und die den Geist der jungen Deutschen zwölf Jahre lang vergiftet hat. Um zu einem Konsens zwischen den verschiedenen politischen Richtungen zu kommen, die in der mit der Abfassung des Manifests beauftragten Kommission vertreten sind, beschließt man, das Ziel der Edukation so zu formulieren, dass es zur Entwicklung eines „sozialen und humanistischen Bewusstseins“ beitragen soll.15 Mit dieser Formulierung wird der Doppelcharakter des Humanismus unterstrichen, das heißt sein individueller und kollektiver Sinn. Ab den späten 1940er Jahren definiert die SED allein die Linien der Edukationspolitik. Im Jahre 1952 wird eine Pädagogenkommission des DPZI unter der Leitung Karl Sothmanns beauftragt, ein neues Programm zu entwerfen, das die Grundzüge des Edukationsprojekts in der DDR angeben soll. Von nun an ersetzt die sozialistische Erziehung die humanistische und demokratische Bildung. Anstelle der Bedeutung, die der Würde und der Freiheit des Individuums beigemessen wurden, fordern die Experten die Staatsbürger auf, sich in den Dienst des neuen sozialistischen Staates zu stellen. Das im Programm von 1947 gefeierte Individuum verschwindet im Text von 1952 hinter dem vollständig entwickelten Menschen: „Wird der Mensch im Kapitalismus zur Unfreiheit, zum Teilmenschen erzogen, so ist das große und hehre Ziel des Sozialismus der allseitig entwickelte Mensch.“16 Auf semantischer Ebene wird das Wort Erziehung nun weitaus häufiger verwendet, bleibt aber mit dem Begriff Bildung verbunden. Der quasi systematische Gebrauch dieses Begriffspaares in allen offiziellen Dokumenten und den Schriften zur pädagogischen Philosophie spiegelt den Willen, sich in die deutsche Tradition der Bildung einzuschreiben (um nicht den Lehrkörper vor den Kopf zu stoßen, von dem ein Teil in der Weimarer Republik im Amt gewesen war) ebenso wider wie die Entschlossenheit, das Erbe des marxistischen Denkens und den Einfluss der sowjetischen Päda­ gogik zu betonen. des Zöglings und die Lehre durch praktische Arbeiten. Vgl. J. Oelkers, Reformpädagogik – eine kritische Dogmengeschichte, 3. Aufl. Weinheim 1996. 14 BBF/DIPF, Nachlass Karl Sothmann 04.01/1, Entwurf zu einem Pädagogischen Manifest, 21. Juni 1946, pag. 1. 15 BBF/DIPF, Nachlass Karl Sothmann 04.01/1, Zur Struktur des Pädagogischen Manifests, 31. Oktober 1946, pag. 3. 16 BBF/DIPF, Nachlass Karl Sothmann 04.1/57, Das Erziehungsziel in der deutschen demokratischen Schule, pag. 3.

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Über die Bezugnahme auf die pädagogische Tradition der Bildung hinaus präsentiert sich die pädagogische Politik der SED als Teil einer teleologischen Vision der Geschichte als „Sieg des Erziehungsideals der Arbeiterklasse“.17 Die ostdeutschen politischen Instanzen und die Pädagogen betonen das Erbe des marxistischen „pädagogischen Denkens“. Der ursprüngliche Marxismus hat nie eine präzise pädagogische Theorie hervorgebracht, die in die Praxis hätte umgesetzt werden sollen, sobald die Diktatur des Proletariats errichtet sein würde. Immerhin haben Marx und Engels an verschiedenen Stellen ihres Werkes das Schulsystem sowie Fragen der Bildung und Erziehung erwähnt. Im marxistischen Denken über Edukation, wie man es hier und da im Manifest der kommunistischen Partei und im Kapital findet, verwenden Marx und Engels den Begriff Erziehung. Der Kern ihrer Überlegungen bezieht sich in erster Linie auf den Zusammenhang zwischen Ausbildung (die unentgeltlich und weltlich sein muss) und materieller Produktion.18 Dieser Gedanke ist insofern nicht wirklich innovativ, als er sich bereits in Utopia von Thomas Morus findet und später von den Denkern des utopischen Sozialismus wie Robert Owen oder Charles Fourier vertieft beziehungsweise in die Praxis umgesetzt wird.19 Marx und Engels interessieren sich weniger für die Idee der persönlichen Entwicklung als vielmehr dafür, die Arbeiterklasse aus ihrem Zustand der Entfremdung zu befreien (daher die Mobilisierung des Konzepts Erziehung) und sie über eine sogenannte polytechnische Ausbildung dahin zu bringen, sich vollständig in einer gerechten und humanen kommunistischen Gesellschaft verwirklichen zu können. Während des Ersten Kongresses der Internationale in Genf im Jahre 1866 beschwört eine von Marx vorbereitete Resolution „die polytechnische Erziehung, [die] die allgemeinen Grundlagen jedes Produktionsprozesses vermittelt und die Kinder und Jugendlichen gleichzeitig in den Gebrauch der jeweiligen Werkzeuge eines jeden Berufs einführt.“20 Marx betrachtet die Kinder der Arbeiterklasse im sozioökonomischen Kontext der Industriellen Revolution. Sein pädagogisches Projekt hat eher ein utilitaristisches – die Verringerung der Verwundbarkeit der allzu sehr auf einen Beruf spezialisierten Arbeiter – denn universelles Ziel – die Formierung eines physisch, intellektuell und handwerklich vollständig entwickelten Menschen. Marx ist überzeugt, dass ein Arbeiter, der in allen grundlegenden Produktionsprinzipien ausgebildet ist, geschützter sei vor den Unbilden der Wirtschaftskonjunktur und der technischen Entwicklungen. Die polytechnische Ausbildung, wie er sie konzipiert, ist eine präzise Antwort auf eine bestimmte historische Situation. 17 Monumenta Paedagogica, Band VI, Dokumente zur Geschichte des Schulwesens in der DDR. Teil 1: 1945 bis 1955, Berlin 1970, S. 105. 18 K. Marx/F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 482. 19 G. Chaveau, „L’école du travail dans la pensée ouvrière“, in: Ville  – Ecole  – Intégration, n° 113, Juni 1998, S. 158–171. 20 Ebd., S. 168.

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Die DDR beruft sich schließlich auf den Einfluss eines aus der UdSSR stammenden pädagogischen Denkens. Das, was in der DDR der 1950er Jahre als sowjetische Pädagogik bezeichnet wird, entspricht tatsächlich dem „pädagogischen Denken“, wie es seit der Machtergreifung Stalins in den späten 1920er Jahren formuliert worden ist. Es hat nicht das geringste zu tun mit den pädagogischen Theorien sowjetischer Denker der frühen Jahre des kommunistischen Regimes wie etwa Lenins Frau Nadežda Krupskaja (1869–1939). Diese waren zu Beginn der 1920er Jahre maßgebend und zeigten sich überraschend stark beeinflusst von den Ideen des Amerikaners John Dewey (1859–1952) und seiner activity school.21 Sie zielten darauf ab, die Verwirklichung des Potentials jedes Individuums zu erreichen, insbesondere seiner manuellen Fähigkeiten durch eine Teilnahme am Produktionsprozess, wobei sie den moralischen und edukativen Wert der physischen Arbeit rühmten und so Erinnerungen an die Überlegungen Lew Tolstois wachriefen.22 Ab 1928–1929 jedoch erstickt Stalin diese fortschrittlichen pädagogischen Strömungen und stellt ein edukatives System wieder her, das auf Ordnung und Autorität aufbaut.23 Ab den frühen 1950er Jahren passt sich die pädagogische Sprache daher dem Projekt des Aufbaues einer sozialistischen Gesellschaft an. Der Gebrauch des Begriffspaares Bildung – Erziehung enthält die Idee eines edukativen Interventionismus des Staates, mit dem die Möglichkeiten jedes Individuums entwickelt werden sollen, damit dieses sich in den Dienst des sozialistischen Kollektivs stellt. Er beschwört den Glauben an ein totales edukatives Projekt, das sich als planvolle Produktion des neuen sozialistischen Menschen darstellt, und nicht auf ein humanistisches Ideal der Entwicklung und Ausschöpfung aller Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Individuums. Die offizielle edukative Politik des SED-Staates will ganz im Gegenteil die Kriterien für die Möglichkeiten individueller Entwicklung definieren und ihre Grenzen festlegen: Ihre Nützlichkeit für den sozialistischen Staat, dessen Ziel da­ rin besteht, um jeden Preis die Produktivkräfte zu entwickeln und die sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Der Mensch wird reduziert auf ein „soziales Wesen“, das heißt auf ein Wesen im Dienste der Gesellschaft, die das Regime als glückliche und

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Dewey war überzeugt, dass die Kinder in der Schule ihre manuellen Fähigkeiten entwickeln sollten. Siehe J. Dewey, „My Pedagogic Creed“, in: The School Journal n° 3, Januar 1896, S. 77–80. 22 In Was ist Geld? entwickelt L. Tolstoi (1828–1910) eine These, die ihre Inspiration aus dem biblischen Satz „Du wirst im Schweiße Deines Angesichts arbeiten“ zieht. Die manuelle Arbeit ist eine Lebensnotwendigkeit und ein traditioneller Wert, und die Bürokraten, die Finanzbeamten und vor allem die Militärs werden daher als „Parasiten“ an der Gesellschaft betrachtet. Siehe L. Tolstoi, Was ist Geld?, Berlin 1901. 23 S. Fitzpatrick, Education and Mobility in the Soviet Union 1921–1934, Cambridge 1979.

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solidarische Gemeinschaft präsentiert.24 Eine Parallele zum Nationalsozialismus besteht in der vollständigen Negation des Individuums, das sein Leben dem Dienst an der Gemeinschaft zu widmen hat. Der ideologische Inhalt der sozialistischen Edukation hingegen bildet einen Gegenpol zum irrationellen, biologistischen und rassistischen Projekt der Nazis. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die ostdeutsche Schule nicht darauf abzielt, Staatsbürger hervorzubringen, die in der Lage sind, selbst zu denken, sondern soziale Wesen, die sich der Logik eines Einparteienstaates unterwerfen sollen. Die Edukation in der DDR lässt sich nur als Mittel verstehen, mit dem die SED mehr oder weniger erfolgreich versucht, in jeder neuen Generation die Bedingungen für das eigene Überleben wiederherzustellen. Diese Rekonstruktion verläuft über die Verbreitung einer globalen Konzeption der Welt (die von der marxistisch-leninistischen Ideologie geliefert wird), die die Schüler aufnehmen, teilen und in die Praxis umsetzen sollen. Ab den späten 1950er Jahren verschwindet der Gebrauch des Begriffspaares Bildung-Erziehung zugunsten des Ausdrucks „polytechnische Erziehung“. Im Endeffekt wird die Erneuerung des pädagogischen Denkens in der unmittelbaren Nachkriegszeit rasch erstickt und von den Kommunisten übernommen, auch wenn diese – namentlich der Vorsitzende der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften Gerhart Neuner – in den 1970er und 1980er Jahren eine pseudohumanistische Rhetorik verwenden, in der von der „allseitigen Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit“ die Rede ist.25 Dieser Umweg über die Ideengeschichte ermöglicht es uns, die Frage nach dem Sinn zu beantworten, der dem Begriff Erziehung in der DDR zukam. Seine Definition, deren theoretische Elemente wir dem soziologischen Denken Émile Durkheims entnehmen,26 ruht auf zwei Polen: Auf der einen Seite einem „religiösen Pol“, der darin besteht, ein Glaubenssystem und ein gemeinsames Ideal anzuerziehen, nämlich den Sozialismus; auf der anderen Seite einem „politischen Pol“, dessen Ziel darin besteht, dem System gegenüber loyale Subjekte heranzuziehen. Zwar beziehen sich die Überlegungen Durkheims auf einen völlig anderen Kontext, nämlich das Frankreich der Dritten Republik; die Übernahme der Begriffe des Glaubens und der Vernunft scheint uns aber passend für die Untersuchung der Art und Weise, in der Edukation in der DDR konzipiert wurde. Das Konzept, das sich in den frühen 1950er Jahren durchsetzt, bildet bis 1990 den philosophischen Unterbau der sozialistischen Schule. Seine Entwicklung verläuft parallel zu einer echten Revolution der schulischen Strukturen.

24 S. Kott, „Collectifs et communauté dans les entreprises de RDA: limites de la dictature ou dictature des limites?“, in: Genèses, n° 39, Juni 2000, S. 27–51. 25 G. Neuner, Sozialistische Persönlichkeit – ihr Werden, ihre Erziehung, Berlin 1975. 26 E. Durkheim, Erziehung und Soziologie, Düsseldorf 1972.

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Eine strukturelle Revolution: Von der Einheitsschule zur polytechnischen Schule Die Umwälzung der schulischen Strukturen findet statt, lange bevor die Kommunisten ihr politisches Programm im Bereich der Edukation durchsetzen. Zwischen 1946 und 1959 sprengt das Schulsystem der SBZ und dann der DDR die alten, aus der preußischen Zeit geerbten Strukturen und setzt das Prinzip der Einheits- und später der polytechnischen Schule durch. Dabei handelt es sich um ein modernes System, das auf Koedukation basiert; einer Primarstufe mit einer Dauer von acht Jahren, der sich eine Sekundarstufe (von vier bis zu acht Jahren) anschließt. Ab den Monaten Mai und Juni 1946 führt das Gesetz über die Demokratisierung der deutschen Schulen, das die SMAD oktroyiert hat, zur Abschaffung der aus der preußischen Zeit übernommenen Schulstruktur mit ihrer Trias aus Volksschulen – Mittelschulen – Gymnasien. Es repräsentiert die Konkretisierung edukativer Projekte, die in der Zwischenkriegszeit im Rahmen von Überlegungen zur Einheitsschule und zur neuen Pädagogik entwickelt wurden. Entwickelt wird es unter sowjetischer Kontrolle seitens der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DVV)27 auf der Basis der politischen Vorstellungen der KPD und der SPD, wie sie in einem gemeinsamen Appell vom 18. Oktober 1945 verkündet worden sind; es richtet eine kostenlose, gemischte und vereinheitlichte Primärschule mit acht Klassen ein, die selbst bei Reformpädagogen Westdeutschlands wie dem niedersächsischen Kultusminister Adolf Grimme Begeisterung weckt.28 In der ostdeutschen Historiographie wird es als „das wichtigste Gesetz der Schulgeschichte Deutschlands“ dargestellt; es ermöglicht den Kommunisten, ihre Bildungspolitik als modern und demokratisch zu präsentieren.29 Trotz eines starken Demokratisierungswillens, der sich insbesondere in der Initialisierung einer politischen Erziehung ausdrückt, behalten dagegen die westlichen Alliierten in ihren Besatzungszonen die traditionellen schulischen Strukturen bei; es ist in dieser Hinsicht schon von einer „Restaurationspolitik“ die Rede gewesen.30 Lediglich die Stadt Hamburg richtet ab 1953 eine Einheitsprimarschule mit sechs Klassen ein. 27 Die DVV wird von den Sowjets am 27. Oktober 1945 gegründet. Sie ist die Ahnfrau des Volksbildungsministeriums, das am 1. Januar 1950 eingerichtet wird. Von Anfang an steht es unter der Leitung Paul Wandels (1905–1995), einem in den 1930er Jahren in Moskau exilierten Kommunisten, der bis 1952 im Amt bleibt. 28 P. Ferrari-Demski, Zur Entwicklung der achtklassigen allgemeinbildenden Einheitsschule in der SBZ bzw. in der DDR in den Jahren 1945 bis etwa 1951/52, Münster 1999. 29 G. Uhlig, Der Beginn der antifaschistisch-demokratischen Schulreform 1945–1946, Berlin 1965. 30 E. Cloer, „Die Bildungsgeschichte(n) der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik“, in: Zeitschrift für Pädagogik, 47, n° 1, 2001, S. 121–136.

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In einer totalitaristischen Perspektive, die das ostdeutsche Schulsystem als sowjetische Institution betrachtet, sind westdeutsche Forscher lange Zeit davon ausgegangen, Professor Mitropolskij habe als Verantwortlicher für die edukative Politik in der SMAD, im Jahre 1945 unter dem Deckmantel der Demokratisierung tatsächlich ein detailliertes Programm zur Sowjetisierung des Schulsystems in der Sowjetischen Besatzungszone ausgearbeitet.31 Sie stellen dieser planmäßigen Politik eine weitaus spontanere Verwaltung seitens der Westalliierten gegenüber.32 Tatsächlich setzt diese 1946 von der UdSSR in ihrer Besatzungszone eingeleitete Politik Forderungen um, die in der Zwischenkriegszeit insbesondere von den deutschen Sozialdemokraten aufgestellt worden waren. Darüber hinaus gehört sie in eine breitere europäische Tendenz zur Demokratisierung33 des Schulwesens.34 Genau dies ist das Anliegen des Plans, den im Jahre 1947 die seit November 1944 bestehende Langevin-Wallon-Kommission für Frankreich vorschlägt. Sie basiert auf gemeinsamem Unterricht bis zum Alter von 15 Jahren, an den eine Orientierungsphase zwischen 15 und 18 Jahren angeschlossen wird, und auf „Gerechtigkeit in der Schule“. Es ist interessant zu sehen, wie diese beiden Projekte ungeachtet aller Unterschiede zwischen den politischen Regimen in Frankreich und der DDR von Männern betrieben werden, die bereits in der Zwischenkriegszeit auf dem schulischen und pädagogischen Feld aktiv waren und die sich um eine Synthese der beiden großen Reformbewegungen bemühen: Die Einheitsschule für die Schulstruktur und die neue Schule für die Pädagogik. Das Projekt wird in der DDR umgesetzt, während der Langevin-Wallon-Plan toter Buchstabe bleibt, wegen des Mangels an finanziellen Mitteln und wegen des Kontexts des Kalten Krieges. Das Gesetz über die Demokratisierung der deutschen Schule vom Mai/Juni 1946 ist auf gewisse Weise eine demokratische Revolution von oben, die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung in der SBZ angenommen wird. Sie bildet eine Abkehr von dem Schulsystem, wie es seit dem 19. Jahrhundert bestanden hat und 31 H. Möller/A. Tschubarjan (Hg.), Die Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) auf dem Gebiet von Kultur, Wissenschaft und Bildung 1945– 1949. Ziele, Methoden, Ergebnisse. Dokumente aus russischen Archiven, München 2005; A. ­Nitkin, „Die sowjetische Militäradministration und die Sowjetisierung des Bildungs­ systems in Ostdeutschland 1945–49“, in: Bildung und Erziehung, 45, 1992, S. 405–416. 32 Ebd. 33 Eine Geschichte des „unsicheren Begriffs“ der Demokratisierung der Schule in Frankreich bietet V. Isambert-Jamati, „Brève histoire d’une notion incertaine: la démocratisation“, in: Cahiers pédagogiques, n° 107, Oktober 1972, S. 3–7. Siehe auch A. Prost, „La démo­ cratisation de l’enseignement: histoire d’une notion“, in: A. Prost, Éducation, société et politiques. Une histoire de l’enseignement de 1945 à nos jours, Paris 1997 (1. Aufl. 1992), S. 47–62. 34 G. Geissler, „Die Konstituierung der Einheitsschule in der SBZ im internationalen Kontext“, in: Pädagogik und Schulalltag, 48, 1993, S. 489–500.

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das als ungerecht gilt. Das Gesetz will die Privilegien der wohlhabenden Schichten durchbrechen und das Gefühl wecken, der gleichen Gesellschaft anzugehören, wobei der Akzent auf die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums gelegt wird. Es sieht vor, Klassenunterschiede im Namen eines bestimmten gemeinschaftlichen Ideals aufzuheben. Die Auswahl für den sekundären Unterricht (Klassen 9–12) soll ausschließlich aufgrund der inneren Werte jedes Schülers vorgenommen werden. Allerdings hat die Einführung soziopolitischer Kriterien (soziale Herkunft, politisches Engagement für die SED) für den Übergang in die Sekundarstufe und dann an die Universität ab den Jahren 1949/1950 einen kontraproduktiven Effekt auf das ursprüngliche Projekt, ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zur gleichen Gesamtheit zu entwickeln.35 Diese Politik der „positiven Diskriminierung“ resultiert in Spannungen zwischen den Schülern und ist sicherlich nicht unschuldig an der Instabilität des Schulwesens in den frühen 1950er Jahren sowie dem Exodus von Millionen Ostdeutschen in die BRD.36 Auf der Grundlage der Viermächteverwaltung über Berlin legen die Westalliierten ein Veto gegen die Einführung dieser Reform in der ehemaligen Reichshauptstadt ein.37 Tatsächlich übernehmen die Schulen der Sowjetischen Besatzungszone erst ab 1948 im Kontext der ersten Berlin-Krise das Prinzip der Einheitsschule.38 Vier Jahre nach dem Demokratisierungsgesetz, zu einem Zeitpunkt, als die Kommunisten die einzigen Architekten des Schulwesens in der DDR geworden sind, kündigt Walter Ulbricht auf dem III. Parteitag der SED (20.–24. Juli 1950) seinen Entschluss an, das Prinzip Einheitsschule zu modernisieren, indem die Primarstufe auf zehn Klassen erweitert wird. Gleichzeitig erklärt er, dass er die Schulpflicht vom 14. auf das 16. Lebensjahr verlängern will. Auch ist die Rede davon, den Naturwissenschaften größeren Raum zu geben, womit sich der Übergang zu einem utilitaristischen Konzept von Ausbildung insbesondere auf Kosten des Unterrichts in den Geisteswissenschaften ankündigt. Tatsächlich ist die Entwicklung des Schulwesens eng gekoppelt an das Wirtschaftssystem und an den jeweiligen 35 G. Geissler, „Die konsequente Realisierung des Einheitsprinzips“, in: Zeitschrift für Pädagogik, 43, n° 4, 1997, S. 660–673. 36 C. Hein, Von allem Anfang an, Berlin 1997. In diesem zu großen Teilen autobiographischen Roman erzählt der Autor vom Alltag eines dreizehnjährigen Jugendlichen, der in einer evangelischen Familie aufwächst, wo der Vater Pastor ist. Die antikommunistische Haltung der Familie wird diese dazu drängen, die DDR zu verlassen, damit der Erzähler eine höhere Schulbildung genießen kann. 37 M. Klewitz, „Berliner Schule unter Viermächtekontrolle“, in: Zeitschrift für Pädagogik, 4, 1977, S. 563–579. 38 A. Huschner, „Reorganisation der mittleren und höheren Schulen in O ­ st-Berlin 1948– 1958. Wandel von Schulangeboten und Bildungsperspektiven“, in: P. ­Drewek/A. Huschner/ R. ­Ejary (Hg.), Politische Transformation und Eigendynamik des Schul­systems im XX. Jahrhundert, Weinheim 2001, S. 117–159.

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Schema 1  Das Schul­sys­tem in der Sowje­ tischen Besatz­ungs­zone 1946–1947

Bedarf auf dem Arbeitsmarkt. So ist das Ziel der Schulreform im Zusammenspiel mit dem Fünfjahresplan von 1951–1955 ein gleichzeitig ökonomisches und politisches: Sie soll die künftigen technischen Kader des Landes heranbilden und die Demokratisierung der Gesellschaft voranbringen, indem die künftigen Gymnasialabsolventen vor allem unter den Kindern der Arbeiterklasse rekrutiert werden. Die SED hofft, auf diese Weise die Legitimität eines Regimes sicherzustellen, über das niemals abgestimmt wurde, und die Loyalität der Bevölkerung steigern zu können. Und wiederum ist diese Bildungspolitik einer Verlängerung der Schulpflicht und einer Demokratisierung keine ostdeutsche Eigenheit oder auf Anordnung des „großen sowjetischen Bruders“ zurückzuführen. Sie entspricht wichtigen Strömungen in den industrialisierten Gesellschaften Westeuropas wie Frankreich oder Großbritannien, wo die Bildungspolitik ebenfalls an den Bedarf der Nationalökonomien angepasst wird. Es ist daher kein Zufall, wenn die Schulpflicht in der DDR ebenso

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wie in Frankreich (Berthoin-Reform) im Jahre 1959 bis zum 16. Lebensjahr verlängert wird. Die DDR geht allerdings insofern ein wenig voran, als die ersten Einrichtungen mit zehn Schuljahren bereits mit dem Schulanfang im September 1951 erscheinen. Diese Strukturen, die zunächst knapp im Gesetz über die Schulpflicht vom 15. ­Dezember 1950 erwähnt werden, werden im Januar 1951 in einer Direktive des Zentralkomitees der SED über die „nächsten Aufgaben der allgemeinbildenden Schulen“ bestätigt.39 Sie koexistieren mit den Strukturen, wie sie im Gesetz von 1946 festgelegt wurden. Das Ministerium für Volksbildung bewilligt diesem Schultyp zusätzliche Mittel und Gebäude in gutem Zustand, was belegt, dass es sich um eine Priorität des ostdeutschen Regimes handelt. Der Aufbau dieser Strukturen erfolgt in den großen urbanen Zonen schneller als auf dem Land. In Berlin-Ost verfügt jeder Stadtbezirk am Ende des Jahres 1952 über wenigstens eine zehnklassige Schule, und diese Reform weckt keinerlei Opposition seitens der Eltern der Schüler. Ganz anders verhält es sich in einem kleinen Dorf in der landwirtschaftlichen Zone wie Triepkendorf in Mecklenburg. Die Eltern widersetzen sich einer Verlängerung der Schulpflicht und wollen lieber das Modell einer schulischen Ausbildung bis zum 14. Lebensjahr beibehalten, weil sie dann ihre Kinder rascher für die Verwendung im Familienbetrieb zurückbekommen. Dies jedenfalls berichtet die Schulchronik, die der Schulleiter H. Warnke verfasst: „Auf diesem Gebiet gab es anfänglich viel Unverständnis zu überwinden. Ein bedeutender Teil der Eltern plädierte für die Beibehaltung der Zwergschule („sie haben für uns genügt, also reichen sie für unsere Kinder“). Der Wert der Bildung war vielen Landbewohnern nicht bewusst.“40

Mit einer Verfügung vom 15. Mai 1953 versucht die ostdeutsche Regierung, den Prozess zu beschleunigen. Ohne jegliche Absprache mit dem Lehrkörper beschließt sie, das zehnklassige System mit dem Ende der Sommerferien im September auf alle Schulen auszudehnen. Aber diese Reform stößt auf den Widerstand der Lehrenden, die materielle Probleme, Personalmangel und eine zu kurze Frist für die Umsetzung dieser neuen strukturellen Transformation kritisieren. Sie äußern darüber hinaus den Wunsch, sie weiterhin in den 1946 eingerichteten Strukturen arbeiten zu lassen. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 beerdigen das Projekt vorläufig. Aber ab 1955 müssen sich alle Schulen allmählich auf eine zehnklassige Struktur umstellen; zu dieser kommt ab den späten 1950er Jahren noch das polytechnische Erziehungsmodell hinzu. Wegen der Pensionierung der alten Lehrergenerationen ist der Widerstand nun weniger stark. 39 S. Baske/M. Engelbert, op. cit., S. 164–165. 40 Schulmuseum Berlin (Sm)/Do, 09/12/03/04, Chronik der Schule von Triepkendorf. 1700–1972, pag. 77.

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Ab 1958/1959 wird das Konzept polytechnische Erziehung die zentrale Säule der edukativen Politik in der DDR und bildet eine Art „Markenzeichen“ des sozialistischen Schulsystems bis zu dessen Zusammenbruch im Jahre 1989.41 In der ostdeutschen Forschung dargestellt als eine Art „Ende der Schulgeschichte“, repräsentiert die polytechnische Erziehung die letzte große Strukturreform in der DDR. Sie stellt den schwierigen Sieg eines Projektes aus vielen Quellen dar, das in pädagogischen Kreisen seit den frühen 1950er Jahren diskutiert wurde. Die Reform wird offiziell seitens der SED in einer teleologischen Geschichtsvision als „Sieg des Bildungsideals der Arbeiterklasse“ gefeiert.42 Ihre Gestalter im Volksbildungsministerium und im DPZI berufen sich ausdrücklich auf das Erbe eines marxistischen Denkens, das im 19. Jahrhundert dafür plädierte, Erziehung und Industriearbeit miteinander zu verbinden. Die polytechnische Ausbildung, wie sie in der DDR ab den späten 1950er Jahren in Gang gesetzt wird, muss wieder in die Tradition der Lehre in der deutschen Industriekultur und in den größeren Rahmen der Bewegung zur „Arbeitsschule“ eingefügt werden, wie sie in einigen Ländern von Befürwortern der Reformpädagogik konzeptualisiert und umgesetzt wurde, die vom pädagogischen Denken Pestalozzis und Rousseaus beeinflusst waren. Sie lässt sich nicht auf einen simplen strukturellen Transfer reduzieren, der von Moskau angeordnet worden wäre. Zwar wurde das Konzept der polytechnischen Erziehung unter der Führung Nadežda Krupskajas von den Bolschewiki übernommen und 1919 in das Programm der KPR (B) aufgenommen. Wie die amerikanische Historikerin Sheila Fitzpatrick betont, hatte die Einführung der polytechnischen Schule in der UdSSR tatsächlich weniger mit dem direkten Einfluss marxistischen Denkens zu tun als vielmehr mit dem pädagogischer Theorien, insbesondere der des Amerikaners John Dewey und seinem Projekt activity school.43 Laut Dewey ist die Schule eine Gesellschaft im Kleinen, in der das Kind das Leben erfahren, das heißt an manueller Arbeit teilnehmen und eine Bandbreite praktischer Fähigkeiten entwickeln soll (learning by doing).44 Seine pragmatische Pädagogik – für Dewey entsteht Wissen aus dem Handeln – hat jedenfalls in den 1920er Jahren in der UdSSR großen Einfluss und wird hier 41 P. Hübner, „ ,Proletarisierende Mimesis?‘ Anmerkungen zur ,Polytechnisierung‘ des Bildungswesens in der DDR aus sozialhistorischer Sicht“, in: S. Häder/H.-E. Tenorth (Hg)., op. cit., S. 205–230. 42 Dokumente zur Geschichte des Schulwesens in der DDR. Teil 2: 1956 bis 1968, Band 1, Berlin 1969, S. 105. 43 S. Fitzpatrick, Education and Mobility in the Soviet Union 1921–1934, Cambridge 1979. Siehe auch O. Anweiler, Geschichte der Schule und Pädagogik in Russland vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära, Wiesbaden 1978. 44 J. Dewey, The Child and the Curriculum, 1902 (dt. Fassung: Das Kind und der Lehrplan, 1902).

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mit dem Lob der physischen Arbeit eines Lew Tolstoi in Verbindung gebracht. Das Denken Deweys ist auch in den deutschen Milieus der Reformpädagogen (­Hugo Gaudig, Georg Kerschensteiner) wohlbekannt,45 ebenso wie das Célestin Freinets (1896–1966), der in Frankreich seit Mitte der 1930er Jahre in einer Privatschule in Saint-Paul-de-Vence eine Pädagogik praktiziert, die auf der Öffnung der Schule gegenüber dem Leben – die Schule wird als Teil der Lebenswelt gestaltet – und auf ­einer von ihm so bezeichneten „Erziehung der Arbeit“ aufbaut.46 All diese Ideen und Praktiken stehen seit der Zwischenkriegszeit miteinander in Beziehung: Freinet unternimmt Reisen und pflegt Bekanntschaften in der UdSSR und dem Deutschen Reich, insbesondere in Hamburg. Er ist in Kontakt mit Peter Petersen, einer der Gallionsfiguren der Reformpädagogik, dann beeinflusst er nach 1945 in der BRD die Bewegung des Schuldrucker, dessen Gründer Hans Jörg ist, sowie nach 1968 die der „pädagogischen Kooperativen“. Was aber ein Alleinstellungsmerkmal der DDR und ihrer pädagogischen Traditionen bleibt, ist die Wertschätzung der Industriearbeit. Ohne an dieser Stelle einen allzu vereinfachenden historischen Abriss liefern zu wollen, sehen wir in dieser Anhänglichkeit, wenn nicht Sakralisierung der Industrie­ arbeit in der DDR zumindest teilweise das Erbe eines wichtigen soziokulturellen Faktors: der protestantischen Ethik des Berufs.47 Dieser Begriff, der von Luther für die Übertragung der Bibel in die Volkssprache ins Deutsche eingeführt wurde, legt die Bedeutungen Berufung und Handwerk übereinander und impliziert so einen nicht nur funktionalen, sondern auch sakralen Charakter, der einer Erwerbstätigkeit zugeschrieben wird, die als Lebensstellung definiert ist. In einer vom sozialistischen Denken seit dem frühen 19. Jahrhundert säkularisierten Version wertschätzt diese Ethik die Arbeit als einen gleichzeitig sozialen und individuellen Identitätsfaktor und feiert sie als Integrationsvektor für das Kollektiv ebenso wie als Quelle innerer Befriedigung.48 Genau diesen Diskurs findet man im Bereich der polytechnischen Erziehung in der DDR wieder. Diese zielt sowohl darauf, eine soziale Gruppe  – die Arbeiterklasse – zu idealisieren wie darauf, offizielle Werte – Liebe zur Arbeit, 45 Hugo Gaudig (1860–1923) und Georg Kerschensteiner (1852–1932) sind zwei deutsche Pädagogen, die Erziehungskonzepte ausgearbeitet haben, die das Hauptaugenmerk auf das Verhältnis zwischen Schule und Leben richten und zu praktischen Aktivitäten an der Schule ermutigen. Siehe H. Röhrs, „Georg Kerschensteiner“, in: Perspectives, vol. 23, n° 3–4, 1993, S. 831–848. 46 Siehe H. Peyronne (Hg.), Freinet, 70 ans après. Une pédagogie du travail et de la dédicace? Actes du colloque de Caen (23 octobre 1996), Université de Caen, 2000. Eine transnationale Perspektive bietet N. Beattie, The Freinet Movements of France, Italy and Germany 1920–2000. Versions of Educational Progressivism, Lewiston 2002. 47 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 3. Aufl. München 2010. 48 A. Lattard, „L’entreprise formatrice entre tradition et contestation“, in: Entreprises et ­Histoire, 1997, n° 16, S. 49–61.

Neue philosophische und strukturelle Grundlagen

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S­ olidarität, den Geschmack des Erfolgs, Disziplin – zu vermitteln, um so Vertrauen und Loyalität der Schüler gegenüber dem Regime zu stärken. Die polytechnische Erziehung, wie sie in der DDR eingeführt wird, stammt also nicht ausschließlich aus marxistischem Erbe oder der Ingangsetzung eines Sowjetisierungsprogramms. Sie ist das Produkt verschiedenster pädagogischer Einflüsse. Sie findet in einer Zeit statt, in der die meisten industrialisierten Länder Westeuropas mit der Frage des Verhältnisses zwischen Schule und Arbeitswelt und der Anpassung des schulischen Bereichs an die Anforderungen der nationalen Ökonomien konfrontiert sind. In der BRD beispielsweise resultieren in den 1950er Jahren die Debatten innerhalb des Schulwesens in dem Vorschlag, technische Kurse einzuführen, was aber am Widerstand der Lehrkörper an den Gymnasien scheitert.49 In der DDR dauert die Umsetzung des Projekts polytechnische Erziehung fast ein ganzes Jahrzehnt. Nach dem ersten Versuch ihrer Einführung zu Beginn der 1950er Jahre setzt Walter Ulbricht die Verbindung zwischen schulischem Wissen und Industrie­arbeit allmählich um, ohne den Lehrkörper, der mehrheitlich einem humanistischen Bildungsideal verpflichtet ist, vor den Kopf zu stoßen.50 Im Jahre 1955 nimmt das Volksbildungsministerium in die Unterrichtsprogramme der Klassen 1 bis 6 wöchentlichen Werkunterricht sowie technisches Zeichnen (je eine Wochenstunde) auf. Zu einer Zeit, wo noch ein realer Mangel an Unterrichtsmaterial herrscht, sind die Schüler vor allem gehalten, Gegenstände herzustellen, die für die Schule nützlich sind. Diese utilitaristische Herangehensweise, die sich ohne dies ausdrücklich zu sagen aus der Reformpädagogik herleitet, ruft keinen Widerspruch hervor. Ab 1956 und der dritten Parteikonferenz der SED (24.–30. März 1956) werden die Absichten des Regimes klarer. Sie stützen sich auf das Beispiel der UdSSR, wo Chruščev eine Bildungsreform einleitet, die auf dem Prinzip der polytechnischen Ausbildung beruht.51 Der Text der Abschlusserklärung fordert die Einrichtung einer polytechnischen Schule und den Abschluss der strukturellen Transformation des ostdeutschen Schulsystems. Die Funktionäre des DPZI werden nun in die Schulen geschickt, um die Lehrenden davon zu überzeugen, dass diese Reform sinnvoll ist. 49 W. Horner, „Polytechnischer Unterricht in der DDR und Arbeitslehre in der BRD“, in: O. Anweiler (Hg.), Vergleich von Bildung und Erziehung in der BRD und in der DDR, Köln 1990, S. 218–232. 50 G. Geissler, „Zur pädagogischen Diskussion in der DDR 1955–1958“, in: Zeitschrift für Pädagogik, 38, n° 6, 1992, S. 913–940. 51 Zur UdSSR siehe L. Coumel, „L’intelligentsia pédagogique et le pouvoir en URSS : les tensions autour de la réforme scolaire de 1958“, in: Bulletin de l’Institut Pierre Renouvin, n° 14, automne 2002. Der Autor hat 2010 unter der Leitung Marie-Pierre Reys in Paris 1 eine Doktorarbeit zu Meinungsbildungsphänomenen im Lehrer-Wissenschaftlermilieu in der UdSSR in den 1950er Jahren fertiggestellt.

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Die Schule neuen Typs (1949–1959)

Eine Analyse der Protokolle der Lehrerversammlungen in den Schulen Ostberlins seit 1956 zeigt sowohl die Art, wie diese Diskussionen geführt wurden, als auch die Zurückhaltung eines beträchtlichen Teils des Lehrkörpers.52 Viele zeigen sich skeptisch gegenüber einer Reform, bei der sie negative Folgen für die literarischen Fächer fürchten. In der 15. Grundschule im Prenzlauer Berg kritisieren die Lehrer die künftige „Unterdrückung der humanistischen Fächer“.53 In diesen Versammlungen stehen sich schließlich zwei Konzeptionen der Mission der Schule und des Sinns gegenüber, der der Grundbildung des menschlichen Wesens gegeben werden soll. Auf der einen Seite zielt das vom Staat vertretene „ökonomistische“ Modell auf die Heranbildung eines Mitglieds der Gesellschaft; auf der anderen bevorzugt das von vielen Lehrenden – einschließlich der Generation der Neulehrer – verteidigte humanistische Modell eine harmonische Persönlichkeitsentwicklung: Homo oeconomicus gegen homo humanus. Die unregelmäßige Wiederkehr des Themas der polytechnischen Bildung in der Zeitschrift Pädagogik belegt das Zögern der SED. Tabelle 1:  Zahl der der polytechnischen Erziehung gewidmeten Artikel in der Zeitschrift ­Pädagogik (1953–1958) (in %)54

Jahr

1953

1954

1955

1956

1957

1958

Anteil Aufsätze zur polytechnischen Erziehung

14

3

5,5

0

0

55

Die Durchsicht der Zeitschrift zeigt, dass das Thema polytechnischer Unterricht nach dem Scheitern des Durchpeitschens von 1953 praktisch aus dem Blatt verschwindet. Die dritte Parteikonferenz der SED von 1956 schlägt sich keineswegs in den folgenden Monaten und Jahren in einer größeren Präsenz dieses Erziehungsmodells in der Zeitschrift nieder. Es erscheint ganz im Gegenteil überhaupt nicht mehr, und erst im Jahre 1958 wird es wieder aufgegriffen, diesmal mit voller Kraft, wird es doch in mehr als der Hälfte der Aufsätze behandelt. Tatsächlich beschließt Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED (10.– 16. Juli 1958), über die Zurückhaltung der Lehrenden hinwegzugehen und das polytechnische Modell mit Gewalt durchzusetzen. Offiziell stellt das Regime diese Reform als Initiative von unten dar und betont die konkrete Zusammenarbeit der Unternehmen und Schulen des Bezirks Karl-Marx-Stadt. Mit dem Wiederbeginn der Schule im September 1958 werden ein Unterrichtstag in der Produktion (UTP) 52 Protokollbuch der 15. Grundschule Prenzlauer Berg, 1953–1958, unpag. 53 Ebd. 54 BBF, Z 494, Pädagogik, 1953–1958.

Neue philosophische und strukturelle Grundlagen

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je Woche sowie begleitend theoretische Unterrichtsstunden (Einführung in die sozialistische Produktion) in das Unterrichtsprogramm der Klassen 7 bis 12 aufgenommen. Bei den jüngeren Schülern (Klassen 1 bis 6) wird der Kurs für manuelle Arbeiten selbstverständlich beibehalten. Er wird neu definiert als eine Vorbereitung auf die produktive Arbeit und als Erziehung zur Arbeit als Wert: „Durch die Erziehung und Bildung im Werkunterricht werden die Schüler auf die produktive Arbeit in den Grundlehrgängen vorbereitet. Schon in der Unterstufe sollen die Schüler Grundfertigkeiten einfacher Handarbeiten erwerben, die für die Schule, den Schulhort und den Patenbetrieb von Nutzen sind. Die Kinder sind stolz auf ihre selbsterarbeiteten Gegenstände und erkennen auch den Wert derselben. In den aufsteigenden Klassen werden die Schüler immer stärker an die gesellschaftlich nützliche Arbeit herangeführt. In den 5. und 6. Klassen lernen die Kinder, wertvolle Gegenstände herzustellen. Sie sind nicht nur dem einzelnen Schüler von Nutzen, sondern dem Kollektiv der Klasse und der gesamten Schule.“55

Der SED zufolge soll diese letzte große Reform die Heraufkunft der sozialistischen, in ihrer Totalität entwickelten Persönlichkeit ermöglichen: „Durch den V. Parteitag der SED wurde eine neue, höhere Etappe unseres sozialistischen Aufbaus eingeleitet. […] Das erfordert aber sozialistisch erzogene und gebildete Menschen, die ein hohes sozialistisches Bewußtsein und ein wissenschaftliches Weltbild auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus besitzen und die Sache des Sozialismus zu ihrer eigenen machen. Sie zeichnen sich durch festes Wissen, ein hohes technisches Verständnis und eine hohe sozialistische Allgemeinbildung aus. Diese Menschen müssen bewußte Sozialisten und qualifizierte Facharbeiter sein.“56

Die neue ostdeutsche polytechnische Schule soll also in einem überzeugte und engagierte sozialistische Staatsbürger heranziehen, aber gleichzeitig und indem sie 90 % der Schüler an technische Berufe heranführt während einer Schulpflicht von zehn Jahren die Facharbeiter ausbilden, die die nationale Ökonomie braucht. Die Einführung des polytechnischen Unterrichts wird in zwei Etappen vollendet. Zunächst wird im Gesetz vom 2. Dezember 1959 das edukative Modell offiziell definiert: „Die allgemeinbildende polytechnische Schule hat durch systematische und planmäßige Verbindung der Bildung und Erziehung mit dem Leben, besonders mit der produktiven Arbeit, die Schüler zur Liebe zur Arbeit und zu den arbei­ tenden Menschen zu erziehen.“57 Insbesondere sieht es die Einrichtung spezialisier55 LAB, C REP 903-01-05/178, SED-Kreisleitung Pankow, Materialen über Volksbildung/ Schulen und Pionierorganisation, 1948–1962, unpag. 56 LAB, C REP 902/1 991, Systematisierung des polytechnischen Unterrichtes, der schrittweisen Einführung der beruflichen Grundausbildung und der Einrichtung von Spezialschulen und -klassen von 3. 7. 1963, unpag. 57 Dokumente zur Geschichte des Schulwesens in der DDR. Teil 2: 1956–1967/68, Berlin 1969, S. 304.

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ter Studiengänge in einer Berufsausbildung auf gymnasialem Niveau vor (Abitur mit Berufsausbildung).58 Dann schließlich wird der polytechnische Charakter der Schulbildung im Februar 1965 im letzten großen Gesetz über das sozialistische Schulwesen erneut erwähnt.59 Das Unterrichtsprogramm und die Inhalte der praktischen und theoretischen Kurse werden in bestimmten Punkten 1964, 1968 und 1971 entsprechend den ökonomischen Zielen der Partei neu ausgerichtet.60

Schema 2  Das Schul­ system der DDR im Jahre 1960

58 Ziemlich genau ein Jahr zuvor, im Januar 1959, führte ein Beschluss der SED für die technischen Schulen eine Berufsausbildung vor, die dem Abitur gleichgestellt wurde (Berufsausbildung mit Abitur). 59 Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem der DDR, Berlin-Ost 1971. 60 S. Kohl/K. Sachs, Polytechnischer Unterricht in der DDR. Ansätze einer Dokumentation von Theorie und Praxis, Aus- und Weiterbildung, Hamburg 2000.

Neue philosophische und strukturelle Grundlagen

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Von nun an teilen sich die schulischen Einrichtungen in zehnklassige Polytechnische Oberschulen (POS) und Erweiterte Oberschulen (EOS). Letztere, die in etwa den französischen lycées und den westdeutschen Gymnasien entsprechen, bilden den Königsweg für den Zugang zur Universität. Die Aufteilung auf diese beiden Typen wird im Allgemeinen ab der 9. Klasse im Rahmen von Vorbereitungsklassen für die EOS eingeleitet.61 Da nur eine verschwindende Minderheit von Schülern in eine EOS aufgenommen wird, tritt die Mehrzahl der Schüler daher mit dem Alter von 16 Jahren eine Lehre in einer Berufsschule an oder wird unmittelbar in den Arbeitsmarkt integriert. Dieses System einer polytechnischen Ausbildung ist nicht auf die DDR beschränkt; seine Einrichtung ist hier aber einfacher und wird stärker vorangetrieben als in den übrigen Ländern des Ostblocks. So trifft es auf starke Widerstände in Polen, bis hin in die Staatsspitze, wo Gomułka die Einführung bis 1963 schleifen lässt. Darüber hinaus ist die Reform nicht wie in der DDR mit der Einrichtung einer Schulpflicht von zehn Jahren verknüpft. Polen wartet bis zum Jahre 1973 mit einer Verlängerung des obligatorischen Schulbesuchs von acht auf zehn Jahre.62 Nach Ablauf eines Jahrzehnts schließlich gelingt es den Machthabern in der DDR, mit dem polytechnischen Unterricht ein Modell durchzusetzen, das von nun an die Grundlage der sozialistischen Schule und das Referenzparadigma der offiziellen pädagogischen Sprache bildet. Diese strukturellen Reformen sind begleitet von einer grundlegenden Erneuerung des Unterrichtsprogramms und der Schulbücher.

Die Anpassung der schulischen Programme und Lehrbücher Nach einer Periode der Unsicherheit zwischen 1945 und 1949, in der die Lehrenden die Schulbücher der Weimarer Republik verwenden, werden die schulischen Lehrpläne und Lehrbücher an die Maßgaben der marxistisch-leninistischen Ideologie angepasst. Infolge der Gründung der DDR wird das frisch eingerichtete Deutsche Pädagogische Zentralinstitut (DPZI) damit beauftragt, bis zum neuen Schuljahr im September 1950 neue Lehrpläne für alle Fächer zu erarbeiten. Die ideologische Normierung erfolgt schrittweise nach einzelnen Fächern. In einer Entschließung des Zentralkomitees der SED vom 19. Januar 1951 wird daran erinnert, die Schule ­müsse „auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus in allen Unterrichtsfächern die fortschrittlichen Ergebnisse der Wissenschaft, insbesondere der Sowjetwissen-

61 62

Diese Vorbereitungsklassen, die Klassen 9 und 10, werden schließlich 1982 abgeschafft, wodurch sich das Gymnasium von vorher vier auf zwei Jahre verkürzt. S. Baske, Bildungspolitik in der VR Polen 1944–1986. Quellensammlung mit einleitender Darstellung und Kommentaren, Berlin 1987.

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schaft, vermitteln“.63 Die in der Schule unterrichteten Fächer sollten dazu beitragen, eine „stabile ideologische Haltung“ zu vermitteln. Der Geschichtsunterricht beispielsweise soll „die historische Notwendigkeit der Existenz der DDR“ zeigen und die Schüler zum „Hass auf den Feind“ sowie zur „Liebe gegenüber den Bruderländern“ erziehen.64 Die ab der 5. Klasse unterrichtete Geschichte ist das Fach, dessen Lehrpläne zwischen 1951 und 1959 am häufigsten revidiert werden. Insgesamt lernen die einzelnen Klassen der Primar- und Sekundarschulen in einem Zeitraum von acht Jahren 18 verschiedene Lehrpläne in Geschichte kennen! So kommt in der Revision von 1955/1956 der Übergang von einer internationalistischen zu einer nationalen Perspektive zum Ausdruck. Konkret wird der Anteil der Weltgeschichte zugunsten der deutschen Geschichte reduziert, wobei das Ziel darin besteht, die DDR in eine deutsche Geschichte der longue durée einzuschreiben, um so ein Gefühl nationaler Identität zu schaffen.65 Diese neuen, regelmäßig entsprechend den Reformen und den dem Fach eigenen Entwicklungen modifizierten Lehrpläne stützen sich auf eine neue Generation von Schulbüchern. Die ostdeutschen Schulbücher enthalten nicht nur das gesammelte Wissen, das für die einzelnen Niveaus von den Schulbehörden der DDR gefordert wird. Sie spiegeln auch die ideologischen Normen wider, die die SED den jungen Generationen übermitteln will. Sie sind kulturelle Vektoren des offiziellen Gedächtnisses. Eine der Funktionen dieser Schulbücher besteht darin, durch eine entsprechende Wortwahl und Bebilderung die „Liebe“ der Schüler für die DDR zu wecken. Da die DDR ein zentralisierter Staat ist, werden die vom Volksbildungsministerium approbierten Lehrbücher in allen Schulen des Landes verwendet. Der Verlag Volk und Wissen, der im September 1945 gegründet worden ist, ist die zentrale Insti63 „Die nächsten Aufgaben der allgemeinbildenden Schule. Entschließung des Zentralkomitees der SED vom 19. Januar 1951“, in: S. Baske/M. Engelbert, Zwei Jahrzehnte Bildungspolitik, S. 61. 64 H. Mätzing, Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus. Untersuchungen zu Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht in der DDR, Hannover 1999. Als Lokal­ studie siehe S. Handro, Geschichtsunterricht und historisch-politische Sozialisation in der SBZ und DDR (1945–1961). Eine Studie zur Region Sachsen-Anhalt, Weinheim 2002. Themenbezogene Herangehensweisen bieten J. Fischer, Geschichte im Dienste der Politik: Die Darstellung des Zeitraums von 1933 bis 1945 in den Geschichtslehrplänen und -schulbüchern der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen in der DDR von 1959 bis 1989, Frankfurt/M. 2004; C. Schatzker, Juden, Judentum und Staat Israel in den Geschichtsbüchern der DDR, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung, 1994. 65 Ministerium für Volksbildung, Direktive zur Arbeit mit dem Lehrplan für das Fach Geschichte. Schuljahr 1955/56, Berlin 1955. Vgl. H. Giess, „Die Rolle der Gefühle im Geschichtsunterricht des Dritten Reiches und der DDR“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 46, 1995, S. 127–141.

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tution für die Herstellung von Schulbüchern. Er wird von einem technischen und einem pädagogischen Direktor geleitet und in einzelne Sektionen aufgeteilt, die den Unterrichtsfächern entsprechen. Er ist direkt dem Volksbildungsministerium unterstellt, von dem es die umzusetzenden pädagogischen und politischen Direk­tiven erhält. Er steht also im Dienste der ideologischen Anforderungen des sozialistischen Regimes. Die Liste mit den Angehörigen der Autorenkollektive, die die jeweiligen Lehrbücher redigieren sollen, wird vom Verlag dem Ministerium vorgelegt, das die vorgeschlagenen Personen billigt – oder auch nicht. Die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften ist zuständig für die Evaluierung der Lehrbuchentwürfe. Das Bild, die Lehrbücher seien ein genaues Produkt des Willens der SED gewesen, muss nuanciert werden. Kontrolle und Anforderungen seitens der offiziellen Behörden variieren von Fach zu Fach. Außerdem wird jedes Lehrbuch von einem Autorenkollektiv erarbeitet, das zwar überwacht wird, gleichwohl aber über einen gewissen Spielraum verfügt. Dies gilt insbesondere für die Veröffentlichung des ersten Französischlehrbuchs der DDR, Ici la France, im Schuljahr 1951/1952.66 Eine Analyse der Direktiven, die der Konzeption dieses Lehrbuchs zugrunde lagen, zeigt, dass es durchaus einen Kompromiss zwischen traditionellem humanistischem Unterricht der Zeit der Weimarer Republik (der sich auf Kenntnisse über „das Wesen eines fremden Landes und Volkes“ konzentrierte)67 und den von der SED geforderten politischen Orientierungen (dem Erlernen der „Sprache des Feindes“ aus pragmatischen Gründen)68 darstellte. Eine Analyse der Lehrbücher ermöglicht uns ein Verständnis der edukativen Absichten des Regimes, sie erlaubt aber keine Rückschlüsse auf die Wirkung dieses Unternehmens auf die Schüler, da die Verwendung dieser Lehrbücher von den Lehrenden und den Schülern abhängt. Einer der Irrwege, die beim Studium dieser Schulbücher beschritten wurde, besteht eben darin, diese Quelle als Spiegel des tatsächlichen Einflusses des Staates auf die Schülerschaft misszuverstehen.69 Die Analyse der Lektürebücher der 1950er Jahre für die Sechsjährigen hat eine Kluft zwischen dem politischen Kontext, der sich durch Personenkult auszeichnet, und dem Fehlen dieses Kultes in den Büchern aufgezeigt. Tatsächlich haben sich 66

F. Bertrand/D. Röseberg, „La France dans les manuels scolaires de RDA (1949–1989)“, in: D. Röseberg (Hg.), Images de la France en RDA. Une histoire oubliée, Paris 2004, S. 90– 141. 67 Diese Konzeption des Fremdsprachenunterrichts als Kultur- und Wesenkunde geht auf das frühe 20. Jahrhundert zurück und versuchte, den „nationalen Geist“ eines Landes zu vermitteln, indem eine Pädagogik des Kennenlernens der großen Werke der französischen Literatur in den Mittelpunkt gestellt wurde. 68 BBF, DIPF/6432, ohne Titel, unpag. 69 J. Wüstenhagen, Der spanische Bürgerkrieg in Historiographie und Schulbüchern der DDR (1953–1989), Hamburg 1997.

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die ostpolitischen Politiker, um ein Gegengewicht zu den Nazi-Lehrbüchern zu schaffen,70 als einfache, volksnahe Personen dargestellt und nicht als Persönlichkeiten hohen Rangs. Es ist daran zu erinnern, dass Wilhelm Pieck Tischler war, bevor er Präsident der DDR wurde. Lenin wird häufig als freundlicher und herzlicher Großvater gezeigt, womit auf das Bild der Familie, der Gemeinschaft Bezug genommen wird, das die DDR über verschiedene erzieherische Praktiken zu vermitteln sucht.

Abb. 2 Album von Schülern der 10. OS Berlin-Lichtenberg über Lenin, 1958

Diese strukturelle und programmatische Reform wird von einem weitgehend erneuerten Lehrkörper durchgeführt. Im Rahmen des Entnazifizierungsprozesses erfährt diese Berufsgruppe eine grundlegende Erneuerung ihrer Akteure, da der Prozentsatz der Mitglieder der NSDAP unter dem Nationalsozialismus in dieser sozioprofessionellen Gruppe sehr hoch lag. Das Ziel des Ministeriums für Volksbildung besteht darin, edukative Akteure einzusetzen, die nicht nur den Auftrag haben, Wissen und Kenntnisse zu vermitteln, sondern auch politische Akteure, die die marxistisch-leninistische Ideologie übermitteln sollen. 70 G. Teistler, „Personenkult in Fibeln des Nationalsozialismus und der DDR als Spiegel von staatlicher Einflussnahme in Schulbüchern“, in: Zeitschrift für Museum und Bildung, 60, 2004, S. 187–197.

Kapitel II Der Lehrkörper zwischen politischen Forderungen und sozioprofessioneller Autonomie

Am Ende des Krieges wird das Lehrpersonal zum Ziel einer umfassenden Säuberungspolitik, in deren Folge die sowjetischen Behörden einerseits alte, bereits pensionierte Lehrer, zum anderen „Neulehrer“ rekrutieren. Letztere haben eine Kurzausbildung erhalten und müssen mit der Feindseligkeit von Eltern umgehen, die sich den alten Stelleninhabern verbunden fühlen. Die Entnazifizierung hat ohne jeden Zweifel dazu beigetragen, den Lehrkörper von Grund auf zu erneuern. Traditionelle Darstellungen der ostdeutschen Schule, insbesondere diejenigen, die sich der totalitarismustheoretischen Strömung der Geschichtswissenschaft anschließen, präsentieren dieses neue Lehrpersonal als „Transmissionsriemen“ oder als „Propagandisten“1 der SED-Ideologie. Dieses Bild ist in den 1990er Jahren von Spezialistinnen der Erziehungswissenschaften wie Brigitte Hohlfeld, Ulrike Mietzner und Petra Gruner grundlegend korrigiert worden. Die Lehrenden konstituieren für die Schüler in ihrer Alltagswelt die maßgeblichen schulischen Akteure. Sie spielen eine zentrale, mitunter entscheidende Rolle bei ihrer Sozialisation und Orientierung auf die Zukunft. Diese Bedeutung wird in der Literatur oder dem Film reflektiert.2 Eine genauere Betrachtung dieser Berufsgruppe ist deshalb von Interesse, weil diese zentrale Figur der schulischen Welt so in einem Interaktionssystem zwischen Partei, anderen erwachsenen Erziehungspersonen, Schülern und Eltern platziert werden kann. Bevor die komplexen Wechselwirkungen im Detail beschrieben werden, müssen wir diese Kategorie von Akteuren, die ein heterogenes, von generationellen, politischen und strukturellen Unterschieden durchzogenes Ganzes bildet, vorstellen.

1 2

F. Klier, Lüg Vaterland. Erziehung in der DDR, München 1990, S. 85. Einige von der DEFA produzierte Filme thematisieren die Figur des Lehrenden, meist auf der Grundlage von Romanen: Karla von 1965, Den Wolken ein Stück näher von 1974, Eine Anzeige in der Zeitung von 1980 (die letzteren beiden nach Romanen von Günter ­Görlich), ­Ikarus von 1974, Insel der Schwäne von 1983 nach dem Roman von Benno Plundra, ­Wandzka von 1974 nach einem Roman von Alfred Wellm.

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Soziologische Beschreibung des Lehrpersonals Zu Beginn der 1950er Jahre sind etwa 4 600 Lehrende in den allgemeinbildenden Schulen Ostberlins tätig. Ungeachtet eines gewissen sozialen Status werden sie sehr schlecht bezahlt und vergleichen ihre Situation häufig mit der ihrer Kollegen in Westberlin. Etwa 17 % sind Mitglieder der SED, was ein sehr starkes politisches Engagement bedeutet, wenn man es mit anderen Bereichen vergleicht, an denen sich der Kommunismus im Alltag untersuchen lässt, etwa den Betrieben.3 Das Personal, das an den Primarschulen aktiv ist, bildet einen Gegenpol zu denjenigen, die ihre Funktion an den Oberschulen ausüben. Diese beiden Schultypen stellen zwei sehr unterschiedliche Welten dar, die wir nacheinander betrachten werden. 90 % der Lehrenden arbeiten an den Primarschulen.4 Auf der Ebene dieser Einrichtungen hat der Lehrkörper infolge der Entnazifizierung und der Rekrutierung der „Neulehrer“ seit 1945/1946 eine sehr starke Veränderung seiner sozialen Zusammensetzung erfahren. Diese soziale Gruppe gehört in gleichem Maße wie der Antifaschismus zu den Gründungsmythen der DDR;5 sie inkarniert das Versprechen sozialer Mobilität und einer Erneuerung der Eliten. Die Mehrheit des Lehrkörpers war im Dritten Reich Mitglied der NSDAP gewesen. Im Jahre 1945 gehörten von 40 000 überprüften Lehrern in der Sowjetischen Besatzungszone 28 000 der Nazi-Partei an. Für diese Besatzungszone schwanken die Zahlen zwischen 12 000 und 20 000 Entlassungen.6 Zwischen 1945 und 1948 führt die Anwendung der von der Sowjetischen Militäradministration erlassenen Anordnungen in Berlin zur Entlassung von etwa 2 500 Lehrenden.7 Die Wirklichkeit der Entnazifizierung und ihrer Auswirkungen beschreibt der Schriftsteller Günter de Bruyn in seinen Jugenderinnerungen. Im Jahre 1946 wird er nach Garlitz, ein Dorf in Brandenburg, geschickt, um einen Lehrer zu ersetzen, der seit zwanzig Jahren an der Schule tätig und 3 4 5

6 7

LAB C REP 120/2078, op. cit., pag. 98. In den 1960er Jahren lag der Mobilisierungsgrad des Betriebspersonals in der SED im Allgemeinen bei etwa 10 %, wobei er allerdings bei den Leitungsfunktionen stark erhöht war. Siehe S. Kott, op. cit., S. 59. LAB, C REP 120/2078, Berichte und Analysen über die Schulsituation in den Stadtbezirken, 1950, pag. 15 und 98. P. Gruner, „Nun dachte ich, jetzt fängt’s neu an, nun soll’s sozial werden …“ Zur Kritik des Neulehrermythos, in: Zeitschrift für Pädagogik, Bd. 41, 1995, n° 6, S. 943–957; ders., „Die Neulehrer: Schlüsselsymbol der DDR-Gesellschaft“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/99, S. 25–31. B. Hohlfeld, op. cit., S. 347ff. Noch im Jahre 1954 sind etwa 20 % der aktiven Lehrenden in der DDR ehemalige Mitglieder der NSDAP. Siehe die Anordnungen N° 40 vom 25. August 1945 und N° 162 vom 6. Dezember 1945, BA, DR 2/910, pag. 8 und 13. Für Sachsen, siehe J. Petzold, „Die Entnazifizierung der sächsischen Lehrerschaft 1945“, in: J. Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung, Berlin 1993, S. 87–103.

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Mitglied der NSDAP war. Bei seiner Ankunft begegnet ihm die Feindseligkeit der Dorfbewohner, da er als „Vertreter der neuen Machthaber“ angesehen wird. Nach seinem Eintreffen „[…] erfuhr ich vom Bürgermeister, daß ich hier unerwünscht war. Im Dorf gab es zwei Schulgebäude. In einem saß schon ein neuer Lehrer, in dem anderen der alte, der schon seit zwanzig Jahren im Dorf das Lesen und Schreiben gelehrt hatte und mit dem die Gemeinde immer zufrieden gewesen war.“8

Zu Beginn der 1950er Jahre sind die Lehrenden der Primarstufe in Ostberlin jung und meist weiblichen Geschlechts: 60 % der Unterrichtenden sind Frauen, 55 % davon weniger als 35 Jahre alt. Diese Jugendlichkeit des größten Teils der Volksschullehrerinnen geht selbstverständlich einher mit beträchtlicher Unerfahrenheit: 70 % von ihnen haben 1950 weniger als drei Jahre Berufserfahrung! Die Mehrzahl hat zudem nur eine rudimentäre oder gar keine Ausbildung. Kaum 13 % können eine Ausbildung in einer höheren Bildungsanstalt, also einem pädagogischen Institut oder einer Universität vorweisen. Die meisten haben eine beschleunigte Ausbildung in Form von Seminaren begleitend zur Lehrtätigkeit über einen Zeitraum zwischen zwei und 24 Monaten erfahren. Die Entnazifizierung erklärt die Rekrutierung junger Lehrer und Lehrerinnen, die sich bis in die Mitte der 1950er Jahre fortsetzt, aber nicht allein. Zusätzlich nämlich ist der Schuldienst seit den frühen 1950er Jahren mit der Ausreise zahlreicher Lehrender in den Westen konfrontiert.9 Die überwältigende Mehrheit der Lehrenden in der Primarstufe gehört keiner politischen Partei an. Gleichwohl zählt man in Ostberlin bereits 18 % SED-Mitglieder unter den Volksschullehrern. Anscheinend sind diese SED-Mitglieder alte Kommunisten (oder Sozialdemokraten) oder Neulehrer meist bescheidener Herkunft. Der Eintritt in die Partei ist eine Geste der Dankbarkeit für den vollzogenen sozialen Aufstieg. Das Engagement in der Partei erfolgt aber nicht automatisch. Die Rekonstruktion zweier Biographien aus Interviews ermöglicht es uns, die Vielfalt der Lebenswege zu illustrieren. Der Lebensweg von L. W. entspricht exakt dem „Idealtypus“ des jungen Lehrers, der Mitglied der SED ist und dessen politisches Engagement schließlich darin einmündet, eine Karriere als Funktionär im Dienste der Partei zu machen. Geboren wurde er 1935 in Rummelsburg in Pommern (heute Polen) in eine kommunistische Arbeiterfamilie; sein Vater war Maurer, dann Lokomotivführer. Als Mitglied der KPD wird der Vater für gewisse Zeit ins Konzentrationslager geschickt, bevor er Soldat wird und an der Ostfront in Gefangenschaft gerät. Die Erziehung, die L. W. erfährt, bringt ihn dahin, zu Beginn der 1950er Jahre eines der ersten Mitglieder der 8 9

G. de Bruyn, Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, Frankfurt/M. 1992, S. 328. J. Hoffmann, Lehrerflucht aus SBZ und DDR 1945–1961. Dokumente zur Geschichte und Soziologie sozialistischer Bildung und Erziehung, Frankfurt/M. 2000.

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Jungen Pioniere und danach der FDJ zu werden. Trotz eher mittelmäßiger schulischer Leistungen erlaubt es ihm sein politisches Engagement, ein Institut für pädagogische Ausbildung in Berlin zu besuchen; dort wird er bis 1954 zum Lehrer ausgebildet. Nach einigen Jahren Berufstätigkeit in Schulen des Bezirks Köpenick wird er permanenter Funktionär der FDJ, dann der SED, und beendet seine Karriere in der Parteileitung in Köpenick.10 L. W. ist ein Beispiel für jene „Neulehrer“, für die der Lehrberuf tatsächlich eine Eingangsschleuse für eine Funktionärskarriere darstellt. Sein Engagement wird vor allem von politischen Motiven angetrieben. Auch zahlreiche Frauen machen eine Karriere als Funktionärinnen, nachdem sie als „Neulehrerinnen“ angefangen haben. Viele junge Erwachsene entscheiden sich aus Opportunismus und aus dem Wunsch, in möglichst kurzer Zeit einen gehobeneren und anerkannten sozialen Status zu erreichen, für diesen Beruf. Ein weiteres Interview erlaubte es, genau d­ iese Art von Lebensweg näher zu beleuchten. Geboren im Jahre 1929 gehört A. S. zu der „Generation der Hitlerjugend“,11 die in den 1930er Jahren sozialisiert, stark von der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus geprägt und am Ende des Krieges an die Ostfront geschickt wurde. Seinen eigenen Worten zufolge haben die Erfahrung des Krieges und die Internierung in der UdSSR ihn zum Nachdenken bewegt; bei seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1946 beabsichtigt er, am Aufbau einer Welt des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit mitzuwirken.12 Diese Haltung wird nicht von einem Engagement in der SED begleitet, wohl aber von einem starken Identifikationsgefühl mit der DDR. Diese Bekehrung vom Nazi-„Mitläufer“ zum überzeugten Antifaschisten, die im Interview schön in Szene gesetzt wird, erzählt A. S. in romanhafter Form und lässt dabei sehr direkt an die idealisierenden Berichte von Vertretern dieser Generation denken, die berufen werden, Erziehungsfunktionen zu übernehmen. Die Metamorphose des A. S. erinnert an die des Soldaten Rudi Hagedorn, des Helden bei Max Walter Schulz, der in sein Dorf Reiffenberg zurückkehrt und schließlich einen neuen Lebensinhalt findet, indem er sich als Neulehrer am Aufbau des Sozialismus beteiligt.13 Im Verlaufe des Interviews kreist die Erzählung von A. S. um die Anerkennung seiner jugendlichen „Schuld“ und seinen Wunsch, diese „Erbsünde“ auszulöschen, indem er den Lehrberuf ergreift. Sein Bericht, der voll ist von Stereotypen, ist nicht frei von Widersprüchen. Nach 10 Interview mit L. W. vom 28. April 2004. 11 Zum Übergang aus der HJ in die FDJ siehe D. Wierling, „Von der HJ zur FDJ“, in: Bios, Jg. 6, n° 1, 1993, S. 107–118. 12 Interview mit A. S. vom 25. Februar 2002. 13 Siehe insbesondere M. W. Schulz, Wir sind nicht Staub im Wind. Roman einer unverlorenen Generation, Halle 1962. Siehe auch G. de Bruyn, Der Hohlweg, Halle 1963 und aus jüngerer Zeit H. Müller, Schule im Aufruhr. Erinnerungen eines DDR-Landschullehrers, Berlin 1999.

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seinem Wunsch, sich von dem Fehler reinzuwaschen, ein „kleiner Nazi“ gewesen zu sein, betont er, dass sein Eintritt in den Lehrkörper das Ergebnis von Zufällen und Beziehungen war. Nachdem er drei Jahre lang als Maurer gearbeitet hat, findet sich A. S. quasi von einem Tag auf den anderen zum Lehrer der ersten Grundschule im Bezirk Pankow befördert. Er verdankt diese Ernennung seinem Onkel, der unter dem Nationalsozialismus dem antifaschistischen Widerstand angehörte. Trotz des Drucks seitens des Schulleiters weigert sich A. S., der SED beizutreten. Er ist ein von pazifistischem Engagement getriebener Mensch, der an die Möglichkeit glaubt, eine neue Gesellschaft aufzubauen, sich dabei aber jeden politischen Engagements enthalten will. Er vertritt die Auffassung, dass sich die Politik nicht in die Schule einmischen sollte. Diese Haltung führt dazu, dass er mit dem Schulleiter in Konflikt gerät und die Verteidigung protestantischer Schüler ergreift, die offiziell vom Regime diskriminiert werden. Er ist von 1955 bis 1958 an der zwanzigsten Schule in Pankow im Amt, als er W. H. in Schutz nimmt, einen jungen Schüler in seiner Klasse, der Mitglied der Jungen Gemeinde ist. A. S. dient als Puffer zwischen dem Direktor und diesem Schüler, indem er keinen Druck dahingehend ausübt, dass dieser an der Jugendweihe teilnimmt, und indem er sich gegen einen Verweis sperrt. Die Beschützerrolle dieses Lehrers sorgt dafür, dass für W. H. der Schulbesuch in der DDR keine traumatisierende Erfahrung wird. 1958, nach dem Tod seiner Eltern, geht er zu seinem Bruder in Westberlin.14 Diese beiden Lebensläufe von Neulehrern illustrieren die Heterogenität einer Personalkategorie der schulischen Welt, die die SED zum „Transmissionsriemen“ ihrer Ideologie zu machen beabsichtigt. Die Identifikation mit der DDR und ihren Ideen von sozialer Gerechtigkeit gehen jedoch nicht unbedingt einher mit einer Mitgliedschaft in der SED. Letztere stellt ein Instrument dar, um die Karriereleiter in der Schul- oder öffentlichen Verwaltung rascher emporzuklettern. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass zahlreiche Vertreter dieser Generation der Neulehrer ihren Beruf in einer Weise auffassen, in deren Zentrum die Schule selbst steht und nicht ihre politische Dimension. Die Oberschulen bilden, wenn wir die Zusammensetzung des Lehrkörpers untersuchen, eine Art umgekehrten Spiegel der Primarschulen. In diesen Einrichtungen ist der Lehrkörper älter: 80 % der Lehrenden zählen mehr als 35 Jahre, ein Drittel ist älter als 65 Jahre! Es handelt sich mehrheitlich um Männer (60 %) mit großer pädagogischer Erfahrung: 40 % von ihnen unterrichten seit mehr als 25 Jahren. Sie gehören einer anderen Generation an, die unter dem Kaiserreich und der Weimarer Republik sozialisiert und ausgebildet wurde. Der Generationsunterschied wird verstärkt durch einen sexuellen, da Frauen im Wesentlichen in der Primarstufe unterrichten, während die Männer in den Oberschulen arbeiten. Zwei Drittel der 14

Interview mit W. H. vom 4. März 2002.

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Lehrer sind in höheren Bildungsanstalten ausgebildet worden, hauptsächlich an der Universität (56 %). Der Grad der Zugehörigkeit zur SED ist schwächer und entspricht schon eher den Mittelwerten, die in anderen sozialen Kategorien festgestellt werden: 12,5 % der Lehrenden in den Sekundarschulen sind Mitglieder der SED.15 Diese Lehrer vertreten häufig ein anderes Konzept ihres Berufs, das auf Werten der Gelehrsamkeit und der humanistischen Kultur aufbaut. Sie sind kaum bereit, sich zu „Transmissionsriemen“ der kommunistischen Ideologie umfunktionieren zu lassen oder sich für die Integration der SED und ihrer Jugendorganisationen zu engagieren. Ein Funktionär des Schuldienstes im Bezirk Weißensee notiert im Jahre 1950: „Die älteren Kollegen sind nicht bereit, sich mit den marxistischen Grundfragen und den neuen wissenschaftlichen Forschungen auseinanderzusetzen.“16 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bis in die Mitte der 1950er Jahre die Grundschulen von einer anderen Generation betrieben werden als der, die den Lehrkörper der Oberschulen stellt. Ein DEFA-Film erlaubt es, diese Wirklichkeit zu illustrieren: 1950 beschreibt der Langfilm Die Jungen von Kranichsee von Artur Pohl die Ankunft eines Neulehrers in einem Dorf der DDR und zeigt, wie es ihm durch seinen Enthusiasmus und seine pädagogischen Methoden  – vor allem legt er das Hauptgewicht in der Tradition der Reformpädagogik auf praktische Arbeiten – gelingt, den Respekt seines älteren Kollegen (der Direktor der Schule ist), die Zuneigung der Kinder und den Respekt der Dorfbewohner zu gewinnen.17 Da aber der Regisseur vor allem das didaktische Talent des Lehrers zur Darstellung bringt und die politische Dimension seines Engagements vernachlässigt, kritisiert die SED den Film.18 Die Homogenisierung des Lehrkörpers zieht sich über das gesamte Jahrzehnt mit der allmählichen Ersetzung der Lehrenden hin, die in der Weimarer Republik ausgebildet und im Augenblick der Entnazifizierung zurückgeholt worden sind. Sie wird begleitet von einer Bewegung der Politisierung des Berufs, die von der SED gewollt ist; die Antwort darauf ist die Herausbildung eines Korpsgeistes.

15 LAB C REP 120/2078, op. cit., pag. 98. 16 LAB, C REP 120/2077, op. cit., pag. 79. 17 P. Gruner, „Professor Unrat im Sozialismus und seine uneinsichtigen Schüler: Schule und Erziehung im Spielfilm der DDR“, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, 12, 2002, S. 72–87. 18 F. Ludwig, „Die Jungen von Kranichsee. Eine Filmkritik pädagogisch gesehen“, in: Die neue Schule, 5, 1950, S. 966–968.

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„Die Lehrer sind alle für den Frieden, aber sehr wenige sind Kämpfer für den Frieden“19 Die SED ist sich der entscheidenden Rolle der Lehrenden beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft bewusst. Genau deshalb fordert sie von dieser sozialen Gruppe ein „totales kämpferisches Engagement“ sowohl als Unterrichtende wie als politische Erzieher. Auf dem 4. Pädagogischen Kongress in Leipzig 1949 definiert daher der Verantwortliche für die Schulpolitik der Partei, Hans Siebert (1910–1979), die Aufgabe des ostdeutschen Lehrers hinsichtlich der politischen und ideologischen Kriterien so: „Die neue demokratische Schule fordert den politisch bewußten und wissenschaftlich gebildeten Lehrer. Es ist deshalb notwendig, daß sich jeder Lehrer neben einer guten Allgemeinbildung eine objektive Kenntnis des Marxismus-Leninismus und gründliches Wissen in seinem Unterrichtsfach und in der Erziehungswissenschaft aneignet.“20

Dieses Personal soll nicht nur einen Fundus des Wissens und der Kenntnisse vermitteln, sondern ebenso die marxistisch-leninistische Ideologie verbreiten. Die offiziellen Direktiven, die der DVV und die SED erstellen, insistieren regelmäßig darauf, dass der Lehrer vor allem ein „politischer Erzieher“ sein soll. Die SED versucht auf diese Weise, den Lehrkörper für außerschulische Aktivitäten im Rahmen der Jugendorganisationen zu mobilisieren. Der 4. Pädagogische Kongress in Leipzig umschreibt das Aufgabenfeld außerhalb des Klassenzimmers genauer: „1) Wir, die demokratischen Lehrer, empfehlen, daß sich soviel Lehrer als möglich der FDJ für die Arbeit im Verband der Jungen Pioniere zur Verfügung stellen, um aktiv an der Entwicklung des Verbandes teilzunehmen. 2) Wir empfehlen, daß sich Lehrer in größerer Anzahl als bisher für die Arbeit als Leiter wissenschaftlicher, polytechnischer und kultureller Arbeitsgemeinschaften bereit erklären oder ihre speziellen Fähigkeiten und Kenntnisse auf den verschiedenen Gebieten durch Vorträge usw. zur Verfügung stellen. 3) Durch intensive Aufklärung über das Wesen und den Aufbau des Verbandes der Jungen Pioniere werden wir dazu beitragen, in der gesamten Lehrerschaft noch vorhandene Unklarheiten zu beseitigen und helfen, daß alle Lehrer eine positive Stellung zum Verband der Jungen Pioniere einnehmen.“21

19

LAB, C REP 120/2077, Berichte und Analysen über die Schulsituation in den Stadtbezirken, pag. 19. 20 „Grundforderungen an den Lehrer. Beschluß des Parteivorstandes der SED über schulpolitische Richtlinien für die deutsche demokratische Schule vom 24. August 1949, in: Dokumente der SED, Band II, Berlin, 1952, S. 329–330. 21 SAPMO, DY 25/479, Einstellung und Berichte über die Tätigkeit des Verbandes der Jungen Pioniere und die Zusammenarbeit mit der demokratischen Schule, 1949–1950, unpag.

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Diese Botschaft wird der Basis über die Schuldirektoren und die lokalen Funktionäre der FDJ übermittelt. Auf einer Tagung am 26. Februar 1953 erinnert der Leiter der 10. Schule in Berlin-Friedrichshagen die Kollegen an die offiziellen Direktiven: „Die Pionierarbeit ist die erste gesellschaftliche Tätigkeit des Lehrers und daher in ganz besonderem Maße zu fördern.“22 Wenn sich diese Art von Appell noch 1953 (und darüber hinaus) in den Protokollen von Lehrerkonferenzen wiederfindet, bedeutet das, dass die Nachricht offensichtlich bei den Lehrern, und ebenso bei den Schülern, kaum ankommt. Viele Neulehrer unterstützen die Jugendorganisationen tatsächlich eher formell. Der Aufruf, in die FDJ einzutreten, findet ein schwaches Echo: 9 % der jungen Lehrkräfte in Ostberlin sind im Jahre 1952 Mitglied der Jugendorganisation.23 Selten gibt es Schulen, an denen es der FDJ gelingt, Zellen aus jungen Lehrenden zu gründen. Und da, wo sie existieren, sind sie nicht sehr aktiv. Allerdings enthalten die Quellen den Fall der 13. Schule in Mitte, die 1953 inspiziert wird; hier gelingt es der FDJ-Gruppe sogar, die nicht existierende Basisparteiorganisation (BPO) zu ersetzen: „Von den neuen Kollegen der Schule sind zwei Mitglied der SED, davon ein Kandidat, die übrigen Kollegen sind parteilos. Fünf Kollegen sind Mitglieder der FDJ. Sie bilden eine FDJ-Grundeinheit. Die Arbeit dieser FDJ-Grundeinheit ist jedoch sehr schwach. Die FDJ-Mitgliedschaft zeigt sich vor allem darin, daß sie Beitrag zahlen. Eine BPO der SED gibt es an der Schule nicht. Die zwei Genossen sind der BPO der 12. Schule angeschlossen. Aus diesem Grund erklärt sich die politisch recht schwache Arbeit an der Schule. […] Die Lehrerschaft ist im allgemeinen passiv, steht den politischen Tages­ ereignissen gleichgültig oder abwartend gegenüber, jedoch direkte gegnerische Einstellung konnte nicht festgestellt werden.“24

Im Allgemeinen gewöhnen sich die Lehrenden an die Anwesenheit der Jugendorganisationen, wobei allerdings den Vertretern der älteren Generation die wachsende Präsenz dieser Strukturen in der Schule ein Dorn im Auge bleibt. Die Stimmung, die in der 9. Schule in Lichtenberg 1954 beobachtet wird, ist charakteristisch für das erste Jahrzehnt der Existenz der DDR insgesamt: „Die Unterstützung der Pionierbewegung ist ungenügend. […]  Die meisten Kollegen begnügen sich mit rein formaler Unterstützung oder mit einem Lippenbekenntnis.“25 Alle schriftlichen Berichte, die vermutlich von engagierten SED-Mitgliedern stammen, bringen große Enttäuschung hinsichtlich des von den Lehrenden erwarteten 22 Berichte über die Tagungen des Pädagogischen Rates der 10. Schule in Berlin-Friedrichs­ hagen, Oktober 1952–Dezember 1957, unpag. 23 BA, DR 2/1 171, op. cit., pag. 45. 24 BA, DR 2/1 196, op. cit., pag. 13. 25 LAB, C REP 903-03-01/159, op. cit., unpag.

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Engagements zum Ausdruck. Die Zielstrebigkeit der Autoren dieser Dienstvermerke stößt sich an einem Lehrkörper, dessen Priorität woanders liegt: In der Verbesserung der materiellen Arbeitsbedingungen, in der Vermittlung von Wissen. Man sollte hierin nicht ein Zeichen von Opposition dieser sozialen Gruppe sehen, die von Anfang an eine der Stützen des sozialistischen Regimes bildet, sondern vielmehr einen Ausdruck von Eigensinn, von einer Art Korpsgeist. Konkret soll die politische Aktivität des Lehrenden außerhalb der Klasse zwei Formen annehmen. Die erste besteht darin, die außerschulischen Arbeitsgemeinschaften zu betreuen: Um die Mitte der 1950er Jahre nehmen etwa 20 % der Schüler an Freizeitzirkeln teil.26 Die zweite ist die Beteiligung an der Rekrutierung von Schülern für die Jugendorganisationen. Grundsätzlich haben die Lehrenden nichts gegen die Betreuung von Freizeitaktivitäten. Ganz im Gegenteil haben sie von sich aus seit 1945/1946 als Arbeitsgemeinschaften (AG) bezeichnete Angebote organisiert, die gratis und für alle Schüler offen sind. Der Begriff Gemeinschaft bezieht sich dabei auf eine deutsche Tradition des 19. Jahrhunderts, wo der Begriff seit der Romantik hoch bewertet wird. Er bildet einen grundlegenden Bezugspunkt in der Arbeiterbewegung und im pädagogischen Bereich, er gehört zum Vokabular, das von der Reformpädagogik und von zahlreichen Sozialdemokraten in der Zwischenkriegszeit verwendet wird.27 Viele Lehrer engagieren sich aus mehreren Gründen für diese kollektiven Aktivitäten. Zum einen können sie hier ihre persönlichen Leidenschaften ausleben, seien sie sportlicher (Basketball-, Leichtathletik-, Gymnastikgruppen) oder künstlerischer (Theater-, Volkstanz-, Fotografiegruppe) Natur. Zweitens sind sie häufig entschlossen, die Freizeitbeschäftigungen der Jugendlichen zu betreuen, damit diese nicht auf der Straße „herumlungern“.28 Die AG verwandelt sich so für einen Nachmittag in eine „Ersatzfamilie“, da die Eltern weder über die Zeit noch über die finanziellen Mittel verfügen, um ihren Kindern zu ermöglichen, sich in einer Freizeitbeschäftigung zu verausgaben. Dieser Schutzaspekt sollte uns jedoch das finanzielle Interesse der Lehrer nicht vergessen lassen. Tatsächlich erhalten diese eine Gehaltszulage, die ihnen das Monatsende versüßt. Wie ein Bericht der Schulverwaltung von Ostberlin aus dem Jahre 1953 bemerkt, ist dies mitunter die einzige Motivation: „Neben ausgezeichneten Erfolgen in den Arbeitsgemeinschaften gibt es immer noch Kollegen, die die Durchführung einer Arbeitsgemeinschaft nur deshalb unternehmen, weil sie 26 27 28

SAPMO, DR 2/5 945, HA Außerschulische Erziehung, Abt. Außerschulische Einrichtungen, Statistiken über Zahl der AG sämtlicher Länder, 1952, unpag. Vgl. die interessanten Überlegungen, die Sandrine Kott zu diesem Thema unter Bezugnahme auf das Denken von Ferdinand Tönnies macht. S. Kott, op. cit., S. 147ff. Transkription des Interviews mit A. S. vom 25. Februar 2002, unpag.

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bezahlt werden.“29 Das Volksbildungsministerium versucht in den 1950er Jahren, die Bewegung der AGs zu übernehmen und sie unter die Kuratel der Jugendorganisationen zu stellen. Allerdings wollen die Lehrenden ihre Autonomie nicht aufgeben. Das Beispiel A. S., dessen Biographie wir oben nachgezeichnet haben, ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Im Rahmen der ersten Volksschule von Pankow, wo er von 1949 bis 1955 unterrichtet, hat er eine Schulsportgemeinschaft gegründet, die erfolgreich an Schwimmwettbewerben teilnimmt. Um Gruppenzusammengehörigkeit zu fördern und um ein Sammelsymbol zu haben, hat er eine Fahne mit dem Namen der Schule und dem Berliner Bären angefertigt. Der Direktor fordert ihn daraufhin auf, seinen Wimpel aufzugeben und den der Jungen Pioniere zu hissen. Seine Weigerung bringt ihn in einen neuen Konflikt mit dem Direktor und führt im Jahre 1955 zu seiner Versetzung an eine andere Schule. Die Betreuung außerschulischer Aktivitäten ist besonders erwünscht während der Ferien im Rahmen der Ferienlager, die von den Jugendorganisationen und den Betrieben angeboten werden. In den meisten Fällen engagieren sich die Lehrer hierbei in erster Linie aus finanziellen Gründen. Der zweite Teil ihrer Funktion als „politische Erzieher“ besteht in einer Aufgabe, die viele sich zu erfüllen weigern: der Rekrutierung neuer Mitglieder für die FDJ oder die Jungen Pioniere. Die Lehrenden sollen sich verpflichten, drei bis fünf Schüler für die Jungen Pioniere zu rekrutieren, indem sie „Werbebesuche“ bei den Eltern zu Hause machen. Viele, insbesondere die älteren Lehrer, halten sich von dem fern, was das Regime „soziopolitisches Engagement“ nennt. Die Berichte betonen unablässig den Mangel an Engagement der Lehrenden, die sich dagegen sträuben, Schüler für die Jugendorganisationen anzuwerben. Damit zeigt sich ein gleichzeitig generationeller und beruflicher Konflikt zwischen den Lehrern der Sekundarschulen und den engagierten jungen Funktionären. Die Rekrutierungspolitik wird im Wesentlichen von denjenigen Lehrenden gewährleistet, die Mitglieder der SED sind. Diese geraten häufig in Widerspruch mit den Eltern, deren Haltung zur Partei äußerst kritisch ist. Sechs Monate nach dem 17. Juni 1953 verfasst ein Basisfunktionär der SED in Pankow einen Bericht über die Ergebnisse der Hausbesuche bei den Eltern: „Die Genossen Lehrer berichten uns, daß in ihren Wohnbezirken bei Aussprachen mit parteilosen Mitbewohnern nach wie vor eine ablehnende Haltung zur Partei festzustellen sei. Das kommt vor allem durch immer auftauchende Bemerkungen über die HO-Preise für Butter, Fleisch zum Ausdruck. Es wird darauf hingewiesen, daß die hohen Gehälter

29

LAB, C REP 120/1 946, Entwicklung der außerschulischen Erziehung und Bildung, 1953– 1963, pag. 2.

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unserer Spitzenfunktionäre in Partei und Staat zu einer Entfremdung von der Masse der Bevölkerung geführt haben. Sie [die Spitzenfunktionäre] würden sonst mehr Mühe daran setzen, die Preise den Löhnen und Gehältern der weniger verdienenden Schichten der Bevölkerung anzupassen und Fehler in ihrer Arbeit zu vermeiden.“30

Die Berichte der 1950er Jahre zeugen vom Unwillen der Lehrenden, diese Rekrutierungskampagnen durchzuführen. Eine vertrauliche zusammenfassende Aktennotiz über die Tagungen der Pädagogischen Räte der 20. und 21. Schule in Lichtenberg von Februar 1954 illustriert diese Verweigerungshaltung: „Obwohl an allen Schulen eine der dringlichen Aufgaben die Verbesserung der Pionierarbeit ist, wird von einigen Lehrern noch nicht einmal die Notwendigkeit dieser Aufgabe erkannt. So auch an der 21. Schule, wo ein großer Teil der Kollegen Lehrer die falsche Auffassung vertritt, man soll es den Kindern selbst überlassen, sich der Organisation anzuschließen. Aus diesem Grunde wurde auch hier die Pionierarbeit dem Selbstlauf überlassen und der im Sommer 1953 gefaßte Beschluß, daß die Lehrer und der Gruppenpionierleiter sich gegenseitig unterstützen, nicht durchgeführt. Richtig ist zweifellos, daß man keinen jungen Menschen zwingen kann. Aber ebenso falsch ist es, daraus den Schluß zu ziehen, man solle dem Kinde allein überlassen, sich zu entscheiden. Die Aufgabe des Lehrers besteht doch gerade darin, das Kind zu leiten, auf die Organisation hinzulenken, sein Interesse zu wecken und so den jungen Menschen in einer fortschrittlichen Richtung aktiv zu beeinflussen. […] Festgestellt wurde, daß die Kinder eines Teils der Lehrer selbst nicht in der Pionierorganisation sind. Besonders über diese Frage kam es zu einer stärkeren Auseinandersetzung in der Sitzung des Pädagogischen Rates an der 20. Schule, wo der Kollege D. seinem 9jährigen Sohn nicht gestattet, den Jungen Pionieren anzugehören.“31

Die Distanzierung mancher Lehrer von dieser Funktion als „Werber“ sollte nicht als Zeichen von Opposition gegenüber dem Regime aufgefasst werden. Sie drückt vielmehr die Tendenz aus, sich gegen einen beruflichen Legitimitätsverlust gegenüber den Jugendorganisationen zur Wehr zu setzen. Lehrende und Funktionäre der FDJ stehen tatsächlich im schulischen und edukativen Bereich in Konkurrenz zueinander. Die Ersteren versuchen, ihr Revier zu verteidigen und sind in keiner Weise motiviert, ihre Kollegen aktiv zu unterstützen. Dieses Problem, das sich am Fall Ostberlin beobachten lässt, scheint sich in ländlichen Gebieten gar nicht zu stellen. Die Chronik der Dorfschule von Triepkendorf in Mecklenburg zeigt, dass diese Konkurrenz da nicht besteht, wo die Funktionen des Lehrenden und des vollamtlichen Funktionärs von ein und derselben Person ausgeübt werden.32 Der junge Neulehrer, der in dieses Dorf geschickt wurde, scheint das Vertrauen der Bewohner 30 LAB, C REP 149-13/2, Abteilung Volksbildung des Stadtbezirkes Pankow, Berichterstattung über Ergebnisse der politisch-ideologischen Arbeit, 1953–1969, unpag. 31 LAB, C REP 903-3-01/159, op. cit., unpag. 32 Sm/Do, 09/12/03/04, op. cit., pag. 105.

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gewonnen zu haben, was die Rekrutierung der Kinder für die Jungen Pioniere ganz offensichtlich erleichtert. Die SED hat all ihre Hoffnungen auf die Generation der Neulehrer gesetzt, die in „kämpferischer“ Weise an der Ausbildung des neuen sozialistischen Menschen arbeiten sollen. Unsere Analyse bestätigt, dass das Bild eines Lehrkörpers, der als „Transmissionsriemen“ der SED-Ideologie funktioniert, allerdings stark korrigiert werden muss.33 Lediglich eine Minderheit, die sowohl aus alten Kommunisten als auch aus jungen Erwachsenen besteht, ist gewillt, „kämpfende Lehrer“ zu sein. Dabei sollte man nicht allzu rasch eine junge, engagierte und aktivistische Generation einer alten, autoritären und neutralen Garde gegenüberstellen. Denn selbst bei der großen Mehrheit der jungen Lehrkräfte lässt das „kämpferische Engagement“ stark zu wünschen übrig, und zwar aus Gründen, die mehr mit der Konkurrenz zwischen den edukativen Akteuren zu tun haben denn mit einem Mangel an Loyalität gegenüber dem Regime. Ein Bericht der Schulverwaltung des Bezirks Treptow hält fest, dass die Haltung der Mehrheit der Lehrkräfte im Jahre 1950 „attentistisch, ablehnend, neutral“ sei.34 Der Bericht für Mitte geht in die gleiche Richtung, hat aber den Vorzug, etwas genauer zu sein: „Die weltanschaulich klarsten Köpfe kommen vorwiegend aus den Reihen der jüngeren Kollegen. Es gibt aber auch bei den jüngeren Lehrkräften eine verhältnismäßig große Zahl, die dem demokratischen Gedanken „neutral“ oder „ablehnend“ gegenübersteht. Im Lauf der letzten Jahre haben sie gelernt, ihr Handeln zu tarnen. Bei besonderen Anlässen tritt plötzlich ihr wahres Gesicht zu Tage. Solche Anlässe sind häufig die Möglichkeit, im Westsektor unterzukommen. […] Unter der alten Lehrerschaft gibt es eine Anzahl von Kollegen, die aus persönlicher Überzeugung im demokratischen Sinn handeln, die aber wegen ihres Alters nicht mehr aktiv werden.“35

Dieser Bericht, der das semantische Feld der Spionage mobilisiert und eine Aneignung des Begriffs „demokratisch“ widerspiegelt, zeigt die Spannweite der Haltungen innerhalb des Lehrkörpers. Die Indifferenz der großen Mehrheit der Lehrenden in Bezug auf ein von den Behörden erwartetes politisches Engagement erklärt sich hauptsächlich aus Gründen professioneller Legitimität. Diejenigen, die der Bildungspolitik „feindlich“ gegenüberstehen, werden Ostberlin sehr bald verlassen. Die SED bemüht sich, den neuen sozialistischen Menschen zu schaffen, muss dies aber mit einem heterogenen Lehrkörper tun, der selbst bei den jüngsten noch von den Erfahrungen oder der Sozialisation unter dem Nationalsozialismus und 33 B. Hohlfeld, „Massenorganisation Schule. Der Zugriff der SED auf das allgemeinbildende Schulwesen in der Frühphase der SBZ/DDR 1945–1953“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht GWU, 45, n° 7, 1994, S. 434–454. 34 LAB, C REP 120/2077, op. cit., pag. 1. 35 Ebd., S. 50.

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mehr noch der oft traumatisierenden Erfahrung des Krieges, der Konfrontation mit russischen Soldaten (Vergewaltigungen, Diebstähle …) geprägt ist. Selbst bei den jungen Lehrkräften, die sich in der SED engagieren, sind das mentale und kulturelle Erbe des Nazismus und die Kriegserfahrung nicht von einem Tag auf den anderen ausgelöscht. Es kommt immer wieder sporadisch an die Oberfläche. Während des Interviews mit R. H. erinnert sich diese an das Verhalten ihrer jungen Russischlehrerin, als die Klasse bei einem Ausflug russischen Soldaten auf der Straße begegnet: „Diese ambivalenten Verhältnisse habe ich auch mit einer Lehrerin erlebt, die in der 5. Klasse Russisch unterrichtete. Sie machte mit uns einen Wandertag, und plötzlich ­kamen Soldaten, und wir freuten uns, und diese russische Lehrerin wurde blass und rot und versuchte abzureisen.“36

Diese ambivalente Haltung wird bestätigt von E. M., die Anfang der 1950er Jahre in Weißensee unterrichtete: „Die Ideologie ist nicht von heute auf morgen weg. Ich erinnerte mich immer [damals] an dieses Plakat: Da waren so russische Soldaten drauf, natürlich primitiv mongolischer Typ. Er hatte ein Kind im Arm und es war eine Schlachterei … und das war meine Vorstellung von den Russen. Das war ein Feind. Das war der absolute Feind.“37

Angesichts des Drucks, der politischen Anforderungen, der Einschränkung ihrer Handlungsautonomie, eines häufig unangenehmen Klimas, das die Schule zu einem Ort großer Spannungen macht, ziehen es zahlreiche Lehrer vor, die DDR zu verlassen und in den Westen zu gehen.

Der Lehrkörper und die Ausreisen nach Westen Zwischen 1945 und 1961 verlassen etwa 20 000 Lehrkräfte der Primar- und Sekundarschulen Ostdeutschland, das heißt im Schnitt etwa 1 500 pro Jahr oder 1,5 % des Lehrpersonals der DDR. Joachim Hoffmann hat gezeigt, dass manche Regionen in den späten 1950er Jahren jedes Jahr zwei oder drei Prozent ihres Personals verlieren!38 Neben den Bezirken Halle und Potsdam ist Ostberlin am stärksten betroffen; hier machen die Ausreisen in den 1950er Jahren im Schnitt 1,5 % des aktiven Lehrkörpers in der Stadt aus, das heißt zwischen 50 und 100 Personen. In den

36 Transkription des Interviews mit R. H. vom 12. März 2004, pag. 7. 37 Transkription des Interviews mit E. M. vom 15. Juli 2003, pag. 4. 38 J. Hoffmann, op. cit. Siehe auch G. Geissler, „Die Republikflucht von Lehrern im Spiegel interner Materialen der SED-Führung 1958 bis 1961“, in: Pädagogik und Erziehungswissenschaft, 1992, 47, S. 469–476.

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späten 1950ern gehören Lichtenberg und Prenzlauer Berg zu den Bezirken in der DDR, die am stärksten von dieser Ausreisebewegung betroffen sind.39 Tabelle 2:  Zahl der Lehrenden, die die DDR in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verlassen haben40

1956

1957

1958

1959

Ostberlin

89

57

59

107

DDR

1 521

1 490

780

1 620

Die ostdeutsche Hauptstadt erlebt die westliche Konkurrenz unmittelbar. Die politischen Instanzen der DDR sprechen offiziell von „Flucht“ und „Flüchtlingen“, womit sie die Betreffenden mit „Verrätern am Vaterland“ und an der „sozialistischen Sache“ gleichsetzen. In den Berichten des Ministeriums für Volksbildung und denen der lokalen Instanzen der SED sprechen die Funktionäre von „ungenügend entwickeltem politischem und ideologischem Bewusstsein“. Sie entwickeln auch eine Verschwörungstheorie, derzufolge die ostdeutschen Lehrkräfte von westdeutschen Organisationen rekrutiert werden, deren Ziel darin besteht, das neue Regime zu destabilisieren. Sie bemühen sich außerdem, zu zeigen, dass es sich hier nur um ehemalige Mitglieder der NSDAP handle. Auf diese Weise versuchen sie, etwaige eigene Verantwortung beiseite zu räumen. Davon abgesehen verdecken diese Propagandaargumente, die jede Ausreise am Maßstab einer politisch-ideologischen Lesart messen, kaum die ungeheure Enttäuschung, die in den Berichten durchscheint. Diese Ausreisen werden als umso schmerzlicher empfunden, als es sich meist um junge Lehrkräfte (mitunter um SED-Mitglieder!) handelt, die als Neulehrer rekrutiert worden sind und den Auftrag hatten, die sozialistische Schule aufzubauen. Jeder einzelne Fall ist daher für die Behörden ein ideologisches und menschliches Problem, das heißt er bildet den Totalverlust einer erfolgten Investition und für die Schulleiter ein konkretes Problem hinsichtlich der Sicherstellung des Unterrichts. Die von Hoffmann zusammengestellte Dokumentation aus Abschiedsbriefen, die von Lehrkräften verfasst wurden, zeigt, dass die Ausreisemotive zahlreich und vielfältig sind. Einige Lehrkräfte reisen aus persönlichen Gründen aus, um sich ihren Familien anzuschließen, andere werden von den im Westen besseren Karriereaussichten angelockt. Das Einkommensniveau (das 60 % über dem liegt, was in der DDR bezogen wird) und das Ansehen des Berufs sind in Westdeutschland höher. Der ostdeutsche Volksbildungsminister reagiert verspätet, im Jahre 1959, mit ­einer Anpassung der Bezüge, indem er eine Erhöhung der Monatslöhne von 40 bis 39 DY 30/ IV 2.9.05/143, ZK der SED, Abt. Volksbildung, Republikflüchtige Lehrer, unpag. 40 Ebd.

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80 Mark nach Niveau und Dienstjahren anbietet. Eine genauere Untersuchung der Interaktionen zwischen den verschiedenen schulischen Akteuren und die Rekonstruktion des politischen Klimas in den 1950er Jahren lassen erahnen, dass viele Lehrkräfte die DDR verlassen, weil sie das Klima psychologischen Drucks seitens der Schulleiter, der Kollegen, die der SED angehören, der Funktionäre der Jugendorganisationen nicht mehr ertragen.41 Das folgende Beispiel mag helfen, die psychologischen Mechanismen besser zu verstehen, die manche Lehrkräfte dazu treiben, in den Westen zu gehen. Es wird von den Lehrkräften gefordert, klare Position im „Kampf ­ge­gen den westlichen Einfluss“ zu beziehen. Eine der Maßnahmen, die das Volksbildungs­ ministerium im Jahre 1957 trifft, besteht in einem Verbot für Lehrkräfte, persönliche Reisen in die „NATO-Staaten“ zu unternehmen. Minister Fritz Lange fordert nun von den Schuldirektoren, hinsichtlich der neuen Lage unter den Lehrkräften „Klarheit zu schaffen“. Die Verwendung der Formulierung „Klarheit schaffen“ zeigt deutlich, dass das Dominanzverhältnis zwischen Direktor und Lehrkräften ebenso pädagogisch ist wie das zwischen einem Lehrer und seinen Schülern. Anzeichen ­einer intellektuellen Autonomie des Lehrkörpers werden bekämpft. Eventuelle „Unklarheiten“ müssen unverzüglich beseitigt werden: „In der großen Mehrzahl der Pädagogischen Räte an den Oberschulen ist die Diskussion zu einem gewissen Abschluß gekommen. Doch ist damit nicht gesagt, daß in jedem Falle Klarheit geschaffen wurde. […] Schulleitungen und Schulparteiorganisation bemühten sich, in individuellen Diskussionen die noch vorhandenen Unklarheiten bei ihren Kollegen zu beseitigen.“42

Die Protokolle der Lehrerkonferenzen zeigen, dass die Diskussionen, die nun folgen, in manchen Einrichtungen schwierig sind. Die Mehrheit der Lehrkräfte nimmt die neue Lage zur Kenntnis, aber manche beklagen sich über diese Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit sowie der Freiheit ihrer Schüler, durch die beide daran gehindert werden, ihre Familien zu besuchen. Sie beklagen, dass ein Schulleiter nicht von dieser Maßnahme betroffen ist. Während einer Sitzung des Pädagogischen Rats der 10. Schule in Berlin-Friedrichshagen (Bezirk Köpenick) am 13. Juni 1957 bringt ein Lehrer das folgende Argument vor:

41 Diese schwierigen Arbeitsbedingungen erklären auch den hohen Prozentsatz an Lehrkräften, die sich krankschreiben lassen. 42 LAB, C REP 120/2328, Schulbesuch von Schülern der Hauptstadt in Westberlin, 1950– 1955, pag. 71.

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„Kollege N. stellte die Anordnung über Reisen von Studenten und Oberschülern in die NATO-Staaten zur Diskussion. Koll. N. hielt ein Reiseverbot für nicht richtig, da es sich mit der Forderung nach Verständigung der Deutschen untereinander nicht vereinen läßt.“43

Eine Position dieser Art wird sofort von den „kämpferischen“ Kollegen angegriffen, die dies als unpolitisches Verhalten denunzieren, das der Erziehung der Jugendlichen abträglich sei. Einige Tage später reist N. nach Westberlin aus. Die Polemik über die Fahrten in den Westen war sicherlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Dieser Druck von allen Seiten resultiert letztlich in Reibungen zwischen dem persönlichen Gewissen der Lehrkräfte (insbesondere bei denen, bei denen die Religion das Leben strukturiert) und dem Milieu, in dem sie arbeiten. Er bewirkt eine Tendenz zur Ausreise, die zwangsläufig nicht ohne Auswirkungen auf das Funktionieren der schulischen Welt, das heißt auf die Unterrichtsteilnahme, auf das Verhalten der Kollegen und dessen Wahrnehmung durch die Schüler bleiben kann. Was aber in neueren Arbeiten, und insbesondere in der Hoffmanns, fehlt, ist eine Berücksichtigung eben dieser konkreten Auswirkungen auf die ostdeutsche schulische Welt: Was bedeutet es für die Schüler, wenn sie sehen, dass ihr Lehrer die DDR verlassen hat? In welchem Maße unterminieren diese Ausreisen die Legitimität des sozialistischen Projekts bei den Schülern? Welche Wirkung haben diese Ausreisen auf die Kollegen, die bleiben? Offensichtlich konnten so zahlreiche Abwanderungen nicht stillschweigend übergangen werden. Das Thema wird in den Protokollen nur sporadisch und punktuell erwähnt, es lassen sich aber gewisse Rückschlüsse aus dokumentierten Einzelfällen ziehen. ­Einige Lehrkräfte, die nach Westberlin gegangen sind, halten Kontakt zu ihren ehemaligen Schülern. Durch seine besondere geopolitische Lage als „offene Stadt“, die zwei gegnerische Welten zur Kommunikation zwingt, bietet sich Berlin zur Aufrechterhaltung informeller Beziehungen an, von denen manche das ostdeutsche Schulwesen destabilisieren. In der Oberschule von Berlin-Niederschöneweide fällt W., Schüler der 9. Klasse, durch diffamierende Bemerkungen über die Ostberliner Stadtverwaltung auf, als er zum Jahrestag ihrer Einsetzung im Jahre 1950 von einem „Marionettenmagistrat“ spricht. Nachforschungen ergeben, dass dieser Heranwachsende offensichtlich von seinem alten Lehrer P. beeinflusst wurde, der inzwischen in Westberlin im Grenzbezirk Neukölln unterrichtet.44 Die Frage nach der Ausreise von Kollegen in den Westen ruft bei A. S. und E. M., zwei ehemaligen Lehrern, die wir interviewt haben, echte Verlegenheit her43 Berichte über die Tagungen des Pädagogischen Rates der 10. Schule in Berlin-Friedrichs­ hagen, Oktober 1952–Dezember 1957, unpag. 44 LAB, C REP 120/2077, op. cit., pag. 2.

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vor: Sie fangen zunächst an, den Umstand zu rechtfertigen, dass sie in Ostberlin blieben, da sie sich verpflichtet fühlen, zu erklären, warum sie nicht ausgereist sind. Sie bringen eher „hohle“ Argumente wie die familiäre Situation (E. M. bekam 1953 einen Jungen) oder die Bindung an die eigenen Wurzeln vor (A. S. ist in Berlin geboren, aber E. M. stammt aus Magdeburg)! Als junge Lehrerin, die in den 1950er Jahren in Weißen­see tätig ist, fällt E. M. ein hartes Urteil über die Ausreisenden, obwohl sie kein Mitglied der SED ist. Sie spricht von „feigem Verhalten“, wobei sie im Verlauf des Interviews auf Gerüchte Bezug nimmt, denen zufolge einige ihrer Kollegen so weit gingen, ihre Kinder zurückzulassen, um leichter in den Westen zu gelangen. Hinter dieser Kritik versteckt sich tatsächlich ein Bedauern: das Bedauern, den Schritt nicht selbst gewagt zu haben, nicht den Mut gehabt zu haben, aus dem Alltag he­rauszutreten und den Sprung ins Leere zu tun. Diese Frustration (und die Schwierigkeit, darüber zu reden) tritt fünfzig Jahre später im Rahmen eines Interviews wieder hervor: „Erstmals war die Zeit vorher [vor 1961], muß man ja auch sehen, das war eine Zeit, in der man überhaupt wusste, daß es ja massenweise die Ströme nach Westberlin gab. Es war ja Exodus. Natürlich, einige Kollegen sind rübergegangen, es war eine völlig verdrehte Zeit, wie nochmals 1989. Es gab Kollegen, muß man sagen, die haben ihre Kinder in der Wohnung gelassen, und die sind allein geflohen. Wir hatten ein anderes Problem: Es haben regelmäßig Lehrer gefehlt, und die Unterrichtsstunden konnten nicht abgedeckt werden.“45

Paradoxerweise hindert diese Frustration E. M. nicht daran, das Andauern von Kontakten bis 1961 zu betonen, die gewisse materielle Vorteile boten: „Die waren für uns wichtig, die brachten uns Tortenguß und Schokolade!“46

Der Lehrkörper ist eine sozial heterogene Gruppe, die von generationellen Differenzen durchzogen wird, die sich im Laufe der 1950er Jahre allmählich abschleifen. Insgesamt betrachtet, ist das Verhältnis zwischen den Lehrenden und den übrigen Akteuren der schulischen Welt komplex und mitunter schwierig. Es ist geprägt von Spannungen, Konkurrenzsituationen und Einmischungen in ihren angestammten Bereich, die zahlreiche Lehrkräfte zur Flucht aus der DDR bewegen. Die Behörden bemühen sich, den Lehrkörper so rasch wie möglich zu homogenisieren, um ihn auf diese Weise zu stabilisieren. Diese Transformation erfolgt über die Einführung einer als „kämpferisch“ bezeichneten Pädagogik.

45 Transkription des Interviews mit E. M. vom 15. Juli 2003, pag. 3. 46 Ebd.

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Die Lehrkräfte und die Ablehnung der sowjetischen Pädagogik Wenn die Rede ist von den strukturellen und theoretischen Aspekten der Lehrerausbildung und der Ausübung des Unterrichts, bildet die Frage, ob es zu einer „Sowjetisierung“ der ostdeutschen Schule gekommen ist, ein zentrales Problem. Auf der strukturellen Ebene organisiert die Sowjetische Militäradministration mit dem Befehl N° 205 von Oktober 1945 die Einrichtung pädagogischer Fakultäten nach dem preußischen Muster der Zwischenkriegszeit. Danach wurden künftige Lehrkräfte in Preußen in Lehrerseminaren mit vier Pflichtsemestern in Jahrgangslehrgängen ausgebildet. Diese pädagogischen Fakultäten entstehen zwischen Oktober 1945 und 1947 in Berlin, Leipzig, Jena, Rostock, Halle, Greifswald und Dresden. Jede Einrichtung verfügt über eine gewisse Autonomie hinsichtlich ihrer inneren Organisation – auf der administrativen unterstehen sie dem jeweiligen Land – und des Lehrprogramms. Die Lehrkräfte, die in diesen Ausbildungsanstalten in den frühen 1950er Jahren tätig sind, sind häufig bürgerlicher Herkunft und wurden ihrerseits im Kaiserreich oder der Weimarer Republik ausgebildet. Diese „alte Garde“ ist imprägniert mit humanistischen Werten und der Reformpädagogik.47 Im Dritten Reich in den Ruhestand geschickt, sind sie nach 1945 reaktiviert worden, um den Platz der Generation einzunehmen, die unter dem Nationalsozialismus aktiv war. Die Verwaltungs- und vor allem die interne Autonomie werden ab 1949 seitens der SED in Frage gestellt, als diese eine wissenschaftliche Ausbildung fordert, die ausschließlich den pädagogischen Prinzipien des Marxismus-Leninismus folgt. Diese Gleichschaltungspolitik gegenüber den Pädagogischen Fakultäten führt zur offenen Krise zwischen der SED und der Professorenschaft. Am 15. Mai 1953 beschließt die Regierung, die Pädagogischen Fakultäten aufzulösen und in die Universitäten zu integrieren.48 Am 9. Juni bringt die Ankündigung des „neuen Kurses“ keine Veränderung, die Verordnung vom 15. Mai bleibt in Kraft. Erst die Ereignisse des 17. Juni 1953 bewegen die Regierung zur Umkehr. So beschließt man am 1. Juli, die Verordnung für das Schuljahr 1953/1954 aufzuheben. Aber die Mobilisierung, die Heinrich Deiters, Dekan an der Humboldt-Universität Ostberlin,49 47 S. Häder, „Sozialporträt der Pädagogischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg von ihrer Gründung 1946/47 bis zu ihrer Auflösung 1955. Strukturwandel vs. Bürgerliche Kontinuität“, in: P. Hübner (Hg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR, Köln 1999, S. 381–403. 48 „Verordnung über die Neuregelung der Ausbildung der Lehrer an den allgemeinbildenden Schulen vom 15. 5. 1953“, in: Gesetzblatt der DDR, n° 66, Ausgabetag 22. 5. 1953, S. 728– 730. 49 Heinrich Deiters (1887–1966): zur damaligen Zeit Dekan an der Humboldt-Universität, ein typischer Vertreter eines politisch engagierten Pädagogen (Gründungsmitglied der

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und einige andere Vorsitzende pädagogischer Fakultäten in Gang gesetzt haben, wird nicht schwächer. Am 9. Dezember 1953 geht eine Denkschrift gleichzeitig an Paul  ­Wandel, Minister für Volksbildung, an Otto Grotewohl im Zentralkomitee der SED und an den Staatssekretär für Höhere Bildung. Der Appell ist ein Fehlschlag, weil die Schließung als solche nicht mehr zur Disposition steht. 1955 werden alle Pädago­gischen Fakultäten – mit Ausnahme der in Ostberlin – geschlossen, die Ausbildungskurse werden in die Universitäten integriert. Neben diesen strukturellen Veränderungen ist es das Ziel der SED, bei den Lehrkräften die sowjetische Pädagogik durchzusetzen. Unmittelbar nach dem Kriegsende setzen viele Pädagogen ihre Hoffnungen nicht nur auf eine Erneuerung des Ausbildungssystems für Lehrkräfte, sondern auch auf eine Veränderung der Unterrichtsmethoden, die die Grundlage für eine demokratische und humanistische Erziehung bieten sollen. Diese Bestrebungen finden zwischen 1945 und 1947 ihren Ausdruck in mehreren pädagogischen Manifesten, die eine Wiedergeburt der in Europa – insbesondere in Deutschland, wo sie mit der Jugendbewegung verbunden war – seit dem frühen 20. Jahrhundert sehr einflussreichen Reformpädagogik widerspiegeln. Seit den späten 1940er Jahren schaltet die SED diese Richtung pädagogischen Denkens allerdings sehr rasch gleich. Sie schließt namentlich die Steiner- und Peters-Schulen, die nun als „Verbreitungsorte westlichen Formalismus und bürgerlicher Ideologie“ gelten. Die religiöse Dimension dieser reformierten Pädagogik spielt bei dieser Gleichschaltung durch das R ­ egime sicherlich eine Rolle. Die deutsche Erziehungswissenschaftlerin Meike Baader zeigt, wie in der Tat die Vertreter dieser pädagogischen Richtung (Ellen Key, John Dewey, Maria Montessori), in der der Lehrende als ein Priester betrachtet wird, das Kind als ein heiliges Wesen und die Erziehung als Erlösung, gesättigt sind von religiöser Terminologie.50 Gestützt auf die Überlegungen des Soziologen Thomas Luckmann über die Bedeutung der Religion in den modernen Gesellschaften51 betont sie, dass anstatt von einer Säkularisierung der Pädagogik eher von einer Verschiebung oder Rekonstituierung des Sakralen in anderer Form zu sprechen wäre. Die reformierte Pädagogik sei eine solche moderne Form der Sakralität. Die religiösen Elemente müssen zu Irritationen bei den ostdeutschen Behörden führen, wollen diese doch eine wissenschaftliche Konzeption von Erziehung entwickeln. Aber der Einfluss der Reformpädagogik ist groß bei dem Lehrkörper, vor allem in der Generation, die in der Weimarer Republik tätig gewesen ist. Selbst ein Teil der Generation der Neu­

50 51

DDR, dann Mitglied der SPD, Mitglied der SED seit 1946). Deiters nimmt am 17. Juni 1953 eine abwartende Haltung ein, zweifellos wegen seiner bürgerlichen Herkunft. M. Baader, Erziehung als Erlösung, München 2005. T. Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt/M. 1967.

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lehrer ist während der ersten Nachkriegsjahre in dieses Klima der Reformpädagogik eingetaucht. Ein beträchtlicher Teil der Lehrenden und der Pädagogen, die diese ausbilden, neigen dieser reformierten Pädagogik zu, darunter auch alte Sozialdemokraten, die besonders vom Denken Karl Löwensteins beeinflusst sind.52 Eine Verschiebung der pädagogischen Orientierung macht sich in der offiziellen edukativen Politik ab 1948 bemerkbar. Der Wandel hängt mit der Rückkehr Hans ­Sieberts aus dem englischen Exil zusammen. Dieser kommunistische Funktionär leitet ab 1948 die Schulabteilung der deutschen Bildungsverwaltung. Er wirbt in der (von Karl Sothmann geleiteten) Zeitschrift Die neue Schule für die sowjetische Pädagogik; er bezeichnet sie als „die fortschrittlichste Pädagogik“ und präsentiert Lenin als „Spezialisten für die Erziehungswissenschaften“; ihm sei die enge Verbindung zwischen Schule und Politik ebenso wie die zwischen theoretischem Unterricht und produktiver Arbeit zu verdanken.53 Der 4. Pädagogische Kongress in Leipzig 1949 bekräftigt die neue Orientierung, indem er die sowjetische Pädagogik zum offiziellen Modell erklärt. Die Formulierung „sowjetische Pädagogik“ muss dabei aber sehr genau kontextualisiert werden. Christine Lost hat die Auffassung vertreten, diese „sowjetische Pädagogik“ sei eine deutsche Konstruktion, die nicht mit dem identisch sei, was in der UdSSR praktiziert wird.54 Tatsächlich entspricht die sowjetische Pädagogik nicht mehr jener Phase des Experimentierens in der UdSSR in den frühen 1920 Jahren, die stark von der deutschen und amerikanischen Reformpädagogik beeinflusst war,55 sondern einem sehr klassischen Bild der Art, Erziehung zu konzipieren und zu praktizieren, wie es seit der Machtergreifung durch Stalin im Jahre 1928 üblich wurde.56 Das emanzipatorische pädagogische „Programm“, das Lenins Frau Nadežda Krupskaja während ihrer Schweizer Exiljahre (1914–1917)57 formuliert hatte und das unter anderem darauf abzielte, eine „Arbeitsschule“ zu schaffen, in der das Individuum seine Fähigkeiten entwickeln würde, verwandelt sich im Namen der Stabilität des sozialistischen Staats in eine Schule der Disziplin und Kontrolle, deren Hauptziel die Politisierung der Schüler ist. Die unausweichliche Tutorengestalt der 52

U. Herrmann (Hg.), Neue Erziehung – Neue Menschen. Erziehung und Bildung zwischen Kaiserreich und Diktatur, Weinheim 1987. 53 Siehe die Nr. 1 und 2 der Zeitschrift Die neue Schule, 1948. 54 C. Lost, Wandlungen, Wirkungen, Wertungen in der Bildungsgeschichte der DDR, Hohengehten 2000. 55 I. Mchitarjan, Der russische Blick auf die deutsche Reformpädagogik. Zur Rezeption deutscher Schulreformideen in Russland zwischen 1900 und 1917, Hamburg 1998. 56 G. Hermert, Die Schule unter Stalin 1928–1940. Über den Zusammenhang von Massenbildung und Herrschaftsinteressen, Wiesbaden 1994. 57 C. Lost, „Reformpädagogik als Staatspädagogik? Zur Konstruktion der „Sowjetpädagogik“ vor 1917“, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung, Bd. 7, Bad Heilbrunn 2001, S. 39–60.

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Stalinzeit ist Anton Makarenko (1888–1939). Dieser hat anlässlich eines Aufenthalts in der Arbeitskolonie Maksim Gorkis eine Pädagogik des Kollektivs entwickelt, die ihn in den Rang eines Erziehungstheoretikers der UdSSR befördert hat.58 Sein Denken zentriert sich auf die Schaffung des homo novus und wird in seinem Dokumentarroman Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem (1933–1936) ausformuliert; das Buch wird Pflichtlektüre in allen Lehrerausbildungseinrichtungen der DDR. Die Verbreitung dieser sowjetischen Pädagogik, deren Lehre in der Lehrerausbildung ab 1951 obligatorisch ist, erfolgt an zwei unterschiedlichen „Orten“: den Fachzeitschriften sowie den pädagogischen Konferenzen an den Schulen. Begibt man sich an eine Auswertung der seit 1946 erschienenen Ausgaben der Pädagogik,59 fällt die in der ersten Zeit – zwischen 1946 und 1949 – sehr schwache Präsenz von Artikeln zur sowjetischen Pädagogik sowie von russischen Autoren auf. Es lässt sich dann ab den frühen 1950er Jahren eine exponentielle Zunahme der sowjetischen Pädagogik in der Zeitschrift beobachten. Im Jahre 1946 macht sie 3 % aller Aufsätze aus, während sie 1951 41 % des Raums einnimmt, um ihre größte Präsenz im Jahre 1953 mit 48 % der Aufsätze zu erreichen. Zwischen 1950 und 1953 findet der Leser beispielsweise Texte von Stalin, Gončarov oder Šimbirev. Ab dem zweiten Semester 1953 nimmt der Anteil solcher Artikel stark ab und stabilisiert sich bis zum Ende der 1950er Jahre bei ungefähr 15 %. 60 50

Grafik 1: Prozentsatz der Seiten zur sowjetischen Pädagogik in der Zeitschrift Pädagogik (1946-54) 48

40

41

30

26

20 15

10 0

1946

58 59

11

3 1951

1. Semester 1953

2. Semester 1953

1. Semester 1954

2. Semester 1954

L. Coumel, op. cit. Diese Auswertung wurde in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, BBF, die alle Ausgaben der Zeitschrift besitzt, durchgeführt.

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Die „Sowjetisierung“ der Zeitschrift endet also recht abrupt mit dem 17. Juni 1953. Diese quasi sofortige Kehrtwendung resultiert aus einem Beschluss des Volksbildungsministeriums, das das DPZI auffordert, die massive Ablehnung der sowjetischen Pädagogik durch den größeren Teil der Lehrkräfte in Rechnung zu stellen. Die Zeitschrift konzentriert sich also wieder auf die Praxis (70 % der Aufsätze 1955) und bietet Diskussionen über pädagogische Praktiken größeren Raum, wodurch gleichzeitig der Platz für theoretische Ausführungen verringert wird. Sie zögert auch nicht, die ostdeutsche Pädagogik wieder in eine nationale Tradition einzufügen, namentlich durch Aufsätze über Sport, wo „Turnvater Jahn“ den Bezugspunkt bildet. Die sowjetische Pädagogik verschwindet nicht vollends, aber die Leitungsorgane des DPZI bemühen sich nun, die deutschen Ursprünge der ostdeutschen Pädagogik aufzuzeigen. Sie ziehen beispielsweise Friedrich Herbart (1776–1841), einen deutschen Pädagogen des 19. Jahrhunderts, heran, um historische Verbindungen mit der sowjetischen Pädagogik aufzuzeigen, da dessen didaktisches Konzept von Mathematik und Naturwissenschaften inspiriert war. Dieser Wille wird auch während des 5. Pädagogischen Kongresses in Leipzig ­(15.–­18. ­Mai 1956) deutlich. Im Kontext der Entstalinisierung werden Stimmen gegen bornierten Dogmatismus und die Ablehnung der westlichen Pädagogiken laut. Man beschwört insbesondere die Traditionen der deutschen Reformpädagogen und warnt vor einer Wiederaufnahme der sowjetischen Traditionen. Dieser Appell wird durch den Direktor des DPZI Dorst dem Volksbildungsminister Fritz Lange übermittelt, der während der Veranstaltung das Unwissen über die Entwicklung in den westlichen Ländern beklagt. Diese Öffnung zum Westen hin hält allerdings nicht an. Während des 6. Pädagogischen Kongresses im Juni 1961 wird die okzidentale Parenthese wieder geschlossen, und die Diskussionen drehen sich nunmehr ausschließlich um die sozialistische Schule. Der Lehrkörper muss sich mit der sowjetischen Pädagogik vertraut machen und sie konkret im Unterricht anwenden. Das DPZI veröffentlicht Übersetzungen sowjetischer pädagogischer, didaktischer und psychologischer Werke, die sich an Lehrkräfte wenden.60 Parallel dazu hält im Jahre 1950 der russische Pädagoge N.K. Gončarov auf Einladung der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) in zwölf verschiedenen Städten der DDR Vorträge über die Ziele der kommunistischen Erziehung.61 Das DPZI entsendet Pädagogen in die Schulen, die den Auftrag haben, die Grundlagen der sowjetischen Pädagogik zu erläutern und Broschüren zu verteilen. Eine Analyse der Protokolle der Lehrerversammlungen 60

SAPMO, DY 24/2 515, Bericht über den Stand der Übersetzungen und Druck von sowjetischer Literatur, 25/06/195, unpag. 61 N. K. Gontscharow, „Die Ziele der kommunistischen Erziehung“, in: Pädagogik, 6, 1951, n° 2, S. 1–14.

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zeigt eine deutliche Zunahme von Vorträgen über die UdSSR, ihr Schulsystem und ihre Pädagogik. In der 15. Volksschule in Friedrichshain wird die Pädagogik Makarenkos 1951 während einer Konferenz diskutiert. Im Februar 1952 hält eine Kollegin der Schule einen Vortrag über „Die Schule und die Jugendorganisationen in der UdSSR“, deren Erziehungssystem als nachahmenswertes Modell vorgestellt wird.62 Die folgende Diskussion enthüllt beträchtliche Vorbehalte seitens der übrigen Kollegen. Der Beitrag des Verantwortlichen für die Pioniere, R., der sich vom sowjetischen Modell leiten lässt, ruft keinen großen Enthusiasmus hervor: „Danach sprach der Pionierleiter Kollege R. Er berichtete anhand einiger Beispiele über seine Arbeit mit seiner Gruppe. Ein von ihm vorgestelltes Beispiel stieß auf starke Bedenken der Kollegen.“63 Die mit zwei in den 1950er Jahren tätigen Lehrkräften geführten Interviews zeigen gedämpfte Reaktionen auf die sowjetische Pädagogik zu jener Zeit. Bleibenden Eindruck scheint sie nicht hinterlassen zu haben. Keiner der Zeitzeugen erinnert sich daran, Ausbildungsseminare besucht oder an Konferenzen zu diesem Thema teilgenommen zu haben. Dieses Vergessen ist möglicherweise eine Art, uns nicht den Eindruck zu geben, man habe diese Pädagogik angewandt. Die Inspektionsprotokolle bestätigen solche Aussagen aber, denn sie werden nicht müde, das fehlende politische Engagement der Lehrer zu denunzieren,64 und werfen ihrer Haltung dogmatische Opposition vor. Die sowjetische Pädagogik hat bis zum Ende der 1950er Jahre starken Einfluss in den Zeitschriften und auf den offiziellen Diskurs, aber deutlich geringeren in der Praxis. Schließlich wird im Zuge der Entstalinisierung Siebert von jeglicher wichtigen Funktion in der Erziehungspolitik entfernt.65 Die sowjetische Pädagogik wird weiterhin im Rahmen der Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte gelehrt und bleibt offiziell das Modell, dem zu folgen ist; die theoretischen Diskussionen drehen sich allerdings von nun an um das Konzept der polytechnischen Ausbildung. Die umfassende Entnazifizierung des Lehrkörpers nach 1945 ist begleitet einer­ seits von der Ankunft einer Generation von Lehrkräften, die eher schlecht auf ­ihren neuen Beruf vorbereitet ist, andererseits von der Reaktivierung einer Generation, die im Kaiserreich sozialisiert wurde und in der Weimarer Republik aktiv war. Der Kontext der Nachkriegszeit und die Politik, die von der ­SMAD und dann der SED eingeleitet wird, produziert eine heterogene sozioprofessionelle Gruppe, die von Generationsunterschieden geprägt ist. Im Versuch, das Amt über alle Maßen 62 Protokollbuch der 15. Volksschule (Friedrichshain), 1945–1957, unpag. 63 Ebd. 64 LAB, C REP 903-01-06/351, Zu politischen und pädagogischen Situationen an den Schulen, Feb. 1951–Okt. 1962, unpag. 65 G. Geissler, „Hans Siebert – Zur erziehungsgeschichtlichen Spur eines emigrierten politischen Pädagogen“, in: Zeitschrift für Pädagogik, 40, n° 5, 1994, S. 781–799.

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zu politisieren, übt die SED ideologischen Druck aus, der die beträchtliche Ausreisebewegung von Lehrkräften nach Westen über die ganzen 1950er Jahre hinweg erklärt. Die neue edukative Politik wird von den Volksschul- und Oberschullehrern mehr oder weniger gut angenommen. Während einige der SED beitreten und sich zu Vermittlern der marxistisch-leninistischen Ideologie machen, bleiben andere sehr empfänglich für den Einfluss der Reformpädagogik, was die starke Ablehnung der sowjetischen Pädagogik trotz ihrer äußerst massiven „Medialisierung“ erklärt. Ein gewisser Teil der Lehrerschaft hat große Probleme, seine Rolle als „Husaren des Sozialismus“ zu akzeptieren, das heißt sich in den Dienst eines Politisierungsunternehmens zu stellen. Das Lehrpersonal bildet kei­nen monolithischen Block im Dienste des Regimes. Es wird ganz im Gegenteil durchzogen von Spannungen und einer Logik der Konkurrenz, die die von oben durchgesetzte ideologische Aktion in beträchtlichem Maße abschwächt. Der Lehrkörper befindet sich nicht nur in Interaktion mit dem Schulleiter oder den Schülern. Er ist auch mit den Eltern der Schüler konfrontiert. Im schulischen Feld geht die Einrichtung der Elternausschüsse auf die Zeit der Weimarer Republik zurück. Ab 1949 appelliert die SED an die Einheit der schulischen und privaten Erziehung, was den Willen impliziert, diese beratenden Organe unter Kontrolle zu bringen.

Kapitel III Die Elternausschüsse: Ein Instrument in den Händen der SED?

Die SED bemüht sich nicht nur, ihren Zugriff auf das Lehrpersonal sicherzustellen. Sie versucht außerdem, die Elternausschüsse, deren Renaissance eine logische Folge des Wiederaufbaus des Schulsystems war, zu kontrollieren und einzubinden.1 Die Bedeutung, die sie ihnen beimisst, wird aus ihrer regelmäßigen Erwähnung in den Inspektionsberichten jener Zeit deutlich. Anders als die Naziführer, die die Erziehung in der Familie als einen zentralen Wert ansahen, haben die SED-Funktionäre der Einheit Familie immer misstraut, da sie sie als eine im Vergleich mit der ­Schule oder die Jugendorganisationen weniger effektive Sozialisationsinstanz ansahen, wenn es um die Vermittlung kommunistischer Ideologie ging, wo sie nicht sogar als Hindernis für die Umsetzung ihrer Erziehungspolitik galt. Die Familie kann ein ­Milieu bilden, in dem das wirksam bleibt, was das Regime als „Überreste bürgerlicher Ideologie“ bezeichnet. Das Ziel der SED besteht darin, diese repräsentativen Beiräte an der Schnittstelle zwischen öffentlicher und privater Sphäre als Hebel zu nutzen, um den offiziellen Diskurs im schulischen Feld zu verbreiten und auf die Familien auszuweiten. Die 1950er Jahre sind in dieser Hinsicht ein Jahrzehnt, in dessen Verlauf die SED versucht, diese Instanzen, die es ihr erlauben sollen, Druck gleichzeitig auf die Familien und auf die Lehrkräfte auszuüben, unter Kontrolle zu bringen.

Die neuen Elternbeiräte Die Teilnahme der Eltern am schulischen Leben in Form der Elternbeiräte oder Eltern­ausschüsse konstituiert eine jener Kontaktzonen, wo wir die Interaktionen zwischen den Familien und den Akteuren der edukativen Welt in besonderer Weise beobachten können. Diese beratenden Strukturen leben spontan unmittelbar nach Kriegsende wieder auf und übernehmen zunächst soziale und materielle Aufgaben 1

In Deutschland gehen die ersten Elternbeiräte auf das Jahr 1914 zurück. Unter dem Kaiserreich bestanden sie nicht aus gewählten Mitgliedern, sondern wurden von den Schulleitern ernannt. Eine Demokratisierung dieser Repräsentationsinstanzen erfolgte unter der Weimarer Republik: Von da an werden die Mitglieder von den Familien gewählt. Diese Elternbeiräte waren eine beratende Struktur, die Mitspracherechte bei der Hygiene, Ausflügen, den Bibliotheken oder der Auswahl der Schulbücher hatte.

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im Kontext des Wiederaufbaus. §18 des Berliner Schulgesetzes von 1948 bestätigt ihnen die Möglichkeit, am schulischen Leben in Form einer verantwortlichen Zusammenarbeit mit dem Lehrkörper teilzunehmen, was zumindest theoretisch den pädagogischen Bereich einschließt. Eingeführt in demokratischem Geist, werden diese Ausschüsse funktional von der DDR durch den Runderlass vom 17. Mai 1951 über die „Einrichtung und die Aufgaben der Elternausschüsse in den allgemeinbildenden Schulen“ übernommen. Die Elternvertreter – fünf für die ersten 100 Schüler und zusätzlich zwei für jede weiteren 100 Schüler – werden zu Beginn des Schuljahres von einer Elternversammlung gewählt. Das Rundschreiben führt das Prinzip des demokratischen Zentralismus für die Elternvertretung ein. Für jede Klasse sind die Schülereltern dazu aufgefordert, ein Elternaktiv zu gründen, das einen Elternausschuss für die gesamte Schule bestimmt. Theoretisch tritt diese Instanz in Absprache mit dem Direktor einmal je Quartal zusammen; wie den Inspektionsprotokollen zu entnehmen ist, finden die Sitzungen allerdings meist monatlich statt. Es ist eine Besonderheit dieses Elternausschusses, dass er nicht nur aus Eltern besteht. Vertreter der angeschlossenen Betriebe, der hauptamtliche Funktionär der FDJ oder der Pionier­organisation, der Vertreter der Gewerkschaft sind vollberechtigte Teilnehmer der Sitzungen, bei denen außerdem noch der Schulleiter zugegen ist. Die Funktion dieses Elternausschusses besteht also nicht mehr darin, in der schulischen Welt die Interessen der Eltern zu vertreten, sondern ein „kämpferisches Enga­gement“ zu entwickeln, das die Familien von der Folgerichtigkeit der offiziellen edukativen ­Politik überzeugen soll: „[Der Elternausschuss] unterstützt den Schulleiter und den Lehrer in ihrer Arbeit, die Jugend im Sinne des Fortschritts und der demokratischen Schulreform zu erziehen und heranzubilden. Er hilft, die Eltern pädagogisch aufzuklären, besonders im Sinne des Zusammenwirkens der demokratischen Schulerziehung und der häuslichen Erziehung.“2

Dieser neue Elternausschuss ist keine Instanz zur Repräsentation der Familien gegenüber der Institution Schule mehr. Theoretisch soll er sich der Schule zur Verfügung stellen und dazu beitragen, schulische und familiäre Erziehung zu harmonisieren. Die Aufgabe besteht darin, die „Erziehungsarbeit“ so zu vereinheitlichen, dass die Differenzen in Diskurs und Haltung zwischen der Schule und dem privaten Bereich verringert werden. Das Aktionsfeld dieser Ausschüsse ist recht breit gefächert, wodurch es dem Regime möglich ist, die Reform als „demokratisch“ zu präsentieren. Es umfasst das Schulwesen, das heißt die Anwendung der Gesetze und offiziellen Anordnungen, die Unterstützung von Schülern mit Schwierigkeiten, die Pädagogik (Frage der körperlichen, intellektuellen und moralischen Entwicklung der Schüler, die Disziplin (Pausenaufsicht, wenn eine Lehrkraft krank oder abwesend ist), die Berufsorientierung (die Vertreter haben insbesondere Mitspracherecht bei den 2

LAB, C REP 120/267, Tätigkeit der Elternausschüsse, 1946–1951, pag. 242.

Die Elternausschüsse: Ein Instrument in den Händen der SED?

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Schülern, die für einen Übergang auf die Oberschule in Frage kommen sollen) und die außerschulischen Aktivitäten (Überwachung der Mahlzeiten, Vorbereitung von Exkursionen, Betreuung von Freizeit-AGs). Die politische und ideologische Einbindung der Eltern und insbesondere der Ausschussmitglieder wird durch Ausbildungsseminare sichergestellt, die die Schulbehörden der verschiedenen Bezirke für alle Eltern anbieten. Tatsächlich werden diese Seminare ausschließlich von Ausschussmitgliedern besucht, das heißt von der Minderheit der engagierten Eltern. Den Zahlen zufolge, die die Kommission für die Elternausschüsse in Ostberlin im Februar 1953 angibt, sind seit dem Erlass des Gesetzes im Mai 1951 150 Seminare abgehalten worden. 3 000 Eltern besuchten diese Seminare in dieser Zeit, das heißt 2,5 % der Gesamtzahl der Schülereltern in der Stadt.3 Nachdem nun die Zuständigkeiten dieser Ausschüsse definiert sind, ist es wichtig zu wissen, wer die Personen sind, aus denen sie sich zusammensetzen, und wie sie legitimiert werden.

Die Zusammensetzung der Elternausschüsse Die Elternausschüsse sind beratende Instanzen, deren Ernennung prinzipiell per Wahl durch die Gesamtheit der Schülereltern erfolgt. Die Berichte aus den verschiedenen Bezirken erlauben es uns zunächst einmal, die Entwicklung der Wahlbeteiligung von 1951 bis 1956 festzustellen.4 Tabelle 3:  Beteiligung an den Wahlen zu den Elternausschüssen in Friedrichshain, ­Lichtenberg und Pankow 1951–1956.5

Bezirk

1951

1952

1953

1956

Friedrichshain

17,1

21

32,5

27

Lichtenberg

20,2

24,7

21

27

Pankow

19,6

22

19,1

22,4

Berlin-Ost

19

24

24,5

?

Sie beträgt im Schnitt etwa 25 % in den Jahren 1952 und 1953.6 Die fragmentarischen Zahlenangaben, über die wir für einige Bezirke für 1956 verfügen, zeigen 3 4 5 6

LAB, C REP 120/267, Tätigkeit der Elternausschüsse, 1946–1951, pag. 50. BA, DR 2/1 135, o.T., pag. 100–102. LAB, C REP 120/273, op. cit., pag.  50; LAB, C REP 120/267, Tätigkeit der Elternausschüsse, 1946–1951, pag. 198. LAB, C REP 120/273, op. cit., pag. 8.

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eine noch schwache Beteiligung; im Bezirk Friedrichshain geht sie sogar von 1953 bis 1956 zurück.7 Ein Bericht eines Funktionärs der SED im Prenzlauer Berg vom Januar 1956 unterstreicht allerdings ein „qualitatives Wachstum“ des Engagements der Eltern. Darunter versteht er Diskussionen politischen und nicht mehr materiellen Charakters: „Die Elternwahlen haben gezeigt, daß die Anteilnahme der demokratischen Öffent­lich­ keit an der Lösung der Schulprobleme qualitativ gewachsen ist. Die Diskussionen gingen nicht mehr wie in den Vorjahren in der Hauptsache um materielle Fragen, sondern beschäftigten sich mit speziellen Fragen der Erziehung und zum Teil mit dem Charakter der Klassenschule der Arbeiter und Bauern im Gegensatz zur Schule des Monopolkapitals in Westberlin und in der Bundesrepublik.“8

Insgesamt jedoch beklagen die SED und die Schulbehörden in Berlin, dass die Mehrzahl der Schülereltern sich jeglicher Aktivität im Rahmen der Elternausschüsse enthält. Die schwache Partizipation drückt vielleicht Desinteresse aus, sicherlich aber ein gewisses Misstrauen gegenüber diesen Strukturen. Dabei zeigen die unvollständigen Zahlenangaben, über die wir für die 1950er Jahre verfügen, allerdings deutlich, dass die Ausschüsse weit davon entfernt waren, vollständig von der SED kontrolliert zu werden. Tabelle 4:  Politische Zusammensetzung der Mitglieder der Elternausschüsse der Ostberliner Schulen 1953

SED

Andere Parteien (CDU, LDP, NDPD)

Parteilos

Friedrichshain

18,6

0,7

80,7

Köpenick

27,4

1,7

70,9

Weissensee

23,8

2,6

73,6

Prenzlauer Berg

28,7

1,4

69,9

Lichtenberg

25,6

2,2

72,2

Treptow

29,5

3,1

67,4

Mitte

23,3

0,6

76,1

Pankow

30,6

1,9

67,5

Insgesamt

25,9

1,8

72,3

 

7 8

LAB, C REP 120/275, op. cit., 1956, pag. 198. LAB, C REP 903-01-06/348, unpag.

Die Elternausschüsse: Ein Instrument in den Händen der SED?

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Tatsächlich bestehen die Elternausschüsse zu ¾ aus Personen, die überhaupt keiner Partei angehören, während im Schnitt etwa ¼ der Elternvertreter Mitglieder der SED sind.9 Es lässt sich damit noch nicht wirklich von „Genossenelternversammlungen“ sprechen. Allerdings ist der Anteil der Parteimitglieder in diesen Instanzen höher als im Lehrkörper. Es ist der SED also gelungen, in diesen Repräsentationsstrukturen Fuß zu fassen. In Pankow und Treptow erreicht ihr Anteil sogar 33 %. Im Jahre 1956 beträgt der Anteil der SED-Mitglieder in Friedrichshain 36 %, hat sich also im Laufe von drei Jahren verdoppelt; in Pankow hat er 46 % erreicht.10 Einige Inspektionsberichte erlauben es uns, die Strategien zu beleuchten, die angewandt werden, um mehr „Genossen“ in den Elternausschüssen unterzubringen. Eine der Möglichkeiten besteht darin, Parteimitglieder auf die Liste der Vertreter zu bringen und sie danach auf die Hauptliste zu setzen, wenn die eigentlich Gewählten abwesend sind:11 Viele Eltern können aus beruflichen Gründen nicht zu den Versammlungen erscheinen. Das Problem besteht darin, dass diese Strategie nicht immer umgesetzt wird! In einigen Einrichtungen wie der 1. Volksschule in Mitte allerdings zählt der Eltern­ausschuss kein einziges SED-Mitglied.12 Zahlreiche Inspektionen ergeben eine gewisse Inaktivität vieler Ausschüsse. Der größte Vorwurf, den die Autoren dieser Berichte ihnen machen, besteht darin, dass sie nicht in „planvoller“ Weise arbeiten, das heißt, es gelingt ihnen nicht, eine stetige und mit der Schulleitung koordinierte Aktivität zu entwickeln. Dieser Makel erklärt sich einerseits durch den Umstand, dass die Elternvertreter allzu häufig punktuell in materiellen oder außerschulischen Belangen (Exkursionen) tätig werden. Auf der anderen Seite werden sie mitunter von den Schulleitungen aus den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, da diese in einem korporatistischen Reflex besorgt sind, die schulische Domäne, die ihrer Ansicht nach ausschließlich in ihre eigene Kompetenz fällt, im Griff zu behalten. Schließlich wünschen die lokalen Schulbehörden eine reflektierte und auf Dauer angelegte Aktivität, die klare ideologische Dimensionen aufweist. Sie beklagen konkret die mangelnde Einheit dieser Ausschüsse, die häufig in Mitglieder und Nichtmitglieder der SED gespalten sind. Über die politische Komponente hinaus verfeinert die soziologische Dimension unsere Analyse dieser Instanzen.13 Vor allem zwei sozioprofessionelle Gruppen sind in den Elternausschüssen vertreten: die Hausfrauen und die Angestellten. Auf den ersten Blick engagieren sich die Arbeiterfamilien praktisch nicht in diesen In  9 10 11 12 13

LAB, C REP 120/273, op. cit., 1953, pag. 8. Ebd., pag. 198. LAB, C REP 903-03-01/159, op. cit., unpag. BA, DR 2/1 196, op. cit., unpag. Ebd., pag. 8.

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stanzen: Nur etwa 15 % der Elternausschussmitglieder sind Arbeiter. 1956 scheinen diese sich sogar noch weiter von den Ausschüssen entfernt zu haben, denn in Friedrichshain ist der Anteil der Angehörigen der Arbeiterklasse von 21 % auf 16 % zurückgegangen.14 Nur der Bezirk Mitte durchbricht die allgemeine Tendenz insofern, als hier Arbeiter ein Drittel der Ausschussmitglieder stellen. Diese arbeiten in der Regel in drei Schichten je acht Stunden, und ihre Arbeitszeiten sind nicht an die Sitzungen, die meist abends stattfinden, angepasst. Dies wiederum erklärt die hohe Zahl an Hausfrauen, die sich in diesen Instanzen engagieren. Die Kategorien der Diplomierten und Handwerker, deren Kinder als erste von Maßnahmen positiver Diskriminierung betroffen sind, engagieren sich nicht in den Ausschüssen. Sie halten sich ganz allgemein eher abseits. Wir können die Hypothese wagen, dass viele der Hausfrauen, die in den Ausschüssen sitzen, die Ehepartnerinnen von Angestellten sind. Wir können die Betrachtung der politischen und der sozialen Zusammensetzung der Ausschüsse nicht miteinander kombinieren, es ist aber wahrscheinlich, dass die Parteimitglieder sich vor allem unter den Angestellten finden, da dieser Kategorie auch die in Staat und Partei Beschäftigten angehören. Tabelle 5:  Soziale Herkunft der Elternvertreter in Berlin-Ost 1953

Arbeiter Angestellte Intelligenz

 

Selbst. Haus- Rentner Handwerker frauen

Friedrichshain

21,3

36,2

3,6

1,9

33,8

3,2

Köpenick

10,1

33,8

10,6

2,5

42,2

0,8

Weissensee

17,6

31,1

6,6

1,5

42,5

0,7

Prenzlauer Berg

16,4

35,9

6,1

4,7

33,9

3

Lichtenberg

12,5

31,1

8,2

5,1

41

2,1

Treptow

10,5

29,5

6,8

1,5

51,1

0,6

Mitte

34

22,6

5,1

5,7

30,8

1,8

Pankow

11,2

35

7,9

2,6

41,2

2,1

Insgesamt

16,7

31,8

6,9

3,2

39,6

1,8

Die Analyse der politischen und sozialen Zusammensetzung der Elternausschüsse ermöglicht es uns nun, zu erklären, wieso die Politisierung dieser Strukturen abgewiesen wurde.

14

Ebd., pag. 198.

Die Elternausschüsse: Ein Instrument in den Händen der SED?

81

Die Zurückweisung der Politisierung der Elternausschüsse Die in den 1950er Jahren verfassten Berichte über die Sitzungen dieser Repräsentationsinstanzen beklagen den allzu schulischen und zu wenig ideologischen Inhalt der Diskussionen. Offensichtlich verhindern die bis 1953/1954 vorrangigen materiellen Probleme die Einleitung einer Arbeit politischeren Charakters.15 Die SED will diese Versammlungen als Ort zur Verbreitung der Ideen der Partei und ihrer politisch-edukativen Leitlinien nutzen. Sie will sie in Mo­bili­sierungszellen umformen, um Schüler für die Jugendorganisationen zu rekrutieren, Aufmerksamkeit für die „Gefahren der westlichen Kultur“ zu wecken usw. Die Sitzungen beginnen häufig mit einer Aufführung der Jungen Pioniere, die Chor­gesang zu Gehör bringen oder Gedichte rezitieren. Diese kulturelle Rahmung verfolgt ein bestimmtes Ziel. Sie konfrontiert die Eltern, deren Kinder nicht den sozialistischen Jugendorganisationen angehören, unausweichlich mit der Frage der Mitgliedschaft. Es folgt eine Rede politischen Inhalts seitens des Direktors, eines Parteivertreters, eines Funktionärs der Massenorganisationen oder der staatlichen Behörden. Die Sitzungen enden mit der Besprechung materieller und schulischer Angelegenheiten, die in den Augen vieler Eltern das eigentlich Wichtigste bilden. Die Analyse der Berichte zeigt, dass die Diskussion in den 1950er Jahren anscheinend noch frei ist. Viele Eltern scheuen sich nicht, Kritik an der Partei und an der offiziellen Politik des Regimes zu üben. Einer der Vorwürfe, die regelmäßig in den Sitzungsprotokollen auftauchen, betrifft die Ablehnung der Politisierung der Schule.16 In der 1. Volksschule in Treptow ist eine Sitzung im Oktober 1950 für den Direktor die Gelegenheit, den Schülereltern die neue Verantwortliche für die Pioniere vorzustellen. Diese hält einen Vortrag über den Frieden, der seitens des Auditoriums eine „sehr reservierte“ Aufnahme findet, da dieses vor allem anderen einen Bericht über die schulische Arbeit erwartet: „Die Pionierleiterin ging auf die bisher gemachten Ausführungen zur Sicherung des Friedens zurück. Sie kam zu dem Schluß, daß es unsere Aufgabe sei, den Kindern ein Wissen zu übermitteln, daß sie in die Lage versetzt werden, die Feinde des Friedens und ihre Machenschaften zu erkennen. Die Jungen Pioniere haben sich zur Aufgabe gestellt, durch ihre Arbeit mit dazu beizutragen, den Lerneifer und die Disziplin in der Schule zu heben. Die Ausführungen der Pionierleiterin wurden von dem größten Teil der Elternschaft sehr reserviert aufgenommen. Wieder wurde die Meinung laut: „Was hat das mit der Schule zu tun, wir wollen etwas über die Schularbeit hören“.“17

15 16 17

Ebd., pag. 14. LAB, C REP 120/67, op. cit., 1946–51, pag. 106. Ebd., pag. 110.

82

Die Schule neuen Typs (1949–1959)

Die Eltern lehnen die Politisierung des schulischen Alltags und ihrer Sitzungen ab. Die Protokolle belegen einen Krieg der Worte zwischen den „Eltern mit reaktionärer Haltung“ und den „Eltern mit fortschrittlicher Haltung“. Der Bericht über eine Sitzung der Schülereltern in der 20. Volksschule in Karlshorst, der im September 1951 an die Schulinspektion in Lichtenberg geht, erwähnt einen recht lebhaften Austausch von Argumenten: „Die Versammlung wurde durch kulturelle Darbietungen der Jungen Pioniere und Schüler eröffnet. […] Äußerungen reaktionär eingestellter Eltern: Die Schule von 1933 und 1914 war gut. Wir wollen, daß unsere Kinder etwas lernen, Politik gehört nicht in die Schule. Äußerungen fortschrittlicher Eltern: die Schule trägt das Gesicht der jeweilig herrschenden Klasse. Der Unterricht trug vor 1914 und während der Nazizeit das Gewicht der Vorbereitung auf den Krieg. Wir wünschen, daß die Schule ihren Beitrag zum Kampf um den Frieden leistet.“18

Es ist interessant zu bemerken, dass zahlreiche Eltern, die in den Quellen als „Reaktionäre“ qualifiziert werden, das Argument der schulischen Politisierung nutzen, um indirekt die Politisierung durch die SED zu denunzieren. Die Schule war im Kaiserreich oder dem Dritten Reich kein Tempel des Wissens, der vor politischen Einflüssen geschützt gewesen wäre. Sie war auch damals ein Instrument der Politisierung. In diesem Sinne zeugt die Haltung zahlreicher Schülereltern von einem überzeugten, aber maskierten Antikommunismus. Viele Eltern sperren sich dagegen, dass die Ausschüsse in Orte der Propaganda transformiert werden. Ein Schulinspektor des Bezirks Köpenick registriert im Juni 1950 diese Weigerung der Eltern, ihre Sitzungen in ideologische Kurse umwandeln zu lassen: „Das Interesse der Elternschaft an der schulischen Arbeit ist seit dem vorigen Jahr nicht größer geworden. Es ist im Gegenteil gesunken, seitdem wir unsere Hauptaufmerksamkeit von den materiellen Schäden ablenken, und den ideologischen Mängeln zuwenden. An einigen Schulen wird als Ursache hierfür die Überlastung der Eltern durch Berufstätigkeit beider Elternteile und der gesellschaftlichen Arbeit, an anderen Schulen Böswilligkeit und Opposition gegenüber der neuen Schule angegeben.“19

Viele Eltern sind bereit, sich im Leben in Form von materieller Hilfe oder der Betreuung von Freizeit-AGs zu engagieren. Aber die Politisierung der Elternausschüsse ruft eine gleichsam allergische Reaktion der Versteifung hervor. Zahlreiche Berichte betonen zudem, dass die Hälfte des Auditoriums den Saal während oder nach der politischen Rede verlässt. Eine weitere Form, die Ablehnung der Instrumentalisierung der Elternausschüsse deutlich zu machen, ist der Boykott: Die Versammlungen der Schülereltern werden kaum frequentiert. So mobilisiert die 18 19

Ebd., pag. 179. LAB, C REP 120/2078, op. cit., pag. 28.

Die Elternausschüsse: Ein Instrument in den Händen der SED?

83

Versammlung in der 16. Schule in Berlin-Mitte im Oktober 1951 gerade einmal 91 von 910 Eltern.20 Diese schwache Mobilisierung lässt sich aber nicht nur durch die Politisierung dieser Versammlungen erklären. Viele Eltern sind grundsätzlich nicht bereit, sich zu engagieren und an den Ausschüssen teilzunehmen. Der Bericht eines Gemeindefunktionärs in Pankow vom Januar 1955 betont die gleichen Mängel: „Die Arbeit der Elternausschüsse ist noch sehr unterschiedlich. Es berichten fast alle Schulen, daß eine Minderheit besonders aktiver Ausschußmitglieder besteht, die Beteiligung ist vorwiegend als durchschnittlich zu bezeichnen. Im ganzen gesehen gelang es nicht, die Masse der Eltern für die Aufgaben der Schulerziehung ihrer Kinder zu gewinnen. Die Klassen- und Schulelternversammlungen tragen vielfach noch sporadischen Charakter, ihr Besuch ist recht unterschiedlich. Nur selten gelingt es hier, von Einzel­ fragen des Schullebens zu politischen Auseinandersetzungen zu kommen und einen großen Teil zurückhaltender Eltern an klare Stellungnahmen zu führen.“21

Ungeachtet dieser Schwierigkeiten, denen die SED bei der Kontrolle dieser Elternausschüsse begegnet, konstituieren diese Einrichtungen ein wichtiges Element in ihrer Strategie der Kontrolle und Einbindung aller Akteure der schulischen Welt.

Ein zweischneidiges Kontrollinstrument Für gewöhnlich werden die Elternausschüsse ausschließlich als eine Instanz gesehen, durch die Kontrolle über die Familie ausgeübt wird. Sie sind tatsächlich ein durchaus zweischneidiges Machtinstrument. Die Aktivitäten der Mitglieder in den Elternausschüssen richtet sich schließlich gleichzeitig auf den Lehrkörper wie auf die übrigen Schülereltern. In manchen Schulen arbeitet der Ausschuss eng mit dem Direktor zusammen und unterstützt dessen „politische Arbeit“ selbst dann, wenn die BPO jegliche Aktivitäten vermissen lässt. Diese wiederum zögert nicht, die Elternvertreter als „Inspek­ toren“ anzuheuern. Diese Eltern finden sich in einer Situation wieder, wo sie die Lehrkräfte ihrer Kinder kontrollieren, indem sie an den pädagogischen Sitzungen teilnehmen oder indem sie deren Klassen inspizieren. Die Beziehungen zu den Lehrenden sind daher mitunter gespannt, insbesondere wenn die Ausschüsse sich in der Hand von Parteimitgliedern befinden. Viele Lehrkräfte sehen es äußerst ungern, dass diese Eltern sich in ihre pädagogische Arbeit einmischen und in einer Weise in ihr angestammtes Gebiet eindringen, die ihre beruflichen Kompetenzen in Frage stellt. Viele opponieren dagegen, dass einer der Elternvertreter an den Sitzungen des 20 LAB, C REP 120/267, op. cit., pag. 254. 21 LAB, C REP 149-13/2, Abteilung Volksbildung des Stadtbezirks Pankow, Berichterstattung über Ereignisse der politisch-ideologischen Arbeit, 1953–1969, unpag.

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Die Schule neuen Typs (1949–1959)

pädagogischen Rats ihrer Einrichtung teilnimmt. Eine der Strategien, diese daran zu hindern, besteht darin, ganz einfach bestimmte Informationen nicht weiterzugeben, wie eine Klage des Elternausschusses der Wilhelm-Pieck-Schule belegt: „Gut ist, daß einige Elternausschußmitglieder an den Pädagogischen Ratssitzungen der Schule teilgenommen haben. Hier wurde vom alten Elternausschuß darüber Klage geführt, daß ihnen nicht immer rechtzeitig der Termin der Pädagogischen Konferenz bekannt gegeben wurde …“22

Die Protokolle der Lehrerkonferenzen belegen die Anwesenheit eines Mitglieds des Elternausschusses bei den pädagogischen Konferenzen. Er ergreift relativ selten das Wort, vor allem weil ihm dazu auch kaum Gelegenheit gegeben wird.23 Der Direktor fordert ihn in erster Linie dazu auf, die anderen Eltern anzuregen, sich bei der Rekrutierung für die Jungen Pioniere einzusetzen und dergleichen. Zur gleichen Zeit werden diese Elternvertreter vom Direktor oder einer Lehrkraft damit beauftragt, „Druck“ auf bestimmte Eltern auszuüben. Die Möglichkeit, Macht auszuüben, breitet sich also in den Kapillaren zwischen den verschiedenen Strukturen und Akteuren der schulischen Welt aus. Eine der wichtigsten Waffen ist dabei der Elternbesuch, d. h. die Druckausübung durch den Besuch auf der Arbeitsstätte oder in der Wohnung. Der Bericht über die Arbeit des Elternausschusses der Wilhelm-Pieck-Schule in Pankow legt das Hauptaugenmerk auf eben diesen Punkt, wenn die letzten Worte des Dokuments in Erinnerung rufen, dass einer der Gründe für diese Hausbesuche darin besteht, zur Entwicklung der Zellen der Jugendorganisationen beizutragen: „Sechs Mitglieder besuchen laufend Eltern, deren Anschriften sie von Lehrern erhalten, die sich um die Schule nicht kümmern, nicht zu Elternabenden erscheinen usw. Die Elternausschußmitglieder werben bei ihren Besuchen regelmäßig erfolgreich für den Pionierverband.“24

In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre homogenisieren die Elternausschüsse ihre Zusammensetzung durch eine kontinuierliche Erhöhung der Zahl der SED-Mitglieder. Es bleiben gleichwohl noch Räume, in denen kritische Stimmen sich weiterhin äußern können. Ab 1956 konzentrieren sich die Diskussionen auf die Frage der Jugendweihe und lassen Spannungen zwischen den Eltern aufscheinen. Viele kritisieren die Arbeit der Jugendorganisationen, was eine Form darstellt, den politischen Charakter der sozialistischen Erziehung anzuprangern. Obwohl die SEDMitglieder ab den 1950er Jahren in den Elternausschüssen durchaus einflussreich 22 LAB, C REP 120/1940, Wilhelm-Pieck-Oberschule, pag. 258. 23 Berichte über die Tagungen des Pädagogischen Rates der 10. Schule, Berlin-Friedrichshagen, unpag. 24 LAB, C REP 120/1940, op. cit., pag. 280.

Die Elternausschüsse: Ein Instrument in den Händen der SED?

85

sein können, sind sie noch zu wenig zahlreich, um die Sitzungen so zu organisieren, wie die Partei dies wünscht. In dieser Zeit muss noch, um das Funktionieren dieser Vertretungsinstanz zu gewährleisten, ein Kompromiss mit den Eltern herbeigeführt werden, die sich nicht in der SED engagieren. Die Elternausschüsse konstituieren eine repräsentative Instanz, die die SED in zunehmendem Maße unter ihre Kontrolle zu bringen versucht, womit sie auf Widerstände stößt. Sie sollen mit den übrigen schulischen Akteuren in koordinierter und harmonischer Weise dabei zusammenwirken, eine sozialistische politische Erziehung zu vermitteln. Allerdings sind ihre nicht der SED angeschlossenen Mitglieder meist vor allem daran interessiert, konkrete Probleme des schulischen Alltags zu lösen und lehnen diese übermäßige Politisierung der Schule ab. Die Präsenz dieses „repräsentativen Akteurs“ wird begleitet von einer Öffnung der Schule für weitere Institutionen, das heißt von der Einbeziehung in ein rahmendes soziales Netzwerk. Die Schule ist nicht mehr ein bloßer „Tempel des Wissens“, sondern eine Struktur des Kontakts mit den Jugend- und Massenorganisationen und den Betrieben.

Kapitel IV Die neuen institutionellen Akteure des schulischen Feldes Die Eingliederung der Jugendorganisationen in das schulische Milieu Seit 1946 ist die Freie Deutsche Jugend (FDJ) als einzige Organisation für die Jugend­lichen zwischen 14 und 25 Jahren in der Sowjetischen Besatzungszone anerkannt. Sie wird ergänzt durch die Pionierorganisation (PO), die im Dezember 1948 gegründet wird, um die Kinder zwischen 6 und 14 Jahren zu erfassen. Nach dem Modell des sowjetischen Komsomol richten sich diese beiden Organisationen ab den späten 1940er Jahren in der Schule ein; anstelle der Betriebe wird sie sehr rasch zu ihrem hauptsächlichen Aktionsfeld.1 Über ihre Rolle bei der Betreuung außerschulischer Aktivitäten hinaus besteht ihre Aufgabe darin, bei den Schülern „politisches Bewusstsein“ zu entwickeln.2 Die Implantation der sozialistischen Jugend­organisationen im Innern der Institution Schule stellt einen fundamentalen Bruch mit der Geschichte der Jugendbewegungen in Deutschland dar; diese waren bis dahin außerhalb der Schule nach territorialen Einheiten wie dem Stadtviertel organisiert. Das Ziel der SED besteht darin, eventuelle negative Einflüsse primärer oder sekundärer Sozialisationsstrukturen wie der Familie oder der Kirche zu neutralisieren. Die Schule der DDR hat den Anspruch, eine Institution „totaler“ Einbindung zu sein, das heißt sie vereinigt in ihrem Innern Funktionen der Erziehung und der Freizeitgestaltung: Die Klasse und die Basiszelle der Jungen Pioniere sollen in gewisser Weise fusionieren, was in den Quellen durch das Begriffspaar „Schüler und Pioniere“ zum Ausdruck kommt. Die Jugendorganisationen werden von nun an zu einem konkreten und im schulischen Alltag unumgänglichen institutionellen A ­ kteur. Diese Präsenz materialisiert sich darin, dass ihre Strukturen denen der ­Schule übergestülpt werden, indem sie einen für sie reservierten Raum (das Pionierzimmer) erhalten sowie durch die Ernennung eines Korps hauptamtlicher Funktionäre, die mitunter in Konkurrenz zum Lehrkörper treten. Nach dem Modell der Implantierung der SED in den Betrieben3 werden die schulischen Einrichtungen zu Orten, in denen sich Basiszellen der Jugend­or­ ganisationen verwurzeln, die nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus

1 2 3

S. Kott, op. cit., S. 199–236. S. Fitzpatrick, op. cit., S. 25. Zur Parteiorganisation in den Betrieben siehe M. Christian, op. cit.

88

Die Schule neuen Typs (1949–1959)

funktionieren. Auf der Ebene der Primarschule4 (wobei der Prozess auf den Oberschulen im Prinzip identisch verläuft) bildet die Klasse theoretisch die Struktur, die als Basiszelle für die Organisierung der Pioniere dienen soll: die Pioniergruppe.5 Theoretisch ist es sogar vorgesehen, die Klasse in Untergruppen aufzuteilen (die Pionierzirkel), die den Brigaden in den Betrieben entsprechen. Die Basiseinheit besteht aus den Schülern einer Klasse, die auf „Vorschlag“ des Pionierfunktionärs einen Gruppenrat wählt, auf den verschiedene Funktionen verteilt werden: ein Vorsitzender, ein stellvertretender Vorsitzender, ein Verantwortlicher für kulturelle und für sportliche Aktivitäten. Jede Gruppe auf Klassenniveau bestimmt Vertreter, die den Freundschaftsrat der Einrichtung bilden, ein übergeordnetes Organ, das die Aktivitäten aller Gruppen überwacht. Schema 3  Theoretische Organisation der Pioniere in einer Schule

Freundschaftsrat der Pioniere, besteht aus Vertretern der Gruppenräte der Pioniere in den Schulelternversammlungen  ←

ernennt

Gruppenrat der Klasse ←

wählen

Pionierzirkel der Klasse (fünf bis sieben Mitglieder)

Während die Implantierung der Jugendorganisationen in den übrigen Bezirken der DDR relativ reibungslos vonstatten geht, gilt dies nicht für Ostberlin. Die ostdeutsche Hauptstadt macht Schwierigkeiten und zeichnet sich durch eine Langsamkeit aus, die die politischen Instanzen beunruhigt und provoziert. Die Schere zwischen Ostberlin und dem Rest der DDR wird ab Januar 1953 in einem Bericht des Volksbildungsministeriums beleuchtet: „Die Schulen unterscheiden sich schulisch nicht von den Schulen der Republik, aber in der Frage der Pioniere.“6 Zwei Jahre später unterstreicht Karl Sothmann als Funktionär des DPZI dieses Problem in einem ­Schreiben an Paul Wandel, der seit 1952 nicht mehr Minister für Volksbildung ist: „Viel wichtiger ist, daß die Jungen Pioniere unter der Masse der Eltern noch nicht populär sind, und dieser Zustand muß wirklich gründlich und energisch geändert werden.“7 4 5 6 7

Broschüre der Jungen Pioniere, Berlin (Ost) 1949. Im Alter von sechs bis zehn Jahren spricht man von Jungen Pionieren, von zehn bis 14 Jahren von Thälmann-Pionieren. Die Unterscheidung erfolgt durch die Halstücher: blau für die jüngeren, rot für die älteren. BA, DR 2/1 196, Inspektionen von Berliner Schulen, 1953, pag. 29. BBF, DIPF, Nachlass Karl Sothmann, 04.01/74, Schriftwechsel mit Paul Wandel, 28. Februar 1955, pag. 2.

Die neuen institutionellen Akteure des schulischen Feldes

89

Das Prinzip „eine Schule – ein Freundschaftsrat“ gilt Anfang der 1950er Jahre nur in etwa 10 % der Schulen Ostberlins. In den meisten Fällen schließen sich zwei Schulen zusammen, um einen Freundschaftsrat zusammenstellen zu können. In manchen Fällen sind vier Schulen nötig! Innerhalb der Schulen besitzen nicht alle Klassen Gruppen der Jungen Pioniere. In den Schulen, in denen es Gruppen gibt, führen diese verschiedene Altersklassen oder sogar alle Organisationsmitglieder einer Einrichtung zusammen. Die Existenz von Pionierzirkeln in den Klassen ist lediglich für wenige Schulen wie die 8. und 9. Schule des Bezirks Lichtenberg belegt.8 In den meisten Fällen sorgt die Schwäche der Rekrutierung dafür, dass diese Struktur allenfalls auf dem Papier existiert. Diese Ausnahmestellung Berlins erklärt sich vor allem durch die besondere Rechtslage in Berlin, das bis 1948 vom Alliierten Kontrollrat verwaltet wird. Diese Instanz hat die FDJ und den Vorläufer der Pionierorganisation, die Kindervereinigung, nicht vor Oktober 1947 autorisiert, das heißt anderthalb Jahre später als in den übrigen Teilen der Sowjetischen Besatzungszone. Allerdings hätte die ostdeutsche Hauptstadt ihren Rückstand rascher aufholen können. Der Abstand wird aber nun durch ein ganzes Bündel von Faktoren verschärft: durch die Nähe Westberlins, durch die Konkurrenz der protestantischen Jugendorganisation (Junge Gemeinde) und ganz besonders durch das extreme Misstrauen der Eltern und der Lehrkräfte. Die Entwicklung der Rekrutierung für die Jungen Pioniere verläuft in der DDR und in Ostberlin praktisch parallel.9 Allerdings unterscheidet sie sich im Maßstab: Das Tempo der Rekrutierung ist in Ostberlin deutlich langsamer als im Rest der DDR. Die durchschnittliche jährliche Rekrutierungsrate beträgt in Ostberlin 0,5 %, im Gegensatz zu 2,5 % auf dem übrigen Territorium Ostdeutschlands! Laut der Chronik der Schule von Triepkendorf in Mecklenburg steigt die Rate der Eingliederung der Dorfschüler in die Pionierorganisation sehr rasch. Im Jahre 1951 sind 68 % der 162 Schüler Junge Pioniere.10 In Ostberlin verläuft die Entwicklung der Eingliederung nicht linear: Sie besteht aus Fortschritten ebenso wie Rückschlägen. Ein erster Gipfel des Wachstums lässt sich nach der Ausrichtung des Deutschlandtreffens im Mai 1950 mit 25,9 % beobachten. Anscheinend ist es mit dieser Veranstaltung gelungen, den Enthusiasmus der Schüler zu wecken, die sich in den Organisationen der sozialistischen Jugend engagieren sollen. Die Steigerung der Mitgliederzahlen, die nun folgt, ist jedoch nicht von Dauer. Der Rückgang auf einen Betrag um 17–18 % erklärt sich dabei auch durch den Umstand, dass die   8 LAB, C REP 120/253, Zusammenarbeit zwischen Schule und Pionierorganisation. Pionierarbeit an den Schulen, 1950–1952, pag. 53–55.   9 SAPMO, DY 25/2 632, Statistische Angaben der Pionierorganisation Ernst Thälmann im Zeitraum 1949–1960, unpag. 10 Sm/Do, 09/12/03/04, op. cit., pag. 108.

90

Die Schule neuen Typs (1949–1959)

Grafik 2: Entwicklung der Rekrutierung für die Jungen Pioniere in der DDR und in Ostberlin in den 1950er Jahren 90,0 84,4

80,0

80,0

75,0

70,0 60,0

57,5

54,2

50,0 40,0

20,0

21,0

36,0

25,9

25,0 16,9

10,0 0,0

38,7

38,9

30,0

67,4

70,0

60,0

59,0

18,2

3,4

DDR

Berlin Ost

Leitung der FDJ in Berlin-Ost die Zahlen geschönt hat, um ihren Rückstand zu verdecken. Ein Bericht des Zentralrats der FDJ aus dem Jahr 1950 weist mit dem Finger auf diese Fälschung. Die Offenheit, mit der der Autor sich hier ausdrückt, ist ein Charakteristikum der 1950er Jahre. Erst ab den 1960er Jahren wird die Betonsprache sich bis in die untersten Organisationsstufen der SED und ihrer Massenorganisationen verbreiten: „Das Ansteigen des Mitgliederstandes basierte nicht immer nur auf realer Grundlage. So ist vor allem die unverantwortliche Arbeit im Land Berlin zu erwähnen. Berlin hatte im März einen Mitgliederstand von 12 185 JP, der im Juni auf 34 649 angestiegen ist. Am Ende des 3. Quartals also in September zählten die Pionierorganisationen in Berlin nur noch 15 039 Mitglieder, d. h. also, daß im Verhältnis zum 2. Quartal ein absoluter Abgang von 19 610 Jungen Pionieren zu verzeichnen war. Tatsache ist, daß Berlin niemals 34 649 Mitglieder hatte. Die Freundschaft Maxim Gorki im Kreis Mitte meldete z. B. 2 000 Junge Pioniere, hat aber nur 1 200 Schulkinder. In Wirklichkeit waren an diesen

Die neuen institutionellen Akteure des schulischen Feldes

91

Schulen nur 400 Kinder organisiert, jedoch sank dieser Mitgliederstand, da die Freundschaft keinen Leiter hatte, die Arbeit schlecht war, auf 90 Junge Pioniere. Ähnlich sah es in anderen Freundschaften aus.“11

Ganz allgemein müssen die Statistiken, die auf der Ebene der Bezirke erstellt wurden, mit Vorsicht verwendet werden. Dabei sind zwei Klippen zu umschiffen: Zum einen sind die Zahlen oft ungenau oder missverständlich, zum anderen blasen die lokalen Zellen ihre Resultate künstlich auf, um ihre Dynamik aufzuzeigen. Gleichwohl geben die Zahlen eine grundsätzliche Tendenz wieder, die sich analysieren lässt. Das Tempo des Zuwachses ist in der Mitte der 1950er Jahre (1953–1958) sehr langsam oder nähert sich gar der Stagnation, bevor es zum Ende des Jahrzehnts zu einer quasi exponentiellen Zunahme kommt. Auf der einen Seite trägt die Rekrutierungsarbeit an der Basis, bei der die Lehrkräfte und die Jungen Pioniere den Akzent nun mehr auf Angebote für Freizeitaktivitäten legen, ihre Früchte. Auf der anderen Seite hat es den Anschein, dass die Jugendorganisationen in zunehmendem Maße von der Bevölkerung „angenommen“ werden. Dem entspricht eine Phase der Internalisierung dieses neuen edukativen Akteurs in der Schule, der tatsächlich in den anderen Regionen der DDR früher (seit der ersten Hälfte der 1950er Jahre) eingesetzt hat, und zwar insbesondere in den landwirtschaftlichen Gebieten, wo die Gestalt des permanenten Funktionärs meistens identisch ist mit der der Lehrkraft. Die Rekrutierungsprobleme der FDJ unter den 15–25jährigen sind schwieriger zu analysieren, weil sich die Schüler in den Statistiken nicht von den Studierenden oder den jungen Arbeitern trennen lassen. Die Zahlen müssen nach dem sozialen Status dieser jungen Leute differenziert werden. Der geringe Rekrutierungsgrad ist vor allem dem mangelnden Engagement der jungen erwachsenen Arbeiter und Auszubildenden in den Betrieben geschuldet. Er bringt daher in keiner Weise den Umstand zum Ausdruck, dass es der FDJ gelungen ist, sich zunehmend in den schulischen Einrichtungen zu etablieren. Ein Beleg dafür ist der Umstand, dass zwischen 1951 und 1960 der Gesamtanteil der Schüler in der Berliner FDJ von 7 auf 23 % steigt.12 Die Einbindung der Oberschüler gelingt im Übrigen weitaus rascher als die der Volksschüler. In den meisten Sekundarschulen Ostberlins erreicht der R ­ ekrutierungsgrad zum Ende der 1950er Jahre 80 %. Sporadisch verfügen wir

11 12

SAPMO, DY 25/ 2 632, Statistische Angaben der Pionierorganisation Ernst Thälmann im Zeitraum 1949–60, unpag. E. Schulze, DDR-Jugend. Ein statistisches Handbuch, Berlin 1995.

92

Die Schule neuen Typs (1949–1959)

Grafik 3: Prozensatz der FDJ-Mitglieder unter den 15-25jährigen in der DDR und in Berlin-Ost in den 1950er Jahren 50 45

44,3

45,5

45,1

40 35

38,9 38,8

36,7

30 27,6

25 20 Berlin 15 Ost 10 DDR

5

4,8

0 1949

1953

1956

1957

über Statistiken der Berliner Leitung der FDJ. Danach sind im September 1958 von 880 neuen Mitgliedern die Hälfte Oberschüler.13 Im Rahmen des materiellen Wiederaufbaus der Gebäude fordert die FDJ einen Raum, der ihr automatisch vorbehalten sein soll. Auf dem vierten Parlament der FDJ in Leipzig im Mai 1952 insistiert der Abschlusstext auf der Notwendigkeit, außerdem einen eigenen Raum für die Jungen Pioniere einzurichten: „Der Verband der JP hat für die Erziehung der Kinder zu demokratischen, fortschrittlichen Menschen eine große Bedeutung, die besonders auch in dem steten Anwachsen seiner Mitgliederzahl, die jetzt bereits beträgt, zum Ausdruck kommt […] Um der Tätigkeit der Jungen Pioniere in den Schulen mehr Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten und damit zugleich eine noch größere Unterstützung für die Erziehungsarbeit der demokratischen Schulen zu gewährleisten, beschließt das Parlament, in allen Grundschulen der SBZ und in Berlin ein Zimmer der Jungen Pioniere einzurichten.

13 LAB, C REP 920/20, Statistik der Kreisleitungen der Berliner FDJ, August–Dezember 1958, unpag.

Die neuen institutionellen Akteure des schulischen Feldes

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a) in den größeren und mittleren Schulen ist ein Raum bereitzustellen, der ausschließlich den Jungen Pionieren zur Verfügung steht. b) in den kleineren Grundschulen, wo dies nicht möglich ist, soll die Klassenverteilung so vorgenommen werden, daß zumindest an den Nachmittagen in dem für diesen Zweck bestimmten Raum kein Unterricht stattfindet.“14

Der Beschluss von 1952 bestätigt lediglich eine Praxis, die sich seit der Gründung der Pionierorganisation eingebürgert hat. Ab den frühen 1950er Jahren sind 90 % der Berliner Volksschulen mit einem „Pionierzimmer“ ausgestattet. Dieses soll zum „Mittelpunkt der Schule“ werden.15 Ein Funktionär der Schulbehörden der Stadt, der die Qualität dieser Räume beurteilen soll, kommt allerdings zu einem harten, aber wohl realistischen Urteil: „Die Mehrzahl der Pionierzimmer ist schlecht beleuchtet, wodurch die Pionierarbeit beeinträchtigt wird. In manchen Schulen gibt es überhaupt keine Pionierzimmer, andere wieder sind schlecht eingerichtet, nur Baracken.“16 Der Bericht lässt durchblicken, dass die Einrichtung eines für die ­Pioniere bestimmten Raumes nicht immer eine Priorität für die Schulleitung darstellt. Ein Zeugnis eines reichlich desillusionierten FDJ-Funktionärs betont zudem in manchen Fällen Schwierigkeiten, überhaupt einen Raum zu bekommen: „Wir konnten immer wieder den Fehler beobachten, daß die Schulbehörden die Pionierarbeit meistens als etwas Nebensächliches betrachten. Oft befindet sich auch heute noch der Pionierraum unten im Keller.“17 Die Renovierung und Funktionsfähigkeit der für den Unterricht bestimmten Räumlichkeiten geht häufig vor der Bewilligung eines Raums für die Jugendorganisationen. Gleichwohl verfügt jede Schule ab der Mitte der 1950er Jahre über einen geeigneten Raum, der für deren Sitzungen und Aktivitäten zur Verfügung steht. Diese Räume werden mitunter zu Zielen von Vandalismus seitens mancher Schüler, die der Organisation nicht angehören. Im November 1950 ist das Pionierzimmer der 4. Schule in Lichtenberg beschädigt worden, die Fahnen wurden gestohlen. Unabhängig davon, ob es sich um eine politische Tat handelt oder nicht, ist es für unseren Kontext aufschlussreich, wie sie vom Schulleiter politisch instrumentalisiert wird. Dieser nämlich nutzt die Gelegenheit, um den Hausmeister zu

14 SAPMO, DY 25/531, Vorlage an das 4. Parlament der FDJ zur Einrichtung von Pionierzimmern an allen Grundschulen der DDR, 1952, unpag. 15 SAPMO, DY 25/478, Referate und Dispositionen zur Arbeit der Jungen Pioniere in den Schulen und Entwicklung der gesellschaftlichen Rolle des Pionierverbandes, 1949–1952, unpag. 16 LAB, C REP 120/253, op. cit., pag. 58. 17 SAPMO, DY 24/2 129, Protokoll der 4. Tagung des Zentralrates der FDJ vom 1.–2. 12. 1949, pag. 90.

94

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beschuldigen, der als einziger einen Schlüssel habe – und der vor allem Mitglied der SPD ist –, und ihn endlich zu entlassen.18 Die Implantierung der Basiszellen der Jugendorganisationen in den 1950er Jahren geht einher mit dem Erscheinen eines neuen, bis dahin im schulischen Alltag völlig unbekannten Akteurs: dem an die Volksschulen abgeordneten Hauptamtlichen Pionierleiter (HPL) und dem Freundschaftsleiter (FL) in den Oberschulen. Im Kontext einer hochgradig ideologisierten Schule sieht die Mehrheit der Lehrkräfte die Ankunft der Funktionäre der Jugendorganisationen in ihrer Arbeitswelt mit Misstrauen.

Die hauptamtlichen Funktionäre der Jugendorganisationen: Eine Anerkennung mit Hindernissen Dieser neue Erzieher symbolisiert die Entschlossenheit der SED, die Institution Schule unter Kontrolle und die schulischen Strukturen mit denen der Jugendorganisationen zur Deckung zu bringen. Offiziell besteht seine Mission darin, die „politische Leitung“ der Basisgruppen der FDJ und die Organisierung der Pioniere an der Schule zu übernehmen.19 Konkret ist er vor allem gehalten, die Freizeitaktivitäten an der Schule zu entwickeln und zu koordinieren, insbesondere solche wissenschaftlichen und technischen Inhalts. Diese außerschulischen Aktivitäten werden als ein Mittel zur Vervollständigung der ideologischen Schulung, die in der Klasse erfolgt, in spielerischer Form betrachtet. So ergänzt die „patriotische Erziehung“ den Geographieunterricht (der ab der 5. Klasse erteilt wird) in Form von Exkursionen in die Natur (in die Sächsische Schweiz oder nach Thüringen), damit der Sinn des Begriffs Heimat unmittelbar „empfunden“ werden kann. Das sozialistische Regime sieht sich zwei Hauptproblemen gegenüber: Der Qualität der hauptamtlichen Funktionäre und dem Mangel an freiwilligen Funktionären. Dazu ließe sich das stärker subjektive Problem der mangelnden Akzeptanz durch die Kollegen Lehrkräfte erwähnen; so betont ein Funktionär der Schulbehörde im Bezirk Pankow im August 1950: „Die von der FDJ eingesetzten Pionierleiter haben zu den Lehrerkollegien oft noch nicht eine innere Verbindung gefunden.“20 Diese Bemerkung von der lokalen Ebene gilt tatsächlich auch für die übrigen Be­ zirke Ostberlins während des gesamten Jahrzehnts. Selbst in den Schulberichten von der Basis werden diese Funktionäre selten erwähnt. Jedenfalls werden sie nicht in einem eigenen Absatz behandelt, was ihre geringe Bedeutung andeutet. Dieser 18 19 20

LAB, C REP 129/253, op. cit., pag. 58. BA, DR 2/3 986, Ausbildung der Pionierleiter, pag. 19. LAB, C REP 120/2 077, op. cit., pag. 112.

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Eindruck bestätigt sich in den Schulchroniken oder den Protokollen der pädagogischen Konferenzen: Es scheint diese Funktionäre gar nicht zu geben. Trotz ihrer Propagandaaktionen gelingt es der FDJ nicht, ausreichend viele hauptamtliche Funktionäre zu rekrutieren. Im Jahre 1954 fehlt ein solcher in acht von 28 Volksschulen des Bezirks Lichtenberg.21 Diese unvollständige Abdeckung der Schulen zieht es nach sich, dass die Effektivität der Jugendorganisation je ganz unterschiedlich ist. So bemerkt ein Gemeindeangestellter im Bezirk Treptow im August 1950: „In den Schulen, in denen ein hauptamtlicher Pionierleiter tätig ist, ist das Wirken der Jungen Pioniere stabiler und zielbewußter als in den Schulen, wo nur Lehrkräfte Träger der Pionierbewegung sind.“22

Wir verfügen nur über wenige Angaben zur sozialen Herkunft dieser neuen edukativen Akteure. Statistiken aus dem Mai 1951 erlauben es uns immerhin, ein grobes Porträt der Verantwortlichen für die Pioniere in Ostberlin zu entwerfen.23 Tabelle 6:  Soziale Herkunft der Pionierleiter in der DDR und in Berlin-Ost im Mai 1951 (in %)

DDR

Berlin Ost

Arbeiter

28,0

28,8

Bauern

 6,3

 1,1

Angestellte

 9,8

 13,1

Lehrer

54,8

56,4

Freiberufler

 1,1

 0,6

Die Unterschiede zwischen Ostberlin und der DDR sind verschwindend gering. Es ist aufschlussreich zu sehen, dass die hauptamtlichen Funktionäre zu mehr als 50 % aus Familien von Erziehern, Pädagogen und Lehrkräften stammen. Insgesamt kommen fast zwei Drittel aus der Mittelschicht, ein Viertel ist proletarischer Herkunft. Viele wollen sich einer Familientradition anschließen, indem sie den Weg eines kämpferischen Engagements wählen. Sie sind häufig Frauen (53 %); Männer sind vor allem am Anfang noch stark vertreten, bald lässt ihre Zahl nach. Ein Drittel gehört der SED an. Diese edukativen Akteure sind sehr jung: 80 % zählen weniger als 25 Jahre. Ihre Jugend ist gleichzeitig ein Vorzug im Kontakt mit den Kindern und ein Handicap, in dem Maße, in dem sie einen Mangel an Erfahrung hinsichtlich der 21 22 23

LAB, C REP 903-03-01/159, op. cit., unpag. LAB, C REP 120/2077, op. cit., pag. 15. SAPMO, DY 25/2632, Statistik, 1949–1960, unpag.

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Betreuungsmethoden bedeutet. Zu Beginn der 1960er Jahre sind noch 56 % der Pionierleiter unter 25 Jahre alt. Sie gehören einer Generation an, die in den 1930er Jahren geboren wurde und unbewusst oder bewusst Praktiken reproduziert, die sie im Rahmen der Hitlerjugend erlebt hat. R. H. ist eine der wenigen in den 1950er Jahren eingeschulten Personen, die sich noch an ihre Pionierleiterin erinnert: „Ja, ja, kann ich mich sehr gut erinnern, weil, wir hatten eine richtige Pionierleiterin. Sie war eigentlich der Typ der BDM-Mädchen. Es ist unglaublich: eine junge Blonde, etwas kräftigere mit roten Backen, freundlich. Das deutsche Mädel! Ich habe sie vor Augen. Sie sang mit uns gern Lieder und die sang mit uns Lieder, die, ich garantiere Ihnen, die aus dieser alten Zeit noch stammten. Das war so ein Übergang. Sie war jung, 20–25. Wir haben Lagerfeuer gemacht und Lieder gesungen … So deutsche Lieder … [Stille] Das war keine Nazi-Frau, aber der kulturelle Typus war das. Das ist interessant. Ich habe sie gern gemocht.“24

Diese hauptamtlichen Funktionäre werden häufig als Personen geringerer Qualität gezeichnet. Die Schulinspektoren beklagen ständig ihre schlechte Arbeit, die sich in der Langsamkeit der Rekrutierung der Schüler oder gar in Wiederaustritten aus der Organisation ausdrückt.25 Neben der Unterstützung seitens der Lehrerkollegen, bei denen sie häufig als „unfähig“26 verschrien sind, fehlt ihnen auch die Rückendeckung durch ihre Vorgesetzten auf der Ebene des Bezirks oder Distrikts. Die mangelhafte Kompetenz dieser Erzieher zwingt die lokalen Leitungen mitunter dazu, den hauptamtlichen Funktionär in einer Schule auszutauschen, was der Kontinuität der Arbeit nicht zuträglich ist. Häufig werden sie übereilt rekrutiert. Die Betroffenen sehen hierin ein Mittel, um in der schulischen Welt Fuß zu fassen und eine bessere soziale Stellung zu erreichen. Angesichts der Aufgaben, die sie bewältigen sollen und der Feindseligkeit der Kollegen treten viele jedoch nach einer gewisser Weile zurück. Die pädagogischen Konferenzen in den Schulen, bei denen mitunter auch die Massenorganisationen vertreten sind, werden von letzteren genutzt, diese Schwächen zu benennen. Anlässlich einer Konferenz in der 4. Schule in Lichtenberg formuliert die Vertreterin des Demokratischen Frauenbunds (DFB) Kritik an der Arbeit der Jugendorganisationen: „Frau D. als Schuldelegierte des DFB kam noch mal zurück auf den Bericht über die Pionier­arbeit und kritisierte, daß bisher an der Schule die Pionierarbeit vor allem gehemmt wurde durch den vielen Wechsel der Pionierleiter und auch durch die Besetzung mit nicht immer starken Kräften.“27

24 25 26 27

Transkription des Interviews mit R. H. vom 12. März 2004, pag. 6. LAB, C RP 120/2077, op. cit., pag. 19. BA, DR 2/1 196, op. cit., pag. 7. LAB, C REP 903-03-01/159, op. cit., unpag.

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Die Berichte der Schulinspektion betonen den Mangel an Kompetenz bei diesen allzu rasch ausgebildeten Funktionären. Im Jahre 1954 evaluiert ein zusammenfassender Vermerk die Pionierleiterin in der 18. Schule in Lichtenberg: „Die Qualität der Pionierarbeit läßt zu wünschen übrig. Es fehlt der Pionierleiterin an Schwung und Einfallsreichtum. Durch ihre häusliche Belastung (Kleinkind) kann sie nur sehr selten mit den Pionieren Fahrten und Wanderungen unternehmen. Es fehlt ihr an Initiative und daher bleiben günstige Momente für die Erziehung und Werbung ungenutzt. Sie wirkt keinesfalls anfeuernd und mitreißend, doch arbeitet sie willig und in letzter Zeit auch nach Plan.“28

Es sind Gründe persönlicher und beruflicher Art, die in diesem Bericht erwähnt werden. Der erwähnte Mangel an Ideen ist aber nicht nur begrenzten persönlichen Kapazitäten geschuldet. Er hängt auch zusammen mit einer mangelnden Betreuung durch die Leitungen der Bezirke und der BPO. Um diesem Missstand abzuhelfen, führt die FDJ eine intensivere Ausbildung ihrer Basisarbeiter ein, und zwar in Form eines Lehrgangs an den pädagogischen Fakultäten, ab 1955 dann an den Universitäten. Diese Lehrgänge dauern anfänglich vier Semester, das heißt zwei Jahre, mit zehn Wochenstunden; hinzu kommen Wochenendseminare in einer Ausbildungsstätte in Prieros in Brandenburg. Der Lehrgang setzt sich aus vier Blöcken zusammen: 140 Stunden Geschichte, 140 Stunden Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 265 Stunden Pädagogik, 140 Stunden Deutsch. Die Integration der sowjetischen Pädagogik wird in theoretischen Kursen und Übersetzungen sowjetischer Lehrbücher über die Betreuung der Kinder in den Jugendorganisationen gewährleistet.29 Im Jahre 1949 wird eigens eine Zeitschrift für die Absolventen gegründet: Der Pionierleiter. Er bringt Informationen und pädagogische Ratschläge. 1954 wird die Ausbildungsdauer auf vier Jahre verlängert. Da aber die FDJ die Rekrutierung der hauptamtlichen Funktionäre auf junge Arbeiter ausweiten will, gibt es für sie den beschleunigten speziellen Lehrgang von zwei Jahren.30 Sobald dieser Lehrgang abgeschlossen ist, werden die Betreffenden wie Missionare in die Schulen geschickt, wo ihre Aufgabe darin besteht, Basiszellen der Jugendorganisationen aufzubauen und nach Möglichkeit die Freizeitaktivitäten zu kontrollieren. Diese Tätigkeit dient ihnen als Sprungbrett entweder zum Vollzeit-Lehramt oder zum Erklimmen der Karriereleiter in der FDJ und der SED. Die Hauptschwierigkeit, der sich die hauptamtlichen Funktionäre der Jugendorganisationen gegenüber sehen, besteht darin, von den Lehrkräften der Einrichtung akzeptiert zu werden, in der sie aktiv sind. Die offiziellen Texte rufen zu fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Pionierleitern auf, und die Berichte der 28 Ebd. 29 Autorenkollektiv, Handbuch des Pionierleiters, Berlin-Ost 1952. 30 BA, DR 2/3 986, op. cit., 1954–1955, pag. 11.

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lokalen Funktionäre der Partei und der Jugendorganisationen werden nicht müde, Teamarbeit anzumahnen: „Um die gemeinsamen Erziehungsziele der neuen demokratischen Schule zu erreichen, sollte überall eine enge und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Lehrern und den Pionierleitern hergestellt werden. Der gegenseitige Erfahrungsaustausch und die ständige Teilnahme und Mitarbeit der Pionierleiter im Lehrerkollegium ist die Grundlage für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Wir fordern die gesamte Lehrerschaft auf, im Interesse der Ziele der demokratischen Schule und der Festigung der antifaschistischen demokratischen Ordnung dem jungen, sich mächtig entwickelnden Verband der Jungen Pioniere alle Unterstützung angedeihen zu lassen.“31

Gleichwohl prägen Spannungen und Rivalitäten die Beziehungen zwischen Lehrenden und Basisfunktionären der Jugendorganisationen. Eines der sichtbarsten Zeichen für solche Spannungen lässt sich in den Protokollen der Lehrer beobachten. Trotz aller offiziellen Anordnungen weigern sich viele Lehrkörper, die Pionierleiter an ihren pädagogischen Konferenzen teilnehmen oder sie dort das Wort ergreifen zu lassen. In einem Bericht, in dem ein Funktionär der SED des Bezirks Prenzlauer Berg die mangelnde Unterstützung der Partei für die Pionierleiter beklagt, finden wir eine Bemerkung, die die Schwierigkeiten dieser Erzieher, sich bisweilen bei ­ihren lehrenden Kollegen durchzusetzen, mehr als deutlich macht: „So konnte es passieren, daß beispielsweise an der 15. Schule von September bis Januar die Pionierleiter nicht ein einziges Mal zur Pionierarbeit Stellung genommen haben.“32 Die Lehrer akzeptieren sie nicht als Mitglieder ihrer „Kaste“. Die Berichte bedauern den Umstand, dass diese die Bedeutung der FDJ als Bestandteil des schulischen Lebens verkennen. Tatsächlich sprechen die Lehrkräfte dieser Organisation das Recht ab, Einfluss auf ihre Arbeit auszuüben. Diese sehr schlechte Zusammenarbeit zwischen Lehrkörper und Jugendorganisationen resultiert in Berlin in schwachen Rekrutierungsgraden unter den Schülern. Die mangelhafte Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Pionierleitern zwingt die Schulaufsichtsbehörde dazu, Anordnungen zu erlassen, in denen sie eine Reihe von Pflichten in Erinnerung ruft: „Der Freundschaftspionierleiter nimmt gleichberechtigt mit Sitz und Stimme an allen Konferenzen teil. Der Perspektivplan der Freundschaft wird gemeinsam mit dem Lehrerkollegium aufgestellt. Bei der Aufstellung des Gruppenarbeitsplans unterstützt der Klassenlehrer den Gruppenrat.

31 32

SAPMO, DY 25/479, op.cit., unpag. LAB, C REP 903-01-06/348, op.cit., unpag.

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Der Freundschaftspionierleiter nimmt regelmäßig an Hospitationen teil und befolgt hierbei die Grundsätze der Technik des Hospitierens. Schulleiter und Lehrer helfen dem Pionierleiter, sich pädagogisch zu qualifizieren.“33

Die Spannungen zwischen den beiden Akteurskategorien werden in die Instrumentalisierung einer nicht zu unterschätzenden Waffe übersetzt: der Schulinspektionen. Die von der Minderheit der engagierten Lehrkräfte unterstützten Pionierleiter drängen darauf, eine Inspektion ihrer Schule zu erwirken, um bestimmte Kollegen, die sie als zu schlaff empfinden, loszuwerden. Dies jedenfalls ist der Inhalt der Schlussfolgerungen aus einem Gesamtbericht über die politische Haltung der Lehrkräfte in Berlin-Ost am Ende des Schuljahres 1949/1950: „Wir werden in Zukunft in stärkerem Maße als bisher Lehrkräfte ausscheiden, die keinerlei Bereitschaft zeigen, den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen.“34 Über die Oberschulen werden detaillierte Berichte abgefasst, in denen das verwendete Vokabular an politische Säuberungen erinnert: „Es ist unbedingt notwendig, den Oberschulen-Lehrerkörper noch stärker zu reinigen, die junge Kräfte herauszusuchen, sie zu qualifizieren, die Passivität unter den älteren Kollegen zu beseitigen.“35 Diese wiederholten ideologischen Kontrollen erschöpfen viele Lehrkräfte an den Oberschulen: „Der erste Grund für diese notwendige Überprüfung war die immer stärker werdende Beunruhigung der fortschrittlichen Kreise unserer Gesellschaft über den Leistungsstand und die demokratische Entwicklung unserer Oberschulen. Von dieser Notwendigkeit ist aber ein großer Teil unserer Lehrer nicht überzeugt. Sie empfinden diese Überprüfung nicht als Hilfe, sondern als Bevormundung und lästige Spitzel.“36

Die Lehrkräfte reagieren insofern negativ auf die Einmischung der hauptamtlichen Funktionäre der Jugendorganisationen, als sie deren Aktivitäten als Eingriff und Kontrolle der Ausübung ihrer Tätigkeit empfinden. Den Leitern der Pionier- und FDJ-Gruppen fällt es schwer, einen Platz innerhalb der pädagogischen Belegschaft der jeweiligen Schule zu finden: Sie werden von der Mehrheit der Lehrenden verachtet, sie genießen kaum Unterstützung seitens der Schulleitungen und seitens der übergeordneten Stellen ihres Bezirks. Vor Ort begegnen sie Problemen bei der Rekrutierung von Freiwilligen und der Zurückhaltung der Lehrkräfte, die nicht bereit sind, die eigenen außerschulischen Aktivitäten unter ihre Kuratel zu stellen. Parallel zur Frage der hauptamtlichen Funktionäre stellt sich also die nach der Rekrutierung freiwilliger Funktionäre, deren Aufgabe darin besteht, Freizeitaktivi33 34 35 36

LAB, C REP 120/253, Zusammenarbeit zwischen Schule und Pionierorganisation, Pionier­ arbeit an den Schulen, 1950–1952, pag. 160. LAB, C REP 120/2078, op. cit., pag. 18. Ebd., pag. 119. Ebd., pag. 114.

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täten auf der Ebene der Klassen zu organisieren. Den Haupttrupp stellen anfangs die Lehrkräfte, von denen aber nur wenige Engagierte in den Jugendorganisationen tätig sind. Die Mehrzahl der Kollegen hält Distanz oder weigert sich, sich rekrutieren zu lassen. Die Autoren der Berichte von der SED-Basis weisen auf ein im Kern didaktisches Problem bei Lehrkräften hin, die die Funktion von freiwilligen Verantwortlichen für Pioniergruppen ausüben: Sie sind nicht in der Lage, sich außerhalb des Unterrichts in wirkliche politische Erzieher zu verwandeln. Sie führen ihre Pionierzellen, als gäben sie Unterricht. Es wird daher vorgeschlagen, die Rekrutierung auf andere Bevölkerungsgruppen auszudehnen: „Deshalb muß Schluß gemacht werden mit der Praxis, daß Lehrer zugleich Gruppenpionierleiter sind, wie dies auch in der theoretischen Konferenz des DPZI zu den Fragen der Pionierarbeit zum Ausdruck kam. Die geeigneten Gruppenpionierleiter müssen aus der jungen Arbeiterschaft und den geeigneten Schülern der Mittel- und Oberschulen gewonnen werden.“37

Meist geht es aber darum, das mangelnde Engagement seitens der Lehrkräfte auszugleichen: „Zur Verstärkung der Arbeit in den Pioniergruppen ist es erforderlich, schnellstens die Funktion der Gruppenpionierleiter zu besetzen. Dabei gilt es, die Werbung von Gruppenpionierleitern aus den Reihen von jungen Lehrern sowie von Oberschülern zu verstärken. In allen Parteiorganisationen an den Schulen ist zu beraten, welche Kräfte als Gruppenpionierleiter zur Verfügung gestellt werden können.“38

Ab 1952, nach einem Beschluss, der während der 10. Versammlung ihres Zentralrats gefasst wird, rekrutiert die FDJ daher vor allem engagierte und motivierte Oberschüler und Studierende zur Betreuung der Basiszellen der Jungen Pioniere als Gruppenpionierleiter (GPL). Die Rekrutierung der GPL unter jungen Erwachsenen (Lehrkräften und Arbeitern) reicht jedoch nicht aus, um den Bedarf aller Schulen decken zu können. Im Schuljahr 1953/1954 werden 600 Studenten der Institute für Lehrerbildung als GPL angeworben.39 Das Amt wird ihnen als Vervollständigung ihrer Ausbildung angepriesen, als eine Art Praxiserfahrung, die darauf abzielt, ihnen deutlich zu machen, dass jede zukünftige Lehrkraft sich sowohl in den schulischen Bereich als auch in den der Freizeitgestaltung einbringen muss. Solche Ämter fungieren häufig als Ausgangspunkt für eine Funktionärskarriere in den Jugendorganisationen oder der Partei. Diejenigen, die hier positiv auffallen, treten danach in die Kreisleitung der FDJ, dann des Bezirks ein. Die nächste Etappe ist in der Regel der Übergang in eine Laufbahn innerhalb der SED. Allerdings gelingt es den Schul37 38 39

LAB, C REP 903-01-06/348, op. cit., pag. 10. LAB, C REP 903-01-06/355, SED-Kreisleitung Prenzlauer Berg, Berichte über Pionierarbeit und Arbeitsgemeinschaft im Stadtbezirk, Mai 1953–Juni1962, unpag. LAB, C REP 120/153, op. cit., pag. 152.

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behörden und der FDJ nicht, die jungen Arbeiter dazu zu bringen, sich in den außerschulischen Aktivitäten zu engagieren. Dies scheinen die wenigen statistischen Angaben zu bestätigen: Kaum 1 % der jungen Arbeiter in Ostberlin sind GPL. Neben den Jugendorganisationen hält der Betrieb Einzug in das schulische Feld, und zwar in Form der Patenschaftsverträge.

Das System der Patenschaften zwischen den Schulen und den Betrieben Inspiriert von der doppelten edukativen Tradition des Marxismus und einer Reformpädagogik, die auf einer Verbindung zwischen Schule und Arbeitswelt besteht, sowie in einer selbstgewählten Einordnung in die paternalistische Tradition der deutschen Industrie fördert das ostdeutsche Volksbildungsministerium Patenschaften zwischen Schulen und Betrieben. Die Schule ist nur eine von mehreren Institutionen, zu denen die Betriebe Patenschaftsbeziehungen unterhalten (hinzu kommen kulturelle Einrichtungen, Polizei, landwirtschaftliche Kooperativen), aber mit den Schulen sind die Beziehungen am regelmäßigsten. Der Betrieb gilt dem Regime als „Matrix der sozialistischen Welt“,40 als ein grundlegendes Werkzeug zur Vermittlung der Werte der Arbeitswelt an die jungen Generationen. Es gibt einen sehr starken offiziellen Willen, die Entwicklung einer entsprechenden pädagogischen Beziehung herbeizuführen, was im Übrigen spezifisch zu sein scheint für die DDR, die sich innerhalb des Ostblocks als Gesellschaft auszeichnet, die stark auf den Betrieb ausgerichtet ist.41 In Polen beispielsweise gibt es solche Patenschaften zwischen Schulen und Betrieben nicht. Dies erklärt sich durch den Unterschied im Industrialisierungsgrad der beiden Bruderländer und dadurch, dass es in der DDR eine bedeutendere Arbeiter- und paternalistische Tradition gibt.42 Im sozialistischen Deutschland ist der Betrieb ein zentraler Akteur sozialer Umverteilung, und es werden ihm relevante Aufgaben im erzieherischen Bereich übertragen. Auf der ersten Parteikonferenz der SED im Januar 1949 besteht eine der Maßnahmen, die im Rahmen des Zwei-Jahres-Plans festgelegt werden, eben darin, Paten40 41

S. Kott, op. cit., S. 90–99, hier S. 90. E. Droit, „Die ,Arbeiterklasse‘ als Erzieher? Die Beziehung zwischen Schulen und Betrieben in der DDR (1949–1989)“, in: E. Droit/S. Kott (Hg.), Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive, Berlin 2006. 42 M. Mazurek, „ ,Billiger und schneller‘ produzieren – ‚genauer und mehr‘ verarbeiten. Der Alltag in den VEB in der VRP und der DDR Ende der fünfziger Jahre bis Anfang der sechziger Jahre“, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung, 53, n° 4, 2004, S. 525–555, dies., Socjalistyczny zakład pracy. Porównanie fabrycznej codzienności w PRL i w NRD u progu lat sześćdziesiątych, Warszawa 2005.

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schaftsbeziehungen zwischen Schulen und Betrieben zu entwickeln.43 Im November 1950 arbeitet eine Direktive einen Modellvertrag aus, bevor der Volksbildungsminister und der Zentralrat des FDGB am 21. September 1955 einen Beschluss fassen, der diese Praxis endgültig regelt, indem er die Pflichten der beteiligten Parteien genau festlegt. Wie die französische Historikerin Sandrine Kott betont hat, besitzt der Vertrag keine rechtlich bindende Wirkung, sondern stellt sich als „moralische Verpflichtung“44 dar: Die beiden Parteien verpflichten sich zu gegenseitiger Unterstützung in bestimmten, ausdrücklich benannten Bereichen (ideologische, kulturelle, materielle Hilfe). Der Vertrag zwischen Schule und Betrieb sieht ein System von Gabe und Gegengabe vor.45 Der politische und ideologische Druck, der den Betrieben seitens der offiziellen Behörden „aufgedrängt“ wird, geht einher mit einer ökonomischen und sozialen Dimension – materieller und finanzieller Unterstützung –, an der die Schulen stark interessiert sind und die häufig den einzigen Beweggrund für den Vertragsabschluss darstellt. Dabei legen die Autoren des Beschlusses von 1955 weniger Wert auf diese materielle Hilfe – ihr sind nur wenige Zeilen im § 5 gewidmet – als vielmehr auf den ideologischen Input, den die „Arbeiter“ im Rahmen dieser Patenschaften liefern sollen. Das eigentliche Ziel dieser Patenschaften wird am Ende des Vertragstextes erwähnt. Es ist ein doppeltes, gleichzeitig ideologisches und ökonomisches. Das Modell zielt sowohl darauf ab, eine bestimmte soziale Gruppe zu idealisieren, um auf diese Weise das Vertrauen und die Loyalität der Schüler gegenüber dem Regime zu festigen als auch darauf, offizielle Werte zu vermitteln. Auf der einen Seite soll die „Arbeiterklasse“ ein Modell für die jungen Generationen sein und ihnen eine Reihe von Werten vermitteln: Liebe zur Arbeit, Solidarität, den Geschmack des Erfolgs, Disziplin. Das Wort „Arbeit“ bezeichnet nicht nur die Gesamtheit der Tätigkeiten, die zur Herstellung materieller Güter bestimmt sind, sondern auch die Verinnerlichung moralischer Wertvorstellungen. Es bezeichnet ­einen Beitrag zur Entwicklung der „sozialistischen Persönlichkeit“ und zur „Festigung der sozialistischen Gesellschaft“. Diese Bindung an die Arbeit stützt sich auf einen tiefverwurzelten soziokulturellen Faktor: Die protestantische Ethik des Berufs. Dieser von Luther in die deutsche Sprache eingeführte Begriff überlagert die Bedeutungen Berufung und Handwerk und manifestiert so den nicht nur funktionalen, sondern auch heiligen Charakter, der der Erwerbstätigkeit zugemessen wird. In ihrer ab dem 19. Jahrhundert säkularisierten Form wertschätzt diese Ethik die Arbeit als gleichzeitig sozialen und individuellen Identitätsfaktor und feiert ihn sowohl als 43 44 45

Dokumente der SED. Beschlüsse und Erklärungen des Parteivorstandes des Zentralsekretariats und des Politischen Büros, Bd. 2, Berlin (Ost) 1951, S. 204. S. Kott, op. cit., S. 91. Ebd., S. 271–293.

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Integrationsvektor als auch als Quelle innerer Befriedigung.46 Unsere Hypothese ist, dass die DDR dieses Konzept des Berufs auf die Industriearbeit überträgt, obwohl letztere während des gesamten 19. Jahrhunderts in Deutschland ein Synonym für die Dequalifizierung der Arbeit gewesen ist. Parallel zur „Liebe zur Arbeit“ wird die „Liebe zur Arbeiterklasse“ ebenfalls ganz oben auf die Prioritätenliste gesetzt. Diese soll sich unmittelbar in den schulischen Alltag einbringen, um ganz allgemein zur Schaffung der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ beizutragen. Auf der anderen Seite geht es darum, das Interesse der Kinder an den technischen Berufen zu wecken, ihnen den Reiz der Industriearbeit nahezubringen und sie so früh wie möglich auf diese oder jene Branche hin zu orientieren, um eine neue Generation von Facharbeitern heranzuziehen: Die Kinder von heute sind die Arbeiter von morgen. Der Beschluss von 1955 weist dem Betrieb den Status eines vollwertigen edukativen Akteurs zu. Das Regime erwartet von diesem ein Bewusstsein für die Verpflichtung und Verantwortlichkeit gegenüber den jungen Generationen, da die Schule als „Einrichtung der Arbeiterklasse“ verstanden wird. Konkret sind diejenigen, die für die Patenschaft zuständig sind (je nachdem eine bis drei Personen), ordentliche Mitglieder des Pädagogischen Rates und des Elternausschusses. In jedem Quartal legen sie im Rahmen einer Gewerkschaftsversammlung einen Rechenschaftsbericht ab. Darüber hinaus sollen die FDJ-Gruppen des Betriebs die Arbeit der Jungen Pionie­ re an der Schule unterstützen. Freiwillige Arbeiter können sogar die Betreuung von Freizeitgruppen technischen Charakters übernehmen. Auch sind Begegnungen zwischen den Schülern und ehemaligen Arbeitern vorgesehen. L. W., geboren im Jahre 1935, erinnert sich an eine solche Begegnung in den frühen 1950er Jahren, die ihn als Schüler „ideologisch“ geprägt hat: „Die Arbeiterveteranen haben versucht, uns die Gesetzmäßigkeit in der Geschichte zu erklären: Wie ist die Welt aufgebaut, wie hat eine Gesellschaftsordnung objektiv nacheinander die andere abgelöst, warum dann der Feudalismus, der Kapitalismus, warum der Sozialismus kam und danach der Kommunismus. Diese Gesetzmäßigkeit ist für mich … war so tief verwurzelt, war so überzeugend.“47

Diese generationsübergreifenden Diskussionen sollen den Schülern deutlich machen, dass die DDR der Staat des Fortschritts ist, eine Art Ende der Geschichte, der Sieg der Kämpfe der Arbeiterbewegung. Im Austausch gegen das Engagement des Betriebs sollen die Schüler eine Reihe von „Pflichten“ kultureller Art erfüllen: Feiern in den Betrieben anlässlich der Zere­ monien zu Ehren der „Arbeiteraktivisten“ organisieren, Berichte über den Besuch des Betriebs an der Wandzeitung des Betriebs anbringen. Die Jungen Pioniere sollen 46 47

A. Lattard, op. cit. Transkription des Interviews mit L. W. vom 28. April 2004, pag. 2.

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Rentner im Rahmen der Timurhilfe bei ihren Alltagsgeschäften (Einkäufe machen, Kohlen aus dem Keller holen …) unterstützen.48

Die Wirklichkeit der Patenschaften zwischen den Schulen und den Betrieben Die Quellen bestätigen die Existenz einer Patenschaft zwischen dem Kabelwerk Oberspree (KWO) und der 17. Schule im Bezirk Köpenick seit 1949. Leider verfügen wir über keinerlei Informationen was den Inhalt des Vertrags angeht.49 Dieses Modell, das also der normativen Definition vorangeht, erfährt einen raschen und großen Erfolg: Innerhalb von zwei Jahren haben alle Schulen eine, manchmal zwei oder drei Patenbetriebe. In landwirtschaftlichen Gebieten schließen die Schulen entsprechende Verträge mit den landwirtschaftlichen Kooperativen ab.50 Einer Bilanz zufolge, die der Bürgermeister am 15. April 1951 anfertigt, haben fast alle Ostberliner Schulen eine Patenschaft mit einem oder mehreren Betrieben vereinbart; diese befinden sich nicht immer im gleichen Bezirk. Eine Analyse der Art der Betriebe, die Patenschaften über die Schulen vom Prenzlauer Berg übernehmen, zeigt, dass nicht alle Volkseigene Betriebe (VEB) oder Industriebetriebe sind.51 Die Schulen sind mitunter mit Privatunternehmen verbunden (so etwa die 18. Schule im Prenzlauer Berg im Jahre 195452), mit einem Polizeirevier, einem Krankenhaus, einem Theater, einer Zeitung (Neues Deutschland) oder einem Postamt, das heißt an Beschäftigte des tertiären Sektors. Die Kanzlei des Präsidenten hat gar eine Patenschaft über die … Wilhelm-Pieck-Schule in Pankow! Diese Praxis der Patenschaften wird von den Lehrkräften sehr gut aufgenommen. Viele Lehrende sind offen für manuelle Tätigkeiten und den Kontakt mit der Arbeitswelt. Die Reformpädagogik, deren Erbe in der einen oder anderen Form im Lehrkörper noch sehr lebendig ist, empfiehlt ja die Verbindung zwischen der Schule und dem „Leben“, das heißt mit der äußeren Umgebung. Dieser Gedanke ist auch 48 Diese Praxis der Hilfe zwischen den Generationen ist aus der UdSSR importiert worden und bezieht sich auf den jungen Pionier Timur, den Helden eines Kinderromans von ­Arkadij Gajdar (1904–1941), Timur und sein Trupp. 49 Köpenicker Heimatmuseum, 1092.0 Oberschöneweide Schulen, Chronik des Schulwesens, pag. 10. 50 Sm/Do, 09/12/03/04, op.cit., pag. 102. 51 LAB, C REP 120/298, Zusammenarbeit zwischen Schule und Patenbetrieben, 1949–1969, pag. 7–8. 52 LAB, C REP 903-01-06/351, SED Kreisleitung Prenzlauer Berg, Zur politischen und päda­ go­gischen Situation an den Schulen, Februar 1951–Oktober 1962, unpag.

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seit der marxistischen These von der „Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion“53 im kommunistischen edukativen Denken sehr verbreitet. Dagegen sehen es die Lehrenden mit Misstrauen, dass den Vertretern der Betriebe der Status von Erziehern zugewiesen wird. Tabelle 7:  Zahl und Qualität der Patenschaften zwischen Schulen und Betrieben in Berlin-Ost zu Beginn der 1950er Jahre54

Bezirk

Mitte

Mittlere Zahl von Paten­schaften je Schule

3

2

37,5

15

% guter Beziehungen

Treptow Mittlere Zahl von Patenschaften je Schule % guter Beziehungen

1 36

Prenzlauer Berg Friedrichshain 1,2

1,2 16

1

70

Lichtenberg Weißensee 2,3 36

Köpenick

85 Pankow

Berlin

1,5

1,6

40

42

Insgesamt übernehmen 343 Betriebe Patenschaften über 198 Schulen, was einem Mittelwert von fast 1,7 je Schule entspricht. Allerdings ist die Ausfallquote insofern relativ hoch, als nur in etwa 40 % der Fälle gute oder sehr gute Beziehungen zwischen den Schulen und den Betrieben bestehen. Die Verknüpfung dieser beiden Werte zeigt, warum die Schulen sehr daran interessiert sein müssen, mehrere ­„Paten“ oder „Patinnen“ zu gewinnen. Wenn die Betriebe, die eine Patenschaft übernehmen, klein sind, haben sie weder die Zeit noch die Humanressourcen, um sich in den Schulalltag einzubringen. Einige dieser Betriebe laden die Kinder nicht zu sich ein, nehmen nicht an Versammlungen oder Schulfesten teil. Auch aus diesem Grunde haben die Schulen häufig zwei oder drei Partner. Kurz gesagt also: Von den etwa 300 Patenschaften, die für Ostberlin belegt sind, bleiben viele toter Buchstabe. Im Jahre 1955 lenkt ein SED-Funktionär aus Prenzlauer Berg die Aufmerksamkeit seiner Parteileitung auf diese formellen Bindungen zwischen Schule und Betrieb: „So können wir feststellen, daß lediglich zwei Schulen enge Verbindung mit ihrem Betrieb besitzen.“55 Dabei zählt dieser Bezirk 48 schulische Einrichtungen … 53 54 55

K. Marx/F. Engels, Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 482. LAB, C REP 120/298, op. cit. LAB, C REP 903-01-06/348, op. cit., unpag.

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Wenn eine Schule Unterrichtsmaterial oder Geld will, ist sie darauf angewiesen, mehrere Betriebe als Paten zu haben. Ihren Chroniken zufolge sind die 8. und 9. Schule des Bezirks Mitte in den frühen 1950er Jahren mit sechs Betrieben verbunden.56 E. M., in den 1950er Jahren eine junge Lehrerin in einer Schule in Weißensee, erinnert sich an die materielle Dimension dieser Patenschaften und betont das Interesse daran, mehrere Verträge abzuschließen: „Na klar, je mehr man hatte, desto besser war es. Na, erstmal war es aufgrund der materiellen Seite. Jeder Betrieb hatte Geld in seinem Kulturfonds und die Schule hatte einen bestimmten Prozentsatz für die Partnerarbeit. Man konnte dort hingehen und sagen „Mein Gott, wir brauchen einen neuen Dia-Projektor“, ja, und andere Lehrmittel. Wir konnten natürlich Materialen vom Ministerium bekommen. Ja natürlich, wir konnten aber auch etwas Zusätzliches von dem Betrieb haben. Während einer langen Zeit hatten wir die Regierungsküche als Patenbetrieb, und das war unheimlich lukrativ! Vom Essen her natürlich!“57

Die Äußerung dieser Lehrerin zeigt uns, dass der Patenschaftsvertrag ein Mittel ist, um konkrete, alltägliche materielle Probleme meistern zu können, mit denen die Schulen konfrontiert sind. Mangels materieller Hilfe im Rahmen einer Planwirtschaft, die sich auf die Schwerindustrie konzentriert, greifen die Lehrkräfte auf ­lokale Akteure außerhalb des Erziehungsbereichs zurück. Die sozialen Beziehungen zwischen den Schulen und den Betrieben beziehen sich in der Regel auf drei Bereiche: den materiellen, den finanziellen und den kulturellen. Die materielle Ebene ist für die Schulen in den frühen 1950er Jahren äußerst wertvoll, weil sie kaum über Mittel für den Wiederaufbau und die Einrichtung ihrer Gebäude und Klassenzimmer verfügen. Je nach seiner Natur, seinen Mög­lichkeiten hinsichtlich der Zeit und der Arbeitskräfte versucht jeder Betrieb, die Deckung des Alltagsbedarfs der Schule, deren Patenschaft er übernommen hat, zu verbessern. Eine Tischlerei hat die Fenster, Schränke, Türen und Bänke in den Klassenzimmern der 16. Schule in Hohenschönhausen repariert: Nicht weniger als 25 bis 30 Arbeiter sind an zwei aufeinanderfolgenden Sonntagen im Februar 1951 dafür gekommen.58 Das RTF-Funkwerk schenkt im April 1951 zwei Schulen in Köpenick Messinstrumente für den Physikunterricht.59 Mitunter geht die materielle Hilfe ausschließlich an die Pioniergruppen, die an der Schule eingerichtet wurden. Phonetika, ein auf radiotelefonisches Material spezialisiertes Unternehmen, installiert im Februar 1951 eine Telefonleitung für eine Schule in Weißensee und schenkt den dortigen 56 Chronik der 8. Volksschule in Mitte (1949–1965); Chronik der 9. Volksschule von Mitte (1949–1964). 57 Transkription des Interviews mit E. M. vom 15. Juli 2003, pag. 6–7. 58 LAB, C REP 120/298, op. cit., pag. 25. 59 Ebd., pag. 14.

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Jungen Pionieren ein Radio.60 Diese Geste soll die besondere Beziehung zwischen dem Betrieb und den Basiszellen der sozialistischen Jugendorganisationen deutlich machen. Auf der einen Seite zeigt der Betrieb, welche Bedeutung er der Pionierorganisation beimisst. Auf der anderen Seite kann diese Situation der Privilegierung dazu beitragen, die Rekrutierung neuer Mitglieder zu erleichtern. Auch die finanzielle Hilfe wird intensiv entwickelt. Sie ersetzt die materielle ­Hilfe da, wo der Betrieb mangels Zeit oder Motivation nicht konkret intervenieren kann. Diese Spendenzahlungen erlauben es den Schulen häufig, Exkursionen oder den Ankauf von Büchern für die Bibliotheken zu finanzieren. Die kulturelle Dimension hat einen doppelten Sinn. Auf der einen Seite delegieren die Betriebe Angestellte (meist Vorarbeiter anstelle von Arbeitern), um die außerschulischen Freizeitaktivitäten technischen und wissenschaftlichen Charakters zu betreuen. Ein Bericht erwähnt im Bezirk Friedrichshain eine in dieser Hinsicht sehr dynamische Patenschaft zwischen der 23. Schule und dem RAW.61 Der Betrieb stellt zwei Freiwillige zur Betreuung der jungen Modellbauer und der jungen Techniker ab. Er hilft auch bei der Aufstellung der Fußball- und Handballmannschaften.62 Insgesamt jedoch bringen sich die Beschäftigten der Betriebe wenig in diese Betreuung ein, da es ihnen an Zeit und Motivation fehlt. Umgekehrt organisieren die Schüler zu verschiedenen Gelegenheiten im Kontext des sozialistischen Kalenders kulturelle Feste in den Betrieben. In der Förderung dieser Patenschaften hofft das ostdeutsche Regime vor allem darauf, die „Arbeiterklasse“ für die ideologische und politische Arbeit zu gewinnen. Es will aus den „Arbeitern“ Pädagogen machen, die in der Lage sind, Einfluss auf die Kinder zu nehmen. Genau deshalb fordern die Schulbehörden in ihren Direktiven die Betriebsangehörigen dazu auf, an den pädagogischen Konferenzen teilzunehmen, Vorträge über sowjetische Pädagogik zu besuchen, an den Unterrichtsstunden teilzunehmen – nach der FDGB-Parole „Der Betrieb eine Stunde täglich in die Schule“.63 Regelmäßig beklagen die Berichte über die Patenschaftsbeziehungen das „mangelnde ideologische Engagement“ der Betriebe. Die örtlichen Schulbehörden wünschen sich eine größere Präsenz, insbesondere zur Orientierung der Jugend auf die jeweiligen Berufe: Metallverarbeitung für die Mädchen, Schwermaschinenbau für die Jungs. Sie rufen die Bedeutung der Betriebsbesuche in Erinnerung, mit denen die Furcht der Kinder vor manuellen Berufen überwunden und die Neugier für oder das Interesse an der Technik geweckt werden soll. Diese politische Betreuung 60 Ebd., pag. 24. 61 Das Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) ist eines der ältesten Unternehmen Friedrichshains und wurde 1867 gegründet. Die Angestellten sind mit der Pflege und Wartung der Lokomotiven und Waggons befasst. 62 LAB, C REP 120/298, op. cit., pag. 21. 63 Ebd., pag. 6.

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fehlt die meiste Zeit über, wenn der Pate ein Industriebetrieb ist. Die Schichtarbeit in vielen Fabriken bietet kaum Möglichkeiten, freie Zeit für die Praxis solcher Patenschaften zu schaffen. Dagegen zeigen die Quellen großes Engagement der Polizeiwachen in diesem Bereich: Man sieht sie regelmäßig in die Klassen gehen, wo sie von ihrem Beruf berichten, Fragen der aktuellen Politik diskutieren. Es wird auch bemerkt, dass es persönliche Beziehungen zwischen Schülern und produktiven Arbeitern in Wirklichkeit praktisch nicht gibt. Die Patenschaft ist also nicht das Mittel, mit dem dieses in den Augen der Autoritäten so wichtige Band der Gemeinschaft geknüpft wird. Mitunter kommen Arbeiter in den Unterricht, um dort ihren Beruf vorzustellen; im Prinzip beschränken sich der Kontakt und die Zusammenkünfte jedoch auf die Direktionen. Ungeachtet des Begriffs „Arbeiterklasse“, der in den offiziellen Texten verwendet wird, sind es in erster Linie die Vorarbeiter, die in die Schulen geschickt werden, und nur selten die einfachen Arbeiter. Da, wo das Patenschaftsverhältnis funktioniert, tut es dies häufig nur in einer Richtung. Diese asymmetrische Situation erschöpft diejenigen Betriebe, die sich in besonderem Maße dabei engagieren. In einem Bericht, der auf den 9. Februar 1951 datiert ist, beklagt das Unternehmen Schering, das mit der Oberschule von BerlinAdlershof verbunden ist, den Umstand, dass man nicht immer die Texte der Schüler über die Besuche des Betriebs erhalten hat. Man ist davon um so mehr enttäuscht, als Preise für jede Abhandlung ausgelobt wurden.64 Seit den 1950er Jahren beruht der reale Erfolg der Patenschaftsverträge also auf ihrer ökonomischen und sozialen Dimension, womit gleichzeitig die erzieherische Rolle der Betriebe beschränkt bleibt. Im Januar 1955 zieht die Schulaufsicht des Bezirks Pankow Bilanz über die Beziehungen zwischen Schulen und Betrieben; der Autor legt den Akzent auf den Umstand, dass der ideologische Aspekt des Vertrags von den Betrieben häufig mangels Zeit und Willen fallen gelassen wird: „Mit Ausnahme der 15. Schule haben alle Schulen einen Patenbetrieb. Die ideologische Hilfe seitens des Patenbetriebs trat bisher nur an der 13. und an der 16. Schule in Erscheinung. Stärker ist die materielle Hilfe, die sich in Zuschüsse, Übernahme kleinerer Arbei­ ten, Weihnachtsausgaben an Kinder und Bereitstellung von Ferienplätzen ausdrückt. Die Hilfe der Schule bestand vorwiegend in der Mitarbeit bei der Ausgestaltung von Betriebsfeiern.“65

Neben den privilegierten Beziehungen zwischen Schule und Betrieb betrachtet das Regime die Massenorganisationen als unverzichtbare Erziehungspartner der schulischen Einrichtung. Vor Ort allerdings sind deren Basisstrukturen praktisch nicht sichtbar. Mit Ausnahme der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft

64 65

Ebd., pag. 16. LAB, C REP 149-13/2, op. cit., unpag.

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(DSF)66 sind die übrigen Massenorganisationen wie die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) im schulischen Feld abwesend. Die GST wird tatsächlich erst ab den 1960er Jahren im Rahmen der zunehmenden Militarisierung der Erziehung aktiv. Ab den frühen 1950er Jahren errichtet die SED um die Schule herum ein Netzwerk von Institutionen, denen sie eine erzieherische Funktion anvertraut. Der Betrieb und die Jugendorganisationen sind die beiden wichtigsten neuen institutionellen Akteure in der Schule. Beide haben eine pädagogische, politische und ideologische Mission zu erfüllen, so dass sich gut von einer Teilung der edukativen Kompetenzen sprechen lässt. Die Schule findet sich eingegliedert in ein Betreuungsnetz, das alle Kräfte der Gesellschaft mobilisieren soll, allerdings haben Massenorganisationen wie die DSF Probleme, ihren Platz zu finden. Im gleichen Zeitraum geht die „Revolution“ des schulischen Feldes einher mit einer symbolischen Transformation des räumlichen und zeitlichen Rahmens der Schule.

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K. Kuhn, „Wer mit der Sowjetunion verbunden ist, gehört zu den Siegern der Geschichte.“ Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft im Spannungsfeld von Moskau und Ostberlin, Phil. Diss., Universität Mannheim 2002.

Kapitel V Die symbolischen Transformationen des schulischen Raumes

Die Schule sollte nicht lediglich als eine Institution gesehen werden, an der verschiedene soziale Akteure (Lehrkörper, Eltern, Schüler) in unterschiedlichem Maße beteiligt sind. Es ist vielmehr unabdingbar, die Schule auch in ihrer materiellen Dimen­sion zu begreifen, das heißt im räumlichen Kontext: den Gebäuden, der Aula, den Klassenzimmern … Tatsächlich drückt sich die Konstruktion der sozialistischen Schule zu Beginn der 1950er Jahre auch in einer Reihe symbolischer Transformationen der Schulräume aus.

Die neue schulische Toponymie Der Zusammenbruch des Dritten Reiches im Jahre 1945 wird unmittelbar begleitet von einer neuen Symbolpolitik im Inneren der Institution Schule. Die Neubenennung von Schulen gehört dabei in den Zusammenhang eines Prozesses, der zu allen Zeiten jeden politischen Regimewechsel begleitet hat und der sich auch in der Umbenennung von Straßen wiederfindet. Sein Ziel besteht darin, zum einen einen starken symbolischen Bruch zum Ausdruck zu bringen, zum anderen bei den Schülern ein neues politisches Bewusstsein zu wecken.1 Die Schule bildet so eine Stütze für ein öffentliches Gedächtnis, das – da es weder erlebt wurde noch geteilt wird – in der Lebenswelt der folgenden Generationen verankert werden soll. Sie ist in gewisser Weise ein Palimpsest, auf dem ein neues kulturelles Gedächtnis aufgeschrieben wird, das die für die Erziehungspolitik zuständigen Leitungssorgane in der schulischen Alltagslandschaft installieren und unter den Lernenden verbreiten wollen. In einer ersten Phase während der Jahre 1945–1949 zielen Namensänderungen bei den Schulen offensichtlich darauf, die Spuren der nazistischen Vergangenheit zu beseitigen, ohne sofort und um jeden Preis eine neue sozialistische Identität fest-

1

M. Azaryahu, „Street Names and Political Identity: The Case of East Berlin“, in: Journal of Contemporary History, 21, N° 26, 1986, S. 581–604; ders., Vom Wilhelmplatz zu Thälmann­platz. Politische Symbole im öffentlichen Leben der DDR, Gerlingen 1991. Eine Position aus künstlerischer Perspektive bietet Sophie Calle, Souvernis de Berlin-Est, Arles 1999.

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legen zu wollen.2 In den meisten Fällen werden relativ neutrale Namen gewählt: Die städtischen Behörden vergeben sehr oft einfach Nummern oder stellen den vor 1933 bestehenden Namen wieder her. In Ost-Berlin wird die Goebbels-Schule wieder zum Gymnasium an der Parkwiese. Die nach Cosima Wagner benannte Anstalt wird wie früher zur Mädchenschule, bevor sie dann 1946 nach der berühmten Künstlerin Käthe Kollwitz benannt wird. Die von den Kommunisten dominierten städtischen Schulbehörden ziehen ab 1945/1946 vor allem den deutschen Pantheon der Wissenschaftler und Künstler heran, mitunter kommen ausländische Persönlichkeiten hinzu. So wird das Jungengymnasium im Bezirk Berlin-Mitte 1947 zum Max-Planck-Gymnasium, auf einen Vorschlag der Behörden hin, der die persönliche Zustimmung des Wissenschaftlers erhalten hat. Im Prenzlauer Berg tragen die beiden höheren Schulen die Namen Pasteur und Schinkel. Der Verweis auf den berühmten Biologen des 19. Jahrhunderts symbolisiert den Fortschritt für die Menschheit; seine französische Herkunft bindet ihn gleichzeitig an das Land der Revolution von 1789. In Pankow werden die Schulen nach Liszt beziehungsweise nach Carl von Ossietzky benannt, in Treptow werden mit Hans Sachs und Theodor Fontane zwei Schriftsteller als Namenspatrone gewählt. Entsprechende Initiativen kommen nicht immer nur von den städtischen Schulbehörden, sondern ebenso aus den Schulen, wo Schulleitung und Lehrkörper Vorschläge machen, die dann von den Behörden begutachtet werden. Erst ab 1949/1950 werden die Namen der Schulen zu einem Element der Verankerung einer sozialistischen Identität. Ab diesem Zeitpunkt haben bestimmte Initiativen keine Chancen auf Genehmigung mehr. So will das Andreas-Gymnasium in Friedrichshain den Namen Gustav Stresemanns annehmen, weil dieser dort zur Schule gegangen ist. Aber dies ist im Jahre 1950 bereits nicht mehr möglich, und die Anstalt firmiert schließlich als 7. Schule. Tatsächlich löst die Gründung der DDR ab dem Beginn der 1950er Jahre eine regelrechte Welle von Umbenennungen aus. Diese Welle erfasst in erster Linie die höheren Schulen, wohingegen die Grundschulen meistenteils eine Nummer als Bezeichnung behalten. Der Vorrang, der hier den Sekundar­schulen eingeräumt wird, zeugt von der Absicht, zunächst einmal diejenigen Schulen in den Griff zu bekommen, die theoretisch von den privilegierten Bevölkerungsschichten frequentiert werden. Der neue Staat bedient sich der Namen der Schulen, um die politischen Prinzipien festzuschreiben, die er im Inneren des Schulsystems verbreiten will. Der politisch-ideologische Einsatz ist für das neue Regime sehr hoch, da diese Namen darauf abzielen, im Alltag eine symbolische sozialistische Umgebung zu schaffen, die die jungen Generationen prägen soll. Diese Politik ist eine Form, in der ein sozialistisches Gedächtnis verankert werden 2

LAB, C REP 120/231, Zusammenlegung, Umbenennung und Namensverleihung von Schulen, 1945–1962, unpaginiert.

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soll. Sie entfaltet sich in kleinen Schritten: Im März 1950 nimmt das Gymnasium in ­Treptow den Namen Klement Gottwalds, des Vorsitzenden der tschechoslowakischen Kommunisten, an, die 1. Schule in Pankow den des ersten Präsidenten der DDR. Im Mai 1950 folgt die 1. Schule in Weißensee mit der Benennung nach ­Johannes R.  Becher.3 1951 gibt Maksim Gorki seinen Namen einer Lehranstalt im Bezirk Lichtenberg. 1953 benennt sich die 2. Schule in Mitte nach ­Georgij ­Dimitrow, erst 1957 wird die 3. Schule in Treptow zur Clara-Zetkin-Schule. Während der gleichen Zeit erscheint die Namenswahl in einigen Fällen überraschend und zeugt trotz des beginnenden Kalten Kriegs und trotz der intensiven Politisierung der Schule von einer gewissen relativen Freiheit. So benennt sich im März 1950 die 26. Schule im Prenzlauer Berg nach Hans und Sophie Scholl. Diese Benennung verweist, auch wenn sie isoliert auftritt, darauf, dass der Pantheon des deutschen antifaschistischen Widerstands nicht nur kommunistische Heroen aufzunehmen versteht. Diese Namensänderungen sind nicht nur Entscheidungen im Sinne einer symbolischen Politik, die von oben kommt und den Akteuren innerhalb der betreffenden schulischen Einrichtung ohne weiteres aufoktroyiert würde. Tatsächlich ist die Verleihung des Namens immer mit einer Mobilisierungskampagne verknüpft und zieht eine ganze Reihe von Bemühungen nach sich, die die Schulleitung, der Lehrkörper und die Schüler anstrengen. Häufig wird der Name am Ende einer Rekrutierungskampagne für die Jungen Pioniere und die FDJ vergeben und folgt einer Selbstverpflichtung der Schüler, disziplinierter zu sein, bessere Noten zu bringen und sich stärker in sozialpolitische Aktivitäten einzubringen. Kurz gesagt: Die Schule muss sich ihren neuen Namen erst verdienen und sich um ihn bemühen. Indem auf solche Weise die Schüler und das Lehrpersonal mobilisiert werden, soll – so hoffen es die Behörden – eine Bindung an das sozialistische Projekt entstehen und eine sozialistische Identität von unten geschaffen werden. Die deutschen und ausländischen sozialistischen Persönlichkeiten, die ihren Namen für eine Schule geben, sollen Vorbilder für das Verhalten abgeben, Helden, die die Werte des Sozialismus verkörpern. Sie bilden das, was die Historikerin Silke Satjukow „Kondensate der idealen Gesellschaft“ genannt hat.4 Die Welle der Sozialisierung der schulischen Toponymie weitet sich in den sechziger und siebziger Jahren auf die Grundschulen aus, wobei gleichzeitig das Namensrepertoire auf den Bereich des proletarischen Internationalismus (Ho-Chi Minh) ausgedehnt wird. Diese Namenszuweisungen 3 4

Johannes R. Becher (1891–1958) war ein deutscher Schriftsteller und Kommunist. Er ist unter anderem bekannt als Dichter der Nationalhymne der DDR und als erster Kulturminister zwischen 1954 und 1958. S. Satjukow/R. Gries (Hg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und Berlin, Berlin 2002.

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markieren nicht nur den Erfolg eines Engagements, sondern darüber hinaus den Beginn einer Erziehung hin zum kommunistischen Gedächtnis. Dieses Ziel wird zum Beginn der sechziger Jahre von den Ostberliner Schulbehörden nochmals in Erinnerung gerufen: „Die Namensgebung ist ja nicht der Abschluss, sondern ein erster Abschnitt in der Pflege und Bewahrung der revolutionären Traditionen.“5 Diese symbolische Transformation umfasst im Verlaufe der fünfziger Jahre auch die innere Gestaltung der Schulgebäude.

Die Inneneinrichtung der Schulen Der Aufbau der sozialistischen Schule beschränkt sich nicht auf die Ideologisierung der Inhalte der Unterrichtsfächer und die Durchsetzung einer neuen Toponymie. Er zeichnet sich außerdem aus durch einen sehr spürbaren Gestaltungswillen hinsichtlich der Inneneinrichtung der Gebäude, von der Gestaltung der Eingänge zu den Aulen über die Flure bis hin zu den Klassenzimmern. Besondere Sorgfalt gilt der Dekoration der verschiedenen Schulsäle mit Porträts und Transparenten, auf denen Parolen angebracht werden. Die Behörden messen dieser Dekorierung die größte Bedeutung zu, weil sie von den Schülern und Schülerinnen selbst unter Anleitung ihrer Lehrer beziehungsweise der Funktionäre der Jugendorganisationen hergestellt und angebracht wird. Die Inneneinrichtung ist eine Möglichkeit, alle Akteure der schulischen Welt zu mobilisieren. Dieser Punkt ist den ostdeutschen Behörden äußerst wichtig. Als Beleg dafür stehen etwa die zahlreichen Inspektionsberichte zur Verfügung, die von den Funktionären der Ostberliner Schulaufsichtsbehörden angefertigt werden und die immer einen Abschnitt über die „materielle Lage“ enthalten. In diesem Abschnitt wird die Ausstattung der Klassenzimmer detailliert beschrieben und ausgewertet. Die zielgerichtete Politik, auf die das Regime seine Hoffnungen setzt, wird in den einzelnen Lehranstalten offensichtlich nicht immer mit dem gleichen Eifer umgesetzt. Die Angaben in den Berichten werden daher dazu genutzt, diejenigen Schulleiter zur Ordnung zu rufen, die sich durch eine gewisse Nachlässigkeit auszeichnen. Das pädagogische Potential der Inneneinrichtung von Schulen und insbesondere der Wände ist nicht erst von unseren modernen Gesellschaften entdeckt worden.6 Es war vielmehr bereits seit der Renaissance bekannt; die ersten Hinweise darauf finden wir in dem philosophischen Traktat La città del Sole von Tommaso Campanella. In dieser Vision einer idealen Republik beschreibt er, wie die Kinder lernen, 5 6

LAB, C REP 120/*231, op. cit., unpaginiert. M. Göhlich, Die pädagogische Umgebung. Eine Geschichte des Schulraumes seit dem Mittelalter, Weinheim 1993.

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indem sie bis zum Abschluss des 10. Lebensjahres an den Stadtmauern entlangspazieren, auf denen verschiedene Wissensgegenstände bildlich dargestellt sind.7 In der Neuzeit wird den Wänden der Klassenzimmer die Funktion eines „stummen Lehrers“ zugewiesen, indem dort Moralregeln aus der Bibel angebracht werden.8 Das Anbringen von Porträts oder Büsten der politischen Führer sowie von Fahnen geht auf das 19. Jahrhundert zurück und gehört in den Bereich der langwierigen Konstruktion der Nation. Unter dem Dritten Reich gehört das Porträt A ­ dolf ­Hitlers und das Hakenkreuz zur Dekoration der Schulaulen und Festsäle. Die DDR erreicht allerdings insofern eine weitere Stufe, als solche Porträts sowie politische Losungen anders als während des NS-Regimes systematisch in jedem Klassenzimmer vorhanden sein sollen. Es ist gerade für eine Analyse der Inneneinrichtungen der Schulen von be­ sonderem Interesse, Fotografien heranzuziehen, da man sich so den Stellenwert der sozialistischen Symbolpolitik im Inneren der Schulgebäude fast unmittelbar vor Augen führen kann. Mit Blick auf das Schuljahr 1950/51 gibt das Ministerium für Volksbildung im Juni 1950 eine Anweisung heraus, derzufolge „die Ausgestaltung des Schulhauses […] ein Zeichen [ist] für den Geist, der in der Schule herrscht. Bei der Liebe, die die deutsche Jugend dem Präsidenten Wilhelm Pieck entgegenbringt, gehört sein Bild in jede Schule. Losungen und Wandsprüche sowie Gebote der Jungen Pioniere dienen in künstlerischer Form als Wandschmuck.“9 Dieses Schriftstück, in dem das Wort „Liebe“ verwendet wird, unterstreicht die emotionale Bindung, die die Behörden zwischen dem Staat, den W. Pieck verkörpert, und der Jugend herstellen wollen. Die Protokolle der Lehrerkonferenzen der 5. Volksschule in Mitte betonen im Februar 1951, dass jedes Klassenzimmer künftig mit einem Bild der Präsidenten der DDR ausgestattet werden wird.10 Ein Abzug von 1956 aus der Chronik der 8. Schule Berlin-Mitte bildet eine Aufführung ab, die von siebenjährigen Schülerinnen zu Ehren ihrer jungen Klassenkameraden ausgerichtet wird, als diese zum ersten Mal die schulische Welt entdecken. Zwölf als Bäuerinnen gekleidete kleine Mädchen führen auf einer Bühne einen folkloristischen Gruppentanz auf. In der Mitte der Rückwand des Festsaals hängt das Porträt Piecks, eingerahmt von Fahnen, die die sportlichen Leistungen der Einrichtung dokumentieren. Pieck soll so vom ersten Schultag an ein Element des Alltags dieser Kinder werden, eine Schlüsselfigur zur Identifizierung des neuen Regimes. Es ist kein Zufall, dass die Person des Präsi  7   8

T. Campanella, Die Sonnenstadt, Stuttgart 2008. U. Mietzner/U. Pylarczyk, „Die erzieherische Funktion von Wandlosungen in Schulräumen der fünfziger Jahre in der DDR“, in: S. Häder/H.-E. Tenorth (Hg.), op. cit., S. 383–399.   9 BA, DR 2/1 260, 3. Entwurf zur Durchführung des Schuljahres 1950/1951 des Ministeriums für Volksbildung, 15. Juni 1950, unpag.  10 LAB, C REP 131-13/40, 5. Volksschule Berlin-Mitte. Konferenzprotokolle, 1949–1951, unpag. 

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Abb. 3  Aufführung zum Schulbeginn an der 8. Schule Berlin-Mitte

denten der DDR hier in den Vordergrund geschoben wird. Anders als der General­ sekretär der SED, Walter Ulbricht, verkörpert Pieck durch seine Gutmütigkeit und seine weißen Haare den gütigen und freundlichen Großvater. Vermittelt über diese beruhigende und schützende Gestalt will das Regime die erwähnte emotionale Bindung begründen.11 Allerdings beklagen zahlreiche Berichterstatter kahle Mauern ohne politische Dekoration in den inspizierten Schulen. Sie interpretieren dies als offensichtliches Zeichen dafür, dass sich der Lehrkörper und die Schulleitung zu wenig engagieren. Das erhellendste Beispiel ist sicherlich die Wilhelm-Pieck-Oberschule im Prenzlauer Berg, die als sozialistische Musterschule gilt. Der Inspektionsbericht von Januar 1953 lässt die ungeheure Enttäuschung des Autors über die symbolische Gestaltung der Klassenzimmer in dieser Anstalt durchscheinen: „Hier zeigen sich völlig kahle Wände in einigen Klassen. Nur selten ist ein Bild unseres Präsidenten, dessen Name diese Schule trägt, angebracht. […] Über die Ausgestaltung der Räume wäre noch zu sagen, daß wenn Bilder vorhanden, sie lieblos und unordentlich angebracht sind. So stand z. B. eine Originalaufnahme unseres Präsidenten im Kreise von Schülern auf den Garderobenhaken.“12

11 12

D. Wierling, „Über die Liebe zum Staat – der Fall der DDR, in: Historische Anthropologie Nr. 8, 2000, S. 236–263. LAB, C REP 120/1 940, Wilhelm-Pieck-Oberschule, 1950–1953, pag. 273.

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Andererseits versäumen es die Beamten der Aufsichtsbehörden auch nicht, Erfolge wie in einer Schule in Friedrichshain13 oder im Klement-Gottwald-Gymnasium in Treptow hervorzuheben: Die Ausgestaltung in den Gängen und in den Klassen hat zum Mittelpunkt den Präsidenten der tschechoslowakischen Republik. Im Erdgeschoß wurde die Ausgestaltung mit den zur Verfügung stehenden Mitteln sehr geschmackvoll vorgenommen. Ein gutes Beispiel für die Ausgestaltung einer Klasse gibt die Klasse 12b3. Aber noch nicht alle Klassen zeigen guten Geschmack bei der Ausgestaltung. Im Pädagogischen Rat werden die Klassenleiter aufgefordert, die Ausgestaltung ihrer Klasse noch einmal kritisch zu überprüfen.“14

Insgesamt aber müssen wir feststellen, dass diese zielgerichtete symbolische Politik bei den Schulen auf ein eher geringes Echo trifft. Der Grund sind zunächst einmal in den meisten Fällen materielle Sachzwänge. Zu Beginn der fünfziger Jahre behandeln viele Schulen noch die Wunden, die ihnen der Krieg geschlagen hat. Die Wände der Klassenzimmer sind häufig in schlechtem Zustand. Viele Aulen sind, da schmutzig oder von Feuchtigkeit beschädigt, kaum zu benützen. Sie bedürfen oft einer Renovierung; die Unternehmen, die diese Arbeiten übernehmen, führen diese aber nur aus, sofern sie Lust oder Zeit dazu haben. Aber auch da, wo die Gebäude renoviert worden sind, lässt die Gestaltung der Wände häufig zu wünschen übrig – was sich wiederum auch durch die Auffassung erklärt, die die Lehrenden von ihrem Beruf haben.15 Trotz der starken Erneuerung in dieser sozioprofessionellen Gruppe sind viele Lehrende empfänglich für eine neutralistische Tradition, derzufolge die Schule ein reiner Tempel des Wissens sei. Wenn viele Lehrende einen gewissen Unwillen verspüren lassen, solche Gestaltungsarbeiten einzuleiten, so liegt das daran, dass sie den unpolitischen Charakter der Schule und ihrer Aufgaben hochhalten. Mit anderen Worten: Sie verweigern sich der Absicht, die Schule zu einem Ort der Politisierung zu machen. Viele Lehrende fühlen sich jener Position verpflichtet, die vor dem Krieg von Pädagogen wie Theodor Litt formuliert wurde: „Der Erzieher dürfte sich nicht in einen Politiker verwandeln.“16 Die offiziellen Fotografien erlauben eine recht gute optische Vorstellung von der idealen symbolischen Ausstattung eines Klassenzimmers, da gerade sie jene Realität zeigen, die vom Regime gewünscht wird. Das Foto stammt aus dem Archiv des Heimatmuseums vom Prenzlauer Berg. Autor und Aufnahmedatum sind nicht angegeben, aber die Beschreibung des Bildes sagt, es werde eine Unterrichtsstunde in einer

13 14 15 16

BA, DR 2/1 196, Inspektionen von Berliner Schulen, 1953, pag. 36. LAB, C REP 120/2346, Klemens-Gottwald-Schule Berlin-Treptow, 1953, pag. 6. BA, DR 2/1 196, op. cit., pag. 4 und 8. D. Benner/H. Sladek, op. cit., S. 61–88.

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Abb. 4  Unterrichtsstunde in einer Schule des Bezirks Prenzlauer Berg in Berlin-Ost in den­ ­fünfziger Jahren

Schule des Bezirks Prenzlauer Berg in den fünfziger Jahren wiedergegeben.17 Es wird weiter betont, dass die Disziplin in dieser Klasse ausgezeichnet sei und die Stunde vom Lehrer sehr kompetent geleitet werde. Dieses Foto ist für eine Veröffentlichung vorgesehen, da es Eigentum des Berlin-Verlags ist. Zu sehen ist ein Teil eines Klassenzimmers, in dem Schülerinnen und Schüler von etwa 15 Jahren zu zweit in Reihen sitzen. Es lassen sich drei Tischreihen ausmachen sowie an der Rückwand eine schwarz-rot-goldene Fahne, die nicht ganz entfaltet ist; ansonsten hätte sie die Losung verdeckt, die auf der Wand angebracht ist: „… den Sozialismus“. Aus diesem Grunde sieht man Hammer, Kompass und Ährenkranz nicht, die zur DDR-Flagge gehören. Die Losung wurde wahrscheinlich von den Schülern selbst in moderner Druckschrift gemalt oder eher geklebt. Den nichtprofessionellen Charakter der Arbeit verrät die Einrichtung der Buchstaben in „Sozialismus“: Einige Buchstaben, wie das Z und das L, sind schief. Rechts von der Losung, auf der Höhe der Flagge, befindet sich ein Porträt Otto Grotewohls, unter dem ein Blumenstrauß angebracht wurde. Die Eingangstür zum Klassenzimmer dürfte sich links von den Tischreihen befinden, und es ist unwahrscheinlich, dass es 17

PBM F-8425, Unterrichtsstunde in einer Schule, Prenzlauer Berg, 50er Jahre.

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eine vierte Reihe gab. Das Foto ist von erhöhter Stellung aus gemacht, vermutlich hat sich der Fotograf auf einem Podest befunden, womöglich neben dem Tisch des Lehrers. Wenig erfährt man über den Unterricht selbst: Die meisten Schüler blicken zum Lehrer. Nicht alle haben ihre Hände auf dem Tisch. Einige legen die Hände auf die Knie oder nehmen eine entspanntere Haltung ein, indem sie sich auf die Stuhllehne stützen. Nichts Überflüssiges findet sich auf den Tischen. Die Absicht des Fotografen ist es also nicht, zu zeigen, wie diszipliniert die Schüler sind, obwohl Disziplin in der DDR einen zentralen pädagogischen Wert darstellt. Der Blick des Betrachters wird auf den dritten Tisch in der mittleren Reihe gelenkt: Die beiden Kinder dort richten ihren Blick auf den Lehrer. Unser Interesse hingegen richtet sich auf die Inneneinrichtung des Raumes: die Flagge, die Losung und das Porträt. Die Nähe von Flagge und Losung ist nicht beliebig: Sie symbolisiert eine gleichzeitig sozialistische und patriotische Erziehung der Schüler. Die Anwesenheit der Flagge ist insofern von entscheidender Bedeutung, als sie auf das offizielle Ziel der SED hindeutet, auf das die Bevölkerung der DDR verpflichtet wird, nämlich auf die Wiedervereinigung Deutschlands. Das Porträt Otto Grotewohls hängt gegenüber dem Lehrer, der sich in dem Gang befindet, wo das Porträt angebracht ist. Es entsteht damit eine Art symbolischer Verbindung zwischen Grotewohl und dem jungen Lehrer, der als Schaltstelle für die offizielle Politik in der Schule fungieren soll. Die Absicht des Fotografen, Porträt und Lehrer in einen Zusammenhang zu bringen, ist kaum zu bezweifeln. Die zentrale Stellung der Losung ist ersichtlich, aber die Schüler kehren ihr den Rücken zu. Sie sehen die Losung nur, wenn sie das Klassenzimmer betreten. Aber gleichzeitig füllt diese Dekoration den Raum aus, gibt ihm eine bestimmte Atmosphäre, die geeignet ist, die über die einzelnen Unterrichtsfächern vermittelte Ideologie zu verstärken. Der Wandschmuck ist Bestandteil der sozialistischen Ordnung, die die Schüler in ihrer Alltagswelt begleiten soll. Es ist praktisch unmöglich, die Wirksamkeit dieser Symbolpolitik auf die Schülerinnen und Schüler zu bemessen. Sicher ist nur: Die Schüler entgehen ihr nicht. Sie sind täglich mit ihr konfrontiert, sobald sie den Klassenraum betreten oder einen Flur entlanggehen. In Krisenzeiten wie um den 17. Juni 1953 sind es diese symbolischen Gegenstände, die von den Schülern angegriffen, beschädigt oder zerstört werden. Die Ablehnung dieser Symbolpolitik äußert sich vor allem dann, wenn es einen Autoritätsverlust gibt. Die Zeitzeugen, die zu ihren Erinnerungen aus der Schule in den fünfziger Jahren befragt wurden, erwähnen niemals von sich aus die Dekoration der Klassenzimmer oder erinnern sich nur sehr vage an sie. Daraus lässt sich aber noch nicht schließen, dass sie unbedeutend oder wirkungslos gewesen wäre. Die Abwesenheit von Erinnerungen verweist vielleicht ganz im Gegenteil auf die Internalisierung eines normal gewordenen, gewöhnlichen Umstands, der keinerlei Aufmerksamkeit mehr erregt.

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Neben der Raumgestaltung setzt das ostdeutsche Volksbildungsministerium auch eine Transformation der schulischen Zeitordnung und des Schuljahres durch.

Eine neue sozialistische Zeitordnung Der Alltag in der Schule wird von einer Reihe von Gedenkveranstaltungen und Festen gegliedert, indem sich Elemente, die dem schulischen Leben eigen sind (wie der Schulanfang nach den Ferien) und externe Festelemente (wie Weihnachten oder Fastnacht) vermischen. Die ostdeutschen Behörden fügen einige politische Feiertage hinzu, die dazu beitragen, eine sozialistische Zeitordnung zu etablieren. Das Ziel ist ein doppeltes: Auf der einen Seite sollen die vorhandenen Behörden legitimiert, auf der anderen Glaubenssätze, Wertsysteme und Verhaltensnormen eingeprägt werden. Diese Feierlichkeiten sollen ganz offensichtlich eine Kontinuität der deutschen und/oder sowjetischen sozialistischen Geschichte herstellen und damit die herrschende Gewalt legitimieren. In diesem Sinne entspricht die Politisierung des schulischen Kalenders einer „Erfindung der Tradition“.18 Aber gleichzeitig zielt die Einrichtung eines sozialistischen Kalenders auch und vor allem darauf ab, durch die Praxis des Appells oder der Parade bestimmte Werte und Verhaltensnormen durch jährliche Wiederholung einzuprägen, was automatisch die Internalisierung eines Habitus impliziert. Eine Analyse der Lehrerkonferenzprotokolle der einzelnen Ostberliner Schulen zeigt uns, dass jede Schule ihr Schuljahr von 1945 bis 1949 relativ eigenständig gliedert. Der jeweilige in den Schulen verwendete Festkalender ist bis in die frühen fünfziger Jahre hinein relativ heterogen. Seine Ausgestaltung hängt wesentlich vom Direktor der jeweiligen Schule ab. In dieser Zeit zwischen 1945 und 1950 begehen praktisch alle Schulen das Weihnachtsfest, Fastnacht, den Beginn des neuen Schuljahres sowie das Ende der Schulpflicht zum Abschluss der 8. Klasse. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden zwei politische Feiertage hinzugefügt: Der 1. Mai19 und im September ein Tag des Gedenkens an die Opfer des Faschismus. Die Ausrichtung weiterer Feste bleibt anscheinend zunächst dem Belieben des Schulleiters überlassen. Dadurch ist es möglich, dass das Berlinische Gymnasium Zum G ­ rauen Kloster im Bezirk Mitte zwischen 1945 und 1949 den Reformationstag feiert und an die Geburtstage von Leibniz, Pestalozzi, Beethoven und Walter Rathenau

18 E. Hobsbawm/T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 19 Zum 1. Mai in der DDR siehe J. Bazin, „Le 1er mai à Berlin-Est dans les années 1950“, in: Vingtième Siècle, n° 98, 2008, S. 141–148; B. Sauer, Mythen einer realsozialistischen Gesellschaft. Ein Beitrag zur Analyse politischer Deutungsmuster in Fest- und Feiertagen der DDR, Köln 2003.

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erinnert!20 Ab 1947 versucht die sowjetische Militäradministration, russische Feiertage in den Schulkalender ihrer Besatzungszone einzuführen. 1947 führt eine Anordnung in den 5. bis 8. Klassen Lenins Geburtstag als Gedenktag ein. Er wird aber nicht überall begangen. Das gleiche lässt sich für Feiern zu Ehren Stalins feststellen. Anfang der fünfziger Jahre führt das Ministerium für Volksbildung einen für alle Schulen gültigen Festkalender ein. Von nun an wird alljährlich eine Liste der zu organisierenden Feierlichkeiten veröffentlicht.21 Abgesehen davon, dass traditionelle Feiertage wie Weihnachten beibehalten werden, wird der neue Kalender von politischen Festtagen gegliedert. Diese beziehen sich auf das Gedächtnis der deutschen kommunistischen Partei ( Jahrestage der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Jahrestag der Exekution Ernst Thälmanns), auf die Gründung der DDR (7. Oktober, Jahrestag der Gründung der SED, Geburtstag Piecks), auf die Freundschaft mit der UdSSR (Geburtstag Puškins, Jahrestag der Oktoberrevolution, Geburtstag Stalins) und auf bestimmte Personengruppen (Lehrer, Frauen). Den Feiertagen gehen Kampagnen zur Mobilisierung der Schülerschaft voran; diese soll eine Wandzeitung anfertigen, einen Aufsatz über diese oder jene Person schreiben, Losungen anfertigen, deren Inhalt vorab von der SED festgelegt wird, und so weiter. Die Schulbehörden in Ost-Berlin schenken der Organisation dieser Kampagnen ganz besondere Aufmerksamkeit. Die Schulinspektoren führen in ihren Berichten die Vorbereitung und Abhaltung der Feierlichkeiten, die Qualität der Dekoration (Fahnen, Transparente, Losungen), vor allem aber das Verhalten der Schülerschaft äußerst detailliert auf. Die Feiern sollen die Kinder und Jugendlichen für das kommunistische Regime mobilisieren. Sie implizieren theoretisch nicht nur das Engagement des Lehrkörpers, sondern auch das der Jugendorganisationen, der Patenbetriebe, später Patenbrigaden, und weiterer Repräsentanten der „demokratischen Öffentlichkeit“, d. h. der SED und der anderen Massenorganisationen. Die Veranstaltungen finden in den Schulaulen statt, soweit diese in entsprechendem Zustand sind, oder in den Festsälen der Betriebe, die die Patenschaft über die jeweiligen Schule haben. Die Lehrenden bekommen in Form von Broschüren und kleinen Handbüchern Anweisungen zur materiellen Durchführung, die ihnen am Ende sehr wenig Dispositionsspielraum lassen.22 Das Programm besteht in der ­Regel aus einem musikalischen Teil mit Gesang, einer Rede, Spielen, kleinen Theaterszenen und der Verlesung von Gedichten. Die Qualität der Organisation und der 20 Sm/Do, 88/1163, Chronik des Berlinischen Gymnasiums Zum Grauen Kloster 1945– 1958, pag. 63. 21 S. Häder, „Feiern und Feste im Schulalltag der SBZ und frühen DDR. Selbstbestimmte Kultur oder parteistaatliche Inszenierung“, in: A. Leschinsky (Hg.), Die Schule als moralische Anstalt. Erziehung in der Schule: Allgemeines und der „Fall DDR“, Weinheim 1999, S. 203–219. 22 LAB, C REP 120/2351, 40. Jahrestag der November-Revolution, 1958, unpag.

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Dekoration variiert von Schule zu Schule. Die Inspektoren insistieren jedoch gegenüber dem Lehrkörper vor allem darauf, dass es nicht hinreichend sei, ein „schönes Fest“ auszurichten. Die Begehung des Gründungstages der DDR oder des Geburtstages dieser oder jener politischen Persönlichkeit soll eine politische Dimension aufweisen, die häufig vermisst wird.23 Eben deshalb findet sich eine entsprechende Forderung regelmäßig in den Anweisungen, die das Volksbildungsministerium herausgibt, so etwa für die Feiern zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution: „Es kann uns nicht genügen, eindrucksvolle Feiern zu gestalten und Geschenke an sowjetische Freunde zu überreichen.“24 Diese Berichte werden von ihren Autoren oftmals genutzt, um ihre Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen. Sie vermessen im Grunde den Abstand zwischen dem idealen Festakt, der der reinen Form des von seiner rhetorischen Konfiguration und den konkreten Modalitäten seiner Begehung freien Fests entspricht, und den Feierlichkeiten, die tatsächlich stattgefunden haben.25 In dieser Lücke nehmen sie das Verhalten der Schüler im Schwellenzustand als Mangel an Disziplin, Aufmerksamkeit und Interesse wahr sowie als Folge des Fehlens von „parteiischem Engagement“ seitens der Lehrenden. Unter diesen politischen Festakten verdient die Jugendweihe unsere besondere Aufmerksamkeit, da diese 1954 vom Regime wiedereingeführte Feier einen Übergangsritus der Vierzehnjährigen in die sozialistische Erwachsenenwelt darstellt. Die Schule spielt eine wesentliche Rolle bei ihrer Popularisierung, ihrer Vorbereitung und ihrer Gestaltung.

Die Schule als Diffusionsvektor ritueller Politik: Die Jugendweihe Die schwierige Durchsetzung des sozialistischen Rituals Die Jugendweihe ist ursprünglich ein religiöses Übergangsritual, dessen Anfänge ins 19. Jahrhundert zurückreichen; ihre Entstehung verdankt sie dem Wunsch dissidenter religiöser Bewegungen in der katholischen und protestantisch-lutheranischen Kirche nach einer Alternative zur Konfirmation. Sie wurde bereits gründlich von Theologen, Historikern und Ethnologen untersucht, und zwar sowohl als histori-

23 LAB, C REP 120/2046, Veranstaltung zum 40. und 50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, 1957–1968, unpag. 24 LAB, C REP 120/2046, op. cit., unpag. 25 Wir beziehen uns an dieser Stelle auf die Differenzierung zwischen idealem und sekundärem Ritual und damit auf interstitielle Verhaltensformen. Siehe V. Turner, The Ritual Process, London 1969; ders., Dramas, Fields and Metaphors, London 1974.

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sches Phänomen als auch als aktuelle Praxis, da sie bis heute, hauptsächlich in Ostdeutschland, gefeiert wird.26 Ab 1954 erfindet die SED eine Tradition der Jugendweihe, die ihrer erzieherischen Politik entspricht und dazu bestimmt ist, die vierzehnjährigen Heranwachsenden in die sozialistische Gemeinschaft zu integrieren. Gedacht ist sie als ein politisches Glaubensbekenntnis der ostdeutschen Jugend. Diese Wiederaneignung wirft gleichzeitig die Frage nach einer „religiösen Natur“ des Regimes und nach ­einer „Sakramentserfahrung“ der jungen Teilnehmenden auf. Die SED beschließt, die Jugendweihe in das schulische Leben und dessen Kalender zu integrieren, die einzelnen Akteure der schulischen Welt – insbesondere den Lehrkörper – für die Vorbereitung und Durchführung der vorbereitenden Kurse und Zeremonien zu mobilisieren und sie zu einem unverzichtbaren Übergangsritual für Generationen ostdeutscher Jugendlicher zu machen. Bereits kurz nach Kriegsende wird die unter dem Dritten Reich verbotene27 Jugend­weihe in ihrer proletarischen Form auf der Ebene der einzelnen Besatzungszonen organisiert, insbesondere in Hamburg, Magdeburg, Leipzig und Berlin. In der ersten Zeit werden die Feierlichkeiten nicht von den politischen Parteien übernommen, und sie finden nicht in Schulen statt. Noch 1947 bestätigt das Zentralkomitee der SED, dass es keine Jugendweihe organisiert. Ab 1948 jedoch organisieren lokale SED-Funktionäre in Ost-Berlin eine Zeremonie im Rahmen eines Vorbereitungskomitees für die Jugendweihe. Für die Zeit von 1945 bis 1950 ist kaum feststellbar, in welchem Umfang  Jugendweihen in Berlin abgehalten werden. Es sind fast ­keine Zahlenangaben überliefert. Für das Jahr 1949 sind lediglich 150 Teilnehmende für die Bezirke Pankow, Treptow, Mitte belegt,28 was weit unter den Angaben von Manfred Isemeyer und Klaus Sühl liegt, die von 3 800 Teilnehmenden in den vier Besatzungszonen Berlins im Jahre 1948 ausgehen.29 26

U. Mohrmann, „Festhalten am Brauch. Jugendweihe vor und nach der Wende, in: W. ­Kaschuba (Hg.), Alltagskultur im Umbruch, Köln 1996, S. 197–213; A. Döhnert, „Die Jugendweihe“, in: E. François/H. Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 347–362; M. Chauliac, „Un rite réactualisé: la Jugendweihe“, in: Revue Française de Science Poli­tique 53, n° 3, juin 2003, S. 383–408. Siehe auch N. Le Moigne, „La Jugendweihe allemande: entre spiritualisme et communisme d’Etat (1889–1989), in: Les cahiers d’histoire sociale n° 24, automne-hiver 2004, S. 9–33. 27 Die Nazis nahmen die Idee der Jugendweihe auf und funktionierten sie für ihre ideologische Botschaft zu einer Zeremonie um, die 1940 als „Jugendleite“ offiziell eingeführt wurde. Dabei sollten die Jugendlichen insbesondere einen Treueid auf den Führer und das Vaterland leisten. 28 SAPMO, DY 30/2/9.05/136, ZK der SED, Abt. Volksbildung, Jugendweihe, 1948–1962, pag. 43. 29 M. Isemeyer/K. Sühl (Hg.), Feste der Arbeiterbewegung. 100 Jahre Jugendweihe, Berlin (West) 1989.

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Im Februar 1950 beschließt das ostdeutsche Regime aus taktischen Gründen ein Verbot der Jugendweihe und ersetzt sie durch eine Feier zum Ende der Schulpflicht, wie sie die SED bereits 1948 in Sachsen eingeführt hat. Ohne Zweifel belegt diese Entscheidung eine starke mentale Disposition in Deutschland, ein adoleszentes Übergangsritual für notwendig zu halten. Die Diskussionen im Sekretariat Erziehung der Partei und im Zentralkomitee zeigen, dass die SED zu Beginn der fünfziger Jahre Rücksicht auf die evangelische Kirche nehmen will. Die Partei hat nicht die Absicht, sofort in einen neuen Kulturkampf einzutreten, da die politische Situation noch nicht völlig stabilisiert ist. Sie ist überzeugt, dass ihre Jugendorganisationen in der Lage sein werden, die Jugendlichen christlichen Bekenntnisses, die bislang von den Pastoren in den Jungen Gemeinden organisiert werden, anzuziehen und sie davon zu überzeugen, sich am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft zu beteiligen, ohne in Konkurrenz zur Konfirmation treten zu müssen. Fritz Brumm rechtfertigt als Verantwortlicher für die Volksbildung in Sachsen in einer Aktennotiz für das Zentralkomitee der SED den Verzicht auf die Jugendweihe: „Zur Aufnahme eines Kulturkampfes auf religiösem Gebiet hat die Partei innerhalb der neuen demokratischen Ordnung also gar keine Veranlassung. Er würde nur hemmend und störend in der gemeinsamen begonnenen Aufbauarbeit wirken.“30 Dieses Argument wird übernommen von den höchsten Machthabern der DDR wie Pieck und Grotewohl, die während einer Sitzung des Zentralkomitees an die konfessionelle Bindung zahlreicher Parteimitglieder erinnern: „Allein 70 oder 80, ja mancherorts 90 % unserer Mitglieder sind heute noch konfessionell gebunden. Auch das ist ein Grund zur Vermeidung eines offenen Kulturkampfes.“31 1954 ändert das Regime seine Politik gegenüber der Kirche und beschließt, die Praxis der Jugendweihe wieder aufzunehmen, in Konkurrenz zur Konfirmation und damit zum Einfluss der Kirche auf die Jugend. Nach einer Phase der zunehmenden Repression gegen die Jungen Gemeinden von 1950 bis 1953 will das Regime nun die Jugendweihe als Propagandainstrument nutzen, um sowohl den Zugriff auf die ostdeutschen Heranwachsenden zu intensivieren als auch die Legitimität des Regimes bei seinen künftigen Bürgerinnen und Bürgern zu stärken.32 Die Partei strebt an, aus der Jugendweihe ein politisches Ritual zu machen, das bei den Heranwachsenden eine Bindung an das sozialistische Vaterland und seine Werte herstellt; davon zeugt nicht zuletzt das feierliche Versprechen, dessen Text eine veritable Verpflichtung zu politischem Engagement darstellt. Es wird eine große Kommunikations­kampagne 30 SAPMO, DY 30/2/9.05/136, op. cit., pag. 10–11. 31 Ebd., pag. 11. 32 Als Geschichte der Einführung der Jugendweihe siehe H. Wentker, „Die Einführung der Jugendweihe. Hintergründe, Motive, Probleme“, in: H. Menninger (Hg.), Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der SBZ und in der DDR, München 1995 (= Sonderheft der VfZ), S. 139–165.

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eingeleitet, die im Appell zur Jugendweihe am 12. November 1954 gipfelt.33 Die französische Ethnologin Marina Chauliac34 hat gezeigt, wie die SED versucht, glauben zu machen, dass die Jugendweihe in der DDR lediglich auf Druck der Bevölkerung eingeführt und unabhängig organisiert worden sei: „Entsprechend dem Wunsche vieler Eltern und Jugendlicher in der DDR hat sich in Berlin ein Zentraler Ausschuß für die Jugendweihe konstituiert.“35 Die Organisation der Jugendweihe wird auf der Ebene der Ostberliner Bezirke von den Zellen des Zentralen Ausschusses für die Jugendweihe in der DDR übernommen; diese sollen in der Theorie als „Transmissionsriemen“ zwischen der DDR und den Schulen fungieren, wo die Direktoren für den rechten Ablauf der Vorbereitung zuständig sind. Eltern- und Lehrervertreter sind statutarische Mitglieder der lokalen Ausschüsse, die eng mit den städtischen Schulbehörden, den Massenorganisationen und der FDJ zusammenarbeiten. Allerdings beschränken sich die lokalen Ausschüsse eben nicht auf eine Funktion als „Transmissionsriemen“. Ungeachtet der unbeugsamen Linie, die Walter Ulbricht gegenüber den Kirchen eingenommen hat, wollen viele Mitglieder der Ausschüsse sowie der SED eine direkte Konfrontation mit Kirchenleuten vermeiden. In jedem Bezirk treffen sie sich mit Pastoren und bemühen sich, diese davon zu überzeugen, dass beide Zeremonien miteinander kompatibel sind. Noch zu Beginn der sechziger Jahre denunziert ein Bericht über die Jugendweihe solche „revisionistischen Tendenzen“.36 Dieser Begriff ist eine Anspielung auf Versuche von Leuten aus der innerparteilichen Opposition gegen Walter Ulbricht wie Wolfgang Harich und Paul Wandel, in den Jahren 1956 bis 1958 die Jugendweihe zu reformieren. Aber solche „Tendenzen“ bleiben bis in die frühen sechziger Jahre hinein bemerkbar. Konkret fordern einige SED-Funktionäre von ihren Vorgesetzten, die Jugendweihe auf die 9. oder 10. Klasse zu verschieben oder die Zeremonie in den Mai oder Juni zu verlegen, um Spannungen mit der Kirche zu vermeiden. Sie unterlassen die Anwerbung von Schülern, die bereits zur Konfirmation angemeldet sind, was die Partei dazu veranlasst, darauf hinzuweisen, dass alle Schüler und Schülerinnen rekrutiert werden sollen. Diese Suche nach einem Kompromiss vor Ort ist bis in die frühen sechziger Jahre charakteristisch für das Verhältnis zwischen lokalen SED-Funktionären und Pastoren.

33 34

Aufruf des Zentralen Ausschusses für die Jugendweihe vom 12. November 1954. M. Chauliac, Usages politiques et sociaux du passé est-alllemand depuis la Réunification: le rite de la Jugendweihe entre transmission et reconstruction, Phil. Diss. Paris, EHESS, 2003, S. 155. 35 SAPMO, DY 24/14127, Zentralrat der FDJ, Information an die Bezirksleitung über die Einführung der Jugendweihe in der DDR, 1954, pag. 2. 36 LAB, C REP 902/981, Jugendweihe, 1960–1961, unpag. 

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Dabei darf nicht übersehen werden, dass diese Wiedereinführung ein Jahr nach der Repressionswelle gegen die Junge Gemeinde und den Ereignissen des 17. Juni 1953 stattfindet. Die Pastoren nehmen sie als eine neuerliche Kriegserklärung wahr. Um möglichst rasch zu einer hohen Teilnehmerquote zu kommen, suchen die lokalen Funktionäre der SED zwar eher den Ausgleich und den Kompromiss denn die direkte Konfrontation mit den Pastoren und einem Teil der Eltern. Die Berichte von der Basis zeigen, wie die Realität vor Ort und die Logik der sozialen Beziehungen einen offiziell unbeugsamen politischen Willen transformieren und in diesem Falle abmildern. Allerdings sind die Pastoren ihrerseits in ihrer Gesamtheit kaum offen für den Dialog und üben eine Politik des Widerstands. Sie folgen damit einer Linie, die die Kirchenhierarchie zum Ende des Jahres 1954 angenommen hat. Die Leitung der evangelischen Kirche von Berlin und Brandenburg stellt seither die Eltern vor die Alternative Konfirmation oder Jugendweihe: „Kinder, die sich einer Handlung unterziehen, der im Gegensatz zur Konfirmation steht ( Jugendweihe und dergleichen), können nicht konfirmiert werden.“37 Die evangelische Kirche versucht, der SED die Stirn zu bieten und die Jugendlichen daran zu hindern, an beiden Zeremonien teilzunehmen.38 Zum einen verschiebt sie den Konfirmandenunterricht auf Mittwoch nachmittags, das heißt auf die gleiche Zeit, zu der die außerschulischen Aktivitäten der Jungen Pioniere stattfinden. Zum anderen verlangt sie von denen, die den Unterricht besuchen, ein von den Eltern unterschriebenes Attest, in dem diese schwören, ihre Kinder nicht an dem sozialistischen Ritual teilnehmen zu lassen. Und schließlich richtet sie die Konfirmationsfeiern an den Tagen aus, an denen auch die Jugendweihen stattfinden. Sie greift außerdem auf die gleichen Praktiken zurück, die auch von den Schulbehörden eingesetzt werden: Die Pastoren besuchen die Eltern und drohen ihnen, sie zu exkommunizieren oder ihre kleinsten Kinder nicht mehr zu taufen. Die Pastoren schaffen eine Gegenöffentlichkeit, indem sie öffentliche Versammlungen in den Kirchen abhalten, wo sie sich als Übermittler der offiziellen Position der Kirchenhier­archie verhalten. Die evangelische Kirche betreibt schließlich Gegenpropaganda – in dem Sinne, dass Schüler, die an der Jugendweihe teilnehmen, einen Brief erhalten, in dem ihr Verhalten als Sünde und als Abkehr von Gott verdammt wird. Diese Drohungen bleiben offensichtlich nicht ohne Wirkung: In Friedrichshain schätzt im Jahre 1957 ein SED-Funktionär, dass die Teilnehmerquote an der Jugendweihe ohne das energische Vorgehen der Pfarrer in der 11./12. Schule bei 68 % statt bei 35 % gelegen hätte.39 37 38 39

LAB, C REP 902/982, SED Bezirksleitung, Abt. Wissenschaft und Bildung, Jugendweihe und Konfirmation, 1954–1955, unpag. LAB, C REP 120/2270, Vorbereitung und Durchführung von Jugendweihen, 1955–1960, 1966–1969, pag. 1–6. Ebd., pag. 42.

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Tabelle 8:  Teilnahme an der Jugendweihe in Ost-Berlin zwischen 1955 und 1960 (in %)40

Bezirk

1955

1956

1958

1959

1960

Mitte

20,2

25,1

38,0

76,5

81,5

Prenzlauer Berg

16,7

30,0

50,8

61,2

84,2

Friedrichshain

22,0

32,8

45,7

70,4

86,0

Lichtenberg

18,1

26,0

42,4

62,7

80,3

Treptow

23,1

38,0

49,2

69,1

81,3

Köpenick

18,5

25,0

37,1

66,5

82,0

Weißensee

19,0

27,0

42,9

65,7

78,0

Pankow

16,0

23,0

33,2

69,1

74,6

Berlin-Ost

21,7

28,4

42,8

66,2

81,3

DDR

17,7

23,7

44,1

80,4

87,8

In Ost-Berlin insgesamt ist die Beteiligung relativ gering, auch wenn sie 1955 und 1956 immerhin über dem nationalen Durchschnitt liegt. Sie bleibt schwach bis 1958 und erfährt dann plötzlich eine quasi exponentielle Steigerung, bis sie zu Beginn der sechziger Jahre gut 80 % erreicht. Auf der unteren Ebene haben einige Bezirke wie Pankow große Schwierigkeiten, „in Gang zu kommen“, bevor sie ihre Teilnehmerquote sehr deutlich verbessern können. In den einzelnen Schulen sind die Ergeb­nisse sehr unterschiedlich; mitunter ist die Beteiligung außerordentlich hoch. In der 22. Schule in Köpenick erreicht sie sofort 77 %, in der Klasse 8b sogar 100 %.41 Der schwache Erfolg, den man 1955 erreicht, lässt sich im Übrigen zunächst einmal mit den materiellen Umständen erklären. Die Mobilisierungskampagnen vor Ort haben verspätet eingesetzt, die lokalen Organisationskomitees mussten erst gegründet werden. Es scheint auch, dass sich die Massenorganisationen in dieser Sache kaum eingebracht haben. Aber die eher schwache Beteiligung bleibt bis 1957 eine Realität. In diesem Jahr nimmt kaum ein Drittel der Jugendlichen von vierzehn Jahren an diesem sozialistischen Integrationsritual teil. Die Jugendweihe wird erst ab 1958 mit einer Teilnehmerquote von fast 50 % angenommen, während zur gleichen Zeit, wie die folgende Grafik zeigt,42 die Teilnehmerquote an der Konfirmation innerhalb weniger Jahre rasch abnimmt  – ein Hinweis, dass die Eltern in dieser Sache rational und pragmatisch entscheiden. 40 Ebd. 41 LAB, C REP 120/2270, op. cit., pag. 10. 42 Albrecht Döhnert, Jugendweihe zwischen Familie, Politik und Religion. Historische und empirische Studien zum Fortbestand der Jugendweihe in Deutschland und Konsequenzen für die Konfirmationspraxis der Kirche, Theol. Diss. Leipzig 1996.

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Grafik 4: Entwicklung der Teilnehmerquoten an der Konfirmation und an der Jugendweihe in der DDR (in %) 120

100 87,9 80

80,3

90,9

96,1

97,5

95

84,3 70 Jugendweihe

60

Konfirmation 40

44,1 34,6

32,3 25,5

20

17,7

16,1

14,1 14,7

0 1955 1958 1960 1965 1970 1975 1980 1989

Die Zunahme während der Jahre 1958–1959 ist außerordentlich groß, mit einer Zuwachsrate von 80 %. Zwar ist die Entwicklung in Ost-Berlin zeitlich ein wenig verschoben, insgesamt entspricht sie aber der nationalen Entwicklung.43 Zu Beginn der sechziger Jahre nehmen 80 % der Jugendlichen an der Jugendweihe teil. Wie lässt sich dieser massive Zuspruch ab dem Ende der fünfziger Jahre erklären? Es gibt ein ganzes Bündel von Gründen, die zur Erklärung dafür herangezogen werden können, dass der sozialistische Ritus schließlich von einem großen Teil der Bevölkerung angenommen wird. Das Regime hat viel Energie investiert, um die Teilnehmerquote rasch anzuheben; der deutsche Historiker Hermann Wentker spricht in diesem Zusammenhang von einer „Erfolgsgeschichte der SED.“44 Wentkers ­Analyse geht 43 44

G. Geissler/F. Blak/T. Scholze (Hg.), In Linie angetreten. Geschichte, Struktur und Funk­ tionsweise der DDR-Volksbildung, Duisburg 1997, S. 148f. H. Wentker, op. cit., S. 139.

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Grafik 5 : Teilnehmerquote an der Jugendweihe in den Bezirken der DDR 1959 (in %) 66

Berlin

70

Frankrfurt/Oder Cottbus

70,4

Dresden

72,6

Karl-Marx-Sadt

73,5

Potsdam

74,2

Neubrandeburg

74,2 83,5

Erfurt

84

Suhl Rostock

85,6

Leipzig

86,7

Halle

87,9

Schwerin

88,1

Magdeburg

88,2

0

Gera 0

88,4 20

40

60

80

100

von einer totalitaristischen Lesart des hier untersuchten Phänomens aus und schreibt den politischen Intentionen, die von oben in diktatorischer Form oktroyiert worden seien, entscheidende Wirksamkeit zu. Es steht sicherlich außer Frage, dass das Regime aufwändige Mobilisierungskampagnen in Gang setzt. Dabei werden Propaganda und Druck auf Eltern und Schüler gleichzeitig eingesetzt. Auf der einen Seite sind die Schulen gehalten, Elternabende zu organisieren, die Lehrenden sollen zudem Werbung in den Klassen machen. Die Schuldirektoren und Lehrenden sind letztlich dafür verantwortlich, dass die Teilnehmerquote kontinuierlich steigt; widrigenfalls werden sie beschuldigt, es an „Parteiengagement“ fehlen zu lassen. Die Schulbehörden der Bezirksämter versenden Elternbriefe, in denen der Akzent auf wissenschaftlich-atheistische Argumente gelegt wird; ab 1957 kommt die Bindung an das Vaterland hinzu. Die Partei spannt zudem die lokale Presse als Multiplikator ein. Auf der anderen Seite sprechen die Berichte der städtischen Funktionäre von „Aufklärungs­arbeit“, das heißt von einer pädagogischen Arbeit seitens der Parteifunktionäre, der Jugend­ organisationen, des Lehrkörpers. Auch ist die Rede von „intensiven klärenden Diskussionen“, die mit zögernden oder widerspenstigen Eltern geführt werden. Solche

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Unterhaltungen finden beispielsweise während der Elternabende statt. Die Basis­ organisation der SED an den Schulen gibt den Parteizellen der Brigaden die Namen der Eltern, deren Kinder nicht an der Jugendweihe teilnehmen. Daraufhin wird am Arbeitsplatz Druck ausgeübt. Zwar wird solcher Druck in den Berichten nicht ausdrücklich erwähnt, wir können aber davon ausgehen, dass Erpressung, etwa die Ankündigung beruflicher oder schulischer Sanktionen – wie die Drohung, nicht zum Studium zugelassen zu werden  – in diesen Diskussionen eingesetzt werden. Von jeder Brigade fordert die SED die Bildung eines Komitees für die ­Jugendweihe, das mit einem Jahr Vorlauf Listen der Beschäftigten anlegen soll, deren Kinder das Alter für die Jugendweihe erreichen.45 Mitunter wird während der Sommerlager Druck ­direkt auf die Jugendlichen ausgeübt. Die FDJ-Funktionäre, die die Ferien­lager ­leiten, lassen die Jugendlichen ein Dokument unterzeichnen, in dem sie sich zur Teilnahme an der Jugendweihe verpflichten. Diese Teilnahmeerklärungen werden dann an die Lehrenden weitergegeben, die sie bei Schulbeginn den Eltern überreichen – die damit vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Auch die Jungen Pioniere werden einbezogen: Sie haben den Auftrag, ihre Alterskameraden – Mitglieder oder nicht – von der Teilnahme an der Jugendweihe zu überzeugen: „Jeder ThälmannPionier – Ein Teilnehmer an der Jugendweihe“.46 Insgesamt aber stellen die Berichte der lokalen Parteifunktionäre fest, dass äußerer Drucks unabhängig davon, welche Form er genau annimmt, nur eingeschränkte Wirksamkeit hat. Ein Bericht der SED über Ost-Berlin aus dem Jahre 1960 betont die Wirkungslosigkeit bestimmter Praktiken: „Briefe von Ortsausschüssen an die BGL [Betriebsgewerkschaftsleitung] von sozialistischen Betrieben, in denen Eltern tätig sind, die ihren Kindern die Teilnahme an der Jugendweihe verweigern, hatten nur teilweise den gewünschten Erfolg.“47 Die Politik des Zwangs und des Drucks, die die SED ausübte, ist also nicht in der Lage, den enormen Erfolg der Jugendweihe zum Ende der fünfziger Jahre hinreichend zu erklären. Der Druck reicht nicht aus, um den Anstieg der Beteiligungsrate an der Jugendweihe zu erklären. Diese unter anderem von Hermann Wentker und Marina Chauliac48 herangezogene Erklärung ist unbefriedigend, wenn wir verstehen wollen, was am Ende der fünfziger Jahre in der DDR und insbesondere in Ostberlin geschieht.

45 46 47 48

LAB, C REP 903-01-06/357, SED-Kreisleitung Prenzlauer Berg, Berichte über die Vorbereitungen und Durchführung der Jugendweihe, 1955–1959, unpag. LAB, C REP 903-01-06/357, op. cit., unpag.  LAB, C REP 902/981, op. cit., unpag. Chauliac, op. cit., S. 167.

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Die entscheidende Zunahme der Teilnehmerquote an der Jugendweihe ist vermutlich besser zu erklären durch eine zunehmende Akzeptanz dieses sozialistischen Rituals im schulischen und familiären Kontext durch die Eltern. Die Eltern werden sich mehr und mehr einer Entwicklung bewusst, die sich als „Diktatur der Grenzen“ bezeichnen ließe, d. h. der zunehmenden Annahme einer Reihe von Regeln, die den „normalen“ Lebensablauf bestimmen, durch die Gesellschaft. Zwischen 1950 und 1954 wollen viele Eltern einen Ritus mit sakramentalem Charakter. Die schwachen Teilnehmerquoten der Jahre 1955–1957 erklären sich in diesem Zusammenhang dadurch, dass die von der SED neu erfundene Tradition abgelehnt wird. Wir haben bereits gesehen, dass viele Eltern zwischen 1950 und 1954 ein religiöses Übergangsritual fordern, das sich von der Konfirmation unterscheidet. Die SED setzt auf dieses Bedürfnis. Allerdings sind die Leute nicht dumm und wissen sehr wohl, dass die offizielle Jugendweihe nichts mit dem zu tun hat, was sie aus den zwanziger Jahren kennen. Die Ablehnung der neuen Zeremonie entspricht einer ausdrücklichen Ablehnung der SED, sie ist gleichsam ein fernes Echo des 17. Juni 1953. Aber im Laufe der Zeit nehmen die Familien die Integration dieses sozialistischen Rituals in den schulischen Alltag als gegeben hin. Anstatt sich weiterhin schmollend zu verweigern, kommen sie mit ihm überein,49 denn es bietet einen schönen Rahmen für ein Familienfest. Ein beträchtlicher Teil der Eltern akzeptiert – wie immer wieder in den Berichten der lokalen SED-Funktionäre beklagt wird – das Ritual, ohne seinen ideologischen Gehalt zu teilen. Manche sind schlichtweg froh, dass sie die Teilnahme ihrer Kinder an der Zeremonie schließlich gestattet haben. Die Berichte erwähnen, dass viele Eltern der Meinung sind, dass die Jugendweihe schöner gestaltet sei als die Konfirmation. Sie bietet einen Rahmen dafür, die Familie zusammenzuholen, ein gutes Essen auszurichten, den Kindern eine Tradition zu übermitteln, vor allem dann, wenn die Eltern ihrerseits eine Jugendweihe während der Weimarer Republik erlebt haben. Die Annahme der Jugendweihe schreibt sich somit in einen Prozess der Internalisierung offizieller Praktiken ein, der sich auf das Ende der fünfziger Jahre datieren lässt. Die Annahme der Jugendweihe lässt sich also weniger als eine erzwungene Unterwerfung unter den Druck verstehen, den die SED ausübt, sondern vielmehr als das Aufkommen eines stillschweigenden Einverständnisses, einer besiegelten Übereinkunft zwischen den Familien und der Partei. Die Eltern erkennen den Rahmen, der ihnen vorgegeben wird, an, und akzeptieren die Spiel­-

49 Wir verwenden den Begriff der Übereinkunft (accommodement [bislang meist leicht irre­ führend mit „Anpassung“ (accommodation) übersetzt, Anm.d.Ü.]), den der Historiker ­Philippe Burrin zur Beschreibung der Beziehungen zwischen Okkupanten und Okkupierten in Frankreich 1940–1944 verwendet hat. Siehe P. Burrin, La France à l’heure allemande, Paris 1995.

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regeln, die das Regime festlegt. Diese Übereinkunft fällt weitgehend zusammen mit der formellen Annahme des Rituals als festlichen Rahmens. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Pionierorganisation zur gleichen Zeit einen enormen Zulauf erfährt, nachdem die Mitgliederzahlen während der ganzen fünfziger Jahre stagniert haben. Durch diese Übereinkunft integriert sich die Jugendweihe dauerhaft in die ostdeutsche schulische Landschaft. Tatsächlich spielt die Schule in der Vorbereitung und Durchführung dieser Zeremonie eine zentrale Rolle.

Die Funktion der Schule bei der Jugendweihe Als Diffusionsvektoren der Jugendweihe stehen die Schulen an vorderster Front. Sie sind der Ort, an dem die Zeremonie vorbereitet wird, sie organisieren jede E ­ tappe, die dem Ritual als solchem vorausgeht: Die Eröffnungszeremonie zu Beginn der 8. Klasse, die Jugendstunden. Zwar verlangt das Regime eine aktive Teilnahme ­aller sozialen Akteure  – der Massenorganisationen, der SED, der Brigaden  – an den Vorbereitungsstunden für die Jugendweihe. Im Februar 1958 veröffentlicht die Regierung der DDR eine „Verordnung über die Unterstützung der Jugendstunden und der Jugendweihe durch staatliche Organe, staatliche Einrichtungen und sozialistische Betriebe der Industrie und Landwirtschaft“.50 Die Verordnung erinnert daran, dass die Erziehungstätigkeit in der DDR darauf abzielt, „junge Männer und Frauen zum sozialistischen Denken und Handeln zu erziehen, ihr Wissen zu bereichern und ihre Moral zu festigen“51 und dass sie das Engagement aller gesellschaftlichen Kräfte fordert. Tatsächlich ruht diese Arbeit in der Praxis jedoch ausschließlich auf den Schultern der Lehrkräfte, die mehr als 90 % der Vorbereitungsstunden leisten. Im Dezember 1958 sind in Ost-Berlin genau 199 Personen damit befasst, darunter sieben nicht berufstätige Mütter, ein Rentner und 191 Lehrende.52 Die Zahl der Stunden variiert in den einzelnen Schulen, beträgt aber immer ungefähr 12 Einheiten, in denen theoretischer Unterricht (über das sozialistische ­Lager und den Sowjetmenschen) und Ausflüge (Besuch einer Fabrik, eines Konzentrationslagers, eines Museums, Treffen mit einem Soldaten) enthalten sind. In einigen Fällen wird das Programm nicht vollständig umgesetzt. Viele Lehrer betrachten es in erster Linie als zusätzliche Arbeitsbelastung, was sie nicht unbe-

50 LAB, C REP 120/2270, op. cit., pag. 78–80. 51 Ebd. 52 LAB, C REP 120/2270, op. cit., pag. 117.

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dingt dazu anregt, sich allzu stark für diese Vorbereitungsstunden, die theoretisch mittwochs nachmittags stattfinden, zu engagieren. Die regionale Leitung der SED bemängelt, dass ein Bindeglied zwischen den Ausflügen und der ideologischen Vermittlung fehlt. So beklagt sie 1960 die mangelhafte Politisierung der Jugendstunden, die sich in manchen Fällen  – etwa bei dem verantwortlichen Lehrer der 11. Schule in Mitte  – auf kulturelle Veranstaltungen beschränken. Der Verantwortliche in der 12. Schule im gleichen Bezirk hat den FDJ-Mitgliedern sogar verboten, im blauen Hemd an den Stunden teilzunehmen  – sicherlich um unnütze Spannungen unter den Schülern bzw. mit manchen Eltern zu vermeiden.53 Die Teilnehmerquote der Schüler variiert mit 50 bis 90 % in den einzelnen Schulen sehr stark, da der Besuch der Vorbereitungskurse anfangs für die Teilnahme an der Jugendweihe nicht einmal obligatorisch ist.54 Die Jugendstunden werden von den Schülern nicht ernst genommen, ihr übertrieben politischer Charakter geht ihnen auf die Nerven. Ab 1958 geht die FDJ dazu über, Unterrichtsmodelle anzubieten, die weniger ideologisch und theoretisch sind, um so die künftigen Teilnehmenden an der Jugendweihe anzulocken. Auf der 16. Tagung des Zentralrats der FDJ appelliert die Leitung an die Lehrenden, die Gefühle der Schülerinnen und Schüler zu verstehen: „Statt abstrakter und trockener politischer Phrasen liebt die Jugend mutige und offene Worte … Es reicht daher nicht aus, nur an den Verstand der jungen Menschen zu appellieren. Besser als bisher müssen wir es lernen, auch die Gefühle der Jugend zu verstehen und zu beeinflussen.“55 Trotz diesem Appell bleibt die FDJ blockiert durch das Dilemma, gleichzeitig Ideologie verbreiten und die Jugendlichen dadurch anziehen zu sollen, dass deren persönliche Interessen berücksichtigt werden. Wir haben bisher die soziologische Dimension der Teilnahme nicht in unsere Überlegungen einbezogen. Die einschlägigen Statistiken, die von den Schulbehörden erstellt werden, lassen vermuten, dass die Jugendweihe zum Ende der fünfziger Jahre in erster Linie eine Zeremonie von Arbeiterkindern ist. Laut der unten wiedergegebenen Tabelle stellen sie durchschnittlich fast zwei Drittel der Teilnehmenden, mit Spitzenwerten von 75 % in den Bezirken Mitte, Friedrichshain und Weißensee.

53 54 55

LAB, C REP 902/981, op. cit. LAB, C REP 120/2270, op. cit., pag. 18. Ebd., pag. 49–50.

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Die Schule neuen Typs (1949–1959)

Tabelle 9:  Soziale Herkunft der Teilnehmenden an der Jugendweihe in Ost-Berlin ­(ohne ­Köpenick) 195856

Bezirk

Arbeiterkinder

Kinder von Hochschulabsolventen

Andere

Prenzlauer Berg

51,5

19,4

29,1

Mitte

79,3

2,1

18,6

Friedrichshain

72,3

7,1

20,6

Lichtenberg

63,4

9,7

26,9

Treptow

40,4

7,3

52,3

Weißensee

73,3

2,9

23,8

Pankow

44,2

13,0

42,8

Ost-Berlin (ohne Köpenick)

60,6

8,8

30,6

Es besteht nun aber das Problem, dass die verwendeten statistischen Kategorien eine Interpretation erschweren. Die Kategorie „Arbeiterkinder“ umfasst seit 1957 in den Schulstatistiken diejenigen Kinder, deren Eltern entweder Arbeiter oder Angestellte sind. Alle Funktionäre der Partei und der Sicherheitsbehörden werden hierunter gezählt, so dass es unmöglich ist festzustellen, wie hoch der Anteil der Arbeiter im engeren Sinne gewesen ist. Darüber hinaus ist die Kategorie „Andere“ natürlich ­äußerst ungenau. Anscheinend stellen aber Kinder, deren Eltern eine Stellung in der Partei oder im öffentlichen Dienst innehaben, die Mehrheit der Teilnehmenden. Die widerspenstigen Eltern sind diejenigen, die eine Arbeit in Westberlin ausüben sowie die Hochschulabsolventen (Ärzte, Anwälte, Universitätsprofessoren). Entscheidend für eine Verweigerung der Teilnahme ist das religiöse Argument. Offensichtlich bereiten die Eltern katholischer Konfession die größten Schwierigkeiten: Sie folgen streng den Empfehlungen der katholischen Kirche, sind aber in quantitativer Hinsicht eher unbedeutend. Eine weitere Statistik erlaubt es uns, die soziologische Analyse noch etwas zu verfeinern. Sie zeigt die Teilnehmerquote derjenigen an der Jugendweihe, die gleichzeitig Mitglieder der Jungen Pioniere in Ostberlin sind. Im Gegensatz zu dem nämlich, was wir erwarten würden, erreicht auch hier, wo die Werte in der Regel höher sind als im Durchschnitt, die Teilnehmerquote nicht den erwarteten Prozentsatz. Immerhin stammen doch die Jungen Pioniere, die in den Schulen noch eine Minderheit bilden, zu dieser Zeit in ihrer überwältigenden Mehrheit aus den Familien überzeugter Kommunisten. 56

Ebd., pag. 70.

Die symbolischen Transformationen des schulischen Raumes

135

Tabelle 10:  Teilnehmerquote der Jungen Pioniere an der Jugendweihe in Ost-Berlin ­1956–195857

Jahr

1956

1957

1958

Teilnehmerquote

50,0

46,0

60,8

Es gibt keinen automatischen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu den sozialistischen Jugendorganisationen und der Teilnahme an der Jugendweihe. Offensichtlich entspricht also dieses sozialistische Ritual nicht den Erwartungen zahlreicher Kommunisten, die noch von der Religion geprägt sind, aber aus Überzeugung ihre Kinder bei den Jungen Pionieren unterbringen. Jedenfalls fehlt es nicht an Berichten, in denen detailliert vermerkt wird, dass dieser oder jener Funktionär einer Massenorganisation seinen Sohn nicht für die Jugendweihe eingeschrieben hat.58 Auf diese Weise wird daran erinnert, dass sich Mitglieder der SED eines mustergültigen Verhaltens zu befleißigen haben. Es ist unabdingbar, die subjektive Dimension dieses Ritus zu beleuchten. Die Behörden konzipieren die Jugendweihe als ein großes Fest, als ein markantes soziales Ereignis. In den ersten Jahren beschließt die SED, sie nicht in den Schulaulen oder den Festsälen der Betriebe auszurichten, sondern in Theatern und Veranstaltungssälen. Die jeweiligen kulturellen Institutionen verzichten darauf, von den Schulen eine Miete für die Säle zu verlangen. Angesichts der schwachen Beteiligung wird jedoch beschlossen, wieder zur alten dezentralen Praxis in den einzelnen Schul­ anstalten zurückzukehren. Man verzichtet auf die großen Säle und erhöht stattdessen die Zahl der Zeremonien in den Aulen, die sich als weitaus geeigneter für Geselligkeiten erweisen. Finanziert werden die Feiern aus dem Kulturfonds der Bezirke. Außer in Einzelfällen in Weißensee beteiligen sich die Patenbrigaden nicht an der Finanzierung oder der Organisation der Jugendweihe. Die Berichte der SED-Funktionäre weisen aus, dass die Feierlichkeiten mit durchschnittlich 460 Personen recht gut besucht sind. Dies belegt den Charakter der Jugendweihe als eines sozialen Ereignisses, das Gelegenheit für Familienzusammenkünfte bietet – einschließlich von Familienangehörigen, die aus Westberlin für diese Gelegenheit anreisen. Das Ritual besteht aus mehreren Teilen: Am Anfang steht der Einmarsch der Jugendlichen in den Saal, in Reih und Glied zu Musikbegleitung. Es folgt eine Festrede, die von einer örtlichen Persönlichkeit gehalten wird, das feierliche Versprechen, dann die Verteilung der Zertifikate und des Buches Weltall-Erde-Mensch, Danksagungen der Schülerinnen und Schüler, schließlich die Nationalhymne. In57 58

Ebd., pag. 31, 63 und 71. LAB, C REP 903-03-01/159, op. cit., unpag.

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Die Schule neuen Typs (1949–1959)

terviews helfen uns dabei, dieses Familienfest in einer Epoche des Mangels und der Einschränkungen zu rekontextualisieren. So erinnert sich R. H. an ihre Jugendweihe im Jahre 1961: „Ich kann mich noch an mein Kleid erinnern. Ich finde, es sieht wie ein Kommunionkleid aus. Es wurde extra angefertigt, dieses Kleid. [Pause] Ich war sehr unglücklich, ich habe mich nicht darin wohl gefühlt. Sie haben in der Familie verhandelt, wie eine Kommunion, eine Einsegnung. Es hat im Kulturhaus der Hochschule für Ökonomie in ­Berlin-Karlshorst stattgefunden. Das war ein sehr großer Raum. An die Zeremonie kann ich mich erinnern. Wir haben zwei, drei Tage vorher geübt und haben auch auf der Bühne geübt. Ich kann mich an kein so richtig großes Gefühl erinnern. Es war für mich um so mehr enttäuschend als dass meine Familie bis zum Ende eine relativ arme Familie war – ihre Parteizugehörigkeit hat ihnen nicht viel Geld gegeben – und es war ein lausiges Fest. Daran erinnere ich mich noch. Das hat mich enttäuscht. Zur Entschuldigung meiner armen Eltern ich habe jetzt gerade gelesen, dass 1961–62 eine Versorgungskrise war. Und es gab einfach nichts. Man konnte ein Fest nicht zustande bekommen. Es war irgendwie alles peinlich ein bisschen. “59

Die Erinnerungen von R. H. zeigen, dass die Jugendweihe in eine Familientradition eingereiht wird, in die auch die Konfirmation gehört, die von den Eltern gefeiert worden ist. Ihre Ausführungen erinnern daran, dass diese Zeremonie nicht immer von einem üppigen familiären Mahl begleitet ist, da die Möglichkeit dazu häufig von den ökonomischen Begleitumständen abhängt. Die These, dass in Bezug auf die offizielle Zeremonie eine gewisse Gleichgültigkeit herrscht, wird bestätigt von J. K., der seine Jugendweihe im Jahre 1958 erlebt hat: „Ich kann mich nicht richtig an die Jugendweihefeier erinnern. Das war in einem großen Saal, einem Kinosaal glaube ich. Die Kinder saßen vorne, die Eltern hinten. Vorher wurde eine Rede gehalten, dann kamen wir auf die Bühne, und es traten die Pioniere ein. Das war nur formal, eine erwünschte Pflicht. Eine Anpassung.“60 In diesem Interview erscheint die Jugendweihe als eine ferne Erinnerung, die augenscheinlich keine Spuren hinterlassen hat. Die Formulierungen J. K.s lassen auch den Wunsch erkennen, sich von einem Ritus zu distanzieren, der heute in Ostdeutschland als „Ideologisierungsinstrument“ betrachtet wird. Er will nicht die geringste Emotion in Bezug auf eine Zeremonie durchblicken lassen, die doch gleichwohl damals als ein wichtiges Übergangsritual verstanden worden sein muss. Die Betrachtung einiger Fotografien von der Jugendweihe, aus denen hier ein Beispiel wiedergegeben ist, kann uns möglicherweise helfen, diese Abwesenheit von Emotionen besser zu begreifen.61

59 60 61

Transkription des Interviews mit R. H., 12. März 2004, S. 11–13. Transkription des Interviews mit J. K., 16. März 2004, S. 7. PBM-F, ohne Signatur.

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Abb. 5 Zeremonie zur Jugendweihe im Metropol-Theater im Stadtbezirk Prenzlauer Berg am 29. 04. 1956

Die Aufnahme, deren Autor unbekannt ist, zeigt Teilnehmer und Teilnehmerinnen an einer Jugendweihe, die am 29. April 1956 im Metropol-Theater im Prenz­lauer Berg stattfindet. Der riesige Aufführungsaal fasst alle Schüler des Stadtbezirks, die an der Zeremonie teilnehmen. Die Jugendlichen stehen in einer Reihe auf der blumengeschmückten Bühne; sie halten ihre Urkunden in der Hand oder empfangen diese gerade aus der Hand des Bürgermeisters Hilbert. Hinter ihnen, in der Mitte der Bühne, ist auf dem Vorhang ein Zitat von Bertolt Brecht angebracht, das dazu auffordert, wissenschaftliche Studien weiter zu verfolgen: „So, wie die Erde ist, muß die Erde nicht bleiben, sie anzutreiben, forscht, bis ihr wisst.“ Die Gesichter sind ernst und zeigen keine wahrnehmbare Emotion; möglicherweise handelt es sich aber auch um eine Fassade der Ernsthaftigkeit, die auch über die gerade am Körper gehaltenen Arme vermittelt wird. Die Körperhaltungen zeugen von der Vorbereitung, die an den Tagen vor der Zeremonie stattgefunden hat. Hinter der scheinbaren Gelassenheit dürfte sich jedoch eine starke Einschüchterung verbergen, insbesondere während des Gangs auf die Bühne und beim Händedruck mit einem offiziellen Repräsentanten, in diesem Falle dem Bezirksbürgermeister ­Hilbert. Ab 1958/1959 ist der Anpassungsprozess an die Jugendweihe abgeschlossen; sie ist nun eine Tatsache, die das Verhältnis zwischen der ostdeutschen Bevölkerung und dem Regime bestimmt. Von nun an ist dieses an die Schule gebundene ­Ritual im Lebensweg aller Schülerinnen und Schüler verankert und wird zu einer ostdeut-

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schen Tradition, die bis heute in veränderter Form weiterbesteht. Mit der allgemeinen Einführung des zehnten Pflichtschuljahrs hat sie eine ihrer konstitutiven Dimensionen verloren: die nämlich, dass sie das Ende der Schulpflicht markiert. Seither bildet sie für die Jugendlichen eher ein persönliches Ereignis denn einen Wendepunkt in der schulischen Laufbahn.62 Die evangelische Kirche findet sich schließlich mit dieser Entwicklung ab und akzeptiert, dass die Jugendlichen, die dies wünschen, die Konfirmation nach der Jugendweihe empfangen. Dieser Wandel bezeugt durchaus eine Anpassung dieser Institution, auch wenn sich einige Pastoren noch während der 1960er und 1970er Jahre durch eine unbeugsame Haltung auszeichnen. Im Übrigen sind die Schulbehörden jederzeit in der Lage, Druck auf die Eltern und Schüler auszuüben, etwa mit der Drohung der Nichtzulassung zur Weiterbildung. Der Aufbau der sozialistischen Schule entspricht letztlich einem äußerst bewussten Projekt, zu dem die vollständige Umwälzung des schulischen Alltags gehört. Sehr früh, das heißt ab dem Beginn der fünfziger Jahre, wird die räumliche und zeitliche Gliederung der Schule politisiert. Sie soll dazu beitragen, bei den Kindern und Jugendlichen eine sozialistische Identität zu entwickeln. Diese symbolische Politik, zu deren grundlegendem Element die Jugendweihe wird, trifft auf Widerstände in den höheren Bildungsanstalten, die nicht nur von den Eltern kommen. Manche Lehrenden weigern sich, „Husaren des Sozialismus“ zu werden und sich in den Dienst dieses exzessiven Politisierungsunternehmens zu stellen. In genau diesem Kontext einer räumlichen und zeitlichen Transformation, zu der noch eine strukturelle und sozioprofessionelle Umwälzung des schulischen Feldes tritt, erfahren die Kinder und Jugendlichen die sozialistische Schule. Die Schülerinnen und Schüler bilden eine heterogene und komplexe Gruppe, die im Weiteren vorgestellt werden soll und deren Verhalten und Repräsentationen auf dem schulischen Feld zu untersuchen sind.

62

Bei dieser Gelegenheit bekommen die Jugendlichen ihren ersten Personalausweis und werden strafmündig.

Kapitel VI Die Schüler und die sozialistische Schule: Verhaltensformen und Repräsentationen Soziologischer Überblick Im Laufe der 1950er Jahre nimmt die Zahl der Schüler ab, die in Ostberlin allgemeinbildende Schulen besuchen: Von 145  000 im Jahre 1950 erreicht sie über 128 000 im Jahre 1952 lediglich noch 85 000 am Ende der 1950er Jahre.1 Diese stetige Abnahme erklärt sich einesteils aus der zunehmenden Abwanderung zahlreicher Flüchtlinge und Zwangsumsiedler aus den ehemaligen Ostprovinzen in andere Teile Deutschlands, aus der Flucht von zahlreichen Familien in den Westen und aus den demographischen Folgen des Zweiten Weltkriegs. Die strukturellen Reformen, die an die Verlängerung der Schulpflicht gekoppelt sind, führen erst wieder ab den 1960er Jahren zu einem Anstieg der Schülerzahlen. Diese Schüler gehören einer Generation an, die in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren geboren wurde und die Stigmata des Zweiten Weltkriegs trägt: den Verlust der Väter oder gar beider Eltern, das Trauma der Bombardierungen, die von den Sowjets verübten Plünderungen. Im Jahre 1948 sind im Bezirk Prenzlauer Berg etwa 20 % der in einer allgemeinbildenden Schule eingeschulten Kinder vaterlos.2 Der Versuch, die soziale Herkunft dieser Akteursgruppe aufzuklären, stößt auf das methodologische Problem der von den städtischen Schulbehörden angewandten statistischen Kategorien, die im ersten Augenblick als völlig unbrauchbar erscheinen. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, mit der Kategorie „Kinder der Arbeiterklasse“ zu arbeiten. Einer der Gründungsmythen der DDR besteht in der Herstellung eines egalitären Schulsystems, das Kindern, die aus der Arbeiterklasse stammen, eine starke soziale Mobilität ermöglichen soll. Die SED erklärt, mit ihrer Bildungspolitik einer großen Mehrheit von Kindern aus den unteren Schichten den Zugang zu den höheren Bildungsanstalten zu öffnen, die ihnen bis dahin verschlossen waren. Das Experiment der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten (ABF),3 die 1949 1 2 3

LAB, C REP 120/3 043, Berichte und Analysen – Statistische Erhebungen über Schulen, 1950–1951; LAB, C REP 120/3 164, Schulstatistische Erhebung, 1952; LAB, C REP 120/3 178, Schuljahresendstatistik, 1958–1959. Die Waisen Berlins. Eine Arbeit der mathematischen Abteilung der Versicherungsanstalt Berlins unter der Mitwirkung des Hauptschulamtes der Stadt Berlin, 1949, S. 28–29. Diese „Fakultäten“ ermöglichten es Angehörigen der Arbeiter- und der Bauernklasse, sich nach einer Ausbildung von drei Jahren an einer traditionellen Universität einzuschreiben. In den 1950er Jahren waren etwa 80 % der Absolventen dieser ABF proletarischer oder

140

Die Schule neuen Typs (1949–1959)

Grafik 6: Prozentsatz von Kindern aus der Arbeiterklasse in den Schulen Ostberlins laut den offiziellen Statistiken in den 1950er Jahren 43,9

1959

56

40

1955 12,5

1950 0

10

50

22 20 Oberschulen

30

40

50

60

Grundschulen

auf der Grundlage einer 1946 eingerichteten Institution gegründet wurden und die Hermann Kant in seinem Roman Die Aula nachgezeichnet hat, war ein solches Projekt. Diese Politik der positiven Diskriminierung ist von der Schulgeschichtsschreibung der DDR zum Mythos erhoben worden4 und stellt für viele Lehrkräfte der ehemaligen DDR immer noch einen der großen Erfolge der Schulpolitik des sozialistischen Regimes dar.5 Die offiziellen Statistiken scheinen diesen Diskurs über die positive Diskriminierung auf den ersten Blick zu bestätigen.6 Die Progression des Prozentsatzes an Arbeiterkindern in den allgemeinbildenden Schulen Ostberlins wirkt beeindruckend, insbesondere für die Oberschulen, wo

4 5

6

bäuerlicher Herkunft. Sie wurden 1962 abgeschafft. Siehe I. Miethe/M. Schiebel, Biografie, Bildung und Institution. Die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten in der DDR, Berlin 2008. K.-H. Günther/G. Uhlig, Zur Entwicklung des Volksbildungswesens auf dem Gebiet der DDR 1946–1949. Monumenta Paedagogica, Band 3, Berlin 1968, S. 36. Siehe hierzu die Interviews mit heutigen Lehrkräften in den neuen Bundesländern in: J. Chaupsky/A. Hoffmann, „Lernen in der Schule. Zum Verhältnis von unterrichtlichen und ausserunterrichtlichen Angeboten in ostdeutschen Schulen“, in: P. Büchner/H-H. ­Krüger (Hg.), Aufwachsen hüben und drüben. Deutsch-deutsche Kindheit und Jugend vor und nach der Vereinigung, Opladen 1991, S. 149–162. LAB, REP 120/3 157, Schulstatistische Erhebung Grundschulen-Oberschulen, 1950–51 ; LAB, C REP 120/3 172, Schuljahresendestatistik, 1955 ; LAB, C REP 120/3 178, Schuljahresendestatistik, 1958–1959.

Die Schüler und die sozialistische Schule

141

der Anteil der Arbeiterkinder zwischen 1950 und 1959 von 12,5 auf 43,9 % steigt – das ist immerhin eine Zunahme um 250 % in zehn Jahren! Allerdings verändert sich die Definition der Kategorie „Kinder aus der Arbeiterklasse“ im Verlauf dieses Jahrzehnts. Sie muss also dekonstruiert und jede statistische Angabe kontextualisiert werden, damit sichtbar wird, wie viele Arbeiterkinder tatsächlich die Ostberliner Schulen besucht haben. Zu Beginn der 1950er Jahre gelten diejenigen als Arbeiterkinder, deren Vater in der Produktion arbeitet. Im Jahre 1953 verwendet der Schulleiter im Protokoll einer pädagogischen Konferenz in der 31. Schule im Prenzlauer Berg folgende Definition: „a) Wenn ein Vater früher (also vor 1942) Maschinenschlosser war und um 1945 Betriebsleiter geworden ist, so rechnet man sein Kind auf jeden Fall zu der Gruppe; b) Wenn ein Vater früher Betriebsleiter [war] und heute aus politischen Gründen Bau­ arbeiten ausführen muß, so ist sein Kind kein Arbeiterkind.“7

Diese Definition stellt nicht die aktuelle Situation des Familienvaters in den Vordergrund, sondern kombiniert soziale Herkunft mit politischen Kriterien. Ab 1957 schließen die offiziellen Statistiken in der Kategorie „Kinder aus der Arbeiterklasse“ gleichzeitig die Kinder von Arbeitern, Angestellten und Angehörigen der Sicherheitskräfte (Polizei, Armee) ein. Um dem Problem der Verwendbarkeit der offiziellen Statistiken in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre begegnen zu können, haben wir sie so verwendet, dass wir nur die Kinder der Produktionsarbeiter als Angehörige der Arbeiterklasse gezählt haben. Damit ist auch nachgewiesen, dass sich mit diesen Quellen durchaus arbeiten lässt, da diese in der ersten Phase der Datensammlung weiterhin säuberlich getrennte Unterkategorien verwenden. Tabelle 11:  Soziale Herkunft der Oberschüler in Ostberlin im Jahre 1957 (in %)

Produktionsarbeiter

24,6

Angestellte

36,1

Handwerker

7

Intelligenz

19,3

Andere

13

Insgesamt

7

100

Sm/Do, Protokollbuch der 31. Schule im Prenzlauer Berg, unpag.

142

Die Schule neuen Typs (1949–1959)

Für das Jahr 1957 erhalten wir so Prozentzahlen von 43,2 % bei den Volksschulen und 24,7 % bei den Oberschulen.8 Offiziell sind dagegen 40 % der Oberschüler Ostberlins Arbeiterkinder.9 Die sekundäre Schulbildung hat sich also durchaus für Kategorien geöffnet, die bis dahin keinen Zugang zu ihr hatten; ihr Anteil muss aber relativiert werden. Die Oberschule bleibt weiterhin von den Kindern von Angestellten und aus den Mittelklassen dominiert. Einige Eliteanstalten mit erweitertem Russischunterricht zählen lediglich 15 % Arbeiterkinder.10 Ein rascher Vergleich Berlin-Osts mit dem Rest der DDR, der BRD und Frankreich ist aufschlussreich. Im Vergleich mit dem nationalen Mittelwert zeichnet sich die ostdeutsche Hauptstadt durch eine weniger umfassende Demokratisierung aus. Laut den offiziellen Statistiken stehen 49 % Arbeiterkinder unter den Schülern der Sekundarstufen in der DDR im Jahre 1955 lediglich 40 % in Ostberlin gegenüber.11 Dieser Unterschied erklärt sich zum Teil durch den Hauptstadtstatus Ostberlins, wo sich die politischen, intellektuellen, medizinischen, universitären Eliten usw. konzentrieren. In der BRD bewirkt die Aufrechterhaltung der Triade aus VolksschulenMittelschulen-Gymnasien, dass über die ganzen 1950er Jahre hinweg eine qualitative Demokratisierung ausbleibt. Das Prinzip der Einheitsschule bleibt bis in die 1960er Jahre hinein im Namen des Antikommunismus ein Tabu in den Debatten zur Bildungspolitik. Es dauert bis in die Mitte der 1960er Jahre, bis sich eine Debatte über soziale Mobilität entwickelt, und erst 1969 wird das Modell einer Einheitsschule, die Gesamtschule, zur Einrichtung in westdeutschen schulischen Einrichtungen zugelassen. Im Jahre 1952 sind 4 % der Schüler, die ein Gymnasium besuchen, Kinder von Arbeitern; im Jahre 1958 werden es 8 % sein.12 Was Frankreich in den 1950er Jahren angeht, so zeichnet es sich zu dieser Zeit durch die Existenz dreier Bildungswege aus und leitet erst ab 1958 einen Reformprozess in mehreren Etappen ein:13 Dem lycée (mit einer ersten und einer zweiten Stufe von der 6. bis zur Abschlussklasse) [entspricht dem Gymnasium, Anm.d.Ü.], den öffentlichen Zusatzkursen, die in Collège d’enseignement général [entspricht etwa der Realschule] umbenannt werden (ein Zyklus von der 6. zur 3. Klasse) und den centres d’apprentissage [eine Art Lehrwerkstätten]. Dieses System ist insofern sehr konservativ (wenn auch in geringerem   8 LAB, C REP 120/3 177, Schuljahresendstatistik 1956–1958, unpag.  9 Ebd. 10 Ebd. 11 K.-H. Günther/G. Uhlig, Geschichte der Erziehung, Berlin 1967, S. 643. 12 O. Anweiler, Vergleich von Bildung und Erziehung in der BRD und in der DDR, Köln/ Opladen 1990, S. 93 und 106. 13 Das heute wieder zur Disposition gestellte Prinzip des collège unique (Einheits-Collège) wird schrittweise zwischen 1959 (Einrichtung eines Beobachtungszyklus von zwei Jahren für alle Schüler der 6.–5. Klasse, der 1963 auf den gesamten ersten Zyklus ausgedehnt wird) und 1975 (die Haby-Reform tritt 1977 in Kraft) eingeführt.

Die Schüler und die sozialistische Schule

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Maße als in der BRD), als das Lyzeum bestimmten Gesellschaftsschichten vorbehalten ist, die über ein gewisses ökonomisches oder kulturelles Kapital verfügen: Im Jahre 1959 sind 19,4 % der Lyzeumsschüler Arbeiterkinder, während sie zwei Drittel der Klassen in den Zusatzkursen bilden. Auf der Grundlage einer Untersuchung, die zwischen 1945 und 1980 über die Agglomeration von Orléans gemacht wurde, zeigt Antoine Prost eine sehr deutlich wahrnehmbare Progression seitens der Arbeiter­kinder im zweiten Zyklus der höheren Schulbildung (10.–12. Klasse) bis in die Mitte der 1960er Jahre: Ihr Anteil in den Sekundärklassen steigt von 8,7 % 1947–1949 über 15,5 % 1952–1954 auf 21,5 % 1962–1964. Das gleiche Phänomen lässt sich für die Abschlussklassen beobachten: von 7,4 % zum Ende der 1940er Jahre steigt der Anteil der Arbeiterkinder auf 18,7 % im Jahre 1968.14 Ab dann nimmt ihr Anteil stetig ab, und zwar parallel zur Einführung des Einheits-Collège. A. Prost zeigt für den französischen Fall, dass es eine nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Demokratisierung vor den Reformen gegeben hat, bis letztere ers­ tere entgegen den Erwartungen abgebremst hat. Die Möglichkeiten zu sozialem Aufstieg sind sicherlich eine Realität in der schulischen Landschaft Ostberlins, aber sie bleiben im Vergleich mit den Zielvorgaben des Volksbildungsministeriums letztlich beschränkt: Immerhin fordert dieser in der Mitte der 1950er Jahre, bis zum Beginn der 1960er Jahre eine Quote von 70 % Arbeiter­kindern in den Oberschulen zu erreichen. In diesem Sinne nuancieren unsere Ergebnisse die These der deutschen Soziologin Sonja Häder, wenn sie von ­einem „radikalen Wandel“ in der Zusammensetzung der Sekundarschulen spricht.15 Unsere Berechnungen werden von den lokalen Quellen bestätigt. Die Autoren der Schulinspektionsberichte betonen, dass die positive Diskriminierung zugunsten der „Arbeiterkinder“ häufig toter Buchstabe bleibt. Schulische Kriterien bleiben in ­einer ganzen Reihe von Schulen vorherrschend, da diese Schüler einfach schlechter sind als die Kinder von Akademikern. Die Unterschiede im kulturellen Kapital und das Fehlen einer Politik systematischer Hilfe für die Arbeiterkinder bremsen die radi­kale soziale Umwälzung, die der ostdeutsche Staat eingeleitet hat. Im März 1955 beleuchtet ein SED-Funktionär des Bezirks Prenzlauer Berg diesen Mangel:

14 A. Prost, L’enseignement s’est-il démocratisé?, Paris 1986; A. Prost, Éducation, société et politiques. Une histoire de l’enseignement en France de 1945 à nos jours, Paris 1992. Siehe auch P. Bourdieu, La reproduction, Paris 1970. 15 S. Häder, „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs? Zur Auswahl und sozialen Struktur von Schülern am Beispiel Ost-Berlins (1945–1955)“, in: H. Gotschlich (Hg.), op. cit., S. 170–186.

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„Ein ernstes Problem an unseren Schulen ist die Förderung der Arbeiter- und Bauernkinder. Trotzdem die Maßnahmen in allen Schulen ergriffen werden, gibt es auch überwiegend eine formale Durchführung dieser Maßnahmen. […] Nur in Ausnahmefällen findet eine ständige Förderung und dauernde Hilfe für die Arbeiter- und Bauernkinder statt.“16

Der Bericht betont das mangelnde Engagement der Lehrkräfte, die letztlich für ­diese Politik der positiven Diskriminierung wenig empfänglich sind. Viele sind geprägt von einem Berufsethos, das nicht über den Bereich des Klassenzimmers hinauszublicken vermag. Die SED würde sich wünschen, dass die Lehrkräfte Arbeiterkinder außerhalb des Unterrichts unterstützen und ihnen bei den Hausaufgaben helfen. Sie fördert die Gründung von Lernaktiven, d. h. Nachhilfegruppen. Angesichts des geringen Engagements der Lehrenden sind es die besten Schüler unter den Jungen Pionieren, die Schülern helfen, die Schwierigkeiten haben. Neben der Frage der qualitativen Demokratisierung des Schulsystems ist es von Interesse, ein Porträt der „schweigenden Mehrheit“ der Schüler zu zeichnen und zu untersuchen, wie diese sich an die sozialistische Schule anpasst.

Die „Chamäleon“-Mehrheit In den 1950er Jahren gehört die Mehrheit der Schüler, die allgemeinbildende Schulen in Ostberlin besuchen, nicht den Jugendorganisationen an. Dies bedeutet noch nicht unbedingt ein unüberwindliches Hindernis für eine Fortsetzung der Ausbildung in der Sekundarschule oder den Eintritt in die Universität, obwohl das politische Kapital ab dem Ende der 1950er Jahre ein wichtiger werdendes Kriterium bildet. So weist die Auswahlkommission für die Aufnahme in die Ossietzky-Oberschule in Pankow die Bewerbungen zweier Schüler im Jahre 1958 aus dem einzigen Grund zurück, dass diese nicht Mitglieder der Jungen Pioniere waren. Darüber ­hinaus, um die soziologische Dimension einzubeziehen, sind ihre Väter Musiklehrer am Konservatorium in Wismar beziehungsweise Ingenieur.17 Die Schüler gehören zwei verschiedenen Generationen an, die in unterschiedlichen Kontexten sozialisiert wurden: Die in die Volksschulen eingeschulten Kinder sind am Ende des Krieges geboren worden und wachsen im Rahmen einer im Aufbau befindlichen sozialistischen Schule auf; die Heranwachsenden, die die Oberschulen besuchen, sind zwischen 1935 und 1940 geboren und geprägt von einer Sozia­lisation unter dem Dritten Reich, von der Erfahrung des Krieges, der Gewalt … Für den Versuch, diese „Chamäleon“-Mehrheit in den Blick zu nehmen, sind die Inspektionsberichte unverzichtbar. Die städtischen und SED-Funktionäre und 16 17

LB, C REP 903-01-06/348, op. cit., unpag. LAB, C REP 120/2 348, 9. und 11. Grundschule in Pankow-Rosenthal, 1950–1960, unpag.

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die Pädagogen beobachten das Verhalten der Schüler ständig unter politischen Gesichtspunkten. Jeder Bericht enthält einen Abschnitt unter dem Titel „Politische Haltung der Schüler“ oder „Politische Stimmung“. Auf der Grundlage dieser Quellen lassen sich insbesondere die Repräsentationen und Haltungen der Schüler in den Ostberliner Einrichtungen jener Zeit rekonstruieren. Die Vertreter der Generation des Wiederaufbaus zeichnen sich vor allem aus durch das Erlernen der Funktionsregeln einer politisierten Schule, durch Feindseligkeit gegenüber den Russen sowie den Glauben an die Wiedervereinigung und die Liebe zum Frieden. Das Erlernen des „Tun als ob“ Die Schule ist in der DDR eine in hohem Maße politisierte Institution; für Schüler, die ihre Ausbildung fortsetzen möchten, bedeutet dies die Notwendigkeit, Praktiken des „so tun als ob“ zu internalisieren, insbesondere bei Aufsätzen politischen Inhalts oder im Unterricht zur Gegenwartskunde, die ab dem Schuljahr 1950/1951 in den Lehrplan aufgenommen wird und die erste Form von Staatsbürgerkunde darstellt, die in der DDR unterrichtet wird.18 Die Schüler akzeptieren es, eine genau bestimmte soziale Rolle zu spielen, das heißt das zu schreiben, was man von ihnen erwartet. Eine Inspektion in sechs Ostberliner Schulen im März 1954 beklagt diesen Formalismus der Heranwachsenden: „Die älteren Schüler kommen nicht mehr so offen mit ihrer wirklichen Meinung heraus und zum anderen müssen sie lernen, weil sie wissen, daß sie das Wissen für das Abitur benötigen. Daher bleibt ihr Wissen größtenteils nur angelerntes und formales Wissen. Ab und zu verraten sie sich dann. So z. B. ein Schüler der auf die­Frage, was er in seinem Aufsatz geschrieben hat, antwortete: „Nun, das was man hören will!“ Es wurde mir von vielen Seiten gesagt, auch von Schülern, daß die Schüler einfach nicht glauben, was sie im Gegenwartsunterricht oder auch in Diskussionen gesagt bekommen, zumindest zweifeln sie dies stark an. Sie wägen sehr stark ab zwischen dem, was sie von uns hören, und dem, was der RIAS sagt. Es zeigt sich, daß sie mehr zu dem neigen, was der RIAS sagt.“19

18 Ab dem Schuljahr 1957/1958 wird die Gegenwartskunde zur Staatsbürgerkunde. Siehe T. Grammes (Hg.), Staatsbürgerkunde in der DDR. Quellen und Dokumente, Opladen 1997; ders., „Staatsbürgerkunde zwischen Katechetik und Dialektik: Interpretationsrahmen zu einer Problemgeschichte von Fachunterricht in der DDR“, in: S. Häder/H. E. ­Tenorth (Hg.), Bildungsgeschichte einer Diktatur, S. 155–182; T. Grammes/H.-J. Vogler, Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband, Wiesbaden 2006. 19 LAB, C REP 903-01-06-351, op. cit., unpag.

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Die Autoren des Berichts sind sich dessen bewusst, dass es utopisch wäre zu hoffen, dass die sozialistische Schule auf einen Schlag die Haltung und die mentalen Repräsentationen der Oberschüler verwandeln könnte. Sie beklagen die oberflächliche Akzeptanz der Politik des Regimes und der marxistischen Ideologie durch die große Mehrheit der Schüler: „Sie sind zwar in den Gegenwartskundestunden bemüht, sich die Darstellungen der Lehrer wie Formeln bzw. wie Vokabeln anzulernen und bei Überprüfung das zu sagen, wovon sie annehmen, daß es gewünscht wird, um bei Versetzungen und Prüfungen ihre Zensur nicht in Gefahr zu bringen, aber sie gewinnen in ihrer Mehrheit nicht das richtige Verhältnis zu den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten und ihrer wissenschaftlichen Grundlage.“20

Die Mehrzahl der Oberschüler entwickelt also ein doppeltes Spiel zwischen dem Klassenzimmer und dem Draußen, womit sie eine Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum trifft. Nun wäre es aber falsch, anzunehmen, die Jugendlichen würden eine undurchdringliche Barriere zwischen beiden Welten aufrichten.21 Der Pausenhof bildet bereits im Inneren der Schule einen Gegenraum der öffentlichen Meinung, wo sie freier äußern, was sie denken. Dieses Phänomen lässt sich sehr gut im Jahre 1956 während der Niederschlagung der Oktoberrevolution in Ungarn beobachten. Im Unterricht verdammen die Schüler offiziell den „faschistischen Putschversuch“ und bieten sich an, Pakete an ungarische Kinder zu schicken. Auf dem Hof ist der Diskurs ein anderer: „In der Diskussion über die Fragen in Ungarn sagen die Schüler im Gegenwartskundeunterricht das, was der Lehrer zu hören wünscht, und in der Pause schimpfen sie auf die Russen, die kleine Kinder verschleppen würden usw.“22 Die Schüler fühlen sich in ihrer Strategie des „Jasagens“ und „Nein Denkens“ in dem Maße bestätigt, in dem ihre Lehrer ihrerseits ihre wirkliche persönliche Meinung verstecken: „Die FDJ-Gruppe mußte einen Diskussionsabend veranstalten, weil ein Schüler der Oberschule bei dem Aufsatzthema über die Nationale Front seinen Mitschülern geraten hatte, nicht ihre wahre Meinung zu schreiben, da sie sonst von der Schule verwiesen würden. In dieser Diskussion, […], kam deutlich zum Ausdruck, daß die Mehrzahl der Schüler noch stark dem Einfluß antisowjetischer Hetzpropaganda unterliegt. Es kam

20 21 22

LAB, C REP 120/2 077, op. cit., pag. 81. Siehe für das Beispiel UdSSR das Kapitel 5 des Buches von S. Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley 1995. LAB, C REP 903-01-06/355, op. cit., unpag.

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aber eindeutig zum Ausdruck, daß die Schüler sehr wohl herausfühlen, wie ihre Lehrer in Wirklichkeit denken. Sie merken sehr wohl, ob die Lehrer zwar „ja“ sagen, aber „nein“ denken. Sie sagten offen, daß sie der Überzeugung sind, daß ihre Lehrer ihre wahre Meinung verbergen.“23

Die engagiertesten Schüler zögern nicht, den Mangel an ernsthaftem Enthusiasmus seitens der Lehrkräfte bei den hauptamtlichen Funktionären der Jugendorganisationen anzuprangern: „Die Pioniere wissen ganz genau, daß nur einige der Lehrer wirklich davon überzeugt sind, was sie in Gegenwartskunde und anderen Stunden lehren.“24 Dieses „Tun als ob“ macht sich auch innerhalb der FDJ bemerkbar. Nicht alle Schüler, die in die FDJ eintreten, sind überzeugte junge Kommunisten. Einige Inspektionsberichte – etwa die Bilanz für das Jahr 1956 im Bezirk Pankow – erwähnen das Problem der „Opportunisten“, die weit davon entfernt sind, ein ernsthaftes Engagement für den Sozialismus zu zeigen: „Die Mehrheit der FDJ-Mitglieder unterscheidet sich bewußtseinsmäßig kaum von den übrigen Schülern. Ein großer Teil von ihnen ist aus karrieristischen Gründen der FDJ beigetreten.“25

Dieser Opportunismus belegt die Aneignung der sozialen Funktionsregeln in der DDR. Durch diese Bemerkungen hindurch sieht man das erste Aufscheinen einer Kritik, die sich in den 1960er Jahren noch verstärken wird, nämlich die Kritik des Opportunismus. Die überzeugtesten Mitglieder wollen eine schärfere Selektion und stellen sich gegen die Umwandlung der FDJ in eine Massenorganisation. Da sie aus den Jugendlichen keine überzeugten Sozialisten formen kann, will die SED sie wenigstens disziplinieren. Die Fahnenappelle bilden eine solche Disziplinierungstechnik, werden aber nicht systematisch abgehalten. Ein Inspektionsbericht erwähnt sie für die 16. Schule in Berlin-Mitte im Jahre 1953, wo solche ­Appelle jeden Morgen zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn stattfinden.26 ­Diese Schule ist insofern nicht repräsentativ, als sie zu den besten Ostberlins und der DDR gehört. An der Wilhelm-Pieck-Schule in Pankow finden sie bei Gedenk- und Jahrestagen statt.27 Das formal korrekte Verhalten der Schüler wird in den 1950er Jahren häufig kontrastiert von Akten der Regelverletzung in Form von Graffiti auf offiziellen Porträts oder antisowjetischen Äußerungen.

23 24 25 26 27

LAB, C REP 120/2 077, op. cit., pag. 82. LAB, C REP 903-01-06/355, op. cit., unpag. LAB, C REP 120/153, op. cit., pag. 151. BA DR 2/1 196, op. cit., pag. 18. LAB, C REP 120/1940, op. cit., pag. 279.

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Die Feindseligkeit gegenüber den Russen Die UdSSR nimmt im Inneren des schulischen Universums großen Platz ein, sowohl auf der Ebene des Unterrichts28 wie in den außerschulischen Praktiken. Die Erziehungsbehörden sind ohne Unterlass getrieben von dem Willen, ein „Gefühl der Liebe“ gegenüber dem „großen russischen Bruder“ zu wecken. Allerdings erhält diese voluntaristische Politik im Allgemeinen eine eindeutige Absage. Die Feindseligkeit gegenüber den Russen stammt aus der Übertragung eines mentalen Erbes in vielen Familien. Die Generation der in den 1920er und frühen 1930er Jahren geborenen Deutschen ist mit den Stereotypen aufgewachsen, die von der Nazi-Propaganda (und bereits vorher) verbreitet wurden: den Russen als einem Volk unzivilisierter Untermenschen, Barbaren, unversöhnlichen Feinden. Die Interviews mit R. H. und E. M. haben gezeigt, dass diese Bilder im Denken der jungen Lehrkräfte und hauptamtlichen Funktionäre der FDJ durchaus noch präsent sind. Diese Reprä­sentation, die so stark verinnerlicht wurde und weitgehend von der HJ-Generation geteilt wird, hat sich nicht plötzlich mit dem Untergang des Dritten Reichs und der Gründung der DDR verflüchtigt. Sie wird auch in den zahlreichen Familien aufrechterhalten, deren Vater aus russischen Kriegsgefangenenlagern zurückkehrt, oder in den Familien der Flüchtlinge und Zwangsumsiedler, die die preußischen Ostprovinzen verlassen mussten. Für viele ist der Familienkontext entscheidend, das heißt die ­Frage, ob der Vater in der UdSSR Kriegsgefangener war oder verschollen ist. Über dieses mentale Erbe hinaus ist diese Feindseligkeit jedoch in erster Linie das Resultat der Traumatisierung durch Krieg (Vergewaltigungen, Raub) und Besatzung. Es lässt sich im Allgemeinen nicht von einer ernstlichen Begeisterung für die UdSSR sprechen. Sie gilt als Besatzungsmacht, die die Wirtschaft mit ihrer Demontagepolitik ausblutet. Gedanken dieser Art werden punktuell von Schülern geäußert und in die Berichte aufgenommen. Im Juli 1950 erwähnt ein Funktionär in Weißensee, was er „Propagandaargumente“ nennt: „Die Russen nehmen uns alles weg.“29 Die Russen nehmen diese Feindseligkeit seit 1945 wahr.30 Das von ­Sergej ­Tjulpanov geleitete Büro für Propaganda und Information der SMAD in Berlin 28 So enthält das 1951 entworfene Programm des Geschichtsunterrichts in der 8. Klasse 16 Stunden zur Oktoberrevolution und den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, das heißt 20 % der gesamten Stundenzahl. Ministerium für Volksbildung, Lehrplan für Grundschulen. Geschichte 5. bis 8. Schuljahr, Berlin 1951. 29 LAB, C REP 120/2077, op. cit., pag. 81. 30 Für die Jahre 1945–1949 siehe N. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997; B. Bonwetsch/G. Bordjugov/N. Naimark (Hg.), Sowjetische Politik in der SBZ 1945–1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung der SMAD unter Sergej Tjulpanov, Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 20, Bonn 1998.

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registriert sie in seinen Berichten.31 Auch die Schule ist ein Feld, auf dem sich diese Feindseligkeit gegenüber den Russen äußert. Besonders lebendig ist sie bei den Heranwachsenden, die Anfang der 1950er Jahre die Oberschulen in Ostberlin besuchen, das heißt in den Altersklassen, die am Ende der 1930er und zu Beginn der 1940er Jahre geboren wurden und von der Kriegserfahrung geprägt sind: „Bei den älteren Jahrgängen (ab 13. Lebensjahr) macht sich noch sehr stark das ideologische Erbe der Vergangenheit bemerkbar.“32 Im Rahmen eines Aufsatzes, wie er in allen Oberschulen Ostberlins verlangt wird, schreibt ein Schüler der Schinkel-Oberschule im Jahre 1954: „Die sowjetischen Flieger griffen uns auf der Flucht im Tiefflug an … Die Russen hatten uns eingekesselt, so daß niemand mehr weiter konnte … so geschah denn das, was alle befürchteten, die Russen raubten und plünderten uns vollkommen aus.“33 In der Folge des Deutschlandtreffens im Mai 1950 fordert die FDJ die Schulen auf, die Schüler der 3. bis 8. Klassen einen Aufsatz zu diesem Thema verfassen zu lassen. Dieser wird begleitet von einem kleinen Fragebogen zur Einschätzung der Haltungen insbesondere gegenüber der UdSSR. Antirussische Empfindungen sind im Jahre 1950 in den Antworten der Schüler sehr präsent. Von den 463 Schülern der Händel-Schule in Friedrichshain bezeugen nur 15 eine positive Haltung gegenüber der UdSSR.34 Mitunter werden solche Gefühle von manchen Schülern bewusst eingesetzt, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder um die Autorität der Erwachsenen herauszufordern. Die Schulbehörden interpretieren jedoch offensichtlich als „feindliche Tätigkeit“, was in den meisten Fällen Prahlerei von Heranwachsenden in der Pubertätskrise ist. T. ist 1953 Schüler der Klasse 10b3 der Max Planck-Oberschule in Berlin-Mitte. Bei ihm wird ein Zettel mit antisowjetischen und Stalin beleidigenden Parolen gefunden. Es wird beschlossen, ihn in eine andere Klasse zu setzen, und er kommt in die 10b2, wo die Zahl der FDJler größer ist. Diese Entscheidung hat nicht den gewünschten Effekt, denn T. wird nun von den anderen Schülern als „Held“ angesehen.35 Auch werden die Porträts Lenins und Stalins über das ganze Jahrzehnt hinweg immer wieder beschädigt. Die Einführung des Russischen als obligatorische Fremdsprache ab der 5. Klasse im Jahre 1951 hat sicherlich dazu beigetragen, diese Feindseligkeit zu verstärken. Im Übrigen haben viele Schwierigkeiten mit dieser Sprache: Das Russische ist neben der deutschen Grammatik das Fach, in dem die Noten in der Regel am schlech31 32 33 34 35

B. Bonwetsch/G. Bordjugov/N. Naimark (Hg.), op. cit., S. 8–10. LAB, C REP 120/2077, op. cit., pag. 50. LAB, C REP 903-01-06/351, op. cit., unpag. LAB, C REP 120/2 078, op. cit., pag. 23. BA DR 2/1196, op. cit., pag. 25.

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testen sind. Im Jahre 1954 hat ein Viertel der Schüler im Bezirk Pankow einen Noten­schnitt von 5, d. h. die schlechteste mögliche Note.36 Dies wiederum führt zur Gründung von Unterstützungsbrigaden für dieses Fach und zur Organisierung eines Fests der russischen Sprache ab 1958. Der Russischunterricht bildet einen Ort der Verletzung der sozialistischen Regeln. Mitunter organisieren sich die Schüler, um ihre Ablehnung der Russen zum Ausdruck zu bringen. Im Januar 1954 organisieren die Schüler der Klasse 8b der 25. Schule in Lichtenberg, möglicherweise auf einen entsprechenden Appell des RIAS, während des Russischunterrichts drei Schweigeminuten anlässlich der Außenministerkonferenz, die kurz darauf in Berlin stattfindet. Die gleiche Geste wird von der 9. Klasse der 9. Schule in Lichtenberg einige Tage später vollführt.37 Abgesehen von dieser Feindseligkeit gegenüber der UdSSR und dem russischen Besatzer wachsen diese Schülergenerationen in einer Welt auf, die von den Folgen des Krieges geprägt ist, und hoffen auf die Wiedervereinigung Deutschlands. Für Frieden und Wiedervereinigung Die Schüler der 1950er Jahre gehören einer Altersklasse an, die vom Krieg gezeichnet ist. Der Frieden ist für diese Generation ein zentraler Wert, der in der Schule und in den Familien vermittelt wird. Die SED ist sich dessen bewusst und bemüht sich, diesen Wert zu instrumentalisieren, um so die Eltern in den Aufbauprozess der sozialistischen Schule einzubeziehen.38 Im Jahre 1951 kopieren die Schüler der Grundschulen anlässlich des Zusammentretens des Weltfriedensrats in Ostberlin im Unterricht den Entwurf eines Briefes, der sich an ihre Eltern richtet und den diese unterzeichnen sollen: „Sehr geehrte …, wieder einmal ist es soweit! Kaum sechs Jahre nach dem Ende des schrecklichen 2. Weltkrieges rüstet die westliche Welt zu einem neuen und noch furchtbareren Krieg, dem Atomkrieg. Er bedroht unseren friedlichen Aufbau, unser Leben und nicht zuletzt das Leben unserer Kinder, für die wir arbeiten und Sorge tragen.

36 37

LAB, C REP 903-01-06/348, op. cit., unpag. LAB C REP. 903-01-03/159/ Berichte, Einschätzungen über die Arbeit an den Lichtenberger Schulen, 1952–61, unpag. 38 E. Droit, „Frieden“, in: M. Sabrow (Hg.), DDR-Erinnerungsorte, München 2009, S. 152– 160.

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Um die Kriegsgefahr zu bannen, tritt in der Zeit von 19.1.–23.2 der Weltfriedensrat zusammen. Die Verwirklichung der Punkte des Weltfriedenskongresses in Warschau und die friedliche Lösung der deutschen und japanischen Frage stehen auf der Tagesordnung. Ich bin davon überzeugt, daß Sie auch für den Weltfriedensrat stimmen, gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands und für die Ächtung der Atombombe sind. Es ist uns ja allen klar, daß unsere Kinder nur im Frieden eine glückliche Zukunft haben können. Bitte unterstützen Sie die Tagung des Weltfriedensrates, indem Sie uns auf der Rückseite Ihre Stellungnahme übersenden.“39

Was hierbei interessant ist, ist weniger der Versuch, die Eltern auf dem Umweg über die Kinder zu instrumentalisieren, als vielmehr der Ausdruck des Misstrauens der Eltern. Zunächst einmal sind von allen Briefen, die in den Archiven erhalten sind, lediglich 10 % unterzeichnet, was weniger von einer Ablehnung des Friedens zeugt als von einer Ablehnung seiner Instrumentalisierung durch die SED. Wenn Eltern signieren, dann koppeln sie ihr Bekenntnis zum Frieden an zwei politische Forderungen: die Wiedervereinigung („Ich bin für den Frieden und die Einheit Deutschlands“; „Für Frieden und Einheit im ganzen Deutschland“; „Ich bin gegen die Atombombe, für Frieden und Einheit“; „Ich bin für den Frieden und für ein einiges Vaterland“) und das Ende der sowjetischen Militärpräsenz („Frieden und Abzug aller Besatzungstruppen“.).40 Die Schüler selbst bringen ihr Bekenntnis zum Frieden in den Texten zum Ausdruck, die sie verfassen; dieser Pazifismus geht aber nicht einher mit einem Bekenntnis zum Regime, denn die DDR wird häufig über die Formulierung „Eure Republik“ auf Distanz gesetzt.41 Diese Haltung wird von den SED-Funktionären beklagt als „Objektivismus“ der Schüler, d. h. als Mangel an „kämpferischem Engagement“. Der „Pazifismus der Oberschüler“ entspricht nicht den Erwartungen eines Regimes, das Heranwachsende will, die bereit sind, ihr ostdeutsches Vaterland zu verteidigen. Die bis in Extrem betriebene Politisierung der Institution Schule weckt ohne Zweifel die Aufmerksamkeit der Schüler für aktuelle politische Fragen. Die Politisierung ist also erfolgreich, aber nicht immer in dem Sinne, in dem die SED sie beabsichtigt hat. Die Schüler interessieren sich für politische Fragen, aber sie informieren sich bei den westlichen Radios, insbesondere beim RIAS, der von den ostdeutschen Erziehungsbehörden zum Staatsfeind erklärt wird. Das Abhören des RIAS hat Auswirkungen bis in die Klassenzimmer, da die Meinungen der Radiojournalisten manchmal, bewusst oder nicht, von den Schülern im Unterricht der Gegenwartskunde wieder aufgegriffen werden. Nach einer Inspektion von sechs Ostberliner 39 40 41

LAB, C REP 120/335, Stellungnahmen von Lehrern, Schülern und Eltern zur Tagung des Weltfriedensrates in Berlin, 1951, unpag. LAB, C REP 120/335, op. cit., unpag. LAB, C REP 120/2078, pag. 23.

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Oberschulen im März 1954 unterstreichen die Schulinspektoren dieses Problem: „Der größte Teil der Schüler ist wesentlich beeinflußt durch das Abhören des ­RIAS oder durch persönliche Verbindung nach Westberlin. Dies kommt zum Ausdruck in den geführten Diskussionen an den Schulen, in denen die RIAS-Argumente überwiegen, dies kommt weiterhin zum Ausdruck in der schlechten Beteiligung der Schüler am Unterricht für Gegenwartskunde.“42 Die städtischen Schulbehörden sind von dieser „Kontaminierung“ der Geister beunruhigt, aber sie bleiben machtlos. Grad und Qualität der Informiertheit der Schüler lässt sich an einem Beispiel abschätzen, das der Direktor der Gerhart-Hauptmann-Oberschule in Köpenick im März 1954 mitteilt. Dieser Schulleiter unterrichtet Gegenwartskunde. Bei einem schriftlichen Test über die Genfer Konferenz provoziert er die Schüler, indem er sie auffordert, den Eden-Plan zu behandeln.43 Diese haben die ironische Dimension der Frage des Lehrers nicht verstanden und sich gefreut, über ein Thema zu sprechen, mit dem sie sich auskennen!44 Der Unterricht in Gegenwartskunde verwandelt sich häufig in ein veritables Diskussionsforum, wo die pädagogischen Inspektoren und die Lehrkräfte den Einfluss der westlichen Medien in den Argumentationen und Fragen der Schüler wahrnehmen. Diese Debatten lassen sehr deutlich die sehr starke Hoffnung auf eine rasche Wiedervereinigung und die Furcht vor jeder Infragestellung dieser Erwartung zum Vorschein kommen. Hier einige der Fragen, die die Schüler der 8. Klasse während eines in der 30. Schule in Lichtenberg organisierten Forums am Ende der 1950er Jahre gestellt haben und die von den SED-Funktionären notiert wurden:45 „Vertieft ein Friedensvertrag die Spaltung?“ „Wir bauen doch auch Kanonen, und drüben in Westdeutschland, die bauen doch auch Krankenhäuser?“ „Ist die DDR gegenüber der BRD dann Ausland?“ „Wenn die westlichen Alliierten Westberlin verlassen müssen, dann müßten doch auch die Sowjettruppen aus Ostberlin raus?“

Den Lehrkräften fällt es mitunter schwer, auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Den Schülern ist dies bewusst, und sie spielen mit solchen „naiven“ Fragen, um die Autoritätsstellung der Lehrenden zu destabilisieren. Die Funktionäre der SED und der Jugendorganisationen machen die Lehrkräfte und die Eltern für diese „schlechte Erziehung“ verantwortlich. 42 LAB, C REP 903-01-06/351, op. cit., unpag. 43 Dieser vom britischen Außenminister auf der Berliner Konferenz im Januar-Februar 1954 vorgestellte Plan stellte ein Fünf-Punkt-Programm auf, das zur Wiedervereinigung führen sollte. Er sah vor allem freie Wahlen auf dem deutschen Staatsgebiet vor sowie die Erstellung eines Friedensvertrags und einer Verfassung. 44 LAB, C REP 903-01-06/351, op. cit., unpag. 45 LAB, C REP 903-03-01/159, op. cit., unpag.

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Am Ende sind sie trotz allem pädagogischen Optimismus, dem „Vertrauen“ in die Erziehung und allen mit einer beeindruckenden Energie unternommenen Anstrengungen gezwungen, einzusehen, dass das pädagogische Projekt einer Formierung des neuen sozialistischen Menschen letztlich nur zur Produktion einer Minderheit überzeugter junger Sozialisten führt.

Die in den Jugendorganisationen engagierte Minderheit: Zwischen identitärer Affirmation und politischer Stigmatisierung Über die ganzen 1950er Jahre hinweg bilden die Mitglieder der FDJ und der Pionierorganisation in den meisten Schulen eine Minderheit, die häufig von den übrigen Schülern und einem beträchtlichen Teil des Lehrkörpers kaum akzeptiert wird. Meist stammen sie aus überzeugten kommunistischen Familien: Das Engagement des Kindes spiegelt recht häufig das des Vaters, der Mutter oder beider Eltern in der SED wider. Das politische Engagement und der Eifer, den diese „rote Minderheit“ entwickelt, geht den anderen Schüler auf die Nerven und isoliert sie häufig vom Rest der Klasse, was sie dazu bringt, ein relativ starkes Gefühl von Identität zu entwickeln. Der Kontext, in dem dieses Engagement stattfindet, ist problematisch, weil viele Junge Pioniere von einer Art politischer Stigmatisierung gezeichnet sind. L. W., geboren 1935, gehört in den späten 1940er Jahren den Jungen Pionieren an. Er berichtet von den Problemen, die mit der Zugehörigkeit zu dieser Organisation in den ersten Jahren verbunden waren: „Wir waren ganz wenige Pioniere an der Schule. Höchstens 10–15 % waren Pioniere und die anderen nicht. Ich glaube, in den ersten zwei Jahren gehörte für solche jungen Leute wie uns etwas Mut, Kraft und Standpunkt dazu, Pionier zu sein. Ja, man musste Charakter haben, um nicht aufzugeben und sich zurückzuziehen.“46 Über die „Heroisierung“ der eigenen Kindheit hinaus, die naturgemäß einem Rückblick auf die DDR nach 1990 folgt, betont L. W. indirekt diese Dimension der politischen Stigmatisierung, die der übermäßigen Politisierung des schulischen Alltags inhärent war. Die Schüler, die Mitglieder der Pionierorganisation waren, betonen meist ihren Stolz und ihr Engagement, wenn sie die Kleidung tragen, die die Organisation symbolisiert: das blaue Halstuch der Pioniere oder das blaue Hemd der FDJ. Bei einer Sitzung des Zentralbüros der Jungen Pioniere im Februar 1949 erläutert ­Margot Feist (die spätere Margot Honecker) die symbolische Bedeutung des Halstuchs: „Das den Jungen Pionieren von der FDJ verliehene Halstuch wird von ihnen mit besonderem Stolz getragen und als eine Verpflichtung aufgefaßt, nach den Gesetzen

46

Transkription des Interviews mit L. W. vom 28. April 2004, pag. 3.

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der Jungen Pioniere zu leben und sich eng mit ihrer Organisation verbunden zu fühlen.“47 L. W., der ein eifriger Jugendlicher war, geht sogar noch weiter als die offiziellen Direktiven: „Ich habe mir tatsächlich das FDJ-Emblem auf die Badehose genäht, um diese totale Identität zu demonstrieren: Das ist meine Organisation, sie vertritt ehrlich gute, schöne, wichtige Ziele. Stolz, verstehen Sie! Und du demonstrierst ihn nach außen, sogar wenn du angepöbelt und beleidigt wirst.“48

Diese in einem sehr ernsten Tonfall erzählte Anekdote könnte heute als Anlass zum Schmunzeln aufgefasst werden; sie zeigt aber hier, wie stark das Engagement einiger Schüler gewesen ist. In manchen Einrichtungen wie der Wilhelm Pieck-Schule in Pankow, wo der Rekrutierungsgrad der Jungen Pioniere 60 % erreicht, tragen die Schüler das blaue Tuch im Unterricht und identifizieren sich mit der sozialistischen Jugendorganisation.49 So viel politischer, öffentlich zum Ausdruck gebrachter Eifer kann nur Spannungen mit den anderen Schülern hervorrufen, die mitunter in verbalen oder physischen Gewalttätigkeiten enden, zumal wenn die Jungen Pioniere in einer Schuleinrichtung eine Minderheit bilden. Die Schule wird zu einem Terrain politischer Konfrontation, wo die Schüler die Diskurse reproduzieren, die sie in ihren Familien hören. Die habituellen Dispute zwischen Schülern bekommen so zuweilen den Charakter veritabler politischer Kämpfe. Die Basisberichte der Schulbehörden und der Partei zeichnen diese Konflikte sehr genau nach und verfehlen im Verlauf der 1950er Jahre selten, sie ausdrücklich zu erwähnen. Die Autoren denunzieren das Schleifenlassen seitens der Lehrenden, die den „fortschrittlichsten Teil der Schüler“ nicht in hinreichendem Maße schützen. Eine Analyse der Quellen und Interviews mit Personen, die in den 1950er Jahren in Ostberlin die Schule besucht haben, erlaubt es, verschiedene Grade der Feindseligkeit zu unterscheiden und zu hierarchisieren: die verbale Verachtung, die von verletzenden Bemerkungen bis hin zur Diffamierungskampagne reicht; die symbolische Gewalt gegen das Halstuch; die körperliche Gewalt. Wegen der mageren Informationen, die wir über den jeweiligen Kontext haben, ist es nicht möglich zu prüfen, ob diese Angriffe in jedem Falle politischen Charakter hatten. Selbstverständlich können auch andere Motive diese Gewalttätigkeiten, die dem schulischen Leben ja inhärent sind, erklären: persönliche Rivalitäten, persönliche Rache, Aus47 SAPMO, DY 25/479, Entschließung und Berichte über die Tätigkeit des Verbandes der Jungen Pioniere und die Zusammenarbeit mit der demokratischen Schule, 1949–1950, unpag. 48 Transkription des Interviews mit L. W. vom 28. April 2004, pag. 3. 49 LAB. C REP 120/1 940, op. cit., pag. 278.

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drucksformen von Männlichkeit usw. Jedenfalls werden sie von den Funktionären des Regimes immer nach dem Raster einer politischen Lesart analysiert. Die verbale Verachtung entspricht einer Distanzierung der Pioniere, die sich sowohl innerhalb wie außerhalb des Klassenzimmers äußert. Die Mitglieder der Pionierorganisation unterhalten kameradschaftliche Beziehungen zu anderen Schülern, diese Beziehungen sind aber manchmal angespannt. Seit den späten 1940er Jahren findet man in den Akten Briefe kommunistischer Eltern, die sich über Akte verbaler oder körperlicher Gewalt beklagen, die gegen ihre Kinder verübt wurden. L.K. schreibt dem Leiter einer Schule im Jahre 1948 wegen einer Diffamierungskampagne, deren Opfer seine Tochter Katharina geworden ist: „Sehr geehrter Herr Direktor! Meine Frau hat mit Ihnen bereits über die Angelegenheit der Schmähzettel über ­Katharina gesprochen und Ihnen gesagt, daß ich mich nach meiner Rückkehr dazu äußern werde. Ich kann nicht umhin zu erklären, daß mich diese Art der Beschimpfung meiner Tochter sehr erschüttert. Ich möchte den Wortlaut der Zettel ausdrücklich festhalten, er lautet: 10 D. Pf. Das Katharinablatt Nr.1. Katharina ist ein elendes SED-Weib. Sie bringt mit ihrem Kommunismus den Weltuntergang. Sie wird heute geschlachtet, gekocht und in Büchsen eingemacht. Und auf dem schwarzen Markt verkauft. Denn sie ist prima Qualität, und ihr After kostet auf dem schwarzen Markt 10,50 DM Rückseite Katharina weitergeben Katharina ist ein elendes SED-Weib. Sie ist unser Verderben. Sie wird heute bei mir geschlachtet und in Büchsen eingemacht. Rückseite Weitergeben nicht zerreißen Katharina ist ein FDJ-, SED- und Russenweib. Sie ist unser verderbendes Geschöpf. Rückseite Weitergeben Glauben Sie, Herr Direktor, daß, als wir das Gymnasium besuchten, ein Schüler, der solche Zettel geschrieben hat und zirkulieren ließ, die Schule hätte weiter besuchen dürfen? Die Entscheidung hierüber liegt jetzt in ihren Händen. Ich stellen Ihnen 2 dieser Schmähzettel zu, denn die Schriftvergleichung läßt erkennen, daß sie alle von einem Schüler stammen.“50

Die verbale Gewalt wird manchmal von körperlicher Gewalt begleitet; so bemerkt ein SED-Funktionär im Prenzlauer Berg im Jahre 1956: „Die Pioniere erzählten, daß sie auf dem Schulhof in der Pause als „Russenspitzel“ und „blaue Schweine“ be50

LAB, C REP 120/267, op. cit., pag. 29.

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zeichnet werden. Wenn jemand wagen würde, einen solchen Strolch zu verprügeln, würde der Pionier im Klassenbuch den Tadel bekommen und nicht der andere Schüler.“51 Der Autor des Berichts unterstreicht hier einen interessanten Punkt in der Beilegung solcher „Schlägereien“, nämlich die Partei, die die Lehrkräfte ergreifen: Diese tendieren dazu, die Pioniere als diejenigen zu betrachten, die für eine politische Agitation verantwortlich sind, die die Harmonie im Innern der Klasse stört. Die Schule wird damit ein Ort, wo die Feindseligkeit gegenüber den Russen und gegenüber der SED reproduziert wird. Fälle körperlicher Gewalt sind zwar selten, werden aber regelmäßig in den Berichten der lokalen Funktionäre erwähnt. Im Februar 1954 sind Pioniere in BerlinFriedrichshagen angegriffen worden, ohne dass die Quelle das Motiv nennen würde: „Die Lage in den Schulen ist äußerst ernst. Drei Pioniere aus der 23. Schule sind von einem Halbwüchsigen geschlagen worden.“52 Gewalttätigkeiten dieser Art treffen auch die Kinder von leitenden Figuren des Regimes. So beschwert sich im September 1953 Lotte Ulbricht, Ehefrau von Walter Ulbricht, gegenüber dem Direktor der Wilhelm-Pieck-Schule in Pankow. Ihre Tochter B. ist von drei Mitschülern geschlagen worden, die nicht den Jungen Pionieren angehören.53 Wo sich die Pioniere nicht verprügeln lassen ist es ihr Halstuch, das zum Angriffsziel wird. So schreibt ein Pädagoge des DPZI, der 1955 die 14. Schule des Bezirks Mitte besucht: „In der 14. Schule Mitte, Klasse 6c, banden einige Jungen den Pionieren die Halstücher ab und beschmutzten sie mit Tinte. Selbst in ­einer solchen Situation findet man sich nicht zusammen, um gemeinsam dagegen aufzutreten.“54 Bei den Pionieren selbst scheint Resignation vorzuherrschen, zumal sie wenig zahlreich sind. Diese politische Stigmatisierung sollte im Rahmen des Sozialisations- und Persönlichkeitsbildungsprozesses nicht unterschätzt werden. Mit ihr lässt sich vielleicht die ideologische Verhärtung der späteren Erwachsenen erklären, und sie hilft uns, einige willkürliche persönliche Entscheidungen in Bezug auf spätere persönliche Funktionen zu erklären. Allerdings ist eine genaue Herleitung auf der Basis der verfügbaren Quellen nicht möglich und bleibt eine bloße Hypothese.

51 LAB, C REP 903-01-06/355, Kreisleitung Prenzlauer Berg, Berichte über Pionierarbeit und AGs im Stadtbezirk, Mai 1953–Juni 1962, unpag. 52 LAB, C REP 120/2 498, op. cit., 1950, pag. 9. 53 LAB, C REP 120/ 1419, op. cit., pag. 92. 54 LAB, C REP 120/2373, Pionierorganisation, 1950–1959, pag. 166.

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Die Gewalttätigkeit ist nicht einseitig und wird auch in der umgekehrten Richtung ausgeübt. In den 1950er Jahren halten sich die FDJ-Mitglieder verbal und körperlich an die Angehörigen der Jungen Gemeinde. In der Regel schweigen die Berichte über entsprechende Praktiken. Aber das Interview mit L. W. erlaubt es uns, die sozialen und politischen Spannungen zu beleuchten: „Also, im Oktober 1950, kam es einmal zu einer Auseinandersetzung mit einem Mädchen, das aus dem bürgerlichen Milieu kam. Sie trug jeden Tag neue Kleider: Ein Rock, dann ein zweiter Rock, ein dritter Rock darüber, noch ein vierter Rock darüber und ich weiß nicht, ich war in meiner Auffassung von Moral, vom Leben, von Menschen ehrlich wütend. Ich bin hingegangen und habe ihr gesagt: „So viel Stoff, wenn andere Leute in Fetzen leben müssen“. Ich habe ihren Rock zerrissen. Heute schäme ich mich, aber verstehen Sie mich, mit meiner Einstellung von damals …“55

L. W. war ein engagierter Junger Pionier mit impulsivem Charakter. Er konnte es nicht ertragen, so viel Differenz hinsichtlich des sozialen Niveaus in der Öffentlichkeit herausgekehrt zu sehen. Seine heftige Reaktion ist sicherlich die Frucht seiner sozialistischen Erziehung. Über dieses Narrativ, in dem heute Bedauern und Reue dominieren, will L. W. sein politisches Engagement seit früher Kindheit wieder wachrufen und dessen Kontinuität ins Licht rücken. Taten dieser Art verschwinden Ende der 1950er Jahre mit der formellen Anerkennung der Jugendorganisationen in den Schulen. Abgesehen von dieser Dimension politischer Stigmatisierung definiert sich das Leben des Jungen Pioniers auch durch ein permanentes Engagement. Tatsächlich werden die jungen Menschen permanent durch Kampagnen anlässlich des Geburtstags Piecks, des Jahrestags der Oktoberrevolution usw. politisiert. Diese Kampagnen gehen immer einher mit der Übergabe von Belohnungen an die aktivsten Pioniere. Diejenigen, die sich auf der Ebene der Schule am stärksten engagieren, erhalten auf Vorschlag einer Kommission von der FDJ eine Auszeichnung sowie ein Buch. Letztlich soll jede Schule eine Kommission aus dem hauptamtlichen Funktionär, dem Schulleiter und den wichtigsten Lehrkräften bilden; der hauptamtliche Funktionär erstellt eine Liste von Personen, die ausgezeichnet werden sollen, die von der Kommission bestätigt wird.56 Der identitäre Charakter dieser Schülergruppe wird anlässlich punktueller Mobilisierungsprojekte wie dem Bau des Ernst-Thälmann-Boots verstärkt. Die Jungen Pioniere engagieren sich bei Aktionen, die zur Finanzierung des Baus beitragen sollen: dem Sammeln von Altmetall und Papier, von Spenden. Das Ziel besteht darin, eine Gruppendynamik in Gang zu setzen und ein Gefühl nationalen Stolzes zu entwickeln. Die FDJ baut in Kooperation mit dem Volksbildungsministerium 55 56

Transkription des Interviews mit L. W. vom 28. April 2004, pag. 4. LAB, C REP 120/253, op. cit., pag. 151.

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Freizeiteinrichtungen auf, die ausschließlich den Pionieren vorbehalten sind: das Zentralhaus der Jungen Pioniere in Lichtenberg, die technische und die wissenschaftliche Station in Blankenfelde beziehungsweise Treptow. In der Praxis ist die Pionierorganisation wegen der geringen Zahl an Mitgliedern und aufgrund des Willens, die Schüler anzulocken, gezwungen, die Freizeiteinrichtungen auch für Nichtmitglieder zu öffnen. Die 1952 eröffnete Zentralstation der Jungen Techniker Wilhelm Zaisser in Treptow nimmt täglich etwa 50 Kinder auf, von denen 65 % Nichtmitglieder und 35 % Pioniere sind.57 Der Anteil der Jungen Pioniere ist ebenso niedrig in der Zentralstation der Jungen Naturforscher Walter Ulbricht in Blankenfelde.58 Die großen von der FDJ oder den Jungen Pionieren organisierten Zusammenkünfte auf nationaler oder gar internationaler Ebene vermitteln ihnen den Eindruck, einer privilegierten Klasse, einer Avantgarde unter ihren Kameraden anzugehören. Die besten Pioniere, das heißt die eifrigsten, werden eingeladen, an den internationalen Ferienlagern am Werbellinsee nordöstlich von Berlin teilzunehmen. Ab 1952 richtet die Organisation „Pioniertreffen“ auf nationaler Ebene aus. In den 1950er Jahren finden sie alle drei Jahre statt, zweimal in Dresden 1952 und 1955 sowie 1958 in Halle. Bis zum Ende der 1950er Jahre bilden die Schüler, die den Jugendorganisationen angehören, eine Minderheit in den Schulen Ostberlins. Häufig in politischer Hinsicht stigmatisiert, sind sie selbst Akteure einer Stigmatisierung, die sich gegen die Vertreter der protestantischen religiösen Minderheit richtet.

Die religiöse Minderheit: Zwischen Zurückhaltung und Diskriminierung Die Errichtung eines sozialistischen Regimes in der Sowjetischen Besatzungszone ist eine Gelegenheit, eine neue Episode der Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche um die Jugend zu studieren.59 Da Berlin Ost vor allem ein Terrain des Protestantismus ist, konzentrieren wir uns auf die allmählich zur Minderheit werdenden Schüler, die protestantischen Glaubens und im Übrigen die einzigen sind, die wir in den offiziellen schriftlichen Quellen tatsächlich zu fassen bekommen.

57

LAB, C REP 120/2312, Tätigkeit der Zentralstation der Jungen Techniker Wilhelm Zaisser in Berlin-Treptow, 1953–1955, pag. 23. 58 LAB, C REP 120/2273, Tätigkeit der Zentralstation der Jungen Naturforscher Walter ­Ulbricht, 1953–1966, pag. 1–2. 59 K. Helmberger, Blauhemd und Kugelkreuz. Konflikte zwischen der SED und den christlichen Kirchen um die Jugendlichen in der SBZ/DDR, München 2008.

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Zuallererst wird die Religion in den frühen 1950er Jahren rasch vom schulischen Feld ausgeschlossen. Obwohl der Religionsunterricht im Schulgesetz von 1946 garantiert ist, sorgt der Druck der Schulleiter dafür, dass er außerhalb der Schule stattfindet (beim Pastor oder einer Privatperson).60 Zu Beginn der 1950er Jahre besuchen fast zwei Drittel der Schüler in den Ostberliner Einrichtungen Unterricht der katholischen oder protestantischen Religion.61 Je nach dem mehr oder minder hohen Grad des Antiklerikalismus der Berichtsautoren werden diese Schüler zunächst einmal als „junge Christen“, als „Bourgeois“ oder als „Reaktionäre“ bezeichnet. Die Qualifizierung als „Bourgeois“ ist offensichtlich polemisch und gestattet es nicht, die Schüler, die den Protestantismus für sich reklamieren, soziologisch einzuordnen. Wir verfügen über keinerlei soziologische Statistik über diese jungen Protestanten; immerhin erlaubt es uns das Interview mit W. J., zu zeigen, dass viele der Mitglieder der Jungen Gemeinde bescheidener Herkunft sind. W. J. ist 1942 in Berlin geboren. Er gehört dem Kinderchor des Berliner Doms an und wird 1956 konfirmiert. Sein Vater ist Zimmermann, seine Mutter Milchhändlerin.62 Im außerschulischen Bereich gehören die Heranwachsenden protestantischer Konfession häufig der Jungen Gemeinde an, die keine strukturierte und zentralisierte Organisation ist wie die FDJ, mit einer Leitung, einem Sekretariat, hauptamtlichen Funktionären, Reglements und eingeschriebenen Mitgliedern.63 Die Konfirmation im Alter von 14 Jahren markiert den Eintritt in eine lokale Gruppe der Jungen Gemeinde; eine Altersbegrenzung gibt es nicht. In der Regel tritt man mit 23–25 aus. Die Jugendlichen treffen sich ein bis zwei Mal wöchentlich unter der Leitung des Pastors oder eines Erwachsenen (manchmal eines jungen Studenten). Die Treffen finden meistens in Privathäusern statt. Die Freizeitaktivitäten unterscheiden sich in ihren Formen kaum von dem, was in den FDJ-Gruppen praktiziert wird: Singen, Gesellschaftsspiele, Ausflüge, thematische Diskussionen. Den offiziellen Quellen zufolge gehören zu Beginn der 1950er Jahre 10 % der Ostberliner Schüler dieser „Organisation“ an, das heißt ungefähr 10 000 bis 12 000 Schüler. 1953 spricht eine Statistik der FDJ von 7 000 bis 8 000 Heranwachsenden, die der Jungen Gemeinde

60

G. Kluchert/A. Leschinsky, „Glaubensunterricht in der Säkularität. Religionspädagogische Entwicklungen in Deutschland seit 1945“, in: Comenius-Institut (Hg.), Christenlehre und Religionsunterricht. Interpretationen zu ihrer Entwicklung 1945–1990, Weinheim 1998, S. 1–113. 61 LAB, C REP 120/3 157, Schulstatistische Erhebung Grundschulen-Oberschulen, 1950– 1951, pag. 17. 62 Interview vom 4. März 2002. 63 SAPMO DY 30/IV 2/14/170, SED Arbeitsgruppe Kirchenfragen 1946–1962, Organisation und Tätigkeit der Jungen Gemeinde, Band II, 1953, pag. 66.

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angehören.64 Es ist schwierig, genaue Zahlen zu erhalten, weil seitens der Schulleiter oder der FDJ selten Zählungen vorgenommen werden. Die entsprechenden Schüler finden sich vor allem auf den Oberschulen, wo sie bis zu 30 % der Schülerschaft ausmachen. In der 11. Klasse der Käthe-Kollwitz-Oberschule im Prenzlauer Berg sind im Jahre 1953 25 % Mitglieder der Jungen Gemeinde, und von diesen ist ein Drittel auch bei der FDJ.65 Die Geschichte des Verhältnisses zwischen SED und Junger Gemeinde wird immer unter dem Blickwinkel einer Konfrontation, einer im Allgemeinen in einer totalitarismustheoretischen Lesart aufgefassten Frontstellung aufgefasst, bei der die Kirche die einzige Institution ist, die in den 1950er Jahren noch in der Lage ist, der kommunistischen Diktatur Widerstand zu leisten.66 Zwar sieht die protestantische Kirche Doppelmitgliedschaften zu FDJ und Junger Gemeinde ungern. Eine Ana­ lyse von unten zeigt aber, dass solche doppelten Zugehörigkeiten die ganzen 1950er Jahre über eine Realität des schulischen Feldes sind und dass die Berichte aus dem Innern der Schule nicht immer vom heißen Feuer der Konfrontation geprägt sind. Recht häufig gehören die Schüler gleichzeitig der Jungen Gemeinde und der FDJ an und üben sogar freiwillige Funktionen im Rahmen der Jugendorganisationen aus: „Auch die Tätigkeit der Jungen Gemeinde wirkt sich hemmend auf die positive Erziehungsarbeit aus. Leider konnte weder die Schulleitung noch die FDJ-Leitung die Mitgliederzahl der Jungen Gemeinde an der Schule angeben. Wie überall ist auch hier die Tatsache zu verzeichnen, daß Schüler, die wenig oder gar nicht kirchlich gebunden sind, Mitglied der Jungen Gemeinde sind, um hier entsprechend wirken zu können. Auch die Doppelmitgliedschaft (FDJ und Junge Gemeinde) ist teilweise anzutreffen.“67

Diese Schüler, die der Jungen Gemeinde angehören, versuchen sich in der gleichen Weise in die Jugendorganisationen einzubringen wie sie dies zuvor im Rahmen der zu Beginn der 1950er Jahre von den Schulleitungen zugunsten der FDJ abgeschafften „Schülervertretungen“ getan haben. Häufig sind sie gute, von ihren Schulkameraden respektierte Schüler, die sich in die Arbeit ihrer Schule und bei der Ausrichtung von Freizeitaktivitäten einbringen möchten. Diese Haltung erlaubt es, die Analyse, 64 SAPMO, DY 24/11 885, Zentralrat der FDJ, Sekretariat Erich Honecker, Zusammenfassende Information aus allen Bezirken über die Auseinandersetzung FDJ-Junge Gemeinde, 3. 3. 1953–9. 4. 1953, pag. 72. 65 LAB, C REP 903-01-06/421, SED-Kreisleitung Prenzlauer Berg, Untersuchungsbericht über Junge Gemeinde, 1953–1955, unpag. 66 H. Dähn/H. Gotschlich (Hg.), ,Und führe uns nicht in Versuchung …‘ Jugend im Spannungsfeld von Staat und Kirche in der SBZ/DDR 1945–1989, Berlin, Metropol Verlag, 1998. Siehe auch F. Dogerloh, Geschichte der Evangelischen Jugendarbeit. Teil 1, Junge Gemeinde in der DDR, Hannover 1999; E. Überschär, Junge Gemeinde im Konflikt. Evangelische Jugendarbeit in SBZ und DDR 1945–1961, Stuttgart 2003. 67 BA DR 2/1 196, op. cit., pag. 25.

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die der deutsche Historiker Hermann Wentker über die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Jungen Gemeinde und denen der FDJ vorgelegt hat, zu nuancieren: Wentker spricht von einer Rivalität der beiden Organisationen zwischen 1950 und 1952. Die Wirklichkeit ist aber komplexer und lässt sich nicht auf eine simple, von der SED dekretierte Konkurrenz – die im Übrigen nicht abgestritten werden soll – reduzieren. Die Übernahme von Funktionen wird von den SED-Funktionären als ein Versuch betrachtet, der FDJ zu schaden, indem man sie von innen kontrolliert. Sie wird wahrgenommen als Form „subversiver Spionagetätigkeit“ unter dem Deckmantel der Zugehörigkeit zu den sozialistischen Jugendorganisationen. So viel geht jedenfalls aus den Berichten der städtischen Schulbehörden in Ostberlin aus dem Jahre 1957 hervor, das heißt einige Jahre nach dem Höhepunkt der Diffamierungskampagne gegen die Junge Gemeinde 1952/1953: „In den letzten Wochen nimmt das Auftreten kirchlicher Kreise an einigen Oberschulen wieder zu. So versuchten z. B. Mitglieder der Jungen Gemeinde in der Gerhart-Hauptmann-Oberschule (Köpenick) die Funktionen in den FDJ-Leitungen zu besetzen. In einer 11. Klasse wurde ein Katholik Gruppenleiter und ein Mitglied der Jungen Gemeinde Stellvertreter. Ebenfalls für die ZSGL [Zentrale Schulgruppenleitung] wurden eine ganze Reihe Mitglieder der Jungen Gemeinde vorgeschlagen.“68

Dieser Verdacht der „Subversion“ wird durch den Umstand verstärkt, dass einige Schüler protestantischer Konfession nicht zögern, das Symbol der Jungen Gemeinde in der Schule zu tragen und damit zu den blauen Halstüchern und Hemden der sozialistischen Jugendorganisationen in Konkurrenz treten. Sie befestigen am Jackenaufschlag ein Kreuz auf einem Globus, zeigen aber, wie ein Bericht von Juni 1950 für den Bezirk Treptow betont, keine Anzeichen von Missionierungswillen: „Außer der FDJ und den Jungen Pionieren treten an den Schulen keine Organisationen in Erscheinung. Eine Anzahl Schüler gibt sich durch ein Abzeichen – Weltkugel – als Mitglied einer christlichen Jugendorganisation zu erkennen, ohne durch aktive Werbungsaufnahmen hervorzutreten.“69 Diese Konkurrenz der Symbole führt zu Spannungen zwischen den Schülern, mit denen die Lehrkräfte umgehen müssen. W. J. besucht 1955 bis 1958 die 20. Schule in Pankow. Er trägt das Symbol der Jungen Gemeinde in der Schule. Trotz dieser Zurschaustellung seiner religiösen Überzeugungen hat W. J. niemals Probleme bekommen, da er unter der Protektion seines Lehrers A. S. steht, der ihn gegenüber den Jungen Pionieren ebenso wie gegenüber dem Direktor verteidigt.70 Diese Position als Puffer, die manche Lehrer einnehmen, kann nur innerhalb der Schule 68 LAB, C REP 119/78, Tätigkeit der Kirche unter der Jugend in Berlin, November 1957, pag. 5. 69 LAB, C REP 120/2 078, op. cit., pag. 19. 70 Interview vom 4. März 2002.

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ausgeführt werden. Ein Inspektionsbericht vom Juli 1950 berichtet, dass sich Schülerinnen protestantischer Konfession der Schinkel-Oberschule im Prenzlauer Berg beklagt haben, auf dem Nachhauseweg von Mitgliedern der FDJ beleidigt worden zu sein.71 Nach einer Phase relativer Toleranz zwischen 1945 und 1950 wandelt die SED die Schule in ein Kampfgebiet um und versucht, diese Minderheit von Schülern, die sich zur protestantischen Konfession bekennen, zu ersticken. Die Gruppen der Jungen Gemeinde werden als „ideologische Bedrohung“ aufgefasst, die die Heranwachsenden anstecken und vor allem die Einbeziehung der Schüler in den Sekundarschulen in die FDJ behindern könnte. Seit 1949 vertreten städtische Funktionäre des Bezirks Lichtenberg die Auffassung, die Kirche stelle eine ernsthafte potentielle Konkurrenz dar: „Zusammenfassend kann gesagt werden, daß der Hauptgegner der neuen Schule und der großen demokratischen Jugendorganisationen die Kirche und deren Jugendverbände ist. Von dieser Seite wird ein bewußter Kampf um den Einfluß in der Schule ins schulische Leben getragen.“72

Die SED-Funktionäre, die diese Berichte verfassen, sind häufig Kommunisten mit ausgeprägtem antiklerikalem Empfinden. Unablässig betonen sie, dass die Pastoren die Freizeitangebote in „Orte der Verbreitung einer Gegenideologie“ verwandeln, die selbst die jüngsten Mitglieder der Jugendorganisationen verführen könnte: „Mit diesen Ideologien sind nicht nur eine Reihe Schüler befallen, sondern auch einige Junge Pioniere.“73 Auf genau dieses Empfinden stützt sich Walter Ulbricht zwischen 1950 und 1953, um die Junge Gemeinde zu ersticken und zu „liquidieren“. Die systematische Diskriminierungspolitik, die ihren Höhepunkt zwischen der 2. Parteikonferenz der SED und der Ankündigung eines „Neuen Kurses“ im Juni 1953 erreicht,74 vermittelt sich über Protestversammlungen der Basiszellen der FDJ gegen „feindliche Elemente im schulischen Bereich“,75 die Relegation von Schülern und Lehrkräften, Verweigerungen des Eintritts in die Oberschulen und vor allem über den Ausschluss aus der FDJ. Wir haben keine genauen statistischen Angaben über das Ausmaß der Maßnahmen. Die schulischen Quellen selbst schweigen fast vollständig zu diesem Thema. Am 9. April 1953 sind in der DDR 120 Schüler der Oberschulen wegen

71 72 73 74 75

LAB, C REP 120/2078, op. cit., pag. 128. LAB, C REP147-13/74, Bezirksverwaltung Lichtenberg, ohne Titel, unpag. LAB, C REP 903-01-06/421, op. cit., unpag. H. Wentker, „Kirchenkampf in der DDR. Der Konflikt um die Junge Gemeinde 1950– 1953“, in: VfZ, 42, 1994, S. 95–127. SAPMO, DY 30/IV 2/14/170, SED Arbeitsgruppe Kirchenfragen, pag. 271.

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Zugehörigkeit zur Jungen Gemeinde ausgeschlossen worden. In Ostberlin beträgt die Zahl der Ausschlüsse zehn.76 Allerdings entspricht der Ton der Basisberichte der Schulinspektion nicht immer dem aggressiven Tonfall in den Berichten, die von Basisfunktionären der SED stammen, oder den offiziellen Reden Ulbrichts und Honeckers, die die Junge ­Gemeinde als „konspirative Organisation“ präsentieren, eine „amerikanische Agentur“, eine Bedrohung für den Aufbau des Sozialismus, die um jeden Preis eliminiert werden muss.77 Die Pädagogen, die im Frühjahr 1953 auf dem Höhepunkt der ­„Liquidierungspolitik“ – im April 1953 hat der Innenminister die Junge Gemeinde als ­„illegale Organisation“ qualifiziert – die Schulen inspizieren, unterstreichen vor allem die numerische Schwäche und insbesondere die Passivität, die Harmlosigkeit dieser Schüler. Offensichtlich ist die Schule kein Schauplatz von Gegenaktivität oder Gegenideologie seitens der Jungen Gemeinde, die keinerlei Missionierung betreibt. Entsprechende Berichte werden jedoch vom stellvertretenden Bürgermeister Ostberlins kritisiert, der am Beispiel der Klement Gottwald-OS in Treptow eine Schönfärbung der Realität kritisiert: „Der Kollege Mielis hat mir den Bericht von der Überprüfung der Klement-GottwaldSchule im Stadtbezirk Treptow übergeben. Der Bericht gibt nicht die richtige Lage in dieser Schule wieder. Es treten im Bericht sehr starke Tendenzen der Schönfärberei zutage. Die Inspektoren sehen die Probleme an den Oberschulen nicht kritisch genug, unterschätzen den Klassenkampf und die Rolle der „Jungen Gemeinde“. Solche Überprüfungen werden im Prinzip nur wenig helfen, die Lage zu verbessern.“78

Diese „Maßnahmen zur Liquidierung“ der Jungen Gemeinde, die Walter U ­ lbricht gefordert hat und deren Umsetzung er im Detail verfolgt, stoßen mitunter auch auf das Unverständnis der Funktionäre an der Basis, die allerdings der Parteidisziplin folgen. 1952/1953 ist L. W. Student am Pädagogischen Institut in Köpenick und ­Sekretär der dortigen FDJ-Gruppe. Während des Interviews kommt er auf die Politik, die er als Funktionär in der Ostberliner Leitung der FDJ betrieben hat: „Also, ich muss sagen, das ist ein ganz kompliziertes Problem. Wenn ich nachdenke, überlege … habe ich in der damaligen Zeit als aktiver FDJ-Funktionär die tiefere Auseinandersetzung mit der Jungen Gemeinde gar nicht richtig begriffen. In der damaligen Zeit, obwohl ich selbst als aktiver Funktionär diese Auseinandersetzung geführt habe, die Dimension der Auswirkungen der Fehler, diese Dimension habe ich damals im Grunde genommen gar nicht verstanden. Die Junge Gemeinde, beeinflusst vom amerikanischen Geheimdienst, um die FDJ zu unterwandern und die einheitliche Jugendorganisation zu zerstören, habe ich nie so gesehen und begriffen. Sie hatte einen begrenzten Einfluss, 76 77 78

Ebd., pag. 271. SAPMO, DY 24/ 11 885, op. cit., pap. 1–4. LAB, C REP 120/2346, op. cit., pag. 8.

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keinen aktiven Einfluss. Das ist eine schreckliche Geschichte: Wir haben in Berlin, gefordert von der Führung, über 800 Mitglieder der Jungen Gemeinde ausgeschlossen, mit großem Krach, mit großer Auseinandersetzung. Wir haben denkende und handelnde Menschen von uns ausgegrenzt statt einzubeziehen. Das war fast das Schlimmste, was wir machten … Wir waren erdrückend. Nach der Korrektur wurden sie wieder aufgenommen, einige haben es getan. Viele nicht.“79

In der Rückschau drückt L. W. Bedauern aus über die Anwendung dieser Maßnahmen gegen die Junge Gemeinde. Es ist ihm bewusst, dass die FDJ sich von einer beträchtlichen Zahl an Schülern abgewandt hat, die die höhere Schule besuchten und die bereit waren, sich in der Organisation zu engagieren, so lange die Religionsfreiheit respektierte, die in der Verfassung von 1949 garantiert war. Die Maßnahmen, die auf die Eliminierung dieser Schüler aus dem im Aufbau befindlichen sozialistischen System abzielen, tragen dazu bei, dass viele Familien nach Westen ausreisen oder ihre Kinder in Schulen Westberlins gehen lassen. Der 17. Juni 1953 markiert unbezweifelbar den Endpunkt dieser repressiven Politik. In der Folgezeit werden die Aktivitäten der Jungen Gemeinde in den Schulen von der ostdeutschen politischen Polizei weiterhin überwacht. Die Stasi erhält von der SED einen entsprechenden Auftrag, tatsächlich wird die Kontrolle aber weitgehend von den Funktionären der Schulbehörden gewährleistet. Unter dem Einfluss ihrer Eltern und Pastoren zeigen die protestantischen Schüler punktuell eine Form von Eigensinn, die von den Behörden als Zeichen politischer Opposition gedeutet wird. So umgehen viele Schüler über die ganzen 1950er Jahre hinweg die Einrichtung des sozialistischen Kalenders und feiern weiterhin in der einen oder anderen Form den Reformationstag. Alljährlich am 31. Oktober kommt die Mehrzahl der protestantischen Schüler nicht in die Schule. Dieser eher kulturell zu verstehende Absentismus erreicht zuweilen beträchtliche Ausmaße. Im November 1955 lenkt ein SED-Funktionär des Bezirks Köpenick die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf diesen Absentismus in den Schulen, und interpretiert ihn im Lichte einer politischen analytischen Matrix: „Reformationstag am 31. 10. 1955, 65 % der Schüler und 9 % der Lehrerschaft. Das ist eine Kampfansage gegen unsere Arbeiter- und Bauernmacht und wurde geschickt von der Kirche eingefädelt.“80

Die Quellen berichten auch vom Fall der 11. Klasse der Oberschule in Köpenick, wo die Schüler und ihr Lehrer am 31. Oktober 1957 das Lutherlied „Ein feste Burg ist unser Gott“ singen. Die Reaktion des Volksbildungsministeriums erfolgt unmittelbar und besteht in der Entlassung des Lehrers.81 79 80 81

Transkription des Interviews mit L. W. vom 28. April 2004, pag. 6. LAB REP IV/4/02-048, Protokoll der SED-Kreisleitungstagung Köpenick, 1955, unpag. LAB, C REP 119/78, op. cit., pag. 1.

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Insgesamt werden die Schüler protestantischer Konfession bewusst an den Rand des sozialistischen Aufbauprozesses gedrängt. Diese religiöse Minderheit erlebt eine Phase stark verschärfter Diskriminierung in den frühen 1950er Jahren. Danach lässt diese nach, bleibt aber in einer verstärkten Überwachung weiterhin bestehen.

Die Provokation oder Äußerungsformen der Abweisung der ungebremsten Politisierung Im Verlauf der 1950er Jahre ruft der Aufbau der sozialistischen Schule in den Oberschulen „Akte der Provokation“ hervor, die das Regime als Ausdruck einer politischen Opposition beurteilt, die darauf abziele, die sozialistische Ordnung und ihre Werte in Frage zu stellen, obwohl sie doch in erster Linie Ausdruck der Ablehnung einer übermäßigen Politisierung der Institution Schule sind. In einem normativen Regime wie der DDR und in einem schulischen Universum, wo das lexikalische Repertoire in höchstem Maße ideologisiert ist, verläuft ein „effektiver“ Protest über die Verletzung der politischen und offiziellen Rhetorik sowie über die Beschädigung, mitunter die Zerstörung der Symbole des Regimes (Tafeln, Fahnen …). Diese Protestakte sind eine Form der Regelverletzung in der sozialistischen Schule, die weniger darauf abzielt, Autorität zu zerstören als vielmehr darauf, sie zu delegitimieren und in Frage zu stellen, das heißt sie zu einer Reaktion zu zwingen. Die ostdeutschen Heranwachsenden verletzen also bewusst, sichtbar und in unmittelbar verständlicher Form eine Norm, um ein Gefühl des Unwohlseins zu äußern, eine Abweisung dessen, was sie als eine übermäßige Ideologisierung des schulischen Alltags betrachten. Die Schüler greifen dabei auf ein vielfältiges Repertoire an Protestformen zu­rück:82 Herstellung und Verteilung von Traktaten, Graffiti, Wortmeldungen im Unter­richt … Der Versuch, die Formen der Protestaktionen der Schüler nachzuzeichnen, kann sich nicht auf die gefilterten offiziellen Quellen verlassen, die diese „Provokationen“ im Lichte einer ausschließlich politischen und in hohem Maße militarisierten Lesart verstehen, in der aus den Jugendlichen „innere Feinde, die von den imperialistischen Kräften des Westens manipuliert sind“, gemacht werden. Die Untersuchung des Repertoires an Protestformen lässt es dem Historiker angelegen sein, sich nicht allein auf die Beantwortung der Frage zu beschränken, wie die Schüler protestierten und vor allem nicht automatisch die Protestaktion mit einem politischen Willen zum Protest gleichzusetzen. Protestpraktiken resultieren aus e­ inem Bedürfnis der 82 C. Tilly, „Les origines du répertoire de l’action collective contemporaine en France et en Grande-Bretagne“, in: Vingtième Siècle, n° 4, 1984, S. 89–108.

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Schüler, der Autorität gegenüberzutreten und sie herauszufordern. Der Ausdruck von Zorn wird also in die politische Sprache übersetzt, ohne dass er von einer intensiveren politischen Reflexion und damit einer Infragestellung des herrschenden Regimes begleitet wäre. Diese Haltung erinnert ein wenig an das, was Blasphemie im Mittelalter gewesen sein mag: Gott zu lästern bedeutete nicht, nicht an Gott zu glauben, sondern Zorn zum Ausdruck zu bringen.83 Wenn wir diese Protestaktionen besser verstehen wollen, dürfen wir die generationelle Dimen­sion der beteiligten Schüler nicht vergessen. Wir haben es mit den Vertretern e­ iner Alters­klasse zu tun, die Ende der 1930er Jahre geboren und unter dem Dritten Reich sozialisiert wurde, die also von einer bestimmten Form ideologischer Mobilisierung und von der antikommunistischen wo nicht antirussischen Haltung der Eltern geprägt ist. Diese Protestformen erscheinen regelmäßig auf dem gesamten Gebiet der DDR und kulminieren am 17. Juni 1953, der einen Augenblick des Autoritätsvakuums bezeichnet, insbesondere in den schulischen Einrichtungen Ostberlins. Die Berichte der FDJ-Funktionäre zeugen von der Zerstörung staatlicher Symbole. So wird das in der 7. Klasse der 21. Schule in Köpenick angebrachte Porträt Piecks aus dem Fenster geworfen und ein Transparent mit einer pazifistischen Parole zerrissen.84 Neben der Denunzierung des kommunistischen Regimes und demokratischen und materiellen Forderungen ist das antisowjetische Motiv – sowohl als Erbe von Jahren der Sozialisation unter dem Nationalsozialismus als auch als Folge der aktuellen Besatzungssituation – in den Stellungnahmen der Schüler sehr präsent. Diese äußern sich meistens in der Form von Graffiti85 in den Klassenzimmern, wo die Tafel ein besonders beliebter Ort für Mitteilungen ist. Als Symbol der Vermittlung von Wissen und der vom Lehrer „kontrollierten“ kommunistischen Ideologie verwandelt sie sich für einige Stunden in eine Plattform für die politischen Forderungen der Schüler. In der 5. Klasse einer Schule in Pankow schreiben die Schüler eine doppelte Forderung an die Tafel: „Iwan go home“ und „Wir streiken“.86 Die erste Parole verbindet einen russischen Vornamen mit einer englischen Formulierung und bringt Ablehnung gegenüber den Russen zum Ausdruck, die hier in der metonymischen Figur des Iwan inkarniert werden. Es ist interessant festzuhalten, dass die Schüler den offiziellen, gegen die Amerikaner gerichteten Slogan „Ami go home“ umgekehrt haben. Die zweite Parole bezeugt Solidarität mit den Demonstranten und eine 83 A. Cabantous, Histoire du blasphème en Occident (fin XVIe-milieu XIXe siècle), Paris 1997; C. Leveleux-Texeira, La parole interdite. Le blasphème dans la France médiévale (XIIIe-XVIe siècle): du péché au crime, Paris 2002. 84 LAB, C REP 120/2244, Einschätzung der Arbeit an den Schulen in den Tagen des 17. Juni 1953, pag. 21. 85 Zu Graffiti in der UdSSR zu Beginn der 1980er Jahre siehe J. Bushnell, Moscow Graffiti: Language and Subculture, Boston 1990. 86 LAB, C REP 120/2247, op. cit., pag. 148.

Die Schüler und die sozialistische Schule

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Form der Mimesis in der Bezugnahme auf die streikenden Arbeiter. Mitunter kombinieren die Schüler Parolen und Zeichnungen. So haben in einem Klassenzimmer der 3. Schule im Prenzlauer Berg ein oder mehrere Schüler einen Panzer auf die Tafel gezeichnet und eine Parole dazugeschrieben, die sie auf der Straße gehört haben müssen: „Wir wollen keine Panzer sondern Butter“.87 Das Wort „Panzer“ ist eine neuerliche Anspielung auf die sowjetische Besatzung. Die Anspielung auf Butter belegt, dass diese jungen Ostberliner mehr als die übrigen jungen Ostdeutschen geprägt sind von einem Alltag, der unter dem Zeichen des Vergleichs mit Westberlin steht, und konfrontiert sind mit ständigem Mangel. Die Graffiti der Schüler auf den Tafeln sind ein Mittel, das zu tun, was die Abwesenheit der Autorität in den Schulen gestattet: die bis dahin unerhörte Wortmeldung, die aneignende Verletzung der Disziplin, schließlich eine Form der Inbesitznahme eines hochsymbolischen Orts staatlicher Autorität in einer Ausnahmesituation.88 Die Abwesenheit der Autorität in den Schulen schlägt eine Bresche in das Dispositiv der Kontrolle und Dominanz über die Schüler. Die subversiven Inschriften enthüllen den Willen, eine Unzufriedenheit sichtbar zu machen, oder einfach zu „provozieren“. Ein Diskurs, der in Opposition zum sozialistischen Staat steht, kann sich in sichtbarer Weise äußern. Außer über die Tafel kommunizieren die Schüler mit Spruchbändern und kehren so Praktiken des Agitprop gegen das Regime. In der 17. Schule in Weißensee haben die Schüler der 7. Klasse ein Schild angebracht, das ihre Solidarität mit den Demonstranten ausdrückt.89 Worte der Unzufriedenheit werden auch von den Funktionären der FDJ berichtet. Eine Aktennotiz über die Klasse 10a3 der Johannes R. Becher-Schule in Weißensee bescheinigt, dass die Schüler die „Provokationen“ befürworten. Sie fordern freie Wahlen und den Rücktritt der Regierung. Sie zeigen darüber hinaus eine äußerst negative Haltung in Bezug auf die sowjetischen Truppen, sie lehnen die Intervention und die vom sowjetischen Stadtkommandanten getroffenen Maßnahmen ab.90 In der 8. Schule in Lichtenberg hat die Mehrheit der Schüler der Klassen 5 bis 7, nachdem sie einige Porträts von Pieck und Grotewohl von der Wand gerissen hat, unter Rufen wie: „Weg mit diesem Strolch, dort muss ein Bild von Adenauer und Reuter hin“ das Schulgebäude verlassen.91 Das politische Engagement hat auch militante Formen angenommen, die sich außerhalb der Klassenzimmer fortsetzen. Ein 87 LAB, C REP 920/33, Informationsberichte und Materialien Prenzlauer Berg, pag. 54. 88 Siehe für Paris nach der Kommune C. Braconnier, „Braconnages sur terres d’Etat. Les inscriptions politiques séditieuses dans le Paris de l’après-Commune 1872–1885)“, in: Genèses, n° 35, 1999, S. 107–130. 89 LAB, C REP 120/2247, op cit., pag. 17. 90 LAB, C REP 920/195, Informationsberichte und Materialien insbesondere zum 17. Juni 1953, pag. 181. 91 Ebd.

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Bericht aus dem Bezirk Lichtenberg erzählt, es seien zwei Jugendliche von 15 Jahren im Park der Pioniere festgenommen worden. Man hatte sie dabei überrascht, wie sie Plakate mit der folgenden Aufschrift an die Bäume geklebt haben: „Der Magistrat ist pleite.“92 Die Lektüre der Berichte gestattet es uns festzuhalten, dass viele Schüler aus allen Bezirken in der Begleitung der Erwachsenen an den Demonstrationen teilnehmen.93 Der 17. Juni 1953 erscheint als der krönende Abschluss, als Apogäum einer Bewegung der Verweigerung der sozialistischen Schule in all ihren Formen: der räumlichen und zeitlichen Gliederung, der Sprache, der Selektionskriterien für den Eintritt in die Oberschule … Durch dieses Wetterleuchten der Revolte versuchen die Schüler das Regime dazu zu bringen, eine Reihe von Korrekturen vorzunehmen. Aber diese Aktionen zeugen durchaus von einem Bruch, wenn nicht einem Graben zwischen der Macht und einer Jugend, die den Sozialismus bauen soll.

92 93

Ebd., pag. 167. LAB, C REP 920/195, op, cit., pag. 18.

Kapitel VII Die sozialistische Schule und der ­„Kampf gegen den westlichen kulturellen Einfluss“

In seinem berühmten Plädoyer für eine vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften im Jahre 1928 bemerkte der Historiker Marc Bloch: „Wo hat man gesehen, dass die sozialen Phänomene, in welcher Epoche es auch sei, ihre Entwicklung einhellig an den gleichen Grenzen angehalten hätten, die genau betrachtet die der politischen Dominanz oder der Nationalitäten gewesen wären?“1 Diese Feststellung lässt sich voll und ganz bestätigen, wenn wir die Frage der westlichen kulturellen Einflüsse im Bereich des ostdeutschen schulischen Feldes betrachten. Tatsächlich ist ja die Konstruktion einer sozialistischen Identität, deren Wiege die Schule sei, kein Phänomen unter einer Glasglocke, die in einer von äußeren Einflüssen abgeschirmten Welt platziert wäre. Seit dem Beginn der 1950er Jahre müssen die politischen und edukativen Behörden den Einfluss der aus den USA stammenden Massenkultur auf die Kinder und Jugendlichen in Rechnung stellen. Amerikanisierung der Kultur versteht sich hier als Hegemonie amerikanischer Modelle und Werte, die in eine Infragestellung des Vorrangs autochthoner Kultur, eine Blüte der Nachahmungen und Imitationen des dominierenden Modells übersetzt wird.2 Die Amerikanisierung entspricht einem Phänomen, mit dem die DDR und die BRD im Bereich der Musik,3 des Kinos, der Jugendliteratur gleichermaßen konfrontiert waren. In der DDR wird der Siegeszug der amerikanischen Comics4 im Wesentlichen in Ostberlin sichtbar und spürbar, da die innerdeutsche Grenze in der ehemaligen Hauptstadt des Reichs noch nicht geschlossen ist. Er ruft sowohl in den politischen Sphären als auch in den Zivilgesellschaften identische Reaktionen hervor. Was die deutschen Staaten voneinander unterscheidet, ist die Politisierung dieses kulturellen Einflusses in der DDR. 1 2

3 4

M. Bloch, L’Histoire, la Guerre, la Résistance, Paris 2006, S. 376. A. Linke/J. Tanner (Hg.), Attraktion und Abwehr. Die Amerikanisierung der Alltagskultur in Europa, Köln 2006; A. Stephan/J. Vogt (Hg.), America on my mind. Zur Amerikanisierung der deutschen Kultur seit 1945, Paderborn 2006; L. Koch (Hg.), Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945–1960, Bielefeld 2007. U. Poiger, Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000. B. Dolle-Weinkauf, Comics: Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945, Weinheim 1991.

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Ein in West und Ost verurteiltes kulturelles Phänomen Die Comics gehören zur „Schmutz- und Schundliteratur“, das heißt der „Literatur aus der untersten Schublade“, die von den westdeutschen Autoritäten ebenso abgelehnt wird wie von den ostdeutschen. Die zitierte Formulierung bezeichnet nicht ein bestimmtes literarisches Genre, sondern dient vielmehr als Etikettierung für eine Bahnhofsliteratur minderer Qualität. Sie umfasst pornographische Romane, Krimis, Kitschromane und Comics. Diese Abqualifizierung kommt nicht vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf, bringt aber einen moralischen Konservatismus zum Ausdruck, der seit der Gründung des Kaiserreichs besteht.5 Als Phänomen mittlerer Dauer hat sie alle unter dem Wilhelminischen Reich und der Weimarer Republik sozialisierten Generationen geprägt, und dies erklärt, warum die westdeutschen katholischen Konservativen und die ostdeutschen Kommunisten solche Literatur mit der gleichen Verbissenheit bekämpfen. Im Jahre 1926 sanktioniert ein erstes Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor „ Schund- und Schmutzschriften“ eine Verurteilung, die auf das Wilhelminische Reich vor 1914 und den Versuch zurückgeht, einen ­Kanon nationaler Literatur zu definieren. Das Gesetz ist in gewissem Sinne eine Reaktion auf die Furcht vor dem Verlust der kulturellen Reinheit Deutschlands nach der Niederlage von 1918.6 In Leipzig wurde eine nationale Oberprüfstelle eingerichtet, der auch der kommunistische Schriftsteller Arnold Zweig (1887–1968) angehörte. Ihre Aufgabe bestand darin, Publikationen, die für Jugendliche bestimmt waren, zu kontrollieren. Diese Prüftätigkeit fand ihren Höhepunkt unter dem Nazismus mit der Verurteilung der entarteten Kunst und der amerikanischen Kultur.7 In Westeuropa stellen zahlreiche Literaturspezialisten und Journalisten in den Nachkriegsjahren die „weiße Literatur“ einer „schwarzen Literatur“ gegenüber. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel widmet eine Meldung der Ausgabe vom 21. März 1951 den Comics, die es als „Opium der Kinderstube“ tituliert. Die Regierung Adenauer lässt das Parlament im Juni 1953 über ein Gesetz gegen die Verbreitung jugendgefährdender Schriften abstimmen, in dem Comics an erster Stelle genannt 5 6 7

Für die Zeit bis 1914 siehe K. Maase, „Kinder als Fremde – Kinder als Feinde. Halbwüch­ sige, Massenkultur und Erwachsene im Wihelminischen Kaiserreich“, in: Historische Anthropologie, n° 4, 1996, S. 93–126. M. Stieg, „The 1926 German Law to Protext Youth against Trash and Dirt: Moral Protectionism in a Democracy“, in: Central European History, 23, März 1990, S. 22–56. G. Reuveni, „Der Aufstieg der Bürgerlichkeit und die bürgerliche Selbstauflösung: Die Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur in Deutschland bis 1933 als Fallbeispiel“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51, 2003, S. 131–143; L. Springmann, „Poisoned Hearts, Diseased Minds and American Pimps: The Language of Censorship in the Schund und Schmutz Debates“, in: The German Quaterly, 68, n° 4, Herbst 1995, S. 408–429.

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werden.8 Das Gesetz sieht die Einrichtung einer Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Schriften (BPS) vor, die im Juni 1954 gegründet wird. Dieses nationale Komitee für Zensur und moralischen Schutz indiziert und verbietet den Verkauf aller Publikationen, die es als gefährlich für die Jugend betrachtet. Zwar widerspricht dies dem Artikel 5 des Grundgesetzes – „Eine Zensur findet nicht statt“ –, aber die Behörden präsentieren die Verbote als Befreiung von „Schweinereien“. Die Prüfstelle bildet ein Forum für die Äußerung moralischer Indignation und kollektiver Ängste der deutschen Mittelklassen der 1950er Jahre: der Furcht vor dem Verlust nationaler Identität durch den amerikanischen kulturellen Einfluss,9 der Furcht vor sozialer Dekadenz, vor dem Niedergang der Familie und vor einer Zunahme der Kriminalität. Die katholischen Jugendbewegungen, die in den frühen 1950er Jahren in der BRD noch sehr mächtig sind (mehr als eine Million Mitglieder 1955), machen sich zu Vermittlerinnen dieser Ängste gegenüber den jungen Katholiken.10 Die moralische Dimension spielt auch in den offiziellen Verlautbarungen in der DDR eine Rolle: Die Lektüre von Comics führe die Kinder unweigerlich auf den Weg der Kriminalität und des Analphabetismus. Diese Aburteilung wird insofern im Rahmen einer marxistischen Argumentation formuliert, als sie als „von der kapitalistischen Kulturindustrie produzierte Infektion“ dargestellt werden. Die konservative und antimoderne Reaktion, die die DDR mit der BRD teilt, wird überlagert von einer ideologischen Lesart, die sehr genau derjenigen entspricht, die im Kampf gegen die Jugendkriminalität – das Rowdytum – verwendet wird.11 Laut den Dienstanweisungen des Ministeriums für Volksbildung sind die Bildgeschichten eine „Propagandawaffe“ des Westens, mit der die ostdeutsche Jugend pervertiert und in eine „konterrevolutionäre Opposition“ getrieben werden soll, deren Ziel im Sturz des sozialistischen Staates besteht. Eine Betrachtung des lexikalischen Feldes, das hier verwendet wird, zeigt ein Vokabular, das auf Krieg und Interventionismus rekurriert: Kampf, Verteidigungsmethode, Aktion, Kraft, exekutieren usw. Die ostdeutschen Behörden halten die Comics für eine Bedrohung der Gesellschaft, weil sie der Ausdruck einer alternativen und autonomen Kultur der Jugendlichen sind, die den Aufbau einer sozialistischen Kultur ab dem frühesten Alter gefährdet. Die Behörden sind sich der Unterstützung durch die Familien sicher: Es besteht insofern ein breiter Konsens mit der Gesellschaft, als die Mehrzahl der Eltern diese Lite­ratur   8 Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bilder, die lügen, Bonn 2003.   9 K. Jarausch/H. Siegrist (Hg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945– 1970, Frankfurt/M. 1997. 10 M. E. Ruff, The Wayward Flock. Catholic Youth in Postwar West Germany, 1945–1965, Chapel Hill 2005. 11 T. Lindenberger, „Secret et public. Société et polices dans l’historiographie de la RDA“, in: Genèses, Les Archives de l’Est, n° 52, September 2003, S. 45.

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ablehnt, wobei sie sicherlich für die moralischen Argumente empfänglicher ist als für die politischen. Für den Kampf gegen diese Einflüsse mobilisieren die Behörden verschiedene gesellschaftliche Akteure, entwickeln verschiedene edukative Praktiken sowohl in den Schulen wie auch in den Familien und verbreiten einen Diskurs wissenschaftlich-medizinischen Typs.

Die Einheitsfront von Macht und Eltern im Kampf gegen die Comics Die Schulen Ostberlins sind Hochburgen für die Verbreitung und den Tausch von Comicheften. Die Protokolle der Lehrerkonferenzen und die Berichte der lokalen Funktionäre des Schulamtes und der Partei belegen dieses Phänomen innerhalb der Schulmauern. Eine genauere Analyse der Quellen zeigt jedoch, dass sich die Behörden erst ab der Mitte der 1950er Jahre der „Schwere“ des Problems bewusst werden. Die Verbreitung wird im Wesentlichen von Schülern gewährleistet, die die Möglichkeit haben, sich nach Westberlin zu begeben. Sie finanzieren den Ankauf der Hefte mit dem Geld ihrer Eltern, soweit ihnen das gestattet ist. Viele stoßen aber auf elterliche Verbote. Die Schüler sehen sich – was außergewöhnlich ist – einer gemeinsamen Front aus Behörden und Eltern gegenüber. J. K. ist 1944 geboren und wächst in den 1950er Jahren in Ostberlin auf. Sein Vater ist ein Neulehrer, der nicht der SED angehört. Gegen den Willen seiner Eltern sammelt er mit Begeisterung Comics: „Meine Schulfreunde hatten diese Mickey Mouse[-Hefte]. Die waren aber sehr teuer, 1 Mark. Und ich konnte es mir nicht leisten. Es gab auch Tarzan, Akim, solche JungleHelden und Zygos, ein Kämpfer aus der Ritterzeit. Man konnte die Hefte in einem Kiosk in Westberlin tauschen. Ich habe sie gern gelesen, weil sie bunt und spannend waren, und zum Widerwillen meines Vaters, der das als Schmutz- und Schundliteratur bezeichnete. […] Meine Eltern sagten, die Literatur [wäre] niveaulos und primitiv. Ihrer Meinung nach sollte ich vernünftige Bücher lesen und nicht nur Bilder. Und dann passierte eines Tages folgendes: Ich hatte meine Comics in meinem Bettkasten versteckt. Das war heimlich. Eines Tages gucke ich in den Kasten, und die waren alle weg! Meine Eltern haben sie zufällig gefunden und weggeschmissen. Die Comics waren auch an der Schule streng verboten. Jemand, der das mitbrachte, und der Lehrer sah das …“12

Diese Einheitsfront aus Eltern und Behörden erklärt sich aus generationellen und kulturellen Faktoren: Die Beteiligten sind in der Weimarer Republik aufgewachsen und haben dort ihre Sozialisation erfahren. Der Diskurs gegen die „Schund- und

12

Transkription des Interviews mit J. K. am 16. März 2004, pag. 5.

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Schmutzliteratur“ ist ihnen vertraut und sie sind – unabhängig vom herrschenden politischen Regime – dafür besonders empfänglich. Um das Verbot und damit auch das Fehlen von Finanzierungsquellen zu umgehen, verkaufen die Pfiffigsten alte Familiengegenstände oder Brot in Westberlin. Um an die kostbaren Comics heranzukommen, bedient man sich auch der Vermittlung großer Brüder, die in Westberlin arbeiten, oder anderer Familienmitglieder, die im westlichen Teil der Stadt leben. In manchen Vierteln frequentieren einige Freunde eine Schule im Westen und können daher als Lieferanten dienen. Der junge W. W., Schüler der Klasse 7b der 23. Schule in Friedrichshain, bekommt die Comichefte von Verwandten, die in Reinickendorf wohnen. Er verteilt sie dann an Schulkameraden, mit denen er tauscht.13 Sein Vater ist Arzt und hat nichts dagegen, dass sein Sohn diese Art von Literatur liest. Es ist also für W.W. finanziell kein Problem, die Comichefte zu kaufen. Die Direktorin der Schule, die diese Fakten im Februar berichtet, beklagt den Umstand, dass selbst die Kinder „fortschrittlicher Eltern“ dieser Lektüre frönen.14 Diese Feststellung fordert die Behörden auf, gegen Einflüsse zu kämpfen, die selbst junge engagierte Kommunisten erfassen. Die Schulbehörden beschließen, alle gesellschaftlichen Kräfte für etwas heranzuziehen, was sie als eine Schlacht, ja sogar als einen Krieg betrachten. Der Kampf gegen diese Literatur gibt Aufschluss über Konzeption und Inhalte der sozialistischen Erziehung, weil er das Regime dazu zwingt, das ganze Spektrum edukativer Praktiken einzusetzen. Im Februar 1955 erlässt der stellvertretende Bürgermeister Ostberlins Fechner folgende Anweisung an das gesamte Schulwesen der Stadt: „Wir können nur dann das Erziehungsziel der DDR erreichen und die Lehrpläne erfolgreich erfüllen, wenn wir täglich den Kampf gegen die reaktionären und verbrecherischen Einflüsse aus Westberlin führen. Das muß sowohl im Unterricht als auch außerhalb des Unterrichtes geschehen. Dabei ist besonders darauf zu achten, daß unsere Jungen und Mädchen sich aktiv in den Kampf einschalten, daß die Eltern, die Patenbetriebe und die gesamte demokratische Öffentlichkeit die Sorge um unsere Jugend beträchtlich erhöhen und an der patriotischen Erziehung unserer Jugend mitwirken.“15

Das Regime ist also entschlossen, das Problem aktiv anzupacken und die Schule unter Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte zu einem Kampffeld gegen die Comics zu machen. Seine Politik ist zweigleisig: Sie enthält eine repressive und eine pädagogische Dimension.

13 14 15

LAB, C REP 120/3066, Kampf gegen Schund- und Schmutzliteratur, pag. 4. Ebd., pag. 4. Ebd., pag. 16.

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Die repressive Schiene: Zwischen Druck, Kontrollen und Denunziationen Die Schulbehörden verbieten die Lektüre und Verbreitung dieser Comichefte auf dem Schulgelände. Dabei stützen sie sich auf die Verordnung vom 15. September 1955 über den Schutz der Jugend, die in §3 ein Verbot der Herstellung und Verbreitung von „Schund- und Schmutzliteratur“ auf ostdeutschem Gebiet enthält. Die Eltern sind gehalten, ihre Kinder von solchen „schädlichen Erzeugnissen“ fernzuhalten.16 Dieses Verbot wird begleitet von einer Art „Kriminalisierung“ der Lek­ türe. Wird das Verbot von einem Schüler verletzt, müssen die Eltern eine Erklärung unterzeichnen, in der sie eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht über ihre Kinder zugeben. Wenn sie sich weigern, diese Bescheinigung auszustellen, müssen sie vor dem Pädagogischen Rat der Schule erscheinen, an dem auch Vertreter der Polizei teilnehmen. Die strengste und entwürdigendste in der Verordnung vorgesehene Maßnahme ist die Kontrolle der Schulmappen,17 die unangekündigt während des Unterrichts stattfindet. Der Schuldirektor und der hauptamtliche Funktionär der FDJ betreten ein Klassenzimmer und inspizieren den Inhalt der Schulranzen der Schüler. Diese Erfahrung wird uns von R. H. beschrieben, einer eifrigen Pionierin, die keinerlei Interesse an Comicheften hat: „Ich glaube, es war einer der seltenen Augenblicke, wo ich meine politische Loyalität ein bisschen verloren habe [Lachen]. Ich hatte natürlich keine Schundliteratur. Das hatte aber kulturelle und nicht politische Gründe: ich mag einfach Comics bis heute nicht. In der Regel war sie [die Kontrolle] während des Unterrichts oder vielleicht zu Beginn, ich weiß es nicht mehr. Der Direktor und die Pionierleiterin waren da. Und dann mussten alle aufstehen, sich neben ihre Bänke stellen, und dann nicht alle auf einmal, sondern nach und nach musste jeder seine Tasche auf den Tisch legen und … es war peinlich … Die anderen lachten auch darüber. Man fand Comics oder andere Sachen … und er [der betroffene Schüler] wurde rausgewiesen. Es gab Gerüchte, daß die Eltern, die es im Betrieb erfahren haben, die wurden bedroht.“18

Das Interview mit R. H. gestattet es uns, eine entscheidende subjektive Dimension in unsere Analyse einzubeziehen und so zu verstehen, was diese Taschenkontrollen bedeuteten. Zweifellos waren sie eine für alle Schüler insofern schmerzhafte Erfahrung, als private Gegenstände dem spöttischen Blick der Anderen ausgeliefert werden. Das erwähnte Gerücht über eventuelle Repressalien gegen die Eltern in den Betrieben wird bestätigt durch eine Verordnung der Schulbehörden von Pankow, die zu einer „Aufklärungsaktion“ in den Betrieben aufruft: „Größerer Wert müßte

16 17 18

Gesetzblatt der DDR, n° 80, 29. 9. 1955, S. 641ff. Ebd., S. 643. Transkription des Interviews mit R. H. vom 12. März 2004, pag. 9.

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Abb. 6 Austausch von Comics gegen sozialistische Literatur in einer Schule Berlin-Lichtenbergs, Februar 1954

auch auf eine umfassende Aufklärungsaktion der Gewerkschaftsorganisationen in den Betrieben gelegt werden.“19 Einige Schulen wie die 14. Schule in Pankow praktizieren neben diesen Kontrollen den Austausch der Hefte. Die Schüler können ihre Comichefte „abgeben“ und erhalten dafür aus der UdSSR importierte Jugendbücher: „Monatliche Mappenkontrolle – gefundene und die von den Kindern freiwillig abgegebene Schundliteratur wird umgetauscht gegen die Hefte aus dem demokratischen Sektor.“20 Diese Praxis wird illustriert durch die oben wiedergegebene Fotografie aus dem Landesarchiv in Berlin.21 Sie datiert vom Februar 1954 und zeigt zwei Schüler einer Schule in Lichtenberg, die ihre Comichefte gegen sozialistische Literatur eintauschen. Der Autor ist unbekannt, für unseren Kontext aber auch unwichtig. Offensichtlich handelt es sich um eine Inszenierung mit zentraler Position des Slogans, der sofort den Blick auf sich zieht: „Weg mit den Schmökern. Hier könnt ihr alte 19 LAB, C REP 149-13/3, Rat des Stadtbezirkes Pankow, Schund- und Schmutzliteratur, 1955, unpag. 20 Ebd. 21 LAB Berlin/Gert Schütz, F Rep. 290, Nr. 0031252, Schüler von einer Lichtenberger Schule liefern freiwillig ihre Schmöker ab, Februar 1954.

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Schmöker gegen gute Kinderbücher eintauschen“. Das Plakat ist in die Mitte der Szene gesetzt. An den Rändern sieht man links zwei Kinder, rechts eine Erzieherin in weißer Bluse. „Gute Kinderbücher“ meint hier sowohl Übersetzungen russischer Werke wie auch deutsche Klassiker, zu deren Erbin sich die DDR erklärt. Die vom Fotografen beabsichtigte Wirkung ist offensichtlich und appelliert an das Unbewusste der Menschen: Die weiße Bluse symbolisiert die Idee der Reinheit und Sauberkeit der Erzieherin – vielleicht ist sie die Pionierleiterin der Schule – und lässt an eine Krankenschwester denken. Es werden auch „Verbrennungen“ von Comics auf Schulhöfen organisiert, beispielsweise im Mai 1955 in Pankow.22 Darüber hinaus sind die Lehrkräfte aufgerufen, die Jungen Pioniere als „Spione“ einzusetzen, um diejenigen, die Comichefte lesen und diejenigen, die sie verbreiten, ausfindig zu machen und Informationen darüber auszutauschen.23 Im Allgemeinen werden monatlich zwei Pioniere bestimmt, um zu beobachten, ob unter ihren Kameraden solche sind, die Comics lesen oder nicht. Indem sie sich auf die Jugendorganisationen stützen, verstärken die Schulbehörden die politischen Spannungen innerhalb der Schulklassen. Die eifrigen jungen Kommunisten ziehen es mitunter vor, die traditionelle Solidarität unter den Schülern zu brechen und sich auf die Seite der Lehrkräfte zu stellen. Sie werden daher als „Petzer“ wahrgenommen, als „Spitzel“. Entsprechende Denunziationen sind belegt aus der 7., 11. und der Wilhelm-Pieck-Schule in Pankow. Die Schulbehörden fordern die Lehrkräfte auf, den Schülern deutlich zu machen, dass diese Denunziationen „gerecht“ sind. Der Minister für Volksbildung ist sich darüber im Klaren, dass eine rein repressive Politik nicht ausreicht. Kontrollen und Verbote müssen von Maßnahmen begleitet werden, die darauf abzielen, das Interesse der Schüler für die sozialistische Kultur zu wecken. Im Jahre 1956 beschließen die Teilnehmer des 5. Pädagogischen Kongresses, eine Kommission gegen die Vergiftung der Jugend durch Schund- und Schmutzliteratur zu gründen, um Vorschläge für den Kampf gegen diesen als unheilvoll betrachteten kulturellen Einfluss zu erarbeiten. In der Folge dieser Resolution richten die Schulbehörden aller Ostberliner Bezirke solche Kommissionen ein, deren Vorschläge die repressiven Maßnahmen ergänzen sollen. Die pädagogisch-verführerische Schiene Die pädagogische Strategie im Kampf gegen die Comics betrifft die Eltern in gleichem Maße wie die Schüler. Die Schulbehörden greifen auf ein Angstszenario zu22 LAB, C REP 903-01-06/348, op. cit., unpag. 23 Ebd.

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rück, um die Anteilnahme möglichst vieler Familien zu erreichen. Argumentation und Rhetorik bauen auf einen pseudowissenschaftlichen Diskurs auf, um die möglichen Wirkungen auf die Kinder möglichst drastisch darzustellen: Diese Literatur gilt als ein großes soziales Problem, weil sie geistige Verwirrung hervorruft, zu Gewalt anregt, die Kinder dazu bringt, Diebe, ja Kriminelle zu werden. Ein solcher Diskurs, der sich zur gleichen Zeit in den katholischen Schulen der BRD finden lässt, hat einen unbezweifelbaren Effekt auf die Schülereltern, die sich in diesem Bereich stark mobilisieren zu lassen scheinen. Das ungewöhnliche Engagement auf der Seite des Regimes überrascht 1955 die Funktionäre der Schulbehörden im Bezirk Pankow.24 Die Lehrenden sowie die Vertreter des Elternausschusses und der Patenbetriebe werden dazu „eingeladen“, die Familien zu Hause zu besuchen, um ihnen die Gefahren dieser Literatur für die schulischen Leistungen, aber auch für das künftige Verhalten der Kinder zu erläutern. Staatsanwälte und Offiziere der Volkspolizei erhalten den Auftrag, Sitzungen der Elternausschüsse zu besuchen und dort Vorträge über die Gefahren der „Schundliteratur“ zu halten. So haben beispielsweise die Schülereltern der 20. Volksschule in Lichtenberg im Oktober 1954 den Vortrag eines Offiziers der Volkspolizei über die „dekadente Literatur“ gehört. Vierzig Minu­ten lang hat er die Gefahren der westlichen Kultur für die Kinder dargelegt, in einem Saal, der eigens für seinen Vortrag angemietet wurde; er endet unter donnerndem Applaus!25 Die Elternausschüsse sind ihrerseits dazu angehalten, mitzuwirken: Ihre Rolle besteht darin, die Eltern brieflich über die Gefahren dieser Literatur zu informieren, Petitionen zu unterzeichnen, Verpflichtungserklärungen zum Kampf gegen die Comics einzusammeln. Die Schulbehörden erwarten von den Lehrkräften, dass sie auf ihre Schüler einwirken, indem sie ihnen die schädlichen Einflüsse dieser Literatur erklären. Die Lite­raturlehrer sind gehalten, die ästhetische Sensibilität ihrer Schüler zu entwickeln, damit diese sich von der Comiclektüre abwenden. Die Büchereien der Schulen und Bezirke Ostberlins werden mobilisiert, Vorstellungen von aus der UdSSR importierten Büchern zu veranstalten. Auch werden die Lehrenden dazu aufgefordert, in den Klassenzimmern und bei Elternversammlungen den Fall des jungen Rudolf Scheffler heranzuziehen. Dieser junge Heranwachsende, der die 14. Schule in ­Pankow besuchte, hat im Januar 1955 eine alte Dame brutal ermordet. Die Lehrkräfte sollen dieses Beispiel verwenden, um den Kindern Angst zu machen, indem sie deutlich machen, dass der Junge kriminell wurde, weil er Comics gelesen hat. Die Wirksamkeit von Diskursen dieser Art lässt sich bezweifeln, da sie ganz im Gegenteil die Lust der Schüler anregen, sich Comics zu verschaffen. Der Reiz des Ver24 25

LAB, C REP 903-01-06/348, op. cit., unpag. LAB, C REP 903-03-01/159, op. cit., unpag.

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botenen ist für Kinder besonders anziehend: Wird eine Sache mit Schande belegt, gewinnt sie an Wert. Die Kampfkampagnen gegen den westlichen Einfluss werden von den Erziehungsbehörden als Gelegenheit genutzt, Praxis und Werte der sozialistischen Erziehung zu betonen und den Druck auf die Lehrkräfte zu verstärken; diese werden nun dazu aufgefordert, sich noch stärker für die Jugendorganisationen einzusetzen. Eine der effektivsten Lösungen wird von der FDJ in Gang gesetzt: Um die Popularität der Comics zurückzudrängen, müssen sozialistische Comics entwickelt werden. Es ist kein Zufall, dass die FDJ gerade zur Mitte der 1950er Jahre Kindermagazine nach amerikanischem Modell lanciert. Die ersten Nummern der Comiczeitschriften ­ATZE und ­MOSAIK datieren auf April beziehungsweise Dezember 1955.26 In der ersten Zeit werden selbst diese sozialistischen Comics seitens der Deutschen Lehrerzeitung, die den dortigen Humor für unpädagogisch hält, kritisiert. Diese Haltung zeigt, dass die Ablehnung weitaus mehr kulturell und generationsabhängig ist denn politisch. Aber es gelingt diesen Magazinen, Figuren zu schaffen, die bei Kindern und Erwachsenen ankommen: die Mäuse Flix und Flax (Gegenstücke der Mickey Mouse und vor allem der westdeutschen Füchse Fix und Foxi), die Helden Otto, ­Alwin, Digedag oder der Ritter Runkel von Rübenstein. Der Publikationsrhythmus von MOSAIK wird ab Juni 1957 monatlich gegenüber vierteljährlich bis dahin. Dieses ostdeutsche Magazin verkauft sich ab der 3. Ausgabe etwa 250 000 Mal.27 Dieser „Abwehrkrieg“ scheint von vornherein verloren, denn die westliche Kultur wirkt wie ein Magnet. Die repressiven und positiven Maßnahmen haben keinen anderen Effekt als die Schüler dazu anzuregen, weiterhin Comics zu lesen und so eine Art kultureller – nicht politischer – Freiheit zum Ausdruck zu bringen.

26 R. Pfeiffer, Von Hannes Hegen bis Erich Schmitt. Lexikon der Karikaturisten, Presse- und Comic-Zeichner der DDR, Berlin 1998. Siehe auch G. Lettkemann/M. Scholz, „Schuldig ist schließlich jeder … der Comics besitzt, verbreitet oder nicht einziehen lässt“, Buch zur Ausstellung „Schuldig ist schließlich jeder … Comics in der DDR – Geschichte eines ungeliebten Mediums (1945/49–1990)“, Berlin 1994; S. Barck/M. Langermann/­S. Lokatis (Hg.), Zwischen „Mosaik“ und „Einheit“. Zeitschriften in der DDR, Berlin 1999; R. ­Thomas, „Die Welt als Comic – 50 Jahre Mosaik“, in: Deutschland Archiv, 38, n° 6, 2005, S. 1033–1044. 27 Etwas früher, im Jahre 1948, hat das Jugendmagazin Vaillant, das 1945 unter der Ägide der PCF (Parti Communiste Français) gegründet wurde und den Jeune Patriote ersetzte, die Figur Pif der Hund lanciert; auch er war ein großer Erfolg. Siehe R. Medioni, Pif gadget. Le véritable histoire des origines à 1973, Paris 2003.

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Der Eigensinn der Schüler Eine Analyse der Protokolle der pädagogischen Konferenzen in den Schulen zeigt, dass die Schlacht auf dem schulischen Feld rasch gewonnen scheint. Als ein Funktionär 1956 die 18. Volksschule des Bezirks Treptow inspiziert, teilt ihm der Schul­ direktor stolz mit, dass seit Oktober 1955 kein einziger Comic innerhalb der Schulgebäude gefunden worden sei: „Der Kampf gegen Schund- und Schmutzliteratur wurde auch in diesem Jahr erfolgreich durchgeführt. Seit Oktober 1955 wurde keine Broschüre westlicher Herkunft mehr gefunden. Spätere Schulkontrollen verliefen positiv. Auch die zuletzt durchgeführte Mappenkontrolle (7. 12. 1956, 8.00 Uhr) verlief ebenfalls positiv, das heißt, kein einziges Buch, Heft und Spielzeug westlicher Herkunft wurde gefunden.“28

Er erklärt diesen „Erfolg“ mit der pädagogischen Schiene des Kampfes gegen diese Literatur: „Welche Wege wurden eingeschlagen, um dieses Ziel zu erreichen? Der Grund liegt in der Ergänzung unserer Schulbücherei, die auf 700 Exemplare angestiegen ist, außerdem durch die Anschaffungen von über 200 Abenteuertreffen [!]. […] Außerdem wurden im Literaturunterricht gute Bücher besprochen und im Geschichts- und Erdkundeunterricht Bücher zum Lesen empfohlen, die dann sehr schnell vergriffen waren, was uns bewies, daß es gelungen war, die Schüler für gute Lektüre zu begeistern.“29

Tatsächlich haben die Schüler die Lektüre von Comics ganz und gar nicht eingestellt. Sie haben lediglich ein vorsichtigeres Verhalten angenommen, damit sie bei den Kontrollen nicht erwischt werden. Ein Bericht der Direktorin der 23. ­Schule in Friedrichshain an das Bürgermeisteramt von Ostberlin unterstreicht, dass die Schüler alle möglichen „Verstecke“ verwenden, um weiter Tauschgeschäfte auf dem Gelände der Schule betreiben zu können: „Infolge verstärkter Gegenmaßnahmen seitens der Schule gehen die betreffenden Schüler vorsichtiger zu Werke. Sie verstecken die Bücher und Hefte unter den Matratzen und Schränken oder in sonst schwer zugänglichen Winkeln.“30 Das Gleiche geht aus einer Diskussion mit Lehrkräften des Bezirks Pankow hervor, die ihren Vorgesetzten detailliert beschreiben, wie jeder Winkel der Schule von den Schülern als Raumressource genutzt wird, um Comics zu verstecken. Der Berichtsautor ruft dazu auf, den Optimismus mancher Schulleiter zu relativieren, zumal diese absichtlich die Wirklichkeit schönen, um „gut dazustehen“ und Pressi-

28 LAB, C REP 145-13/47, op. cit., unpag. 29 Ebd. 30 LAB, C REP 120/3066, op. cit., pag. 4.

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onen seitens ihrer Vorgesetzten, wenn nicht sogar ihre gelegentliche Entlassung, zu vermeiden. Da, wo die Schule ein zu riskantes Terrain wird, richten die Schüler „Umtauschzentralen“ an unauffälliger Stelle außerhalb des Schulgeländes ein: „Im übrigen wurde die Gefahr zweifellos immer noch unterschätzt. Aus dem weitgehenden Verschwinden der Schundhefte in den Schulklassen wird vielfach der voreilige Schluß gezogen, daß damit der Umsatz der Schundliteratur zurückgegangen sei. Tatsächlich beweisen jedoch Beispiele, daß die „Umtauschzentralen“ außerhalb der Schule eingerichtet wurden, zum Beispiel in Wohnungen oder in Form eines toten Briefkastens bei einer Plastik im Amalienpark.“31

Die Schulbehörden zeigen sich überrascht und vom Einfallsreichtum der Kinder und Heranwachsenden geschlagen. Sie interpretieren diesen Konsum kultureller Produkte des Westens als Ausdruck einer politischen Opposition, die die Stabilität des Regimes bedrohe. Die Kinder versuchen aber gar nicht, dem System Widerstand zu leisten oder es zu verraten. Sie wollen lediglich weiterhin ein Kulturprodukt lesen können, dessen Lektüre von der SED auf extreme Weise politisiert wurde. Der vom Regime geführte „Krieg“ gegen diese Literaturgattung stellt einen entscheidenden Moment in der Konstruktion einer ostdeutschen sozialistischen Identität im Laufe der 1950er Jahre dar. Diese stützt sich, um die Kontrolle über Kinder und Jugendliche möglichst zu verstärken, auf das lange zurückreichende geistige Erbe in den Familien. Die Schule gilt den Behörden als zentraler Ort der Politisierung, und jeder Be­ standteil muss dazu beitragen: Die Lehrkraft, die Unterrichtsinhalte, die Einbindung in die Jugendorganisationen, die Wände der Klassenzimmer. Sie soll der Schauplatz einer ständigen politischen Agitation sein, die das Engagement der verschiedenen Akteure erfordert. Aber diese Politisierung des schulischen Alltags irritiert einen Teil des Lehrkörpers und der Schüler.

Zusammenfassung des ersten Teils Das erste Jahrzehnt des Bestehens des „ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden“ ist seitens der SED geprägt von der Umsetzung des Willens, eine neue Gesellschaft aufzubauen, in der die Schule zur Wiege junger Sozialisten werden soll. Dieses prometheische Projekt wird mit einer historisch beispiellosen Entschlossenheit in allen Bereichen umgesetzt, ohne dass es notwendigerweise das Ergebnis e­ iner umfassenden Sowjetisierung gewesen wäre. Das Schulsystem wird transformiert und orientiert sich mit der Einführung von zehn Klassen an den Maßgaben der 31

LAB, C REP 149-13/3, op. cit., unpag.

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marxistisch-leninistischen Ideologie und am Bedarf der Wirtschaft. Der sozialistische Symbolismus durchdringt den räumlichen und zeitlichen Rahmen der Schulgebäude, während die Jugendorganisationen und ihre hauptamtlichen Funktionäre allmählich in den Schulen Fuß fassen. Die „Arbeiterklasse“ ist theoretisch in Form von Patenschaften zwischen Schulen und Betrieben an das edukative Projekt angeschlossen, die Beziehungen bleiben aber häufig beschränkt. Diese „Erziehungsdiktatur“ stößt an Grenzen, die zurückzuführen sind auf Meinungsverschiedenheiten, Rivalitäten und Spannungen innerhalb der Welt der edukativen Akteure, auf die Notwendigkeit für die lokalen Repräsentanten der Macht, die sozialen Logiken der Individuen zu berücksichtigen. Die einzelnen schulischen Akteure werden von der SED als „politische Erzieher“ aufgefasst, das heißt als kämpferische Repräsentanten der offiziellen Erziehungspolitik. Die Analyse der Interaktionen zwischen den verschiedenen edukativen Akteursgruppen hat eine Welt sichtbar gemacht, welche von Spannungen und Rivalitäten geprägt ist, die den Zielen des ostdeutschen Regimes notwendigerweise abträglich sind. Die Stellung eines Schuldirektors, der zwischen den Forderungen der Behörden und der Realität eingezwängt ist, erfordert viel Taktgefühl und Kompetenzen im Umgang mit den Beziehungen zwischen den Menschen, insbesondere gegenüber einem Lehrkörper, von dem ein Teil sich als von allen Seiten angegriffen empfindet: von der sowjetischen Pädagogik, von der Konkurrenz durch die hauptamtlichen Funktionäre der Jugendorganisationen, durch den Druck, den die Schulleiter ausüben. Davon abgesehen kann kein Kontroll- und Betreuungsplan, so lückenlos er auch sei, das Verhalten von Schülern determinieren. Diese schaffen sich ihre eigene Identität, strukturiert durch zahlreiche Faktoren und Akteure außerhalb des schulischen Bereichs: Familie, Religion, Kriegserfahrung, kultureller Einfluss des Westens. Die Sozialisierung eines Schülers im Ostberlin der 1950er Jahre vermag noch einer Reihe von Zwängen auszuweichen, unter der Bedingung, dass bestimmte soziale ­Regeln – wie das „so tun als ob“ – beherrscht werden. Am Ende der 1950er Jahre hat die offizielle Erziehungspolitik der SED nicht alle ihre Ziele erreicht. Sie wird von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung, auch der Lehrkräfte, abgelehnt; diese ziehen es vor, die DDR zu verlassen und sich in Westdeutschland niederzulassen. Vor allem hat sie eine Reihe von Konsequenzen, die nicht vorgesehen waren. Indem die SED die Institution Schule in extremster Weise politisierte, hat sie aus der Schule einen Ort der Konfrontation unter den Schülern gemacht, die über die einfachen traditionellen „Kabbeleien“ in den Freistunden hinausgehen. Die politische Stigmatisierung eines Jungen Pioniers ist in den 1950er Jahren eine Realität des schulischen Alltags. In der Folge macht die Politisierung der Schule die Schüler äußerst sensibel für die politischen Fragen ihrer Zeit, allerdings nicht immer in dem Sinne, in dem die Behörden dies wünschen. Mitunter entwickeln sie eine kritische, antirussische und pazifistische politische Kultur, für die der

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RIAS eine Informationsquelle bietet. Darüber hinaus bringt diese Politisierung die Institution Schule insofern ins Wanken, als manche Jugendliche sie bewusst einsetzen, um die Regeln des erlaubten Verhaltens zu verletzen. Solche Attitüden der Provokation erwachsener Autoritäten werden immer im Rahmen einer politischen Lesart verstanden, die die SED-Funktionäre blind und unfähig macht, mit kulturellen Modephänomenen wie der Comiclektüre angemessen umzugehen. Als sie eine reli­ giöse Minderheit im Namen des von Walter Ulbricht verkörperten radikalen Antiklerikalismus diskriminiert, schließt die SED Schüler protestantischer Konfession aus, obwohl diese teilweise bereit waren, sich am Aufbau der sozialistischen Schule zu beteiligen. Trotz solcher Niederlagen und Schwierigkeiten bleibt die offizielle Erziehungspolitik angetrieben von einem unglaublichen pädagogischen Optimismus und dem Glauben an die planmäßige Konstruierbarkeit des neuen sozialistischen Menschen. Am Ende von zehn Jahren der Transformation gelingt es der SED zunehmend, den Lehrkörper zu homogenisieren. Vor allem entwickelt sie einen allgemeinen Rahmen, nach dem sich die Familien zu richten haben. Die Entwicklung des Orga­ nisierungsgrades bei den Jungen Pionieren und der Beteiligung an der Jugendweihe zeugt von einer zunehmenden Annäherung zwischen dem Regime und der Bevölkerung, einem stillschweigenden und fragilen Konsens, der sich in den Jahren 1958/1959 herausbildet. Dieses Arrangement ist nicht ausschließlich Folge von Zwängen und von Druck seitens der SED. Es bringt vielmehr eine Internalisierung der Spielregeln zum Ausdruck, die von den Familien akzeptiert und für ihre eigenen Interessen eingesetzt werden. Es bildet sich eine Art Minimalkonsens heraus, der zu einer relativen Stabilisierung der Institution Schule und allgemein der „Erziehungsdiktatur“ beiträgt. Mit dem Ende der 1950er Jahre beginnt mit der Einleitung der letzten großen Strukturreform eine neue Etappe, die die nach dem Mauerbau geborenen Generationen prägen wird: die polytechnische Bildung. Sie eröffnet außerdem eine Phase rela­tiver Stabilität, die immer wieder durch die Politisierung kultureller Phänomene, die sich in den schulischen Einrichtungen ausbreiten, konterkariert wird.

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Die SED benötigt nicht weniger als zehn Jahre, um das System der polytechnischen Schule gegenüber dem Lehrkörper durchzusetzen. Erstmals war es anlässlich der zweiten Konferenz der SED im Juli 1952 auf den Weg gebracht worden. Scheitelpunkt dieses ersten Versuchs war die Ausrichtung einer großen Konferenz im Mai 1953 in Ostberlin; diese Konferenz, auf der Stalin als Theoretiker der Verbindung von Theorie und Praxis präsentiert wurde,1 bleibt wegen der Ereignisse des 17. Juni 1953 ohne konkrete Wirkungen. Das sozialistische Regime nimmt seine Marschroute gleichwohl ab 1956 mit der dritten Konferenz der SED wieder auf; sie stützt sich auf das sowjetische Exempel2 und beschwört die Vollendung der Transformation des Schulsystems durch die Einführung der polytechnischen Ausbildung. Die Funktionäre des DPZI, die in die Schulen geschickt werden, um die Lehrkräfte davon zu überzeugen, dass diese Reform folgerichtig ist, stoßen auf große Vorbehalte. In der 15. Grundschule im Prenzlauer Berg beklagen die Lehrkräfte gar eine künftige „Unterdrückung der humanistischen Fächer“.3 Es stoßen hier zwei Auffassungen von der Aufgabe der Schule aufeinander: Die von der Partei vertretene, die darauf abzielt, einen künftigen Bürger heranzubilden, der auf die neuen Herausforderungen der Wirtschaft vorbereitet ist, und eine andere, von vielen Lehrenden vertretene, die an den Begriff der Bildung und der harmonischen Entwicklung des Individuums anknüpft: Homo Oeconomicus versus Homo Humanus. Während des V. Parteitages der SED im Juli 1958 beschließt W. Ulbricht, über die Vorbehalte des Lehrkörpers hinwegzugehen und das polytechnische Modell durchzusetzen. Ab dem Wiederbeginn der Schule im September wird ein „Unterrichtstag in der Produktion“, eine „Einführung in die sozialistische Produktion“ für die Klassen 7 bis 12 eingeführt. Für die jüngeren wird der Unterricht im Werken neu ausgerichtet als Vorbereitung auf die produktive Arbeit und als Erziehung zum Wert der Arbeit. Die neue polytechnische Schule soll also gleichzeitig überzeugte sozialistische Bürger heranbilden und Facharbeiter formen, die die ostdeutsche Wirtschaft braucht. Mit den späten 1950er Jahren endet eine Phase struktureller, personeller und zeitlicher Umwälzungen, die in den Jahren 1945/1946 eingesetzt hat, und es beginnt eine Periode relativer Stabilität der Institution Schule in der DDR im Rahmen des Konzepts der polytechnischen Erziehung und Bildung. Diese Stabilität 1 2

3

W. Dorst, „Schluss zur theoretisch-praktischen Konferenz über Fragen der polytechnischen Bildung in der deutschen demokratischen Schule“, in: Pädagogik, Heft 9, 1953, S. 715ff. Über die sowjetische Schulreform von 1958 siehe L. Coumel, „The Scientist, the Pedagogue and the Party Official. Interest Groups, Public Opinion and Decision-Making in 1958 Educational Reform“, in: Melanie Ilic/Jeremy Smith (Hg.), Krushchev in the Kremlin. State and Society, London 2009, S. 66–85. Protokollbuch der 15. Grundschule Prenzlauer Berg, 1953–58, unpag.

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wird sichtbar sowohl auf der Ebene des Lehrpersonals, das sich auf dem Weg der Professionalisierung befindet, als auch auf der Ebene der Jugendorganisationen und bestimmter bereits eingeführter Festpraktiken wie dem sozialistischen Gedenk­ kalender. Die Jugendweihe erscheint von nun an in der DDR als fest in der Gesellschaft verankerte sozialistische „Tradition“. Die drei in diesem zweiten Teil untersuchten Jahrzehnte werden von Schülern durchlebt, die ab den frühen 1950er Jahren geboren und ausschließlich unter dem sozialistischen Regime sozialisiert werden. Es wird von Interesse sein zu sehen, wie dieser generationelle Wandel sich auf der Ebene des Erlernens der sozialistischen Regeln und Werte niederschlägt, die im schulischen Feld vermittelt werden, d. h. im sozialistischen Habitus – oder anders gesagt: in der Gesamtheit der praktischen Kenntnisse, die seit frühester Kindheit erworben werden und die es den Individuen erlauben, sich in diesem recht spezifischen sozialen Raum zu verhalten und zu entwickeln. Aber diese Epoche wird auch von einem Ereignis dominiert, dessen Folgen für die Schule und ihre verschiedenen Akteure sich bis in die späten 1970er Jahren bemerkbar machen: Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 hat nicht nur den unmittelbaren Effekt, dass er den Eskapaden der jungen Berliner von Ost nach West ein Ende setzt. Er bedeutet in gewisser Weise die „zweite Geburt der DDR“, indem sie das Projekt Ulbrichts umsetzt, die DDR auf Dauer in der europäischen Landschaft zu platzieren. Dieser politische Wille drückt sich in der Schule im Anspruch aus, ein ostdeutsches Nationalgefühl zu wecken und vermittelt sich als Prozess der Militarisierung des schulischen Alltags, der seinen Gipfelpunkt im Jahre 1978 mit der Einführung des obligatorischen theoretischen und praktischen militärischen Unterrichts erreicht. Die Schule ist nun nicht mehr bloß die Wiege künftiger Facharbeiter, sondern auch die Kaserne der ostdeutschen Nation.4 Die Armee wird zunehmend zum Referenzideal, indem sie gleichzeitig als Instrument zur sozialen „Disziplinierung“ als auch als Kristallisationspunkt des Nationalgefühls dient. Sie ist jedoch nicht der einzige neue schulische Akteur in dieser Periode. Auch die politische Polizei ist im schulischen Feld nach 1961 als Kontroll- und Überwachungsinstanz in wachsendem Maße präsent, insbesondere im Jahre 1968 infolge der Auswirkungen der tschechoslowakischen sozialistischen Reformbewegungen auf die DDR.

4

Siehe für die wilhelminische Zeit U. Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivil­gesellschaft in Deutschland, München 2001.

Kapitel VIII Die Stabilisierung des polytechnischen Erziehungssystems Die Lehrkräfte: Zwischen Feminisierung, generationeller Erneuerung und Korpsgeist Ab den 1960er Jahren ist die zunehmende Feminisierung des Lehrkörpers das Phänomen, das als erstes ins Auge fällt. Auf der nationalen Ebene beträgt sie 75 %, was in etwa dem Prozentsatz entspricht, der in Frankreich zur gleichen Zeit feststellbar ist.1 Von etwas mehr als 12 000 zu Beginn der 1980er Jahre in Ostberlin tätigen pädagogisch Beschäftigten sind mehr als 80 % weiblichen Geschlechts: Der Frauen­anteil beträgt 70 % bei den Lehrkräften und 90 % bei den Funktionären der Jugend­organisationen. Abgesehen von einem traditionellen Modell geschlechtlicher Arbeit­steilung kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser hohe Frauenanteil in der DDR durch die Existenz eines Systems von Krippen und Kindergärten gefördert wird, das es den Frauen ermöglicht, Berufstätigkeit und Mutterfunktionen miteinander zu vereinbaren.2 Das zweite charakteristische Merkmal ist die Verjüngung des Lehrkörpers in Verbindung mit der Pensionierung der Lehrergeneration, die bereits zur Weimarer Zeit aktiv gewesen ist. Die ostdeutsche Hauptstadt hat infolgedessen den jüngsten Lehrkörper in der ganzen DDR: 70 % der Lehrkräfte Ostberlins sind jünger als 40 Jahre. Diese Verjüngung ist auch die quasi mechanische Folge massiver Rekrutierungen seit den späten 1950er Jahren, die wegen der zahlreichen Ausreisen nach Westen und der Beförderung von Neulehrern zu Funktionären des Volksbildungsministeriums, der städtischen Schulbehörden, der SED und der Jugendorganisationen erforderlich waren. Mit der Einrichtung des polytechnischen Ausbildungssystems und der Verlängerung der Schulpflicht sowie in Verbindung mit dem demographischen Wachstum explodiert die Zahl der Schüler, die die POS und die Gymnasien (EOS) besuchen, förmlich und steigt von 91 000 im Jahre 1960 auf 173 000 im Jahre 1977; sie erfährt also eine quantitative Steigerung von 90 % in weniger als zwanzig Jahren. Von diesem Datum an nimmt die Zahl der Schüler infolge der demographischen

1 2

Im Jahre 1935 zählte in Frankreich die Grundschulausbildung bereits 65 % Frauen. Am Ende der 1970er Jahre beträgt ihr Anteil fast 75 %. Siehe I. Berger, Les instituteurs d’une génération à l’autre, Paris 1979. D. Harsch, Revenge of the Domestic. Women, the Family, and Communism in the German Democratic Republic, Princeton 2007.

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Entwicklung allmählich ab und erreicht am Ende der 1980er Jahre 150 000.3 Um eine Vergleichsgröße anzugeben: In Frankreich steigt die Zahl der Schüler in den Grundschulen, den Collèges und den Lycées im gleichen Zeitraum um 30 %.4 Abgesehen von den Kriterien Geschlecht und Alter ist es aufschlussreich, sich mit der Entwicklung der Organisierung in der SED zu beschäftigen und dabei den Rhythmus der Anwerbung des Lehrkörpers nach den einzelnen Schultypen zu differenzieren. Etwa 35 % der Lehrkräfte der POS in der gesamten DDR sind zum Ende der 1970er Jahre Mitglieder der SED, während es in der ersten Hälfte der 1960er Jahre 30 % waren.5 In den EOS beläuft sich der Organisierungsgrad auf 65 %. Von den 482 Lehrkräften, die zu Beginn der 1980er Jahre an den zwölf Ostberliner EOS tätig sind, sind 310 (64,5 %) SED-Mitglieder;6 am Ende der 1960er Jahre beträgt ihr Anteil erst 40 %.7 Der Anstieg ist also in den EOS stärker als in den POS. In den 1950er Jahren waren die Sekundarschulen in sozialer Hinsicht noch von einer Lehrergeneration dominiert, die das „Bildungsbürgertum“ repräsentierte und in der Weimarer Republik sozialisiert wurde. Anders als in den 1950er Jahren wird der Posten des Parteisekretärs nun häufig nicht vom Schulleiter bekleidet, sondern von der Lehrkraft für Staatsbürgerkunde. Dieses Fach weist mit 99 % tatsächlich den höchsten Organisierungsgrad in der SED auf, weit vor den übrigen Fächern. So sind entgegen dem, was man erwarten könnte, nur 25 % der Lehrenden für russische Sprache Parteimitglieder.8 Jedenfalls werden wir Zeugen einer bemerkenswerten Entwicklung im Vergleich zu den 1950er Jahren: Es sind die Erweiterten Oberschulen, die zu „Festungen“ der SED werden, während die POS weitaus weniger stark von der Partei eingebunden werden. Diese Unterschiede bleiben relativ, denn der äußerst hohe Organisierungsgrad in der SED bei den Lehrkräften geht weit über das hinaus, was sich in den Betrieben beobachten lässt (10 %); der Lehrberuf wird also eine der Stützen des sozialistischen Regimes. Zudem sind in den Schulen 80 % der Funktionäre der Jugendorganisationen in den frühen 1980er Jahren Mitglieder der SED.9 Neben der Betrachtung der Berufsgruppe in ihrer Gesamtheit ist es von Interesse, sich mit den intergenerationellen Verhältnissen zu befassen. Der Lehrkörper besteht nun aus zwei Generationen: Den Neulehrern, die mit zunehmendem Alter 3 4 5

Statistisches Jahrbuch Berlin, 1945–1990. A. Prost, op. cit., S. 16. LAB, C REP 90/2 844, SED-Bezirksleitung Berlin, Abt. Volksbildung/Wissenschaft, ­Einige schulpolitische Probleme, 1970–1971, unpag.  6 LAB, C REP 902/5 858, Statistiken zu Fragen Volksbildung, 1982–1986, unpag. 7 LAB, C REP 120/166, Informationsberichte der Abt. Volksbildung der Bezirke, 1967– 1968, pag. 85. 8 LAB, C REP 902/5 858, op. cit., unpag. 9 Ebd.

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nun auch Posten als Schulleiter innehaben, sowie denjenigen, die ab den 1950er Jahren im Rahmen eines regulierten Ausbildungsgangs herangezogen werden. Diese neue Lehrergeneration  – etwa 30 % der Lehrenden sind jünger als 30 Jahre  – ist in den pädagogischen Fakultäten der Universitäten ausgebildet worden. Anders als die vorangegangene Generation, die in der Dringlichkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgebildet wurde und der in der Regel die nötigen Diplome fehlten, befindet sich die neue Generation auf dem Weg zur Professionalisierung. Ihr Verhältnis zum Sozialismus und zur DDR ist weniger politisch und ideologisch. Ein allgemeiner, 1978 in Auftrag gegebener Bericht für die Ostberliner Stadtverwaltung legt den Akzent auf den „Mangel an kämpferischem Engagement“ bei der neuen Generation. Lediglich ein Drittel der Parteimitglieder in Ostberlin ist im Jahre 1978 zur Parteischule gegangen, wohingegen der nationale Durchschnitt bei 47 % liegt.10 Die Beunruhigung, die sich bei zentralen Funktionären der Partei äußert, bringt einen Generationsunterschied zum Ausdruck, der tatsächlich nichts mit einer Distan­zierung von der Ideologie zu tun hat. Tatsächlich akzeptiert diese „zweite Generation“ von Lehrkräften den Marxismus-Leninismus als Tatsache, als etwas, das sich von selbst versteht. Dies wirkt sich aus als weniger starker politischer Durchsetzungswille, als weniger offensichtliche kämpferische Praxis, was sofort wieder Vorwürfe seitens der älteren Generation hervorruft, die nun inspiziert und Berichte über die jüngeren Kollegen anfertigt. Das Zusammenwirken der Lehrergenerationen ist nicht immer harmonisch. Generationelle Spannungen werden verstärkt durch hierarchische Beziehungen, die mitunter kompliziert sind. Häufig versuchen viele junge Lehrkräfte in Reaktion auf das Verhältnis zur älteren Generation – den Neulehrern –, die sie als „dogmatisch“ und „parteiisch“ beurteilen, sich gegenüber ihren älteren Kollegen dadurch auszuzeichnen, dass sie sich eine Berufsidentität schaffen, die vor allem auf dem Wunsch aufbaut, ihr Fach zu unterrichten und zum individuellen Heranreifen ihrer Schüler beizutragen. Dieses konfliktuelle Generationsverhältnis wird in den Quellen in ­aller Regel vollständig vertuscht, und zwar auf jeder Verwaltungsebene. Wir haben versucht, es über die Interviews in den Griff zu bekommen; diese Quelle hat uns aber vor methodologische Probleme gestellt, die an einem Beispiel illustriert werden sollen: S. D., geboren 1954 in eine Familie der sozialistischen Intelligenz (der Vater ist Jurist, die Mutter Lehrerin; beide sind Mitglieder der SED), ist ein „gelungenes Produkt“ der sozialistischen Erziehung. Ihrer Erzählung zufolge ist die Wahl des Lehrerberufs geleitet von dem Willen, nicht in „kämpferischer Weise“ zu unterrichten, wie dies ihre Mutter getan hat. S. D. gedenkt zur persönlichen Vervollkomm10 SAPMO, ZK der SED, Abt. Volksbildung, DY 30/IV B 2/9.05/40, Entwicklungstendenzen Bewusstsein der Jugend, 1978, unpag. 

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nung ihrer Schüler beizutragen, nicht dazu, neue sozialistische Menschen heranzuziehen. Aus ihrer Arbeit in verschiedenen Schulen des Bezirks Friedrichshain in den 1970er Jahren erinnert sie sich an häufige Konflikte mit den Schulleiterinnen, die sie wegen deren „ideologischen Aktivismus“ nicht leiden konnte. Sie qualifiziert sie als „Stalinweiber“.11 Zunächst einmal bringt das Interview hier eine Argumentation hervor, die darauf abzielt, sich von der Generation der 1930er/1940er Jahre zu distanzieren, die sich mit der DDR identifiziert hat. S. D. produziert gleichzeitig einen Diskurs der Selbstrechtfertigung ihres Lebensweges im Kontext der Epoche nach der Wiedervereinigung. Sie will tatsächlich sich und ihre Generation als Pädagogen anstatt Ideologen präsentieren, was eine Methode darstellt, die negativen Dimensionen der Erziehungsdiktatur auf die ältere Generation abzuwälzen. Die intergenerationellen Spannungen sind das Resultat unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen. Die „HJ-Generation“ hat sich mit all ihrer Energie beim Aufbau des Sozialismus engagiert, um ihre nationalsozialistische Vergangenheit zu vergessen und ihrem Leben wieder einen Sinn zu geben, während die jüngere Generation die ideologische Dimension des Lehrberufs vollständig integriert hat. Sie geht davon aus, dass sie nicht die ganze Zeit über sichtbare Zeichen des Engagements vorweisen muss, was ihr die ältere Generation zum Vorwurf macht. In den 1960er und 1970er Jahren legen die Lehrkräfte beispielsweise größeres Gewicht auf die schulischen Leistungen, ohne deswegen der offiziellen ideologischen Linie den Rücken zu kehren. Diese Verhaltensweise kommt mit dem Emporsteigen einer neuen Generation von Lehrkräften auf, die in erster Linie von dem Bemühen um eine Professionalisierung ihres Berufes angetrieben wird. Der deutsche Historiker Ralph Jessen beobachtet die gleiche Entwicklung im Hochschulbereich in den 1960er Jahren.12 Im schulischen Feld sind die Lehrenden zwar die Stützen des Regimes; als Korps wollen sie nach den Erfordernissen des SED-Staats existieren. Sie zögern aber mitunter nicht, gegenüber manchen Maßnahmen oder Praktiken Distanz zu wahren. In jedem Falle ruft diese innerhalb des Berufszweigs weit verbreitete Tendenz anhaltende Kritik seitens der Schulinspektoren hervor, die die Lehrkräfte eines Mangels an „ideologischer Qualifikation“ beschuldigen.13 Als Vertreter des Volksbildungsministeriums inkarnieren diese den Wunsch der SED, die Lehrkräfte vor allem anderen die politische Dimension ihrer Tätigkeit in Angriff nehmen zu sehen. Über den „ewigen“ Unzufriedenheitsdiskurs der Inspektoren hinaus erlaubt es uns 11 Transkription des Interviews mit S. D. vom 11. April 2004. 12 R. Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ära Ulbricht, Göttingen 1999. 13 LAB, C REP 120/191, Berichte und Analysen des Bereiches Volksbildung – Ergebnisse der massenpolitischen Arbeit 1967–1968, pag. 2.

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ein konkretes lokales Beispiel, uns die Professionalisierung der Lehrenden und ihr weniger sichtbar zum Ausdruck gebrachtes politisches Engagement deutlich zu machen. Der Bezirk Prenzlauer Berg zählt im Jahre 1968 971 Lehrer und 230 Erzieher, das heißt 1 201 aktive edukative Akteure. Von diesen 1 201 nehmen nur 194 an einer fortlaufenden Ausbildung in Marxismus-Leninismus teil, das heißt etwa 15 %.14 Ganz allgemein ist die mangelhafte marxistisch-leninistische Qualifikation ein ständig an die Lehrenden adressierter Vorwurf. Wir haben oben den Umstand betont, dass die jungen Lehrkräfte die ideologische Dimension als Selbstverständlichkeit ihres Berufs akzeptieren. Die Verknüpfung der schriftlichen mit den mündlichen Quellen gestattet es uns aber, zusätzlich pragmatische Gründe dafür zu beleuchten, das heißt den Willen der Lehrkräfte, eine Vervielfachung sprachlicher Entgleisungen oder allzu explosiver Diskussionen im Klassenzimmer zu vermeiden. Um effektiv und in Ruhe unterrichten zu können, versuchen sie, verbale Konfrontationen zu vermeiden, den „sozialen Frieden“ in ihren Klassen zu bewahren. Diese Feststellung wird mehrfach in den Aktennotizen der Schulbehörden von Ostberlin getroffen, etwa der von Oktober 1967 für den Bezirk Friedrichshain: „In einer Reihe von Klassen gab es kaum politische Diskussionen, weil offensichtlich einige Klassenleiter der politischen Auseinandersetzung aus dem Wege gehen wollten.“15 Es wird mitunter eine Art stiller Übereinkunft zwischen dem Lehrenden und der Klasse hergestellt: Die Lehrkraft verpflichtet sich unausgesprochen dazu, ihren Unterricht nicht übermäßig zu politisieren, während die Schüler sich nicht durch Akte politischer Grenzverletzung auffällig machen. Tatsächlich mag ein politisierter Kurs schwer zu „halten“ sein, da dies den Lehrenden destabilisieren kann. Nur den Lehrkräften für Staatsbürgerkunde gelingt dies, weil die politische und ideologische Dimension ihrem Fach inhärent ist; allerdings werden sie meist von ihren Schülern verachtet. Ein Interview mit der ehemaligen Geschichtslehrerin M.R. ermöglicht es uns, die mitunter fragile Situation zu verstehen, in der sich eine Lehrkraft befindet, die eine Unterrichtsstunde über den „antifaschistischen Schutzwall“ halten soll. Sie ist in den frühen 1950er Jahren in Sachsen geboren und beginnt ihre Laufbahn in Ostberlin zu Beginn der 1970er Jahre: „Es war sehr schwer, eine Stunde über die Berliner Mauer und ihren schützenden und antifaschistischen Charakter zu machen. Die meisten Schüler glaubten nicht, was ich sagte, und manche hatten keine Hemmungen, mich schlecht dastehen zu lassen. Ich war in diesem Bereich nicht sehr glaubwürdig“.16 Diese Art Position der Schwäche, die für einen Erwachsenen, der moralische und intellektuelle Autorität verkörpern soll, paradox ist, wird 14 15 16

LAB, C REP 120/2 203-1, Informationsberichte an das Mf V, 1968, pag. 7. LAB, C REP 135-13/17, Rat des Stadtbezirks Friedrichshain, Abt. Volksbildung, Informationsberichte, 1965–1967, unpag. Transkription des Interviews mit M.R. vom 10. April 2002, pag. 2.

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in einem Bericht aus dem Jahre 1962 deutlich, in dem es um die Behandlung der deutschen Frage in zwei Schulen des Bezirks Pankow geht: „Ungenügend wird auch die Tatsache, daß Westberlin Kriegsherd, NATO-Brückenkopf sowie Agenten- und Spionagezentrum ist, von fast allen Schülern erkannt. Dieser Stand zeigt uns deutlich, daß offensichtlich nicht wenige Lehrer selbst in diesen Fragen unsicher sind, sie ungenügend im Unterricht behandeln und daher die Resultate zu verzeichnen sind.“17 Unter den Argumenten, die die Lehrenden gegenüber ihren Vorgesetzten vorbringen, findet sich die Aussage, dass das Informationsmaterial, das ihnen zur Verfügung gestellt wird, nicht ausreicht, um auf die Fragen der Schüler Antwort zu geben. Eine entsprechende Haltung findet ein Schulinspektor des Bezirks Friedrichshain im Jahre 1977 anlässlich der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann: „Die Diskussionen um den Ausschluß von Biermann aus der Staatsbürgerschaft der DDR machten uns zum wiederholten Male deutlich, daß der Einfluß der imperialistischen Massenmedien nicht zu unterschätzen ist. Im Zusammenhang mit diesem Problem mußten Diskussionen und Auseinandersetzungen mit den Pädagogen geführt werden, die meinten, daß die Informationen in unserem Publikationsorgan nicht genügten. Diese Diskussionen wurden mit benutzt, bewußt zu machen, daß jegliche Information klassengebunden ist und der Umfang der Information aus den gesicherten Kenntnissen unserer Partei- und Staatsführung heraus bestimmt wird.“18

Der Korpsgeist der Lehrkräfte, ihr Eigensinn innerhalb des schulischen Feldes lassen sich sehr gut in zwei für die Partei relativ sensiblen Bereichen untersuchen: der Auswahl der Schüler, die Funktionen innerhalb der Pioniergruppe übernehmen sollen, und der Selektion für den Eintritt in die Oberschule. Im Allgemeinen zeigen die Lehrenden kaum ein besonderes Engagement in Bezug auf die Jugendorganisationen, die letztlich in ihren Kompetenzbereich und ihren Arbeitsbereich, das heißt ins Klassenzimmer, eindringen. Es fällt ihnen daher schwer, den Ansprüchen der SED gerecht zu werden, wenn diese von ihnen fordert, die Schülervertreter als vollberechtigte „Erziehungspartner“ zu akzeptieren! Dies stellt der Autor eines allgemeinen Informationsberichts für den Bezirk Weißensee fest, der im Januar 1969 an das Volksbildungsministerium ergeht: „Die Herausbildung gefestigter FDJ- und Pionierkollektive wird in vielen Klassen durch die noch ungenügende Arbeit der Klassenleiter mit den gewählten Vertretern der Schüler behindert. Viele Klassenleiter sehen in den gewählten Vertretern der Jugendund Kinder­organisation noch nicht ihre Partner in der Erziehungsarbeit. Sie sehen die FDJ- bzw. Pionierarbeit noch nicht in ausreichendem Maße als Kernstück ihrer Erzie17 18

LAB, C REP 149-13/2, op. cit., unpag. LAB, C REP 902/4 544, Politisch-ideologische Erziehungsarbeit der Pädagogen unter der Schuljugend. Berichte und Informationen, 1977–1981, unpag.

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hungsarbeit sondern oft noch als eine Aufgabe neben vielen anderen an. Daraus ergibt sich u. a., daß die FDJ-Leitungen und Pionierräte nicht genügend befähigt werden, ihre Selbsttätigkeit nicht entwickelt und ihre Autorität im Klassenverband nicht genügend gestärkt wird.“19

In den 1960er Jahren lenken viele Berichte die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass die Bestimmung der Schüler, die Funktionen in den Basiszellen der Jugend­ organisationen übernehmen sollen, eher an die schulischen Leistungen denn an das politische und ideologische Engagement gebunden ist: „Außerdem wurde mehrfach festgestellt, daß die Auswahl der Gruppenräte durch den Lehrer einseitig nach den guten Zensuren erfolgte.“20 Mitunter beachtet der Lehrer ideologische Kriterien bei der Auswahl der Funktionsträger in der Klasse, wählt aber andere Schüler, wenn es darum geht, die ­Schule oder die Klasse bei öffentlichen Veranstaltungen zu repräsentieren. J. H., geboren 1976, ist an der Pestalozzi-Schule in Hohenschönhausen eingeschrieben, wo sie gleichzeitig durch ihre schulischen Leistungen brilliert und durch das Fehlen „kämpferischen“ Engagements auffällt. Sie erwähnt die Repräsentationsrolle, die ihr mitunter übertragen wurde, was sich auch durch ihre Fähigkeit zum Konformismus erklärt: „Für die Verteilung der Funktionen wurden die Kinder der nicht Linientreuen nicht berücksichtigt. Aber wenn es darum ging, zu repräsentieren oder irgendwo hinzugehen, wo man sich benehmen musste, dann waren das immer wir. Bei solchen Angelegenheiten wurden nicht die linientreuen Kinder mitgenommen, sondern die intelligenten, die sich benehmen konnten. Wenn du da warst, hieß es nicht unbedingt, daß du toll warst; hieß es einfach, daß der Lehrer von dir annahm, daß du dich benehmen kannst und daß du die Schule vor der Öffentlichkeit nicht blamierst. Ich konnte nicht Gruppenratsvorsitzende werden, weil ich nicht linientreu war. Ich war aber gut genug, die Klasse glänzen zu lassen. Das war die Lektion Nummer eins.“21

Neben der Unterscheidung zwischen Kindern linientreuer Eltern und den Übrigen lässt die Erzählung J. H.s Äußerungsformen eines „sozialen Rassismus“ durchscheinen. Als Tochter von Medizinern  – beide Eltern waren Zahnärzte  – erklärt sich ihr Urteil auch durch ihre Ablehnung von Personen, die nicht aus dem gleichen sozialen Milieu stammten wie sie. Das Problem des Engagements der Lehrenden für die Jugendorganisationen ist nicht neu. Es kommt in dem Moment auf, als diese Berufsgruppe in ihrem Kompetenzbereich Konkurrenz wittert oder sich angegriffen fühlt; deshalb umgehen sie die offiziellen Direktiven und treffen schlechterdings rationelle Entscheidungen: Das Beispiel J. H. zeigt, dass es sinnvoller ist, Schüler 19 20 21

LAB, C REP 120/2 223-2, Informationsberichte an das Mf V, 1969, pag. 64. LAB, C REP 120/2 223-1, Informationsberichte an das Mf V, 1963–1966, pag. 177. Transkription des Interviews mit J. H. vom 18. Dezember 2003, pag. 2–3.

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zu schicken, die sich zu benehmen wissen, ohne unbedingt darauf zu schauen, ob die Eltern in der Partei sind. Ein dringenderes Problem ist für die Behörden der Mangel an Bedeutung, die seitens der Lehrkräfte dem ideologischen und politischen Kriterium bei der Selektion für die EOS zugemessen wird. Ein Informationsbericht von November 1968 lenkt die Aufmerksamkeit des Volksbildungsministeriums auf diese Praxis: „Beim Übergang der Schüler in die Abiturstufe kommt es an vielen EOS zu einer einseitigen Bewertung der Leistungsseite, während in den Stellungnahmen der Klassenleiter und Direktoren auf die gesellschaftliche Aktivität und die politische Haltung der Schüler häufig nicht eindeutig verwiesen wird. Die Aufnahmekommission in Lichtenberg mußte in vier Fällen von den Vorschlägen der Kant-EOS abweichend entscheiden. Zwei Schüler wurden von der Kommission wegen völlig unzureichender politischer Haltung zurückgewiesen; zwei Arbeiterkinder wurden trotz einiger Mängel in den Leistungen ihrer ausgezeichneten parteilichen Haltung wegen aufgenommen. In Treptow mußten 27 Beurteilungen zurückgewiesen werden, weil eine eindeutige Wertung der Haltung der Schüler der DDR umgegangen worden war.“22

Die Schulverwaltungen der Bezirke werden nicht müde, die Tendenz zahlreicher Lehrender anzuprangern, den schulischen Leistungen größere Aufmerksamkeit zu schenken als politischen Kriterien: „In der Auswahl und systematischen Arbeit mit diesen Schülern gibt es an einigen Schulen Tendenzen des Selbstlaufes. Der Abteilung wurden einige Schüler gemeldet, die weder Mitglieder der Jungen Pioniere bzw. der FDJ sind, noch durch ihre Haltung zu unserem Staat für diesen Weg besonders geeignet erschienen. […] In den wenigen bereits vorliegenden Beurteilungen zeichnen sich liberalistische Tendenzen der Klassenleiter zur politisch-ideologischen Haltung dieser Schüler und eine teilweise einseitige Beachtung ihres Leistungsstandes ab.“23

Dieser Ruf zur Ordnung, der durch den Gebrauch von in der Sprache des Regimes sehr negativen Begriffen (Selbstlauf, liberalistische Tendenzen) dringlicher gemacht wird, zeigt, wie zahlreiche Lehrende versuchen, sich als Berufskorps einen autonomen Raum zu schaffen, in dem sie auf die Zusammensetzung der Oberschüler Einfluss nehmen. Sie versuchen, eine Art Berufsethik durchzusetzen. Diese Praxis stößt mitunter auf sehr reale Grenzen, etwa in Gestalt der Allmacht der Auswahlkommission, in der die Repräsentanten der Macht (Inspektoren der Akademie, Funktionäre der Partei und der Jugendorganisationen) Kandidaturen zurückweisen, die ihnen hinsichtlich des ideologischen Engagements als unzureichend erscheinen. Die Äuße­rungsformen von Eigensinn bringen die Funktionäre der städtischen Schulbehörden Ostberlins dazu, das Verhalten des Lehrkörpers genauer zu überwachen. 22 23

LAB, C REP 120/2 202, Informationsberichte an das Mf V, 1968, pag. 10. LAB, C REP 135-13/17, op. cit., unpag.

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Dabei werden sie von der Stasi unterstützt, die ihre Überwachung des schulischen Felds im Laufe der 1960er und 1970er Jahre verstärkt. Die folgende Nachforschung nach selbst den kleinsten ideologischen Abweichungen kann Folgen für die Karriere einer Lehrkraft haben. Personen, die dem ­Regime verbunden sind, aber ihre Kritik allzu offen äußern, können für gewisse Zeit von ihren Funktionen entbunden werden. Genau dies widerfährt K.-P. S., in den 1970er Jahren ein junger Lehrer an der Karl Franck-POS in Köpenick. Dafür, dass er allzu klar gegen die ideologischen Kriterien bei der Selektion für die Aufnahme in die Oberschule Position bezogen hat, wird er in einen Produktionsbetrieb geschickt: „Ich habe als Lehrer immer große Schwierigkeiten gehabt, Teil des Ganzen zu sein. Ich habe nie verstanden, warum man gute Schüler aus formalen Gründen von der Oberschule relegiert hat. Das hat mich geärgert. Leute, die schwache oder mittlere Leistungen hatten und die Berufsoffizier werden wollten, wurden immer zur Oberschule angenommen. Man hätte reagieren müssen. Ich war zweimal für ein halbes Jahr in der Produktion relegiert, weil ich keinen gefestigten Klassenstandpunkt gehabt habe.“24 Dabei muss man sich selbstverständlich die „heroische“ Dimen­sion dieses von einem Lehrer produzierten Diskurses deutlich machen, der sich mehrfach während des Interviews als „Rebell“ präsentiert. Man hört daher nicht ohne Ironie, dass er sich in dieser Passage unwillkürlich der Sprache der Partei bedient („Klassenstandpunkt“). Die zeitweilige Relegation, die K.-P. S. erfährt, erklärt sich auch durch kritische Äußerungen während der pädagogischen Konferenzen, wo er den Mangel an Autonomie beklagt, über die der Lehrkörper und die Schulleitung bei der Bilanzierung des Schuljahres verfügen: „Der Inhalt der pädagogischen ­Bilanz wurde von den Funktionären des Volksbildungsministeriums vorbereitet, und die Schulleiter mussten nur noch die leeren Kästchen für die Gesamtzahl der Schüler, die Zahl der Lehrer, der Unterrichtsstunden eintragen.“25 Der Eigensinn der Lehrkräfte entfaltet sich gelegentlich in der Folge von Maßnahmen, die das Volksbildungsministerium einseitig anordnet. Im Jahre 1959 setzt das Ministerium parallel zur Einführung der polytechnischen Ausbildung eine tägliche obligatorische Gymnastikpause nach der vierten Schulstunde durch, um die geistige Ermüdung in den Vormittagsstunden zu „bekämpfen“. Diese Maßnahme, die in Dehnübungen auf den Pausenhöfen besteht, wird von Direktoren und Lehrkräften, die diese Gymnastikpause für „kompliziert und unnütz“ halten, geschlossen abgelehnt.26 Inspektionen, die im Februar 1960 in den Ostberliner Schulen erfol-

24 Transkription des Interviews mit K.-P. S. vom 29. April 2004, pag. 5. 25 Transkription des Interviews mit K.-P. S. vom 29. April 2004, pag. 6. 26 LAB, C REP 120/299, Durchführung von Hospitationen an den Schulen, 1950–1960, pag. 21.

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gen, bezeugen, dass diese Maßnahme praktisch nicht durchgeführt wird; sie wird stillschweigend fallengelassen. In dem Bestreben, als Berufsgruppe zu bestehen, ist der Lehrkörper nicht nur in ein vertikales Interaktionssystem zwischen sich und dem Staat eingebunden. Er ist außerdem konfrontiert mit Forderungen und Druck seitens der Schülereltern, die ständig der Versuchung ausgesetzt sind, ihre edukative Rolle zu erweitern. Die Elternausschüsse werden ebenso wie die Basiszellen der Jugendorganisationen zu einer Institution, die sich in der schulischen Landschaft festsetzt. Ab den 1960er Jahren werden aus den Elternausschüssen die für jeweils zwei Jahre gewählten Elternbeiräte. Auf der Ebene der Klassen ist von Elternaktiv die Rede. Die Beteiligung an den Wahlen der Elternvertreter hat sich im Vergleich zu den 1950er Jahren verdoppelt und erreicht 1965 51 %, was ihre Akzeptanz belegt.27 Diese Institution wird in zunehmendem Maße von Vertretern der sozialistischen Intelligenz dominiert. In soziologischer Hinsicht reduziert sich die Anwesenheit von Produktionsarbeitern zugunsten der SED-Angehörigen aus der Mittelklasse auf ein Nichts. Am Ende der 1960er Jahre beträgt der Anteil der Schülereltern, die einen Arbeiterberuf ausüben, in den Bezirken Köpenick, Prenzlauer Berg und Mitte im Schnitt 12 % gegenüber 20,1 % im Jahre 1953.28 Die Elternbeiräte sind Orte, an denen die Lehrkräfte zur Zielscheibe von Kritik werden können, die sich auf die pädagogischen oder die ideologischen Aspekte ihrer Arbeit beziehen kann. Ein im Mai 1967 von einem Mitglied des Elternaktivs der 6. Klasse der Theodor Neubauer-POS im Prenzlauer Berg verfasster Brief zeigt die Art und Weise, wie die Elternvertreter sich ihre Rolle vorstellen: „Die Aufgaben des Elternaktivs unserer Klasse sind klar umrissen. Sie beinhalten in der Hauptsache eine enge Zusammenarbeit mit allen Eltern, um das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und den Lehrern zu festigen, sie aktiv an der Lösung der Erziehungsund Bildungsaufgaben zu beteiligen sowie ihnen zu helfen, die politisch-ideologische Erziehung der Schüler in der Familie mit Erfolg fortzusetzen. […] Gemeinsam mit dem Klassenlehrer beraten wir jeden Monat einmal u. a. die Maßnahmen der Lern- und Erziehungsarbeit in der Schule und die Aufgaben, die dementsprechend vor dem Aktiv stehen.“29

Was dieser Brief uns deutlich macht, ist die Wertschätzung des Prinzips der Koedukation, das heißt einer Auffassung von Erziehung, die zwischen dem Staat und einem Elternbeirat, der die Eltern zu vertreten behauptet, aufgeteilt wird. Lässt man seine ideologische Dimension außer Acht, dann unterscheidet sich dieses Dokument in seinen Absichten kaum von einem Text der FCPE [Fédération des Conseils 27 28 29

LAB, C REP 120/2 891, Tätigkeit der Elternausschüsse, 1964–1970, pag. 64. LAB, C REP 120/2891, op. cit., pag. 337. LAB, C REP 120/191, op. cit., pag. 99–100.

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de Parents d’Elèves; Dachverband der französischen Elternvertretungen, Anm.d.Ü.] in Frankreich. Beispiele guten Einvernehmens und der Zusammenarbeit sind für eine Reihe schulischer Einrichtungen belegt, häufig aber zeigen die Lehrkräfte ein Problem bezüglich der Anerkennung ihrer beruflichen Tätigkeit von außen und ertragen keine Einmischungen in ihren Kompetenzbereich. Dies wiederum äußert sich so, dass Lehrkräfte und Schulleitungen den Schülereltern ausdrücklich jede Anerkennung verweigern: „In der Anerkennung der Arbeit der Elternvertretungen durch die Schule und die Lehrer gab es sehr große Unterschiede. […] Während z. B. an der 22. OS auch Auszeichnungen für gut arbeitende Elternvertreter vorgenommen wurden, dankte der Klassenleiter der Klasse 8 c der 7. OS in Pankow nicht mal dem Elternaktiv für die geleistete Arbeit.“30

Spannungen dieser Art hängen ganz einfach mit der Prekarität der Position des Lehrkörpers zusammen, dessen Aktionsfeld von der SED, den Jugendorganisationen, dem Betrieb, der Armee, dem Elternbeirat usw. besetzt wird. Der auf die Lehrenden ausgeübte Druck ist größer auf der Ebene der Sekundarschulen, wo Vertreter der SED stark vertreten sind. Diese Schülereltern kritisieren häufig die mangelhafte Effektivität der politisch-ideologischen Ausbildung und schreiben diese ausschließlich der Unfähigkeit der Lehrenden zu. Die hier zu beobachtenden Spannungen zwischen Lehrkörper und Elternvertretungen dürften sich nicht auf die Opposition zwischen einer von der SED kontrollierten Institution und einer Berufsgruppe reduzieren lassen, die einen eigenen Korpsgeist entwickeln will. Es gibt sie vielmehr in allen Ländern, in denen Elternvertretungen bestehen.31 Der dem Beruf immer inhärenten vielfältigen Druck ausgesetzte Lehrkörper muss zwischen Schülern, Elternbeiräten, Partei, Schulaufsicht usw. navigieren. Seine Position wird häufig noch von vielgestaltiger Kritik geschwächt, die auf seine pädagogische und ideologische Kompetenz zielt. Gleichwohl gelingt es den Lehrenden, sich Handlungsspielräume zu schaffen, so dass sie ihren Beruf gemäß einer bestimmten Ethik ausüben können, ohne dass dies von einer kritischen Haltung gegenüber den Grundlagen eines Regimes begleitet wäre, dessen Stütze sie sind. Viele sind weit davon entfernt, „rote Socken“ im Sold der SED zu sein. Die Mehrzahl – insbesondere die neue Generation  – betrachtet sich als Erzieher, die von e­ inem gleichsam humanistischen Ideal angetrieben werden, das in den späten 1960er Jahren als „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ bezeichnet wird. Die Herausbildung eines Korpsgeistes, der von Professionalität bestimmt ist, schließt ein star30 31

Ebd., pag. 9–10. Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, dass Frankreich bis in die späten 1970er Jahre gewartet hat, bevor Elternbeiräte eingerichtet wurden.

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kes Gefühl der Identifikation mit der DDR und dem sozialistischen Regime nicht aus. Die Mehrzahl der Lehrenden dient treu den Erziehungszielen des Regimes bis zu seinem Zusammenbruch 1989. Die Etablierung des polytechnischen Schulsystems fordert uns gerade zu einem Nachdenken über den Demokratisierungsgrad der ostdeutschen Schule nach 1961 auf. Die Einrichtung einer Einheitsschule für alle bis zum ­Alter von 16 Jahren bedeutet nicht zwingend, dass die Oberschule für alle offen ist, insbesondere nicht für Schüler aus Familien der Arbeiterklasse. Der Fall DDR ist insofern interessant, als die Selektion über die schulischen Leistungen hinaus von sozialen und politischen Kriterien abhängt, die die Eltern zu umgehen versuchen.

Zur Frage der sozialen Mobilität nach 196132 Die Arbeiterkinder und der Zugang zur Oberschule Im ersten Teil haben wir die Vorstellung relativiert, derzufolge das ostdeutsche kommunistische Regime durch seine edukative Politik aktiver Diskriminierung die soziale Mobilität der Arbeiterklasse im Ostberlin der 1950er Jahre gefördert habe. Die wirklichen Nutznießer sozialen Aufstieg sind tatsächlich diejenigen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ins erwerbsfähige Alter kommen, das heißt die Generation der Hitler-Jugend. Ungeachtet einer offiziellen egalitaristischen Politik bleiben die Oberschulen für Arbeiterkinder nach 1961 schwer zugänglich, zumal nachdem die Gesamtzahl der Auserwählten immer stärker beschränkt wird: 11 % der Altersklasse von 1971 (29 000 Schüler in der gesamten DDR), 8,8 % in 1975 (24 000 Schüler) und 8,3 % in 1980 (22 600).33 Im Schnitt werden nur zwei Schüler jeder 10. Klasse für den Besuch einer Oberschule ausgewählt. Neben der schulischen Konkurrenz funktioniert die Schule in der DDR tatsächlich als eine politisch-soziale Selektionsmaschine,34 wo Schüler, die einen sozialistischen Habitus haben, im Vorteil sind, weil sie seit ihrer frühesten Kindheit Ver32 Eine allgemeine Studie zu diesem Thema bietet H. Solga, Auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR, Berlin 1995. 33 O. Anweiler, Vergleich von Bildung und Erziehung in der BRD und der DDR, Köln 1990, S. 215. Wir lesen also eher kritisch, was Pierre Bourdieu in Die Erben. Studenten, Bildung und Kultur, Konstanz 2007, S. 97 schrieb, wobei uns sehr wohl bewusst ist, dass er sich hier auf die Ambitionen bezog, die die sozialistischen Regime verkündeten: „Die Bildungspolitik der Volksdemokratien war darauf ausgerichtet, den Hochschulbesuch von Arbeiter- und Bauernkindern und deren Examenserfolg systematisch zu fördern.“ 34 Die Richtlinien von 1966 und 1981 definieren verschiedene Selektionskriterien: schulische Leistungen, politisch-ideologische Festigung, soziale Herkunft und Orientierung im Verhältnis zum Bedarf der Wirtschaft.

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haltensformen, Sprache, Urteilsvermögen, Weltanschauungen internalisiert haben, die gefordert sind, um in eine Sekundarschule aufgenommen zu werden. Im Vorteil sind daher Kinder aus Familien, die über ein bestimmtes politisches und kulturelles Kapital verfügen.35 Eine Untersuchung der Soziologie der schulischen Einrichtungen ist ab den späten 1950er Jahren wegen der vom Volksbildungsministerium verwendeten statistischen Kriterien, die absichtlich die Arbeiterkinder in der äußerst schwammigen Kategorie „Kinder von Arbeitern und Bauern“ gleichsam „ertränken“, sehr schwer zu bewerkstelligen: Diese umfasst auch die Kinder von Angestellten, namentlich der Funktionäre der Partei, der Polizei oder der Armee. Offiziell sind 55 % der Schüler, die zu Beginn der 1960er Jahre in Ostberlin eine POS besuchen, Kinder von Arbeitern und Bauern, was ein Beleg für eine Demokratisierung der Schulbildung in der DDR wäre.36 Wir verfügen aber für die 1960er Jahre vereinzelt über Daten, bei denen es möglich ist, die offiziellen Kategorien zu dekonstruieren. So verwenden die Schulbehörden in einigen Bezirken – aus Gründen, die wir nicht kennen, die aber gegen eine Uniformierung der statistischen Praktiken sprechen – weiterhin die Kategorie „Kinder von Produktionsarbeitern“. Im Jahre 1968 beträgt der Anteil dieser Kinder von Produktionsarbeitern in den EOS 41,9 % in Treptow, 37 % in Friedrichshain und 23,6 % in Köpenick.37 Er ist im Vergleich zu den 1950er Jahren gestiegen in Treptow und Friedrichshain, bleibt aber schwach in Köpenick. Der Bericht über Treptow fügt hinzu, Arbeiterkinder befänden sich selten unter den sehr guten Schülern. Die Kinder von Hochschulabsolventen bilden die größte Gruppe unter den Oberschülern in allen drei Bezirken, und wir sind zu der Annahme berechtigt, dass es sich in den übrigen Stadtbezirken ähnlich verhalten wird. Zum Teil handelt es sich um die Kinder von Personen, die die neuen Möglichkeiten genutzt haben, die das Regime Anfang der 1950er Jahre bietet: Lehrkräfte, Ingenieure, hauptamtliche Funktionäre der Partei …

35 36 37

P. Bourdieu, Die „sowjetische“ Variante und das politische Kapital, in: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/M. 1998, S. 28–33. LAB, C REP 120/410-1, op. cit., pag. 97. LAB, C REP 120/2 202, op. cit., pag. 95 und pag. 106; LAB, C REP 120/2 223-2, op. cit., pag. 120.

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Tabelle 12:  Soziale Herkunft der Schüler in Ostberlin, die auf eine EOS kommen, im Jahre 1968 (in%)

Treptow

Köpenick

Friedrichshain

Arbeiter

41,9

23,6

37

Angestellte

13,3

20,2

20,9

Intelligenz

41,9

51

41

Andere

2,9

5,2

1,1

Quellen:  LAB C REP 120/2202, op. cit., pag. 95 und pag. 106; LAB, C REP 120/2232-2, Informationsberichte an das Mf V, 1969, pag. 120.

Offensichtlich verschließen sich die Sekundarschulen in den folgenden Jahren zunehmend den Kindern von Produktionsarbeitern. Für die 1970er Jahre besitzen wir vereinzelte statistische Daten über die soziale Herkunft von Schülern der Klassen 9 und 10, die sich auf eine Oberschule vorbereiten. Von 1 810 Schülern, die 1971 in Ostberlin angenommen werden, gehören 48 % offiziell der „Arbeiterklasse“ an. Tatsächlich findet man, wenn man die offizielle Kategorie dekonstruiert, lediglich 11 % Kinder von Produktionsarbeitern. Im Bezirk Köpenick sind von 298 Schülern 12,8 % Kinder von Produktionsarbeitern.38 Diese fragmentarischen Zahlen haben den Vorzug, dass sie die schwache Präsenz der Kinder von Produktionsarbeitern in der höheren Schulbildung bestätigen. Die so zu beobachtende Abschließung erklärt sich durch die Funktionsweise des polytechnischen Schulsystems in seiner Kopplung an eine Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr und sein Ziel, qualifizierte Arbeiter mehrheitlich aus der Arbeiterklasse heranzubilden. Die ostdeutsche Institution Schule produziert tatsächlich soziale Differenz: Die Polytechnische Oberschule ist sozial gemischt, vor allem aber für die Kinder aus der Arbeiterklasse bestimmt, während die Erweiterte Oberschule weitgehend einer politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Elite vorbehalten bleibt, das heißt den Kindern von Hochschulabsolventen (Ärzte, Ingenieure) und von Angehörigen der Mittelklassen (Partei­ funktionäre, Funktionäre der Sicherheitskräfte)  – kurz denen, die über die „legitime“ Kultur verfügen. Reproduktionsprozesse spielen also trotz aller offiziellen Propaganda eine große Rolle, und die DDR unterscheidet sich in dieser Hinsicht kaum von westlichen Ländern wie der BRD oder Frankreich. Der Fall Frankreich ist als Vergleichsobjekt von besonderem Interesse, weil die republikanische Schule ebenso wie die in der DDR auf dem „Mythos der Chancengleichheit“ aufbaut. Die bereits im ersten Teil zitierten Arbeiten Antoine Prosts haben gezeigt, dass sich das Lyzeum in Frankreich ab dem Ende der 1960er Jahre abschließt; der französische

38

LAB, C REP 120/3191, op. cit., pag. 38.

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Historiker betont hier die Rolle, die die Reform des Einheits-Collège, die eigentlich das Schulsystem demokratisieren sollte, gespielt hat. Die zunehmende Abschließung der EOS in der DDR sollte uns allerdings nicht vergessen lassen, dass die Anträge mancher Kinder von Hochschulabsolventen im Namen politischer und sozialer Kriterien zurückgewiesen werden. Dieses Phänomen lässt sich sehr anschaulich anhand der Eingaben im schulischen Feld untersuchen; diese bestätigen im Übrigen, dass die schwache Präsenz von Arbeiterkindern häufig von den Familien selbst gewollt ist! Die Verwendung der Eingaben oder: Wie umgeht man die soziale Hürde? Im Unterschied zu den Verwaltungsberichten, die von den städtischen Schulbehörden verfasst werden, bilden die Eingaben eine Quelle, die von den Bürgern selbst produziert wird. Wie aber der französische Politologe Jay Rowell zu Recht festgestellt hat, „muss man sich davor hüten, in ihnen einfache Lebensbeschreibungen zu sehen … Eine Eingabe ist alles andere als ein intimes Tagebuch, sie ist das Produkt einer strukturierten Interaktion zwischen Verwaltung und Verwaltetem.“39 Die Eingaben sind das einzige Rechtsmittel, das den ostdeutschen Bürgern gegenüber der Staatsverwaltung zur Verfügung steht; letztere prüft, urteilt und trifft eine letztgültige Entscheidung. Auf dem schulischen Feld kann sich ein Schülerelter an jede Verwaltungsebene richten: die Schulleitung, das Schulamt des Bezirks oder der Stadt, das Volksbildungsministerium, den Staatsrat der DDR. Im Allgemeinen wenden sich die Schülereltern an die niedrigste Verwaltungsinstanz, das heißt an die Schulämter der Stadtbezirke. Nicht nur die Schülereltern, auch die Lehrenden greifen auf diese Möglichkeit zurück, wobei sich letztere meist an die Verwaltung wenden, um eine Wohnung zu bekommen. Die genaue Anzahl von Eingaben, die an die verschiedenen Verwaltungsebenen gestellt werden, ist kaum zu übersehen. Die Zahl der Eingaben, die direkt an die Schulaufsicht von Ostberlin gerichtet werden, beträgt zu Beginn der 1960er Jahre im Schnitt 150 je Vierteljahr gegenüber 50 zu Beginn der 1970er Jahre. Auf der Ebene der Bezirke ist die Zahl der Eingaben äußerst variabel, und es ist kaum möglich, eine Entwicklung über die Zeit festzustellen. In jedem Falle handelt es sich hier um die am häufigsten angerufene Verwaltungsebene, da sie den Betroffenen am nächsten war.

39 J. Rowell, Le totalitarisme au concret. Les politiques du logement en RDA, Paris 2006. In deutscher Sprache siehe D. Mühlberg, „Konformismus oder Eigensinn? Eingaben als Quelle zur Erforschung der Alltagsgeschichte der DDR“, in: Mitteilungen aus der kulturgeschichtlichen Forschung, Bd. 19, 1996, S. 331–345; I. Merkel (Hg.), Wir sind doch nicht die ­Mecker-Ecke der Nation. Briefe an das DDR-Fernsehen, Köln 1998.

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Der Begriff Eingabe weist tatsächlich drei Dimensionen auf. Es kann sich um einen Vorschlag handeln, der darauf abzielt, die offizielle Politik zu verbessern (dann stammt sie meist von Mitgliedern der SED), um eine kritische Bemerkung zu diesem oder jenem Punkt (Mahlzeiten, Hygiene, Zustand der Schulgebäude, Verhalten einer Lehrkraft) oder sogar um eine Beschwerde gegen eine Verwaltungsentscheidung oder gegen eine Institution oder Person (Schuldirektor, Lehrkraft oder Schüler). Neben den Eingaben, in denen es um materielle Fragen (Hygiene, Zustand der Gebäude), um jugendliche Delinquenten in den Jugendwerkhöfen oder um die Zuweisung eines Kindergartenplatzes geht, betreffen die Eingaben hauptsächlich die Aufnahme in die EOS oder die Universität einerseits, den vorzeitigen Abgang von der Schule andererseits. Diese Quellengattung ermöglicht es uns daher nicht nur, die Probleme festzustellen, die von den Schülereltern angeführt werden, sondern auch, die Internalisierung offizieller Normen und rhetorischer Strategien der Aneignung in den Blick zu nehmen, die von den Bürgern insbesondere dann herangezogen werden, wenn es darum geht, ihren Kindern den Eintritt in eine Oberschule zu ermöglichen. Um dies zu bewerkstelligen, mobilisiert der jeweilige Verfasser eine Reihe argumentativer und linguistischer Ressourcen und damit eine Strategie, die offensichtlich eher eine Anpassung an die sozialistischen Normen (in der Hoffnung, damit den unbewussten Erwartungen des Lesers zu genügen) denn eine direkte Transkription der Wirklichkeit wiedergibt. Das Landesarchiv Berlin bewahrt Eingaben und Berichte über Eingaben zu schulischen Fragen für die Periode zwischen 1961 und 1981 auf. Obwohl die in den 1950er Jahren verfassten Schreiben nicht dokumentiert sind, erlaubt es uns dieser Bestand, gleichzeitig die Entwicklung der Themen zu untersuchen, die in den Eingaben angesprochen werden, und die Art, in der Anfragen formuliert werden. Vervollständigt wird er von Eingaben, die unmittelbar an die nationalen Instanzen gerichtet wurden und im Bundesarchiv aufbewahrt werden. Allerdings verfügen wir für 1960 bis 1970 meist lediglich über von Funktionären verfasste Stellungnahmen und nicht über die ursprünglichen Eingaben. Es ist daher nur schwer möglich, die Art zu rekonstruieren, wie die Menschen diese Eingaben verfasst haben. Dabei darf man aber nicht übersehen, dass zu Beginn der 1960er Jahre die Mehrzahl der Eingaben nicht schriftlich erfolgt. Das starke Übergewicht des Mündlichen – etwa 80 % der Eingaben zwischen 1961 und 1963 – ist daher in hohem Maße für die statistische Ungenauigkeit verantwortlich. Eine Verschriftlichung (und damit der Übergang von einer oralen Kultur hin zu einer Schriftkultur der Kommunikation mit der Verwaltung) findet erst ab den 1970er Jahren statt. In der Theorie ist die Bearbeitung der Eingaben eine Verwaltungsaufgabe. Auf der Ebene der Schulen im Bezirk Mitte wird diese aber ab den frühen 1960er Jahren immer häufiger von den Elternbeiräten wahrgenommen, und die Probleme werden in informeller Weise geregelt – nicht unbedingt zum Missfallen der Funktionäre: „Das Neue und Bemer-

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kenswerte ist, daß in zunehmendem Maße diese Eingaben nicht nur von der Schule allein, sondern im Zusammenwirken mit dem Elternbeirat behandelt wurden und zumeist auch durch eine mündliche Aussprache mit dem Beschwerdeführer selbst. Dadurch wurde eine unbürokratische Bearbeitung gefördert. Wir halten diese Methode für die richtige.“40 Die Behörden, die diese Eingaben bearbeiten (und indirekt der Historiker!), sehen sich regelmäßig mit Problemen konfrontiert, weil die Autoren der Eingaben es versäumen, Anhaltspunkte für ihre soziale Stellung zu liefern. Dieses Problem wird noch 1972 von Funktionären der Ostberliner Schulbehörden hervorgehoben: „Eine exakte Analyse der Kritiken und Hinweise nach sozialen Gesichtspunkten – bezogen auf die Eingaben, die an uns gerichtet wurden – bereitet Schwierigkeiten, da die Bürger ihre soziale Stellung nicht mitteilen. Eingeschätzt kann aber werden, daß die Einsprüche gegen die Ablehnung des weiterführenden Schulbesuches durchgängig von Angehörigen der Intelligenz, von Handwerkern und Angestellten erhoben werden.“41

Für die Jahre 1961–1963 konnten wir anhand sporadischer Daten die soziale Herkunft der Verfasser von schriftlichen und mündlichen Eingaben rekonstruieren.42 Tabelle 13:  Soziale Herkunft der Verfasser von Eingaben, 1961–1963 (in %)

Arbeiter

30

Angestellte

29

Intelligenz

22

Kollektivbetriebe Rentner/Hausfrauen

3 16

Quelle:  LAB, C REP 120/2 223, Eingaben an die Stadtbezirke und den Magistrat, ­1956–1963.

Arbeiter und Angestellte bilden die aktivsten Kategorien; von ihnen stammen zusammen 60 % der Eingaben. Die Kategorie „Arbeiter“ stellt uns dabei insofern vor Probleme, als wir nicht wissen, ob sie ausschließlich Produktionsarbeiter meint oder andere Gruppen mit einbezieht. Der Umstand, dass die Schulbehörden Ostberlins die Kategorien „Arbeiter“ und „Angestellte“ unterscheiden, lässt uns davon ausgehen, dass die Kategorie „Arbeiter“ keine Polizisten, Militärs oder SED-Funktionäre 40 LAB, C REP 120/2 223, Eingaben an die Stadtbezirke und den Magistrat, 1956–1963, pag. 29. 41 LAB, C REP 120/3191, op. cit., pag. 42. 42 LAB, C REP 120/2 223, op. cit.; LAB, C REP 120/3187, Eingabenanalyse, 1960–1964, unpag.

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enthält. Die Vertreter der Mittelklassen mit Hochschulabschluss stellen mehr als 20 % der Verfasser von Eingaben, gefolgt von den Rentnern und Hausfrauen. Unter Berücksichtigung von Unterschieden bei der Beherrschung sprachlicher Kompetenzen formulieren wir die Hypothese, dass Mündlichkeit stärker von Arbeitern praktiziert wird. Diese Hypothese wird gestützt von der Art der Anfragen, die von den einzelnen sozialen Kategorien gestellt werden. Seit der Mitte der 1950er Jahre hat das Ministerium für Volksbildung ein zehnklassiges Schulsystem eingerichtet, das eine Schulpflicht bis zum Alter von 16 ­Jahren durchsetzt. Allerdings zeigen die Berichte über die von Arbeitern gestellten Eingaben aus den Jahren 1960–1970, dass Eltern aus dieser sozioprofessionellen Kategorie für ihre Kinder Anträge auf vorzeitigen Abgang von der Schule stellen. Diese Anträge bilden einen großen, wenn auch schwer zu beziffernden Teil der Eingaben: Die vierteljährlichen Berichte betonen jedes Mal ihre Bedeutung. Die Bilanz für das letzte Vierteljahr des Jahres 1962 liefert uns einige Zahlenangaben: „Ein weiteres Problem ist darin zu suchen, daß immer noch bei vielen Eltern und Lehrern Unklarheiten über den Charakter der 10klassigen Oberschule bestehen. Es gibt in Friedrichshain 198 und in Lichtenberg 190 Anträge von Eltern, ihre Kinder bereits nach Abschluß der 8. Klasse aus der Schule zu entlassen.“43 Diese Sorte Eingaben bildet im vierten Vierteljahr 1962 45 % der Gesamtzahl der Anfragen und Beschwerden, die bei den Schulbehörden des Bezirks Lichtenberg eingereicht werden. Im zweiten Halbjahr 1963 sind es immer noch 30 %.44 Im Bezirk Prenzlauer Berg machen sie mehr als zwei Drittel (71 %) der Eingaben aus, die im Verlauf des zweiten Vierteljahres 1963 getätigt werden.45 Meist kommen sie von Arbeiterfamilien, die offensichtlich den Übergang zur Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr noch nicht völlig internalisiert oder akzeptiert haben. Das Projizieren der Hoffnung auf sozialen Aufstieg auf die Kinder ist bei zahlreichen Arbeitereltern noch keine Norm der familiären Erziehung. Wichtiger ist für diese, dass das Kind einen Beruf hat und Geld nach Hause bringt. Die Eingaben zeigen also, dass die schwache Präsenz von Arbeiterkindern in den höheren Schulen nicht nur auf ein Dominanzverhältnis und den Habitus dieser bescheideneren Familien zurückgeht, denen die entsprechenden kulturellen und sprachlichen Werkzeuge nicht zur Verfügung stünden. Tatsächlich ist diese Unterrepräsentation mitunter die Folge einer durchaus rationalen Entscheidung, die von den Schülereltern getroffen wird: Der vorzeitige Abgang von der polytechnischen Schule und der Eintritt in eine Lehre stellen eine rasche Einführung in die Berufstätigkeit ­sicher, während die allgemeinen Studiengänge sich erst langfristig auszahlen. Hinzu 43 LAB, C REP 120/2223, op. cit., pag. 93. 44 Ebd. 45 Ebd., pag. 108.

Die Stabilisierung des polytechnischen Erziehungssystems

205

kommt, dass das Prestige, das den einzelnen Berufen zugeschrieben wird, und das Entlohnungssystem dazu führen, dass der Status des Facharbeiters gute Chancen hat höher zu sein als der des Lehrers.46 Der sozioökonomische Kontext der Versorgungskrise und des Mangels, der in den 1960er Jahren noch aktuell ist, erklärt, wieso einer raschen Verbesserung der ökonomischen und finanziellen Grundlage der Kernfamilie gegenüber einer Verlängerung des Schulbesuchs der Vorzug gegeben wird. Wir dürfen niemals übersehen, dass die DDR bis 1989 eine Mangelwirtschaft ist und dass in diesem Kontext das Einkommen nicht den wichtigsten Wert darstellt. Anders als andere Berufe, die einen längeren Schulbesuch erfordern, verfügen Arbeiter über Ressourcen und Kenntnisse, die sie beim Tausch von Gütern und Diensten einsetzen können. Ein langer Schulbesuch hat daher für viele Eltern aus der Arbeiterklasse keine Priorität: „Ursache dafür ist, daß einige Eltern immer noch nicht die Perspektive unserer DDR und der Entwicklung unserer nationalen Wirtschaft erkennen. Sie möchten ihre Kinder ohne den Abschluß der mittleren Reifeprüfung aus der Schule nehmen, damit sie schneller selbst Geld verdienen, und glauben, auch für die Zukunft ohne den Abschluß der 10. Klasse auszukommen.“47

Viele Eltern denken, dass ihre Kinder auf das Leben vorbereitet sind, ohne dass sie bis zum 16. Lebensjahr in die Schule gehen. Sie sind sich darüber im Klaren, dass nur eine Minderheit  – eine politische und intellektuelle Elite der Schüler  – auf die Oberschule kommen wird. Lieber lassen sie ihre Kinder früher in den Arbeitsmarkt eintreten, denn die materielle und finanzielle Lage vieler Eltern ist oft noch ­schwierig. Diese Haltung, die wir hier ins Licht rücken, bestätigt in gewissem Maße die Analysen des Soziologen Raymond Boudon, der in den 1970er Jahren eine Gegenposition zu den Thesen Pierre Bourdieus über Dominanzverhältnisse eingenommen hat, um das Scheitern der Demokratisierung der Schule in Frankreich zu erklären. Ihm zufolge resultiert die Entscheidung der Eltern über das Studium ihrer Kinder aus den Vorstellungen, die sie sich über die Investition, die Kosten und die Vorteile einer langen Ausbildung machen.48 Die Vertreter der Mittelklassen mit Hochschulabschluss und die Angestellten liefern im Schnitt die Hälfte der Eingaben; ihre Anträge zielen im Gegensatz dazu auf eine Verlängerung des Schulbesuchs ihrer Kinder, der bis zum Abitur reichen soll, damit sie danach auf die Universität gehen können. Das Hauptziel besteht in den Familien von Ingenieuren und Medizinern in der sozialen Reproduktion. Für 46 47 48

Die Frage der Löhne ist äußerst komplex und über die Archive kaum zu erschließen. Siehe zu den Arbeitern S. Kott, op, cit., S. 161–164. LAB, C REP 120/2 223, op. cit., pag. 108. R. Boudon, L’inégalité des chances, Paris 1973.

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das letzte Vierteljahr 1961 beobachtet der für Eingaben zuständige Funktionär des Schulamts im Bezirk Prenzlauer Berg eine so ausgerichtete Nachfrage bei denen, die er verachtungsvoll „Kleinbürger“ nennt: „Diese Aufgliederung lässt die Schlußfolgerung zu, daß die kleinbürgerlichen Schichten – nachdem sie vor der Notwendigkeit des obligatorischen 10jährigen Besuchs der Schule für ihre Kinder stehen – dann in erhöhtem Maße Anträge auf Besuch der EOS gestellt haben. Der Anteil der Arbeiter an den Anträgen ist niedriger als es der sozialen Struktur entsprechend zu erwarten war.“49

Im Schnitt werden zwischen 1961 und 1963 im IV. Quartal jeweils 250 Anträge auf Aufnahme in die Oberschule bei den Bezirksschulräten gestellt.50 Es ist in den 1970er und 1980er Jahren kein Nachlassen dieser Art von Eingaben zu beobachten. Im 1. Vierteljahr 1971 betonen die Schulbehörden Ostberlins nochmals die in ihren Augen zu große Zahl solcher Anträge: „Immer noch zu hoch ist die Zahl der Einsprüche beim Bezirksschulrat bei Nichtdelegierung in Vorbereitungsklassen und in die EOS-Stufe. Dieser Prozeß der Führung des Delegierungs- und Aufnahmeverfahrens wird noch ungenügend politisch-ideologisch fundiert von vielen Direktoren und manchen Stadtbezirksschulräten geleitet.“51

In der ersten Hälfte der 1970er Jahre wird die entsprechende Statistik nach Halbjahren berechnet und zeigt eine prozentuale Zunahme dieser Art von Eingaben. Immer handelt es sich um die wichtigste Kategorie von Anträgen:52 Diese Gruppe von Eingaben, die als Rechtsmittel eingesetzt wird, um einer Entscheidung hinsichtlich des Zugangs zur Oberschule oder zur Universität zu widersprechen, ermöglicht es, sehr genau die Internalisierung von Normen bei dieser Kategorie der Schülereltern mit Hochschulabschluss zu untersuchen. Tatsächlich ist die Abfassung dieser Eingaben von einem strategischen Kalkül bestimmt. Es ist unabdingbar, die bürokratischen Formen und Diskurse so gut wie möglich zu beherrschen, das heißt, rhetorische Strategien wirksam werden zu lassen.53 Seit den 1950er Jahren hat sich der Verwaltungswortschatz weit über seine „natürlichen Grenzen“ hinweg ausgebreitet und in ungleichem Maße alle gesellschaftlichen Gruppen erfasst. Die Verpflichtung, von sich zu erzählen, um die Position des Bittstellers zu rechtfertigen, bildet eine schwierige Stilübung, in deren Verlauf der Autor 49 50 51 52 53

LAB, C REP 120/2223, op. cit., pag. 48. Ebd., pag. 213. LAB, C REP 120/3 191, Eingabenanalysen, 1970–1975, pag. 35. Ebd., pag. 41–195. Siehe zu diesem Thema D. Fassin, „La supplique. Stratégies rhétoriques et constructions identitaires dans les demandes d’aides d’urgence“, in: Les Annales, 55, n° 5, September-Oktober 2000, S. 955–981; J.-C. Depaule/C. Topalov, „la ville à travers ses mots“, in: Enquête, n° 4, 1996, S. 247–266.

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Grafik 7: Prozentsatz der Eingaben im Zusammenhang mit einer Verweigerung des Eintritts in die Oberschule (1971-75) 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

43 34

31,6 23,5

22,5 15,5

1. Semester 1971

1. Semester 1972

2. Semester 1972

1. Semester 1974

1. Semester 1975

2. Semester 1975

Quelle:  LAB, C REP 120/3191, Eingabenanalysen, 1970–1975, pag. 41–195.

sich eine an den Bedarf seiner Eingabe angepasste Identität schafft.54 Der Antragsteller versucht, sich in das moralische Universum der Funktionäre hineinzuprojizieren. Es handelt sich um ein Spiel der Spiegelungen, in dem der Antragsteller das schreibt, von dem er denkt, dass es die größten Chancen hat, zu „funktionieren“, und zwar sowohl hinsichtlich des argumentativen Gehalts wie auch hinsichtlich der Ausdrucksmittel (Lexik, Syntax) selbst. Die in den Eingaben hergestellte Identität steht in enger Wechselwirkung zur rhetorischen Arbeit. Für die Antragsteller geht es darum, ihre Eingabe so überzeugend wie möglich und damit so effektiv wie möglich zu machen, um eine Änderung der Entscheidung zu erreichen. Aus diesem Grunde würde man das Material notwendigerweise überinterpretieren und seine Signifikanz missverstehen, wenn man aus diesen kurzen Narrationen die treue Wiedergabe einer sozialen Situation machen wollte. Zur Verdeutlichung der rhetorischen Taktiken, die die Abfassung der Eingaben beherrschen, stehen uns in erster Linie Eingaben aus den frühen 1980er Jahren zur Verfügung. Einige Zeilen, die diesen Eingaben entnommen und in Berichten aus den frühen 1970er Jahren wiedergegeben sind, zeigen in erster Linie eine Argumentation, die auf dem Primat der intellektuellen Fähigkeiten und einer Ablehnung der Diskriminierung von Kindern der Hochschulabsolventen aufbaut: 54 Ausführlichere Überlegungen über das Genre Autobiographie in den kommunistischen Parteien bieten C. Pennetier/B. Pudal, „Ecrire son autobiographie (Les autobiographies communistes d’institution, 1931–1939)“, in: Genèses, n° 23, 1996, S. 53–75.

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„Sollen unsere Kinder nun die Leidtragenden sein?“; „Die Förderung der Arbeiter-und-Bauern-Kinder ist notwendig und richtig. Aber wenn es darum geht, Schüler zur EOS zu delegieren, dann sollten allein das bisher gezeigte Verhalten und die Leistung entscheiden“; „Werden Angehörige der Intelligenz und der anderen Schichten nicht benachteiligt, wenn Studienplätze vorrangig an Arbeiterkinder vergeben werden?“55

Die Analyse der Eingaben aus den Jahren 1980/1981 zeigt, dass die Eltern Techniken der Heraushebung des Besonderen und der Generalisierung nebeneinander verwenden, um ihre Forderung zu legitimieren. Eine Reihe von topoi kehrt regelmäßig wieder: die Betonung der Loyalität der Eltern gegenüber dem Staat, verstärkt durch die Beschwörung der erhaltenen offiziellen Belobigungen, die Erwähnung einer freiwilligen Meldung des Jugendlichen zur Armee … Der Autor stellt das am stärksten aufwertende und am besten der Situation angepasste identitäre Etikett in den Vordergrund, wobei häufig das eigene soziale und politische Engagement beziehungsweise das des Kindes ausgebreitet wird. Das erste Beispiel betrifft einen Jugendlichen, dem der Eintritt in die Oberschule verweigert worden ist, weil seine Noten zu durchschnittlich sind und sein soziales und politisches Engagement zu unauffällig. In dieser Familie ist der Vater W.B. Ingenieur, seine Frau Krankenschwester. Er adressiert seine Eingabe unmittelbar an den ersten Sekretär der SED für den Bezirk Berlin, wobei er nicht seine berufliche Identität, sondern die als freiwilliger Funktionär der Partei in die Waagschale wirft: „Sehr geehrter Genosse Naumann! Ich wende mich an Sie in meiner Eigenschaft als Funktionär, der seit 15 Jahren permanent hohe und effektive gesellschaftliche Arbeit neben hohen beruflichen Verpflichtungen in unserer sozialistischen Ingenieurorganisation, der Kammer der Technik, leistet. […] Die damit verbundenen Mühen, für die oft die Familie hinten anstehen mußte, wurden auch durch Auszeichnungen gewürdigt, so Ernst-Zinna-Preis 1. Klasse der Hauptstadt der DDR, Goldene Ehrennadel der Kammer der Technik, Mehrfacher Aktivist. Unser Sohn Alexander wird auf der Basis einer absoluten Fehleinschätzung und degressiven Haltung des Klassenleiters die Weiterführung seines Bildungsweges bis zum Abitur und späterem Studium durch die Einstellung der Klassenleiterin der Klasse 10 a mit Billigung des Direktors der EOS Klement-Gottwald in Berlin-Treptow versagt. Da mein Sohn die 9. Kl. (als Vorbereitungsklasse und neues Kollektiv) mit überwiegend genügenden Leistungen abschloß, wurde uns im September 1979 ein Ablehnungsbescheid für die Abiturstufe abgestellt […] Wir bitten Sie auch zu berücksichtigen, daß mit derartigen Entscheidungen die eigene Leistungsfähigkeit der Eltern stark beeinflußt wird – insbesondere das volle Engagement für Aufgaben, die unserer gesamten Gesellschaft zugute kommen.“56

55 56

LAB, C REP 120/3191, op. cit., pag. 63. LAB, C REP 902/6184, SED-Bezirksleitung, Eingaben an die Abteilung Volksbildung und Wissenschaften, 1980–1981, unpag.

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Der gewählte Tonfall ist häufig übertrieben und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Verdienste des Autors: das Engagement bei der Arbeit und für den Staat auf Kosten des Familienlebens, das Inventar der erhaltenen Auszeichnungen. Interessant weil er zeigt, dass die Bürger nicht bloß passive Wesen sind, die einem allmächtigen Unrechtsstaat unterworfen sind, ist der Umstand, dass W. B. sich am Ende des Briefes sogar eine „Erpressung“ erlaubt. Diese Haltung bildet den krönenden Abschluss eines Schreibens, dessen Stil die Empfindung eines Individuums widerspiegelt, das den Eindruck erweckt, es wolle nur sein gutes Recht und die Kommissionsentscheidung könne nur ein Irrtum sein. Diese Eingabe ist teilweise erfolgreich, denn der Sohn von W.B. kommt schließlich in eine Sekundarschule, die ihm eine Berufsausbildung mit Abitur ermöglicht. Die Erwähnung persönlicher Verdienste, das heißt von Auszeichnungen, die man im Verlauf der Karriere erhalten hat, und der Tiefe des politischen Engagements bilden unverzichtbare topoi in dieser Sorte von Eingaben. Spuren davon finden wir in einer oben bereits zitierten Eingabe. „Ich möchte erwähnen, daß ich Träger des „Vaterländischen Verdienstordens“ in Bronze, des „Ordens Banner der Arbeit“ und anderer staatlicher Auszeichnungen und seit über 35 Jahren Mitglied der SED (vorher KPD) bin.“57 „In meiner Eigenschaft als langjähriges Mitglied unserer Partei und nunmehr im 10. Schuljahr gewählter Elternvertreter an der Heinrich-Dornenbach-Oberschule in Berlin-Mitte …“58

Mitunter spielt ein Autor mit Emotionen, indem er bewusst das antifaschistische Register zieht; so etwa im Falle von H., der fordert, dass sein Sohn Medizin studieren kann: „Als Mitglied der Arbeiterklasse und seit 1932 in der KPD organisiert, ist mir als Vater die Entscheidung der Zulassungskommission unverständlich. Wegen Hochverrats und anderer kommunistischer Umtriebe im Februar 1935 in Schutzhaft im Columbia BerlinTempelhof, war ich im Kampf gegen die Partei stets ein treuer Genosse. Bereits mein Vater kämpfte in der Revolution 1919 in Berlin und war Mitglied der KPD und später auch im RFB. Aus diesen Tatsachen lässt sich die proletarische Tradition meiner Familie erkennen.“59

H. führt darüber hinaus das Argument der Treue an, indem er die „proletarische Tradition“ seiner Familie betont. Er definiert sich selbst als Angehörigen der „Arbeiterklasse“. Seine Herkunft und seine Erfahrung – all dies wird angedeutet, wobei die Erwähnung der Treue zur kommunistischen Partei während des Gefängnisaufenthaltes auf das Unausgesprochene der erlittenen Folter und des Leidens anspielt – 57 LAB, C REP 902/6185, op. cit., unpag. 58 LAB, C REP 902/6186, op. cit., unpag. 59 Ebd.

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dienen als Rechtfertigung für die Bewerbung seines Sohnes, die schließlich angenommen wird. Mitunter stammen die Eingaben von Familien von Angestellten oder Arbeitern. In diesem Fall wird eine auf die soziale Stellung bezogene Argumentation verwendet oder auf die Gleichheit der Geschlechter Bezug genommen, um eine Revision der Bewerbung um die Aufnahme in die Oberschule zu erwirken; meist erfolgt die Ablehnung wegen unzureichender schulischer Leistungen. K. R. ist eine Schülerin der 10. Klasse, deren Vater Arbeiter ist. Um den Adressaten dazu zu bringen, ihren Fall erneut zu begutachten, führt der Vater an, dass der Sohn eines Arztes seiner Tochter vorgezogen wurde: „Hinsichtlich eines einzigen EOS-Platzes für unsere Schule wurde zugunsten eines leistungsgleichen männlichen Bewerbers aus einer Arztfamilie entschieden.“60 Die Bitte K.R.s wird schließlich abgelehnt, weil sie sich nicht in gleichem Maße engagiert wie der Schüler, zu dem sie in Konkurrenz steht. Dieses Beispiel zeigt, dass die Kriterien soziale Herkunft und Chancengleichheit zwischen Mädchen und Jungen zu Beginn der 1980er Jahre entgegen der offiziellen Propaganda nicht unbedingt entscheidend sind. Was zählt ist das soziale und politische Engagement. Dieses ist bei K.R. aber unzureichend, denn sie ist lediglich Mitglied der FDJ und eines Tanzzirkels. Manche Eltern prangern in indirekter Form fehlende Möglichkeiten sozialen Aufstiegs für ihre Kinder an. H. ist eine ausgezeichnete Schülerin und sportlich sehr aktiv. Ihr Vater hat es bis zum Ingenieur gebracht, obwohl er als einfacher Weber angefangen hat. Er erinnert an sein Engagement in der FDJ und in der Schule (Mitglied des Elternbeirats): „Eine solche Entscheidung läßt bei den Betroffenen das Gefühl entstehen, daß Jahrzehnte lange Bemühungen in der Entwicklung zu sozialistischen Persönlichkeiten ­(Eltern und Kinder) eher nachteilige Auswirkungen zeigen.“61

Der Tonfall der Eingabe ist an dieser Stelle energisch und bringt ein Gefühl von Ärger und Frustration zum Ausdruck, da der soziale Aufzug nicht mehr zu funktionieren scheint. Der Fall M. K. ist insofern von besonderem Interesse, als er zeigt, dass eine Eingabe mitunter ein wahrhaft kollektives Werk ist, mit dem proletarische Herkunft nachgewiesen werden muss. Nachdem sie im Jahre 1980 ihr Abi bekommen hat, möchte M. ein Medizinstudium in Jena beginnen, was ihr zunächst aus Gründen der Studienplatzkontingentierung verweigert wird. Es folgt ein weiterer Misserfolg 1981 in Ostberlin. Diese Ablehnungen werden offiziell mit ihrer sozialen Herkunft 60 Ebd. 61 Ebd.

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begründet: Ihre Eltern sind beide Mediziner (ihr Vater arbeitet in der Intensivkardiologie des städtischen Krankenhauses in Friedrichshain). Die Eingabe ist tatsächlich ein kleines Dossier, das aus einem Anschreiben besteht, in dem der Vater sehr genau die proletarische Herkunft seiner Familie und der Familie seiner Frau nachzeichnet: M. K.s Großeltern väterlicherseits waren ein Fernfahrer und eine Heim­ arbeiterin, die Großeltern mütterlicherseits Bauarbeiter und Krankenschwester. Die Eingabe wird vervollständigt durch ein Empfehlungsschreiben des Vorgesetzten des Vaters von M. K. Letztens Endes wird der Bitte M. K.s entsprochen.62 Das Beispiel zeigt auch, wie die soziale Mobilität für die HJ-Generation funktioniert hat, aber für diejenigen, die nach 1960 geboren sind, weitaus komplizierter zu bewerkstelligen ist.63 Das „kämpferische Engagement“ konstituiert häufig ein entscheidendes Auswahlkriterium. Da aber die meisten Jugendlichen inzwischen Mitglieder der Jugendorganisationen geworden sind, ist die Intensität des Engagements mitunter schwer einzuschätzen. Die massive Einbindung der Kinder und Heranwachsenden durch die Pioniere und die FDJ in den Schulen stellt tatsächlich eines der charakteristischsten Elemente des polytechnischen Bildungssystems der Jahre 1960–1980 dar.

Die formelle Stabilisierung der Jugendorganisationen im schulischen Feld Die Internalisierung der Zugehörigkeit Ab den späten 1950er Jahren wird die Zugehörigkeit zu den Jugendorganisationen immer mehr zu einer Selbstverständlichkeit, zu etwas „normalem“ im Lebensweg des Individuums. Dieses Phänomen ist neu in Ostberlin, und es trägt zweifellos dazu bei, den Eindruck von Stabilität zu verstärken, den das kommunistische Regime nach 1961 vermittelt. Nach einer langen Phase der Stagnation zwischen 1949 und 1958 überschreitet der Anteil der Mitgliedschaften rasch die 50 %-Grenze und belegt, dass die Zugehörigkeit zu den Jugendorganisationen sich generalisiert. Ab den 1970er Jahren bewegt sich der Organisierungsgrad der Schüler der Primar- und Sekundarschulen in den Jugendorganisationen (sowohl der FDJ wie den Pionieren) in der gesamten DDR um etwa 90 %. Die Quellen sprechen von „Engagement“, wo eigentlich vor allem ein Akzeptieren der vom sozialistischen Regime durchgesetzten Spielregeln zu sehen ist, die sich zum eigenen Nutzen anwenden lassen: Der Eintritt in die Jugendorganisationen garantiert eine Schulzeit ohne gelegentliche Erniedri62 63

LAB, C REP 902/6185, op. cit., unpag. H. Solga, op. cit.

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Grafik 8: Entwicklung der Einbindung der Schüler in die Pionierorganisation in Ostberlin und der DDR 1958-1985 (in %) 120 100 80

74

87,9 74,9

60 40

75

91,4 79,7

89,9 82,4

98

95 89,4

95

99

98,8

98,8

98,3

66,2 50,7

20 0

Berlin Ost

DDR

Quellen:  SAPMO, DY 25/ 2 629, Halbjahres- und Jahresstatistik der Pionierorganisation, J­ uni 1961– Juni 1965; SAPMO, DY 25/ 2 505, Statistische Halbjahres- und Jahresberichte der Pionierorganisation Ernst Thälmann, 1972–1978; DY 25/2 491, Statistische Berichterstattung mit politischer Einschätzung, September 1978–Juni 1981.

Grafik 9: Mitglieder der FDJ in den 8. Klassen in Ostberlin 1961-77 (in %)

100 80 60

45,4

45,9

49,7

63,1

70,3

82,7

85,8

56,9

40 20 0

Quellen:  SAPMO, DY 30/ IV 2/ 16/ 14 314, Statistiken der FDJ, 1972–1974; E. Schulze, DDR-Jugend. Ein statistisches Handbuch, Berlin 1995.

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gungen und Pressionen, und er wird implizit verlangt für den Übergang in die Oberschule. Nur einige religiöse Eltern verweigern die Eingliederung ihrer Kinder in die Pioniere. Es handelt sich hier um eine verschwindend kleine Minderheit, das heißt um maximal zwei je Klasse. Diese Minderheitenposition wird im Allgemeinen nicht in eine politische Stigmatisierung übersetzt, wie wir sie für die Kinder überzeugter Sozialisten zeigen konnten, die in den 1950er Jahren Mitglieder der Jugendorganisationen waren. Mitunter dürfen sie an den Pioniernachmittagen teilnehmen und werden normalerweise von ihren Kameraden in die Klasse integriert. Die Beziehungen zur Schulleitung oder einzelnen Lehrern können allerdings gespannt sein. Diese zentrale Veränderung des schulischen Alltags, die in den schriftlichen Quellen (abgesehen von den Statistiken) kaum wahrzunehmen ist, lässt sich durch die serielle Analyse einer Reihe von Klassenfotos beleuchten, die in Ostberliner Schulen zwischen 1950 und 1980 gemacht wurden.64 Sie sind das Werk lokaler professioneller Fotografen, die von dem Schulamt beauftragt wurden. Werner ­Bideljé ist beispielsweise von 1950 bis 1960 Urheber der Klassenfotos für die Max Kreuziger-Grundschule in Friedrichshain. Diese halboffiziellen Fotografien, die für die Familien bestimmt sind, entsprechen einem sehr konventionellen Bildgenre, das seit dem späten 19. Jahrhundert üblich ist und dem Fotografen wie den Fotografierten wenig Raum für Freiheiten (und Zufälle) lässt. Die Pose ist praktisch immer die gleiche. Gleichwohl bieten sie die Möglichkeit, die Körperhaltung der Schüler zu studieren (sie trägt das Gewicht der Disziplinierung und der erwachsenen Autorität) sowie vor allem das Tragen des Halstuchs (und des weißen Hemds) der Pioniere. Dank dieser Fotografien können wir eine entscheidende Steigerung beim Tragen des Halstuchs ab dem Ende der 1950er und dem Beginn der 1960er Jahre zeigen. Die erste Fotografie  – ohne Bildunterschrift  – zeigt Erstklässler an der Max ­Kreuziger-Grundschule in Friedrichshain 1957. Die 31 Kinder (16 Mädchen, 15 Jungen) sind in vier Reihen angeordnet, von denen die erste auf einer Bank sitzt. Die meisten Kinder schauen nicht zum Fotografen und lächeln kaum. Wenn wir diese Aufnahmen mit dem gleichen Typus von heute vergleichen, dann fällt uns auf, dass die zu jener Zeit geborenen Kinder noch nicht gewöhnt sind, mit diesem Medium zu „spielen“. Sie sind noch wenig expressiv, was die Seltenheit des Lächelns und die Steifheit vieler Körper erklärt. Das wichtigste Element ist hingegen die geringe Zahl an Kindern, die das blaue Halstuch der Pioniere tragen (ein bis zwei Schüler je Reihe). Wir zählen sechs Schüler mit dem blauen Pionierhalstuch, die sich auf die ersten drei Reihen von unten verteilen. Allerdings hat der Fotograf in die Mitte der ersten Reihe eine junge Schülerin mit Halstuch platziert. Zudem ist es interessant zu bemerken, dass sich die Lehrerin in der Mitte der Aufnahme, umringt von den 64

Die Analyse beruht auf einem Corpus von 250 Aufnahmen, die in Heimatmuseen, den Ostberliner Schulen und bei Privatleuten aufgefunden wurden.

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Abb. 7 1. Klasse der Max-Kreuziger-Grundschule im Stadtbezirk Friedrichshain, 1957

Schülern der zweiten Reihe befindet und dass ihr Lächeln die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Das zweite Foto datiert von 1963 und setzt wieder eine erste Klasse der gleichen Schule in Szene. Diese besteht aus 33 Schülern (20 Jungen und 13 Mädchen), die in vier Reihen den Raum einnehmen. Lediglich ein Drittel trägt kein Halstuch,

Abb. 8 1. Klasse der Max-Kreuziger-Grundschule im Stadtbezirk Friedrichshain, 1963

Die Stabilisierung des polytechnischen Erziehungssystems

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Abb. 9 1. Klasse der 9. Schule im Stadtbezirk Mitte, 1967

und fast die Hälfte der Mehrheit (die ersten und die letzte Reihen vollständig) trägt nicht nur dieses, sondern zudem noch das weiße Hemd der Organisation. Diese Inszenierung zielt darauf ab, Wertschätzung für die jungen Mitglieder der Jungen Pioniere zu zeigen, die mit Stolz die Kleidung ihrer Organisation tragen. Diesmal hält sich die Lehrerin (die weitaus jünger ist als die erste) abseits am rechten Rand des Fotos. Sie ist in keiner Weise, wie in der ersten Aufnahme, Objekt des Interesses des Fotografen. Die Vergrößerung des Platzes, den die Jugendorganisationen in der visuellen Landschaft der Schule einnehmen, ist begleitet von einer Art Botschaft an die Eltern, deren Kinder sich noch nicht in die Ränge der Organisation eingereiht haben. Der Umstand, dass die erste Reihe ausschließlich von „Weißhemden“ eingenommen wird, könnte als eine implizite Aufforderung an noch zögerliche Eltern verstanden werden. Die dritte Aufnahme zeigt Erstklässler der 9. Schule in Mitte im Jahre 1967. Diese Inszenierung, die von einem anderen Fotografen stammt, steht in ästhetischer Hinsicht dem vorherigen Foto sehr nahe. Die dreißig Schüler (18 Jungen und 12 Mädchen) sind in drei Reihen angeordnet, während der Lehrer, der (mit Ende dreißig) noch relativ jung ist und einen Anzug trägt, am rechten Rand steht. Nur fünf oder sechs Schüler tragen das Halstuch nicht. Auch hier wird die erste Reihe von einer großen Mehrheit mit Halstuch und weißem Hemd dominiert. Außerdem ist es von Interesse, dass im Jahre 1967 ein kleiner Junge noch eine Lederhose trägt, die Kleidung des Deutschtums par excellence!

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Die stabilisierte sozialistische Schule ­(1959–1989)

Die quantitative Entwicklung, die in den Klassenfotos zum Ausdruck kommt, impliziert notwendigerweise eine veränderte Signifikanz des Tragens des Halstuches, zu dem immer häufiger auch das weiße Hemd der Pioniere tritt. Was in den 1950er Jahren das Zeichen eines Bekenntnisses zum Regime seitens einer Minderheit der Schüler war, der Ausdruck einer starken Identifizierung mit den politischen Zielen der Organisation, wird nach 1960 zum Zeugnis der Anpassung der Mehrheit der Kinder (und vor allem der Eltern) an eine Einbindung, die vom Regime gefordert wird, zum Ausdruck eines politischen Konformismus. Aber dieser Konformismus nimmt immer mehr ab je weiter die schulische Karriere des Kindes ­voranschreitet. Der wachsende Formalismus, der hinsichtlich der Jugendorganisationen und insbesondere der FDJ gezeigt wird, zieht sich durch zahlreiche Berichte von SEDFunktionären bei deren Schulinspektionen: „Unter Führung des Pionierleiters hat sich in den unteren Klassen ein reges Gruppenleben entwickelt. Aber dann kommt der Bruch. Die Werbung für die FDJ hängt von der Wirksamkeit der Klassenleiter ab. Der Pionierleiter fühlte sich bisher nicht in dem Maße verantwortlich. Die Schüler sehen es als formalen Akt an, haben keine politischideologische Auseinandersetzung dabei geführt.“65

Dieser Formalismus misst sich auch am Nichttragen der offiziellen Kleidung, das wir in den städtischen Quellen nachweisen können. Am Tag des Schulbeginns nach den Ferien wird traditionell ein Appell abgehalten. Dieser findet in der Regel auf dem Pausenhof oder bei schlechtem Wetter im Festsaal der Schule statt. Der Appell ist letztlich das erste wichtige Ereignis im neuen Schuljahr. Es handelt sich hier um eine Zeremonie, die aus einer Willkommensansprache des Schulleiters, Gesängen und Gedichtvorträgen, dem Überreichen von Auszeichnungen an die verdientesten Schüler usw. besteht. Die Jugendorganisationen sind in diese Zeremonie integriert und markieren so vom Beginn des Schuljahres an ihren Zugriff auf den schulischen Alltag der Schüler. Im Allgemeinen stellt die Disziplin kein Problem dar. Aber ab den späten 1960er Jahren wird die Kluft zwischen dem Verhalten der Kinder und dem der Jugendlichen immer deutlicher. Den Inspektionsberichten über die Appelle zum Schulbeginn zufolge tragen die Kinder anscheinend bis zum Alter von 11–12 Jahren die Kluft der Pioniere, das heißt das weiße Hemd und das blaue Halstuch.66 Die Jugendlichen zeigen jedoch in ihrer großen Mehrheit die Tendenz, von der offiziellen Kleidung Abstand zu nehmen. Ein Funktionär der Schulbehörde in Friedrichshain stellt dies am 1. September 1967 in der Edgar André-Schule in Fried65

LAB, C REP 902/1 990, Informationen über die staatsbürgerliche Erziehung der Kinder an den Schulen, 1965–1967, unpag. 66 Ab Dezember 1973 tragen die Jungen Pioniere (6–9 Jahre) ein blaues Halstuch, während die Thälmann-Pioniere (10–13 Jahre) ein rotes Halstuch bekommen.

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richshain fest: „Der Appell der 5.–10. Klasse fand um 8 Uhr in der Aula statt. Disziplin gut. Kleidung: viele Pionierkleidung, FDJ-Kleidung schwächer.“67 Andere Inspektionen des Schulbeginns bestätigen diese Feststellung. So lautet der Bericht über den Appell in der 3. Schule in Friedrichshain wie folgt: „Bis zu den 7. Klassen trugen alle Schüler Pionierkleidung. Ab 8. Klasse allerdings trug nicht ein einziger Schüler die FDJ-Kleidung. In den 10. Klassen ließ die Disziplin zu wünschen übrig. Die Schüler unterhielten sich zum Teil während der Ansprache des Direktors und des Vertreters der FDJ-Bezirksleitung.“68 Im Bezirk Mitte tragen in der 13. Schule etwa 20 % der Schüler die Jugendkluft, im wesentlichen die der Jungen Pioniere.69 Die gleiche Feststellung wird für die Ernst Wildangel-Schule70 oder die Heinrich Heine-Schule getroffen.71 Insgesamt zeichnen sich alle Zeremonien durch eine gute Disziplin aus, was ein Hinweis darauf ist, dass es den Schülern nicht darum geht, Skandal zu machen und die Autorität herauszufordern oder irgend eine Art Opposition zum Regime zu dokumentieren. Eine gewisse Anzahl an Jugendlichen distanziert sich von der Einrichtung Schule (die theoretisch das Tragen des blauen Hemds der FDJ fordert) ebenso wie von den Eltern (die dies sicherlich im Sinne des Konformismus von i­hnen verlangen). Über diese rein symbolische Dimension hinaus interessieren sich die Jugendlichen weit weniger für die Aktivitäten der FDJ denn für die, die sie im Rahmen ihrer informellen Freundeskreise auf der Ebene der Schule oder des Viertels entwickeln. Dieser in den Berichten hervorgehobene Eindruck72 wird über die ganzen 1970er und 1980er Jahre von Meinungsumfragen bestätigt. Diese zeigen, dass sich die Partei nicht von dem, was geschieht, in die Irre führen lässt, und präzise Informationen über die Jugend zu erheben versucht. Die Tabelle fasst die Haltung der jungen Ostdeutschen gegenüber einer Organisation zusammen, die als unumgängliche Etappe in der schulischen Karriere gilt. Auf die Frage „Ist die FDJ interessant?“ antworten die Schüler, die 1969 und 1978 an einer entsprechenden Umfrage teilgenommen haben, wie folgt:73

67 68 69 70 71 72 73

LAB, C REP 120/191, op. cit., pag. 106. Ebd., pag. 125. Ebd., pag. 128. Ebd., pag. 134. Ebd., pag. 156. BA, DR 2/A 3039, FDJ- und Pionierarbeit, 1967–1971, unpag. LAB, C REP 902/2 958, SED-Bezirksleitung Berlin, Kommission Jugend und Sport, Auswertung der Umfrage 69 des If J, 1970, unpag.; SAPMO, ZK der SED, Abt. Volksbildung, DY 30/IV B 2/9.05/40, Entwicklungstendenzen Bewusstsein der Jugend, 1978, unpag.

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Die stabilisierte sozialistische Schule ­(1959–1989)

Tabelle 14:  Auswertung der Umfrage „Ist die FDJ interessant?“

1969

1978

7,9 %

5,8 %

im Allgemeinen

32,1 %

38,1 %

kaum

32,6 %

31,4 %

gar nicht

21,7 %

24,7 %

5,7 %

0 %

sehr

keine Meinung

Eine Umfrage von 1988 bestätigt die Indifferenz der Jugendlichen gegenüber der FDJ lediglich noch. Diesmal werden nicht nur Schüler befragt, sondern auch junge Lehrlinge und Arbeiter. Auf die Frage „Interessieren Sie sich mehr für Ihren Freundeskreis als für Ihre FDJ-Gruppe?“ ist die Antwort eindeutig: Nur 1,3 % der befragten Personen sprechen sich für die FDJ aus.74 Allgemein gesprochen wird die quantitative Ausdehnung der Jugendorganisationen in keinster Weise von einer nennenswerten „Ideologisierung“ ihrer Mitglieder begleitet. Die Verstärkung der Kontrolle über die jungen Ostdeutschen resultiert nicht in einer besseren ideologischen Einbindung. Die Akzeptanz der Jugendorganisationen übersetzt sich nicht in eine Vergrößerung des „guten Kerns der Schüler“ und ruft sogar eine elitäre Reaktion seitens überzeugter sozialistischer Familien hervor. Die Bedeutungszunahme der Jugendorganisationen in Verbindung mit einem sichtbaren Mangel an Engagement seitens der Mehrzahl der Mitglieder gefällt den in besonderem Maße engagierten Schülern und Eltern nicht; diese plädieren mitunter für eine Rückkehr zu einer Kaderorganisation. Sie wünschen sich die FDJ und die Jungen Pioniere als Elitestrukturen. Sie zögern auch nicht, wie die folgende Aktennotiz des Bürgermeisteramts von Ostberlin vom November 1966 mitteilt, dies in den Sitzungen der Elternbeiräte zum Ausdruck zu bringen: „Bei der Behandlung des Themas „Tätigkeit der FDJ und der Pionierorganisation im Schuljahr 1966/67“ mit Elternbeiräten und Mitgliedern von Klassenelternaktivs auf dem 7. und 8. Lehrgang wurde von der überwiegenden Mehrheit der dort anwesenden Eltern die Forderung erhoben, daß sich die Pionierorganisation von einer Massenorganisation zu einer Kaderorganisation entwickeln sollte. Als Gründe wurden genannt: – Durch die Aufnahme aller Kinder kommen auch undisziplinierte Schüler in die Pionierorganisation und sie schädigen das Ansehen und die Autorität der Pionierorganisation

74

GESIS, ZA 6085, Einstellung Jugendlicher zu gesellschaftlichen Fragen, 1988 pag. 40.

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– Indem wir alle Schüler aufnehmen, geben wir ein wichtiges Erziehungsmittel aus der Hand (überhaupt sollte die Pionierorganisation stärker mit solchen Erziehungsmitteln arbeiten wie zeitweiligem Ausschluß, zeitweiligem Entzug des Halstuches usw.) – Pioniergebote und Pioniergesetze müssen von den Schülern vor dem Eintritt in die Pionierorganisation beherrscht werden, d. h. die Einrichtung einer Kandidatenzeit ist erforderlich.“75

Um die Mitte der 1960er Jahre prangern die überzeugtesten und engagiertesten Eltern die rein formale Zugehörigkeit an und reklamieren die Durchführung von Sanktionen, das heißt von Ausschlüssen nach dem Vorbild der SED. Angetrieben von einem starken elitären Impuls fordern sie eine genauere Selektion bei einer Reihe von Praktiken. So wird neben den Begegnungen in den Sommerlagern, wo die Teilnehmenden handverlesen werden, den Jugendlichen eine zusätzliche politische Ausbildung im Rahmen eines „FDJ-Studienjahres“ angeboten.76 Diese Seminare zur marxistisch-leninistischen Ideologie haben für jede Klasse ein eigenes thematisches Programm: Die Ursprünge des Marxismus werden in der 9. Klasse studiert, das Kommunistische Manifest in der 10., das Verhältnis zwischen Staat und Revolution in der 11. und die politische Ökonomie des Sozialismus in der 12. Klasse. Die Verjüngung der Funktionäre der Jugendorganisationen FDJ und Junge Pioniere sind weiterhin durch einen Mangel an Personal und insbesondere von qualifiziertem Personal gehandicapt – um so mehr als sie mit einem beträchtlichen Zufluss an Mitgliedern zurande kommen müssen. Im November 1968 haben 20 % der Pioniergruppen der 6. und 7. Klassen keine Verantwortlichen.77 Es dauert bis 1977, bis jede Pioniergruppe in Ostberlin einen freiwilligen „Funktionär“ hat! Die 1960er und 1970er Jahre erleben die Fortsetzung einer Tendenz, die sich im Verlaufe des vorangegangenen Jahrzehnts abgezeichnet hat. Wenn man die Zusammensetzung des Funktionärspersonals der Jugendorganisationen genau betrachtet, dann bemerkt man, dass der Anteil der Lehrenden zugunsten von Studierenden und Oberschülern immer weiter zurückgeht. In den 1950er Jahren waren die Lehrkräfte häufig unwillig, Freizeitaktivitäten zu betreuen, zumal ihre Handlungsspielräume begrenzt waren. Sie beklagten häufig auch die zusätzliche Arbeitsbelastung. Die hauptamtlichen Funktionäre der Jugendorganisationen sind sich dieser Probleme bewusst und rekrutieren daher zahlreiche Studierende und Heranwachsende. In 75 76 77

LAB, C REP 120/2223-1, op. cit., pag. 175. Diese Praxis wurde zu Beginn der 1950er Jahre eingeführt. Eine entsprechende Einrichtung besteht für Pioniere der 7. Klasse mit dem Kreis „Unter der blauen Fahne“. LAB, C REP 120/22202, Informationsberichte an das Mf V, 1968, pag. 29.

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den 1960er Jahren stellen Studierende und Oberschüler etwa 65 % der freiwilligen Funktionäre der Jugendorganisationen. Allerdings stellt der Studentenstatus ein Problem für die Kontinuität der Arbeit dar, da ein Teil der Betreffenden das Engagement bei nahem Examen oder in entscheidenden Studienjahren nicht wahrnehmen kann. Im Ostberliner Schulmuseum haben wir die Chronik einer Gruppe von Pionieren einer Schule in Mitte gefunden. Diese Gruppe wird von zwei Studenten geleitet, P.I. und S.K., die sorgfältig anderthalb Jahre lang, von September 1963 bis Februar 1965, alle Unternehmungen aufzeichnen: Basteln, Verkehrserziehung, Geschichten vorlesen, Exkursionen … Die Chronik endet mit dieser Bemerkung von S.K.: „So jetzt ist endgültig Schluß! Peter und ich müssen aufhören, da die Prüfung in greifbare Nähe rückt. Die Kleinen waren richtig traurig, es wollte keine Stimmung aufkommen. Hoffentlich bekommen sie bald einen neuen Pionierleiter!“78 Für manche der Jugendlichen bedeutet die Tätigkeit als freiwilliger Funktionär der FDJ oder der Pioniere den Ausgangspunkt für eine Karriere in der SED oder den Jugendorganisationen.79 J. B. ist dafür ein perfektes Beispiel.80 Geboren 1964 von Eltern, die beide Neulehrer und in der SED waren, ist sie in der Schulzeit Pionierin und ein auffälliges Mitglied der FDJ, da sie in den verschiedenen Klassen zahlreiche Funktionen ausübt. Ab dem Alter von 11–12 Jahren arbeitet sie freiwillig als Hilfskraft in einem Kindergarten. Als sie auf der Oberschule ist – sie besucht eine Spezialschule für Russisch – entscheidet sie sich, sich freiwillig bei den Pionieren zu engagieren, um eine Kindergruppe zu betreuen. Dieses Engagement markiert den Beginn einer Funktionärskarriere. Sobald sie das Abi in der Tasche hat, besucht sie einen Kurs, um hauptamtliche Funktionärin zu werden, bevor sie von 1984 bis 1989 als solche in Schulen im Prenzlauer Berg und später Marzahn tätig ist. Als Kandidatin zur Aufnahme in die SED hätte sie Funktionen im Zentralrat der FDJ ausüben sollen, wenn der Fall der Mauer dieser gradlinigen Funktionärskarriere nicht ein Ende gesetzt hätte. Zwischen 1972 und 1977 allerdings hat die Zahl der Lehrkräfte, die als Funktionäre der Jugendorganisationen beschäftigt werden, zumindest in Ostberlin steigende Tendenz. Dies entspricht dem Eintritt einer Generation in den Arbeitsmarkt, die sowohl zur Lehrkraft als auch zum Erzieher ausgebildet wurde.

78

Sm, Sch A 88/33, Berliner Junge Pioniere. Gruppenbuch mit Arbeitsplan, 1963–1965, unpag. 79 LAB, C REP 902/2844, SED Bezirksleitung Berlin, Abt. Volksbildung/Wissenschaften, Einige schulpolitische Probleme, 1970–1971, unpag. 80 Transkription des Interviews mit J. B. vom 14. Mai 2002, unpag.

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Tabelle 15:  Soziale Zusammensetzung der Funktionäre der Jugendorganisationen in den ­Ostberliner Schulen, 1970–1978 (in %).

Studenten/ Schüler

Lehrerschaft

Arbeiter

Andere

1970

67,7

27,2

5,1

0,0

1972

50,6

41,2

4,2

4,0

1974

44,0

50,1

3,5

2,4

1975

45,1

50,0

3,5

1,4

1976

45,4

51,2

1,1

2,4

1977

43,3

54,6

0,9

1,2

1978

53,9

43,1

2,5

0,6

Der Anteil der Arbeiter schmilzt dahin wie Butter in der Sonne.81 Diese Feststellung wird regelmäßig in jedem Vierteljahresbericht und Jahresbericht unterstrichen, der von Funktionären des Zentralrats der FDJ verfasst wird. Diese erklären das Phänomen in ihrem Bericht für das Jahr 1978 mit der Arbeit im Dreischichtsystem, das einem Engagement der Arbeiter nicht zuträglich sei. Gleichzeitig scheint es aber, dass es ein Motivationsproblem auch bei den Betrieben gibt, die nicht in Schichten arbeiten: „Nach wie vor völlig unbefriedigend ist die Anzahl der Gruppenpionierleiter aus den Reihen der Arbeiterjugend. Obwohl von den Kreisleitungen der FDJ große Anstrengungen unternommen werden, konnten keine Fortschritte erreicht werden. Nach wie vor wird die Hauptursache von den Kreisleitungen und den Freundschaftspionierleitern darin gesehen, daß der Schichtbetrieb eine regelmäßige Tätigkeit dieser Freunde nicht möglich macht. Obwohl dieses Argument sicher Gewicht hat, halten wir es nicht für durchgängig haltbar. Viele Patenbetriebe unserer Schulen arbeiten nicht im Schichtbetrieb, und trotzdem konnten keine Gruppenpionierleiter gewonnen werden.“82

Die Erziehungsgewalt geht immer mehr an junge motivierte Freiwillige über, die die Elite des ostdeutschen Sozialismus bilden. Dieser Übergang ist gleichzeitig ein Zeichen für Improvisation auf dem Gebiet, das von den hauptamtlichen Funktionären bearbeitet wird, und der Ausdruck einer Diffusion der Macht bis hin zu den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft. Dieses Phänomen trägt ohne jeden Zweifel zur Stabilität des schulischen Feldes bei. Die rasche Verwurzelung der Jugendweihe begünstigt ihrerseits diese Bewegung hin zur allgemeinen formellen Konsolidierung 81 82

SAPMO, DY 25/ 2 505, Statistische Halbjahres- und Jahresberichte der Pionierorganisation Ernst Thälmann, 1972–1978, unpag. SAPMO, DY 25/, 2 491, Statistische Berichterstattung mit politischer Einschätzung, September 1978–Juni 1981, pag. 5.

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Die stabilisierte sozialistische Schule ­(1959–1989)

des Schulsystems. Dieses Ritual ist eng mit dem schulischen Feld verknüpft und wird ab den 1960er Jahren eine unverzichtbare Etappe im Lebensweg jedes ostdeutschen Schülers.

Die Jugendweihe: Eine wiederangeeignete sozialistische Tradition Im Unterschied zu anderen rituellen Veranstaltungen wie dem 1. Mai, der sich im Verlauf des Untersuchungszeitraums kaum verändert, bildet die Jugendweihe einen Gegenstand, der es uns ermöglicht, das Phänomen der Übereinkunft zwischen Staat und Gesellschaft genauer zu betrachten, genauer: die Wiederaneignung in den Familien. Nach den schwierigen Anfängen, die im ersten Teil betrachtet wurden, wird die Jugendweihe ab den frühen 1960er Jahren ein Ritual, das von einem überwiegenden Teil der ostdeutschen Bevölkerung angenommen wird, insbesondere von den Schülereltern in Ostberlin. Sie wird zu einer populären „sozialistischen Tradition“ mit Teilnehmerquoten, die immer weiter ansteigen (wobei sie ausnahmsweise in Ostberlin höher sind als im Rest des Landes) und die, wie die Grafik zeigt, ab den 1970er Jahren nahe an 100 % heranreichen.83 In der gleichen Zeit stabilisiert sich die Teilnehmerquote der Schüler der Ostberliner 8. Klassen an Konfirmation oder Kommunion in der Umgebung von 9 %, das heißt bei etwa 800 Jugendlichen, gegenüber 30 % in den 1960er Jahren und 20 % im übrigen Land in den 1970er Jahren.84 Fast 15 % der Schüler nehmen sowohl an der sozialistischen als auch an der religiösen Zeremonie teil, mit Spitzenwerten bis zu 25 % in den Bezirken Mitte und Prenzlauer Berg im Jahre 1962.85 Dies ist ein Zeichen dafür, dass sich ein modus vivendi zwischen Kirche und Staat eingestellt hat. Einige Pastoren ziehen die Konfirmation um ein Jahr vor und akzeptieren die doppelte Praxis. Der SED-Funktionär notiert allerdings, dass die Konfirmanden für die Zeremonie Päckchen aus Westberlin erhalten, mit Geld, Bonbons und zwei Paar Strümpfen!86 Nur eine Minderheit der Kinder nimmt – meistens aus religiösen Gründen – nicht an der Jugendweihe teil, insbesondere die Kinder von Pastoren. Allerdings ließe sich erwähnen, dass Angela Merkel, die derzeitige Bundeskanzlerin, auch als Pfarrerstochter ihre Jugendweihe bekam. Insgesamt sind bei der Lektüre der Quellen Spannungen im Verhältnis zu den Pastoren immer weniger zu bemerken. 83 LAB, C REP 902/2 008, op. cit., unpag.; SAPMO, DY 30/IV 2/ 9.05/138, ZK der SED, Abt. Volksbildung, Jugendweihe, 1962; SAPMO, DY 30/IV B 2/9.05/28, ZK der SED, Abt. Volksbildung, Jugendweihe, 1973–1980, unpag. 84 A. Döhnert, op. cit. 85 LAB, C REP 902/2008, op. cit., unpag.; SAPMO, DY 30/IV 2/9.05/28, ZK der SED, Abt. Volksbildung, Jugendweihe, 1973–1980, unpag. 86 SAPMO, DY 30/IV 2/9.05/138, op. cit., pag. 176.

Die Stabilisierung des polytechnischen Erziehungssystems

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Grafik 10: Entwicklung der Teilnehmerquoten an der Jugendweihe in der DDR und in Ostberlin in den 1960er Jahren (in %) 100

95

90

94,5

87,9

87,7 86,9

85

89,9 85,5

91 85,5

97,1

90 88,2 Teilnehmer quote in Ostberlin

84,4 80

Teilnehmer quote in der DDR

75 1961

1962

1963

1965

1968

1970

Möglicherweise werden sie überdeckt, aber sicherlich ist dies ein Anzeichen für eine Beruhigung des Verhältnisses. Seit dem Ende der 1950er Jahre wird die Jugendweihe von einer sehr großen Gruppe von Familien als unverzichtbares Übergangsritual im Leben ihrer Kinder akzeptiert. Sie wird von allen Schichten der Gesellschaft praktiziert, einschließlich von Vertretern einiger beruflicher Eliten, die zunächst in Bezug auf dieses Ritual wie auch auf das Regime als solches zurückhaltend waren. Ein Bericht vom Juli 1962 aus der Bezirksleitung Berlin der SED unterstreicht, dass die Teilnahmequote der Kinder von Medizinern beispielsweise in der 4. Schule in Pankow von 33 % im ­Jahre 1960 auf 93 % im Jahre 1962 gestiegen ist. Diese Entwicklung, die Anfang der 1960er Jahre beobachtet wird, lässt einen Funktionär der Schulbehörden in Ostberlin 1963 sagen: „Das beweist, daß in der Hauptstadt die Jugendweihe zu einer Tradition des Volkes zu werden beginnt und nicht mehr wegzudenken ist aus dem gesellschaftlichen Leben.“87

87 LAB, C REP 902/2 008, SED Bezirksleitung Berlin, Abt. Wissenschaft und Bildung, Jugend­weihe 1962–1963, unpag.

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Die stabilisierte sozialistische Schule ­(1959–1989)

Der Bau der Mauer und damit die Stabilisierung des sozialistischen Regimes auf mittlere Sicht haben also die Akzeptanz dieses Rituals durch die Schülereltern mit beschleunigt: „Im Jahresbericht der 5. Oberschule wird gesagt, daß die Ursache der Verbesserung der Teilnehmerzahl einmal in der Verbesserung der ideologisch-politischen Vorarbeit liegt und daß viele Eltern nach dem 13. August 1961 beginnen, tiefer über die politischen Fragen der Gegenwart nachzudenken, daß sie politischen Problemen aufgeschlossener gegenüberstehen.“88

Durch die voluntaristische Rhetorik des Regimes hindurch stellen wir fest, dass viele Eltern sich schlicht mit der neuen Realität, die mit dem 13. August 1961 hergestellt wurde, abfinden. Im Bezirk Pankow begehen im Jahre 1962 86 % der Jugendlichen ihre Jugendweihe, also 10 % mehr als im Vorjahr. In manchen Einrichtungen bleibt die Teilnehmerquote nach wie vor sehr gering: Die 4. Schule in Pankow hat eine Quote von 33 %. Die Lehrkräfte weisen die Verantwortung für diese schwache Mobilisierung ab und verweisen auf die soziale Zusammensetzung des Viertels, in dem viele Ärzte wohnen. Eine Umfrage des lokalen Organisationskomitees für die Jugendweihe in Pankow zeigt das gerade Gegenteil und kritisiert das fehlende Enga­ gement der Lehrenden: „Die 4. Oberschule war 1960 Schlusslicht. Die Kollegen der Schule verstecken sich hinter der Auffassung, man könne bei den Ärzten nichts erreichen und würde nur die Republikflucht fördern. Bei Überprüfung durch den Kreisausschuß stellte sich heraus, daß die Nichtteilnehmer in der Mehrzahl gar keine Kinder von Ärzten waren.“89 Seit Beginn der 1960er Jahre beträgt die Zahl der Vorbereitungsstunden 15 (anstelle von zehn in den 1950er Jahren), wird aber in den 1970er Jahren wieder auf zehn gesenkt.90 Den Berichten aus den Bezirken zufolge sind sie recht gut besucht (75 %), es fehlt aber häufig, wie der Autor eines Berichts für das Jahr 1962 verlauten lässt, die „ideologische und politische Dimension“: „Nur ein kleiner Teil aller Jugendstunden ist wirklich vorbildlich in der Vorbereitung und Durchführung. Nur in dem kleinen Teil aller Jugendstunden wird wirklich über politisch-ideologische Probleme gestritten und es werden Kenntnisse und Erkenntnisse vermittelt, die in Bekenntnissen ihren Ausdruck finden. […] Der größte Feind guter ­Jugendstunden ist der Formalismus und die Routine.“91

88 LAB, C REP 903-01-05/978, SED-Kreisleitung Pankow, Materialien über Volksbildung, Schulen und Pionierorganisation, 1948–1962, unpag. 89 LAB, C REP 903-01-05/178, op. cit., unpag. 90 BA, DR 2/A 4 242, Jugendweihe 1969: Stellungnahmen zum Entwurf „Satzung für die Jugendweihe in der DDR“, 1969, unpag. 91 LAB C REP 902/2008, op. cit., unpag.

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Die Vorbereitungsstunden werden schwach besucht, wenn zu sehr von Politik die Rede ist, und es kommt vor, dass das Programm nicht vollständig umgesetzt wird. Ostberlin hat jedenfalls die höchste Quote an Lehrkräften, die mit Vorbereitungsstunden betraut sind (95 %). Es hat sich eine Art Tradition herausgebildet, nach der der Klassenlehrer der 8. Klassen automatisch für die Vorbereitungsstunden zur Jugendweihe verantwortlich ist. Trotz Versuchen, das Personal zu diversifizieren, indem man etwa Hausfrauen rekrutiert, ändert sich die Situation kaum. Die Arbeiter halten sich in den meisten Fällen von dieser Funktion fern: „Die Vorstöße in Richtung Produktion scheiterten vor allem an Schwierigkeiten der Schichtarbeit und starker Beanspruchung gerade der bewußtseinsmäßig gut entwickelten Arbeiter im Produktionsaufgebot und gesellschaftlicher Arbeit im Betrieb. Die Jugendstunden können nur nachmittags oder nur in Ausnahmefällen in den frühen Abendstunden durchgeführt werden und bedürfen auch bei einem gut arbeitenden Ortsausschuß vieler Vorbereitungen. Dazu kommen Hemmungen vieler Produktionsarbeiter als Jugendstundenleiter, d. h. als Erzieher zu fungieren.“92

Im Rahmen von Kommuniqués zur Jugend in den frühen 1960er Jahren definiert die SED im Jahre 1963 neue Themenbereiche, die entsprechend dem Zeitgeist in den Vorbereitungsstunden angesprochen werden sollen: die historische Dimension der DDR, um eine nationale ostdeutsche Identität herzustellen, die wissenschaftliche und technische Dimension, das Lob der Liebe zur Arbeit, die Behandlung des Sinns des Lebens und der Zukunft der Jugend. Dieses neue Programm tritt mit dem Schuljahr 1964/1965 in Kraft, bis 1968 eine neue Gelöbnisformel eingeführt wird.93 Das Regime bemüht sich sogar in den 1970er Jahren, sich an den Zeitgeist anzupassen und genehmigt eine nachmittägliche Diskothek für die jungen Teilnehmenden nach der Zeremonie. Ab 1974 wird ein neues Buch eingeführt, das das ursprüngliche „Weltall Erde Mensch“ ersetzt: „Der Sozialismus, Deine Welt“. Eine 1976 durchgeführte Umfrage unter einer Stichprobe von 500 jungen Ostdeutschen ergibt, dass mehr als die Hälfte eine positive Meinung über das Buch haben. Allerdings sind die Themen, die das Buch behandelt und die, welche die Jugendlichen interessieren nicht die, die die SED erwartet:94 Die Abschnitte über „Freundschaft und Liebe“, „Was die Welt im Innersten zusammenhält“, „Berufswahl – wichtige Entscheidung“ werden in der Umfrage gelobt, während die Beiträge zum bewaffneten Frieden, zum Imperialismus, zur Oktoberrevolution oder zur Zukunft des Kommunismus selten gelesen werden. In den letzten Jahren des Regimes, ab 1983, wird ein neues von Lothar Oppermann redigiertes Buch während der Zeremonie verteilt. Es trägt den 92 LAB, C REP 902/2 008, op. cit., unpag. 93 SAPMO, DY 24/ 8551, Jugendweihe 1968–1969. Neufassung des Jugendstundenprogramms und des Gelöbnisses, unpag. 94 SAPMO, DY 30/IV 2/9.05/28, op. cit., unpag.

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Titel „Vom Sinn unseres Lebens“. Ungeachtet seines ideologischen Inhalts bleibt das Buch jedenfalls eher ein wichtiges materielles Andenken (das bis heute aufbewahrt wird) denn ein Instrument politischer Erziehung. Ab den 1960er Jahren wird die Jugendweihe gar nicht mehr als staatliche Zwangsmaßnahme empfunden. Das Ritual ist von der Mehrheit der Schülereltern internalisiert worden und bildet gleichzeitig das Objekt einer Aneignung durch die Familien. Die französische Ethnologin Marina Chauliac hat gezeigt, dass die Festlichkeiten, die die Zeremonie umrahmen, in den 1970er Jahren immer mehr Bedeutung annehmen, insbesondere das Familienessen. Die Analyse der lokalen Quellen zeigt darüber hinaus, dass die Familien sich dafür einsetzen, das Datum für die Zeremonie zu ändern. So äußern zahlreiche Schülereltern in den 1970er Jahren den Wunsch, die Zeremonie von Sonntag auf Samstag zu verschieben.95 Die Vorsitzende des Zentralkomitees für die Jugendweihe Sonja Müller weist so in einem Bericht, der im Juli 1973 an das Zentralkomitee der SED ergeht, darauf hin: „Viele Eltern, vor allem Produktionsarbeiter, können die bisherige Argumentation zu den ausschließlich am Sonntag stattfindenden Feiern nicht mehr verstehen. Sie wollen am Montag ihre Arbeit im Betrieb voll wahrnehmen.“96 Diese Passage unterstreicht implizit die Bedeutung der Familienfeier, die häufig als „feuchtfröhliches“ Essen begangen wird, nach der dann ein Tag Erholung erforderlich ist, bevor man die Arbeit wieder aufnimmt! Die Verschiebung der Zeremonie auf den Samstag wird in den Berichten der Folgejahre hervorgehoben: „Im letzten Jahr haben sich die Wünsche von Eltern verstärkt, die Jugendweihefeiern sonnabends durchzuführen. Oft wird das auch von Lehrern unterstützt.“97 Das Thema ist sogar Gegenstand zahlreicher Eingaben an das Zentralkomitee für die Jugendweihe in der zweiten Jahreshälfte 1970: „Die Eingaben zu den Problemen der Feiern betragen rund 50 % [1976 und 1977: 458 Eingaben]. Sie konzentrieren sich besonders auf Fragen nach dem Feiertermin. Hier nimmt den meisten Raum die Forderung nach den Sonnabendfeiern ein. Dabei reichen die Anträge zur Feierverlegung auf die schulfreien Sonnabende – also Änderung der festgelegten Termine am Sonntag – bis hin zum Wunsch, alle Sonnabende zu nutzen, auch die an denen Unterricht stattfindet. Es besteht bei allen Eltern und Jugendlichen der Wunsch, die Jugendweihefeiern an einem Sonnabend durchzuführen. Überall, wo über die Jugendweihe gesprochen wird, konzentriert sich die Diskussion auf die Feiertermine. Es gelingt uns nicht, die Eltern von der Richtigkeit der Beschlüsse zu dieser Thematik zu überzeugen. In Klassenelternversammlungen stehen die anwesenden Lehrer ebenfalls auf der Seite der Eltern.“98 95

Ab den 1970er Jahren und seit der Einführung der Fünf-Tage-Woche in der DDR im Jahre 1967 wird die Jugendweihe auch an Samstagen ausgerichtet. 96 SAPMO, DY 30/IV B 2/9.05/28, op. cit., unpag. 97 Ebd. 98 SAPMO, DY 30/IV B 2/9.05/28, op. cit., unpag.

Die Stabilisierung des polytechnischen Erziehungssystems

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Die Eltern fechten den Umstand an, dass die lokalen Komitees die Daten für die Zeremonien ohne Absprache mit ihnen festlegen. Sie bemühen sich darum, in die Organisierung des Rituals selbst einbezogen zu werden. Die mündlichen Zeugnisse von Personen, die zwischen 1950 und 1970 geboren sind, zeigen regelmäßig ein Fehlen von Erinnerungen an die Vorbereitungsstunden (mit Ausnahme des Besuchs des Konzentrationslagers Buchenwald oder des Klassenbesuchs eines NVA-Offiziers), während die Feier sowohl in der Erinnerung der Eltern (Gelegenheit zur Zusammenkunft der ganzen Familie) als auch der Kinder (Gelegenheit zum Empfang von Geschenken) große Bedeutung erhält. Was die Zeremonie selbst angeht, wird der Bericht bestimmt von Emotion (das Hinaufsteigen auf die Tribüne, um das Buch zu empfangen, die Urkunde, die Blumen und das Handschütteln) und Ironie (die Festrede wird als langweilig, das Gelöbnis als Formsache qualifiziert). U. G., geboren 1974, nimmt 1988 an der Jugendweihe teil. Sein Bericht legt den Akzent auf die Bedeutung der Zeremonie, auf die Erwartungen, die sie weckt, und zwar insbesondere in materieller Hinsicht: „Meine Jugendweihe fand im Kino International statt, auf der Karl-Marx-Allee und man freut sich darauf. Weil … Das wichtigste war nicht, daß man die Jugendweihe hatte, sondern das wichtigste war, man kriegte Geschenke ohne Ende ! Das Gelöbnis war nur formal, so viel hat man zu keinem Geburtstag oder Weihnachten gekriegt und man war schön eingekleidet. […] Ich habe einen Rekorder und Geld bekommen. Die DDR hat uns ein Buch geschenkt. Das war ein besonderer Tag für die DDR-Oberen: Die feierliche Ausgestaltung, die Jungen Pioniere mit Käppi und Blumen, für dich war das ein Tag, wo du viele Geschenke bekommen hast.“99

Selbst unter Berücksichtigung von Effekten der Distanzierung und der Legitimation des eigenen Verhaltens in der DDR lassen die individuellen Erinnerungen U. G.s die persönlichen Elemente der Zeremonie aufscheinen und unterstreichen den Umstand, dass zwei unterschiedliche Interessenlagen im gleichen Saal anwesend sind, ohne einander tatsächlich zu begegnen: das Interesse des Staates und das persönliche Interesse. Diese subjektive Perzeption durch U. G. findet ihre Bestätigung in Berichten von SED-Funktionären, die in den 1970er Jahren den fehlenden politischen Effekt der Zeremonie anprangern.100 1975 beklagt der Bericht des Zentralkomitees für die Jugendweihe in sehr moralisierendem Ton den ostentativen Beigeschmack der Familienfeiern: „Mancherorts werden aber auch die Feiern in der Familie als überholte Form der Geselligkeit abgewertet. Bei einigen Familienfeiern und auch

 99 Transkription des Interviews mit U. G. vom 9. Oktober 2003, pag. 6–7. 100 SAPMO, DY 30/IV B 2/9.05/28, ZK der SED, Abt. Volksbildung, Jugendweihe (1973– 1980), upag.

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bei Geschenken zur Jugendweihe gibt es Erscheinungen eines relativ hohen kulturellen Aufwandes.“101 Diese Kritik wird auch über die lokale und die SED-Presse verbreitet. Die Parteizeitung in Erfurt, „Das Volk“, beklagt sich, dass die Jugendweihe mehr an eine „Dorfhochzeit“ erinnere.102 Im Kampf gegen eine solche Privatisierung der Jugendweihe fordert das Regime vom Zentralkomitee für die Jugendweihe, gemeinsame Familienessen ab dem Schuljahr 1973/1974 auszurichten: „In die positive Bilanz kann auch die weitere Entwicklung der kollektiven Gestaltung des Tages der Jugendweihe in ihren vielfältigen Formen einbezogen werden. Vielerorts bestimmten Jugendtanzveranstaltungen, Diskotheken und gemeinsame Familienfeiern das Bild des Nachmittags und bereicherten auf diese Weise die Jugendweihe als Höhepunkt im Leben der 15jährigen.“103

Einige Forscher assoziieren diesen Verlust an politischem Gehalt mit einer Distanzierung der Familien von der kommunistischen Ideologie, die in den Jahren 1970 bis 1980 keinen Einfluss mehr auf die Bevölkerung habe.104 Vielleicht wäre es zutreffender, die Jugendweihe in einen größeren geographischen Rahmen einzubetten und sie auf die Entwicklung und Abspaltung des jeweiligen Gewichts des „militanten“ religiösen Rituals vom „privatisierten“ profanen Ritual im westlichen Europa zu beziehen. Insbesondere wäre es von Interesse, die Jugendweihe beispielsweise mit der feierlichen Kommunion in Frankreich zu vergleichen, wo die Motive der Kirche, der Eltern und der Kinder in Bezug auf die Kommunion ebenfalls nicht die gleichen sind. Der Ethnologe Laurence Hérault hat am Beispiel von Kirchengemeinden in der Region Haut-Bocage in der Vendée zwischen 1910 und 1990 gezeigt, dass trotz des Bedeutungsverlusts des religiösen Rituals das profane Ritual in Form von Mahlzeit und nützlichen Geschenken (Armbanduhr, Fahrrad) fortgeführt wird, um ein Übergangsritual von der Kindheit in die Adoleszenz sicherzustellen.105 Die Priester haben versucht, gegen „profane Ausschweifungen“ beim Fest vorzugehen, die tatsächlich aus letzterem ein für die Familien erinnernswertes Ereignis gemacht haben (zu üppiges Mahl, zu teure Geschenke).106 Die Jugendweihe gehört also in d­ iese Entwicklung hin zum Sinnverlust des „religiösen“ zugunsten des profanen Rituals seit den 1940er/1950er Jahren.

101 Ebd. 102 BStU, MfS ZAIG 9 261/2, Zeitungsausschnitte, pag. 80. 103 SAPMO, DY 30/IV B 2/9.05/28, op. cit., unpag. 104 M. Chauliac, op. cit., S. 401. 105 L. Hérault, La Grande Communion. Transformations et actualités d’une cérémonie catholique en Vendée, Paris 1996. 106 A. Prost, op. cit., S. 530.

Die Stabilisierung des polytechnischen Erziehungssystems

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Die Etablierung des polytechnischen Schulsystems ist begleitet von einer Stabilisierung der Aktivitäten der Jugendorganisationen und von der Verwurzelung der Jugendweihe als sozialistischem Übergangsritus. Sie wird getragen von einem immer stärker feminisierten Lehrkörper, in dem zwei Generationen nebeneinander existieren, die sich hinsichtlich ihres Engagements unterscheiden, obwohl beide Stützen des Regimes bleiben. Dieses polytechnische Modell gehört in den Rahmen der „wissenschaftlichen und technischen Revolution“, die das Regime mit Energie vorantreibt, wobei es sich insbesondere auf den Erfolg der sowjetischen Raumfahrt stützt (Sputnik im Jahre 1957). Es zeichnet sich aus durch den Vorrang, der den Naturwissenschaften und den neuen Technologien gegeben wird, durch die Erweiterung der Patenschaften mit den Betrieben und durch die Entdeckung der Wirklichkeit des sozialistischen Unternehmens.

Kapitel IX Die sozialistische Schule und die Herausforderungen der ostdeutschen Wirtschaft Unter dem Zeichen der­­ „­wissenschaftlich-­­technischen ­Revolution“ Die Einrichtung der polytechnischen Ausbildung steht unter dem Zeichen der „wissenschaftlich-technischen Revolution“. Diese Formulierung stellt tatsächlich einen Appell zur Modernisierung dar, zur Mechanisierung und Automatisierung der ostdeutschen Betriebe, damit aus der DDR eine große Industriemacht auf Augen­höhe mit der BRD und gleichzeitig die fortgeschrittenste Macht innerhalb des ­COMECON (RGW) gemacht werden kann. Auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 hat ­Walter ­Ulbricht dazu aufgefordert, eine neue Phase in der Entwicklung der nationalen Ökonomie einzuleiten, damit der Lebensstandard der Ostdeutschen in einigen Jahren den der Westdeutschen übersteige. Laut der SED, deren wissenschaftlich-technischer Diskurs sich nach den ersten Erfolgen sowjetischer Raumfahrt intensiviert hat, beginnt mit dem Ende der 1950er Jahre eine Epoche der Umwälzungen des Produktionssystems, und diese Entwicklung muss vom Staat geleitet und geplant werden. Der Ausdruck „wissenschaftlich-technische Revolution“ ist tatsächlich eine Augenwischerei, hinter der der Umstand versteckt wird, dass die DDR beschließt, ihre knappen Ressourcen auf einige wenige Bereiche der Spitzenforschung (Optik, Elektronik …) zu konzentrieren.1 Insgesamt geht es darum, angesichts der wenigen Mittel, über die die ostdeutsche Wirtschaft verfügt, erfindungsreich zu sein und die Produktion zu rationalisieren. Damit diese „Revolution“ vollständig gelingen kann, muss sich die ostdeutsche Schule den Zeitumständen anpassen und naturwissenschaftlichen Fächern und Freizeitaktivitäten, die die Schüler auf ihre späteren beruflichen Pflichten vorbereiten, den Vorrang einräumen. Diese Entwicklung wird begleitet von der Einrichtung spezialisierter Eliteschulen – wobei das Wort „Elite“ in der DDR seit 1945 tabu ist – und der Vertiefung der Kontakte zu den Betrieben. Die Schwerpunktverlagerung auf die naturwissenschaftlichen Fächer Auf der Ebene der Lehrprogramme besteht die Einführung des polytechnischen Systems in einer Schwerpunktverlagerung auf die naturwissenschaftlichen Fächer 1

Detaillierter zur Geschichte der Nationalökonomie der DDR siehe A. Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004.

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(Mathematik, Physik-Chemie, Biologie) und einer Neubestimmung der Programme, die insbesondere die Einführung der Astronomie als Pflichtfach vorsieht.2 Die Präambel des Gesetzes über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR vom 2. Dezember 1959 erklärt gleich zu Beginn: „Auf der Grundlage der polytechnischen Bildung wird das wissenschaftliche Niveau des gesamten Unterrichts, besonders in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern, wesentlich erhöht.“3 Dieser zentrale Platz, der im offiziellen Diskurs und in den normativen Texten zum Ausdruck kommt, spiegelt sich in den Lehrprogrammen für 1958 und 1959 wider. Die folgende Grafik belegt das zunehmende Gewicht der mathematischnaturwissenschaftlichen Fächer im Verlauf der Schulzeit. Sie machen bereits in den ersten drei Unterrichtsjahren ein Viertel der Unterrichtsstunden aus. In den drei letzten Jahren der allgemeinen Schulpflicht steigt ihr Anteil auf 41 % der Unterrichtsstunden.4 Ab der 7. Klasse haben die Schüler ebenso viele Unterrichtsstunden in Mathematik wie in Deutsch, was vor 1959 nicht der Fall war.5 Der Anteil der naturwissenschaftlichen Fächer für die Klassen 7–10 hat sich von 26 % im Jahre 1946 auf 32 % in 1955 gesteigert und stabilisiert sich ab 1959 auf 41 %. Viele Lehrer für Mathematik sind skeptisch in Bezug auf die gesteigerten Anforderungen, die das Volksbildungsministerium erlässt (Beherrschung der Grundrechenarten im Verlauf der ersten beiden Schuljahre, Vermittlung der logarithmischen und Exponentialfunktionen in der 10. Klasse, Verwendung des Axiomensystems der euklidischen Geometrie nach dem deutschen Mathematiker Hilbert6) und unterrichten weiter wie gewohnt.7 Die Bedeutung der Mathematik ist so groß, dass das Politbüro der SED im Dezember eine Anweisung zur Verbesserung und Weiterentwicklung des Fachs herausgibt. Der Beschluss wird begleitet von der Einrichtung einer staatlichen Zentralkommission, die am Entwurf neuer Unterrichtsprogramme arbeiten soll, 2 3 4 5 6 7

Anweisungen des Ministeriums für Volksbildung über die Stundentafeln der allgemeinbildenden Schulen für das Schuljahr 1958/59, in: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung, 1958, S. 71–74. Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR vom 2. Dezember 1959, in: Gesetzblatt der DDR, Band 1, 1959, S. 859–863. Dokumente zur Geschichte des Schulwesens in der DDR 1956–1967/68, Berlin-Ost 1969, S. 241–245. Anweisungen des Ministeriums für Volksbildung über die Stundentafeln der allgemeinbildenden Schulen für das Schuljahr 1955/56, in: Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung, 1955, S. 181. David Hilbert (1862–1943) ist einer der größten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Ihm gelingt die Rekonstruktion der euklidischen Geometrie in Form von Axiomen. P. Borneleit, „Lehrplan und Lehrplanerarbeitung, Schulbuchentwicklung und -verwendung in der DDR“, in: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik, Jg. 35, Nr. 4, 2003, S. 134–145.

Die sozialistische Schule

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Grafik 11: Prozentsatz der den Naturwissenschaften gewidmeten Unterrichtsstunden in den EOS und POS in der DDR 1959 41

45

40

40 35 30

25,7

27,5

25

25 20 15 10 5 0

welche 1963 schließlich veröffentlicht und bis in die 1970er Jahre regelmäßig modifiziert werden. Es ist erwähnenswert, dass zur gleichen Zeit in Frankreich der französische Mathematiker und Professor am Collège de France André ­Lichnerowicz (1915–1998) eine von Christian Fouchet gegründete Kommission leitet, die sich in den Mathematikunterricht einschaltet, indem sie 1967 die sogenannte „moderne“ Mathematik in die Sekundarstufe einführt, d. h. den Unterricht der formalen, auf Axiomen aufbauenden Mathematik (algebraische Strukturen, Vektorräume, Mengenlehre).8 Die Umgebung General de Gaulles glaubt – wie im Übrigen fast die 8

Dieser Unterricht, der seit 1973 von den Verbänden der Mathematiklehrer abgelehnt wird, wird 1985 zugunsten einer Rückkehr zur euklidischen Geometrie und einem Unterricht,

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Gesamtheit der Führer der westlichen Länder jener Zeit – an die Notwendigkeit, mehr wissenschaftlich-technische Elitekräfte heranzubilden, um das Wirtschaftswachstum zu steigern. Dieses neue Programm ist dem, was in der DDR gemacht wird, insofern sehr ähnlich, als es im Kern nicht mehr darum geht, das Kind auf Zahlenprobleme des Alltagslebens (Kalkulation von Kosten) vorzubereiten, sondern das Erlernen deduktiver Wissenschaft (aus der die abstrakte Präsentation von Begriffen herrührt) einzuleiten.9 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, gegenseitige Beeinflussung im Einzelnen nachzuweisen; wir wissen aber, dass sich französische und ostdeutsche Mathematiker in den 1960er Jahren bei internationalen Kongressen begegnen. In Bukarest 1968 präsentiert Jacques Fort auf einem Kolloquium, das von der UNESCO organisiert wird und die Modernisierung des Mathematikunterrichts in Europa behandelt, die Ergebnisse der Einführung der Vorschläge aus der Lichnerowicz-Kommission. Fritz Neigenfind, ein Mathematiker, der in der APW mit Fragen des Lehrprogramms betraut ist, nimmt an diesem Kolloquium teil. Ohne sich an einen Vergleich der Effektivität der Lehrprogramme zwischen sozialistischen und westlichen Ländern wagen zu wollen, lässt sich festhalten, dass das Niveau der Schüler in Mathematik in der DDR offensichtlich weitaus höher ist als das ihrer westdeutschen Schulkameraden. Diese Wertschätzung der naturwissenschaftlichen Fächer geht einher mit dem Willen, eine elitäre Politik in Gang zu setzen ohne dies ausdrücklich mitzuteilen, da dies dem Sinn des Gesetzes von 1946, mit dem die Triade aus Volksschule-Mittel­ schule-Gymnasium abgeschafft worden war, und der offiziellen egalitaristischen Propaganda zuwiderliefe.

9

der auf dem Erlernen hypothetisch-deduktiven Denkens aufbaut, das sich auf nicht nur mentale, sondern auch auf visuelle Bilder, Objekte und mathematische Konzepte stützt, wieder aus den Programmen gestrichen. Siehe V.J. Katz, A History of Mathematics, New York 1998. Da die Schulpolitik in der BRD Ländersache ist, fällt es schwer, sie in einen globalen Vergleich einzubeziehen. Ohne in eine Karikatur zu verfallen können wir jedenfalls festhalten, dass die Anforderungen hinsichtlich des Niveaus im Westen niedriger sind. In den 1980er Jahren haben die Schüler der Primarstufe mehr Unterrichtsstunden in Mathematik (821 Stunden im Schuljahr für die Klassen 1–4 in der DDR gegenüber 753 in Bayern, 772 in Hessen und 618 in Nordrhein-Westfalen) und sind ihren westdeutschen Schulkameraden voraus (Erlernen der Division und Multiplikation ab dem ersten Schuljahr). Siehe H. Griesel, „Vergleich grundlegender Konzeptionen der Mathematikdidaktik in der BRD und in der DDR“, in: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik, Bd. 35, Nr. 4, 2003, S. 166–171.

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Die Schaffung von Spezialschulen, oder: Eine elitäre Ausbildung Mit einer Durchführungsbestimmung zum Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR vom 11. Juli 1963 gestattet das Ministerium für Volksbildung die Gründung von Spezialschulen,10 das heißt von schulischen Einrichtungen hohen Niveaus, in denen die besten Schüler bestimmter Fachbereiche versammelt werden sollen: Mathematik, Physik, aber auch Russisch, Musik oder Sport.11 Das Schulgesetz von 1965 behandelt diese besonderen Einrichtungen in einem eigenen Paragraphen, wo ihre Aufgaben genauer bestimmt werden: „Spezialschulen sind allgemeinbildende Schulen. Sie dienen besonderen Erfordernissen der Nachwuchsentwicklung für die Wirtschaft, die Wissenschaft, den Sport und die Kultur. Die Spezialschulen nehmen Schüler mit hohen Leistungen und besonderen Begabungen auf.“12 Dabei ist interessant, dass der normative Text an keiner Stelle Bezug auf politische (in der offiziellen Sprache ist die Rede von „nützlichen sozialen Aktivitäten“) oder soziale Kriterien („Kinder der Arbeiter- und Bauernklasse“) nimmt. Auf dem Papier sind die einzigen genannten Kriterien die schulischen Leistungen und das individuelle Talent. Einrichtungen dieser Art gibt es in Dresden, Riesa, Jena, Ilmenau, Karl-MarxStadt, Frankfurt/Oder, Kleinmachnow und Berlin-Ost. Letztlich stellen diese spezialisierten Schulen jene soziale Differenzierung wieder her, die es in der DDR nicht mehr geben soll. Durch einen glücklichen Zufall hat sich ein Quellenbestand über eine solche Einrichtung, die Heinrich Hertz-Oberschule in Friedrichshain, auffinden lassen. Diese nimmt ab 1965 tatsächlich die mathematisch begabtesten Schüler der Stadt auf. Ökonomische Erfordernisse scheinen den Vorrang zu haben gegenüber politisch-ideologischen Kriterien: Die Analyse der Schulchronik, die sich im örtlichen Museum in Friedrichshain befindet, zeigt im Abgleich mit einem Interview mit dem ersten Direktor dieser Spezialschule,13 dass bei der Auswahl der Schüler ausschließlich die schulischen Leistungen berücksichtigt werden. Die Selektion 10

Begriffe wie Spezialisierung oder Elite sind bei Margot Honecker und dem Zentralkomitee der SED sehr schlecht angesehen. 11 Im Jahre 1963 gründet die Stadtverwaltung Ostberlins die Werner Seelenbinder-Spezialschule im Prenzlauer Berg für Sporttalente. Siehe R. Wiese, „Der Ursprung der Kinder- und Jugendsportschulen der DDR“, in: Deutschland Archiv Bd. 37, Nr. 3, S. 422–430. 12 Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem der DDR, S. 27. 13 Am 18. Oktober 2005 wurde ein Interview mit Ernst Brumme, Direktor der ­Heinrich Hertz-Oberschule von 1965 bis 1979, geführt. Brumme wurde 1922 in eine sozialdemokratische Arbeiterfamilie geboren und beginnt 1945 eine Laufbahn als Lehrer für Mathematik und Physik. Ab 1952 arbeitet er in Berlin. Er erhält am Ende der 1950er Jahre eine Direktorenstelle in Pankow, bevor er von der Stadt Berlin-Ost 1965 an die Heinrich HertzOberschule berufen wird.

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erfolgt durch eine schriftliche Prüfung in Mathematik und ein Gespräch mit einer entsprechenden Lehrkraft ohne Anwesenheit eines SED- oder FDJ-Funktionärs. Das klassische Rekrutierungsverfahren über eine Kommission findet für diese Spezialschulen keine Anwendung. Diese Talentschmiede zukünftiger Ingenieure14 und Forscher in den exakten Wissenschaften nimmt im Wesentlichen die Kinder von Hochschulabsolventen auf. Die meisten Eltern sind Ingenieure, Akademiker oder Wissenschaftler. Der Anteil von Kindern aus Arbeiterfamilien ist verschwindend gering: Für die Zeit von 1965 bis 1970 haben wir weniger als 5 % der Schülerschaft festgestellt, deren Vater Produktionsarbeiter gewesen ist. Das Kriterium der intellektuellen Leistungsfähigkeit hat Vorrang, was der ehemalige stellvertretende Direktor der Heinrich Hertz-Oberschule in seiner Einleitung zur Chronik zu bedauern scheint: „Mit der zunehmenden Spezialisierung begannen sich andere Probleme abzuzeichnen. Viele Schüler der Klasse von Dr. Busse waren Kinder von Doktoren und Professoren. Vielfach waren es die Eltern, die ihre Kinder auf eine Umschulung an diese gute EOS, deren gesamte Ausbildung qualifizierter war als an anderen Schulen, orientierten. Es wurden zwar Aufnahmegespräche geführt, jedoch nur, um herauszufinden, ob überhaupt Interesse an der Mathematik vorlag. […] Gerade Kinder von Intelligenzlern gerieten in der Zeit des Vietnamkrieges teilweise auf die Seite des Klassenfeindes, einige von ihnen wurden später republikflüchtig. Dieses politische Abgleiten hing eng mit dem damaligen Elitedenken der Schüler zusammen, die aufgrund ihrer hohen Leistungen nicht die Notwendigkeit einsahen, sich in einem Kollektiv unterzuordnen.“15

Die Schüler dieser Schule erhalten insbesondre Intensivunterricht durch Mathematiker des Forschungszentrums in Berlin-Adlershof und werden auf die ­Berufe Rechnungsführer, Mathematiker und Physiker vorbereitet. Informatik wird als Pflichtfach mit dem Schulbeginn im September 1968 eingeführt.16 Sehr rasch führt die Konzentrierung guter Schüler zu einer stetig wachsenden Zahl von ­Lessing-Medaillen, mit denen in der DDR die besten Schüler für ihre schulischen 14 Im Jahre 1970 „produziert“ das ostdeutsche Hochschulsystem 5  200 Diplom-Ingenieure und 15 300 spezialisierte Ingenieure (davon 25 % Frauen) gegen 3 800 bzw. 13 750 Ingenieure in der BRD. 15 Heimatmuseum Kreuzberg-Friedrichhain, Schulchronik der Heinrich-Hertz-Oberschule, 1986, unpag. 16 Für die Einführung der Informatik in der DDR, siehe Hans-Jürgen Fuchs/Eberhart Petermann: Bildungspolitik in der DDR 1966–1990. Dokumente, Berlin 1991. In Frankreich wird ab 1966 ein Pilotversuch unternommen, der in den 1970er Jahren landesweit verbreitet wird infolge einer Empfehlung des 1968 gegründeten Centre d’études et de recherches pour l’innovation dans l’enseignement (Zentrum für Studien und Forschungen für Innovation in der Lehre, CERI) oder OECE. Siehe u. a. Emilien Pélisset: Pour une histoire de l’informatique dans l’enseignement français, in: Système éducatif et révolution informatique, Paris, Les cahiers de la FEN, 1985.

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237

Leistungen ausgezeichnet werden. Die Chronik präsentiert diese Entwicklung zwischen 1969 und 1985 so: Tabelle 16:  Zahl der Lessing-Medaillen, die an Schüler der Heinrich Hertz-Oberschule gingen (1969–1985)17

Jahr

1969

1973

1977

1981

1985

Zahl der Medaillen

10

17

26

39

40

Die Schüler dieser Einrichtung belegen außerdem regelmäßig auf den nationalen und internationalen Mathematik-Olympiaden die ersten Plätze. Die Mathematik-Olympiaden Die Verstärkung der naturwissenschaftlichen Fächer in den Lehrplänen und besonders die Wichtigkeit der Mathematik finden eine außerschulische Entsprechung in den Mathematik-Olympiaden, die ab den frühen 1960er Jahren ausgerichtet werden.18 Die Abteilung „Polytechnische Bildung“ des Volksbildungsministeriums beauftragt die Schulämter Ostberlins und Leipzigs 1960 damit, Pilotveranstaltungen auszurichten: „Mit der Mathematikolympiade soll die Lehrplanerfüllung im Fach Mathematik direkt unterstützt werden. Die Mathematikolympiade soll ein Leistungsvergleich unter Beteiligung aller Schüler der 7.–10. Klassen sein. Wir wollen durch die Mathematikolympiade erreichen, daß die Leistungen der Schüler steigen, ein realer Leistungsvergleich von Klasse zu Klasse und von Schule zu Schule.“19 Die DDR folgt dem Beispiel der UdSSR, wo die ersten Mathematik-Olympiaden 1934 stattgefunden haben, und anderen östlichen Ländern, wo Traditionen dieser Art seit langem bestehen, so etwa in Ungarn20 oder Rumänien, 1959 Initiator der Internationalen Mathematik-Olympiaden. Erst 1981 richtet die BRD den

17 Heimatmuseum Kreuzberg-Friedrichshain, Schulchronik der Heinrich-Hertz-Oberschule, 1986, unpag. 18 Der concours général de matématiques (Allgemeiner Mathematik-Wettbewerb), der 1803 in Frankreich eingeführt wurde, entspricht im Groben dieser Veranstaltung. Seit 2000 richtet das Ministerium für nationale Edukation akademische Mathematik-Olympiaden aus. 19 LAB, C REP 902/982, SED-Bezirksleitung Berlin, Abt. Wissenschaft und Bildung, Mathematikolympiade, 1960–1962, unpag. 20 Einer der ersten mathematischen Wettkämpfe (der Kürschák-Wettbewerb) findet 1894 in Ungarn statt.

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Adam Ries-Wettbewerb ein, der für Schüler der 5. Klassen offen ist.21 Die Einführung dieser Olympiaden gehört zweifellos in die Euphorie, die von den Raumfahrt­ erfolgen der UdSSR ausgelöst wird. Dies zeigt ein Brief der Zentralkommission für die Mathematik-Olympiaden22 an die teilnehmenden Schüler aus dem Jahr 1961: „Unser Vaterland braucht für den Aufbau des Sozialismus Menschen, die über hervorragende mathematische Kenntnisse verfügen. Wir wollen dabei stets an unsere großen Vorbilder Juri Gagarin und German Titov denken und ihnen nacheifern!“23 Der Bezug auf die beiden sowjetischen Kosmonauten ist nicht unschuldig: Gagarin und Titov sind zu jener Zeit für eine große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen veritable Helden. Der anfangs für Schüler zwischen 13 und 16 Jahren offene schulübergreifende Wettbewerb zielt also gleichzeitig darauf ab, die Naturwissenschaften zu demokratisieren und darauf, naturwissenschaftliche Talente für morgen zu entdecken.24 Die „lokale“ Initiative wird ab 1961 auf die nationale Ebene übertragen und auf Schüler zwischen 11 und 18 Jahren erweitert. Sie besteht aus mehreren Runden, die in hierarchischer Ordnung zunächst in den Schulen, dann in den Kreisen, den Bezirken und schließlich auf der Ebene der gesamten DDR stattfinden. Ausgerichtet wird sie im Prinzip von den Lehrkräften, während die Funktionäre der Jugendorganisationen sich völlig desinteressiert zeigen. Trotz des letztlich sehr schulischen Charakters des Wettbewerbs nimmt die Teilnahme von 1961 bis 1964 stetig zu und macht diese Olympiaden zu echten „Massenwettkämpfen“, an denen etwa 45 000 ostdeutsche Schüler teilnehmen.25 Die Teilnehmerquote unter den Schülern Ostberlins steigt von 62 % im Jahre 1962 auf 81,4 % im Jahre 1964.26 Ostberlin ist sogar der Bezirk mit der höchsten Beteiligung in der DDR.27 Diese guten Werte erklären sich aus dem Engagement der Lehrkräfte, die ihre Schüler dazu verpflichten, an der ersten Runde teilzunehmen. Genau dies wird seitens des stellvertretenden Leiters der Pionierorganisation Penzel in einer Aktennotiz von 1963 als Problem festgestellt: „Problem: Charakter der Kontrollarbeit, Prüfungscharakter.“28 21

Adam Ries war der Erfinder des „Rechnens auf Linien“, womit er der Vater unserer modernen Rechenmethoden wurde und dem Abakus den Todesstoß versetzte. 22 Diese Zentralkommission, die den Wettbewerb organisieren soll, besteht aus zwei Professoren der Humboldt-Universität, Vertretern der Jugendorganisationen, des Volksbildungsministeriums und des Sekretariats für die höhere Schulbildung sowie Pädagogen des DPZI. 23 BA, DR 2/6 557, Matheolympiade, 1960–1963, unpag. 24 LAB, C REP 120/2 408, Pionierorganisation Berlin, 1962–1964, pag. 19. 25 BA, DR 2/6557, op. cit., unpag. 26 LAB, C REP 120/2408, op. cit., pag. 19. Für die Schüler der Heinrich-Hertz-Oberschule ist die Teilnahme an den ersten beiden Runden obligatorisch. 27 BA, DR 2/6557, op. cit., unpag. 28 Ebd.

Die sozialistische Schule

60000

239

Grafik 12: Teilnahme an den Mathematik-Olympiaden in Ostberlin 1962-64

50000 44985

40000 32685

30000 20000

48565

27000

10000 0 1961

1962

1963

1964

Die erste Runde wird von den Schulen auf der Grundlage eines landesweiten Tests unternommen, der in den Zeitschriften der Jugendorganisationen Trommel und Junge Welt veröffentlicht wird. Danach wird die Organisation von den Schulbehörden der jeweiligen Verwaltungsebene gewährleistet. Die Konkurrenz ist sehr hart: Nur die drei besten Tests jeder Klasse qualifizieren für die nächste Runde. Von 1962 an schickt die DDR sogar Vertreter zu den offenen MathematikOlympiaden, die tatsächlich ein Wettbewerb unter den Ländern des Ostblocks sind. Im ersten Jahr gehören drei Berliner einer ostdeutschen Delegation an, die nach Prag reist. Der Bericht über den Wettbewerb erinnert stark an den Bericht über ein sportliches Ereignis. Er lässt einen starken nationalen Wettbewerb zwischen den Ostblockländern durchscheinen: „Die Mannschaft war einige Tage vor der Abfahrt nach Prag zu einem Training zusammengezogen worden, das auf den bisher bei internationalen Wettbewerben gemachten Erfahrungen aufbaute (Vorträge und Übungen). Diese Vorbereitung hat sich zweifellos günstig auf die Ergebnisse ausgewirkt. […] Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern, die in dieser Hinsicht schon auf jahrelange Erfahrungen zurückblicken können, war unseren Schülern in mehreren Fällen nicht genügend bekannt, was zu einer exakten und vollständigen Lösung der Probleme nötig ist. Trotz dieses offensichtlichen Nachteils haben sich alle Teilnehmer unserer Mannschaft hervorragend geschlagen. Sie zeigten ausnahmslos großen Eifer bei der Vorbereitung und eine hohe Kampfmoral.“29

1963 erreicht J. K., zu diesem Zeitpunkt Schüler einer Spezialklasse der Heinrich Hertz-Schule in Treptow, seine Auswahl für die Nationalmannschaft. Obwohl 29

LAB, C REP 902/982, op. cit., unpag.

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er nicht Mitglied der FDJ ist, wird er in diese Klasse aufgenommen wegen seines ­Talents für Mathematik. Er kommt in ironischer Form auf diese Episode zurück: „Ich wollte mich selber repräsentieren, nicht die DDR. Die Mannschaft bestand aus acht Jugendlichen. Die anderen sieben waren natürlich in der FDJ. Als Vertreter [der DDR] sollten wir das blaue Hemd tragen. Die anderen Nationen waren im Anzug. Nur die DDR im FDJ-Hemd. Ich hatte keins. Man hat ein blaues Hemd für mich besorgt.“30 Der Diskurs einer Distanzierung von der DDR, der in dieser Situation hergestellt wird, muss sicherlich relativiert werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass J. K. großen Stolz daraus gezogen hat, seine Heimat im Ausland zu vertreten, vor allem im Verhältnis zu seinen Klassenkameraden. Leider bringt ihn sein Willen, sich vom sozialistischen Regime zu unterscheiden, dahin, ausschließlich seine im Kontext der Mannschaft abweichenden Persönlichkeitsaspekte – er war ja der Einzige, der nicht der FDJ angehörte – hervorzuheben. Die Teilnehmer an den Mathematik-Olympiaden sind mehrheitlich Schüler an Spezialschulen, die von intensiven Vorbereitungskursen profitieren und Mathematik-AGs angehören. Die Chronik der Heinrich Hertz-Oberschule verzeichnet, dass zwischen 1967 und 1985 ihre Schüler auf der nationalen Ebene praktisch immer einen der ersten drei Preise nach Hause bringen und auf internationalem Niveau regelmäßig gute Plätze erreichen (3. Preis 1964, 1969, 1975 und 1983–1985; 2. Preis 1974–1976, 1. Preis 1977).31 Der Wettbewerb zeugt von einem genuinen politischen Willen, die Mathematik zu fördern und eine naturwissenschaftliche Elite heranzubilden, die in der Lage ist, das internationale Ansehen der DDR zu steigern. Gleichzeitig beschließt das Regime, die Patenbewegung, das heißt die Einheit von Schulen und Betrieben, zu erneuern und zu intensivieren.

Ein neues Patenschaftssystem: Für die Vertiefung der Beziehungen zwischen Schülern und Arbeitern Im Laufe der 1950er Jahre werden die Patenschaften zwischen den Schulen und den Betrieben (beziehungsweise Institutionen und Verwaltungsabteilungen) effektiver. Das Regime hat sich zum Ziel gesetzt, vor allem Kontakte zwischen dem schulischen Feld und der Welt der industriellen Produktion zu fördern und die Arbeiter in das Netzwerk der „Erzieher zum Sozialismus“ einzubinden. Allerdings war die ideo30 31

Transkription des Interviews mit J. K. vom 16. März 2004, pag. 10. Friedrichshain-Kreuzberg Archiv, Schulchronik der Heinrich-Hertz-Oberschule, unpag.

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logische und edukative Dimension dieser Patenschaften oft zweitrangig gegenüber ihren materiellen und finanziellen Aspekten. Darüber hinaus war das Engagement von Arbeitern begrenzt oder inexistent. Die Einführung des polytechnischen Schulsystems in den späten 1950er Jahren ist begleitet von einer Wiederaufnahme und Vertiefung der Praxis der Patenschaften.32 Offiziell geht die Initiative vom 5. Kongress des FDGB im Oktober 1959 aus33 und wird dann im November 1959 in einer neuen Schulordnung festgeschrieben.34 Die Verantwortlichen des Gewerkschaftsbundes und des Volksbildungsministeriums wollen eine neue Ebene betreten, auf der die Beziehungen zwischen Schülern und „Arbeiterklasse“ enger und intensiver sind. Die Patenschaft wird von nun an auch auf der Ebene der Basiseinheiten der Schulen und Betriebe geschlossen, das heißt zwischen Klasse und Produktionsbrigade.35 Die Schulbehörden der Ostber­ liner Stadtverwaltungen knüpfen große Hoffnungen an diese neue Formel: „Nur aber auf dieser Ebene können erziehungswirksame Beziehungen entstehen.“36 Auf quantitativer Ebene erweist sich die Umsetzung dieser neuen Formel in Ostberlin als relativ schwierig:37 Tabelle 17:  Anteil der Schulklassen Ostberlins, die mit einer Produktionsbrigade verbunden sind (1960–1975) (in %)

1960

1967

1968

1970

1975

9,9

15,8

20

60

75

32 BA, DR 2/6 597, Patenschaften zwischen Schulklassen und sozialistischen Betrieben, ­September 1959–Juli 1960, unpag. 33 SAPMO, DY 24/11 204, Zentralrat der FDJ, Abt. Schuljugend, Patenschaftsarbeit, 1958– 1962, unpag. 34 SAPMO, DY 25/587, Beschlüsse und Richtlinien zum Abschluss von Patenschaftsverträgen der VEB mit den Schulen, 1955–1959, unpag. Die Beziehungen werden erneut in der Schulordnung von Oktober 1967 (§ 36–37) festgelegt. 35 Im Jahre 1958 führt das ostdeutsche Regime nach sowjetischem Vorbild Brigaden der sozialistischen Arbeit ein. Diese Brigaden, die ab 1971 Arbeitskollektive heißen, sollen einen Rahmen für die kollektive Organisation des produktiven und sozialen Lebens innerhalb des Betriebs bilden und die Fortbildung und Erziehung jedes einzelnen Mitglieds gewährleisten, damit diese sozialistische Individuen und Arbeiter werden. Siehe J. R ­ oesler, „Die Produktionsbrigaden in der Industrie der DDR. Zentrum der Arbeitswelt?“, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hg.), op. cit., S. 144–170. 36 LAB, C REP 120/2410-1, op. cit., pag. 130. 37 LAB C REP 902/978, SED-Bezirksleitung Berlin, Pionierorganisation und FDJ an den Schulen, 1958–1962, unpag.; LAB, C REP 120/2 202, op. cit., pag. 29; SAPMO, DY 25/2 505, Statistische Halbjahres- und Jahresberichte der Pionierorganisation Ernst Thälmann, 1972–1978, pag. 192.

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Während der Prozentsatz dieser neuen Patenschaftsverträge im landesweiten Durchschnitt in den frühen 1960er Jahren etwa 40 % beträgt,38 liegt er in der ostdeutschen Hauptstadt bei nur 10 %.39 Die Patenschaften entwickeln sich langsam und stagnieren über die 1960er Jahre hinweg. Im Jahre 1968 haben 20 % der Klassen in Ostberlin Patenschaften gegenüber 78 % in der Industriestadt Eisenhüttenstadt in Brandenburg.40 Dieser Rückstand Berlins wird in den Berichten nie thematisiert. Er ist nicht der Schwäche der industriellen Wirtschaft zuzuschreiben, sondern dem Fehlen einer Motivation bei den Betrieben. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre holt die ostdeutsche Hauptstadt ihren Rückstand teilweise auf. Von 1968 bis 1975 steigt der Anteil der Klassen mit Patenschaften von 20 auf 75 %, was auch mit der Zunahme der Brigaden der sozialistischen Arbeit zusammenhängt.41 Die Initiative für Patenschaften geht praktisch ausschließlich von den Schulleitern aus. Mitunter scheitern sie ab den 1970er Jahren aus dem einfachen Grund, dass die Betriebe nicht über genügend Produktionsbrigaden verfügen! Die Lehrkräfte sind wiederum immer zurückhaltend, da sie darin auch jetzt eine zusätzliche Arbeitsbelastung und eine Beeinträchtigung ihres Kompetenzbereichs sehen. Der Wechsel der Ebene führt in keiner Weise zu einer Veränderung in der Praxis. Die Patenschaftsbeziehungen bedeuten weiterhin wertvolle materielle Hilfe für die Schulen. Es ist die Ambition des neuen Typs, regelmäßige persönliche Kontakte zwischen den Arbeitern und den Schülern zu etablieren. Dieser Austausch wird in den Klassenbüchern verzeichnet und häufig in Form von Erzählungen verarbeitet. Diese werden zwar von den Kindern geschrieben, der Text wird aber von der Lehrerin diktiert. Im Mai 1974 besucht die Patenbrigade der Klasse 4a der Lenin-Schule in Friedrichshain die Schüler. Der Bericht über dieses Treffen wird im Klassenbuch hinterlegt: „Am Montag, dem 27. Mai 1974 hatten wir in der 2. Stunde einen Besuch der Patenbrigade. Zwei Frauen waren da. Sie haben uns schon zum Kindertag gratuliert. Sehr viel haben wir bekommen. Schreibpapier, Löschblätter. Der Kuchen überraschte uns am meisten. Danach wurde es keine Unterrichtsstunde mehr, sondern eine Essenkunde [!]. Wir haben uns alle sehr gefreut! Zuletzt hat jeder eine Menge Löschblätter, Malpapier für sich bekommen. Damit hat uns die Patenbrigade eine sehr große Freude gemacht!“42

Die materielle Dimension dominiert diese Art von Austausch weiterhin, und diese unveränderte Wirklichkeit der Patenschaften wird von den SED-Funktionären von 38 39 40 41 42

SAPMO, DY 25/842, Halbjahresstatistik 1961, unpag. LAB, C REP 120/210, FDJ, 1960–1969, pag. 87. Zahlen laut S. Kott, op. cit., S. 349. Ebd., S. 131–134. SM, Kj 97/478 QQ, 09/05/04/02, Gruppenbuch der Pioniere der Klasse 4a, 12. 09. 1973– Juni 1974, unpag.

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Weißensee, die in der Mitte der 1970er Jahre die Pestalozzi-Schule in Weißensee inspizieren, scharfsinnig und verbittert festgestellt: „In 36 Klassen bestehen Patenschaftsbeziehungen, die oft noch zu einseitig auf materielle Unterstützung und ,Feier­vertragsbezeichnung‘ orientieren.“43 Lediglich die Leitung der SED weigert sich, obschon wohlinformiert, die Realität so zu sehen, wie sie ist. Sie rühmt sogar die politisch-ideologische Dimension dieser Art von Beziehungen zwischen Schülern und Arbeitern. Auf dem VIII. Parteitag im Jahre 1971 wird die Patenschaft in den Rang einer „Tradition“ erhoben, was als Hinweis auf die sehr enge Bindung der Herrschenden an diese Praxis verstanden werden muss: „Es ist eine gute Tradition, daß die Arbeiter in den Betrieben unmittelbar auf die Erziehung der jungen Menschen Einfluß nehmen, ihnen die Erfahrung des Klassenkampfes vermitteln und sie mit dem Gefühl der Arbeiterehre erfüllen. Diese Tradition soll gut gepflegt werden.“44

Auf der praktischen Ebene wird der Vertrag, der eine getreue Kopie des alten Patenschaftstexts ist, vom Klassenlehrer und vom Brigadechef abgeschlossen, die jeweils das Einverständnis ihrer Vorgesetzten eingeholt haben.45 Der Wunsch, persönliche Beziehungen zwischen Arbeitern und Schülern herzustellen, kommt in dem Umstand zum Ausdruck, dass der Vertrag offiziell vor der Klasse vom Pioniergruppenleiter (oder dem FDJ-Leiter) und einem Vertreter der Brigade unterzeichnet wird. Bis dahin waren die Kontakte auf bestimmte sporadische Gelegenheiten wie dem Schulbeginn nach den Ferien, dem Besuch des Betriebs oder die Jugendweihe beschränkt gewesen. Fotos, die sich in den Gruppenbüchern der Pioniere in der Lenin-Schule in Friedrichshain finden, illustrieren diese Form der Zeremonie. Am 26. April 1974 unterzeichnet eine Schulklasse ihren Patenschaftsvertrag mit einer Arbeiterbrigade, die sich im Gebäude befindet.46 Diese Unterzeichnung findet im Rahmen einer offiziellen Zeremonie statt, in deren Verlauf ein Schüler, der zum Pioniergruppenleiter gewählt worden ist, im Namen der Klasse seine Unterschrift unter den Patenschaftsvertrag setzt. Danach posiert die Klasse zum Abschluss der Zeremonie mit den Erwachsenen für ein Erinnerungsfoto. Die Multiplizierung dieser Gesten reflektiert letztlich die totale Abwesenheit von Dialog: Die Erwachsenen haben den Kindern nicht viel zu sagen und möchten sich auf eine Rolle des

43 LAB, C REP 903-01-08/599, op. cit., unpag. 44 Zitiert in: G. Steuden, „Für eine höhere Qualität der Beziehungen zwischen Schule und Betrieb“, in: Pädagogik, Bd. 27, Nr. 9, 972, S. 798. 45 PBM, 0457-99, Patenschaftsvertrag 30. OS, 1987, unpag. 46 SM, Kj 97/480 Q. Q, Gruppenbuch der Pioniere der Klasse 1a und 2a der Lenin-POS, September 1973–Mai 1975, unpag.

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Abb. 10 Patenschaftszeremonie zwischen der 1. Klasse der Lenin-OS in Friedrichshain und einer Arbeiterbrigade, April 1974

­ ateriellen oder finanziellen Unterstützers beschränken, ohne sich konkret in die m edukative Arbeit einzubringen. Das Foto ist insofern interessant, als es die von den Brigaden laufend ange­wandte Technik widerspiegelt, um vorzuspiegeln, sie würden sich im schulischen Feld enga­ gieren. Das Volksbildungsministerium wünscht, dass die Brigaden sich vorrangig mit Schülern im Alter zwischen 12 und 18 Jahren befassen, das heißt mit denen, die direkt von der polytechnischen Ausbildung betroffen sind. Es geschieht aber gerade das Gegenteil: Die Brigaden schließen in den meisten Fällen Patenschaften mit Kindern ab und lassen die Jugendlichen links liegen. Es ist für sie einfacher, kleine Kinder zu betreuen, weil dies nicht das gleiche Engagement erfordert – insbesondere nicht in ideologischer Hinsicht: „Viele Brigaden wollen die unteren Klassenstufen als Patenklasse haben, da es sich dort leichter arbeiten läßt.“47 Die Patenschaft über Oberschulklassen zieht dagegen das Organisieren von politischen Diskussionen und Begegnungen zur Berufsorientierung nach sich. Tatsächlich aber haben die Brigademitglieder häufig weder Zeit noch Lust, sich dieser edukativen und ideologischen Dimension zu widmen.

47

LAB, C REP 145-13/78, Rat des Stadtbezirks Treptow, Abt. Volksbildung, Patenschaftsvertrag zwischen dem VEB.

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1970 zieht die SED-Leitung in Ostberlin eine Bilanz der Patenschaftsbezie­ hungen: „60 % aller Klassen haben Patenschaftsverträge: In den oberen Klassen ist die Patenschaftsbeziehung geringer. Es fehlt das Zusammenwirken Schuljugend-Arbeiterjugend.“48

Dieses Phänomen, das bereits in den späten 1960er Jahren von den Pädagogen als „zum Guten Onkel-Verhältnis“49 beklagt wird, bleibt bis in die 1980er Jahre bestehen. 1984 stellt die SED-Leitung Marzahn in einem Bericht über die Patenschaften im Bezirk fest, dass die örtlichen Betriebe weiterhin eher Patenschaften über Klassen mit jungen Schülern außerhalb des Bezirks übernehmen als sich mit den Jugendlichen zu beschäftigen, die in Marzahn zur Schule gehen!50 Davon abgesehen ist das Engagement der Arbeiterbrigaden nicht vollkommen gratis. Es dient den Eigeninteressen dieser Mikrostruktur. Die Funktionäre der Schulbehörden des Bezirks Friedrichshain etwa beklagen den Umstand, dass die Brigaden nur dann eine patenschaftliche Aktivität entwickeln, wenn ein kollektiver Titel zu gewinnen ist, das heißt eine Prämie.51 Schließlich bringt die neue Patenschaftsformel die „Arbeiterklasse“ auf dem schulischen Feld noch stärker als in der Vergangenheit in Konkurrenz zur Armee. Am 19. November 1965 autorisiert eine „Richtlinie über die Einflussnahme der Arbeiter, Genossenschaftsbauern und der Angehörigen der Intelligenz auf die sozialistische Bildung und Erziehung der Kinder … durch die sozialistischen Patenschaftsbeziehungen“ die Schulen, Verträge zwischen Schulklassen und Einheiten der NVA oder der Polizei abzuschließen.52 Diese Praxis entwickelt sich und wird sporadisch erwähnt in den Berichten der Bezirksschulämter, aber es sind keine genauen Zahlen überliefert. Den Statistiken des Zentralinstituts der Pionierorganisation von 1977 zufolge werden 92 % der Verträge in Ostberlin mit Industriebrigaden abgeschlossen.53 Es fällt den Arbeiterbrigaden mitunter schwer, in der Wahrnehmung der Schüler im Vergleich mit den Militärs zu bestehen. Der „Glanz der Uniform“ und das Waffentragen üben einen beträchtlichen Reiz auf manche Kinder und Jugend48

LAB, C REP 902/2 841, SED-Bezirksleitung Berlin, Abt. Wissenschaft und Bildung, Ideologische Arbeit, 1968–1971, unpag. 49 G. Neubert/S. Schmidt, „Für vielfältige Beziehungen zwischen Schülern und Werktätigen“, in: Pädagogik, Nr. 4, 1967, S. 319. 50 LAB, C REP 910/8 951, Ergebnisse, Erfahrungen und Probleme der gewerkschaftlichen Einflußnahme bei der Patenschaftsbeziehung Betrieb-Schule und Arbeitskollekiv-Schulklasse, Dezember 1984, unpag. 51 LAB, C REP 135-13/110, Stadtbezirk Friedrichshain Patenschaftsbeziehungen EOS-Betriebe, 1966–1969, unpag. 52 Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung, 1966, S. 81–84. 53 SAPMO, DY 25/ 2 505, Statistische Halbjahres- und Jahresberichte der Pionierorganisa­ tion Ernst Thälmann, 1972–1978, pag. 205.

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liche aus. J. H., die 1976 geboren wurde, erinnert sich, dass sie und ihre Kameraden die Nachbarklasse, die mit einer Militäreinheit verbunden war, beneideten: „Viele Male im Jahr musste man die Patenbrigade besuchen. Und das war immer sterbenslangweilig. Das war eine werktätige Brigade von Werkzeugherstellern vom 7. ­Oktober-Kombinat. Die hatten uns nichts zu sagen und wir denen nichts, und [da] saßen wir eine Stunde zusammen am Tisch und haben Streuselkuchen gegessen und uns zu Tode gelangweilt. Die Kinder haben miteinander geredet, und die Erwachsenen [haben] miteinander geredet. Ich habe immer die Nachbarklasse beneidet. Deren Patenbrigade war bei der NVA, und sie haben Geländespiele und so was gemacht. Das war interessant, aber unsere Patenbrigade war langweilig.“54

Dieser nachträgliche Diskurs enthält eine beträchtliche Abqualifizierung der Arbeiter, die sich zweifellos durch die soziale Distanz erklärt, die J. H. auch sonst gegenüber jeder Person zum Ausdruck bringt, die nicht ihrem sozialen Milieu angehört. Dies sollte uns aber nicht dazu verleiten, die Faszination, die die Armee auf viele Kinder ausübte, zu leugnen. Der Versuch zur Erneuerung der Praxis der Patenschaften in Form einer Vertiefung (Patenschaften Klasse – Brigade) und Erweiterung (Öffnung für Militäreinheiten) wurde als Wunsch ausgegeben, den Kontakt zwischen den Generationen zu intensivieren. Das Modell leidet unter den gleichen Defiziten, wie sie bereits für die 1950er Jahre beobachtet wurden, und ganz allgemein am mangelnden Engagement der Arbeiter außerhalb der Zeiten, in denen es um die Gewinnung von Prämien geht. Neben den Patenschaftsfunktionen sollen die sozialistischen Betriebe die Schüler nun auch während der produktiven Arbeitszeit in den Betrieben betreuen. Die konkrete Entdeckung der industriellen Welt soll eine Art der Erziehung zur „Liebe zur Arbeit und zur Arbeiterklasse“ darstellen.

Die produktive Arbeit im Betrieb, oder: Die Praxis der Enttäuschung Im Januar 1959 charakterisiert der Sekretär des Zentralkomitees der SED Kurt ­Hager die Einführung des Tags der Produktiven Arbeit im Betrieb, die seit dem Schulbeginn im September 1958 in Kraft ist, so: „Das ist eine neue, höhere Form der unmittelbaren Einflußnahme der Arbeiterklasse und aller fortschrittlichen Kräfte auf die sozialistische Erziehung der Schuljugend.“55 Der neue Lehrplan sieht 54 55

Transkription des Interviews mit J. H. vom 18. Dezember 2003, pag. 2. K. Hager, Die weitere Entwicklung der polytechnischen sozialistischen Schule in der DDR. Referat auf der 4. Tagung des ZK der SED, Berlin-Ost 1959, S. 3.

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für Schulkinder von 13 bis 16 Jahren einen praktischen Unterricht von vier Wochenstunden in einem Industriebetrieb oder einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft vor, den Unterrichtstag in der Produktion (UTP). Der Betrieb wird damit ein vollwertiger Erziehungsort, was einer dreifachen Inspiration entspringt. Der Transfer von edukativen Kompetenzen an die Betriebe steht zunächst einmal in einer Tradition, die vom deutschen Bildungssystem übernommen wurde und am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Industrialisierung entstanden war; sie hängt mit der Bedeutung der Lehre in der deutschen industriellen Kultur zusammen.56 Dann nimmt das Regime deutlich Bezug auf die marxistische Tradition, wie sie im Kommunistischen Manifest („Verbindung der Ausbildung mit der materiellen Produktion“57) zum Ausdruck kommt. Schließlich nehmen die ostdeutschen Pädagogen die Gedanken Krupskajas, die in der UdSSR seit dem Tod Stalins eine Renaissance erlebt haben, wieder auf. Der UTP soll eine möglichst weitgehende Annäherung zwischen den Schülern und der Welt der industriellen Arbeit ermöglichen. Der Transfer der edukativen Kompetenzen an den Betrieb ist hingegen dem Denken der Reformpädagogik fremd; diese insistiert in erster Linie auf der Ausbildung zu handwerklicher (also nichtindustrieller) Arbeit in Werkstätten innerhalb der Schule. Die DDR bildet offensichtlich innerhalb des Ostblocks ein sehr ausgeprägt industrielles sozialistisches Modell, denn zur gleichen Zeit lehnen die polnischen kommunistischen Führer (Gomułka und sein Bildungsminister Bieńkowski) die Idee eines Praktikums im Betrieb ab.58 Konkret werden die Vorbereitung und Durchführung des UTP in jeder einzelnen Schule einem polytechnischen Rat übertragen, der aus dem Direktor der Schule, dem Lehrer für die theoretischen Stunden zur Produktion und dem Vorarbeiter des Betriebs besteht, der die Schüler aufnimmt. Ab 1970 heißt der Unterrichtstag offiziell Produktive Arbeit (PA). Der semantische Übergang vom Unterricht zur ­Arbeit ist nicht ohne Interesse, denn er spiegelt die Bedeutung wider, die dieser Wert für die Erziehungsbehörden hat. Ab dem Alter von 15 Jahren kombinieren die Schüler den wöchentlichen Unterricht mit einem vierzehntägigen Praktikum in den Ferien.59 In der ersten Hälfte der 1960er Jahre nehmen etwa 120 Berliner Betriebe aus folgenden Branchen Schüler der POS und EOS auf:

56 W.-D. Greinert, Das deutsche System der Berufsausbildung. Geschichte, Organisation, Perspektiven, Baden-Baden 1993. Siehe auch J. Großewinkelmann, Zwischen Werk- und Schulbank. Duales System und regionale Berufsausbildung in der Solinger Metallindustrie 1869–1945, Essen 2004. 57 K. Marx/F. Engels, op. cit., S. 482. 58 Nowa Szkoła, Nr. 7/8, 1958, S. 2–7. 59 Dieses Praktikum kann auf dem Land auf den kollektiven Höfen absolviert werden.

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Tabelle 18:  Aufnahme von UTP-Klassen nach Branchen der Betriebe in Berlin-Ost 1964 (in%)

Maschinenbau

37,5

Elektronische Industrie

26

Transport

15

Holz

2

Energie

2,5

Metallindustrie

1,3

Landwirtschaft

1,8

Chemie

1

Andere

12,9

Fast zwei Drittel der Berliner Schüler machen ihre Praxisstunden in Betrieben für Maschinenbau oder Elektronik. Diese Verteilung ist von der SED gewollt, da sie die Schüler entsprechend dem Bedarf der ostdeutschen Wirtschaft lenken will. Obwohl dies in den Quellen nur schwer quantifizierbar und wahrnehmbar ist, scheint es bereits eine geschlechtsbezogene Differenzierung zu geben: Die Mädchen arbeiten vor allem in Textil- und Elektronikfabriken, während die Jungen im Maschinenbau tätig sind. Da es in den Betrieben an Arbeitsplätzen fehlt, werden die 13- bis 14jährigen Schüler selten in den Fertigungsgebäuden selbst empfangen. Sie werden in „polytechnischen Einrichtungen“, die neben den Hauptgebäuden eingerichtet werden, von Vorarbeitern betreut, die der Betrieb dafür abstellt.60 Sie haben daher sehr wenig Kontakt zur Produktion im engeren Sinne. Die Oberschüler hingegen arbeiten in den Fabriken selbst, im Allgemeinen Seite an Seite mit den Arbeitern. Sie werden zu kleinen Gruppen in die sozialistischen Brigaden integriert oder bilden eigene Schülerproduktionsbrigaden. Auch ist es möglich, dass sie von den Arbeitern getrennt und in eine angeschlossene Werkstatt verschoben werden, wie ein SED-Funktionär 1973 anlässlich einer Inspektion der Pestalozzi-Schule in Weißensee mit Bitterkeit feststellt: „Den UTP führen unsere 7. bis 10. Klassen im VEB Werkzeugmaschinenkombinat „7. Oktober“ durch. Der direkte Einfluß der Arbeiter auf die Schüler, ihre Einbeziehung in die Problematik des Betriebes ist jedoch gering, denn die Schüler werden zu wenig in den unmittelbaren Produktionsprozeß einbezogen. Sie arbeiten isoliert von den Arbeitern in besonderen Ausbildungsstätten.“61 Diese Abtrennung 60 61

BBF 80.2112, Ministerium für Volksbildung (Hg.), Polytechnische Einrichtungen – Handreichung für Betriebe, Genossenschaften und örtliche Organe zum Bau von Einrichtungen des polytechnischen Unterrichts, Berlin 1979. LAB, C REP 903-01-08/599, op. cit., unpag.

Die sozialistische Schule

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resultiert letztlich aus dem Problem für die Betriebsleiter, ihre ökonomische Produktionsfunktionen (d  .h. die Plansollerfüllung) mit ihren edukativen Aufgaben in Übereinstimmung zu bringen. Die Betriebskader fürchten in vielen Fällen, dass die Eingliederung der Schüler in die Produktion die reibungslosen Abläufe in der ­Fabrik behindert. Die Einrichtung dieser Produktionsstunden stößt zudem auf beträchtliche orga­nisatorische Probleme, die die Aufgabe der Verantwortlichen in den Betriebsleitungen komplizieren. Die Einführung der praktischen Stunden in Verbindung mit Praktika während der Schulferien stellt schon deshalb ein Problem dar, weil ­Arbeitsplätze zur Verfügung stehen müssen. Die meisten Betriebe nehmen unter der Woche außerdem Schüler der Berufsschulen62 sowie ihre eigenen Lehrlinge auf, die die Polytechnische Oberschule verlassen haben. Diese Anhäufung von betreuungsbedürftigen jungen Leuten verursacht Probleme bei der Planung der Produktion.63 Wie ein Funktionär des Schulamts Friedrichshain feststellt, gehen einige Betriebe so weit, dass sie sich weigern, Arbeitsplätze für die Schüler bereitzustellen: „Trotz vieler Bemühungen durch die Kreisplankommission, durch den Stadtbezirksbaudirektor und den Stadtbezirksschulrat ist es noch nicht gelungen, beim Direktor des VEB Baureparaturen die Bereitschaft zu erreichen, Plätze für den produktiven Unterricht zur Verfügung zu stellen. Damit kann bis jetzt die Festlegung der Bezirksleitung der SED, 10 % der Schüler in der Bauindustrie zu unterrichten, nicht realisiert werden. Ähnliche Schwierigkeiten bereitet die Aufnahme des produktiven Unterrichts im VEB Gummiwerk.“64

Die enormen logistischen und organisatorischen Probleme stoßen zudem ab den 1960er Jahren auf Kritik, die von den Schülereltern auf dem Wege von Eingaben formuliert wird. Sie fordern Produktionsstunden höherer Qualität und zeigen sich beunruhigt über die Arbeitsbedingungen.65 In diese Kritik stimmen die Lehrkräfte, die mit dem theoretischen Unterricht betraut sind, mit ein: „Eine ganze Anzahl von Eingaben und Beschwerden betraf Mängel in der Durchführung des Unterrichtstages in der Produktion. So wurden z. B. unhaltbare Zustände im VEB Birkholz kritisiert. […] Auch im VEB Secura und beim VEB Schleifmaschine wurden beanstandet durch die Lehrer, z. T. stehen die Schüler herum und erhalten keine dem Lehrplan entsprechende Arbeit zugewiesen, so daß die theoretische Unterweisung mit der praktischen Arbeit nicht übereinstimmt.“66 62 63

Die große Mehrzahl der Berufsschulen ist in den Betrieben selbst untergebracht. LAB, C REP 902/1991, Systematisierung des polytechnischen Unterrichtes, der schrittweisen Einführung der beruflichen Grundausbildung und der Einrichtung von Spezialschulen und -klassen von 3. 7. 1963, unpag. 64 LAB, C REP 903-01-01/960, SED-Kreisleitung Friedrichshain, Erziehungseinfluß der ­Arbeiterklasse. Einschätzung und Bericht von der Entwicklung der POS, 1980, unpag. 65 LAB, C REP 120/2223, op. cit., pag. 87. 66 Ebd., pag. 30.

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Der UTP bringt also regelmäßig Schüler und Arbeiter für einige Stunden (einen Vor- oder Nachmittag) in Kontakt miteinander. Letztere werden im Unterricht als wahre Helden vorgestellt. In den offiziellen Parteiarchiven betonen die Berichte auf jeder Hierarchieebene den Einfluss, den die Arbeiter auf die Schüler ausüben und die kameradschaftlichen Beziehungen, die sich dabei entwickeln: „Die Einflußnahme der Produktionsarbeiter auf die Bildung und Erziehung der Schüler erhöhte sich. Immer besser gelingt es, die Schüler bewußt mit Fragen der Produktionsorganisation, mit Problemen des Produktionsprozesses und des Kampfes um die weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität bekanntzumachen. Die Schüler erleben die engen kameradschaftlichen Kontakte zwischen den Kollegen. Den meisten Schülern macht das Arbeiten und Lernen im Betrieb Freude, weil sie erfolgreich tätig sein können und ihnen Betreuer zur Seite stehen, die ihnen kameradschaftlich helfen und ihnen den Nutzen ihrer Arbeit bewußt machen.“67

Das sehr positive, gleichsam idyllische Bild, das die offiziellen Berichte hinterlassen und in dem die Werte Kameradschaft und Nützlichkeit im Vordergrund stehen, ist auf der Grundlage anderer Quellen zu differenzieren. Bei aller methodologischer Vorsicht, die es gegenüber dem häufig negativen nachträglichen Diskurs über die DDR zu wahren gilt, lässt sich die Erfahrung des UTP sehr gut aus Interviews mit Personen rekonstruieren, die den verschiedenen Generationen angehören. J. K., geboren 1944 und Sohn eines Neulehrers, gehört der ersten Generation von Oberschülern an, die im Jahre 1958 in die Betriebe geschickt werden. Er beschreibt den Kulturschock, den er während seines Aufenthalts in der Fabrik erlebt hat: „Das war alles schrecklich. Das war für mich ungewohnt. Wir waren beim Lokomotivund Maschinenbau. Die Atmosphäre war dreckig, dunkel, unordentlich. Die Sitten waren schrecklich. Das war unangenehm. Und es gab keine Pause. […] Die Arbeiter haben uns als lästig, als störend wahrgenommen. Nur die jungen Mädchen fanden sie interessant! Aber die Jungen störten.“68

Wie diese Sätze zeigen, war der Aufenthalt in der Fabrik in erster Linie eine akustisch und visuell traumatisierende Erfahrung: der Geruch, der Schmutz, der Lärm, die Verhaltensweisen der Arbeiter. Die Realität ist weit von dem entfernt, was die Schüler in der Schule über die Arbeiterklasse und die sozialistischen Betriebe haben hören können. Der Bericht J. K.s spiegelt die soziale Distanz zwischen seinem gewohnten sozialen Umfeld und der Welt des Betriebs wider. Er übermittelt ein wenig schmeichelhaftes Bild der Arbeiter, die als „Schürzenjäger“ gezeichnet werden, was auch auf indirekte Art eine gewisse Eifersucht zum Ausdruck bringt. Abgesehen von den Anpassungsproblemen an eine Welt, die sich von der der Schule unterscheidet, sind die Schüler regelmäßig mit dem Problem des Rohstoff67 68

LAB, C REP 903-01-01/960, op. cit., unpag. Transkription des Interviews mit J. K. vom 16. März 2004, pag. 7–8.

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mangels und damit letzten Endes mit Untätigkeit konfrontiert. Im Jahre 1967 betont das Schulamt des Bezirks Mitte die unmittelbaren Probleme mit konkreten Schwierigkeiten der Planwirtschaft: „Im VEB BSG war der Produktionsfluß durch Fehlen einzelner Teile nicht gesichert. Für die Schüler der 9. und 10. Klassen konnte dadurch nicht genügend lehrplangerechte Arbeit zur Verfügung gestellt werden, und einige Klassen wurden vor Unterrichtsschluß nach Hause geschickt.“69 Dieser Mangel an Rohstoffen ist eine ständige Begleiterscheinung der Erfahrungen, die die Schüler in den Betrieben machen. Darüber hinaus ist die Arbeit, die die Vorarbeiter den Schülern geben, in aller Regel langweilig und monoton. Es handelt sich um sehr repetitive Hilfsarbeiten, die etwa darin bestehen, Schraubmuttern zu zählen, Eisenstangen zu feilen, in einer Stunde 600 Löcher in Metallplatten zu bohren. Die Erfahrung der Monotonie der Arbeit wird in der Mitte der 1960er Jahre von Funktionären der Pionierorganisation der 11. Schule in Friedrichshain erwähnt: „Die Pioniere der 7. und 8. Klassen der 11. Oberschule in Friedrichshain kritisieren, daß sie seit Monaten feilen. Leider begegnet man dieser Meinung so oft, daß man einschätzen muß: Der UTP ist im heutigen Stand völlig unbefriedigend gestaltet.“70

Ein Funktionär der Ostberliner SED-Leitung lenkt die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten 1964 auf die Konsequenzen der Monotonie für die Attraktivität bestimmter Berufe: „In vielen Fällen werden die Schüler z. T. überwiegend mit Hilfsarbeiten bzw. in Metallbearbeitung so lange mit dem Feilen beschäftigt, daß bei ­einem Teil der Schüler, besonders bei Mädchen, eine Abneigung gegen Metallberufe entsteht.“71 Die Monotonie wird auch in diesem Bild deutlich, das Volker Döring72 in den 1980er Jahren in einem Betrieb am Prenzlauer Berg aufgenommen hat. Die Schü69 70 71 72

LAB, C REP 120/2 199, Informationsberichte an das Mf V, 1967, pag. 55. LAB, C REP 120/2 408, Pionierorganisation, 1962–1964, pag. 64. LAB, C REP 902/1991, op. cit., unpag. Döring, geboren 1952, war bis in die Mitte der 1980er Jahre Lehrer für Physik und Mathematik im Prenzlauer Berg. Seit 1979 hat er sich autodidaktisch als Fotograf versucht. Aus gesundheitlichen Gründen muss er 1984 den Schuldienst quittieren und wird in die Schulverwaltung des Bezirks Prenzlauer Berg versetzt. Um ein Erinnerungsstück an seine Lehrtätigkeit zu haben, beschließt er in den Jahren 1986/1987, den schulischen Alltag im Prenzlauer Berg zu fotografieren. Er erhält eine uneingeschränkte Genehmigung der Schulbehörde, in allen Schulen des Bezirks Aufnahmen zu machen. Damit ist uns ein Bestand von etwa 3 000 Fotografien überliefert, der größtenteils 1994 dem Museum für Kindheit und Jugend in Berlin übergeben wurde. 1996 hat Döring aus seinem Fotomaterial ein Album mit einem Essay von Christoph Dieckmann und von der Leiterin des Museums für Kindheit und Jugend Nele Güntheroth zusammengestellten Dokumenten angefertigt: V. ­Döring, Fröhlich sein und singen. Schule vor der Wende, Berlin 1996; N. Güntheroth/C. Lost, „Lebensart Schule. Die DDR-Schule in den 80er Jahren im Spiegel eines Fotosatzes“, in:

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Abb. 11  UTP in einem Betrieb im Prenzlauer Berg 1986

ler arbeiten auf Anordnung eines Vorarbeiters in einem Raum, der vom Rest des Unternehmens isoliert ist. Die Aufgabe der Schüler, die im Vordergrund sitzen, besteht darin, Metallstücke zu feilen. Mehr denn ihre Körperhaltung – sie sind auf ihre Aufgabe konzentriert –, ist es die Anordnung der Metallstücke auf dem Tisch, die diesen Eindruck des Monotonen unterstreicht. Was diese Schüler neben der Repetitivität zu prägen scheint ist die Erfahrung des Drucks durch das Plansoll. Im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre legen die Anordnungen der Bezirksschulämter den Akzent auf die Integration der Schüler in den „Kampf um die Normenerfüllung“. 1978 fordert Margot Honecker in einer Rede unter dem Titel „Der gesellschaftliche Auftrag unserer Schule“,73 die Produktion der Schüler in die Produktionsplanung der Betriebe einzubeziehen und die Jugendlichen endlich als normale Arbeitskräfte zu betrachten. Ein SED-Funktionär in Friedrichshain verzeichnet 1980 in seinem Bericht über sechs Betriebe, die Schüler zur Praktischen Arbeit aufnehmen: „Die produktive Arbeit der Schüler [wird] so gestaltet, daß sie

73

H. Schmitt/J.-W: Link/F. Tosch (Hg.), Bilder als Quellen der Erziehungsgeschichte, Bad Heilbronn 1997, S. 334–351. M. Honecker, Der gesellschaftliche Auftrag unserer Schule. Referat des Ministers für Volksbildung auf dem VIII. Pädagogischen Kongress, Volk und Wissen, Berlin, 1979, S. 60ff.

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unmittelbar in den Kampf um die Planerfüllung, um die Erhöhung der Qualität der Erzeugnisse und um die Senkung des Ausschusses einbezogen werden.“74 Die Einbeziehung der Schüler in die Planwirtschaft nimmt über die 1970er Jahre immer weiter zu. Zwar verfügen wir nur sporadisch über Zahlenangaben; diese bestätigen aber diese Entwicklung. In Friedrichshain nimmt die Zahl der Schüler, die unmittelbar in die Produktion eingebunden sind, zwischen 1974 und 1981 um 66 %, nämlich von 255 auf 425, zu. Im VEB Berliner Bremsenwerk (BBW) wird die gesamte Produktion von Bremszylindern (4 000 monatlich) und Ventilatoren von Schülern gewährleistet. Faktisch verwandelt sich der PA-Unterricht von einer Initiation in die manuelle Arbeit in Arbeitsstunden, und die Schüler werden unbezahlte Produktivkräfte. Diese Dimension der Fabrikerfahrung ist in den Interviews mit Schülern, die Anfang der 1970er Jahre geboren wurden, sehr präsent. T. S. erinnert sich an den Druck: „Es gab schlimme Sachen mit den Normen. Ganz schlimm. Körperliche Arbeit ist vollkommen OK, aber diese Normen haben uns unter Druck gesetzt.“75 Dieser Normendruck wird in einer der zahlreichen Anfang der 2000er Jahre erschienenen Autobiographien über die Kindheit in der DDR behandelt. Daniel Wiechmann beschreibt in einem Kapitel seines Buches die Erfahrungen in der Fabrik so: „Der PA-Unterricht fand keineswegs nur so zum Spaß statt, sondern für jede Tätigkeit war eine Norm festgelegt, die es zu erreichen galt. Am Ende der Unterrichtsstunde gab es eine der Normerfüllung oder Nichterfüllung entsprechende Note.“76 Auch dieser Aspekt wird von Volker Döring in den 1980er Jahren fotografisch dokumentiert. Er zeigt uns einen Schüler, der seine Produktionsergebnisse auf einer Tafel im Raum des Brigadepersonals notiert. Dieses Veröffentlichen der Produktionszahlen auf einer Tafel soll bei den Schülern ein Gefühl für Wetteifer und Wettbewerb wecken. Stärker noch als das Erleben des Schmutzes oder des Normendrucks erfahren die Schüler die soziale Distanz zwischen sich und den Arbeitern – insbesondere Kinder, die aus Funktionärsfamilien stammen. Das erste Beispiel ist T. S., der sehr schön dieses Gefühl der Enttäuschung zum Ausdruck bringt, obwohl er niemals ein engagierter junger Sozialist gewesen ist. Er ist 1972 geboren und entdeckt die Welt des Betriebs in der Mitte der 1980er Jahre. Seine Enttäuschung versteckt er, als er auf den Kontakt mit den Arbeitern zu sprechen kommt, hinter einer gewissen Herab­ lassung:

74 75 76

LAB, C REP 903-01-01/960, op. cit. Transkription des Interviews mit T. S. vom 8. September 2004, pag. 6–7. D. Wiechmann, Immer bereit! Von einem Jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen, München 2004, S. 104.

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Abb. 12  UTP in einem Betrieb im Prenzlauer Berg, 1986

„Es war sehr monoton, entwürdigend wenn man Integralrechnung kann. Ich hatte Kontakte mit Arbeitern, die sich eine Nische geschaffen haben. Die waren an einem Sägeplatz tätig. Sie arbeiteten nur dreimal in der Woche, weil die PA-Schüler an ihrer Stelle den Rest der Zeit gearbeitet haben. Und sie haben Radio gehört und gesoffen. Du bist zum Betrieb gegangen mit der Idee, Facharbeiter zu werden, Spaß zu haben, und du hast gesehen, daß alle dreckig waren, und daß sie [die Werktätigen] besoffen waren, und daß alle nur geschummelt haben, und daß alle geklaut haben. So sieht der Sozialismus in der Realität aus.“77

Hinter diesen sehr harten Worten kommt die ganze soziale Distanz zischen Oberschülern und Arbeitern zum Vorschein. Hinter den Bezichtigungen des Diebstahls und des Betrugs scheint bei T. S. seine völlige Unkenntnis der tatsächlichen Funktionsweise eines sozialistischen Betriebs, das auf Arrangements beruht, durch. Wir müssen uns nochmals klar machen, dass wir es mit einem äußerst abwertenden nachträglichen Diskurs zu tun haben, der dazu dient, Distanz zu schaffen zu diesem Erziehungsmodell und zur DDR. Es bleibt uns noch festzuhalten, dass diese Distanz beiderseits empfunden und geübt wird, womit wir die Vorstellung vom Betrieb als einem Ort sozialer Integration und der Konstruktion eines gemeinschaftlichen Bandes zwischen den Generationen differenzieren können. Mehr als andere Schüler erzogen im Glauben an eine 77

Transkription des Interviews mit T. S. vom 8. September 2004, pag. 6–7.

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Arbeiterklasse, die engagiert ist und motiviert für die Arbeit, entdeckt die künftige Elite des Sozialismus Arbeiter, die Material stehlen, auf der Arbeit Westradio hören … Diese Erfahrung bringt die am wenigsten engagierten Schüler dazu, am Sozialismus und an dem, was sie in der Schule lernen, zu zweifeln. Sie öffnet ihnen den Blick auf eine kaum goldene Zukunft als Facharbeiter. Ein interessanter Fall von Interaktion zwischen einer Arbeiterin und einer Oberschülerin wird im Bericht einer Schülerin mitgeteilt, die Ende der 1970er Jahre als IM für die Stasi tätig ist. Als Schülerin der 11. Klasse der Gerhart HauptmannOberschule in Köpenick erzählt diese 16jährige Jugendliche von einer Episode, die während des Fabrikpraktikums in den Frühjahrsferien 1980 stattfindet: „Heute wurde in unserer Klasse über einen Vorfall während des Praktikums diskutiert. Die Schülerin C. P., deren Vater Offizier der Grenztruppen ist, beschwerte sich bei ihrem zuständigen Abteilungsleiter in einem Weberwerk des WF über eine Frau, mit der sie zusammenarbeitete, da diese mit einem kleinen Radio RIAS hörte. Vorher sprach sie aber nicht mit der Frau. Der Abteilungsleiter soll diese Kollegin sehr ernst zurechtgewiesen haben. Von der Direktion und unserem Klassenlehrer wurde sie für ihr Verhalten sehr gelobt.“78

Dabei ist es von Interesse festzuhalten, dass dieses Verhalten auch von den übrigen Schülern als positiv eingeschätzt wird. Die Kameraden werfen ihr allerdings vor, dass sie direkt zum Vorgesetzten gegangen sei, ohne eine „ideologische Konfrontation“  – d. h. einen Dialog  – mit der Arbeiterin gesucht zu haben. Der Bericht der jungen Stasi-IM zeigt, in welchem Maße die Entdeckung der Betriebswelt Enttäuschungen und Desillusionierungen für engagierte Jugendliche bereithält. Diese üben mitunter eine viel schärfere Form von politischer Kontrolle aus, da sie nicht mit dem System der Kompromisse und Arrangements vertraut sind, das in den Fabriken zwischen Arbeitern und Direktionen eingespielt ist. Der polytechnische Unterricht ist Ausdruck des Willens des Staates, über eine Erweiterung theoretischer naturwissenschaftlicher Kenntnisse, technische und naturwissenschaftliche außerschulische Aktivitäten und praktischer Erfahrungen in der Fabrik eine Generation qualifizierter Arbeiter heranzubilden. Der Betrieb wird in Bezug auf seine edukativen Funktionen gestärkt, wobei die Patenschaften und die Praxisstunden in den Betrieben nicht immer die erhofften Resultate erbringen. Auf diese Weise endet die Entdeckung der Wirklichkeit im sozialistischen Betrieb häufig in einer Enttäuschung auf Seiten der Schüler, einem Gefühl, das sich bei den befragten Personen nach der Wiedervereinigung noch hat verstärken müssen. Auf jeden Fall aber hat dieses edukative Modell alle Schülergenerationen, die seit den frühen 1950er Jahren geboren werden, zu einem Glauben an den wissenschaftlichtechnischen Fortschritt erzogen. 78

BStU, MfS, AIM 8330/85, Berichte des IM Karin Lenz, 1978–1984, pag. 42.

Kapitel X Generationen des real existierenden Sozialismus? „In unserer Gesellschaft sind Partei und Jugend eins, weil der Sozialismus mit seinen Zielen des Friedens und des Volkswohlstandes den Idealen der jungen Generation ­entspricht und allen Jugendlichen die Perspektive einer sicheren Zukunft bietet.“1 (Erich Honecker, April 1981 auf dem X. Parteitag der SED)

Wir gelangen nun zu einem heiklen Aspekt unseres Forschungsvorhabens, nämlich der Rekonstruktion der Rezeption der sozialistischen Erziehung durch die Schüler in Ostberlin in den 1960er und 1970er Jahren. Im Zentrum unserer Analyse stehen die Lernprozesse, die Internalisierung der Normen und Werte, die von der sozialistischen Schule vermittelt wurden. Untersuchungen, die auf dem Totalitarismus-Paradigma aufbauen, verwechseln Übermittlung und Aufnahme, indem sie von der Vermutung ausgehen, dass der Empfänger, das heißt der Schüler, der einem diktatorischen Regime unterworfen ist, die Botschaft des Senders vollständig und ohne Veränderungen empfängt und dass es keine Kluft zwischen der Absicht des Senders und dem Empfang gibt.2 Tatsächlich gibt es aber keine unmittelbare und vollständige Übermittlung von Botschaften. Man weiß nie, wie die Schüler die verbreitete Ideologie interpretieren und am Ende umkodieren. Wie verarbeiten sie also die unumgängliche ideologische Schulung, die in jedem Unterrichtsfach präsent ist und während der außerschulischen Aktivitäten vermittelt wird? Welchen Sinn erhalten die Konzepte des Kommunismus, der Revolution, des Sozialismus und des Vaterlands für die jungen, in den 1950er Jahren geborenen Menschen, die nur die DDR kennen? Welche Gefühle hegen sie gegenüber der SED, der UdSSR? Welchen Wert schreiben sie dem Antifaschismus zu? Die Untersuchung der Bedeutung einiger von den Schülern definierter Konzepte ermöglicht es uns, den Grad der Integration und des Verständnisses der Begriffe zu messen, die vom Regime über die Schule und die Jugendorganisationen verbreitet werden. Zu diesem Zweck kann sich der Historiker nicht nur auf die soziologischen Umfragen stützen, die das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ)3 1 2 3

E. Honecker, „Bericht des ZK der SED an den X. Parteitag der SED“, April 1981, in: H. Barthel (Hg.), Politische Reden in der DDR. Eine kritische Dokumentation, St. Ingberg 1998, S. 44. In Frankreich haben Denker wie Edgar Morin, Roland Barthes, Georges Friedman oder Robert Escarpit in den 1960er Jahren die Auffassung der Frankfurter Schule, die von einer direkten Wirkung von Botschaften auf den Adressaten ausgeht, widerlegt. Dieses von Walter Friedrich geleitete Institut untersteht dem Büro für Jugendfragen beim Ministerrat. Es markiert die zunehmende Akzeptanz der Soziologie in der DDR nach

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1966 durchgeführt hat, sondern auch auf Umfragen, die SED-Funktionäre in den Schulen unternommen haben, sowie auf einen Bestand von Briefen an das Organ der FDJ Junge Welt.4 Die Verarbeitung dieser Quellen erfordert eine Reihe methodologischer Vorsichtsmaßnahmen. Ein wesentliches Problem besteht darin, dass die Schüler häufig die Tendenz haben, vor der Klasse das zu reproduzieren, was man von ihnen erwartet, das heißt einen vorgegebenen Diskurs. Gleichwohl haben wir uns bemüht, über den vorherrschenden Konformismus hinweg das beste aus dieser Produktion soziologischer Umfragen herauszuholen, insbesondere aus denen, die unter dem Schutz der Anonymität stattfanden. Eine Reflexion über die Aneignung der sozialistischen Normen durch die Schüler hat uns dahin gebracht, in einer intergenerationellen Perspektive die Frage nach westlichen kulturellen Einflüssen und nach grenzverletzenden Verhaltensweisen von Schülern der 1960er und 1970er Jahre zu stellen.

Die Schüler und ihre sozialistische Umwelt Eine ganze Reihe soziologischer Umfragen, die vom ZIJ und der FDJ durchgeführt wurden – insbesondere solche aus dem Jahre 1969 anlässlich des 20. Jahrestages der DDR – ermöglichen es uns, die Wirkungen der sozialistischen Erziehung auf die ostdeutsche Jugend, genauer die Jugend in Ostberlin, in den Blick zu nehmen.5 Es handelt sich um ausgezeichnetes Material, wenn es darum geht, den Aneignungsprozess sozialistischer Werte durch Akteure (hier geht es um Schüler der POS und EOS) zu beleuchten. Unsere Analyse betrachtet die Frage des nationalen Identitätsgefühls, der Haltung gegenüber der SED oder der UdSSR und der Bedeutung, die der internationalen Solidarität zugemessen wird.

e­ iner Phase des Verbots wegen ihres „bourgeoisen“ Charakters in den 1950er Jahren. ­Siehe W. Friedrich (Hg.), Das Zentralinstitut für Jugendforschung 1966–1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse, Berlin 1999; E. Brislinger/B. Hausstein/E. Riedel, Jugend im Osten. Sozialwissenschaftliche Daten und Kontextwissen aus der DDR sowie den neuen Bundesländern (1969–1995), Berlin 1997. Siehe auch K. Henderson, „The Search for Ideological Conformity: Sociological Research on Youth in the GDR under Honecker“, in: German History, 10, Nr. 3, 1992, S. 318–334. 4 Die Junge Welt hat in der Mitte der 1970er Jahre große Umfragen unter der Jungend durchgeführt. Es wurde nach der Bedeutung des Begriffs „revolutionäres Wesen“ oder des Begriffs „Vaterland“ gefragt. Die Briefe wurden von der Akademie für Pädagogische Wissenschaften archiviert und kurz nach der Wiedervereinigung der Erziehungswissenschaftlichen Bibliothek in Berlin übergeben. 5 LAB, C REP 902/2 958, SED-Bezirksleitung Berlin, Kommission Jugend und Sport, Auswertung der Umfrage 69 des ZIJ, 1970, unpag.

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Stolze ostdeutsche Bürger? Die Frage nach einer ostdeutschen nationalen Identität ist zentral für die Erziehungsbehörden; sie tun alles, um ein solches Gefühl bei den Schülern herzustellen. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre hat die SED beträchtliche symbolische Maßnahmen ergriffen, die die patriotische Erziehung komplettieren. Das Staatssekretariat für Deutschlandfragen wurde 1966 in ein Staatssekretariat für westdeutsche Fragen umgewandelt. 1967 wird die deutsche Staatsbürgerschaft in der DDR zugunsten einer ostdeutschen Staatsangehörigkeit aufgehoben. Allerdings lassen sich für die Generation der in der ersten Hälfte der 1950er Jahre geborenen Kinder Unterschiede zwischen der nationalen Ebene und Ostberlin feststellen. In der ostdeutschen Hauptstadt bezeichnen sich 51 % der befragten Schüler als „stolz, Bürger der DDR zu sein“. 21 % sind es „ein bisschen“ und 26 % „nicht“ oder bringen wenigstens „keine positive Haltung in Bezug auf die Nation“ zum Ausdruck. Es ist bei dieser Frage keinerlei Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellbar. Die Ergebnisse sind enttäuschend im Vergleich mit denen, die auf Landesebene erzielt werden. In der übrigen Republik sind es 66 %, die stolz sind auf ihr Land, und nur 12 % haben eine negative Meinung.6 Diese Abweichung erklärt sich sicherlich durch die besondere geopolitische Lage Ostberlins, seine Eigenschaft als „Frontstadt“. In jedem Falle zeigt sie die Grenzen der patriotischen Erziehung auf, die in den Schulen der DDR-Hauptstadt seit den 1950er Jahren betrieben wird. Abgesehen von den reinen Zahlen muss unsere Betrachtung auch und vor allem die Motive für diesen Stolz berücksichtigen, die von den Schülern erwähnt werden. Das wichtigste Motiv für Stolz und Bindung an die DDR ist das Versprechen einer gesicherten Zukunft (Beschäftigung, Wohnung …). Tatsächlich beziehen sich die drei meistgenannten Antworten auf die soziale Dimension der Fürsorgediktatur:7 Das Versprechen einer beruflichen Zukunft, die Möglichkeit, eine Schulbildung hohen wissenschaftlichen Niveaus zu erhalten, die Förderung des Sports in der DDR. Der ostdeutsche Nationalstolz hat notwendigerweise eine soziale Essenz. Diese Haltung, die die soziale Verbundenheit mit der DDR zum Vorschein bringt, ergibt sich einige Jahre später sehr deutlich aus Leserbriefen an die Junge Welt. Wir sind uns darüber im Klaren, dass es sich bei denjenigen, die dieser Zeitschrift schreiben, in erster Linie um junge Heranwachsende handelt, die sich in den Jugendorganisationen engagieren. Ihre Sichtweise der DDR ist also meistens positiv. Gleichwohl enttäuschen die 1977 verfassten Briefe die FDJ-Funktionäre, weil sie nicht die erwarteten „patriotischen Werte“ enthalten. Ein nationales Bewusstsein 6 Ebd. 7 K. Jarausch, „Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 20, 1998, S. 33–46.

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im Sinne eines Nationalstaats wie Frankreich gibt es bei den jungen Leuten nicht. Der Begriff des Vaterlandes bezieht sich in der DDR auf ein soziales Element, auf materielle Interessen, auf Protektion im Bereich der Arbeit. Die Briefe beschwören das Bild einer ernährenden, paternalistischen Diktatur, die die Bürger von der Wiege bis zum Grab betreut. Eine für dieses Verständnis von Vaterland paradigmatische Antwort lautet so: „Ich bin Asthmatiker. Für mich ist es normal zum Arzt zu gehen, ohne etwas zahlen zu müssen.“8 C.I., die soeben ihre polytechnische Ausbildung abgeschlossen und eine Berufsausbildung begonnen hat, bringt sehr deutlich dieses Gefühl von Sicherheit zum Ausdruck, das von vielen Schülern geteilt wird, wobei sie offensichtlich aus einer Familie stammt, die in der SED aktiv ist: „Als erstes einmal bin ich sehr stolz, daß ich in einem Staat wie der DDR geboren bin. Ich habe dem Staat viel zu verdanken, nämlich daß ich erst mal in Frieden und Sicherheit aufwachsen kann, dann daß ich eine sehr gute Schulbildung geniessen konnte, auch habe ich dem Staat zu verdanken, daß ich eine Lehrstelle habe und meine Zukunft gesichert ist. So empfinde ich bei allem was ich tue, daß die DDR mein Vaterland ist, und ich bin auch sehr stolz darauf, in einem solchen Staat leben zu können. Die Zukunft eines jeden ist gesichert. Jeder kann sein Leben nach seinen Bedürfnissen gestalten. Junge Eheleute, werdende Mütter und Rentner haben in unserem Staat sehr viele Vorteile. Also ich möchte in keinem anderen Staat leben als der DDR.“9

Eine weitere Umfrage aus dem Jahr 1978 bestätigt diese Tendenz, die sich bereits 1969 abzeichnet und die man auch in der Leserkorrespondenz mit der Jungen Welt sieht. Der Abschlussbericht des Zentralkomitees der SED stellt eine ungleichmäßige Entwicklung der unterschiedlichen Facetten des Nationalbewusstseins beziehungsweise der patriotischen Haltung fest: „Der größte Teil der Schüler versteht, daß ihnen unser Staat soziale Geborgenheit und Sicherheit gibt, daß Sozialismus und Frieden zusammengehören. Das menschenfeindliche Wesen des Imperialismus wurde ihnen verständlicher. […] Die Mehrheit der Schüler lehnt den Imperialismus ab. Es zeigt sich aber auch, daß sein aggressives Wesen noch nicht von allen klar erkannt wird. Besonders über die BRD existieren noch viele Illusionen.“10

Die soziale Komponente der emotionalen Identifikation mit der DDR dominiert also entschieden, wenn wir die Meinungen von Schülern der 1970er Jahre analysieren. Das lexikalische Feld der Protektion und der Sicherheit taucht in den Quellen immer wieder auf. Im Übrigen ist es eben das Gefühl einer verlorenen Sicherheit,

  8 BBI/DPZI, JW 37, Junge Welt Leserdiskussion „Die DDR mein Vaterland“, Dezember 1977, S. 36.  9 Ebd. 10 SAPMO, ZK der SED, Abt. Volksbildung, DY 30/IV B 2/9.05/40, Entwicklungstendenzen im Bewußtsein der Jugend, 1978, unpag.

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das neben anderem nach 1990 die Grundlage für eine Kommunismus-Nostalgie in Ostdeutschland geschaffen hat. Dessen ungeachtet bleibt der Antifaschismus, der über die Jahre hinweg einen nach 1945 geschlossenen Konsens fortschreibt, eine der politischen Grundlagen der ostdeutschen Identität.11 Nach 1961 baut die antifaschistische Erziehung nicht mehr in erster Linie auf Begegnungen mit alten kommunistischen Widerstandskämpfern gegen den Nazismus auf, die in den Konzentrationslagern gesessen hatten, wie dies in den 1950er Jahren der Fall war, sondern stärker auf Gedenkfeiern, dem Besuch der Lager, der in der Regel während der Vorbereitung auf die Jugendweihe erfolgt (Buchenwald, Sachsenhausen), und auf kulturellen Medien (Filme, Kinderbücher) als Mittel zur Homogenisierung des kollektiven Gedächtnisses.12 Die DDR geht allmählich von der Ära der Zeitzeugen zur Ära des Gedächtnisses über. In den 1970er Jahren wird der antifaschistische Kult in dem Maße, in dem die antifaschistischen Überlebenden verschwinden, wieder angekurbelt, indem Schulen nach Kommunisten benannt werden, die in den Lagern gestorben sind: Herbert Baum 1978, Erich und Charlotte Gaske 1984 im Bezirk Friedrichshain. Zu diesem Anlass richten die Schulen eine Zeremonie mit den Angehörigen aus, um einen Gedächtniskontrakt zu besiegeln, der die verschiedenen Generationen verbindet und die ostdeutsche Identität begründet. Was die Schüler ungeachtet der übermittelten politischen Botschaft, die in ihrer Ritualisierung ihren „mystischen Sinn“ und ihre emotionale Aufladung verliert, unabhängig von der Altersklasse von der antifaschistischen Erziehung zurückbehalten, ist ihre ethische Dimension: Der Nationalsozialismus ist das absolute Böse. Da die Schuldfrage nicht besteht, nachdem sie an die BRD übertragen wurde, ist die Vermittlung dieses offiziellen Gedächtnisses bei den Schülern nicht von dem Willen begleitet, ihre Eltern und Großeltern über diese dunkle Vergangenheit zu befragen.13 Die Schüler und der Sozialismus In einer anonymen Umfrage von 1969 zum Thema „Sind Sie davon überzeugt, dass sich die sozialistische Gesellschaftsordnung in der ganzen Welt durchsetzen wird?“ machen die mehr oder weniger bejahenden Antworten in Ostberlin 65 % aus – gegenüber 74 % im restlichen Land.14 Zwar ist der Unterschied diesmal gering, aber 11 J. H. Banks, „Political Anti-Fascism in the GDR“, in: Journal of Contemporary History, Vol. 32, Nr. 2, April 1997, S. 207–217. 12 Neben dem berühmten Film Nackt unter Wölfen ließe sich das Buch von Dieter  Noll, Die Abenteuer des Werner Holt, nennen, das 1964 für das Fernsehen verfilmt wurde. 13 N. Leonard, Politik- und Geschichtsbewusstsein im Wandel. 14 LAB, C REP 902/2958, op. cit., unpag. Siehe auch GESIS, ZA 6036, Freizeit 1969, 100p.

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wieder weist der Bezirk Berlin-Ost die schlechtesten Ergebnisse der DDR auf. In diesem Befund spiegelt sich zunächst einmal der Umstand wider, dass die sozialistische Gesellschaft für diese Generationen, die nur die DDR kennen, etwas vollkommen Natürliches ist. Dabei stellt das Viertel von Schülern, das sich reserviert oder sehr kritisch zeigt, einen nicht zu vernachlässigenden Prozentsatz an Antworten dar, die das Regime nicht erwartet hat. Die Umfrage ermöglicht es uns zudem, eine Disparität hinsichtlich der Haltung zum Sozialismus zwischen den Geschlechtern (die Mädchen sind überzeugter als die Jungen) und nach dem Schulniveau zu beleuchten. So sind beispielsweise die für das Regime positiven Ergebnisse bei den Schülern der 8. Klassen der Polytechnischen Oberschulen besser als bei den Schülern der 10. Klassen des gleichen Schultyps. Die EOS-Schüler haben eine positivere Haltung als ihre Kameraden in den POS. Insgesamt wird der „Glaube“ an den Sozialismus also größer, je höher das Schulniveau ist, da das System seinen Jugendlichen eine sichere Zukunft zu gewährleisten verspricht. Wenn wir nun versuchen, die soziale Dimension in die Analyse einzubeziehen, wobei wir von dem ausgehen, was wir von der Zusammensetzung der POS und der EOS wissen, können wir bestätigen, dass der Glauben an den Sozialismus vor allem von den Schichten der Intelligenz und nicht von den unteren Klassen, insbesondere nicht den Arbeitern, getragen wird. Die SED gilt als Garantin der Realisierung des sozialistischen Projekts. Um die Haltung der Jungen gegenüber der Partei kennenzulernen, werden sie 1969 gefragt, ob sie die Absicht haben, eines Tages der Partei beizutreten. Auf diese Weise wird der Grad der Attraktivität der Partei gemessen. 1969 antworten 58 % der jungen Ostdeutschen, sie sähen sich eines Tages als Mitglieder der SED. In Ostberlin sind es nur 47 %, die sich dieser Aussicht anschließen. Es handelt sich vor allem um ­einen Wunsch der Männer (53 % gegenüber 42 % bei den Mädchen).15 Hängt der schwache Prozentsatz bei den Mädchen mit einem Fehlen politischer Ambitionen zusammen? Mit einem Habitus, der dafür sorgt, dass Politik im Wesentlichen Männersache bleibt? Die Haltung gegenüber der UdSSR Trotz des Scheiterns der Aktionen der Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft (DSF) in den Schulen bemüht sich das Ministerium für Volksbildung, bei den Schülern „die Liebe zum großen sowjetischen Bruder“ zu wecken, und zwar vor allem über die Instrumentalisierung bestimmter Ereignisse. Neben ritualisierten Gedenkfeiern zur Oktoberrevolution nutzt es ab den späten 1950er Jahren die sowjetischen wissenschaftlich-technischen Erfolge. Die Eroberung des Weltalls ist einer 15

LAB, C REP 902/2958, op. cit., unpag.

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der zentralen Feldzüge des Kalten Krieges: Nach dem Start des Sputnik am 4. Oktober 1957 findet der erste bemannte Raumflug Jurij Gagarins an Bord der Wostok-1 am 12. April 1961 statt; am 6. August 1961 unternimmt German Titov den zweiten bemannten Flug. Das Gelingen dieser Raumflüge wird vom Volksbildungsministerium genutzt, um einen offiziellen Kult um Gagarin und Titov, die mit allen Ehren empfangen werden, zu etablieren. Dieser Kult konkretisiert sich in Telegrammen an die sowjetische Botschaft und Fahnenappellen auf den Schulhöfen. Inspektionsberichte aus den Schulen betonen den ehrlichen Enthusiasmus zahlreicher Schüler (insbesondere der Jungen), die von der Heldentat Gagarins fasziniert sind.16 Je älter aber die Kinder werden und je mehr die Begeisterung nachlässt, kommt ein immer noch sehr lebendiges antirussisches Ressentiment zum Vorschein. So berichtet ein Funktionär der Schulbehörden in Köpenick von den ironischen Äußerungen eines Oberschülers: „Es ist an und für sich nichts Neues: vorher der Hund und jetzt der Mensch.“17 An der 2. Erweiterten Oberschule in Berlin-Mitte ist die Reaktion mehr als skeptisch: „Wohl ein Aprilscherz?“18 Die Schüler der 10. Schule des gleichen Bezirks sind noch kritischer: „Warum wird das Geld nicht für den Wohnungsbau verwendet?“19 Trotz des Erfolgs der Person Gagarin wird die UdSSR immer noch von einer Mehrheit der Heranwachsenden als Besatzungsmacht gesehen. Provozierende Aktionen gegenüber den Sowjets werden regelmäßig in Berichten auf nationaler Ebene verzeichnet. Spuren davon haben wir im Archiv der DSF gefunden, wo von Zwischenfällen berichtet wird, die sich 1966 im Dorf Oschatz in Sachsen ereignet haben. Die Beziehungen zwischen den Jugendlichen und den als Besatzer empfundenen sowjetischen Soldaten sind immer noch schwierig und brechen mitunter in „Provokationen“ wie Graffiti oder Beleidigungen auf. Ein Bericht des örtlichen Sekretärs der DSF berichtet von regelmäßigen Beleidigungen der sowjetischen Soldaten (Schwein) durch Jugendliche. Ein 18jähriger Jugendlicher habe sogar gegenüber einem Leutnant Mischin erklärt: „Wir waren Faschisten und wir bleiben Faschisten!“20 In der Umfrage von 1969 wird auch nach der Bedeutung der Zusammenarbeit mit der UdSSR gefragt. In Berlin-Ost erhält man 83 % positive Stellungnahmen 16 Dieser Gedanke findet sich auch in dem Wolfgang Becker-Film Good Bye Lenin, in dem der Held Alex (gespielt von Daniel Brühl) fasziniert ist vom ostdeutschen Kosmonauten Sigmund Jähn, dem ersten Deutschen, der am 26. August 1978 in den Weltraum reist. 17 LAB, C REP 120/727, Aufnahme der Nachricht über den 1. Weltraumflug des sowjetischen Majors Gagarin durch Berliner Schüler und Lehrer, pag. 3. 18 Ebd. 19 Ebd., pag. 4. 20 SAPMO-BA, DY 32/ 4 986, Bericht über antisowjetische Verhaltensweisen in Oschatz, 1966, pag. 2.

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gegenüber 89 % aus der restlichen DDR. Positive Antworten sind in den EOS häufiger (91,5 %) als in den POS (84 %). Hinter diesen äußerst positiven Antworten verbergen sich jedoch eher neutrale Motive. Zur großen Enttäuschung der Behörden bringen die Schüler in den häufigsten Antworten durchaus keine Sympathie oder gar Liebe zum Ausdruck. Die Motive sind rein utilitaristischer und pragmatischer Natur: „die sowjetische Wissenschaft ist weit entwickelt“, „sie ist der wichtigste Handelspartner der DDR“. Das Argument des militärischen Schutzes erscheint erst an sechster Stelle und ein Gefühl der Sympathie erst an zehnter Position mit weniger als 50 % der geäußerten Motive (46 %).21 Der Aspekt der Handelsbeziehungen wird auch in einer lokalen Umfrage erwähnt, die 1974 von SED-Funktionären in Weißensee unter den Schülern der ­Pestalozzi-Schule durchgeführt wird: „In Vorbereitung auf den 50. Jahrestag der Gründung der UdSSR schätzen wir das Denken und die Haltung der Lehrer und Schüler zur Sowjetunion gründlich ein. […] Unklarheiten gibt es bei Schülern und einigen Lehrern zu Fragen der sozialistischen Integration. Hier sehen sie die Sowjetunion oft noch als Rohstofflieferanten und betrachten die Zusammenarbeit vor allem unter dem Aspekt des Nutzens für die DDR, ohne die wechselseitigen Verpflichtungen zu erkennen.“22

Die emotionale Verbindung, die das Regime auf dem Umweg über die Sprache fördern will, scheint also zu fehlen. Seit 1958 richtet das Volksbildungsministerium ein Fest der Russischen Sprache aus, das auch der Werbung für das Russische dient.23 Die Schulämter Ostberlins werben für die Klubs der internationalen Freundschaft und besonders für Briefkontakte mit jungen sowjetischen Schülern. Aber diese Initiative, die vor allem in den 1970er Jahren in Gang kommt, erfasst lediglich ein eingeschränktes Publikum, wie ein SED-Funktionär in Weißensee verbittert feststellt: „Auch die persönlichen Kontakte in Form des Briefwechsels gefördert durch den Klub der internationalen Freundschaft, verstärkten sich. Doch hier zeigt sich im Entwicklungsprozeß ein Widerspruch. Ein Teil der Schüler hat offensichtlich nicht begriffen, daß der Grundgedanke „Freundschaft zur Sowjetunion“ sich auch in der Bereitschaft, die Sprache der Freunde gut zu lernen, widerspiegeln muß. Diese Haltung wird noch von negativen Auffassungen der Eltern unterstützt.“24

Die Zunahme der Brieffreundschaften geht nicht mit einer größeren Empathie für die UdSSR einher. Das Modell erfährt großen Zuspruch seitens der jungen Schüler, da aber dieser Austausch selten von tatsächlichen Begegnungen begleitet sein kann, verliert es rasch seinen Charme und sein Interesse. 21 22 23 24

LAB, C REP 902/2958, op. cit., unpag. LAB, C REP 903-01-08/599, op. cit., unpag. LAB, C REP 120/2 154, Durchführung des Festes der Russischen Sprache, 1962, pag. 1–6. LAB, C REP 903-01-08/599, op. cit., unpag.

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Abb. 13 Festlicher Nachmittag im Klub der internationalen Freundschaft einer Schule im ­Prenzlauer Berg, 1986

Ein Foto Volker Dörings illustriert eine der seltenen Begegnungen zwischen sowjetischen und deutschen Schülern. Sie zeigt uns ein Troschkafest, einen Nachmittag im Klub der internationalen Freundschaft einer Schule im Prenzlauer Berg im ­Jahre 1986.25 In einem Saal, der mit Matrjoschkas und Informationstafeln über L ­ enin dekoriert ist, die ein folkloristisches Bild der UdSSR wiedergeben, haben sich sowje­ tische und ostdeutsche Schüler unterschiedlichen Alters versammelt und trinken Tee. Die Sowjets, die im Rahmen eines Schulaustausches eingeladen wurden, sind an i­ hrer dunklen (die Jungen hinten im Raum, die untereinander diskutieren) oder traditionellen Kleidung (das junge Mädchen in weißer Spitzenschürze mit Halstuch links im Bild) erkennbar. Das Foto illustriert die Sprachbarrieren in der Jugend, denn die russischen Jungen diskutieren untereinander. Dagegen scheint die ostdeutsche Jugendliche, die ihrer sowjetischen Kollegin gegenübersitzt, über ein Sprach­ niveau zu verfügen, das es ihr ermöglicht, auf Russisch zu kommunizieren; aller­ dings geht dies nicht eindeutig aus dem Bild hervor. Es lässt sich lediglich vermuten, weil die sowjetische und die ostdeutsche Schülerin einander gegenüber sitzen. Die ostdeutsche Schülerin mit der Brille rechts trägt den Samowar, jenen Apparat, mit dem sich Tee brühen und warmhalten lässt. Die Szene illustriert sehr schön die „Folklo­risierung“ des Verhältnisses zur UdSSR in den 1970er und 1980er Jahren. 25

SM, Sammlung Volker Döring 003.

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Ungeachtet dieses idealisierten Bildes von der UdSSR bleibt die Haltung der Schüler infolge außenpolitischer Ereignisse im Allgemeinen negativ. In den späten 1970er Jahren führt die militärische Intervention in Afghanistan zu beträchtlichen Irritationen in manchen Kursen für Staatsbürgerkunde, zum Beispiel in der 17. Schule in Friedrichshain: „An der 17. Oberschule in Friedrichshain war es der Lehrerin (Genossin) im Fach Staatsbürgerkunde kaum möglich, den Unterricht in einer 10. Klasse planmäßig durchzuführen, weil eine ganze Anzahl von Schülern Argumente des Westfernsehens dazwischenrief und massiv gegen die Hilfe der Sowjetunion für Afghanistan auftrat. Dabei gab es solche Zwischenrufe wie „20 000 Russen aus der DDR, aber 45 000 nach Afghanistan“. […] Neben vielen Sachfragen traten in allen Schulbezirken immer wieder Schüler mit der Meinung auf, daß der „Einmarsch“ der Sowjetunion in Afghanistan die Lage der Welt verschärfen wird.“26

Diskussionen dieser Art sind gefährlich für den inneren Frieden der Schulklasse. Sie werden von vielen Lehrkräften vermieden oder rasch erstickt. Das Bild der UdSSR verändert sich zum Positiven mit der Einsetzung Michail Gorbačevs im Jahre 1985, der unter den Jugendlichen eine populäre Gestalt wird. Insgesamt sind die Jahre nach dem Mauerbau nicht von einer Verbesserung der Haltung der Schüler gegenüber der UdSSR geprägt. Die Botschaft, die verbreitet wird, ist weniger politisch und stärker kulturell. Selbst die omnipräsente Figur Lenins wird vor allem als Großvater inszeniert, der Kinder liebt, und nicht als ein Politiker. Das Ministerium für Volksbildung spielt außer bei der UdSSR auch bei den anderen Blockstaaten mit dem Register der Liebe; hier beschränkt sich die Vermittlung aber auf seltene Briefkontakte, meistens mit Schulen in der Tschechoslowakei. Es gibt keine edukative Praxis, die tatsächlich den Akzent auf die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem politischen und kulturellen Raum legen würde. Dagegen bemühen sich die Behörden, bei den Schülern ein Gefühl der Solidarität mit den Ländern der Dritten Welt zu wecken. Der „proletarische Internationalismus“ und die Trikont-Solidarität Die Erziehung zum „proletarischen Imperialismus“ gewinnt in den 1960er und 1970er Jahren ein Gewicht und eine Sichtbarkeit, die sie in den 1950er Jahren nicht gehabt hat. Offensichtlich gehört sie in den Kontext der zunehmenden Tendenz zur Anerkennung der DDR, die 1973 von der Aufnahme in die UNO gekrönt wird. Sie ist eng verbunden mit der Absicht des Volksbildungsministeriums, ein Gefühl nationaler Identität zu wecken, indem die Bedeutung der DDR in der Welt auf26

LAB, C REP 902/4544, op. cit., unpag.

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gezeigt wird. Indem das Regime den Akzent auf die internationale Solidarität mit den armen oder „ausgebeuteten“ Ländern legt, will es die moralische Überlegenheit der DDR gegenüber den kapitalistischen Ländern aufzeigen. 1958 hat das Volksbildungsministerium im Rahmen des DPZI eine Arbeitsgruppe zur Erziehung zum sozialistischen Patriotismus und zum proletarischen Internationalismus eingerichtet. Auf einer Konferenz im Jahre 1961 betont der ostdeutsche Pädagoge Berger die Wichtigkeit dieser edukativen Dimension: „Liebe zum sozialistischen Vaterland ist verbunden mit der Freundschaft und Achtung gegenüber anderen Völkern, besonders denen des sozialistischen Lagers aber auch mit der friedlichen Zusammenarbeit mit den Völkern der anderen Nationen, mit denen wir eine friedliche Zusammenarbeit anstreben auf der Grundlage der Prinzipien der friedlichen Koexistenz, aber auch eingeschlossen der Haß gegen Ausbeuter und Kriegstreiber.“27 Die SED ordnet sich ein in die doppelte Tradition der Klassensolidarität und des christlichen karitativen Engagements. Auf der Ebene der Schulen haben die Jugendorganisationen den Auftrag, Klubs der internationalen Freundschaft einzurichten, die in Versammlungen und Begegnungen anhand verschiedener konkreter Fälle (Algerien, Vietnam, Südamerika) den westlichen „Imperialismus“ anprangern ­sollen. Konkret besteht diese Bewegung in der Organisation von S­ olidaritätsaktionen (Sammeln von Leergut, Organisation von Solibasaren) für Länder oder Einzelpersonen, die Opfer dieses Imperialismus sind. In einer Aneignung des christlichen Märtyrermotivs verwandelt das Regime Luis Corvalán28 oder Angela Davis29 in

27

BBF/DIPF/Archiv, Signatur 4162 aus dem Bestand der APW der DDR, Sektion I (Theorie und Methodik der Erziehung und Bildung), Untersuchungen zur Erziehung 10- bis 16jähriger Schüler zum soz. Patriotismus u. Proletarischen Internationalismus, 1957–1962, pag. 6. 28 Luis Corvalán, geboren 1916, ist Sekretär der Kommunistischen Partei Chiles im Moment des Pinochet-Putschs. Er wird gefangen gesetzt, 1976 freigelassen und in die UdSSR abgeschoben im Austausch gegen den russischen Dissidenten Vladimir Bukovskij. 2001 hat er ein Gespräch mit Margot Honecker geschrieben, die seit 1993 in Chile im Exil lebt. Siehe L. Corvalán, Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland, Berlin 2001. 29 Davis wurde am 26. Januar 1944 in Birmingham, Alabama, geboren. Ihre Eltern sind Lehrer, die dem kommunistischen Milieu nahestehen. Nach einem Studienaufenthalt in Frankfurt (bei Adorno) und in Paris von 1960 bis 1965 schließt sie ihr Studium 1968 in San Diego ab. Im gleichen Jahr wird sie Mitglied der Kommunistischen Partei und der Black Panthers. Ihre Mitgliedschaft in diesen beiden Bewegungen führt dazu, dass sie von der amerikanischen Regierung streng überwacht wird. 1970 wird sie die dritte Frau, die auf die Liste der am dringendsten vom FBI gesuchten Personen kommt. Sie wird der Konspiration zur Befreiung von George Jackson beschuldigt, das FBI geht davon aus, dass Angela D ­ avis Gefangene im County Marin bewaffnet hat. Sie wird schließlich von der Polizei in einem Hotel festgenommen, nachdem sie wegen Mordes und Entführung angeklagt worden ist. Sie wird 16 Monate im Gefängnis verbringen, bevor sie von allen Vorwürfen freigesprochen wird. 1971 werden ihre im Gefängnis geschriebenen Essays veröffentlicht, in denen sie ihren

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tragische Figuren, die bei den Kindern zu einer Ablehnung der Vereinigten Staaten führen sollen. Diese Erziehung bleibt nicht ohne Wirkung auf die Schüler, die sehr empfänglich sind für soziale Ungerechtigkeit. Im Oktober 1973 beschreibt ein SED-Funktionär in Friedrichshain die Reaktionen vieler Schüler auf den Putsch des Generals Pinochet in Chile: „Welche Fortschritte wir bei der Erziehung der Lehrer und Schüler zum sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus erreicht haben, wurde u. a. durch die Ereignisse in Chile deutlich. An allen Schulen und Kindergärten unseres Stadtbezirkes lösten sie eine Welle des Protestes gegen die verbrecherischen Machenschaften des Imperialismus und verstärkte Solidarität mit unseren chilenischen Klassenbrüdern aus. Die Protestaktionen und Geldspenden umfassen eine bisher noch nie erreichte Breite und Selbständigkeit. Zum Beispiel sammelten Schüler einer 12. Klasse der Heinrich-HertzOberschule über 800 Mark.“30

Der Vietnamkrieg wird ebenfalls von den Schulleitern instrumentalisiert, um Solidaritätsaktionen durchzuführen, wie sie von SED-Funktionären in Weißensee 1974 aus ihrer Inspektion der Pestalozzi-Schule berichtet werden: „Die Bereitschaft der Lehrer und Schüler zur aktiven Solidarität ist gewachsen. Es gelang uns, die Solidarität mit Vietnam mit nützlichen Taten für die Stärkung der DDR zu verbinden. So erbrachte die erfolgreichste Altstoffsammlung fast vier Tonnen Papier. Zahlreiche Protestschreiben wurden gegen die Aggression der USA in Vietnam, Aktionen zur Befreiung Angela Davis und Hilfe für den Wiederaufbau der DRV organisiert. Diese Bereitschaft darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Teil der Schüler die Solidarität noch zu sehr als ein humanes Anliegen betrachtet und nicht als politische Forderung unserer Zeit. Deshalb organisierten wir mit unserer FDJ eine Veranstaltung mit vietnamesischen Studenten in Zusammenarbeit mit dem Jugendklub „Viktor ­Aronstein“. Die persönlichen Kontakte zu den vietnamesischen Freunden, die jetzt ständig weiter gepflegt werden, geben uns in der Erziehung zur Solidarität wertvolle Hilfe.“31

Diese Praktiken der Solidarität produzieren Nebenwirkungen, mit denen das Regime offensichtlich nicht gerechnet hat. Denn indem die Kampagnen den Akzent auf soziale Ungerechtigkeiten in der Welt legen, eröffnen sie auch die Möglichkeit, in Form punktueller Kritik, die systematisch von den Parteifunktionären weitergeleitet wird, Ungerechtigkeiten in der DDR selbst anzuprangern. Im Dezember 1977

Glauben an die kommunistische Doktrin und ihre Gedanken über rassistische Unterdrückung ausführt (Letters from Prison, Soledad Brothers). 30 LAB, C REP 903-01-01, SED-Kreisleitung Friedrichshain, Politisch-ideologische Arbeit der Partei, der FDJ und Pionierorganisation an den Schulen, 1972–1976, unpag. 31 LAB, C REP 903-01-08/599, op. cit., unpag.

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werden Äußerungen von Schülern der 25. Schule in Pankow in einem Inspektionsbericht wiedergegeben: „Solidarität muß freiwillig sein.“ „Ich gebe doch nicht Solidarität, damit sich die „Obersten“ einen dicken Volvo oder Golf kaufen können.“32

Die Schüler geben hier sicherlich einen Diskurs wieder, den sie in ihren Familien gehört haben. In der gleichen Zeit kritisiert Volker Braun in seinem Stück „Guevara oder der Sonnenstaat“ von 1975 die offizielle ostdeutsche Politik der internationalen Solidarität.33 In ihrer Studie zu den sozialistischen Betrieben in Ostberlin hat Sandrine Kott überzeugend gezeigt, wie diese Praktiken der Solidarität auf dem Prinzip der Gabe aufbauen. Die „ferne Gabe“ hat eine pädagogische Funktion und ermöglicht es, in spielerischer Weise eine manichäische Sichtweise einzuführen, in der die Welt in das sozialistische Lager des Guten und das imperialistische Lager der Unterdrückung aufgeteilt ist.34 Sie bringt unumstrittene Werte des Teilens, der Solidarität und der Großzügigkeit zum Ausdruck. Aber sie präsentiert sich immer gleichzeitig als eigennützig und uneigennützig.35 Bei den Kindern sind diese Solidaritätspraktiken immer verbunden mit Wettbewerben zwischen den Schülern oder Klassen einer Schule. Und um die Belohnungen zu gewinnen, sind alle Mittel erlaubt. U. G. erinnert sich an das Sammeln von Glasflaschen für die Kinder Nicaraguas in den 1980er Jahren. Diese Erinnerungen werden mit Vergnügen berichtet, zumal sie es dem Zeitzeugen erlauben, die Abwesenheit einer ideologischen Dimension in dem zu betonen, was er getan hat, was wiederum eine Methode ist, sich von der DDR zu distanzieren: „Das war doch Spitze für Kinder, weil man auch etwas gewinnen konnte, wenn man ein fleißiger Altstoffsammler war: Man konnte Kinogutscheingeschenke bekommen, und bei mir das hat insofern ganz gut gepasst, da, wie gesagt, mein Bruder 7 Jahre jünger als ich war, und als ich in der 1. Klasse eingeschult wurde, war er gerade geboren. Und die Baby-Nahrung oder -Säfte, das waren alles irgendwelche kleinen Gläser oder Flaschen und da war ich natürlich weit vorne mit!“36

32 33 34 35 36

LAB, C REP 902/4544, op. cit., unpag. Volker Braun, Guevara oder der Sonnenstaat, Leipzig 1983. S. Kott, op. cit., S. 273–274. M. Godelier, L’énigme du don, Paris 1996, S. 21–25; A. Caille, Anthropologie du don. Le tiers paradigme, Paris 2000, S. 112–113. Transkription des Interviews mit U. G. vom 9. Oktober 2003, pag. 6.

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J. H. erinnert sich ihrerseits an den Wettstreit um das Sammeln alter Zeitschriften: „Wenn es darum ging, Altstoffe zu sammeln, war ich ganz gut. Das Ziel war also, Gläser, Flaschen, Zeitungen und ich glaube, alle Folien zu sammeln. Es gab immer einen Aufruf, daß so und so viel; also, was danach damit passierte weiß ich nicht, man sollte es an die Schule bringen, es gab einen Wettbewerb zwischen Klassen. F. : Wann hast du die Gläser und Zeitungen gesammelt und wie konntest du so viel sammeln? A.: Wir sind in die Briefkästen eingebrochen und haben die Zeitungen geklaut! [Lachen]“37

Die ursprüngliche ideologische Botschaft wird durch diesen Geist des Wettstreits, der von den Erziehungsbehörden unablässig stimuliert wird und dem sich die Schüler gerne hingeben, gleichsam gedämpft. Diese Vorgehensweise enttäuscht die SEDFunktionäre; sie fürchten, dass der proletarische Internationalismus seinen Sinn verliert und sich auf einen Wettstreit reduziert, in dem das Gesetz Alle gegen Alle herrscht! Neben diesem Projekt der Ideologisierung der Seelen (Liebe zur ostdeutschen Nation, zur SED, zur UdSSR, Glaube an den letztendlichen Sieg des Sozialismus) wachsen die Schülergenerationen der 1960er und 1970er Jahre in einem mentalen Universum auf, das von der Teilung Deutschlands geprägt und nach Westen hin orientiert ist.

Die Wahrnehmung Westdeutschlands Die BRD als Bezugspunkt Die Alltagswelt der Schüler in Ostberlin wird strukturiert von der Mauer und der Teilung Deutschlands. Es bedarf keines Nachweises, dass die besondere geographische und geopolitische Lage Ostberlins den Platz erklärt, den Deutschland im mentalen Universum dieser ab 1950 geborenen Schülergenerationen einnimmt. Westdeutschland ist allgegenwärtig. Es wird im Staatsbürgerkunde-Unterricht und den Seminaren für politische Bildung angeprangert, es ist aber auch Gegenstand der Diskussion und des Vergleichs. Es ist die Absicht des Volksbildungsministeriums, ein Gefühl des Hasses gegenüber Westdeutschland und eine Ablehnung dieses Landes hervorzurufen. Die Schulinspektoren fordern die Lehrkräfte auf, den Schülern die „Gefahren des westdeutschen Imperialismus“ bewusst zu machen. Insbesondere sind es die Lehrer für Staatsbürgerkunde, die mit dieser pädagogischen Mission be-

37

Transkription des Interviews mit J. H. vom 18. Dezember 2003, pag. 5.

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Abb. 14  Staats­bürger­ kunde in einer Schule im Prenzlauer Berg, Anfang der 1980er Jahre

traut werden. Der Vergleich findet ständig statt, sei es im Unterricht für Staatsbürgerkunde oder in den Vorbereitungskursen auf die Jugendweihe. Das Foto, das aus den frühen 1980er Jahren stammt, zeigt eine Unterrichtsstunde in Staatsbürgerkunde. Die Tafel wird als pädagogisches Instrument verwendet, um das ost- und das westdeutsche System einander gegenüberzustellen. Der Vergleich wird eingesetzt, um die Überlegenheit des ostdeutschen politischen und ökonomischen Systems deutlich zu machen. Allerdings scheitert diese „Erziehung zum Hass“ an der einfachen Realität der Kontakte und der Anziehungskraft, die die BRD, ihre Wirtschaft und mitunter ihre Politiker wie etwa der charismatische Kanzler Willy Brandt ausüben. Westdeutschland repräsentiert eine „Referenzgesellschaft“, an der alle Bereiche des ostdeutschen Alltags gemessen werden. 1962 notiert ein SED-Funktionär in Berlin Fragen von

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Schülern der Hans Coppi-Schule in Lichtenberg während des Unterrichts zur Vorbereitung auf die Jugendweihe: „Warum ist die Arbeitsproduktivität bei uns niedriger als in Westdeutschland?“ „Warum ist der Lebensstandard dort höher als bei uns?“38

Im Januar 1965 wird an der 2. Schule in Friedrichshain ein Treffen mit ostdeutschen Sportlern höchsten Niveaus organisiert. Dieses „olympische Forum“ ist insofern als Ergänzung des Unterrichts in Staatsbürgerkunde gedacht, als es ein Gefühl von Nationalstolz stärken soll. Die meisten Fragen, die die Schüler stellen, drehen sich jedoch um die innerdeutschen Beziehungen: „Wie war das Verhältnis unserer Sportler zu den westdeutschen Sportlern?“ „Werden wir bei der nächsten Olympiade wieder in einer gesamtdeutschen Mannschaft starten?“39

Die Lehrenden sind zuweilen mit Stellungnahmen seitens der Schüler konfrontiert, die offensichtlich aus dem Hören westlicher Medien in den Familien stammen. In jedem Falle vergleichen die Berliner Schüler, wie aus einem Dienstbericht von ­Dezember 1964 für den Bezirk Friedrichshain hervorgeht, unablässig die DDR mit der BRD: „In den Aussprachen zeigt sich vielfach, daß die Gefährlichkeit der Politik des westdeutschen Imperialismus noch nicht voll erkannt wird. In verstärktem Maße treten Schülermeinungen auf, die als Ursprung deutlich die Argumentation der Westsender erkennen lassen. Auch die Rückkehr alter Bürger von Verwandtenbesuchen in Westdeutschland und Westberlin spiegelt sich in den Gesprächen der Kinder wider. Folgende Beispiele: Im Westen gibt es mehr und mehr Besseres zu kaufen, also geht es den Westdeutschen besser; im Westen lebt man freier, man hat weniger Schwierigkeiten bei Auslandsreisen, Westgeld hat in der ganzen Welt Wert.“40

In den späten 1960er Jahren wird Kritik dieser Art erneut geäußert, während der Diskussionen um die Einführung der neuen ostdeutschen Verfassung. Im Bezirk Friedrichshain stellen die Schulbehörden zwei Hauptprobleme fest: die Bedeutung der neuen Verfassung im Hinblick auf eine Wiedervereinigung und die andauernde Unfähigkeit, den „aggressiven Charakter“ der BRD zu erkennen.41 Die Verwendung des Vergleichs, im Allgemeinen in Form „naiver“ Fragen, ist eine vermittelte Form, den einen oder anderen Aspekt der offiziellen Politik zu kritisieren. Dies gilt in besonderem Maße während der Volksabstimmung über die neue Verfassung 38 LAB, C REP 902/2088, op. cit., unpag. 39 LAB, C REP 135-01/340, op. cit., unpag. 40 Ebd. 41 LAB, C REP 135-13/18, Rat des Stadtbezirks Friedrichshain, Abteilung Volksbildung, Informationsberichte, 1968–1969, unpag.

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im Frühjahr 1968. Bei dieser Gelegenheit referiert ein Bericht des Schulamtes des Bezirks Prenzlauer Berg Äußerungen der Schüler der 9. Klasse der 6. Schule: „An der 6. OS Klasse 9 wurden Vergleiche zwischen Wahlen in Westdeutschland und in der DDR angestellt. Dabei tauchte von Schülern das Argument auf, warum bei uns Wahlschlepper eingesetzt würden, warum nicht jeder selbst entscheiden könne, ob er wählen geht oder nicht.“42 Die Schüler eignen sich in gewissem Sinne ein pädagogisches Prinzip an, das von ihren Lehrern eingesetzt wird. Sie geben dem Vergleich einen anderen Inhalt. Nicht nur ist die BRD unbezweifelbar die Referenzgesellschaft für alle Generationen junger Ostdeutscher; einige politische Figuren wie Brandt werden zudem mit einer besonderen Aura versehen. In den frühen 1970er Jahren unterstreicht ein Bericht der SED des Bezirks Weißensee im Nachgang zum Erfurter Treffen und der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags im Dezember 197243 das positive Bild des Kanzlers Brandt bei den Schülern der Pestalozzi-Schule: „Außerdem gibt es Unklarheiten zum Prozeß der gesetzmäßigen Abgrenzung zur BRD, die Rolle des Sozialdemokratismus und zu Brandt. Sie [die Schüler] sehen in ihm den großen Staatsmann, den Friedensnobelpreisträger, der sich um eine Normalisierung der Verhältnisse bemüht.“44

Neben der Omnipräsenz der BRD im mentalen Universum der Schüler gehören diese einer Generation an, die nichts außer der DDR kennt. Es stellt sich daher die Frage nach ihrer Haltung zur „deutschen Frage“. Die Schüler und die „deutsche Frage“: Zwischen der Hoffnung auf Wiedervereinigung und der Anerkennung der Teilung Während der 1950er Jahre nahm die in den 1940er Jahren geborene Schülergeneration häufig Bezug auf die Wiedervereinigung. Wie verhält es sich nach 1961 mit den Schülerjahrgängen, die in den 1950er und 1960er Jahren geboren werden? Lässt sich indirekt auf die Transmission eines nichtkonformistischen Diskurses über das vereinte Deutschland in den Familien schließen? Die Frage ist komplex und erfordert eine differenzierte Antwort, die wegen der Natur des verwendeten Materials schwer in Worte zu fassen ist: Texte von Schülern, 42 LAB, C REP 120/263, op. cit., pag. 28. 43 Mit dem Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 erkennt die BRD die DDR staatsrechtlich als souveränen Staat an. Allerdings werden die Grenzen nicht festgelegt, was die Tür für eine künftige Wiedervereinigung offen hält. 44 LAB, C REP 903-01-08/599, op. cit., unpag.

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Umfragen, die bei Stichproben von Schülern durchgeführt wurden. In den meisten Fällen geben die Schülertexte weniger ihre eigenen Gedanken wieder als die ideologischen Erwartungen der Lehrkräfte, ebenso wie die nicht anonymen „Meinungsumfragen“ wegen des häufig konformistischen Charakters der Antwort kaum zu verwenden sind. Gleichwohl scheint es, dass die Wiedervereinigung ein Thema ist, das immer noch viele Schüler interessiert, was darauf hinweisen dürfte, dass es einen Diskurs zu diesem Thema in den Familien gibt. Im Jahre 1967 wird unter den Schülern der 10. Klasse der 19. Schule in Treptow eine Umfrage durchgeführt. Auf die Frage „Welche politische Frage interessiert Euch am meisten?“ geben 83 % der Schüler die Wiedervereinigung an, weit vor der internationalen Politik (35 %).45 Gestützt auf eine weitere Umfrage, die im November 1962 unter 100 Schülern zweier Einrichtungen im Prenzlauer Berg (der 15. Polytechnischen Oberschule und der Carl von Ossietzky-Oberschule) durchgeführt wurde, können wir deren Vorstellungen in Bezug auf diese politische Frage rekonstruieren. Die Schüler, die den 7. und 9. Klassen angehörten, sollen schriftlich Fragen „über die Herstellung der Wiedervereinigung Deutschlands und über die Westberlin-Frage sowie zum antifaschistischen Schutzwall“ beantworten. Die Texte werden nicht anonym erfasst, gleichwohl scheint es, dass die Schüler ehrlich antworten, ohne doppeltes Spiel zu spielen. Diese Feststellung beruht auf der geringen Anzahl an konformistischen Antworten. So denken nur 10 % der Schüler, dass „der Sieg des Sozialismus eine Grundbedingung für die Wiedervereinigung Deutschlands“ sei.46 Schockiert von so vielen „schlechten Antworten“ zitiert der Autor des Abschlussberichts namentlich eine Äußerung des Schülers A.F.: „Nach einem Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten kann in einer Volksabstimmung entschieden werden, welche Gesellschaftsordnung man in Deutschland aufbauen will.“47 Nur 18 % der Schüler betrachten Westberlin als „Agentenzentrum“ und als „Brückenkopf der NATO“. Der Bericht schließt auf eine mangelhafte ideologische Ausbildung, auf „schlechte“ Vermittlungsarbeit seitens der Lehrenden und betont die Notwendigkeit, den Vermittlungsprozess zu verbessern. Auf der einen Seite ist die Teilung Deutschlands eine Tatsache, die die Schüler als Konsequenz des Zweiten Weltkriegs beschreiben. Auf der anderen wird die Aussicht auf eine Wiedervereinigung nie ganz aufgegeben; sie wird häufig von der Erfahrung des Auseinanderreißens von Familien gespeist. So etwa im Text von G. K.: „Ich bin dafür, daß die Grenzen abgeschafft werden, damit wir unsere Verwandten wieder besuchen können.“48 45 LAB, C REP 120/1990, op. cit., unpag. 46 LAB, C REP 149-13/2, op. cit., unpag. 47 Ebd. 48 Ebd.

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Alles, was einer späteren Wiedervereinigung schaden könnte, wird sofort von den Schülern abgelehnt. Im April 1966 erklärt eine 16jährige Schülerin der Klement Gottwald-EOS in Friedrichshain, sie vertrete die Meinung ihrer Kameraden: Danach würde der Beitritt der DDR zur UNO die Spaltung Deutschlands vertiefen.49 Die ostdeutschen edukativen Behörden sehen sich einer Generation gegenüber, die mit der Existenz zweier deutscher Staaten aufgewachsen ist, die aber unter dem Einfluss der Kernfamilie, der westlichen Medien, später der Ostpolitik Brandts (Grundlagenvertrag 1972) auf eine Annäherung als erste Etappe auf dem Weg zur Wiedervereinigung hofft. Deshalb kommt das neue Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR (20. Februar 1967)50 bei einer Reihe von Schülern nicht gut an. Im März 1967 referiert ein Bericht über den Ablauf der Winterferien politische Diskussionen, die über diesen neuen staatsrechtlichen Status organisiert wurden: „In diesem Zusammenhang gab es an einigen wenigen Schulen Gespräche mit Delegierten der Kreisdelegiertenkonferenz der SED, mit Veteranen bzw. Mitgliedern der Patenbrigaden. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte in diesen Gesprächen das Gesetz über die DDR-Staatsbürgerschaft. Bei einigen Teilnehmern stellte sich heraus, daß sie glauben, daß dieses Gesetz die Spaltung Deutschlands weiter vertieft.“51

Diese Unruhe verstärkt sich noch anlässlich der Verabschiedung der neuen Verfassungen 1968 und 1974. Im Bezirk Weißensee übermitteln die Funktionäre des Schulamts im Frühjahr 1968 ihren Kollegen im Volksbildungsministerium folgende Schülerfragen: „Ist diese neue Verfassung ein Beitrag zur Wiedervereinigung oder ein Hemmnis?“ „Wie werden durch die Verfassung die Beziehungen zur BRD geregelt?“ „Welche Beziehungen bestehen zwischen der Annahme unserer Verfassung und der Wiedervereinigung?“52

Einige Schüler äußern ausdrücklich den Wunsch, dass die beiden Deutschland wieder zusammengeführt werden: „Ein Schüler der 7. OS vertrat den Standpunkt, daß er die Wiedervereinigung um jeden Preis wünsche. Ein anderer Schüler äußerte die Auffassung, daß wir (die DDR) nicht verhandeln wollen.“53 Einige Jahre später, als die neue Verfassung 1974 jeden Bezug auf Deutsches im Text streicht, echauffieren sich einige Schüler darüber. Ein Bericht der SED 49 50

LAB, C REP 902/1990, op. cit., unpag. Das Gesetz über die Staatsbürgerschaft der DDR wird am 20. Februar 1967 von der Volkskammer beschlossen und ersetzt die im Gesetz von 1913 definierte deutsche Staatsangehörigkeit durch eine ostdeutsche. 51 LAB, C REP 120/165, Informationsberichte der Abt. Volksbildung der Bezirke, 1967, pag. 259. 52 LAB, C REP 120/2214, op. cit., pag. 155. 53 Ebd., pag. 156.

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in Weißensee lenkt die Aufmerksamkeit auf die Haltung vieler Schüler der Klassen 8–10 der 3. Schule des Bezirks: „Zu Fragen der objektiven Notwendigkeit der Veränderung der Verfassung der DDR im Unterricht kamen bei einzelnen Schülern Unklarheiten zum Ausdruck, die durch Unterrichtsgespräche geklärt werden konnten. So gab es von Schülern der 8. bis 10. Klassen an der 3. Oberschule derartige Äußerungen und Fragestellungen: „In der neuen Verfassung sei alles ,deutsch‘ gestrichen“ und „warum habe man deutsche Nation gestrichen“.54 Diese Geisteshaltung wird von einer großen Mehrheit der Schüler geteilt, und Echos entsprechender Stellungnahmen finden sich auch in den übrigen Stadtbezirken. Ähnelt diese Haltung der außerhalb der Stadt? Bildet Ostberlin nicht mit seiner unmittelbaren Lage an der Grenze einen Sonderfall, wo die Schüler für diese Problematik besonders empfänglich sind? Das Akzeptieren der Teilung und damit der Zugehörigkeit zur DDR bildet sich allmählich im Laufe der Zeit heraus, insbesondere auf dem Umweg über die ostdeutschen Erfolge bei den Olympischen Spielen, bei Leichtathletik- oder SchwimmWeltmeisterschaften, bei internationalen Fußballwettkämpfen. Diesen Schluss zieht jedenfalls eine Umfrage unter Ostberliner Schülern im Jahr 1967.55 Aber ungeachtet dieser Anfänge der Herausbildung eines ostdeutschen Nationalgefühls betrachtet die große Mehrheit der Schüler trotz des Mauerbaus die BRD weiterhin als Referenzgesellschaft und bleibt sehr empfänglich für westliche kulturelle Einflüsse.

Der kulturelle Einfluss des Westens: Zwischen Stigmatisierung, Kriminalisierung und Toleranz Während sich BRD und DDR in den 1950er Jahren in ihrer Art, mit Problemen des westlichen Kultureinflusses umzugehen, in keiner Weise unterschieden, beobachten wir ab den 1960er Jahren die Persistenz einer antiliberalen und antiwestlichen Tradition in Ostdeutschland, während in der BRD eine tolerantere und offenere politische Kultur entsteht, insbesondere im kulturellen Bereich. Selbst mit der toleranteren Linie, die zwischen 1963 und 1965 mit der Person Karl Turbas verbunden ist,56 gelingt es den Verantwortlichen für die Bildungspolitik nicht, den westlichen 54 LAB, C REP 903-01-08/59, op. cit., unpag. 55 LAB, C REP 902/1990, op. cit., unpag. 56 Im September 1963 lädt K. Turba in einer Mitteilung des Politbüros der SED über die Jugend die ostdeutschen Jugendlichen ein, ihre Wünsche für Eigeninitiative zu äußern und zu organisieren. Er appelliert an das Verantwortungsgefühl der Jugend. Der Text markiert den Beginn einer kurzen Phase der Liberalisierung im Bereich der Kultur und der Toleranz im musikalischen Bereich.

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kulturellen Einfluss auf die Jugendlichen unter Kontrolle zu bringen, weder durch Verbote noch durch Kopieren (etwa die Einführung des Lipsi anstelle des Rock 1959). Dementsprechend gibt es Arbeiten von Historikern über die Entstehung einer westlichen Subkultur in der DDR um die Rock- oder Beatmusik, an der Jugendliche aus allen Schichten der Bevölkerung beteiligt sind.57 Nach dem Mauerbau in Berlin leitet das Regime in den schulischen Einrichtungen eine neue Politik des Kampfes gegen westliche Einflüsse ein. Im Unterschied zu den 1950er Jahren jedoch, als die Eltern die offiziellen Maßnahmen gegen die Verbreitung amerikanischer Comics unterstützten, finden diese nun, dass die Behörden zu weit gehen, wenn sie ein Verbot des Abhörens westlicher Radiosender fordern. Dieses Thema bildet jedenfalls einen der Punkte, die in den Elternversammlungen des letzten Vierteljahres 1962 im Bezirk Berlin-Mitte diskutiert werden.58 Die Haltung der Eltern erklärt sich daraus, dass sie selbst Westradio hören und die Politik, die gegenüber ihren Kindern betrieben wird, sie indirekt selbst betrifft. Obwohl also die Herrschenden ein formelles Verhalten der Unterwerfung unter die offiziellen Forderungen erreichen, toleriert die Mehrzahl der Eltern, dass ihre Kinder westliche Sender hören. Der Kampf gegen die westlichen Einflüsse konkretisiert sich um die Verbreitung der Popkultur, d. h. es geht im Wesentlichen um populäre Variétémusik, die für junge Leute bestimmt ist (beat music). Diese verspricht unmittelbares, nicht reflektiertes Vergnügen weit ab von allem rationalen Denken, sie ist eine „Revolte der Körper“, deren sichtbarster Ausdruck das Tragen langer Haare oder von Jeans ist.59 Die politischen Instanzen sind von einer Furcht erfasst, die an das Irrationale grenzt, und reagieren in der ersten Zeit äußerst kämpferisch mit einer Verlängerung des Krieges, der in den 1950er Jahren gegen die amerikanischen Comics geführt wurde. Der „Kampf “ gegen die Beatmusik spielt sich im Wesentlichen außerhalb der Schulen selbst ab und wird auch nicht in erster Linie von den Lehrkräften und Schulleitungen geführt, sondern von den Beamten der Volkspolizei. Seit der Erfindung tragbarer Transistorradios hören die Jugendlichen nach dem Unterricht in Gruppen Beatmusik in den Parks, auf Plätzen, immer unter der aufmerksamen Überwachung durch die Polizisten:

57 58 59

Siehe insbesondere U. Poiger, op. cit., M. Rauhut, Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag, Berlin 1993. LAB, C REP 120/2223, op. cit., pag. 31. Wir erinnern daran, dass im Frankreich der 1960er Jahre das Tragen des Minirocks für die Mädchen und der Jeans für die Jungen häufig an den höheren Schulen verboten waren.

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„Die 13. OS wurde am 3. 4. 1968 durch die Organe der VIP informiert, daß unter der Führung des Schülers K., 9. Kl., am 2.4. gegen 17.45 Uhr fünf weitere Schüler der 9. Kl. durch die Linienstr. gezogen sind und öffentliches Ärgernis erregt haben. Sie haben mit ihren Kofferradios Beat-Musik laut abgespielt.“60

Diese informellen, meist ausschließlich maskulinen Gruppen entgehen der Kontrolle durch die edukativen Instanzen ebenso wie auf der Ebene der Viertel die Jugendklubs oder in den Schulen die Basiszellen der Jugendorganisationen. Häufig bringen sie Schüler der POS und Lehrlinge zusammen. Sie gewährleisten einen Ausdruck von Selbstbestätigung einer generationellen Kategorie, die ihre Besonderheit im öffentlichen Raum zeigen will: der Jugend. Die Straße oder der Park sind Räume, wo der Zugriff der edukativen Autoritäten gleich Null ist. Die Gruppen gelten als „gefährlich“, weil sie der Kontrolle durch Schule und Jugendorganisationen entgehen. Dieses Problem ist nicht neu: Seit dem Kaiserreich gibt es Überlegungen darüber, wie dem Phänomen der Banden durch die Einrichtung von Jugendklubs (Settlement-Bewegung) zu begegnen sei.61 Die zwar unpolitische, aber kulturell „störende“ Attitüde der Jugendlichen im öffentlichen Raum begegnet in der DDR einer Stigmatisierung und sogar Kriminalisierung. So richtet die Polizei ab Sommer 1959 eine Kartei mit den Namen von Jugendlichen ein, die wegen ihres „Rowdytums“ aufgefallen sind (kleinere Delikte, Erregung öffentlichen Ärgernisses …). Nach weniger als einem Jahr sind in der gesamten DDR mehr als 7 000 Personen registriert.62 Diejenigen, die nicht mit der Volljährigkeit ihren Militärdienst ableisten, enden in der Kategorie der Asozialen.63 In den Berichten wird die Überwachung dieser Jugendbanden mit ihrem potentiell gefährlichen Charakter begründet. Im Februar 1969 zieht der Staatsanwalt in Friedrichshain eine Bilanz der Überwachungsaktivitäten der Sicherheitsorgane in seinem Bezirk:

60 LAB, C REO 120/263, op. cit., pag. 29. 61 R. Lindner, „Straße-Straßenjunge-Straßenbande. Ein zivilisationstheoretischer Streifzug“, in: Zeitschrift für Volkskunde, 2, 1983, S. 192–208; ders., „Bandenwesen und Klubwesen im wilhelminischen Reich und in der Weimarer Republik“, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 10, Nr. 3, 1984, S. 352–375. 62 SAPMO, DY 30 IV 2/16/90, SED Abt. Jugend, Analysen, Berichte und Informationen an den Vorsitzenden der Kommission für Jugendfragen beim ZK Paul Verner über die Jugendarbeit beim weiteren Aufbau des Sozialismus in der DDR, Oktober 1959–November 1962, pag. 42. 63 T. Lindenberger, „Asoziale Lebensweise, Herrschaftslegitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines „negativen Milieus“ in der SED-Diktatur“, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 31, Nr. 2, April–Juni 2005, S. 227–254.

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„Diese Gruppierung [Gruppierung am Dreieckplatz-Simon Dach Str.-Wühlischstr.] hatte keine feste Organisationsform, sondern traf sich mehr oder weniger zufällig. Ihr Verhalten in der Öffentlichkeit reichte von der Belästigung der Bürger bis zum ruhestörenden Lärm durch lautes Abhören westlicher Beatmusik mittels Kofferradio. Das gemeinsame Abhören westlicher Rundfunksender und das Ansehen von Westfernsehen prägte den Charakter der einzelnen Jugendlichen. Sie zeigen selbst kein Interesse an einer sinnvollen Freizeitgestaltung.“64

Der deutsche Historiker Thomas Lindenberger hat in einer jüngeren Studie über die Volkspolizei gezeigt, wie die ostdeutschen Kriminologen und Juristen eine juristische Kategorie – die des Rowdytum – konstruieren, die insofern Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse hat, als die Polizeibeamten die Jugendlichen in einem politisch-militärischen Interpretationsrahmen wahrnehmen, in dem jedes nonkonformistische Verhalten als gefährlich gilt.65 Diese „schwarze Pädagogik“66 wird sehr deutlich sichtbar in einer Denkschrift einer Arbeitsgruppe der SED über Jugendfragen, die im Februar 1960 an Paul Verner ergeht: „Angesichts der stürmischen Entwicklung und der großen Erfolge beim Aufbau des Sozialismus in der DDR versuchen die Bonner Kreise, gestützt auf ihre gekauften Subjekte und deren Mitläufer, durch Rowdytum und Bandenunwesen Unruhe unter die Bevölkerung der DDR zu bringen. Die Organisierung von Rowdytum und Banden in der DDR ist eine Form des Klassenkampfes und der psychologischen Kriegsführung der westdeutschen Imperialisten.“67

Von der Stigmatisierung schreitet man zur Kriminalisierung solcher Verhaltensweisen, die nun in die gleiche Kategorie eingeordnet werden wie kleinere Delikte (Diebstahl, Vandalismus, Körperverletzung, Störung der öffentlichen Ordnung). Im Übrigen setzen sich die Anhänger der harten Linie gegenüber der Jugend (verkörpert durch Erich Honecker) gerade auf der Grundlage solcher polizeilicher Statistiken im Dezember 1965 auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED gegen die tolerante Linie K. Turbas durch. In diesem Kampf bleibt die Schule ein Ort, der vorrangig zu überwachen ist, denn hier tauschen die Schüler Kassetten und Tonbänder mit Aufnahmen von Radio Luxemburg (vor allem die Sendung Die Hits der Woche ist sehr populär) sowie westliche Magazine. Durch Druck und Einschüchterungen gelingt es den Schulleitern eine zeitlang, die „Langhaarmode“ einzudämmen, bevor sie sie ab den 1970er 64 LAB, C REP 135-12/5, Rat des Stadtbezirks Friedrichshain, Ordnung und Sicherheit, 1962–1970, unpag. 65 T. Lindenberger, Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968, Köln 2003. 66 T. Lindenberger, „Secret et public: société et polices dans l’historiographie de la RDA“, in: Genèses, Nr. 52, op. cit., S. 53. 67 SAPMO, DY 30 IV 2/16/90, op. cit., pag. 23.

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Jahren tolerieren. Wie in den 1950er Jahren bei den amerikanischen Comicheften können sie sich auf die Unterstützung der Eltern stützen (selbst denen, deren Unterstützung des Regimes sich auf ein Lippenbekenntnis beschränkt), da dieses Phänomen von vielen Erwachsenen als Zeichen von Dekadenz empfunden wird. H. M., geboren 1953, trägt während seiner Zeit auf der Oberschule lange Haare. Aber im Abschlussjahr muss er sie abschneiden, damit er zu den mündlichen Prüfungen zugelassen wird. Dieser schulische Druck wird noch verstärkt durch einen kulturellen Generationskonflikt mit den Eltern, denen diese Mode nicht gefällt.68 In den 1970er Jahren wird die Beat-Musik schließlich in nachmittäglichen Discos, die die FDJ ausrichtet, gestattet. Ein in den frühen 1980er Jahren entstandener Dokumentarfilm von Günther Jordan, der von der SED verboten wird, illustriert diese musikalische Toleranz am Beispiel eines Klubs am Helmholtzplatz im ­Prenzlauer Berg.69 Diese Toleranz ist für die ostdeutschen politischen Autoritäten eine Möglichkeit, den Anschein zu erwecken, sie übernehme wieder die Kontrolle über ihre Jugend. Trotz des Mauerbaus und der starken Politisierung des schulischen Feldes partizipieren die Schüler in der DDR an der Popkulturbewegung, die vor allem einen kulturellen Generationskonflikt zum Ausdruck bringt, den die politischen und edukativen Behörden allerdings weiterhin als eine Infragestellung der politischen Ordnung interpretieren. Die Popkultur bedeutet auf musikalischer Ebene Freiheit des Wortes, des Körpers, die Freiheit, man selbst zu sein in einer Erwachsenenwelt, die als geschlossen und repressiv erscheint. Dies ist der ganze Sinn der Botschaft, die von Schriftstellern wie Urich Plenzdorf in Die neuen Leiden des jungen W. verkündet wird. Ein westlicher kultureller Einfluss lässt sich im schulischen Feld, wo es die ­Behörden verstanden haben, die Einhaltung der sozialistischen Normen zunehmend durchzusetzen, kaum feststellen. Er stammt aus dem privaten Bereich (Fernsehempfang) oder dem Raum außerhalb der Schule, wo er streng überwacht und bekämpft wird.70 Ungeachtet der offiziellen edukativen Politik bleiben die meisten Heranwachsenden „ideologische Grenzverletzer“, die in unerhörter Weise deutlich machen, dass es dem DDR-Regime nicht gelingt, seine Jugend so zu konfektionieren, wie es das möchte. Selbstverständlich ist dieses Phänomen in der Stadt Ostberlin weitaus

68 69 70

Interview mit H. M. vom 23. Juli 2003. Einmal in der Woche schrei’n von Günther Jordan (1982). Siehe zu diesem Thema die Erinnerungen von C. Dieckmann, Die Liebe in den Zeiten des Landfilms. Eigens erlebte Geschichten, Berlin 2002, S. 79–91. Christoph Dieckmann ­wurde 1956 als Sohn eines Pastors geboren und ist in einem Internat in Sachsen ­aufgewachsen.

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stärker als in den ländlichen Regionen oder an Orten, wo der Empfang westlicher Sender schlechter ist. Tabelle 19:  Rezipienten des westdeutschen Fernsehens 1973–1988 in der DDR (in %).71

1973

1978

Ende 1988

Täglich

22

27,1

69,2

Mehr als 1 Mal/Woche

25,1

30,2

25,9

Mehr als 1 Mal/Monat

13,3

14,7

0,8

Fast nie

17,7

15,8

3,1

Nie

21,9

12,2

1,1

Die Ergebnisse der oben wiedergegebenen soziologischen Umfrage aus den 1970er und 1980er Jahren zeigen, dass der Empfang westdeutschen Fernsehens in der DDR immer weiter zunimmt und ein fester Bestandteil des Alltags geworden ist. Im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre internalisieren die Schüler eine Reihe sozialistischer Werte, die aber nicht immer den tatsächlichen Erwartungen des Regimes entsprechen. Trotz des Mauerbaus werden sie weiterhin von der westlichen Popkultur beeinflusst und glauben weiterhin an die Wiedervereinigung Deutschlands. Nichtsdestotrotz trägt der Konformismus innerhalb der Schulen dazu bei, das Schulsystem zu stabilisieren und protestförmige und grenzverletzende Verhaltensweisen in seinem Inneren zu reduzieren. Allerdings sind einige Jugendliche ungeachtet des Mauerbaus immer noch gewillt, die DDR zu verlassen.

„Provokationen“ und „Fluchten“ in den Westen Ab den späten 1960er Jahren werden in den Berichten der Schulbehörden Ostberlins praktisch keine „Provokationen“ seitens der Schüler innerhalb der Schule mehr erwähnt. Diese Ruhe zeugt möglicherweise von einem generalisierten politischen Konformismus der Schüler, die sich mit der Ideologisierung des Unterrichts und der Praktiken abfinden müssen, wenn sie ihre Ausbildung fortsetzen wollen. Eine Dienstanweisung der Ostberliner Schulbehörden von November 1966 erinnert daran, dass die edukativen Behörden über die Waffe der Relegation verfügen  – die nach 1961 eine ganz andere Bedeutung erhält: „In allen Fällen, wo Schüler der EOS sich an Provokationen beteiligten und in krasser Form gegen die Schulordnung ver­ stoßen, sind sofort Anträge auf Relegierung zu stellen. Die relegierten Schüler sind 71

GESIS, ZA 6 159, Intervallstudie Entwicklungsfaktoren, 1968–1980, pag. 53; GESIS, ZA 6 045, Einstellungen zum Leben und zum Alltag bei Schülern, 1988, pag. 29.

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in Arbeitsstellen zu vermitteln. Dabei ist zu sichern, daß die anderen Bildungswege zum Abitur ebenfalls vorläufig gesperrt werden.“72 Die Quellen  – auch die von der Parteibasis  – schweigen und begnügen sich damit, Erfolge des ostdeutschen Schulsystems aufzulisten. Damit entsteht der Eindruck einer Stabilisierung der edukativen Strukturen. Der Historiker kann aber auf dem Umweg über einige Berichte feststellen, dass trotz der Herrschaft der symbolischen Gewalt die „Provokationen“ nicht völlig verschwunden sind. Die Quellen tendieren aber dahin, die Vorfälle durch entsprechende Wortwahl als weniger gefährlich einzustufen, indem sie den Begriff „Provokation“ durch „Auseinandersetzung“ ersetzen.73 Selten werden Vorfälle konkret wiedergegeben. Kinder von Pastoren weigern sich, eine Protestresolution zu unterzeichnen, mitunter werden Porträts und Wandzeitungen beschädigt, Schüler zeichnen Hakenkreuze oder schreiben Texte mit Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus („Heil Hitler! Es lebe der Führer der Deutschen!“).74 Insgesamt erwähnen die Berichte der 1960er Jahre ständig, dass einige Schüler eine „schwankende“ oder „objektivistische“ Haltung haben, das heißt in unzureichendem Maße engagiert sind.75 Verglichen mit den 1950er Jahren bleibt das Repertoire der grenzverletzenden Praktiken also im Grunde das gleiche. Aber die Generation ist nicht mehr die ­selbe. Wo es politischen Dissens gibt, baut dieser nicht mehr unbedingt auf westlichem Antikommunismus auf. Mitunter kann der Dissens eine andere Form des ­Sozialismus vertreten. So beobachten die Funktionäre der Ostberliner Schul­ behörden in den späten 1960er Jahren – während der frühen Phase der c­ hinesischen Kulturrevolution und der mit ihr einhergehenden Aufwertung der Jugend als ­politischen Akteurs  – eine Welle des Maoismus an den Schulen. Eine solche Begeisterung für den Maoismus, die sich im Tragen vom Mützen mit Aufschriften wie „Mao-Fan“ oder der Parole „Es lebe Mao“ ausdrückt, wird im September 1967 in der ­Kant-Oberschule in Lichtenberg bemerkt.76 Die Behörden sind, wie ein Brief des Ersten Sekretärs der SED des Kreises Mitte an den ersten Sekretär des Bezirks Berlin Paul Verner belegt, machtlos gegenüber der Ausweitung dieser Welle des Maoismus unter der ostdeutschen Jugend, in den polytechnischen und Berufsschulen:

72 LAB, C REP 135-13/5, Rat des Stadtbezirkes Friedrichshain, Jugendkriminalität, 1966, unpag. 73 LAB, C REP 120/191, Berichte und Analysen des Bereiches Volksbildung – Ergebnisse der massenpolitischen Arbeit 1967–1968, pag. 14. 74 LAB, C REP 135-3/17, Rat des Stadtbezirkes Friedrichshain, Abteilung Volksbildung, Informationsberichte 1965–1967, unpag. 75 LAB, C REP 2410-1, op. cit., pag. 10. 76 LAB, C REP 120/166, op. cit., pag. 130.

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„In der letzten Zeit gibt es mehrere Hinweise über einen verstärkten Einfluss der Botschaft der VR China auf bestimmte Gruppen von Jugendlichen, insbesondere an den allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen und Berufsschulen. […] Es gibt auch in den Schulen einige Erscheinungen, daß Schüler der oberen Klasse sich in der Botschaft informieren wollten. Von der VPI wurde mir mitgeteilt, daß einige jugendliche Gruppierungen das Abzeichen von „Mao“ tragen.“77

Für die Behörden kann es sich nur um eine Einflussnahme seitens der Botschaft Chinas handeln; tatsächlich ist dieser Maoismus aber die Frucht westlichen Einflusses. Er besteht weniger in der theoretischen Basis eines von Peking unterstützten politischen Dissens denn im minoritären Ausdruck eines versteckten Generationskonflikts. Die Anspielungen auf Mao sind letztlich eine Form der Überhöhung der Jugend und des Angriffs auf die Autorität der Erwachsenen. Die Biermann-Affäre78 zeigt in den 1970er Jahren, wie weit die Schüler in ihrer Kritik gehen können. Ein Bericht des Schulamtes des Bezirks Weißensee fokussiert auf die Wahrnehmung der Biermann-Affäre in den Schulen. Der Funktionär betont die weitgehende Indifferenz im Lehrkörper und bei der Schülerschaft, die sich aus der Tendenz erkläre, sich mit öffentlichen Positionierungen zurückzuhalten. ­Einige Schüler gehen jedoch weiter als nur Zweifel an der Stichhaltigkeit der E ­ ntscheidung anzumelden, den Sänger aus der DDR auszubürgern. E.A. ist eine Schülerin der 12. Klasse, die nicht einverstanden ist mit den offiziellen Maßnahmen: „Man sollte mehr Meinungsfreiheit zulassen. Texte von Biermann sollten veröffentlicht werden.“79 Diese Schülerin spielt mit dem Raum, der ihr gelassen wird. Sie erlaubt es sich, offen eine offizielle Entscheidung zu kritisieren, vermutlich wohl wissend, dass sie auf einer der nächsten Sitzungen der FDJ-Mitglieder wird Selbstkritik üben müssen. Schließlich wäre dieser Abschnitt über grenzverletzende Akte unvollständig, wenn wir nicht die Frage der Fluchtversuche in den Westen behandelten. Diese ist beunruhigend und kehrt regelmäßig in den Funktionärsberichten aus den Schulbehörden der Ostberliner Bezirke der 1960er Jahre wieder. Es handelt sich um eine kleine, aber stetige Minderheit an Schülern, die versucht, in den Westen zu gehen.

77

LAB, C REP 903-01-04/495, SED-Kreisleitung Mitte, Bericht über den negativen Einfluß der Botschaft der VR China auf einige Jugendliche, 1967, unpag. 78 Dem Sänger Wolf Biermann wird im November 1976 die ostdeutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wegen eines „gegen die DDR und den Sozialismus gerichteten musikalischen Programms“ bei einem Konzert in Köln. Diese Maßnahme markiert einen Wendepunkt in der Kulturpolitik Honeckers, der seit seinem Aufstieg zur Macht im Jahre 1971 eher tolerant gewesen war. Die Entscheidung führt zu einer Welle von Protesten seitens ostdeutscher Intellektueller. 79 LAB, C REP 903-01-08/599, op. cit., unpag.

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Im Bezirk Mitte sind die Zahlen für die Jahre 1962 und 1963 alles andere als zu vernachlässigen. Tabelle 20:  Zahl der Fluchtversuche von Jugendlichen von 14–18 Jahren nach Westberlin 1962 und 1963.80

Monat

Zahl der Versuche 1962

Zahl der Versuche 1963

Juli

11  9 14  5 21  8 68

 1  6 19  1 12  6 44

August September Oktober November Dezember Gesamt

Über die 1960er Jahre hinweg sinkt die Zahl der Fluchtversuche von 180 im Jahre 1962 auf 60 1967/1968.81 Dabei ist für uns von Interesse, dass es sich um 15jährige Schüler handelt, die in kleinen Gruppen von zwei oder drei handeln. In den meisten Fällen sind diese Versuche von Abenteuerlust und vor allem von dem Willen angetrieben, sich der elterlichen Autorität zu entziehen. Ein politisches Motiv wird selten vorgebracht. Jedenfalls sind die Schulbehörden von diesen regelmäßigen Fluchtversuchen von Schülern beunruhigt, zumal diese trotz ihrer Fehlschläge bei ihren Kameraden als Helden gefeiert werden: „Der Gen. Weber, Abt. Volksbildung, brachte zum Ausdruck, daß eine solche Situation an einigen Schulen ist, daß die Kinder, die an der Staatsgrenze gestellt werden, in den Schulen als „Helden“ gefeiert werden.“82 Zudem werde das Desinteresse einiger Lehrkräfte an solchen Angelegenheiten angeprangert.83 Mit den frühen 1960er Jahren setzt eine Phase der Stabilisierung des Regimes im Bereich der Erziehung neuer Generationen ein, die bereits in der DDR geboren sind. Mit dem Bau der Berliner Mauer glaubt das Volksbildungsministerium stetiger an der Produktion des neuen sozialistischen Menschen arbeiten zu können, die als 80 LAB, C REP 131-12/5 160, Rat des Stadtbezirks Mitte, Kriminalitätsanalysen für den ­Bezirk Mitte, 1964–66, unpag. 81 LAB, C REP 120/165, Informationsberichte der Abt. Volksbildung der Bezirke, 1967, pag. 27 und 187; LAB, C REP 120/2 214, Informationsberichte an das Mf V, 1968, pag. 74; LAB, C REP 120/2 203-1, op. cit., pag. 37; LAB, C REP 120/166, op. cit., pag. 99. 82 LAB, C REP 145-12/5 248, Rat des Stadtbezirks Treptow, Innere Angelegenheiten, Jugendkriminalität, 1961–1964, pag. 24. 83 Ebd., pag 24.

Generationen des real existierenden Sozialismus?

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pädagogisches Ziel zu dieser Zeit immer noch auf der Tagesordnung steht. Die Wirkungen, die die sozialistische Erziehung erzielt, sind aber nicht immer die von den politischen Autoritäten erhofften. Die Schüler erlernen die sozialistischen Normen, Praktiken und Werte, die ihnen bald als „natürlich“ erscheinen, aber sie wenden sich deshalb nicht von der BRD ab, die weiterhin die Referenzgesellschaft darstellt. Sie erwerben allmählich eine gewisse Klarheit darüber, was Sozialismus oder Antifaschismus sind; sie entwickeln ein Bild der UdSSR, in dem sich Lenin und die russischen Puppen vermischen. Da das Regime nicht in der Lage ist, massenhaft militante sozialistische Schüler heranzubilden und auf diese Weise die „Seelen zu beherrschen“, will es sie disziplinieren und über die Militarisierung der Schule ein ostdeutsches Nationalgefühl wecken.

Kapitel XI Die Schule als Kaserne der ostdeutschen Nation

Als Fortsetzung der Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) im Jahre 1956 und in direktem Zusammenhang mit dem Bau der Berliner Mauer wird das schulische Feld immer stärker von der Institution Militär, den paramilitärischen Organisationen und seinen Werten durchdrungen. Die NVA wird in diesem Zusammenhang ab den 1960er Jahren zu gleichem Recht wie die Betriebe oder die Jugendorganisationen ein neuer unumgänglicher edukativer Akteur innerhalb der Schule. Der Gebrauch des Begriffs „Militarisierung“ ist daher in besonderem Maße angemessen zur Beschreibung der Entwicklung, die die 1960er und 1970er Jahre prägt.1 Der Begriff bedeutet an dieser Stelle nicht die Kontrolle der politischen Macht durch militärische Eliten, sondern einen Prozess der Diffusion militärischer Werte in der ostdeutschen Gesellschaft. Wir halten es für sinnvoll, dieses Konzept eines „militarisierten Sozialismus“ näher zu betrachten, um zu zeigen, wie es darauf abzielte, bei den Kindern und Jugendlichen ein ostdeutsches Nationalgefühl herzustellen. Es war zudem Ausdruck des ungeheuren Sicherheitsbedürfnisses dieses Staates, dessen identitäre Grundlage ursprünglich nicht die Nation hatte sein können. Um diese Politik zu verstehen, dürfen wir niemals die generationelle Dimension aus dem Blick verlieren. Sie wird von einer Generation von Kommunisten betrieben, die von den Auswirkungen der „Kriegskultur“ auf das politische Leben der Weimarer Republik, der Diktatur des Nationalsozialismus, dem Bürgerkrieg in Spanien und dem Zweiten Weltkrieg geprägt ist. Wir wollen versuchen, das Ziel dieses Militarisierungsprozesses zu verstehen, der zu keinem Zeitpunkt Ausdruck einer irgend gearteten Aggressivität nach außen gewesen ist.2 Er richtet sich auf die ostdeutsche Bevölkerung mit einem doppelten Streben nach Disziplinierung und nach der Schaffung eines Nationalgefühls.

1

2

Es ist nicht ohne Interesse, dass die Anwendung dieses Begriffs auf den schulischen Bereich bei allen interviewten SED-Mitgliedern auf heftige und empörte Reaktionen stieß. Sie wiesen das Konzept im Namen der „antimilitaristischen Motive“ zurück, die ihr Handeln geleitet hätten, sowie im Namen ihrer Zugehörigkeit zu einer Generation, die vom Zweiten Weltkrieg geprägt wurde. Die SED rechtfertigt die militärische Erziehung durch den Bezug auf eine Position Lenins, der zufolge der Kommunismus, so lange es Kapitalisten in der Welt gebe, wachsam bleiben und sich zu seiner Verteidigung bewaffnen müsse. Sie verkehrt einen Gedanken Karl Liebknechts – Der Militarismus ist nichts spezifisch Kapitalistisches – konträr zu seinem Denken in Militarismus und Antimilitarismus aus dem Jahre 1906.

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Von der „patriotischen Erziehung“ zur „Sozialistischen Wehrerziehung“ Nach dem Bau der Berliner Mauer und im Kontext der Stabilisierung des Landes wird das sozialistische edukative Projekt in beträchtlichem Umfang militarisiert, insofern als in die Zivilgesellschaft, genauer in die Schule, militärische Prinzipien, Werte und Praktiken eingeführt werden. Die Begriffe „Sozialistische Wehrerziehung“ und „sozialistische Wehrmoral“ erscheinen in den Quellen ab den Jahren 1962/1963. Diese Wehrerziehung wird definiert als Aufforderung, die Nation zu verteidigen: „Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereits sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen.“3 Sie soll die Einbeziehung der Jugend in die Verteidigung des Vaterlands zum Ausdruck bringen und eine klare Unterscheidung zwischen „Freunden“ und „Feinden“ der DDR ermöglichen. Bei zahlreichen Gelegenheiten wird daran erinnert, dass die „sozialistische Wehrmoral“ auf emotionalen Bindungen zwischen den Schülern und ihrem Land beruhen muss. Deshalb wird das lexikalische Feld der Familie immer wieder in den offiziellen Direktiven der SED bemüht: „Das sozialistische Wehrmotiv ist auch stärker emotionell zu begründen, geht es doch um den Schutz des friedlich sozialistischen Lebens unseres Volkes, um den Schutz unserer Frauen und Kinder.“4 Diese fortgesetzte Militarisierung der Erziehung geht einher mit einem Paradigmenwechsel im ostdeutschen edukativen Projekt. Über den Willen, die ostdeutsche Jugend zu kontrollieren, diesen „inneren Feind“5 in den Griff zu bekommen hinaus ist das edukative Projekt der DDR nicht mehr nur sozialistisch. Der Wille, ein Gefühl nationaler Identität über Praktiken militärischer Herkunft herzustellen, tritt nach 1961 klar in den Vordergrund. Darüber hinaus ist nicht mehr der Arbeiter das heldische Referenzmodell, sondern in zunehmendem Maße der Soldat, der die Grenze verteidigt und dessen Fotografie regelmäßig die Seiten der Schulbücher und der Zeitschriften für Kinder ziert. Diese edukative Politik soll Bürger heranziehen, die an ein Gesellschaftsmodell (den Sozialismus) und an eine Nation (die DDR) gebunden sind. Die erzieherische Linie, die ab den 1960er Jahren verfolgt wird, erscheint nicht als deus ex machina in der Talsohle. Sie ist einfach die Intensivierung einer ­Politik, de3 4 5

LAB, C REP 902/2 082, SED-Bezirksleitung Berlin, Einschätzungen und Bericht über die Ergebnisse der sozialistischen Wehrerziehung, 1963–1967, unpag. LAB, C REP 902/2 916, SED-Bezirksleitung Berlin, Sozialistische Wehrerziehung, 1968– 1969, unpag. D. Wierling, „Die Jugend als innerer Feind. Konflikte in der Erziehungsdiktatur der sechziger Jahre, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr, op. cit., S. 404–425.

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ren Ursprünge auf die frühen 1950er Jahre zurückgehen. Die Präambel des G ­ esetzes über die Jugend von 1950 erklärte bereits, es sei die heilige Pflicht der Jugend, sich für die Sicherheit und die Verteidigung des Friedens einzusetzen; damals beschränkte sich das Volksbildungsministerium aber noch auf die Ebene des ­Diskurses. Im Jahre 1952, parallel zur Gründung der Gesellschaft für Sport und Technik (GST), die dem Verteidigungsministerium untersteht, hebt das in Leipzig zusammengetretene 4. Parlament der FDJ die Notwendigkeit hervor, als Reaktion auf die Unterzeichnung des Pariser Vertrags durch die BRD (9. Mai) eine Wehrerziehung einzuführen. In den 1950er Jahren wird jedoch die Bezugnahme auf Wehrerziehung offiziell nicht verwendet, und die GST ebenso wie die NVA bleiben auf dem schulischen Feld völlig abwesend. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist noch zu präsent in den Gemütern, und die Aufgabe des Regimes besteht noch darin, eine sozialistische Schule zu schaffen. Eine prämilitärische Ausbildung besteht bereits in Form der sportlichen ­Aktivitäten, die die FDJ für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 14 und 25 Jahren ausrichtet; diese finden aber außerhalb der Schule statt und betreffen nur eine Minderheit von Schülern in Ostberlin. Die Quellen aus den 1950er Jahren erwähnen sie fast nie. Das Ministerium für Volksbildung legt in dieser Zeit den Akzent auf etwas, das es als „patriotische Erziehung“ bezeichnet, das heißt auf die Entwicklung eines Gefühls der Identifizierung mit der DDR über Exkursionen, Geographiekurse6 und das Erlernen von Liedern mit dem Thema Heimat. Das Regime will so eine sinnliche Anhänglichkeit an das Land der Geburt im engeren Sinne herstellen.7 Das bekannteste Lied, Unsere Heimat, datiert von 1967. Der Text von Herbert Keller auf eine Musik von Hans Naumilkat entwickelt das Thema des Schutzes des sozialistischen Vaterlands, das in Form seiner Naturschönheiten vorgestellt wird, und schreibt sich gut in den Zeitgeist, das heißt in den Übergang zur sozialistischen Wehrerziehung, ein. Das nur einstrophige Lied entspricht der Tradition des Volkslieds. Es zieht seine Wirkung daraus, dass die Worte von einem Chor gesungen werden, und vermittelt ein Gefühl von Majestät, von Feierlichkeit, das von einem langsamen Rhythmus und einem Crescendo noch verstärkt wird.

6 7

Siehe zum Fall Frankreich I. Lefort, La Lettre et l’esprit. Géographie scolaire et géographie savante en France 1870–1970, Paris 1992, und M. Benoit, L’enseignement de la géographie à l’école primaire 1867–1991. Les instituteurs face aux programmes, Paris 1992. Eine Reflexion über den Unterschied zwischen Vaterland und Heimat bietet T. Serrier, ­Entre Allemagne et Pologne. Nations et identités frontalières, 1848–1914, Paris 2002, S. 18.

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„Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald. Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluß sind die Heimat. Und wir lieben die Heimat, die schöne Und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.“

Nach dem Bau der Berliner Mauer will das Regime die Armee zur Wiege dieser nationalen Identität machen. So wie der Betrieb die „Matrize“ der sozialistischen Gesellschaft ist, soll die Armee die Matrize der ostdeutschen Identität werden. Es ist kein Zufall, dass die Einführung einer Wehrpflicht von der Volkskammer am 24. Januar 1962 beschlossen wird,8 weniger als sechs Monate nach dem 13. August 1961. Im Oktober des gleichen Jahres wird auf Beschluss des Politbüros der SED9 eine Struktur eingerichtet, über die die sozialistische Wehrerziehung vor Ort koordiniert werden soll. Diese Kommissionen für sozialistische Wehrerziehung sollen Vertreter der verschiedenen Massenorganisationen (FDJ, GST, FDGB, Deutscher Turn- und Sportbund (DTSB)), der Schule und der Sicherheitskräfte der DDR (Stasi, Polizei, Armee) zusammenführen, um die militärischen Aktivitäten zu koordinieren. Insbesondere sollen sie die Vermittlung einer „sozialistischen Wehrmoral“ und der „Liebe zum sozialistischen Vaterland“ sicherstellen. Sie sind außerdem damit beauftragt, in enger Zusammenarbeit mit der NVA künftige Offiziere zu rekrutieren. Alljährlich legen diese Kommissionen nach dem Modell der Planwirtschaft Quoten für Offiziere und Unteroffiziere der einzelnen Waffengattungen fest. Die Schule soll den Fächer ihrer edukativen Missionen erweitern und eine militärische Vorerziehung der Jugendlichen sicherstellen. Die Wehrerziehung wird nach dem 11. Plenum der SED im Dezember 1965 eine der wichtigsten Säulen der Institution Schule. Dieser Wandel wird immer als das Ende eines gewissen „Liberalismus“ im Bereich der Kultur- und Jugendpolitik dargestellt, der 1963 von K. Turba initiiert worden war.10 Die harte Linie im Zentralkomitee der SED um das Ehepaar Honecker verurteilt die Abweichungen und Perversionen des „Liberalismus“ gegen  8 1964 führt die DDR auf Druck der Kirchen, der theologischen Fakultäten und der CDU der DDR einen Wehrdienst ohne Waffen in den Baueinheiten ein. Diese „Spatensoldaten“ sind das Ziel von Pressionen, werden von der Stasi überwacht und später bei der Arbeitssuche diskriminiert. Siehe T. Widera (Hg.), Pazifisten in Uniform. Die Bausoldaten im ­Spannungsfeld der SED-Politik 1964–1989, Göttingen 2004.   9 SAPMO, DY IV A2/12/151-153, ZK der SED, Abt. Sicherheitsfragen. 10 Siehe G. Agde, Das 11. Plenum des ZK der SED. Studien und Dokumente, Berlin 1991; M. Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1954–1990. Ein historischer Abriss, 3. A. Köln 1997.

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über der Jugend und setzt einen wieder intensiveren Zugriff auf die ostdeutsche Jugend durch, an dem die Armee beteiligt werden soll. Von Interesse ist an dieser Stelle die Wirkung, die das 11. Plenum auf den Platz der Armee in der Schule hat. Im Schulgesetz vom 25. Februar 1965 wird der Wehrerziehung keine einzige Zeile gewidmet. Im Jahre 1966 unterzeichnen das Volksbildungsministerium und das Verteidigungsministerium eine Übereinkunft, die die „Militarisierung“ der Schulbücher, die obligatorische Einführung des Sportschießens in die Leibeserziehung, eine Verstärkung der Präsenz der Armee in der Schule, Patenschaften und Feierlichkeiten vorsieht. Ein Jahr später fordert das Volksbildungsministerium die Schulleiter auf, die ersten militärischen Übungen in den Schulen durchzuführen: die Pionierma­ növer und die Hans Beimler-Wettkämpfe. Das eigentlich neue Element ist jedoch die Gründung von Basiszellen der GST in den schulischen Einrichtungen.

Die Implantierung der GST in die Ostberliner Schulen Nach den Jugendorganisationen und den Betrieben in den 1950er Jahren erfährt die Gesellschaft für Sport und Technik direkt zu Beginn der 1960er Jahre, noch vor dem Bau der Mauer, eine Aufwertung zum edukativen Akteur. Eine ganze Reihe von Direktiven und Vereinbarungen setzt die Eckpfeiler für diese Implantierung. Auf dem zweiten Kongress der GST im Jahre 1960 ordnet die SED ihr eine edukative Kompetenz zu, die in die Organisationsstatuten aufgenommen wird.11 Im Februar 1960 treffen die Schulbehörden Ostberlins eine Vereinbarung mit der Berliner Leitung der GST. Diese Vereinbarung sieht die Einrichtung von Basiszellen der GST in den Schulen und die Übernahme bestimmter außerschulischer Aktivitäten in Form von Freizeitgruppen militärischen Charakters vor (Funk, Automobiltechnik …). Eine nationale Vereinbarung zwischen dem Ministerium, der GST, den Jugendorganisationen (FDJ und Pioniere) und dem DTSB wird im März 1961 getroffen und führt militärische Themen in die Pionieraktivitäten ein. Das Tätigkeitsfeld umfasst die Bereitstellung von Lagern für vormilitärische Ausbildung für Schüler der Klassen 8–10 und Oberschüler, die dies wünschen. Tatsächlich beginnt die Implantierung der GST-Zellen erst nach dem Bau der Berliner Mauer. Zwischen September und Dezember 1961 fasst die paramilitärische Organisation Fuß in mehr als 800 Schulen des Landes und betreut mehr als 11

P. Heider, „Die Gesellschaft für Sport und Technik (1952–1990)“, in: T. Dietrich/H. Ehlert/ R. Wenzke (Hg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, S. 169–199. Siehe auch U. Berger (Hg.), Frust und Freude. Die zwei Gesichter der Gesellschaft für Sport und Technik, Schkeuditz 2002.

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24 000 Schüler. In Ostberlin zählt die GST im Dezember 1961 45 Basiszellen und 1 185 Mitglieder in den POS und EOS.12 Im Bezirk Prenzlauer Berg werden mit dem Schulbeginn im September 1961 an sieben Schulen Basiszellen eingerichtet, die 180 Schüler umfassen. Im Bezirk Weißensee hat zum Jahresende jede Schule eine Basisorganisation. Die GST scheint bei einigen Schülern, die mitunter beitreten, ohne ihre Eltern um Erlaubnis zu fragen, auf ein positives Echo zu stoßen. Wir betrachten hier ein Phänomen, das uns bereits bei der Pionierorganisation in den 1950er Jahren begegnet ist. In der 17. Schule in Köpenick hat die GST Erklärungen von Schülern, darunter einem Mädchen, erhalten, der paramilitärischen Organisation beizutreten. Letzteres gibt einige Tage später sein Aufnahmeformular zurück mit einer schrift­ lichen Randbemerkung der Eltern, die ihr dieses Engagement verbieten: „Ihre E ­ ltern haben ihr verboten, in die GST einzutreten. Sie wollen nicht, daß ihre ­Tochter zum Flintenweib ausgebildet wird.“13 Sie ist nicht die einzige, die einen Rückzieher macht: Von den zehn Rekruten dieser Schule widerrufen insgesamt neun. Auf dem Papier entwickelt sich die GST sehr rasch: Laut einem Bericht der SED in Ostberlin von 1965 ist die GST in 138 von 176 POS und EOS (also 78 %) vorhanden.14 Wenn man diese Implantierung mit der der Jugendorganisationen in den 1950er Jahren vergleicht, überrascht diese extrem hohe Geschwindigkeit. In den Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg und Pankow ist sie an sämtlichen Schulen präsent! Nur die Bezirke Treptow und Lichtenberg hängen ein wenig zurück. Die Organisierung der Schule durch die GST in den 1960er Jahren ist also auf der strukturellen Ebene erfolgreich. Ihre quantitative Entwicklung erfolgt äußerst schnell, und nach weniger als fünf Jahren besitzen drei Viertel der Schulen eine wehrsportliche ­Zelle. Einem SED-Bericht von 1965 zufolge sind 45 % der Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren (also etwa 11 000 Personen) Mitglieder der GST und teilen sich auf 300 Grundorganisationen in den einzelnen Schulen auf.15 Die GST organisiert vormilitärische Ausbildungslager auf freiwilliger Basis, an denen in den 1970er ­Jahren etwa 11 000 Jugendliche teilnehmen.16 Ein Bericht vom Ende der 1970er

12 SAPMO, DY 30/IV 2/12/70, Arbeit der GST für die allseitige Stärkung der DDR, Band 12, Beispiele für die Arbeit der GST an den allgemeinbildenden POS, Oktober–Dezember 1962, pag. 155–156. 13 SAPMO, DY 30/IV 2/12/70, op. cit., pag. 158. 14 LAB, C REP 902/2082, op. cit., unpag. 15 Ebd. 16 LAB, C REP 902/2 917, SED-Bezirksleitung Berlin, Abteilung Sicherheitsfragen, Sozialistische Wehrerziehung. Probleme der langfristigen Sicherung des militärischen Berufsnachwuchses, 1971, unpag.

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Jahre verzeichnet, dass die tatsächliche Zahl von Schülern, die in Ostberlin Mitglied der GST sind, sich auf 15 % – etwa 23 000 Schüler – beläuft.17 Im Unterschied zur FDJ entsendet die GST keine hauptamtlichen Funktio­näre an die Schulen. Sie stützt sich auf Mitglieder, die freiwillig als Übermittler zur Verfügung stehen, das heißt auf Lehrkräfte, Schülereltern oder Arbeiter des Betriebes, der eine Patenschaft über die Schule ausübt, die Mitglieder einer Kampfgruppe sind. Ihre Grundeinheiten haben den Auftrag, Sportwettbewerbe militärischen Charakters und entsprechende Freizeitgruppen (Schießen, Motorsport, Funk …) auszurichten. Sie richten sehr rasch militärische Ausbildungslager während der Schulferien ein. Im April 1966 nehmen 78 Schüler der Klassen 8–10 der 18. Schule in Friedrichshain an einem solchen Lager am Werbellinsee teil.18 Allerdings wird diese Arbeit nicht fortgesetzt und die Grundeinheiten leiden in materieller Hinsicht an mangelnder Unterstützung seitens der Zentrale: „Es zeigt sich jedoch, daß die GST Schwierigkeiten in der Bewältigung dieser Aufgaben hat und deshalb einige ernste Mängel auftreten. Die von der EOS mit großer Initiative eingeleitete mehrtägige Durchführung eines Ausbildungslagers mit dem größten Teil der Schule in Schirgiswalde (Thüringen) mußte abgebrochen werden, da die versprochene Unterstützung durch den Zentralvorstand der GST nicht vorhanden war (fehlende Ausbilder und vollkommen unzulängliche Quartiere).“19

In Friedrichshain verzeichnet ein Bericht von Herbst 1967, dass die offizielle Implantierung von 15 Grundeinheiten der GST in den Schulen außer an der 3., 9., 15. und der Edgar André-Schule nur nominell erfolgt ist.20 Die Lehrkräfte begeistern sich anscheinend nicht in größerem Umfang für die Wehrerziehung. Die Implantierung der GST stößt bei ihnen auf Vorbehalte, die der Verantwortliche der SED für Sicherheitsfragen in Ostberlin mit „pazifistischen“ Haltungen erklärt, was in der Sprache der Partei äußerst negativ besetzt ist: „Die politisch-ideologische Arbeit mit den Lehrern, besonders den Klassenleitern, ist ungenügend. Weit verbreitet sind pazifistische Gedanken. Politische Zurückhaltung ist vor allem dann vorherrschend, wenn sie konkrete Aufgaben auf dem Gebiet der sozialistischen Wehrerziehung übertragen bekommen sollen.“21 Viele Lehrkräfte melden Vorbehalte an, wenn sie dazu aufgefordert werden, zusätzliche Stunden im Rahmen der „sozialistischen Wehrerziehung“ zu übernehmen, 17 SAPMO, ZK der SED, Abt. Volksbildung, DY 30/IV B 2/9.05/40, Entwicklungstendenzen Bewusstsein der Jugend, 1978, unpag. 18 LAB, C REP 135-13/17, Rat des Stadtbezirks Friedrichshain, Abt. Volksbildung, Informationsberichte, 1965–1967, unpag. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 LAB, C REP 902/2082, op. cit., unpag.

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insbesondere wenn es darum geht, die Schüler während der Ausbildungspraktika zu betreuen. So ist es dem Direktor der Andreas-Schule in Friedrichshain nur gelungen, einen einzigen Lehrer (der SED-Mitglied ist) zu finden, um die Jugendlichen zu betreuen, nachdem sich ein anderer Kollege geweigert hat.22 Dies bringt ihm Kritik seitens der Schulabteilungen der Partei ein. Die Kritik, die sich gegen den Schulleiter richtet, macht vor allem den Mangel an Engagement seitens der Lehrkräfte deutlich und findet Bestätigung in einem allgemeinen Bericht der SEDLeitung Ostberlin von 1971: „Bei einer Reihe Pädagogen, Lehrern und Lehrausbildern ist das Wissen und die eigene Position zu einer Reihe von Grundfragen der ­sozialistischen Militärpolitik und der sozialistischen Wehrerziehung noch nicht genügend gefestigt.“23 Das Verhalten der Lehrkräfte missfällt nicht nur der SED. 1970 prangert ein Reservistenkollektiv aus einem Betrieb, der die Patenschaft über die Andreas-Oberschule hat, in einem Brief an die Bezirksleitung der SED in Friedrichshain die Unbeweglichkeit des Lehrkörpers in dieser Einrichtung an. Es hat sich insbesondere bei der Organisierung eines militärischen Ausbildungslagers für die Jugendlichen in den Semesterferien engagiert. Die Kritik ist beißend und richtet sich auch gegen die Funktionäre der Jugendorganisationen: „Im Rahmen der sozialistischen Wehrerziehung an der Andreas-Oberschule im Verlaufe des Schuljahres 1969–1970 ist der Lehrkörper nur ungenügend in diese Aufgaben einbezogen worden und wurde kaum wirksam. Nach Angaben des Parteisekretärs Bandoly gilt es bei dem größten Teil der Lehrkräfte selbst erst einmal ideologische Unklarheiten wegzuräumen. Diesem Eindruck mußte sich das Res. Kollektiv des Patenbetriebes als Mitglied der Arbeitsgruppe „Sozialistische Wehrerziehung“ in der Andreas-Oberschule allerdings auch anschließen. […] Offensichtlich fehlt der feste Klassenstandpunkt. Das zeigte sich dann auch in der Vorbereitung der Schüler auf das Ausbildungslager. […] Auch seitens der FDJ-Organisation der Schule wurden Fragen der sozialistischen Wehrerziehung der Jugend, wenn überhaupt, nur als Randprobleme (letzter Tagesordnungspunkt) behandelt.“24

Die antimilitaristische Haltung der Lehrkräfte versteckt sich manchmal hinter dem Argument, es sei schwierig, sich um die Aktivitäten zweier Organisationen, das heißt der FDJ und der GST, in der gleichen Einrichtung zu kümmern. Das Regime kann also nicht auf die Lehrenden als Werber für die Wehrerziehung gegenüber den Schülern während und außerhalb des Unterrichts zählen. Ein Bericht eines SEDFunktionärs, der die Klement Gottwald-Oberschule in Treptow inspiziert, stellt fest, dass der Schuldirektor nicht hinreichend überwacht, in welchem Maße die Lehr22 23 24

LAB, C REP 903-01-01/583, op. cit., unpag. LAB, C REP 902/2917, op. cit., unpag. LAB, C REP 903-01-01/583, op. cit., unpag.

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kräfte die militärische Dimension in ihren Unterricht einbinden.25 Es sei nochmals betont, das diese Haltung nicht als Zeichen eines Misstrauens gegenüber dem Regime interpretiert werden kann. Ein großer Teil der Lehrenden, die mit dem Beginn der Militarisierung in den 1960er Jahren konfrontiert sind, gehört einer Generation an, die tief von der Kriegserfahrung geprägt ist; ihre Loyalität gegenüber dem Regime stößt hier an ihre Grenzen. Nur eine kleine Minderheit bringt sich konkret in den Aufbau der Grundeinheiten der GST und die Wehrerziehung ein. Die jüngere Generation, die in den 1970er Jahren an die Schulen kommt, hat zwar den Krieg nicht erlebt, ist aber ihrerseits stark geprägt von einem antimilitaristischen Diskurs, der ihr während der Ausbildung vermittelt wurde. Darüber hinaus trägt die zunehmende Feminisierung des Lehrkörpers nicht dazu bei, dass sich das Engagement für militärische Belange steigern ließe. Die Haltung der hauptamtlichen Funktionäre der Jugendorganisationen unter­ scheidet sich kaum von der ihrer lehrenden Kollegen. Einige Vertreter der FDJ unterstützen den Aufbau der GST-Einheiten praktisch nicht. Ein Bericht von 1965 wirft den Funktionären der Jugendorganisationen ausdrücklich vor, die „sozialistische Wehrmoral“ zu vernachlässigen. Offensichtlich sehen die FDJ-Funktionäre neben einem antimilitaristischen Impuls die Anwesenheit der GST in den Schulen ungern, weil sie sie als eine Organisation ansehen, die ihnen Konkurrenz macht. So stellen die Funktionäre der Bezirksleitung der SED in Ostberlin fest: „Die Rolle der Jugendorganisation bei der Entwicklung der sozialistischen Wehrmoral wird von einer nicht zu unterschätzenden Zahl ihrer Funktionäre und Leitungen noch nicht erkannt. Die Mehrzahl der FDJ-GO nimmt sich der Probleme ihrer Jugendlichen zur Verwirklichung ihrer wehrgesetzlichen Verpflichtungen ungenügend an. In den Schulen wird oft noch von einem Konkurrenz-Unternehmen zur GST gesprochen, anstatt den Weg zur gemeinsamen Aufgabenlösung in der Erziehung junger sozialistischer Menschen zu beschreiten.“26

Die hauptamtlichen Funktionäre der FDJ sind damit beauftragt, politische Informationsveranstaltungen durchzuführen, in denen militärische Fragen behandelt werden müssen. Auch die Mitgliederversammlungen sind theoretisch eine Gelegenheit, die Wehrproblematik anzusprechen, aber der Einsatz der FDJ-Funktionäre lässt, wie der Direktor der Klement Gottwald-Oberschule feststellt, zu wünschen übrig. Er beklagt: „Der gute Wille und die politische Klarheit sind bei fast allen FDJ-Funktionären vorhanden, jedoch entwickeln sie selbständig wenig Initiative, treten ohne Anstoß mehr zurückhaltend als kämpferisch auf.“27 Auch auf Seiten der städtischen Schulverwaltung sind die Beziehungen zur GST mitunter schwierig, 25 26 27

LAB, C REP 902/2083, op. cit., unpag. LAB, C REP 902/2082, op. cit., unpag. LAB, C REP 902/2083, op. cit., unpag.

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insbesondere in den frühen 1960er Jahren. So verweigert die Leiterin des Bezirksschulamtes Köpenick im Schuljahr 1961/1962 ganz einfach die Implantierung der GST in den Schulen, die ihrer Autorität unterstehen.28 Bis hierher haben wir den Prozess der Einführung der GST in das schulische Feld ausschließlich auf der Grundlage offizieller Quellen rekonstruiert. Wenn wir nun andere Quellen heranziehen, wird ein ganz anderer Implantierungsrhythmus deutlich. So ermöglicht es uns die Chronik der Heinrich Hertz-Schule in Friedrichshain, den Aufbau und Entwicklung einer GST-Grundeinheit in dieser S­ pezialschule, die die besten naturwissenschaftlichen Schüler aufnimmt, zu beobachten.29 Es dauert bis in die späten 1960er Jahre, bis sich feststellen ließe, dass die GST in dieser Einrichtung Fuß gefasst hat. Im Jahre 1969 werden sechs Mitglieder der GST an der Schule gezählt. Die Entwicklung der Zelle wird von drei Lehrkräften sichergestellt, denen es gelingt, allmählich weitere Schüler zu rekrutieren. Diese Lehrer haben den Auftrag, Diskussionen zu militärischen Fragen zu leiten und diejenigen Schüler ausfindig zu machen, die geneigt sein könnten, eine Karriere als Berufssoldaten zu machen. Außer­dem betreuen sie die Sektionen „Militärischer Mehrkampf “ und „Motor­sport“. 1972 wird eine Funksektion geschaffen. Mit der Entfaltung solcher Aktivitäten erreicht der Anteil an GST-Mitgliedern schließlich 25 % der Schüler. Der Schuldirektor, der die Chronik pflegt, beklagt allerdings, dass die Aktivitäten der GST von den Schülern als Freizeitbeschäftigung betrachtet werden. Ab den 1970er Jahren nehmen die GST-Mitglieder unter den Schülern auch an Ausbildungslagern teil, um ihrerseits ihre Kameraden betreuen zu können. 1972 wird in enger Zusammenarbeit mit dem Patenbetrieb, genauer mit der Kampfgruppe des RAW, ein Schießtraining eingerichtet. Am Ende der 1970er Jahre sind 60 % der Schüler Mitglieder der GST. Selbst der Schulkalender wird von der Wehrerziehung der GST kontaminiert. Für ihre Verdienste erhält die Grundeinheit der Schule 1974 das Privileg, sich nach Richard Sorge zu benennen. Von da an findet alljährlich im Oktober eine Festwoche zu Ehren von „Stalins Spion“ statt, während derer zahl­ reiche militärische Vorführungen an der Schule stattfinden. Mit dem Aufbau der Grundeinheiten der GST werden in den Schulen Ostberlins Schießstände aufgebaut. Ihre Einrichtung schafft Sicherheitsprobleme, was ihre Fertigstellung verlangsamt, manchmal verhindert.

28 SAPMO, DY 30/IV 2/12/70, op. cit., pag. 158. 29 Heimatmuseum Kreuzberg-Friedrichshain, Schulchronik der Heinrich-Hertz-Oberschule, unpag.

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Neben der Beschreibung der Implantierung der GST ist es von Interesse, nach den Motiven der Schüler zu fragen, die Mitglieder dieser Massenorganisation werden. Die Schüler treten in ihrer Mehrheit nicht aus militärischen oder politischen Gründen im engeren Sinne in die GST ein. Ein Ostberliner SEDFunktionär be­ merkt daher 1966 in einer Aktennotiz: „Die Teilnahme vieler Schüler an der vormilitärischen Ausbildung ist jedoch nicht mit ihrer Bewußtheit gleichzustellen.“30 Vor allem verdecken die Statistiken den Umstand, dass zahlreiche Freizeit-Arbeitsgruppen sportlichen Charakters gezählt werden, als entstammten sie der Initiative der GST. Dies gilt insbesondere für den gesamten Motorsport und das Fliegen, die beide einen sehr starken Anziehungspunkt für viele Jungs bilden. Die GST stellt ein sehr preiswertes Mittel dar, seine Leidenschaft für Motoren oder Flugzeuge zu befriedigen. Die Interviews, die mit ehemaligen Teilnehmern geführt wurden, bestätigen diese Hypo­these. H. M., geboren 1953, ist im Alter von 14 Jahren in die GST eingetreten. Er gehört der Sektion Segelfliegen an: „Als Schüler an der EOS war ich beim Segelfliegen bei der GST und ich wollte richtig Pilot werden. Das war schon eine vormilitärische Erziehung: Marschieren, und so weiter. Ich wollte aber nur fliegen, und das war die einzige Möglichkeit. Für 50 Pf im Monat!!! Ich wollte einfach fliegen!“31 Diese Aneignung der von der GST angebotenen Aktivitäten, die im Interview deutlich wird, wird auch in einem Bericht von Oktober 1967 von der Ostberliner SED-Leitung beklagt: „Mit Stand vom 30. 06. 1967 nahmen über 13 600 Jugendliche im Alter von 14–18 Jahren an der vormilitärischen Ausbildung der GST teil. Dabei gibt es in den Spezial­ gebieten Unterschiede. Während z. B. im Motorsport die Sollzahl von Teilnehmern übererfüllt wurde, sieht die Entwicklung im Fallschirmsport negativ aus. Hier sind noch große Anstrengungen der GST notwendig.“32

Die rasche Implantierung der GST verläuft über die Einrichtung sportlicher und paramilitärischer Aktivitäten in den Schulen, die bei den Jugendlichen nicht zu vernachlässigenden Erfolg haben. Sie findet keine wirkliche Unterstützung beim Lehrkörper, der einem antimilitaristischen Erziehungsideal tief verpflichtet bleibt und jedem Verlust seines edukativen Monopols misstraut. Die Militarisierung des schulischen Feldes erfolgt aber nicht ausschließlich über die GST. Die Institution Schule wird selbst in diesen Prozess einbezogen.

30 31 32

LAB, C REP 902/2082, op. cit., unpag. Transkription des Interviews mit H. M. vom 2. Juli 2003, pag. 7. LAB, C REP 902/2916, op. cit., unpag.

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Die Entwicklung der außerschulischen paramilitärischen Aktivitäten Ab den 1960er Jahren wird die Schule zum Schauplatz einer ganzen Reihe von Praktiken und Aktivitäten mit militärischer Konnotation. Dies vollzieht sich zunächst einmal über eine Militarisierung der Schulbücher in allen Fächern,33 durch die Einführung eines Fests der NVA in den schulischen Kalender, das am 1. März gefeiert wird. Dieser Gedenktag ist im Allgemeinen, wie ein Bericht aus einem Klassenbuch der 10. Schule in Lichtenberg zeigt, mit einem Besuch in einer Kaserne verbunden: „Jeder hatte eine Karte und eine Blume mitgebracht. Wir sahen, was die Soldaten in ihrer Freizeit machen und wie sie schlafen. Aber am besten war, daß wir funken durften und in die Fahrzeuge klettern. Unsere Soldaten beschützen den Frieden. Wenn wir groß sind, werden wir auch Soldaten.“34 Dieser kurze, von einem Schüler unter Anleitung einer Lehrkraft verfasste Text beleuchtet zwei Aspekte der Militarisierung: Der erste ist der spielerische Aspekt, der die Kinder fasziniert und amüsiert (mit dem Funkgerät spielen, herumklettern); der zweite ist das beruhigende Bild der großen Brüder, denen sie Karten und Blumen bringen und die ihr „Vaterland“ beschützen. Das Volksbildungsministerium ist auch darauf bedacht, eine Reihe außerschulischer Aktivitäten einzurichten. Ab dem frühesten Kindesalter werden, über die Patenschaften zwischen NVA-Einheiten und Schulklassen, Bindungen zwischen den Kindern und den Soldaten geknüpft. Dieses Patenschaftssystem beruht auf den gleichen Prinzipien wie bei den Betrieben. Sehr rasch ersetzt der Soldat den Arbeiter als Rollenmodell bei den Kindern, und häufig möchten die Schüler lieber eine NVAEinheit als eine Arbeitsbrigade zum Paten. Wir besitzen keine statistischen Angaben über diese Patenschaften, sondern nur einige sporadische Indizien. 1984 erwähnt die Ostberliner Leitung der SED zehn solcher Patenschaften zwischen Schulen und Armeeeinheiten. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Regimenter, die an der Grenze stationiert sind, wie etwa beim Patenverhältnis zwischen der 32. Schule im Prenzlauer Berg und der Einheit Heinrich Dorrenbach.35 Die Auswahl solcher Ein33 Selbst die Mathematik entgeht dieser Entwicklung nicht. Beispielsweise finden sich nun solche Aufgaben in der Grundschule: „Eine Kanone der NVA benötigt fünf Soldaten. Bei einer Schießübung werden sechs Kanonen eingesetzt. Wie viele Soldaten nehmen an der Übung teil?“ 34 SM/AL, 91/12, Gruppenbuch der Klasse 1  a  – 3  a Berlin 10. OS Berlin-Lichtenberg, 1980–1983, unpag. 35 LAB, C REP 902/5 868, Sozialistische Wehrerziehung. Berichte zum Wehrunterricht an den Berliner Oberschulen, 1982–1984, unpag. Heinrich Dorrenbach war der Name des Kommandanten der Volksmarineeinheit, die während der Weihnachtskrise im Dezember 1918 das Berliner Stadtschloss besetzte.

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heiten erfolgt natürlich insofern sehr bewusst, als so das ­emotionale Band zwischen dem Schüler und seinem Land, dessen Grenzen vom „großen B ­ ruder“ Soldat beschützt wird, gestärkt werden soll. Wie wir aus der Chronik der Pioniergruppen aus den 1970er Jahren erfahren, ist auch der Besuch des Armeemuseums in Potsdam unumgänglich.36 Die Basisberichte der SED-Funktionäre belegen solche Besuche bereits für die 1960er Jahre. Berichte von Kindern haben wir erst aus den 1980er Jahren. So begibt sich am 23. März 1982 die Klasse 3a der Lenin-Oberschule in Friedrichshain ins Armeemuseum nach Potsdam.37 Ein Schüler dieser Klasse teilt darüber in der Chronik mit: „In der Schule haben wir uns mit Herrn Mittelsdorf getroffen. Herr Mittelsdorf hat diese Fahrt vorbereitet. Wir gingen gemeinsam zum Ostbahnhof und fuhren nach Potsdam. Von dort mußten wir noch ein ganzes Stück laufen, bis wir vor dem Armeemuseum waren. Dort war viel zu sehen, z. B. eine Rakete, Kanonen, Panzer und ein Flugzeug. Wir haben uns im Museum alles genau angesehen und auch einen Film über die Tätigkeit der Soldaten auf See. Dieser Ausflug hat uns allen gut gefallen.“38

Der Begleiter ist ein Schülerelter und Offizier der NVA, der die Kinder bei diesem Besuch betreut, während die Lehrerin Frau P. nicht teilnimmt. Das zentrale Element bleiben jedoch die Pioniermanöver, die ab 1967 mit den Schülern der Klassen 1–7 abgehalten werden. Der Begriff als solcher illustriert bereits den Prozess der Militarisierung der Schule. Wie wir aus einem Bericht der Ostberliner Schulbehörden von 1968 erfahren, bestehen die Manöver aus einer Reihe vormilitärischer Aktivitäten, die alljährlich im Februar während der Winterferien (daher der Name Schneeflocke für die Manöver) durchgeführt werden und meist im Wald stattfinden. Sie verbinden sportliche Aktivitäten (Orientierungsparcours, Seiltanzen, Schießen mit dem Karabiner) mit Fragen zu Kenntnissen über die Armee.39 Die Manöver nehmen einige Praktiken und Übungen wieder auf, die in der Zeit der Weimarer Republik von der paramilitärischen Organisation der Kommunistischen Partei Deutschlands, dem Roten Frontkämpferbund, eingeführt worden w ­ aren. 36

37

38 39

Sm/ Kj 97/ 480 Q.Q, Gruppenbuch der Pioniere der Klasse 1 a und 2 a der Lenin-Oberschule, September 1973–Mai 1975, unpag.; Sm/ SchA, 92/32, Brigadetagebuch der K ­ lasse 8 a, Franz-Mett-Oberschule Berlin-Mitte, 1977–1980, unpag.; Sm/Sch A, 88/66, Gruppenbuch der Klasse 5 b, 6 b und 7 b, Reinhold-Huhn-Oberschule Berlin-Mitte, ­1975–1978, unpag. Das Museum der Deutschen Armee wird am 28. Februar 1961 eröffnet, seine Sammlungen werden im Marmorpalast des Neuen Gartens in Potsdam untergebracht. 1972 wird es in Armeemuseum Potsdam umbenannt. Im gleichen Jahr wird ein ähnliches Museum, das bis heute besteht, in Dresden eingerichtet. Sm/Kj 97/477 QQ, Gruppenbuch der Pioniere der Klasse 2 a, September 1980–Juni 1983, unpag. LAB, C REP 120/191, op. cit., pag. 76.

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Diese 1924 gegründete Organisation hatte 1926 eine paramilitärische Jugend­ einheit unter dem Namen Roter Jungsturm eingerichtet und führte militärische Ausbildungslager durch.40 Die „Manöver“ werden von „freiwilligen“ Lehrkräften (die tatsächlich von den Schulleitern bestimmt werden), freiwilligen Funktionären der Jugendorganisationen und NVA-Offizieren betreut. Mitunter spielen sie historische Ereignisse nach. Die Kinder sollen die Position einer versteckten „faschistischen“ Einheit feststellen. Manchmal inszenieren die Ausbilder den r­ ussischen Bürgerkrieg zwischen den „Weißen“ und den „Roten“. Die „Schlacht“ besteht meistens darin, als erste den Wimpel des Gegners zu finden. Dabei ist es freilich peinlich, wenn die „Weißen“ gewinnen, da die Ausbilder in diesem Falle ­zeigen müssen, dass es sich nur um eine Episode handelt und die „Roten“ den Krieg am Ende gewinnen werden.41 Die Manöver sollen ein positives emotionales Band zur NVA herstellen. Und es scheint, dass dieses Band tatsächlich bestanden hat. Natürlich müssen die offiziellen Berichte mit kritischer Distanz gelesen werden, aber die Kinder haben ganz offensichtlich großen Enthusiasmus gegenüber der NVA empfunden und zum Ausdruck gebracht. Nach dem gleichen Modell richten sich die Hans Beimler42-Wettkämpfe an die Jugendlichen von 14 bis 16 Jahren.43 Mit der Bezugnahme auf einen Veteranen des spanischen Bürgerkriegs hofft das Regime, dass dessen Engagement den jungen Generationen als Modell dienen wird.44 Die Organisation dieser wehrsportlichen Veranstaltung obliegt der FDJ in Zusammenarbeit mit den Schulämtern und der GST. Ab dem Sommer 1967 erhalten die FDJ-Funktionäre im Rahmen von ­Seminaren eine Spezialausbildung.45 Anders als die Pioniermanöver erstrecken sich die Hans Beimler-Wettkämpfe über das ganze Jahr. Drei Wettkämpfe werden ­zwischen ­September und Juni abgehalten: Sportliche Wettkämpfe im Herbst, Schieß­prüfungen im Winter, ein Manöver ähnlich dem für die Kinder im Frühjahr. Das Ziel besteht darin, die Jugendlichen konkret auf militärische Dinge vorzubereiten, in t­ heoretischer wie praktischer Hinsicht. Bis zur Einführung des Unterrichts in

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K. Schuster, Der Rote Frontkämpferbund 1924–1929, Düsseldorf 1975. Aussage von J. B. während des Interviews vom 14. Mai 2002, unpag. Hans Beimler (1895–1936) ist ein kommunistischer Abgeordneter in der Weimarer Republik. Im Spanischen Bürgerkrieg ist er Kommandant des Ernst Thälmann-Batallions und findet in den Kämpfen vor Madrid den Tod. Ernst Busch widmet ihm das Lied „Die Thälmann-Kolonne“. Mit der Einführung des Wehrerziehungsunterricht für die Klassen 9–10 im Jahre 1978 beschränken sich die Wettkämpfe auf die 8. Klassen. LAB, C REP 902/2916, op. cit., unpag. BA, DR 2/A 3032, Wehrerziehung, 1966–1968, unpag.

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Wehrerziehung im Jahre 1978 bilden sie den Kern der vormilitärischen Ausbildung in den Schulen. Bei der Premiere im Jahre 1968 nehmen etwa 70 % der Schüler der Klassen 8–10 an den Wettkämpfen teil. Einige örtliche Berichte betonen aber die Mängel und Probleme bei der Durchführung, insbesondere hinsichtlich des militärischen Aspekts im engeren Sinne. Ein Bericht des Bezirksschulamts Pankow an das Volksbildungsministerium vom Frühjahr 1968 verzeichnet, dass einige Schüler die Teilnahme am Schießwettbewerb verweigern.46 Der zusammenfassende Bericht für alle Schulen Ostberlins von November 1968 klärt über die „Versäumnisse“ bei dieser Veranstaltung auf: „Während es gute Ergebnisse in der Durchführung der wehrpolitischen Übungen gab, zeigten sich trotz vieler guter Einzelbeispiele ernste Versäumnisse in der wehrpolitischen Arbeit. Die Herausbildung eines richtigen Freund-Feind-Bildes und die Erziehung zum sozialistischen Wehrmotiv standen noch nicht genügend im Mittelpunkt. Es bedarf erhöhter Anstrengungen, um das Prinzip der sozialistischen Wehrerziehung sowohl im Unterricht als auch in der außerunterrichtlichen Tätigkeit vollinhaltlich durchzusetzen.“47

Eine Analyse auf der Ebene des Bezirks Pankow in den späten 1960er Jahren zeigt, dass lediglich der sportliche Teil vor Ort tatsächlich vollständig umgesetzt wird. Der politische Teil, das heißt die Erziehung zum „Hass auf den Feind“, die Behandlung des Kräfteverhältnisses zwischen NATO und Warschauer Pakt, die Gefährlichkeit des „westdeutschen Imperialismus“ werden vernachlässigt. Die Lehrenden sind bereit, die sportlichen Wettkämpfe zu betreuen, aber sie weigern sich, in den ideologischen Teil einbezogen zu werden. Die Wehrerziehung stößt mitunter auf Opposition von Schülern, die aus religiösen oder anderen Gründen sehr tief durchdrungen sind von einem pazifistischen Ideal. Bereits 1965, im Rahmen des „Oktobersturms“, eines der ersten Manöver, be­ tonen die Behörden, dass zahlreiche Schüler der Humboldt-Oberschule in Köpenick daran teilgenommen und dabei das Zeichen der westdeutschen OstermarschBewegung getragen haben.48 Sie tragen sogar politische pazifistische Parolen.49 Da-

46 LAB, C REP 120/2214, Informationsberichte an das Mf V, 1968, pag. 70. 47 LAB, C REP 120/2202, op. cit., pag. 33. 48 Der Ostermarsch ist eine westdeutsche pazifistische Bewegung, die 1960 gegründet wird. Nach britischem Modell demonstrieren die Deutschen friedlich ihre Opposition gegen die atomare Rüstung. Innerhalb weniger Jahre entwickelt er sich zu einer großen Volksbewegung, die nach 1 000 Teilnehmern 1960 300 000 im Jahre 1968 umfasst. 49 LAB, C REP/2 223-1, Informationsberichte an das Ministerium für Volksbildung, 1963– 1966, pag. 150.

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rüber hinaus weigern sich einige Eltern, ihre Kinder an den Schießwettbewerben teilnehmen zu lassen.50 Neben diesen regelmäßigen punktuellen Veranstaltungen fasst die Armee Fuß im Bereich der außerschulischen Aktivitäten, die im Rahmen der Arbeitsgemeinschaften nach dem Unterricht stattfinden. 1974 werden im Bezirk Köpenick in 19 von 22 Schulen Wehrpolitik-AGs eingerichtet.51 Auf der Ebene der Stadt bestehen insgesamt 139 Wehrerziehungs-AGs für die Klassen 9 und 10 mit 2  000 Mitgliedern. 1977 zählt Ostberlin etwa 10 000 Schüler, die sich in verschiedenen sportlichen und militärischen AGs engagieren. Im Allgemeinen werden diese AGs von Reservisten der Armee betreut. Am Ende der 1970er Jahre sind 13 400 Schüler, also 8,3 %, in einer der 1 000 AGs mit militärischer Konnotation organisiert.52 Diese Zahlen sind aber insofern zu relativieren, als es nur wenige tatsächlich militärische AGs gibt. Unter diesem Namen figurieren Aktivitäten wie Modellbau, Funk- und Radiotechnik, Motorsport und Rettungswesen. Ein Bericht aus dem Jahre 1977 beklagt den spielerischen Charakter der Freizeitzellen, die sich stärker auf ihre militärische Dimension konzentrieren sollten: „Die Arbeitsgemeinschaften werden allerdings insgesamt noch zu wenig für die Berufsorientierung und die Vorbereitung auf die vormilitärische Laufbahnausbildung und damit für die Gewinnung des militärischen Berufsnachwuchses genutzt.“53 Die FDJ wird aufgefordert, regelmäßig Themenveranstaltungen zu Fragen wie dem „systematischen Charakter der imperialistischen Kriegsvorbereitungen“ zu organisieren.54 Im Rahmen der Jahrestage der DDR werden große Propaganda­ aktionen durchgeführt: „Signal DDR 25“ dauert von Februar bis Mai 1974 und verbindet sportliche Wettkämpfe, Treffen mit Offizieren usw.55 Alljährlich richtet die FDJ zudem in Zusammenarbeit mit GST, FDJ und Armee die „Woche der Waffenbrüderschaft“ aus, während derer Informationsveranstaltungen und sportliche Aktivitäten stattfinden.

50

LAB, C REP 120/2 214, Informationsberichte an das Ministerium für Volksbildung, 1968, pag. 70. 51 LAB, C REP 903-01-02/970, SED-Kreisleitung Köpenick, Sozialistische Wehrerziehung, 1972–1976, unpag. 52 LAB, C REP 902/4 629, SED-Bezirksleitung Berlin, Sozialistische Wehrerziehung. Sicherung des militärischen Berufsnachwuchses. Informationen, Einschätzungen, 1977–1981, unpag. 53 Ebd. 54 LAB, C REP 902/2083, op. cit., unpag. 55 LAB, C REP 902/3 675, SED-Bezirksleitung Berlin, Sozialistische Wehrerziehung. Sicherung des militärischen Berufsnachwuchses, Informationen, Einschätzungen, Protokolle, 1973–1976, unpag.

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Ein Bericht der Berliner Leitung der SED von 1975 lenkt die Aufmerksamkeit auf zwei Schwächen dieser Aktionen. Auf der einen Seite erlaubt ihr punktueller Charakter keine kontinuierliche Arbeit über das gesamte Schuljahr. Auf der anderen arbeiten die Lehrkräfte, die FDJ und die GST einander nicht sonderlich zu. Jede Organisation oder Akteurskategorie erfüllt ihre Aufgabe, ohne sich darum zu kümmern, was die anderen machen.56 Das Ministerium für Volksbildung stellt den Schulen und Jugendorganisationen beträchtliche Geldmittel für die Organisation aller möglichen paramilitärischen Aktivitäten zur Verfügung. Einige pfiffige Lehrkräfte nutzen dies, um Praktika sportlichen Charakters unter dem Deckmantel der Wehrerziehung anzubieten.57 Bis hierher haben wir uns vor allem auf den Willen der DDR beschränkt, bei den jungen Generationen über militärische Übungen innerhalb der Schule ein Gefühl nationaler Identität herzustellen. Es ist aber auch das Ziel des Regimes, die Wehrerziehung als Verführungstechnik zu verwenden, um die Rekrutierung künftiger Offiziere und Unteroffiziere für die NVA sicherzustellen.

Die Schule als Rekrutierungszelle künftiger Offiziere Die Militarisierung der Erziehung ist begleitet von einem Rekrutierungsplan für Offiziere und Unteroffiziere der NVA und der Polizei. Die Wehrerziehung soll eine bestimmte Anzahl von Schülern dazu anregen, sich für drei Jahre bei der Armee zu verpflichten, das heißt den obligatorischen Wehrdienst von 18 Monaten zu verlängern, oder Berufssoldat im Range eines Offiziers oder Unteroffiziers zu werden: „Die vormilitärische Ausbildung ist so vorzubereiten und durchzuführen, daß bei allen Schülern über die politisch-ideologische Arbeit und die vormilitärische Ertüchtigung dazu wirkungsvoll beigetragen wird, ihre Bereitschaft zu wecken, als Offizier bzw. als Soldat auf Zeit zu dienen.“58 In den 1960er Jahren scheint die Rekrutierung sehr schwach zu sein und unter den Zielen zu liegen, die das Militärkommando Ostberlin planmäßig festgelegt hat. Wir besitzen wiederum nur punktuelle Daten. Im April 1966 etwa melden sich nur sieben Schüler der Klassen 11 und 12 der Klement Gottwald-Oberschule freiwillig für eine Verlängerung ihres Wehrdienstes. Diejenigen, die sich weigern, führen den Verlust an Zeit, die Furcht vor mangelnder Bequemlichkeit und die Unterordnung an und betonen den Vorrang, den sie ihrer Ausbildung zumessen.59 Dem Bericht 56 57 58 59

LAB, C REP 902/3676, op. cit., unpag. Interview mit G. T. vom 21. April 2004. LAB, C REP 903-01-03/583, op. cit., unpag. LAB, C REP 902/2917, op. cit., unpag.

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zufolge gehören selbst die aktivsten FDJ-Funktionäre der Oberschule zu denen, die sich „drücken“: „Wenn wir gehen und andere nicht, dann sind wir die Dummen.“60 Im November 1968 ergeht ein Generalbericht der Schulämter Ostberlins an das Volksbildungsministerium und teilt mit, dass 4,4 % der Schüler aller 12. Klassen auf die Offiziersschule der NVA gehen, also 32 Personen. Für das Jahr 1969 werden 68 Meldungen von Schülern der 11. Klassen angekündigt.61 Die spärlichen statistischen Angaben für die 1960er Jahre belegen ausnahmslos Rekrutierungszahlen unterhalb der Ziele, die von den Wehrkreiskommandos der NVA gesetzt werden. Die Mehrheit der Schüler ist offensichtlich nicht bereit, sich für einen langfristigen Dienst in der Armee zu verpflichten. Bei dieser handelt es sich um einen unumgänglichen Lebensabschnitt, der aber nicht die Umsetzung beruflicher Ziele behindern soll: Der Wehrdienst wird als eine Pflicht und nicht als ein Engagement betrachtet.62 Im September 1965 legen die Schulbehörden Ostberlins zum internen Gebrauch die Ergebnisse eines anonymen Tests über die Wahrnehmung von Wehrfragen vor, der unter 310 Oberschülern der Stadt (190 Jungen und 120 Mädchen der Klassen 9 bis 12) durchgeführt wurde.63 Dies repräsentiert eine Stichprobe von 5 % der gesamten Ostberliner Oberschülerschaft. Eine der Fragen bezieht sich auf die Haltung der Jugendlichen zum Militärdienst. 5 % weigern sich, den Dienst abzuleisten, ein Viertel macht ihn aus Schuldigkeit.64 Die Behörden beklagen einen Graben zwischen einer prinzipiellen Position, die Fassade ist, und einem schwachen Engagement für die Verteidigung des Vaterlands. Die große Mehrheit der Schüler hat tatsächlich nicht den Wunsch, sich weiter zu verpflichten. Ein Bericht eines SED-Funktionärs von Januar 1977 erwähnt die „Mängel in der Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit und wegen der sich vergrößernden Rollen- und Aktionsmöglichkeiten des subjektiven Faktors.“65 Hinter dem „subjektiven Faktor“ ist es in der Regel der Individualismus der Jugendlichen, der zur Diskussion steht.66 Die chronische Unfähigkeit, die gesteckten Ziele in Form neuer Rekruten zu erfüllen, zeugt von „bösem Willen“ bei einem Teil des Lehrkörpers und dem Eigensinn der Schüler, die es einfach vorziehen, ihr Studi60 61 62

LAB, C REP 902/2083, op. cit. LAB, C REP 120/2202, op. cit., pag. 33. LAB, C REP 902/3 676, SED-Bezirksleitung Berlin, Sozialistische Wehrerziehung. Sicherung des militärischen Berufsnachwuchses, Informationen, Einschätzungen, Protokolle, 1975, unpag. 63 LAB, C REP 902/2083, op. cit., unpag. 64 Ebd. 65 LAB, C REP 902/4629, op. cit., unpag. 66 D. Geulen, Politische Sozialisation in der DDR. Autobiographische Gruppengespräche mit Angehörigen der Intelligenz, Opladen 1998, S. 186.

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um fortzuführen oder eine Berufskarriere zu beginnen – was die Offiziere des Wehrkreiskommandos Ostberlin als Ergebnis eines „Wohlstandsdenkens“ anprangern.67 Der Offiziersberuf erscheint vielen Jugendlichen als allzu streng festgelegt. Sie scheinen, wie ein Bericht eines SED-Funktionärs in Ostberlin 1971 feststellt, weitaus mehr angezogen vom Beruf des Ingenieurs: „Es gibt ein starkes Gefälle in der Wertschätzung der Berufe unter der Jugend. Ganz vorn in der Wertigkeit stehen solche Berufe wie z. B. Diplomingenieur, und erst viel später kommt der Offiziersberuf.“68 Diese Sichtweise findet sich selbst in einigen Offiziersfamilien, wo der Sohn sich weigert, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, weil dieser nie zu Hause sei. Sie wird von einigen Vätern gefördert, die selbst in der NVA dienen! Dazu kommt noch, dass die große Mehrheit der Schüler nicht von dem Argument überzeugt ist, dass die BRD ein „aggressiver imperialistischer“ Staat sei. Über die ganzen 1970er Jahre hinweg zeigen die Berichte sehr deutlich, dass die meisten Jugendlichen nicht an den aggressiven Charakter der NATO und Westdeutschlands glauben. Die Politik der Militarisierung der Schule wird zusätzlich geschwächt durch den Umstand, dass sie in offensichtlichem Widerspruch steht zur Politik der internationalen Öffnung der DDR und der allgemeinen Entspannungspolitik, die in der UdSSR von Brežnev eingeleitet wird. Einige Schüler verfehlen nicht, auf diesen Widerspruch hinzuweisen und damit die Autorität der Mitteilungen der Lehrkräfte zu untergraben: „Ist die Kriegsgefahr jetzt immer noch so groß, in einer Zeit, wo Regierungen imperialistischer Staaten ständig mit sozialistischen Staaten verhandeln und ihre Entspannungsbereitschaft beteuern?“69 Die Lektüre der Berichte der SED-Funktionäre aus den 1970er Jahren lässt spüren, dass die Schüler ein maliziöses Vergnügen daran haben, die inhärenten Widersprüche in der Verteidigungspolitik zu betonen oder zu ironisieren, insbesondere indem sie Bezug nehmen auf die Außenpolitik des „großen sowjetischen Bruders“: „In welchem Verhältnis steht unsere unvermindert hohe Forderung zur Stärkung der Landesverteidigung zum Friedensprogramm des XXIV. Parteitages der KPdSU und den Abrüstungsvorschlägen?“70 Das Argument, dem zufolge der Frieden bewaffnet sein müsse, findet nur ein schwaches Echo unter den Jugendlichen in Ostberlin. Das Regime ist gezwungen, die Politik der Militarisierung in einem Kontext einer friedlichen Koexistenz zu rechtfertigen, der noch von den Ergebnissen der Konferenz von Helsinki 1975 verstärkt wird. 67 LAB, C REP 902/3674, op. cit., unpag. 68 Ebd. 69 LAB, C REP 902/3674, op. cit., unpag. 70 Ebd.

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Die Berichtsautoren prangern eine Jugend an, die unfähig sei, ihre persönlichen Interessen zurückzustellen. Sie kritisieren den zunehmenden Individualismus der Jugendlichen. Und sie stellen eine Kluft fest zwischen der formellen Anerkennung der „Gefahr des westdeutschen Imperialismus“ und dem fehlenden Engagement, in der Armee zu dienen. Die quantitative Schwäche der Rekrutierung zwingt die Behörden, zu reagieren. Dies geschieht zu Beginn der 1970er Jahre in Form einer Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielen, die Rekrutierung von Soldaten und Offizieren für die NVA unter den Schülern zu steigern. Eine Dienstanweisung von April 1970 macht die Schuldirektoren verantwortlich für die Rekrutierung der künftigen Offiziere. Die Schulleiter sollen „günstige Bedingungen“ schaffen für eine entsprechende berufliche Orientierung, wobei sie sich im schulischen und außerschulischen Kontext auf die Lehrkräfte stützen sollen. Sie sollen Verpflichtungserklärungen beibringen, was dazu führt, dass zahlreiche Direktoren Druck auf ihren Lehrkörper ausüben, damit dieser eine bestimmte Anzahl an Schülern dazu bringt, sich für einen verlängerten Militärdienst zu melden. Man versucht, die Schüler immer früher zu gewinnen, indem man ab der 7. Klasse Werbung in Form von Informationsveranstaltungen oder von Vorführungen von Dokumentarfilmen wie „Ich werde Soldat“ oder „Der Berufssoldat“ macht. Konkret versucht man, eine bindende Verpflichtung ab der 9. oder gar 8. Klasse zu erreichen. Die Lehrkräfte sind also gehalten, die besten Schüler herauszufinden und sie dazu zu bringen, sich als Offiziere für die NVA zu melden. Insbesondere sollen sie bei Gesprächen in den Familienwohnungen die Eltern überzeugen. Diese Praxis war laut der Formulierung von S. D. „traumatisierend“. Sie ist 1954 geboren und unterrichtet ab 1976 im Bezirk Friedrichshain. Ihr Schulleiter hat sie gezwungen, Eltern davon zu überzeugen, dass diese ihre Zustimmung zur Meldung ihrer Söhne zur NVA geben.71 Die Rekrutierung künftiger Offiziere wird auch ermutigt und erwähnt in den Beschlüssen, die die SED während ihres VIII. Parteitages im Jahre 1971 trifft. Im April 1973 will eine gemeinsame Verordnung der Ministerien für Volksbildung und Nationale Verteidigung die Rekrutierung verbessern. Es wird daran erinnert, dass die Schuldirektoren für die Organisation der Rekrutierung verantwortlich sind. Neu ist die Einführung von Beauftragten für die freiwillige Rekrutierung, die den Schulleitern beigeordnet werden. Sie unterstehen direkt der Armee; meist handelt es sich um ehemalige pensionierte Offiziere, die mit den Klassen 7 bis 9 arbeiten, wo sie die Rekrutierung der Jugendlichen in Zusammenarbeit mit dem Direktor und den Eltern sicherstellen sollen.72 Anfang 1977 fehlen nur zwanzig Verpflichtungen bei der Rekrutierung in 265 Schulen (8 %).73 Einem Bericht von 1980 zufolge ist 71 72 73

Interview mit S. D. vom 11. April 2002. LAB, C REP 902/3674, op. cit., unpag. LAB, C REP 902/4629, op. cit., unpag.

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Grafik 13: Zahl der Ostberliner Schüler, die als künftige Berufsoffiziere rekrutiert werden 1970-1977 (in %) 250 216 200 156

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100

50

137

127

145

90 63

0 1970

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ihre Tätigkeit aber nur in zwei Dritteln der Schulen feststellbar, und die Zahlen zeigen, dass sie wenig effektiv sind. Seit 1972 führen auch Rekrutierungskollektive der FDJ Kampagnen für die Meldung zur Armee bei den Jugendlichen durch. Schließlich erklärt das neue Gesetz über die Jugend von 1974 ausdrücklich, eine der Pflichten der Jugend bestehe darin, sich militärisch auszubilden. Der gesamte Paragraph 4 ist dem gewidmet und spricht von einer „Ehrenpflicht“.74 Die SED-Berichte der 1970er Jahre zeigen, dass die festgelegten Quoten erreicht und in manchen Jahren sogar überschritten werden. Die Rekrutierungswerte für die Offiziere sind gut dokumentiert. Alljährlich versucht die NVA, etwa 150 bis 200 Offiziere unter den Ostberliner Schülern zu gewinnen. Den Istwerten zufolge steigt die Zahl der neu rekrutierten Offiziere von 1970 bis 1977 immer weiter an.75 In den Jahren 1975–1977 entspricht die Zahl der rekrutierten Schüler 3 % ihrer Altersklasse. Die Steigerung der Rekrutierung in der ersten Hälfte der 1970er Jahre setzt sich nach 1977 nicht fort. Ganz im Gegenteil beobachten wir eine nun wachsende Unfähigkeit, die Rekrutierungspläne zu erfüllen.76 74

„Jugendgesetz der DDR vom 28. Januar 1974“, in: E. Lieser-Triebnigg, Recht in der DDR. Einführung und Dokumentation, Köln 1985, S. 216. 75 LAB, C REP 902/4629, op. cit., unpag. 76 Ebd.

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Bei der Analyse der Quellen fällt auf, dass die Rekrutierung für die NVA vor allem Schüler mit mittelmäßigen Noten anlockt, die hier sicherlich einen Weg sehen, zu einem sozialen Status und zu Verantwortung aufzusteigen, die sie aufgrund ihrer Schulleistungen nicht ohne weiteres erwarten können. Bereits 1965 lenkt ein Bericht der Berliner SED-Leitung die Aufmerksamkeit des Volksbildungsministeriums auf den Umstand, dass die jungen Schüler der 11. Klasse, die sich für die Armee als Offi­ziere verpflichten wollen, im Allgemeinen einen mittelmäßigen Notenschnitt haben. Außerdem melden sich viele für die technischen oder medizinischen Dienste und nicht für die Grenztruppen oder die motorisierten Verteidigungseinheiten. Sie nutzen die Armee also als Hebel für den sozialen Aufstieg: Das Versprechen, sich als Berufssoldat zu verpflichten, ist eine Zauberformel zur Aufnahme auf die Oberschule unabhängig von den schulischen Leistungen.77 Diese Praxis verbreitet sich so allgemein, dass Margot Honecker 1975 die Auswahlkommissionen daran erinnert, dass sie diejenigen Schüler, die sich für die Armee melden wollen, nicht automatisch für die EOS qualifizieren sollen: „Für die Entscheidungen über die Aufnahme in eine Vorbereitungsklasse gelten die Kriterien der Richtlinie für die Vorbereitung auf den Besuch der EOS (10. 06. 1966), wonach unter Berücksichtigung der sozialen Struktur des Territoriums die Schüler mit den besten Leistungen und mit dem besten Verhalten aufzunehmen sind, die ihre Verbundenheit mit der DDR durch die Haltung und ihre gesellschaftliche Tätigkeit bewiesen haben.“78 Die örtlichen Schulämter und die Wehrkreiskommandos bemühen sich also, die Rekrutierung von Offizieren zu verbessern, indem sie die besten Schüler anwerben. Sie versuchen, die Armee attraktiv zu machen, indem sie den Akzent auf deren Rolle in der wissenschaftlich-technischen Revolution legen. Trotz des Reizes, den manche paramilitärischen Praktiken wie das Schießen auf die Jugendlichen ausüben, bleibt der Rekrutierungsprozess der künftigen Offiziere und Unteroffiziere also schwierig. Die Schüler haben den verpflichtenden C ­ harakter des Wehrdienstes internalisiert, möchten ihn aber nicht in ein berufliches Engagement umwandeln. Eine Minderheit sieht darin einen Hebel zum sozialen Aufstieg, der den Eintritt in die Oberschule auch bei mittelmäßigen schulischen Leistungen ermöglicht. Die Politik der Militarisierung des schulischen Felds ist ein Prozess, der sich über 15 Jahre hinzieht und seine Krönung zum Schulbeginn 1978 mit der Einführung einer militärischen Disziplin in die Lehrprogramme findet.

77 78

LAB, C REP 902/2082, op. cit. LAB, C REP 902/3676, op. cit., unpag.

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Die Einführung der theoretischen und praktischen Wehrerziehung Die Einrichtung des theoretischen Unterrichts Das Zentralkomitee der SED sieht ab 1976 die Einführung eines obligatorischen Wehrunterrichts für die Klassen 9 und 10 der polytechnischen Schulen vor. Das Fach existiert in der UdSSR79 und anderen Ostblockländern (in Polen ab der 7., in der Tschechoslowakei ab der 6. Klasse) schon seit Jahren.80 Die verspätete Einrichtung spiegelt den besonderen Platz der Armee in der DDR im Vergleich zu den „übrigen sozialistischen Bruderländern“ wider, die eine populäre Militärtradition innerhalb ihrer Gesellschaften übernehmen konnten. In der DDR bleibt das An­sehen der NVA trotz aller offiziellen Propaganda schwach und die antimilitaristische Tradition der deutschen Linken bleibt über die Generationen hinweg sehr stark. Das Projekt wird dem Lehrkörper und den Schülereltern im Frühjahr 1978 vorgestellt und im Juni einige Wochen lang im Kreis Sebnitz westlich von Dresden in Sachsen sowie im Kreis Königs Wusterhausen südöstlich von Berlin getestet.81 Die offiziellen Texte beschwören die Notwendigkeit, die Schüler auf die Erfüllung ihrer Pflicht, den Sozialismus zu verteidigen, vorzubereiten: „Der Wehrunterricht hat das Ziel, die Wehrbereitschaft und Wehrfähigkeit der Jungen und Mädchen zu fördern und dient der Realisierung der Ehrenpflicht und des Rechtes der Jugend zum Schutz des Sozialismus. Er unterstützt die politisch-moralische und physische Vorbereitung der Jugendlichen auf die Anforderungen des Wehrdienstes.“82

Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, ein alter Spanienkämpfer, der seit 1960 im Amt ist und zu diesem Zeitpunkt 68 Jahre zählt, bringt dies in direkterer, recht abfälliger Sprache zum Ausdruck, wenn er die ostdeutsche Jugend für „dekadent“

In den späten 1920er Jahren wird Unterricht in Wehrerziehung (voennoe delo) in die sowjetischen Primar- und Sekundarstufen eingeführt, mit zwei Wochenstunden. Das Fach wird häufig nur oberflächlich behandelt und begegnet der Feindseligkeit eines großen Teils des Lehrkörpers. Siehe O. Anweiler, Geschichte der Schule und Pädagogik in Russland vom Ende des Zarenreichs bis zum Beginn der Stalin-Ära, Wiesbaden 1978. 80 In Ungarn kommt das Fach im Laufe der 1970er Jahre sogar außer Gebrauch. Zu Beginn jedes Schuljahres müssen sich die Schüler ein Lehrbuch zur Verteidigung des Vaterlands besorgen. Theoretisch soll es von dem Lehrer verwendet werden, meist findet der Unterricht aber gar nicht statt. Wir danken dem Soziologen Gábor Eröss für diese Mitteilung. 81 BA, DR 2/A 532, Entwicklungs- und Organisationsfragen aller Formen des Wehrunterrichts, 1980, unpag. 82 LAB, C REP 903-01-02/1 182, SED-Kreisleitung Köpenick, Sozialistische Wehrerziehung, 1977–1981, unpag. 79

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erklärt. Seine Formulierungen zeigen den Graben zwischen den Generationen der ostdeutschen Gerontokratie und ihrer Jugend: „Wir haben den Frieden nicht für alle Zeit abonniert, und wir fordern von der Jugend in dieser Hinsicht zu wenig. Die Jugend der DDR hat sich zu einer Disko-Jugend entwickelt, und es wird Zeit, daß sie nunmehr in militärischer und sportlicher Hinsicht mehr gefordert und gebildet wird.“83

In den Elternversammlungen werden negative Stellungnahmen ohne Zaudern geäußert. Die Kritik wird von den Basisfunktionären der Partei und den inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi, die sehr detaillierte Akten über die Einführung des Wehr­ unterrichts in den Ostberliner Schulen besitzt, weitergeleitet. Ein SED-Funktionär im Prenzlauer Berg zitiert Redebeiträge aus der Elternversammlung der Klasse 8b der 8. POS:84 „Ich lehne den Wehrunterricht ab, er erinnert mich an die Nazizeit, dort gab es ähnliche Übungen, sie dienten der Kriegsvorbereitung.“ „Wozu diese Einladung, eine Diskussion ist nicht notwendig, es ist doch eine Direktive.“ „Die DDR braucht Facharbeiter und keine Soldaten“. „Die Form des Wehrunterrichts gab es 1939 schon einmal.“ „Nach dem 2. Weltkrieg haben wir geschworen, nie wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen – ich werde mein Kind nicht unterstützen, die Waffen in die Hand zu nehmen.“ „Unser Staat hat immer darüber geschimpft, daß Hitler Kinder eingezogen hat, jetzt machen wir dasselbe.“

Von April bis Juni 1978 ergehen aus der gesamten DDR etwa 150 Eingaben von Schülereltern zur Wehrerziehung; dreizehn kommen aus Ostberlin. Davon richten sich drei Viertel an das Volksbildungsministerium. 40 % der Autoren berufen sich in ihren Schreiben auf die christliche Religion; sie fordern den Widerruf des ministeriellen Projekts oder bringen Kritik zum Ausdruck.85 Diese Kritik stammt von Eltern, die einer Generation angehören, die vom Krieg oder seinen Folgen geprägt ist. Sie schließen an die Kritik an, die 1973–1976 in der Literatur geäußert wird, insbesondere von Reiner Kunze. Kunze, ein 1933 geborener ostdeutscher Schriftsteller, hat 1976 sein Talent als Dichter und als Geschichtenerzähler für Kinder zusammengenommen, um die zunehmende Militarisierung der Erziehung in einer Anthologie mit dem Titel „Die wunderbaren Jahre“ zu kritisieren. Der Titel ist eine Anspielung auf den Roman Die Grasharfe (1951) des amerikanischen Autors Truman Capote (1924–1984),

83 84 85

BStU, MfS HA XX/3 466, Wehrerziehung, 1978, pag. 120. LAB, C REP 902/4629, op. cit., unpag. BStU, MfS HA XX/4269, op. cit., pag. 67.

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wo dieser die wunderbaren Jahre der Pubertät beschreibt.86 In einer Serie von sieben kurzen Prosagedichten, die provokant „Friedenskinder“ betitelt sind, zeichnet Kunze das Porträt von Individuen in unterschiedlichen Stadien ihrer Kindheit und Jugend im Alter von sechs bis 18 Jahren. Im Ton der Satire kritisiert er die Militarisierung der sozialistischen Erziehung, wobei er die Absurdität und die gefährlichen Wirkungen dieses Unternehmens auf die Kinder anprangert. In dem Gedicht „Neunjähriger“ inszeniert Reiner Kunze in provokanter Weise einen Dialog zwischen einem Pfarrer und einem besonders „engagierten“ Kind: „Pfarrer: Sagen wir, es käme ein Onkel aus Amerika … Erster Schüler: Gibt’s ja nicht. Der wird doch gleich von den Panzern erschossen. (Mit der Geste eines Maschinenpistolenschützen) Enng-peng-peng-peng! (Die anderen Schüler lachen.) Pfarrer : Aber wieso denn? Erster Schüler: Amerikaner sind doch Feinde. Pfarrer : Und Angela Davis? Habt ihr nicht für Angela Davis eine Wandzeitung gemacht? Erster Schüler: Die ist ja keine Amerikanerin. Die ist ja Kommunistin. Zweiter Schüler: Gar nicht, die ist Neger.“87

Auch bei den Mitgliederversammlungen der FDJ werden Diskussionen organisiert. Dabei zögern manche Schüler nicht, auf einige Paradoxien der Außenpolitik hinzuweisen, und bringen damit die hauptamtlichen Funktionäre in Erklärungsnot: „Einerseits sagen wir, wir sind für den Frieden und für die Entspannung, und andererseits führen wir den Wehrunterricht ein. Wie verträgt sich das miteinander? Ist das nicht Militarisierung des Unterrichts bei uns?“88 „Mit diesem Schritt verstoßen wir gegen die Schlußakte der KSZE und die Verfassung der DDR.“89

Die Einführung dieses Pflichtunterrichts ab dem Schulanfang im September 1978 führt nicht zu einer Welle von Protesten, Weigerungen oder „Provokationen“. Die Stasi-Archive informieren uns allerdings über Fälle von Widerspruch gegen dieses Fach in Ostberlin, Potsdam, Erfurt und Schwerin.90 Sie berichten außerdem von einzelnen Einschüchterungsmaßnahmen seitens des Staates. So werden vier Angestellte der DEFA verhaftet, weil sie Unterschriften gegen die Einführung des Wehr­ unterrichts in der Schule gesammelt haben.91 Die große Mehrheit der Eltern will 86 R. Kunze, Die wunderbaren Jahre, Frankfurt/M. 1976. Diese Anthologie bringt ihm den Ausschluss aus dem ostdeutschen Schriftstellerverband. 1977 lässt sich Kunze in der BRD nieder. 87 R. Kunze, op. cit., S. 12. 88 BStU, MfS HA XX/4 269, op. cit., pag. 50. 89 BStU, MfS HA XX/3466, pag. 142. 90 Ebd., pag 142. 91 Ebd., pag. 1.

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den Schulbesuch ihrer Kinder nicht aufs Spiel und sich gegenüber dem Staat nicht ins Unrecht setzen. Nur Pfarrer und Vertreter der Intelligenz widersetzen sich offen. Die Haltung der Kirche zeichnet sich allerdings nicht durch frontale Konfrontation aus. Im Juni 1978 wendet sie sich in einem offenen Brief an den Staatssekretär für Kirchenfragen Seigewasser mit der Forderung, das Projekt Wehrerziehung zu überdenken.92 Vor Ort organisiert die Junge Gemeinde Seminare, in denen die ­Frage der militärischen Erziehung behandelt wird: „Am 28. 06. 1978 führte die Junge Gemeinde der evangelischen Samaritergemeinde in Berlin-Friedrichshain in Auswertung des in den Kirchen verlesenen „Protestschreibens“ der evangelischen Kirchenleitung in ihrem Zentrum einen „Jugendkonvent“ zum Thema Wehrunterricht durch.“93 Die evangelische Kirche schlägt die Einrichtung der Wehrerziehung als Wahlfach oder die Einrichtung eines Fachs „Humanistische Politik“ oder „Friedens­ erziehung“ vor. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Honecker sich im März des selben Jahres mit Kirchenvertretern getroffen hat. Diese haben mehr Freiheit in ihren Aktivitäten und die offizielle Unterstützung des Staates für ihre pazifistischen Initiativen erreicht. Die Einführung der Wehrerziehung führt nun zu neuen Spannungen, wobei keiner der Verhandlungspartner einen Bruch mit den Vereinbarungen von März will.94 Der Wehrunterricht ist nach dem Vorbild der polytechnischen Ausbildung in zwei Bereiche aufgeteilt. Er besteht zunächst aus theoretischem Unterricht von acht Stunden, die nicht benotet und in zwei Blöcken gegeben werden (vier Stunden in der 9. Klasse, vier Stunden in der 10. Klasse) und „Stunden über Fragen der sozialistischen Landesverteidigung“ genannt werden.95 Die Begriffswahl soll den Schülern zeigen, dass das Fach dazu bestimmt ist, einen Verteidigungs- und keinen Angriffskrieg vorzubereiten, was ein Versuch ist, auf Kritik zu reagieren, in der die offizielle Politik der DDR mit der des Dritten Reichs verglichen wird. Das Fach behandelt verschiedene Fragen rund um die Armee: Berufsmöglichkeiten in der NVA, Bewaffnung und Verteidigungstechniken, militärische Kooperation mit der UdSSR und den Staaten des Warschauer Pakts (die Quellen sprechen von „Verteidigungsbündnis“96), die NATO und ihr „aggressiver“ Charakter, die Eigenschaften eines eventuellen Krieges. Hinzu kommt ein Praktikum von zwölf Tagen in einem Lager im Juni für Freiwillige unter den Jungen. Für die anderen (Mädchen und Jungen, die sich nicht 92 BA, DR 2/D 25, Einschätzungen, Kontroll- und Informationsberichte, 1978, unpag. 93 BStU, MfS HA XX/3466, pag. 142. 94 Siehe die Dissertation von L. Batel, Albrecht Schönherr, de l’Eglise confessante à l’Eglise dans le socialisme, Université de Paris 1 1998. Siehe auch ders., „Les Eglises évangéliques et l’état est-allemand 1961–1989“, in: Vingtième Siècle, 66, April–Juni 2000, S. 25–36. 95 Sm/Do, 94/68, Schulhefte für Fach Zivilverteidigung Kl. 9, Berlin-Est, 1983. 96 LAB, C REP 903-01-02/1182, op. cit., unpag.

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freiwillig melden) ist parallel ein Praktikum in Zivilverteidigung mit Übungen zu Schutzmaßnahmen bei einem Nuklearkrieg und einer Ausbildung in Erster Hilfe an der Schule vorgesehen. Schließlich wird die Ausbildung abgeschlossen mit drei „Tagen der Wehrbereitschaft“ im Februar.97 Der theoretische Unterricht erfolgt durch „auswärtige Lehrkräfte“. In Ostberlin werden 35 ehemalige Offiziere der NVA und 26 Reservisten in Uniform mit diesem Unterricht betraut.98 Jeder Lehrer übernimmt mehrere Schulen und im Schnitt etwa zwanzig Klassen. Die Externen gehören offiziell dem Lehrkörper an, werden aber von ihren Kollegen in den pädagogischen Konferenzen kaum akzeptiert. Im März 1989 hebt anlässlich einer Zehn-Jahres-Bilanz ein Offizier der Stasi das Problem der Integration dieser Militärs in den Lehrkörper hervor: „Wehrunterricht spielt im Denken nicht weniger Pädagogen und z. T. auch Direktoren eine untergeordnete Rolle, da sie andere Fächer als wichtiger ansehen.“99 Darüber hinaus bestehen insofern Anerkennungsrivalitäten, als die Lehrbeauftragten häufig ehemalige Karriereoffiziere sind, die mindestens 25 Jahre lang in der NVA gedient haben. Das Volksbildungsministerium beschließt, ihnen die Anerkennungsmedaille für 25 Jahre pädagogischer Tätigkeit zuzuerkennen, die ein normaler Lehrer eben erst nach 25 Jahren Schuldienst bekommen kann! Diese erweiterte Anerkennung ehemaliger Militärs verfehlt nicht, die Eifersucht und den Zorn zahlreicher Lehrkräfte zu wecken. Auf nationaler Ebene nehmen weniger als 0,2 % der Jugendlichen, das heißt etwa 400 Schüler der 9. und 10. Klassen, in den ersten drei Jahren nach seiner Einführung nicht an diesem Unterricht teil.100 In den meisten Fällen sind dies Kinder von Eltern, die einen Ausreiseantrag aus der DDR gestellt haben, oder Pastorenkinder. Mehr als 50 % der Weigerungsfälle werden in den Kreisen Dresden und KarlMarx-Stadt verzeichnet. In Ostberlin boykottieren im Jahre 1979 nur elf Schüler den Wehrunterricht. 1980/1981 nehmen 20 von 31 894 Schülern nicht daran teil. Darunter findet man sechs Pastorenkinder, vier Kinder technischer Kader und zwei aus Künstlerfamilien. Die Zahl der Verweigerungen beträgt im Jahre 1982 sechs.101 Fälle von Disziplinlosigkeit sind selten. Es werden selbst Verspätungen gemeldet, die von den Schülern mit der Mittagspause erklärt werden, aber es wird k­ eine einzige „Provokation“ in den Schulquellen erwähnt. Die Berichte der Stasi des Stadtbezirks Weißensee ermöglichen den Nachweis von dreißig „Provokationen“  97 BA, DR 2/D 150 Tag der Wehrbereitschaft, 1980–1982, unpag.  98 BA, DR 2/D 471, Informationsberichte, 1978–1989, unpag.  99 BStU, MfS HA XX/8 398, Entwicklungsstand und Probleme des Unterrichtsfaches Wehrunterricht in den 9. und 10. Klassen der POS, März 1989, pag. 13. 100 BStU, MfS HA-XX/4 508, Bericht nach drei Jahren Wehrerziehung, pag. 13. 101 LAB, C REP 902/4629, op. cit.

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von Schülern in den Jahren 1980 bis 1985, d. h. Verweigerungen des Gewehrschießens, Tragen pazifistischer Zeichen.102 Hinter dieser Übereinkunft bringen die Schüler ihre Distanz zu diesem Unterrichtsfach dadurch zum Ausdruck, dass sie sich weigern, die offizielle Kluft der Jugendorganisationen zu tragen. Im Bezirk Köpenick zählen die Schulämter im ­Dezember 1978 im Schnitt in jeder Klasse einen bis sieben Schüler, die kein ­FDJ-Hemd tragen. In anderen Fällen wird es sofort nach der Stunde abgelegt.103 Im Allgemeinen scheint das Tragen des Hemds in den ersten Jahren allerdings selten gewesen zu sein. Die Inspektionsberichte des Bezirks Prenzlauer Berg für 1984 zeigen schließlich, dass das Tragen des Hemds akzeptiert wird, aber eine reine Formalität ist: „Die Schüler tragen im Fach Wehrunterricht Verbandskleidung, bis auf 4 Schüler an der 40. OS und 11 von 16 Schülern an der 17. OS Prenzlauer Berg waren in den hospitierten Stunden alle im Blauhemd. Für viele FDJler bleibt das Tragen der Verbandskleidung aber eine formale Angelegenheit. Sie nehmen es für die Stunde aus der Tasche und ziehen es anschließend wieder aus.“104

Viele Schüler weigern sich, das blaue Hemd der FDJ zu tragen, ohne dass dies zu Sanktionen führt. Ungeachtet von Ermahnungen seitens des Volksbildungsministeriums tolerieren die Schuldirektoren diese Unterlassung wie als Gegenleistungen für die Annahme des neuen Fachs ohne großen Widerstand. Wir finden hier also ein sehr schönes Beispiel für ein sich Arrangieren. Die Berichte über die theoretischen Stunden zeigen sehr deutlich, dass die Erziehung zum Hass auf den „imperialistischen Feind“ nicht funktioniert. Es ist daran zu erinnern, dass eine solche Praxis der Konfrontation in der Bundeswehr seit den späten 1960er Jahren nicht mehr betrieben wird.105 Die ostdeutschen Schüler haben ihrerseits, wie ein SED-Funktionär, der im Dezember 1978 den Wehrunterricht im Bezirk Köpenick inspiziert, verbittert feststellt, überhaupt keine Lust, die BRD als Feind zu betrachten – wobei diese als Argument sogar die Solidarität unter Arbeitern heranziehen: „Immer wieder wurde aber im Unterrichtsgespräch Zurückhaltung deutlich, wenn die Fragestellung auf die Rolle der Bundeswehr in der NATO kam. Ein großer Teil von Schülern bringt Zweifel zum Ausdruck, wenn es darum geht, den Bundeswehrsoldaten als Feind anzusehen. Diese Schüler bringen offen ihre Zweifel darüber zum Ausdruck, 102 BStU, MfS HA XX/4269, Archiv der Zentralstelle, Wehrerziehung, pag. 52. 103 LAB, C REP 903-01-02/1182, op. cit., unpag. 104 LAB, C REP 902/5868, Sozialistische Wehrerziehung. Berichte zum Wehrunterricht an den Berliner Oberschulen, 1982–1984. 105 Georg Leber, der sozialdemokratische Verteidigungsminister der Großen Koalition, hat dieses seit den 1950er Jahren gültige Feindbild offiziell abgeschafft.

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daß der Arbeiter der Bundesrepublik in Uniform im Ernstfall auf Soldaten der NVA schießen wird.“106

Dagegen bieten diese Stunden für sie eine Gelegenheit, sich über den Krieg als ­solchen Gedanken zu machen sowie über den Sinn einer Landarmee in Zeiten nuklearer Kriegsführung: „Was können wir bei einem Krieg mit nuklearen Waffen wirklich tun?“ „Sind wir in der Lage, uns bei einem atomaren Erstschlag der NATO zu schützen und zu verteidigen?“107

Paradoxerweise verfügen die „Lehrkräfte“ zwar in Bezug auf ihre militärische Funktion über eine natürliche Autorität, sie haben aber nicht das pädagogische Talent, die Diskussionen zu lenken und den Argumenten der Schüler zu begegnen. Anders als in der Armee sind sie mit Individuen konfrontiert, die widersprechen und eine Gegenposition zu dem beziehen können, was sie sagen. Es lässt sich leicht vorstellen, dass derlei eine beunruhigende Erfahrung darstellt für Personen, die daran gewöhnt sind, dass man ihnen gehorcht ohne zu diskutieren. Ihr Mangel an Pädagogik und Takt im Umgang mit den Schülern bereitet zuweilen Probleme, die es nötig machen, dass die Schuldirektoren oder die Lehrer für Staatsbürgerkunde im Unterricht anwesend sind, und ihnen bei ihrer Aufgabe zur Seite stehen.108 Der theoretische Teil der Wehrerziehung stößt sich an einer Realität, die den Schulbehörden und der Regierung seit den 1960er Jahren bekannt ist: Die Schülermehrheit, die sich nach Westdeutschland orientiert, glaubt in keiner Weise an eine „westdeutsche imperialistische Gefahr“. Da das neue Fach die Geister nicht formen kann, soll es wenigstens die Körper während der Praktika disziplinieren; diese stellen tatsächlich einen veritablen vorzeitigen Wehrdienst dar. Das Praktikum oder das Leben in der Kaserne Die offiziellen Texte, insbesondere die Verordnung Nr. 4 des Volksbildungsministeriums vom 1. Februar 1979, legen ausdrücklich fest, dass das zwölftägige militärische Praktikum auf freiwilliger Basis erfolgt:

106 LAB, C REP 903-01-02/1182, SED Kreisleitung Köpenick, Sozialistische Wehrerziehung, 1977–81, unpag. 107 LAB, C REP 902/6057, SED-Bezirksleitung Berlin, Sozialistische Wehrerziehung (Lager für Wehrausbildung), 1983–1984, unpag. 108 Siehe das Zeugnis von U. Blachnik, „Die Wehrerziehung“, in: Enquete-Kommission Auf­ arbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Ideologie, In­ tegration und Disziplinierung, Bd. 1, Baden-Baden 1995, S. 277–287, hier S. 280.

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„Die Wehrausbildung der Jungen der Klasse 9 im Lager ist […] Bestandteil des Wehrunterrichts. Sie wird mit den Jungen durchgeführt, die sich freiwillig zur Teilnahme an dieser Ausbildung bereiterklären.“109

Von 1979 bis 1981 ist die Teilnehmerquote relativ gering. Im Juni 1981 nehmen 2 842 Jungen der 9. Klassen Ostberlins am militärischen Lager teil, das entspricht einer Beteiligungsquote von 36 % der in Frage kommenden männlichen Schüler.110 Anfänglich werden die Teilnehmer an den Lagern von den Schuldirektoren mit einer selbstverständlichen Priorität für diejenigen, die sich für eine militärische Karriere entscheiden, ausgewählt. Aber sehr rasch „verlangt“ das Volksbildungsministerium, dass alle Jungen mit guter Gesundheit dieses Praktikum machen. Um der Forderung des Ministeriums nachzukommen, greifen einige Schulleiter und Lehrkräfte, wie aus einem Bericht der Ostberliner Schulbehörde für 1983 hervorgeht, zu administrativen Druckmitteln: „Einzelne Schüler wiesen in den Diskussionen darauf hin, daß Klassenleiter und Direktoren administrative Mittel angewandt haben, um ihre Lagerteilnahme durchzusetzen. Dazu gehörten die 13. OS Marzahn, 20. OS Mitte, 18. OS Treptow, 20. OS Köpenick.“111 Im Juni 1984 beläuft sich die Zahl der Teilnehmer aus Ostberlin auf 5 420, d. h. 80 % der männlichen Schüler der 9. Klassen.112 Dieser quantitative Sprung erfordert zusätzliche materielle Mittel und bringt die Behörden dahin, die Hüttendörfer und das Zentrallager der Pioniere zu nutzen.113 Üblicherweise werden die Praktika in den Ferienlagern der Betriebe oder der Jugend­organisationen abgehalten. Sie dauern zwei Wochen mit 72 Ausbildungsstunden, die dem Erlernen militärischer Ordnung und Disziplin (Appelle, Märsche) gewidmet sind, Manövern im Wald, Schutzübungen gegen atomare Angriffe, Schießübungen und Unterweisung in Erster Hilfe. Das Volksbildungsministerium will bei den jungen Burschen auf diese Weise Qualitäten wie „Orientierung, Tarnung, Bewegung, Mut, Ausdauer, Willensstärke, Selbstdisziplin, Initiative“ entwickeln.114 Das Praktikum wird von einem Stab von Unteroffizieren und Offiziersschülern der NVA geleitet; das Ministerium bemüht sich, zusätzlich Lehrer zu gewinnen. Diese sind nicht sonderlich begeistert von der Idee, an diesen Praktika teilzunehmen. In Köpenick erscheinen bei einem Praktikum im Sommer 1979 von 14 durch 109 110 111 112

LAB, C REP 902/6 057, op. cit., unpag. BA, DR 2/D 477, Wehrausbildung im Lager, 1980–1989, unpag. LAB, C REP 902/6057, op. cit., unpag. BA, DR 2/ A 1108, Vormilitärische und Sanitätsausbildung an EOS, Klasse 11, 1983–1989, unpag. 113 BA, DR 2/D 437-443, Wehrausbildung im Lager-Berichte, 1982–1988, unpag. 114 LAB, C REP 902/6057, op. cit.

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das Schulamt bestimmten Lehrern lediglich vier im Lager.115 Die Betreuung wird außerdem von Mitgliedern der Kampfgruppen der GST und der Polizei gewährleistet. Während der theoretische Unterricht insgesamt von der Mehrheit der Schüler gleichgültig hingenommen wird, da er „zu trocken“ sei,116 sind die Gefühle hinsichtlich des Praktikums im Lager gemischter. Hier ein Bericht eines Schülers der Karl Frank-Oberschule in Köpenick über ein Praktikum der 9. Klassen: „Im Juni 1981 fanden 14 Tage lang Ausbildungen in der Zivilverteidigung statt. Im Lager wurden die Schüler in Züge und diese wieder in Gruppen geteilt. Wir wurden vormittags und mittags und abends mit Vollverpflegung ausgestattet. Das Essen war meistens sehr gut. Der Tag gliederte sich in 6 Uhr Wecken, Frühsport, Waschen, Frühstück, Stubenreinigung, Ausbildung, 13 Uhr Mittagessen, Mittagsruhe, 15 Uhr Ausbildung, 17 Uhr Freizeit, 19 Uhr Abendbrot, Waschen und dann fanden vor dem Schlafengehen noch die Stubendienste statt. Um 22 Uhr war Nachtruhe. An manchen Tagen fanden noch abends politische oder kulturelle Veranstaltungen statt z. B. traten 2mal Gruppen auf, es gab ein Forum mit dem Union-Trainer und Filmvorführungen. Die Ausbildung teilte sich in Schutzübung, Orientierung im Gelände mit Kompaß und Karte ein. Dreimal machten wir Kampfübungen, wo wir uns Schützenlöcher bauten und Zellen bauten. In der Freizeit konnten wir Volleyball, Tischtennis, Fußball u.  v.  a. spielen und machen. Natürlich konnten wir bei schönem Wetter auch baden, da in der Nähe sich gleich am Lager ein See befand. In der Schutzausbildung machten wir Übungen und Märsche mit der Schutzmaske und legten die Schutzanzüge an. In der Orientierung im Gelände mit Kompaß und Karte übten wir das Schätzen von Entfernungen, die Zeichnung von Karten und den Umgang mit dem Kompaß. Die Höhepunkte waren die Schießübung mit dem KK-Gewehr und der Abschlussmarsch. Beim ersteren fuhren wir auf einen Übungsplatz der Armee mit Bussen. Dort konnte jeder drei Schüsse mit der KK auf ein Scheibe, die sich in 50 Meter Entfernung befand, abgeben. Bei der Abschlussübung führten wir einen Orientierungsmarsch durchs Gelände durch. Am nächsten Tag fuhren wir alle nach Hause und hatten seit 14 Tagen wieder normale Kleidung statt einer GST-Uniform getragen. Es hatte uns im Lager viel Spaß gemacht, und wir hatten auch viel Neues über die ZV gelernt.“117

Der Bericht ist im Wesentlichen faktographisch und positiv, da er von einem Lehrer oder dem Direktor gegengelesen worden ist. Durch die Worte scheint aber gleichwohl die Härte dieser Tage durch. Diese Jungen sind für zwei Wochen von der Welt abgeschnitten und der Autorität von NVA-Offizieren unterworfen. Sie werden in Einheiten von zehn Schülern aufgeteilt, die unter dem Kommando e­ ines Unter­-

115 LAB, C REP 903-01-02/1182, op. cit., unpag. 116 LAB, C REP 903-01-08/796, SED-Kreisleitung Weißensee, Sozialistische Wehrerziehung. Berichte und Informationen, 1978–1980, unpag. 117 Schulchronik der Karl-Franz-Oberschule Berlin-Köpenick, 1975–1983, unpag.

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offiziers stehen. Sie müssen ihre Zivilkleidung gegen eine militärische U ­ niform in Khaki mit Mütze tauschen. Der Tagesablauf ist der eines Wehrpflichtigen mit ­Wecken um 6 Uhr und Lichtlöschen um 22 Uhr. Am Wochenende beschäftigen die Offiziere die Schüler mit sportlichen Aktivitäten, Filmvorführungen (über die NVA) und politischen Diskussionen. Abbrüche dieser Ausbildungskurse sind gleichwohl selten: zwölf sind es im Jahre 1983, also 0,2 % der Teilnehmer.118 T. S., geboren 1972, gehört der letzten Generation an, die diese Erfahrung noch vor dem Mauerfall gemacht hat: „Wo ich mich gut daran erinnere, ist das Erziehungslager. Das war ein riesiges Lager für alle Berliner Jungs sozusagen, in Storkow oder Lenz. Wir hatten diese Uniform vorher bekommen. Wir sind angekommen, ein Offiziers-Schüler hat uns begrüßt, und wir wurden sofort in Drill genommen: Man musste sofort marschieren, antreten, 30 km marschieren mit Gepäck, man hat geschossen und Liegestütze gemacht. Einige haben es lustig genommen, ich nicht. Ich habe den Brief der Jungs an die Mädchen geschrieben. Das war Tradition, daß die Mädels Kuchen gebacken haben und ins Lager geschickt haben. Ich habe einen richtig bösen Brief geschrieben, an unsere Klassenlehrerin. Ich fand das überhaupt nicht schön: 3 Wochen im Lager, kein Ausgang in der Woche, dienstags ein DDR-Film, täglich Politdiskussion, marschieren, Abschlussmarsch über 20 km mit Gepäck … Es kam zu Auseinandersetzungen mit den Offizieren und sie haben uns die Duschen gesperrt! Eine Nacht hat ein Offiziersschüler gehört, daß jemand in unserem Zimmer gesprochen hat. Er ist rein gekommen: „Alles auf den Flur und 10 Liegestützen! Und wer noch spricht, 10 Liegestützen!“ Wir wurden um 6 Uhr durch einen Pfiff geweckt. Um 6 Uhr Trillerpfeifen, „Kompanie in 10 Minuten fertig angezogen“, auf Klo, 10 Minuten und dann im Zug … Wir haben danach einen Wecker gestellt, damit wir in Ruhe aufstehen konnten. Wir hatten danach Frühsport: Nahkampf. Ich hatte eine Gelenkprellung und danach wurde ich in die Küche geschickt.“119

Während des Interviews berichtet T. S. lang und breit über diese Erfahrung. Alles, was er beschreibt, entspricht den Erfahrungen jedes Eingezogenen in einer Wehrpflichtigenarmee. Diese Erfahrung wird hier Jugendlichen von 16, 17 Jahren vermittelt, denen es schwer fällt, sich in die militärische Lebensweise einzufinden. T. S. hebt die unangenehmen Seiten des Praktikums hervor, nämlich die Disziplin, das körperliche Leiden, die Erniedrigungen. Seine Ausführungen werden bestätigt von Berichten der SED-Funktionäre, die die Lager inspizieren und Äußerungen von Schülern aufzeichnen:

118 LAB, C REP 902/6057, op. cit., unpag. 119 Transkription des Interviews mit T. S. vom 8. September 2004, pag. 5.

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„Ungewohnt für mich ist die straffe Disziplin und Ordnung.“ „Ein Negativum stellt die Versorgung mit Informationen dar. Wenn man einmal eine Zeitung des jeweiligen Tages in die Hände bekommt, dann kommt das einer Sensation gleich. Radio oder Nachrichten sind fast ein Fremdwort.“120

Die Lebensbedingungen sind häufig unangenehm. Der Tagesablauf ist hart. Die hygienischen Bedingungen in den Lagern lassen oft zu wünschen übrig. Dies bringt die Jugendlichen dazu, ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Sie wissen sehr wohl, dass eine der effektivsten Methoden, die sozialistische Moralordnung zu überschreiten, darin besteht, auf den Nationalsozialismus Bezug zu nehmen. Im Jahre 1981 fallen vier Schüler während eines Praktikums am Hölzernen See südöstlich von Berlin durch „provokantes“ Verhalten auf, das zu einem Bericht der Stasi führt: „Diskussion über die Zeit des Faschismus unter den 12 Jugendlichen des Bungalows 13. Dabei sprachen sie sich anerkennend über die militärische Disziplin in der faschistischen Wehrmacht, die Führerachtung und den blinden Gehorsam aus. Da die vier Schüler im Ausbildungslager keine Funktionen hatten und unzufrieden waren (Verärgerung über die mangelhaften sanitären Anlagen und hygienischen Bedingungen, Waschen im See), kamen sie anknüpfend an den Wunsch, selbst Macht zu demonstrieren, auf den Gedanken, andere Jugendliche zu kommandieren. Sie ahmten den faschistischen Gruß nach, gaben sich die Dienstgrade Admiral, Oberst a. D., Standartenführer und Rottenführer und verlangten von anderen mit im Bungalow untergebrachten Schülern, einen Eid auf Führer, Volk und Vaterland und Verschwiegenheit zu leisten. Übereinstimmend sagen die vier Jugendlichen aus, damit keinerlei politische Motive verfolgt, sondern aus „Spaß am Kriegsspielen“ gehandelt zu haben.“121

Trotz der Härten der Erfahrung behält eine große Zahl an Schülern eine positive Erinnerung an das Praktikum zurück. Es entwickelt sich eine Art maskuliner Solidarität unter ihnen, sie haben die Möglichkeit, den Mopedführerschein zu machen, zu schießen, wobei einzelne Schüler aus Pazifismus den Gebrauch eines Gewehrs verweigern. Diese Feststellung beruht vor allem auf der seriellen Analyse eines Korpus von Fotografien, die während der Recherchen in den Schulen und Heimatmuseen zusammengestellt wurden.122 Es handelt sich um Amateuraufnahmen, was daran erkennbar ist, das manche unscharf sind oder einen schlechten Bildaufbau zeigen. Sie sind nicht für die Veröffentlichung bestimmt, sondern sollen die Erfahrung als solche verewigen und die Chronik der jeweiligen Schule illustrieren. In aller Regel sind sie mit einer Legende 120 LAB, C REP 902/6057, op. cit., unpag. 121 BStU, MfS HA XX/3879, pag. 19. 122 Der Korpus umfasst 500 Amateurfotos aus verschiedenen Schulen Ostberlins (Karl FrankOberschule Köpenick, Wilhelm Pieck-Oberschule Pankow, Herbert Baum-Oberschule und Erich und Charlotte Gaske-Oberschule Friedrichshain, 4. Schule Marzahn). Sie wurden zwischen 1970 und 1985 aufgenommen.

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oder genauer einem Titel versehen, der die fotografierte Situation bezeichnet. Die Autoren sind kaum zu identifizieren: Es dürfte sich in der Regel um das militärische Personal handeln, das die Schüler betreut, oder um Jugendliche. Diese Frage ist recht wichtig, da das Verhältnis zwischen dem fotografierenden Subjekt und den fotografierten Subjekten so genau wie möglich bestimmt werden sollte. Wenn es sich um einen Offizier handelt, der das Lager betreut, ist das Verhältnis zu den Schülern ein hierarchisches, dominierendes. Der Fotograf befindet sich in übergeordneter Stellung. Darüber hinaus verfügt ein Militär notwendigerweise über eine andere visuelle Kultur als die Schüler und wird andere Werte zum Ausdruck bringen wollen. Wenn der Fotograf selbst Schüler ist, wird sein Verhältnis zu den Kameraden durch einen Status von Identität geprägt sein. Er wird möglicherweise andere Motive fotografieren oder eine Sichtweise wiedergeben, die sich von der der militärischen Ausbildung unterscheidet. Der Ort ist ebenso wie das Datum in der Regel in der Chronik angegeben. Innerhalb des Fotokorpus unterscheiden wir drei Arten von Motiven: Gruppenfotos, Fotos, die Übungen in Disziplin zeigen und Fotos von körperlichen Übungen. Auf der Mikroebene der Schülereinheit begünstigt das Praktikum die Gruppenkohäsion, da die Jungen lernen, untereinander in den Prüfungen solidarisch zu sein. Das Foto wurde im Juni 1982 auf einer Lichtung aufgenommen, ­genauer in e­ inem Lager, in dem die Wehrausbildung erteilt wurde, in der Umgebung von ­Königs

Abb. 15 Wehrpraktikum von Schülern der Karl-Frank-OS in Berlin-Köpenick, Juni 1982

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Abb. 16  Waffenbrüderschaft 1971

Wusterhausen in der Nähe eines Sees. Wir erhalten diese I­ nformationen durch den begleitenden Text in der Chronik der Karl Frank-Oberschule in ­Köpenick. Das Gruppenfoto zeigt 15 männliche Schüler, das heißt praktisch die gesamte Klasse 10a. Die Jungen sind 16 bis 17 Jahre alt und posieren in Uniformen der GST vor den Bäumen. Zwölf stehen, drei hocken. Sie haben sich (oder wurden) in vier Reihen aufgestellt: Drei vorne, sechs in der zweiten Reihe, vier in der dritten und einer hinten. Sie wirken wie Rekruten; nur der Haarschnitt unterscheidet sie von richtigen Soldaten. Die Körperhaltung ist nicht uniform: Die meisten lassen die Arme am Körper hängen, halten sich aber nicht gerade in Hab-Acht-Stellung. Nur ein Schüler ganz rechts im Bild steht steif, in Hab-Acht-Stellung, mit ernstem Blick. Er wirkt so, als habe er sich auf das Spiel eingelassen und die Rolle des Soldaten wirklich angenommen. Die Übrigen lächeln mehr oder weniger offen, einige zeigen ein verschlossenes Gesicht. Nur ein Schüler auf der rechten Seite präsentiert ein sehr verschlossenes, geradezu verkrampftes Gesicht. Er hält sich etwas im Hintergrund und versteckt sich ein wenig hinter der Schulter seines Nachbarn. Man könnte die Hypothese aufstellen, dass er so seine Verweigerung oder sein Unwohlsein gegenüber der Ausbildung zum Ausdruck bringt. Aber ebenso gut könnte es sich um ein Gefühl des Unwohlseins oder der Unstimmigkeit in Bezug auf seine Kameraden handeln. L ­ eider lässt sich keine gesicherte Aussage treffen. Dagegen ist es offensichtlich, dass das Foto dazu dient, die gemeinsam verbrachte Zeit zu dokumentieren. Sie gehört eher

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in die Kategorie von Fotos einer Gruppe von Kumpels denn zu offiziellen Fotos, auf denen es darauf ankommt, die Werte der Armee zu demonstrieren: Ordnung, Disziplin. Bei einigen zeigt die körperliche Haltung, dass sie ihre militärische Rolle nicht ganz ernst nehmen. Die positive Haltung zielt möglicherweise auch darauf ab, ein positives Bild von sich selbst zu geben; die Botschaft könnte dann sein: Es war schwierig, aber ich habe das Praktikum gemeistert, denn schließlich bin ich ein Mann. Wir können dieses private Bild mit einem offiziellen Foto vergleichen, das das gleiche Motiv zeigt. Es handelt sich um einen Abzug des Berufsfotografen Eberhard Klöppel aus dem Fotoband Photos in der DDR. Er trägt den Titel Waffenbrüderschaft 1971. Der Ort und die abgebildeten Personen sind uns nicht bekannt. Das Foto zeigt zwanzig junge Burschen in Uniformen in drei Reihen, im Hintergrund sind Offiziere, andere Schüler, ein Armeelastwagen zu erkennen. Die Szene findet nicht in einem Wald statt, sondern an einem Gewässer, über das eine Behelfsbrücke installiert wurde. Auf dem Foto ist die Pose sehr entspannt, und praktisch alle lächeln sehr stark. Die am deutlichsten lächelnden Schüler befinden sich selbstverständlich in der Bildmitte. Die Intention des Fotografen ist klar: Er will zeigen, dass die Wehrausbildung eine Aktivität ist, die den Jungs gefällt. Das Gefühl der Brüderschaft wird sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, es materialisiert sich im Arm, der um die Schultern des „Kumpels“ gelegt wird. Die männlichen Posen, die Zigarette, die ein Junge am rechten Rand raucht, sollen maskuline Bande der Brüderschaft transportieren, wie sie in der Armee geknüpft werden. Gemeinsam ist beiden Fotos der Bezug auf eine mehr oder weniger ausdrücklich formulierte Absicht: Die militärische Ausbildung zielt darauf ab, ein Gefühl von Brüderschaft, von Klassenzugehörigkeit zu wecken, wie man es im tatsächlichen Militärdienst findet. Sie überwindet soziale, physische und intellektuelle Unterschiede. Möglicherweise hofft das Regime gerade in dieser Brüderlichkeit ein gemeinsames Gefühl der Identität mit der ostdeutschen Nation zu wecken. Diese Gruppenfotos beschwören das Motiv einer brüderlichen Gemeinschaft der Männer, die auf dem Boden der DDR geboren sind. Sozialistische Staatsbürgerschaft und Wehrpflicht sollen auf einem starken emotionalen Band aufbauen. In gewisser Weise haben wir es mit einer Erweiterung der Jugendweihe zu tun, die als Zwischenetappe vor dem Wehrdienst den Eintritt in die Welt der Erwachsenen markiert. Appelle gehören zum Alltag während der Praktika. Sie sind auch insofern nichts Neues für die Schüler, als ähnliche Praktiken regelmäßig schon an der Schule stattfinden. Sie gehören zum Ritual, das die Disziplin innerhalb der Gruppe sicherstellen soll. Nur dass es während des Praktikum darauf ankommt, tatsächlich strammzu­ stehen.

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Die verschiedenen körperlichen Übungen, die im Rahmen der Ausbildung praktiziert werden, entsprechen den klassischen Übungen im Rahmen des Wehrdienstes: marschieren, klettern, springen, eine Palisade übersteigen, robben mit und ohne Gewehr. Das Ganze erinnert an einen Hindernislauf für Kombattanten. Konkret vermittelt sich die Militarisierung der Schule über die Intervention (para-)militärischer Akteure und Institutionen im schulischen Feld. Sie entspricht dabei einer klassischen Forderung der deutschen Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts: der nach einer militärischen Ausbildung für alle Bürger nach dem Modell der Milizarmee. Damit endet die Ähnlichkeit aber bereits. Die NVA und die GST werden ab 1961 neue unumgängliche und sichtbare ­Akteure im schulischen Feld. Die Zusammenarbeit erfolgt in Form von Kommissionen für sozialistische Wehrerziehung und ist charakterisiert durch die Implantation von GST-Basiszellen, die punktuelle Intervention von NVA-Offizieren, durch Patenschaften zwischen Militäreinheiten und Schulklassen, durch eine Reihe schulischer und außerschulischer Aktivitäten sowie durch die Rekrutierung künftiger Offiziere und Unteroffiziere. Die Militarisierung stößt in den 1960er Jahren auf Vorbehalte der Lehrkräfte, die von den Folgen des Zweiten Weltkriegs geprägt sind. Schüler, die in den 1970er Jahren die Schule besuchen, sind verpflichtet, an einem theoretischen und praktischen Wehrunterricht teilzunehmen, der den Gipfelpunkt dieser stetigen Entwicklung hin zur Militarisierung darstellt. Einige Jugendliche mit mittelmäßigen oder bescheidenen schulischen Leistungen sehen in der Armee eine Möglichkeit, auf Unteroffiziersposten aufzusteigen. Die Übrigen sehen sie als eine notwendige Übergangsphase, bevor sie ihr Studium fortsetzen und an die Universität gehen.123 Das Ziel dieses Unterfangens besteht darin, Staatsbürger heranzu­ ziehen, die gegebenenfalls bereit sind, sich zu opfern. Das emotionale Band bildet das Zentrum der edukativen Philosophie des Regimes. Einer Umfrage aus dem Jahre 1981 zufolge interessieren sich jedoch 54,5 % der jungen Ostdeutschen nur deshalb für den Wehrunterricht, weil er obligatorisch ist.124 Die Armee rückt also zunehmend auf dem schulischen Feld vor. Sie ist damit aber nicht allein: Auch die politische Polizei fasst Fuß in der Schule und eignet sich eine edukative Funktion an, die sie im Namen der Sicherheit des sozialistischen Staates ausüben will.

123 Dieses Thema findet sich im Film Sonnenallee von Leander Haußmann (1999), wenn der Held Micha (Alexander Scheer) zustimmt, sich für drei Jahre bei der NVA zu verpflichten, um seine Ausbildung fortsetzen zu können. 124 GESIS, If J-Studien S 6110, Verteidigungsbereitschaft Jugendlicher, 1981, pag. 39.

Kapitel XII Überwachen um zu erziehen: Die Stasi in der Schule

Parallel zum Prozess der Militarisierung des schulischen und außerschulischen Alltags zeichnen sich die 1960er bis 1980er Jahre durch ein zunehmendes Eindringen der politischen Polizei (Stasi)1 in das schulische Feld aus.2 Dies bedeutet nicht, dass die Stasi vorher dort überhaupt nicht anwesend gewesen wäre, aber ihre Mission ist nun eine andere. In den 1950er Jahren intervenierte die Stasi gelegentlich als Repressionsinstrument, um den jungen Staat vor den Feinden des Sozialismus zu schützen.3 Während der 1960er bis 1980er Jahre fungiert sie als Instanz zur Kontrolle der Schulen. Diese Entwicklung hängt einerseits zusammen mit der Strategie Erich Mielkes, dem Chef der Geheimpolizei ab 1957: Er richtet die Stasi ab 1961 neben ihrer Spionagetätigkeit im Ausland auf eine Rolle als Überwachungsinstanz für alle Bereiche der Gesellschaft aus; gleichzeitig werden ihre repressiven Praktiken weniger gewalttätig.4 Ihre Tätigkeit im schulischen Feld ist sichtbar, wird fassbar in anderen Quellen als denen der Stasi selbst, etwa in denen der Schulämter Ostberlins. Die Anwesenheit der Stasi begegnet uns in Form von Patenschaften über Schulklassen oder bei der Organisierung von Ferienlagern.5 Obwohl wir inzwischen unzählige Studien über die Stasi finden, ist die Schule ein kaum untersuchtes Feld der geheimpolizeilichen Intervention geblieben, eine terra incognita – abgesehen vom totalitarismustheoretischen Blickwinkel, unter dem deutsche Forscher den Akzent auf die psychologischen Folgen der Stasi-­Tätigkeit für die überwachten Jugendlichen legen.6 Die Rolle der Stasi als edukativer Akteur 1

2 3 4 5 6

Eine jüngere Gesamtdarstellung des Ministeriums für Staatssicherheit bietet J. Giesecke, Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990, München 2001. In englischer Sprache siehe M. Dennis, The Stasi. Myth and Reality, London 2003, auf Französisch S: Combe, Une société sous surveillance. Les intellectuels et la Stasi, Paris 1994. Als Regionalstudie trotz aller Schwächen siehe E. Peterson, The Limits of Secret Police Power. The Magdeburger Stasi, New York 2004. E. Droit, La Stasi à l’Ecole. Surveiller pour éduquer en RDA (1950–1989), Paris 2009. BStU, MfS, Au 49/51, Untersuchungsvorgang über Ernst Lösewitz und Dr. Irmelin Otto, 136 pag. J. Giesecke, „Die Einheit von Wirtschafts-, Sozial- und Sicherheitspolitik. Militarisierung und Überwachung als Probleme der DDR-Sozialgeschichte der Ära Honecker“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51, 2003, S. 996–1021. LAB C REP 903-01-08/599, op. cit., unpag. J. Mothes, Beschädigte Seelen. DDR-Jugend und Staatssicherheit, Rostock 1996; K. ­Behnke (Hg.), Stasi auf dem Schulhof. Der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch das Ministerium für Staatssicherheit, Berlin 1998.

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wird erst in jüngster Zeit von Ulrich Wiegmann, einem Spezialisten für Erziehungswissenschaften am Beispiel eines Konflikts in einer Schule in Mecklenburg-Vorpommern im Jahre 1986 in den Blick genommen.7 Dabei intervenierte die Stasi, um eine Lösung für das Vorhaben einer Schulschließung zu finden, bei der die Dorfkinder in eine weiter entfernte Schule eingeschult werden mussten, wogegen die Schülereltern opponierten. Gestützt auf die Stasi-Archive wollen wir das Gewicht und die Rolle dieser Institution innerhalb des schulischen Feldes in den 1970er und 1980er Jahren untersuchen. Am Beispiel der Rekrutierung von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) unter den Schülern wollen wir die Eigenlogiken der einzelnen Akteure darstellen, die diesem Überwachungssystem angehörten. Indem wir uns auf die Akteure konzentrieren, versuchen wir zu verstehen, warum die Stasi sich in das schulische Feld einbrachte, mit welchen Mitteln, welchen Instrumenten, nach welcher Logik und mit welchen Resultaten. Diese Untersuchung der Eigenlogiken8 der verschiedenen beteiligten Akteure dient dazu, deutlich zu machen, dass das Ziel der Stasi darin besteht, Prävention zu leisten, d. h. eventuelle „Feinde“ des Regimes zu identifizieren, um so die Stabilität des schulischen Felds und allgemein der Gesellschaft sicherzustellen. Diese Funktion der Überwachung und Kontrolle des schulischen Feldes stützt sich ebenso auf Erwachsene wie auf Jugendliche, was es der Stasi unter anderem gestattet, die künftige Elite des Landes in ihre Arbeit einzubeziehen.

Die „edukativen Konzepte“ der Stasi Die „erzieherische Rolle“ der Stasi gegenüber der ostdeutschen Gesellschaft kommt in offiziellen Verlautbarungen im Grunde erst nach 1961 auf. Im Januar 1963 definiert Justizministerin Hilde Benjamin9 auf dem VI. Parteitag der SED die Funktion des Ministeriums für Staatssicherheit so: „An die Stelle des Zwanges soll die Erziehung durch die Gesellschaft treten.“10 Vier Jahre später ruft Erich Mielke selbst auf dem VII. Parteitag die „erzieherische“ Rolle der Stasi in Erinnerung: „Die sozialisti  7 U. Wiegmann, Machtprobe. Die Staatssicherheit und der Kampf um die Schule in M…z, Berlin 2003.   8 A. Bensussan, „Opposition et répression en RDA dans les années 70 et 80“, in: Allemagne d’aujourd’hui, Nr. 169, 2004, S. 66–83. Siehe auch M. Braun, Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit, FDJ und Kulturministerium gegen Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande“ im Oktober 1961, Berlin 1996.   9 Sie ist 1902 in Bernburg geboren und 1924 bis 1933 Anwältin in Berlin. Mitglied der KPD seit 1927. 10 H. Benjamin, „Diskussionsbeitrag“, in: Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages der SED, 15. bis 21. Januar 1963 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Berlin 1963, Bd. III, S. 57–63, hier S. 58.

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sche Gesetzlichkeit kompromißlos gegen die Feinde durchzusetzen und damit ihre schützende, vorbeugende und erzieherische Funktion zu gewährleisten.“11 Über die offiziellen Diskurse hinaus lassen sich die „Erziehungskonzepte“ der Stasi aus den Abschlussarbeiten rekonstruieren, die von Offiziersschülern der Stasieigenen Juristischen Hochschule Potsdam verfasst wurden.12 Diese im Juni 1951 gegründete, 1955 in den Rang einer Hochschule erhobene Einrichtung zur Aus­bildung von Offizieren der Geheimpolizei hat einige zehn Abschlussarbeiten zu Erziehungsfragen hervorgebracht. Von den 2 700 zwischen 1963 und 1988 eingereichten Abschlussarbeiten behandeln etwa 150 die Jugend und ihre Sozialisierungsprobleme (wobei zahlreiche Arbeiten als nichtkonform angesehene Verhaltens­formen, insbesondere die der Punks und Skinheads, in den Blick nehmen13); von diesen wurden mehr als 30, die zwischen 1968 und 1988 verfasst wurden und konkret das schulische Feld betreffen, gesichtet und ausgewertet. Diese Abschlussarbeiten stützen sich sowohl auf normative Texte (Anordnungen, Satzungen der Stasi) als auch auf Nachforschungen im Terrain. In diesen Arbeiten wird die Stasi als vollwertige edukative Instanz innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft vorgestellt. Ihr Ziel besteht darin, gleichzeitig über die Umsetzung der Politik der SED zu wachen (was theoretisch in die Kompetenzen des Volksbildungsministeriums fällt) und die Jugend vor „feindlichen Einflüssen“ zu bewahren. Die von den jungen Offizieren vorgestellte „­Erziehungskonzeption“ beruht auf einem hochideologischen und militarisierten Szenario, in dem die ­Jugend als potentielle Gefahr konzeptualisiert wird. Sie kann von den „imperialistischen Kräften des Westens“, namentlich von den Westmedien, manipuliert werden. Der interpretative Horizont der Gesellschaft ist immer geprägt von einer binären Weltsicht. Die Welt, in der die Stasi-Offiziere leben, ist von zwei Sorten Menschen bevölkert: Den Freunden und den Feinden. Gegenüber dem „Volk“ sehen sie sich beauftragt mit einer paternalistischen Schutzmission. Die ausgeprägt paternalistische Perspektive, die auf einer Vorstellung von Gesellschaft als Familie aufbaut, steht in autoritärer preußischer wie zaristischer Tradition. Der amerikanische Historiker Charles Maier schreibt daher:

11 E. Mielke, „Diskussionsbeitrag“, in: Protokoll der Verhandlungen des VII. Parteitages der SED, 17. bis 22. April 1967 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Berlin 1967, Bd. I, S. 25–287, hier S. 96. 12 Als Überblick siehe J. Giesecke, Doktoren der Tschekistik. Die Promovenden der Juristischen Hochschule des MfS, Berlin 1994. 13 BStU, MfS, JHS VVS 160-109/70, Ursachen und Bedingungen des Entstehens von Gruppen und Gruppierungen Jugendlicher und junger Erwachsener mit staatsfeindlichen Tendenzen und ihre politisch-operative Bekämpfung, Juni 1970, 130 pag.

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„Stasioffiziere […] verstanden sich selbst eher als Sozialarbeiter denn als Polizisten; sie waren die Erben von Polizeywissenschaft und Kameralismus des 18. Jahrhunderts.“14

Das Bild des „Feinds“ bildet die Kehrseite der Medaille des Paternalismus und gleichzeitig die Basis der Tätigkeit der Stasi in ihren konkreten Operationen. Angesichts des „Feindes“ befindet sie sich in einem „kalten Bürgerkrieg“,15 in dem alle Mittel erlaubt sind. Seit den 1950er Jahren hat sich das Bild des Feindes insofern weiterentwickelt, als man teilweise von einer Definition, die darauf beruht, was jemand tut (spionieren, Informationen übermitteln usw.) übergeht zu einer Definition dessen, was jemand ist (ein „dekadentes“ Individuum, das Jeans und lange Haare trägt und Popmusik hört). Apolitische westliche Einflüsse werden als raffinierte Formen einer „Aufweichungs- und Zersetzungstätigkeit“ betrachtet. In ihren Arbeiten kritisieren die Offiziersschüler die Lehrkräfte für Staatsbürgerkunde scharf für ihren Mangel an Engagement!16 In gewisser Weise spiegeln sie die mentale Kontinuität einer bestimmten deutschen politischen Kultur wider: der Furcht vor der Heterogenität, vor dem Chaos der Zivilisation und vor der westlichen Modernität. Neben den Konzeptionen, die hinsichtlich dieser Institution bereits bekannt sind, ist es interessant zu bemerken, dass die Stasi im Grunde die sozialen Ursachen der verschiedenen beobachteten und bekämpften „Abweichungen“ auf die Tagesordnung setzt. Zahlreiche Abschlussarbeiten stellen eine Verbindung zwischen dem Wunsch vieler Schüler, die DDR illegal zu verlassen und der fehlenden Wahlfreiheit in Bezug auf die Berufswahl während der Schulzeit her.17 Einige Arbeiten konzentrieren sich auf die Frage der Rekrutierung offizieller Mitarbeiter unter den Schülern18 oder auf die präventive Rolle der Stasi. Unter Verwendung soziologischer Daten und gestützt auf psychologische Argumente versuchen die Autoren dieser Arbeiten zu zeigen, wie sich Akte der „Provokation“ wie etwa Graffiti bekämpfen oder 14

C. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt/M. 1999, S. 101f. 15 M. Fulbrook, „Herrschaft, Gehorsam und Verweigerung  – Die DDR als Diktatur“, in: J. Kocka/M. Sabrow (Hg.), Die DDR als Geschichte, Berlin 1994, S. 78. 16 BStU, MfS, JHS Potsdam, HA IX/MF 11 993, Bericht über einige in Untersuchungsverfahren des MfS gegen Schüler, Lehrlinge und Studenten festgestellte, auf die Entschlussfassung zur Straftat begünstigend wirkende Unzulänglichkeiten in der Berufsorientierung und -ausbildung Jugendlicher, Januar 1967, unpag. 17 BStU, MfS, JHS Potsdam, HA IX/MF 11 993, op. cit., unpag. 18 BStU, MfS, JHS VVS 160-576/71, Die Anforderungen an die Arbeit mit IM und GMS unter der Jugend zur politisch-operativen Bekämpfung negativer und feindlicher Erscheinungen, September 1971, 80 Seiten; BStU, MfS, JHS VVS 160-202/72, Die Gewinnung von Jugendlichen für die inoffizielle Zusammenarbeit mit Diensteinheiten des MfS, F ­ ebruar 1972.

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verhindern lassen.19 Die Themenstellungen der Abschlussarbeiten spiegeln zudem den Willen Erich Mielkes wider, das schulische Feld dadurch besser abzudecken, dass frühzeitig junge inoffizielle Mitarbeiter angeworben werden.

Die Rekrutierung von Schülern als inoffizielle Mitarbeiter Der inoffizielle Mitarbeiter ist in gewisser Weise das geheime Verbindungsstück, das die Stasi mit der ostdeutschen Gesellschaft verknüpft. Seine Funktion ist es, Informationen für den Kampf gegen die „Feinde“ und für die Umsetzung der offiziellen SED-Politik zu sammeln. In den 1960er und 1970er Jahren steigt die Zahl der IM beträchtlich von 20–30  000 Agenten in der Mitte der 1950er Jahre auf mehr als 170 000 in den 1970er Jahren.20 Die Bedingungen für den Zugang und die Benutzung des Stasi-Archivs, das von der BStU betrieben wird,21 gestatten es kaum, das Phänomen der Jugendlichen, in den Schulen aktiven IM zu untersuchen. Unter den Lehrkräften werden etwa 2–5 % inoffizielle Mitarbeiter gezählt, was eine geringe Zahl ist im Vergleich zu anderen Berufen wie der Polizei, der Armee (etwa 15 % IM) oder der Post (20 %).22 Meist sind die IM Erwachsene zwischen 25 und 40 Jahren. Der Anteil von Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren liegt immer bei etwa 10 %, wobei der der Minderjährigen sehr gering bleibt (weniger als 1 % der Agenten).23 Theoretisch gestattet es das ostdeutsche Recht der Stasi nicht, inoffizielle Mitarbeiter im Alter von weniger als 18 Jahren anzuwerben. Aber angesichts der potentiellen „Gefahr“, die 19

BStU, MfS, JHS VVS 160-13/70, Zu den Problemen des frühzeitigen Erkennens und Verhinderns der schriftlichen staatsfeindlichen Hetze, die von jugendlichen Personen geplant wurde, Februar 1971, 76 Seiten. 20 Ausführlicher siehe H. Müller-Enbergs, Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Richtlinien und Durchführungsbestimmungen, Berlin 1996. 21 In Deutschland erfolgte die Schaffung eines legislativen Rahmens für die Öffnung, Verwaltung und Benutzung der Bestände des Ministeriums für Staatssicherheit sehr rasch. Die erste Regelung stammt von August 1990 und wird am 14. November 1991 vom „Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“, das unter den Bedingungen des bereits wiedervereinigten Deutschland verhandelt worden ist, abgelöst. In diesem Rahmen wurde am 16. Oktober 1990 die Institution der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR zunächst unter der Leitung des Pastors und heutigen Bundespräsidenten Joachim Gauck, dann ab Oktober 2000 Marianne Birthlers, beide ehemalige aktive Oppositionelle gegen das DDR-Regime, gegründet. 22 A. von Plato, „,Entstasifizierung‘ im öffentlichen Dienst der neuen Bundesländer nach 1989. Umorientierung und Kontinuität in der Lehrerschaft“, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 5, 1999, S. 313–342. 23 H. Müller-Enbergs, op. cit., S. 13.

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manche Jugendlichen darstellen, hält Mielke es in den 1970er Jahren für erforderlich, die Rekrutierung von IM auf Jugendliche von 14–18 Jahren auszuweiten. So zeichnen sich die 1970er Jahre durch eine zunehmende Rekrutierung von Schülern aus. Die Aufmerksamkeit der Geheimpolizei konzentriert sich vor allem auf die Anwerbung von IM unter den Schülern der EOS. Bereits in den 1960er Jahren hat die Stasi damit begonnen, ihre Kontrolle über den Lehrkörper zu erweitern; im Allgemeinen gibt es einen lehrenden IM in jeder schulischen Einrichtung. Die Untersuchung der Personalakten zeigt, dass das Ziel der Überwachung vage bleibt und Verfahren eingeleitet werden, ohne dass zuvor ein klares Verdachts­ moment festgestellt worden wäre. Die jungen IM dienen als „Trojanische Pferde“, sie sollen in Banden eindringen, die als „potentiell gefährlich“ gelten. Sie werden mit der Sammlung von Informationen über Schüler, aber vor allem über die Lehrkräfte beauftragt: über den Inhalt und die Qualität der Lehre, die Arbeit der Schulleitungen. Tatsächlich blickt die Stasi häufig weiter und gibt sich die Rolle einer Ausbilderin. Ihr Ziel besteht darin, so früh wie möglich IM für die Universitäten heranzuziehen, wo Mielke eine „wachsende Feindseligkeit“ seitens der Studierenden feststellt. Um nun diese Feindseligkeit zu überwachen und zu kontrollieren, will sie Agenten schon vor deren Eintritt in die höhere Bildung ausbilden. Zu Beginn der 1970er Jahre betonen die Abschlussarbeiten der Stasi-Offiziersschüler, das Alter für eine Rekrutierung müsse gesenkt werden; diese solle im Allgemeinen im letzten Jahr der EOS stattfinden. Um IM für die Universitäten heranzuziehen, empfehlen die Offiziere, die Rekrutierung im Alter von 15–16 Jahren zu beginnen!24 Die rekrutierten Schüler sollen so gute schulische Leistungen aufweisen, dass sie ihre gesamte Schulbildung bis zum Abitur bewältigen können. Sie sollen einen hinreichend großen Freundeskreis haben und über eine Reihe von Qualitäten verfügen: Geselligkeit, Offenheit, Kommunikationsfähigkeit. Für Ostberlin wissen wir beispielsweise, dass es im Bezirk Köpenick 1968 22 junge inoffizielle Mitarbeiter gibt, von denen 14 unter 18 Jahre alt sind, das heißt fast ein Schüler je Schule.25 Zur gleichen Zeit zählen andere Bezirke zwischen einem und vier als IM tätige Schüler (einer in Lichtenberg, zwei im Prenzlauer Berg, vier in Weißensee). Leider ist es unmöglich zu erfahren, warum der Bezirk Köpenick stärker rekrutiert als andere. Hängt dies mit dem Aktivismus des Chefs der Zelle in diesem Bezirk zusammen? Gibt es eine seitens der Berliner Leitung der Stasi festgestellte erhöhte Konzentration „potentiell gefährlicher Elemente“? Der Entscheidungsprozess, der von einem Bezirk zum nächsten differiert, bleibt undurchsichtig. 24 25

BStU, MfS, JHS VVS 160-201/72, Die Gewinnung von Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren für inoffizielle Zusammenarbeit mit den Diensteinheiten des MfS, Januar 1972, S. 5. BStU, Abt. XX/3124, op. cit., pag. 28.

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Für das zweite Halbjahr 1968 erstellt die Stasi-Leitung für Ostberlin einen Rekrutierungsplan für die Bezirke Mitte, Lichtenberg, Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee. Insgesamt will die Stasi zwanzig IM unter Schülern und Lehrenden (darunter 11 Schüler) gewinnen.26 Für die Zeit von 1976 bis 1989 verfügen wir über Angaben zu einem NachbarBezirk Ostberlins, nämlich Frankfurt/Oder.27 Laut den Statistiken der Stasi sind durchschnittlich 5 % der IM zwischen 15 und 25 Jahren in dieser Zeit minder­ jährig, wobei der Prozentsatz zwischen 2 und 7 % schwankt. Wir sind nicht in der Lage, eine nennenswerte Entwicklung in der Zeit auszumachen, weil die Ziffern sehr stark schwanken. Im Allgemeinen ist kaum etwas darüber zu erfahren, warum die Rekrutierungsziele nicht immer erreicht werden und warum die Ergebnisse von einer MfS-Einheit zur anderen so stark differieren. Innerhalb der Erweiterten Oberschulen, vor dem Hintergrund der dort bereits erfolgten sozialen und politischen Selektion, stammen die jungen IM in der Regel aus Familien der sozialistischen Intelligenz. In einem Bericht aus den späten 1960er Jahren unterstreicht ein Offizier ihre Qualitäten: „Bessere Ergebnisse gab und gibt es mit progressiven Jugendlichen, die von den ideologischen Voraussetzungen bereits bessere Qualitäten mitbringen. Das trifft vor allem auf Verbindungen an den EOS zu, wo sie häufig gute Kontakte zu Jugendlichen herstellen können, die sich loyal verhalten aber eine negative Haltung zur sozialistischen Entwicklung haben. Sie sind in der inoffiziellen Zusammenarbeit beständiger und zuverlässiger als Jugendliche aus negativen Kreisen.“28

Die Rekrutierung erfolgt in mehreren Etappen über einige Wochen, höchstens ­einige Monate hinweg. Die Suche nach potentiellen Kandidaten wird von den Verbindungsagenten der Stasi an den Schulen übernommen, das heißt meistens von einer Lehrkraft. Diese macht eventuelle künftige Rekruten aus und informiert die Stasi-Offiziere des zuständigen Bezirks. Der Rekrutierungsprozess hilft uns, die enge Zusammenarbeit zwischen den Basis­offizieren der Stasi und einigen Akteuren der schulischen Welt zu beleuchten, die in die intensiven Nachforschungen über den Kandidaten und seine Familie einbezogen werden. Die Stasi-Offiziere haben Zugang zur persönlichen Schulakte des Kandidaten, was auf eine Zusammenarbeit mit dem Direktor der EOS hinweist. Der Klassenlehrer wird aufgefordert, eine Stellungnahme zu den schulischen Leistungen und den persönlichen Eigenschaften des Kandidaten abzugeben. Dabei wissen wir nicht, ob die entsprechende Anfrage direkt von der Stasi oder vom Direktor kommt. Im Sinne größerer Diskretion scheint uns die zweite Möglichkeit realistischer zu 26 27 28

BStU, Abt. XX/3124, op. cit., pag. 36. BStU, MfS BV Frankfurt/Oder, Abt. XII 153, 49 Seiten. BStU, Abt. XX/3124, op. cit., pag. 16.

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sein; sie würde die Bedeutung des Direktors als erstrangigen Kontakts zur Stasi unterstreichen. Jedenfalls ist der Lehrkörper direkt oder indirekt über die Evaluierung der schulischen Leistungen und des außerschulischen Engagements der Kandidaten am Rekrutierungsprozess beteiligt. Wie der deutsche Historiker Helmut Müller-Enbergs hervorhebt, wäre es illusorisch zu glauben, die Stasi hätte wahllos rekrutieren können.29 Der IM-Schüler wird sorgfältig ausgewählt: Er muss ein gutes Verhältnis zu seinen Kameraden haben, damit er die strategische und heikle Mittlerfunktion zwischen den Schülern und den Lehrkräften einnehmen kann. Er muss das Vertrauen aller Seiten genießen, um einen stetigen und vielfältigen Fluss an Informationen erhalten zu können. Die Nachforschungen der Stasi-Offiziere beschränken sich nicht auf den schulischen Rahmen. Einen Bericht erstellt auch der freiwillige Abschnittsbevollmächtigte der Polizei, was wiederum enge Kontakte zwischen Stasi und ostdeutscher Polizei belegt.30 Am Ende dieser eingehenden Nachforschungen, in die verschiedene Akteure auf der Ebene der Schule und des Viertels einbezogen werden, äußern sich die Stasi-Offiziere über das Profil des Kandidaten. Wenn dieser die Erwartungen der Offiziere erfüllt, wird beschlossen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Soweit wir einer Abschlussarbeit eines Offiziersschülers der Stasi entnehmen können, verläuft die Kontaktaufnahme in der DDR zu Beginn der 1970er Jahre nach folgendem Schlüssel.31 Tabelle 21:  Treffpunkte von Stasi-Offizieren und künftigen IM zu Beginn der 1970er Jahre ­(in %).>

EOS

28

Elternhaus

24

WKK der NVA

24

VPKA

12

KD der Stasi

12

Die Aufteilung erfolgt relativ gleichmäßig auf zwei Komplexe: auf ein erstes Trinom, bestehend aus Schule, Familie und Armee, mit etwa 25 %, und auf ein Binom aus Polizei und Stasi mit 10 %. Sobald das Einverständnis des Kandidaten erreicht ist, beginnt eine Probezeit, in der die Stasi-Offiziere die „konspirativen Kapazitäten“ testen. Sehr bald darauf, nach zwei Treffen, lässt der Offizier, wenn der Kandidat einen sehr guten Eindruck 29 30 31

H. Müller-Ensberg, op. cit., S. 91. T. Lindenberger, op. cit. BStU, MfS, JHS VVS 160-201/72, Die Gewinnung von Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren für inoffizielle Zusammenarbeit mit den Diensteinheiten des MfS, Januar 1972, S. 55.

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macht, diesen einen Vertrag unterzeichnen; dieser Akt ist rein virtuell, wenn der Kandidat noch keine 18 Jahre alt ist. Die Tätigkeit des IM-Schülers unterscheidet sich allenfalls geringfügig von der eines Erwachsenen. Es handelt sich um eine Überwachungstätigkeit, die sowohl die Schüler als auch die Lehrkräfte sowie die hauptamtlichen Funktionäre der Jugendorganisationen umfasst. Aktionsfeld ist im Wesentlichen die Klasse, kann sich aber auf das gesamte Personal der Schule ausweiten und betrifft die Geisteshaltung der Schüler, ihren Musikgeschmack, ihre Diskussionsthemen … Diese Überwachungsarbeit ruft eine ganze Reihe von Fragen hervor, auf die wir keine Antwort haben: Wozu dienen die Berichte, die die IM-Schüler anfertigen? Zirkulieren diese Berichte zwischen der Stasi, der Schulinspektion und dem Volksbildungsministerium? Behält die Stasi sie für sich? Wenn wir uns mit diesen Archiven auseinandersetzen, wird uns klar, dass die Stasi-Aktivitäten im schulischen Milieu zeigen, dass das Ziel dieser Institution in einer Überwachung um der Überwachung willen bestand, ohne konkretes Motiv – abgesehen von den ideologischen Motiven, die Mielke in allen seinen öffentlichen Reden wiederholt. Die Stasi koppelt sich nicht von der sozialen Wirklichkeit ab. Sie durchdringt sie vielmehr sehr tief auf lokaler Ebene, aber man stellt sich die Frage, warum all diese auf der lokalen Ebene gesammelten Informationen keinerlei Niederschlag auf der zentralen Ebene finden: Werden sie deformiert, während sie die Hierarchie hinaufsteigen? Werden sie nicht gelesen, weil sie nicht den Erwartungen der zentralen Instanzen entsprechen? Unsere Betrachtung der Stasi-Tätigkeit im schulischen Feld stellt letztlich mehr Fragen als wir Antworten erhalten. Sie stößt auf Schwierigkeiten beim Versuch, die Eigenlogik zu verstehen, die diese Politik der Repression und Überwachung des schulischen Feldes leitet. Immerhin haben wir einige Ziele identifizieren können: das Sammeln verschiedenster Informationen über den schulischen Alltag und vor allem die doppelte Integration der Eliten in den Dienst der ostdeutschen Geheimpolizei und damit in das Regime; einerseits die Integration der lokalen Eliten vor Ort (Schuldirektoren, Lehrkräfte) in die Rekrutierung der IM, andererseits die der „künftigen Eliten“, die als inoffizielle Mitarbeiter rekrutiert werden.

Schlussfolgerungen Im Vergleich zu den 1950er Jahren stellen die 1960er und 1970er Jahre für das schulische Feld eine Periode der Konsolidierung und relativen Stabilität dar. Die Schule, die ihre strukturelle Reife erlangt hat, kann unbezweifelbar von den Auswirkungen des Mauerbaues profitieren, und dies gilt für Ostberlin in noch höherem Maße als für andere Regionen der DDR. Die Berliner Mauer zwingt die ostdeut-

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schen Bürger dazu, sich in der neuen Situation einzurichten, das heißt am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft teilzunehmen (die Motiviertesten sprechen davon, sich zu engagieren) und gleichzeitig differenzierte Strategien zur Verbesserung ihrer persönlichen Lage zu entwickeln. Diese Entwicklung ist nicht auf das schulische Feld beschränkt, wir finden es ebenso in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie der Landwirtschaft oder dem universitären Milieu. Die Zukunft der einander ablösenden Schülerjahrgänge verläuft daher über eine Reihe unumgänglicher Etappen, die im Lebensplan des künftigen Bürgers der DDR „natürlich“ werden: neben einer Schulpflicht von zehn Jahren der Eintritt in die ­Pionierorganisation, dann der Übergang in die FDJ ab der 8. Klasse, die Teilnahme an der Jugendweihe mit 14 Jahren, der Wehrdienst mit 18 Jahren. Diese aufoktroyierte Laufbahn wird von der überwältigenden Mehrheit der Familien akzeptiert. Es wäre falsch zu denken, die Kernfamilie sei lediglich jene Nische, jenes Refugium, das von der öffentlichen Sphäre nicht erreicht werden kann. Tatsächlich ist die F ­ amilie in erster Linie ein Ort des Erlernens der sozialistischen Normen und Sprache, über die die Eltern den Kindern die Spielregeln vermitteln, die sie in der Schule und allgemein in der Gesellschaft anwenden sollen. Die in der DDR geborenen und sozialisierten Generationen müssen eine „praktische Vernunft“ entwickeln, das heißt in der Lage sein, zutreffend die im jeweiligen Kontext anzunehmende Haltung zu erkennen. Im Kontext des Abschlusses der strukturellen Transformation und der generationellen Erneuerung vermag die SED ihre Werte leichter in einer Gesellschaft durchzusetzen, die, indem sie diese Werte internalisiert, zum Schmied des eigenen ­Joches wird, da sie die Dauerhaftigkeit des Regimes sicherstellt. Die Schule wird zum eigentlichen Ort des Erlernens, der Einverleibung dieser Werte, die auf zwei zentrale Gedanken des pädagogischen Projekts der DDR zurückgehen: einerseits die zunehmende „Militarisierung“ der schulischen und außerschulischen Aktivitäten, andererseits die „Polytechnisierung“ der Schulbildung. Diese beiden Orientierungen, die in Gesetze und Anordnungen gekleidet werden, verfolgen das Ziel, den frommen Wunsch der politischen Instanzen zu verwirklichen, gleichzeitig ein Gefühl der Zugehörigkeit der jungen Generationen zum sozialen und ökonomischen (Steigerung der Produktion der DDR, damit diese eine große Industrienation wird) sowie zum politischen Projekt (Entwicklung eines ostdeutschen Nationalgefühls und Vertrauen in den Sozialismus) zu wecken, damit auf diese Weise die Dauerhaftigkeit des Regimes gewährleistet wird – damit es auf der Basis von Liebe und nicht der von Anpassung akzeptiert wird. Um dieses edukative Projekt umzusetzen, intensiviert der Staat die sehr enge Verzahnung zwischen Schule und ostdeutscher Gesellschaft. Diese wird mehr als ein „Tempel des Wissens“: Sie unterhält Patenschaftsbeziehungen und entwickelt Kollaborationen mit anderen Institutionen, denen umgekehrt edukative Kompe-

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tenzen zugeschrieben werden: Betriebe, Armee, GST und politische Polizei erhalten Erziehungsfunktionen, die die Schule zu einem „offenen Ort“ machen, ein Feld ohne Zentrum, wo jede Institution potentiell eine Erziehungsaufgabe erfüllen kann. Neben den Lehrkräften, die versuchen, Korpsgeist zu entwickeln und ihr professionelles Revier zu verteidigen, werden weitere Akteure vom Regime als Diffusionsvektoren für die offiziellen Werte herangezogen. Mit dem Mittel der Patenschaften, der Zusammenarbeit bei verschiedenen schulischen und außerschulischen Aktivitäten, sollen die Arbeiter die Schüler zur Liebe zur Industriearbeit erziehen, während Soldaten ihnen die Liebe zum Vaterland vermitteln sollen. Auch wenn die Beziehungen zu den Produktionsbrigaden in erster Linie eine ökonomische und soziale Funktion erfüllen, darf die politische und ideologische Dimension dieser Anordnung nicht übersehen werden – insbesondere nicht bei der Armee, die bei den Kindern eine ­positive Aura genießt. Indem sich die Jugendorganisationen der Dienste von Jugend­lichen und Studierenden bedienen, um die Freizeitaktivitäten der Jungen Pioniere zu betreuen, tragen sie dazu bei, die Jugendlichen in das politische Projekt der DDR zu integrieren, wenn sie ihnen edukative Verantwortung übertragen. Indem die politische Polizei ohne konkretes Ziel informelle Mitarbeiter unter den Schülern anwirbt, trägt sie ihrerseits dazu bei, die künftige Elite des Sozialismus noch enger an das Regime zu binden. Allerdings dürfen wir nie aus dem Blick verlieren, dass die Konsolidierung der „Erziehungsdiktatur“ neue Probleme schafft: Probleme der Rekrutierung von Personal bei den Jugendorganisationen, Spannungen zwischen den verschiedenen Institutionen, die am edukativen Projekt beteiligt sind, Verzerrungen der übermittelten ideologischen Botschaft (selbst bei Kindern aus engagierten Familien, da diese mitunter eine abweichende Konzeption des Sozialismus entwickeln), die Herausbildung eines Korpsgeists bei den Lehrkräften. Über die Untersuchung der Wirkungen der Verbreitung sozialistischer Werte unter den Schülern haben wir gezeigt, dass die Botschaft mehr oder weniger gut angekommen ist. Bei bestimmten Gelegenheiten konnte sie jegliche Glaubwürdigkeit verlieren. So soll es an dieser Stelle ausreichen, daran zu erinnern, dass die Entdeckung des Betriebs häufig eine Erfahrung der Enttäuschung bei den mit „wirklichen“ Arbeitern, Materialmangel und repetitiven Arbei­ten konfrontierten Schülern bedeutet. Der Diskurs des Lobs der „Arbeiterklasse“ und der ostdeutschen ökonomischen Potenz schwächt sich im Kontakt mit der Realität ab. Anstatt aber weiterhin in einer gleichsam mechanischen Begrifflichkeit von in- und output zu denken, sollte der Akzent auf den sehr komplexen und ambivalenten Prozessen der Aneignung liegen. Über einen notwendigen Formalismus des Verhaltens hinaus haben die Schülergenerationen der 1960er und 1970er Jahre bestimmte sozialistische Werte internalisiert, ohne dass dies immer den ideologischen Erwartungen des Regimes entspräche. Die Schule bringt Individuen hervor, die in einem paternalistischen Universum aufwachsen. Es

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ist interessant zu bemerken, dass die Internalisierung der Zwänge, Gewohnheiten, Verhaltensformen und der Sprache durch die nach 1961 geborenen Generationen diese nicht in einem e­ isernen Käfig einsperrt. Wir dürfen die Schüler nicht als Akteure sehen, die das Spiel lediglich über sich ergehen lassen. Die Internalisierung der Bedingungen von Dominanz verleiht manchen Heranwachsenden eine Freiheit, mit der sie bis zu ­einem gewissen Punkt spielen können. Schließlich produzieren das Bewusstsein und die Kenntnis der Regeln Freiheit und autorisieren zur Kritik des Regimes in Form naiver Fragen, zur Verletzung der sozialistischen Moral bei folgender Abbitte während einer Versammlung der FDJ … Es ist diese Mischung aus Druck, Einschüchterungen und Internalisierung der Formen von Dominanz, die es der SED-Diktatur ermöglichen, sich der Illusion hinzugeben, „DDR und Jugend sind eins“.32 Die in den 1960er und 1970er Jahren schulpflichtigen Schüler Ostberlins haben ein Bewusstsein ihrer Zugehörigkeit zu einem ostdeutschen sozialistischen Staat entwickelt, ohne auf die Idee der Wiedervereinigung zu verzichten und – trotz aller Propagandabemühungen des Regimes – ohne die BRD anstelle der UdSSR als Referenzgesellschaft aufzugeben. Die nationale und eben nicht nur lokale oder regionale Dimension des Begriffs Heimat vermittelt sich dem Denken der Schüler letztendlich nicht. Ungeachtet der zunehmenden internationalen Anerkennung der DDR in den 1970er Jahren, ungeachtet ihrer sportlichen Erfolge wird der ostdeutsche Staat von seinen eigenen Bürgern, die ihre Lage ständig mit der der westdeutschen Nachbarn vergleichen, nicht als „normaler Staat“ angenommen. Die Verhaltensregeln der Gesellschaft werden einverleibt, haben sich in einen Habitus verwandelt, aber die Untersuchung des schulischen Feldes zeigt, dass es der DDR trotz ihrer unablässigen Anstrengungen nie gelungen ist, Normalität im eigentlichen Sinne herzustellen. Sie hat Routine hervorgebracht, aber niemals die Zustimmung der Mehrheit ihrer Bürger. Die generationelle Herangehensweise, die wir hier gewählt haben, hat es uns gestattet, eine Anhänglichkeit an die Idee der Wiedervereinigung aufzuzeigen, die die 1960er Jahre überdauert. Diese Stabilisierung ist relativ und zerbrechlich, zumal soziale Mobilität weitgehend blockiert ist und das Regime sich weigert, die Bedürfnisse der Jugend in Rechnung zu stellen; es sieht diese immer noch als potentiell gefährlichen Feind. Es gelingt den Erziehungs- und Polizeibehörden nicht, die vom offiziellen Kanon unabhängigen Jugendsubkulturen zu eliminieren oder ihr mitunter lautstarkes und störendes Verhalten im öffentlichen Raum zu tolerieren. Trotz aller Versuche, sie einzubinden, entziehen sich die jungen Generationen also sehr weitgehend dem Willen zur totalen Kontrolle seitens der SED. Am Ende der 1980er Jahre beruht das ostdeutsche Schulsystem trotz aller Reformprojekte, die Margot Honecker vor32

E. Krenz, „DDR und Jugend sind eins“, in: Jugendforschung, Bd. 11, 1969, S. 17–28.

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gelegt werden,33 auf einem Anschein von Stabilität, der innerhalb weniger Wochen durch die Fluchtbewegung nach Westen und die friedlichen Demonstrationen im Osten hinweggefegt wird. Der 9. November 1989 markiert nicht nur das Ende des seit 1949 herrschenden politischen Systems, sondern auch das Ende des ostdeutschen sozialistischen Schulsystems. Trotz der zunehmenden ökonomischen Probleme der DDR gibt es in den 1980er Jahren keine Hinweise auf einen baldigen Zusammenbruch der SED-Diktatur. Bis zum 9. November 1989 und trotz der sommerlichen Massenemigration über Ungarn kann sich weder in der DDR noch anderswo jemand den Fall der Berliner Mauer vorstellen – was um so schwieriger wäre, als die Protestbewegungen in der DDR selbst jede revolutionäre Intention von sich weisen. Für sie geht es darum, ihre Präsenz zu manifestieren und Druck auszuüben auf das Regime, damit dieses sich endlich für eine Ära der Reform nach dem Vorbild der perestrojka Gorbačevs öffnet. Das schulische Feld folgt der Bewegung einer ganzen Gesellschaft, die mehr Freiheit, Demokratie und materiellen Komfort will. Die scheinbare Stabilität des Schulsystems bricht am 9. November 1989 zusammen und eröffnet eine Periode der Unsicherheiten in den Schulen, die bis zur Einführung neuer Strukturen nach westdeutschem Modell andauert.

33 H. Döbert/G. Geissler (Hg.), Die „unterdrückte“ Bilanz. Zum Verhältnis von Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik am Ende der DDR, Weinheim 1999.

Kapitel XIII Der Zusammenbruch des ostdeutschen Schulsystems Margot Honecker oder die Weigerung, die Realität wahrzunehmen Margot Honecker bekleidet seit 1963 den Posten der Ministerin für Volksbildung. Sie und ihr Ehemann weigern sich in zunehmendem Maße, die stattfindenden Entwicklungen in der ostdeutschen Jugend wahrzunehmen und die Realität so zu sehen, wie sie ist. Die zentralen Figuren der Jugendorganisationen und der SED (Krenz, Possner, Aurich) wollen sich dem Ehepaar Honecker nicht entgegenstellen, aus Furcht, als „Konterrevolutionäre“ qualifiziert und von der Macht entfernt zu werden. Im Jahre 1988 bereitet Gerhard Neuner, der Präsident der Akademie für Pädagogische Wissenschaften, in Vorbereitung des für Juni 1989 in Ostberlin vorgesehenen 9. Pädagogischen Kongress und als Zusammenfassung der Richtlinien, die in Erziehungsbelangen während des XI. Parteitages der SED 1986 festgelegt wurden, einen kritischen Bericht über die Realität des ostdeutschen Schulsystems vor. Wir konnten diesen Bericht in vollständiger Form in der Bibliothek für Bildungspolitische Forschung in Berlin einsehen.1 Gestützt auf eine sehr genaue empirische Studie, die in den Bezirken Potsdam, Berlin, Frankfurt/Oder durchgeführt wurde, empfiehlt er die Einführung von mehr Flexibilität bei der Vermittlung der Ideologie und den edukativen Praktiken, und ein Überdenken des Prinzips der Einheitsschule, um individuelle Talente besser fördern zu können. In etwas direkteren Begriffen als in der Vergangenheit gesteht dieser offizielle Bericht ein, dass die ostdeutsche Jugend in hohem Maße vom Westen, seinen Medien, seinen Kulturprodukten beeinflusst ist: „Zu den realen politischen Bedingungen gehört auch, daß die Freizeit der Schuljugend täglich einer gezielten, den Werten unserer Gesellschaft entgegenwirkenden Beeinflussung unterliegt. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf bestimmte Interessen und Verhaltensweisen in der Freizeit. So werden die politischen Diskussionen unter den Schülern in hohem Maße von westlichen Medien beeinflußt. Druckerzeugnisse (Poster, Software, Kassetten) aus der BRD sind beliebte Tauschobjekte. Inhalt und Methoden der Einwirkung knüpfen an das Interesse nach Unterhaltung, an Mode, an Umweltfragen an und zielen auf politisches Verhalten ab, insbesondere auf Aversionen gegen Errungenschaften unseres Landes, gegen bewußtes Engagement für die sozialistische Gesellschaft.“2 1 2

BBIF, APW/JE- 15001/1501,5, Beiträge zum Bilanzmaterial, Juni 1988, unpag. BBF, APW/JE-15 002, Freizeitinteressen von Schülern der Mittel- und Oberstufe und Bedingungen erziehungswirksamer Freizeitgestaltung, Mai 1988, unpag.

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Ausgehend von genauen Zahlen zeigt G. Neuner beispielsweise den eher geringen Anteil an im eigentlichen Sinne ostdeutscher Musik, die von der Jugend der DDR gehört wird: „Ab 14 Jahren besitzt fast jeder Jugendliche einen Kassettenrekorder. Man schätzt, daß Jugendliche heute ca. 3–4 Stunden pro Tag Rock- und Popmusik hören. Aber nur ca. 5  % der Höranteile fallen auf die Rockmusikproduktion der DDR. Die ­musikalischen Trends und damit die Idole in der Musik werden nach wie vor durch das Geschehen auf dem englischen, amerikanischen und zum geringen Teil bundesrepublikanischen Musikmarkt bestimmt.“3

Er weist auch auf die Mängel und Fehlschläge bestimmter Erziehungspraktiken hin: Die Stagnation der MMM-Bewegung („Messe der Meister von Morgen“, ein Forschungswettbewerb, der seit 1958 von der FDJ ausgerichtet wurde), die letztlich sekundäre Rolle der Schule und der Jugendorganisationen als Institutionen zur Gestaltung der Freizeit.4 G. Neuner verfehlt nicht, der Ministerin für Volksbildung Ergebnisse der empirischen Untersuchung mit Zitaten vorzulegen, die zeigen, dass die Zugehörigkeit zur FDJ rein formell ist: „Besonders formal empfinden die jungen Leute … die FDJ: „Die FDJ, na ja is ’ne Organisation, und wir bezahlen unsere Beiträge und wenn es sein muss, müssen wir die FDJ-Kleidung anziehen, aber mehr halt ’ich nicht davon.“5 Er empfiehlt größere Geschmeidigkeit bei der Betreuung der Jugendlichen und fordert die Erziehungsbehörden auf, die Jugendlichen nicht zur Teilnahme an bestimmten Aktivitäten zu verpflichten. Darüber hinaus zögert er nicht, rechtsextreme Jugendgruppen in der DDR zu erwähnen, was bis dahin ein Tabu war. Insgesamt ruft G. Neuner dazu auf, der Realität ins Gesicht zu sehen, den Lehrenden mehr Autonomie zu geben, der Individualität mehr Platz einzuräumen, womit er sich einerseits in die Kontinuität der Forderungen einordnet, die sich aus dem Lehrkörper vernehmen lassen, andererseits in die politische Handlungslinie Gorbačevs, in der Reform und Transparenz zwei Schlüsselwörter sind. Tatsächlich sah der ursprüngliche Plan der Bilanz vor, den Akzent auf die Erfolge und möglichen Entwicklungsprobleme zu legen. Neuner und sein Team beschließen aber im Herbst 1987, sich auf die realen Schwierigkeiten der ostdeutschen Erziehung zu konzentrieren, insbesondere auf die Frage der Betreuung durch die Jugendorgani­ sationen und der „politischen Arbeit“ unter den Schülern.6 3 4 5 6

BBF, APW/JE-15 005, Informelle Gruppen Jugendlicher: Zur Arbeit zum Bilanzmaterial zu Erfahrungen und Problemen bei der Führung und Gestaltung der Erziehungsarbeit in den Schul- und Klassenkollektiven, 1988, pag. 3. BBF, APW/JE-15 002, op. cit., unpag. BBF, APW/JE-15 005, op. cit., pag. 27. BBF, APW/11 187, Handakte Vizepräsident IV zum Bilanzmaterial Erziehung, unpag.

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Margot Honecker soll den Bericht bei der Lektüre an die Wand ihres Büros geworfen und entschieden haben, ihn niemals zu veröffentlichen.7 Er wurde schließlich in den 1990er Jahren von Fachleuten der Erziehungswissenschaften im Archiv der APW aufgefunden und in Form einer Dokumentenedition 1999 veröffentlicht.8 Die Ministerin für Volksbildung wollte nicht akzeptieren, was der Bericht belegt, nämlich den Graben zwischen den edukativen Konzepten der SED und der Realität. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die APW nicht die einzige edukative Institution ist, die mit dem Finger auf die Mängel des ostdeutschen Schulsystems hinweist. Im Jahre 1987 hat die Abteilung Kultur- und Medienforschung der Stasi auf der Basis einer Untersuchung unter den Schülern der polytechnischen Einrichtungen in Leipzig ganz ähnliche Feststellungen getroffen. In den Archiven der BStU haben wir folgende handschriftliche Notiz aufgefunden: „– Jugendliche werden zunehmend kritischer gegenüber dem Staat, – sind politisch interessiert, lehnen DDR-Politikvermittlung ab; – Jugendliche fühlen sich zu wenig in die realen und alltäglichen Entscheidungs- und Planungsprozesse einbezogen und finden diesbezüglich keine Unterstützung bei der FDJ.“9

Im gleichen Jahr, als dieser kritische Bericht der Ministerin für Volksbildung vorgelegt wird, erschüttert ein Zwischenfall eine EOS in Ostberlin. Dieser Vorfall erlaubt es uns, den unbeugsamen Willen Margot Honeckers zu illustrieren, die Realität nicht wahrzunehmen und die Augen vor dem Reformbedarf und den Appellen für mehr Freiheit und Demokratie zu verschließen.

Der Vorfall in der Carl von Ossietzky-Oberschule in Pankow Im Jahre 1988 symbolisiert ein Vorfall in einer Erweiterten Oberschule des Bezirks Pankow10 die neuen Forderungen mancher Schüler und bringt nochmals die ideologische Verhärtung Margot Honeckers und der politischen Instanzen ans Licht. Er steht für die dogmatische Erziehungspolitik einer Ministerin, die sich als unfähig erweist, den Willen zur Veränderung zu akzeptieren, der im schulischen Feld sichtbar wird.   7 Dies berichtete Gerhard Neuner während eines Interviews vom 3. Juni 2002. Auf seinen Wunsch hin wurde dieses Interview nicht aufgezeichnet.   8 H. Döbert/G. Geissler (Hg.), op. cit.   9 BStU, BV Leipzig, Abt. XX 01008, Abteilung Kultur- und Medienforschung, Jugend 90 – Ein Diskussionspapier, Juni 1987, pag. 40. 10 Siehe die Dokumentation von T. Grammes, Ein Schulkonflikt in der DDR, Bonn 1993.

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Es beginnt damit, dass der Direktor der Carl von Ossietzky-Schule beschließt, in der Schule ein Forum für freie Meinungsäußerung einzurichten. Diese I­ nitiative wird von der FDJ unterstützt und erhält die Form einer Wandzeitung (Speakers Corner).11 Am 12. September 1988 bringen die Schüler S.-P. und B. einen Artikel zu den Ereignissen in Polen an, in dem sie feststellen, dass die Beteiligung der politischen Opposition an der Macht eine unabdingbare Notwendigkeit sei, um notwendige politische und ökonomische Reformen durchführen zu können.12 Da sich der Text auf Meldungen des ADN13 stützt, ruft er keinerlei Reaktion seitens der Schulleitung hervor. Am Folgetag veröffentlicht der Schüler K. einen polemischen Artikel, in dem er die Notwendigkeit in Frage stellt, am 7. Oktober 1988 anlässlich des 39. Jahrestags der Gründung der DDR eine Militärparade zu organisieren: „In wenigen Wochen ist es soweit. Auf den Strassen Berlins werden riesige Geschosse aufgefahren, todbringende Waffen zur Schau gestellt. Die Panzer rollen in kurzer Zeit über die Straßen, da gerade vertrauensbildende Maßnahmen eine gemeinsame Sicherheit schaffen sollen. In einer solchen Zeit ist das öffentliche Vorführen militärischer Stärke schädlich für die politische Schönwetter-Phase, die vielleicht historisch sein könnte. Es paßt auch nicht in die Friedenspolitik der DDR. Dem internationalen Ansehen der DDR sowie dem gesamten Friedensprozeß würde ein Verzicht auf die Militärparade am 7. 10. gut tun.“14

Er verwendet in einigen Passagen in ironischer Weise die offizielle Sprache der Partei, um diese besser denunzieren zu können. Er beendet seinen Artikel mit der Aufforderung an seine Kameraden, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. In den folgenden Tagen publiziert er seinen Artikel erneut und lässt eine Petition folgen, auf der 38 Schüler ihre Unterschrift leisten, das heißt ein Viertel der gesamten Schülerschaft der Oberschule!

11 Die Speakers Corner (wörtlich: Rednerecke) ist ursprünglich ein Versammlungsort am nordöstlichen Ende des Hyde-Park in London. Jeder darf dort eine Rede zu einem Thema seiner Wahl halten. Unter den berühmtesten Rednern finden wir Marx oder Orwell. Ursprünglich handelte es sich um ein Recht, dass Verurteilten vor der Hinrichtung zugebilligt wurde. Im übertragenen Sinne bezeichnet der Begriff den freien Meinungsaustausch. 12 Eine neue Welle von Streiks erschüttert Polen im Sommer 1988. Parallel zur Repression schlägt die polnische kommunistische Regierung der Opposition (die Solidarność ist seit 1982 illegal) vor, an einem „Runden Tisch“ teilzunehmen, der im Februar 1989 erstmals zusammentritt. Mit diesem Ereignis setzt der Demokratisierungsprozess der Volksrepublik Polen ein. 13 Der 1946 gegründete Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst wird unmittelbar von der SED, dann ab 1953 vom Staat kontrolliert. Er ist die einzige offizielle Presseagentur in der DDR. 14 Matthias-Domaschk-Archiv, 7.13 Carl-von-Ossietzky-Affäre ER 20, unpag.

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Am 21. September veröffentlichen fünf Schüler15 (S.-P., B., P., W., A.) einen antimilitaristischen „Appell“ auf der Speakers Corner, der auch Forderungen zu Meinungsfreiheit und Autonomie enthält: „Wir wollen in der DDR leben und lernen, Wir wollen schöpferisch an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft mitwirken, Wir wollen offen unsere Meinung äußern und sie öffentlich diskutieren, Wir stehen zur Friedenspolitik der DDR.“16

Am gleichen Tag werden in der FDJ Wahlen abgehalten, und die Schüler B. und W. werden als Klassensprecher wiedergewählt, was vom Schuldirektor als „Provoka­ tion“ seitens der Schüler interpretiert wird. Schließlich reagieren die Erziehungsbehörden. Der Sohn von Egon Krenz ist in der gleichen Klasse wie die oben genannten Schüler und hat sicherlich seinen Vater in Kenntnis gesetzt. Jedenfalls werden am 22. September die fünf beteiligten Schüler zum Direktor, dem Parteisekretär und dem Klassenlehrer zitiert. Man verlangt von ihnen, sich von ihrer Position zu distanzieren. Schließlich werden am Ende des Monats vier Schüler wegen „antisozialistischer Haltung“ und wegen ihres „Vorhabens, eine pazifistische Plattform zu gründen, mit der sie ihre Meinung bei politisch unsicheren Schülern durchsetzen wollten“, von der Schule verwiesen und aus der FDJ ausgeschlossen.17 Dieser Ausschluss bedeutet für die Schüler konkret ein Verbot, ihre Schulbildung weiterzuverfolgen und an die Universität zu gehen. Zwei weitere werden in eine andere Schule versetzt. Davon abgesehen ziehen 30 der 38 Schüler, die die Petition unterstützt haben, auf den Druck der Schule und der Eltern ihre Unterschrift zurück. Die acht verbleibenden Schüler werden bestraft. Diese Maßnahmen werden getroffen, um nicht die Kontrolle über die Situation zu verlieren: „Durch die Sammlung von Unterschriften versuchten sie, Unruhe zu stiften … Es entstand eine Situation an der Schule, die die ehrlich arbeitenden Pädagogen und die absolut überwiegende Mehrzahl der Schüler, die die Zeit nutzen müssen und nutzen wollen, diszipliniert zu lernen, ernsthaft störte.“18 Dieser Zwischenfall ruft eine beträchtliche Welle von Reaktionen seitens der protestantischen Kirche und unter Intellektuellen hervor, die erfolglos von Margot Honecker fordern, die Relegationen zurückzunehmen, was sie verweigert. Während 15 Einer der Schüler ist der Sohn der Dissidentin Vera Wollenberger, die nach einer von den Behörden als „provokativ“ eingeschätzten Aktion während der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Todes Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs am 17. Januar 1988 aus der DDR ausgewiesen wird. Sie wird verhaftet, zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und ­findet schließlich Zuflucht in England. 16 Matthias-Domaschk-Archiv, op. cit., unpag. 17 BStU, MfS HA IX 2469, Fall EOS von Ossietzky, 1988, pag. 1. 18 BStU, MfS HA IX 2469, op. cit., pag. 2.

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dieser Zeit überwacht die Stasi die Schule von sehr nahe, um beobachten zu können, wie sich die Lage entwickelt. Ein Jahr nach diesem Vorfall, am 31. Oktober 1989, erklärt das Volksbildungsministerium auf einer Pressekonferenz, dass die von der Carl von Ossietzky-Oberschule verwiesenen Schüler die Genehmigung erhalten, ihre Ausbildung fortzusetzen. Diese Entscheidung schlägt eine Bresche und läutet das Ende der Amtszeit Margot Honeckers ein.

Der 9. Pädagogische Kongress und der Dialog der Tauben Der Appell zum Wandel kommt nicht allein aus den höchsten edukativen und politischen Sphären. In den Monaten, die dem 9. Pädagogischen Kongress in Ostberlin (13.–15. Juni 1989) vorangehen, erhält das Volksbildungsministerium mehr als 250 Briefe von ostdeutschen Bürgern (Lehrkräften, Schülereltern), die Chancengleichheit für alle, die Entideologisierung bestimmter Fächer, die Abschaffung der Wehrerziehung, eine Lehre, die der Kreativität, dem individuellen Einfallsreichtum Platz einräumt, eine größere pädagogische Freiheit für die Lehrenden fordern. Wegen ihres kritischen Inhalts leitet Margot Honecker diese Eingaben an die Stasi ­weiter.19 Am 13. Juni 1989, einen Monat nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs in Ungarn,20 hält Margot Honecker auf dem 9. (und letzten) Pädagogischen Kongress vor 4 200 Delegierten einen Eröffnungsvortrag von mehr als vier Stunden, in dem sie den Akzent auf vierzig Jahre Erfolge des ostdeutschen Schulsystems und ihre Pläne für die Zukunft legt. Obwohl sie unter „donnerndem Applaus“21 endet, enttäuscht diese Rede viele der im Saal anwesenden Delegierten, die von ihrer Ministerin die Einleitung von Reformen erwarten, mit denen den Forderungen der Lehrenden und der Schüler Rechnung getragen wird: die Abschaffung der Samstagsschule, die Rücknahme der Reform der Sekundarstufe, die die EOS seit 1983 auf zwei Jahre verkürzt, mehr Autonomie für die Lehrkräfte. Ein Teil dieser Forderungen wird in den Schulchroniken ausformuliert, etwa der der Lenin-Schule in Friedrichshain. Die Rede scheint ein wenig freier geworden zu 19 Siehe das Zeugnis von H. Kaack, „Schule im Umbruch. Unterrichtende und Unterricht in den neuen Bundesländern während und nach der Wiedervereinigung“, in: Deutschland Archiv, 36, Nr. 2, 2003, S. 296–304; dies., „Reform im Wartestand. Die Bildungspolitik der DDR vor der Wende“, in: P. Dudek/H.-E. Tenorth (Hg.), Transformationen der deutschen Bildungslandschaft. Lernprozess mit ungewissem Ausgang, Weinheim 1993, S. 89–101. 20 Am 2. Mai 1989 beginnen ungarische Soldaten an der österreichisch-ungarischen Grenze mit dem Abbau des Stacheldrahts. 21 M. Honecker, „Unser sozialistisches Bildungssystem – Wandlungen, Erfolge, neue Horizonte“, in: Pädagogischer Kongress. Bulletin Nr. 2, Berlin 1989 S. 38.

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sein. Jedenfalls finden wir einige von Schülern formulierte oder eher von den Lehrkräften diktierte Forderungen in diesen Quellen. K.A., Schüler der 9. Klasse, fordert beispielsweise die Abschaffung des Samstagsunterrichts: „Mein Wunsch an den 9. Pädagogischen Kongreß ist, daß man den Sonnabend als Schultag abschafft.“22 D. R., ein Schüler der 8. Klasse, legt den Akzent auf die Interessen der Schüler: „Ich finde, daß der Unterricht etwas interessanter gestaltet werden sollte, und ich würde mir wünschen, daß sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis verbessert. Weiterhin müßten sich die Lehrer auf die Interessen und Neigungen der Schüler einstellen.“23 M. H. aus der 9. Klasse fordert mehr Freiheit: „Ich finde, daß es den Schülern überlassen werden müßte, ob sie in den Hofpausen auf den Schulhof gehen oder sich im Schulgebäude aufhalten. Außerdem fände ich es gut, wenn wir ein paar Sonnabende mehr hätten.“24 Diese Forderungen schließen sich den Appellen zahlreicher Lehrender nach mehr Autonomie und pädagogischer Freiheit an. Margot Honecker beschränkt sich darauf, für Kontinuität zu plädieren und erinnert daran, dass die Verteidigung der Errungenschaften des realen Sozialismus das militärische Engagement der Bürger verlange. Mit dem Ende der Schulferien im September 1989 erlebt der reale Sozialismus ungeachtet der Ruhe, die an den Schulen herrscht, seine letzten Stunden. Neben den Desertionen nach Westen25 markieren sie die Spaltung zwischen Macht und Gesellschaft und beschleunigen den Sturz der SED-Diktatur. Die Schüler befinden sich nun im Herzen dieser friedlichen Revolution, und zwar nicht nur als Zeugen, sondern auch als Akteure.

Der Fall der Berliner Mauer und die Entdeckung des Westens Die Demonstration vom 4. November 1989  Der Zerfall des Regimes beschleunigt sich in den ersten Novembertagen. Am 1. ­November fordert ein Kollektiv von Lehrkräften der 2. Schule in Marzahn in ­einem offenen Brief an das Volksbildungsministerium mehr Autonomie in ­ihrer Arbeit:

22 Sm/SchA 92/23, 25. OS Lenin-OS, Berlin-Friedrichshain, 1987–1990, unpag. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Im Laufe des Sommers haben bereits 120 000 Personen die DDR verlassen. Diese spon­ tane Fluchtbewegung verwandelt sich in einen ununterbrochenen Exodus über den ganzen Herbst.

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„Mit diesem Brief möchten wir zum Ausdruck bringen, daß wir nicht einverstanden sind mit der Art und Weise, wie zu Problemen der Volksbildung von vielen Bürgern und dem Mf V öffentlich Stellung genommen wird. Wir sind nach wie vor davon überzeugt, daß wir im Interesse unserer Gesellschaft gewirkt haben und wirken werden. Seit längerer Zeit haben wir Probleme in der Schule erkannt, darüber diskutiert und Anfragen und Vorschläge auf dem Dienstweg weitergeleitet. Die Ignoranz der pädagogischen Basis spürten wir in der Vergangenheit und heute um so mehr. Und morgen? Wäre es nicht ratsam, unverzüglich mit uns, den unterrichtenden Lehrern, den Bildungs- und Erziehungsprozeß neu zu gestalten?! Es darf nicht sein, daß dogmatisch und über unsere Köpfe hinweg Entscheidungen getroffen werden, die unsere Arbeit erschweren und behindern, z. B. die Prüfungsordnung! Fehlt denn unserem Ministerium der Überblick? Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass eine Reihe von Kadern wohl nie oder zu kurz die pädagogische Praxis erlebt haben. Wir wünschen uns, daß man in uns nicht nur den Lehrer sieht, sondern auch den denkenden und fühlenden Menschen! Laßt uns mehr Freiraum für eigene Initiativen und Entscheidungen, und habt Vertrauen in unsere pädagogische Arbeit.“26

Diese Brief bringt lediglich ein weiteres Mal zum Ausdruck, was die Bürger seit ­Monaten reklamieren: mehr pädagogische Freiheit, Autonomie, Demokratie im ostdeutschen Schulsystem. Einen Tag später tritt Margot Honecker ohne großes Aufsehen als Ministerin für Volksbildung zurück.27 Sie wird für kurze Zeit ersetzt von der ehemaligen Leiterin der Pionierorganisation Helga Labs,28 es folgt von November bis März 1990 HansHeinz Emos.29 Sein Stellvertreter wird Volker Abend, der ehemalige Leiter der katholischen Theresien-Schule in Ostberlin. Der Rücktritt Margot ­Honeckers markiert das Ende einer 26 Jahre dauernden Herrschaft über das Volksbildungsministerium.

26 BBF/DIPF, JW 221, Leserbriefredaktion „Junge Welt“, Leserbriefe, Oktober–November 1989, pag. 51–52. 27 E. Stuhler, Margot Honecker. Eine Biografie, Wien 2003. 28 Helga Labs, geboren 1940, hat eine Ausbildung als Lehrerin in Rochlitz/Sachsen genossen. Parallel dazu wird sie aktive Funktionärin in der FDJ, was es ihr ermöglicht, die Hierarchie­ leiter hinaufzusteigen (1966 bis 1974 Sekretärin der FDJ für den Bezirk Karl-Marx-Stadt). 1974 folgt sie Egon Krenz als Leiterin der Pionierorganisation bis 1985. Ab 1976 ist sie Mitglied des Zentralkomitees der SED und gehört der Jugendkommission im Politbüro des Zentralkomitees der SED an. 29 Hans-Heinz Emos, geboren 1930, ist ausgebildeter Chemiker und seit 1949 Mitglied der SED. Er bekleidet verschiedene Ämter an der Technischen Universität Leuna-Merseburg, bevor er die Leitung der Bergakademie in Freiberg übernimmt. Gleichzeitig ist er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und wird im Ausland geschätzt, insbesondere in ­Norwegen.

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Zwei Tage später ist die Demonstration vom 4. November 1989 die größte Kundgebung gegen das Regime in der Geschichte der DDR.30 Sie findet auf dem Alexanderplatz statt: Eine Million Menschen fordern freie Wahlen und demonstrieren für die grundlegenden Rechte (Pressefreiheit, Freizügigkeit, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit). Bei dieser Gelegenheit ergreifen zahlreiche ostdeutsche Intellektuelle das Wort (darunter die Schriftsteller Stefan Heym, Christa Wolf, ­Christoph Hein). Die Schauspielerin Steffi Spira beendet ihre Rede mit einer Kritik der ostdeutschen Erziehung: „Ich wünsche für meine Urenkel, daß sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde, daß keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen.“31 Diese Demonstration wird auch von vielen Kindern und Jugendlichen miterlebt. Der Bedeutung des Augenblicks bewusst, erlauben viele Eltern ihren Kindern, die Schule zu schwänzen und an der Demonstration teilzunehmen. Für diese Schüler ist dies die erste Erfahrung konkreter politischer Freiheit. Das Schulmuseum Berlin bewahrt eine ganze Serie von Entschuldigungszetteln der Eltern auf. In der Regel sind sie sehr kurz, weil in Eile abgefasst: „Hiermit bitte ich, Marco am Samstag, den 4. November 1989 vom Unterricht zu entschuldigen. Er nimmt an einer Veranstaltung teil. Vielen Dank. I. P.“32

Einige Eltern führen persönliche Gründe an, ohne die Demonstration am 4. November direkt zu erwähnen: „Werte Frau G.! Bitte Daniela und Alexandra am 4.11.89 nach der zweiten Stunde aus persönlichen Gründen vom Unterricht zu befreien. Mit freundlichen Grüßen D. B.“33

Andere hingegen zögern nicht, ausdrücklich auf die Demonstration Bezug zu nehmen: „Antrag auf Freistellung. Hiermit bitte ich um eine Freistellung meines Sohnes Sebastian nach der 2. Unterrichtsstunde für die Teilnahme an der heutigen genehmigten Demonstration. Mit freundlichem Gruß S. S.“34

30

H. Bahrmann/C. Links, Chronik der Wende. Die Ereignisse in der DDR zwischen 7. Oktober 1989 und 18. März 1990, Berlin 1999, S. 61–64. 31 Zitiert nach H.-E. Tenorth, „Politisierung im Schulalltag der DDR. Dimensionen des Problems, Befunde und weitere Forschungsprobleme“, in: S. Häder/C. Ritzi/U. Sandfuchs (Hg.), Schule und Jugend im Umbruch. Analysen und Reflexionen von Wandlungsprozessen zwischen DDR und Bundesrepublik, Hohengehren 2001, S. 15. 32 Sm/KJ, 592 Q.Q., unpag. 33 Ebd. 34 Ebd.

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Die Begründung für die Abwesenheit berührt mitunter die Grenze zur Provokation gegen die Lehrerin. Der Ton dieses Schreibens lässt uns denken, dass diese den Entwicklungen, die sich im Herbst 1989 abspielen, wohl nicht positiv gegenübersteht: „Werte Frau S., wir möchten Sie bitten, unseren Sohn Robert S. nach der 2. Stunde vom Unterricht zu befreien, da er an der Demonstration auf dem Alexanderplatz teilnehmen will. Die hohe Zahl der Teilnehmer an dieser Demonstration veranlaßt uns, schon eher loszugehen, um einen guten Platz in der Nähe der Redner zu bekommen. Herzlichen Dank für Ihr Verständnis und ein besinnliches Wochenende. Ihr K. F.“35

Einige Eltern, die selbst Lehrkräfte sind, verfehlen nicht, gegenüber ihren Kollegen ihre persönliche Verantwortlichkeit zu betonen: „Kollege W. ! Jan darf heute an der Demonstration im Stadtbezirk teilnehmen. Die Verantwortung dafür trage ich selbst.“36

Leider verfügen wir weder in mündlicher noch in schriftlicher Form über Äußerungen über die subjektiven Eindrücke von dieser Demonstration am 4. November 1989. Fünf Tage später geschieht das Undenkbare. Infolge einer Verwirrung Schabowskis bei einer Pressekonferenz wird die Berliner Mauer an bestimmten Übergangspunkten für die Ostdeutschen geöffnet. Kurz darauf entdecken tausende Kinder und Jugendliche das wirkliche Westberlin. Der Fall der Berliner Mauer Der Fall der Berliner Mauer ereignet sich am Donnerstag, dem 9. November 1989. Joyce, ein kleiner Junge von zehn Jahren, schreibt einen Bericht über diese außer­ gewöhnliche Nacht: „Ich schlief ohne Traum. Auf einmal weckte Mama mich auf. Ich sagte: Mann schon 7 Uhr? Nein, nein erst zwölf, aber … sagte Mama. Was aber? fragte ich. Was würdest du sagen, wenn wir jetzt nach Westberlin fahren? Ich glaub, ich spinne. Sind die Grenzen …? Ich konnte nicht weiter reden, als Mama nickte. Ich hopste aus dem Bett und zog mich an. Papa hatte schon das Auto startklar gemacht. Jetzt gingen wir runter zum Auto und warteten noch auf Kollegen von Mamas Arbeit, da sie kein eigenes Auto hatten. Alle waren da. Jetzt konnte es losgehen. Ich saß wie angespannt und brachte kein Wort heraus. Wir fuhren durch die Grenze und man warf uns alles mögliche ins Auto. Blumen, Bonbons, Schokolade, Zeitungen. Jetzt ging es ab zum Kudamm über die Stadtautobahn. Wir bekamen fast keinen Platz mehr, weil alles zu überfüllt war. Es war manches kosten35 Sm/KJ, 593 Q.Q., unpag. 36 Ebd.

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los, wie zum Beispiel Discos und Kino! Zum Wachbleiben gab es dann ein Eis. Aber ich wäre auch ohne wach geblieben. Wir liefen bis zur Gedächtniskirche und zurück. Jetzt fuhren wir nach Hause, obwohl ich noch gar nicht müde war, trotzdem schlief ich gleich ein und träumte noch davon. Es war toll!“37

Joyce bleibt jedoch eine Ausnahme. Am Abend des 9. November sind die meisten Kinder und Jugendlichen zu Hause, manchmal schon im Bett, so dass viele erst am folgenden Tag in der Schule Kenntnis von den Ereignissen erhalten. U. G. erinnert sich, wie er die Neuigkeit erfahren hat: „Ich habe das nicht am 9. November mitgekriegt. Ich habe geschlafen so wie die meisten Menschen. Das war über Nacht passiert. Ein Freund von mir, der hat es mitbekommen, der hatte schon damals ein Moped und vor der Schule ist er nach Westberlin rübergefahren und kam an der Schule mit der Bild-Zeitung an. Ich glaubte das war ein Witz.“38

Als wir nachfragen, was sich danach an der Schule ereignet hat, versucht U. G., den Mauerfall als Zäsur zu relativieren: „Das Leben fährt genauso fort. Das war natürlich spannend. Aber ich meine, die Mauereröffnung hat damals noch nicht bedeutet, daß es die DDR nicht mehr gibt. Die gab es nach wie vor. Daß die DDR dann zusammengebrochen ist, das hat sich daher so entwickelt. Insofern hat, glaube ich, keiner gedacht, daß die DDR zusammenbrechen würde. […] Ich glaube, die Lehrer wussten eigentlich gar nicht, wie sie gegenüber den Schülern reagieren sollten. Alle waren auf Abwarten. Keiner wusste, was passiert.“39

Für ihn ist dies eine Form, zum Ausdruck zu bringen, dass die Wiedervereinigung noch nicht unausweichlich war und die DDR hätte weiterbestehen können. Davon abgesehen hat natürlich der Zerfall der DDR für einen Vierzehnjährigen nicht die gleiche Bedeutung wie für einen Erwachsenen, der eine Berufskarriere begonnen hat. Im Alter von zehn Jahren hat D. B. die Neuigkeit vom Fall der Mauer ebenfalls am nächsten Tag erfahren. Sein Zeugnis ist interessant, weil er auf die Stimmung zu sprechen kommt, die in der Klasse herrschte, in die er damals ging (4. Klasse der 17. Schule in Pankow): „Am 9. November 1989 war ich im Bett. Ich habe die Nachricht erst am 10. November gekriegt, als ich zur Busstation gegangen bin. Dort haben einige Leute gesagt, sie ­haben gehört, dass die Mauer jetzt offen sei. Das waren Leute von meiner Klasse und sie ­waren normalerweise schlechter informiert als ich. Ich habe das zuerst nicht geglaubt, ach Quatsch, und dann sind wir zur Schule gefahren. Dort war eine komische Stimmung. Ein paar Leute hätten irgendetwas gehört, aber wussten nicht genau, was sie gehört ha37 SM/Sch A, 90-25, Aufsätze zu den Erlebnissen 1989–1990, unpag. 38 Transkription des Interviews mit U. G. vom 9. Oktober 2003, pag. 8. 39 Ebd.

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ben. Die Lehrer haben auch etwas gehört, die wollten aber nicht darüber sprechen, weil sie nicht genau wussten, was kommt.“40

Infolge des Mauerfalls überqueren nun Tausende Schüler, begleitet von ihren Eltern, die Grenze und entdecken Westberlin. Erste Eindrücke von Westberlin Die Untersuchung der Wahrnehmung des Westens in den Tagen und Wochen nach dem Mauerfall durch die Kinder Ostberlins wird möglich einerseits durch die Interviews, andererseits durch das Auffinden von Schüleraufsätzen aus der 4. Klasse der 21. Schule des Ostberliner Bezirks Mitte im Berliner Schulmuseum. Die kurzen Texte wurden im Laufe des November 1989 auf Aufforderung durch die Lehrerin verfasst. Einige Texte entstanden später, zwischen Januar und April 1990. Die Autoren der Aufsätze zählen also damals 9–10 Jahre, und sie berichten von ihren Eindrücken im Rahmen ihres ersten Besuchs Westberlins. Soweit wir wissen, handelt es sich bei diesen Dokumenten um eine einzigartige Quelle, die uns die Untersuchung der Wahrnehmungen von Kindern und ihren Eindrücken ermöglicht. Diese jungen Schüler, Zeugen eines der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts, werden vom Wirbel der ganz großen Geschichte erfasst. Einige Texte sind enttäuschend und bringen den außerordentlichen Charakter des Besuchs in keiner Weise zum Ausdruck. Der Historiker kann nicht erwarten, dass zehnjährige Kinder in ihren Äußerungen notwendigerweise diesen Wandel bewusst reflektieren. Der junge Stefan, 10 Jahre alt, erzählt von seinem „ersten Tag im Westen“, indem er vom Besuch des Aquariums in der Nähe des Bahnhofs Zoologischer Garten berichtet.41 Der Text wirkt wie die Beschreibung eines beliebigen Ausflugs. Nichts in den Ausführungen erwähnt die Bedeutung des Ereignisses. In diesen äußerst seltenen Dokumenten können wir vor allem eine Reihe von mehr oder weniger erwartbaren Motiven ausmachen. Zunächst einmal ist der Ausflug kein gewöhnlicher, da er das Überschreiten der „Grenze“ verlangt. Das Wort Grenze wird systematisch verwendet und bezeichnet die physische Entdeckung eines fremden Landes, das bis dahin nur aus dem Fernsehen bekannt ist. Das Bild des „goldenen Westens“ wird in manchen Texttiteln herangezogen: „Nächtlicher Spaziergang durch den goldenen Westen“,42 „Der goldene Westen“,43 „Der erste

40 41 42 43

Transkription des Interviews mit D. B. vom 26. März 2004, pag. 7. Sm/Sch A, 90-15, Aufsätze zu den Erlebnissen 1989–1990, unpag. Sm/Sch A, 90-24, Aufsätze zu den Erlebnissen 1989–1990, unpag. Sm/Sch A, 90-23, Aufsätze zu den Erlebnissen 1989–1990, unpag.

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Einkaufsbummel“.44 Es ist in den Texten omnipräsent: Westberlin wird als ein materielles Paradies beschrieben, als ein Tempel des Konsums. Im Übrigen ist das Ziel all dieser mit den Eltern (manchmal zusätzlich den Großeltern) unternommenen Reisen der berühmte Kurfürstendamm, das heißt die kommerzielle Arterie Westberlins, das Schaufenster des kapitalistischen Westens während des Kalten Kriegs. Die Texte sind einerseits vom semantischen Feld der Schönheit (der Gebäude, der Spielplätze, der Lichter) durchzogen, andererseits vom lexikalischen Bereich des Erstaunens und der Aufgeregtheit. Der kurze Text Roys, der im Übrigen sehr arm ist an deskriptiven Elementen, fasst das allgemeine Gefühl anlässlich dieses ersten Besuchs gut zusammen: „Meine Mutti und ich gingen zum ersten Mal nach WestBerlin. Als ich zum ersten Mal durch die Grenze gegangen war, war mir so, als ob ich fliege. Meine Mutti war genauso aufgeregt wie ich. Als erstes waren wir auf dem Kudamm gewesen. Ich wär beinah umgekippt so bunt und hell wie das war.“45 Dabei ist zu erwähnen, dass dieses Erstaunen positiv sein kann – „Erstmals sah man die schönen Sachen. Meine Mutter war sehr erstaunt. Ich aber auch.“46 –, aber auch negativ: Es kann bestätigt werden, was man ihnen in der Schule beigebracht hat, und widerlegt, was sie im westdeutschen Fernsehen gesehen haben: die Armen und Bettler in den Straßen, die Gruppen von „Neonazis“ bei einem kleinen Umweg, der Schmutz auf den Straßen. Die Wahrnehmung von Schmutz findet sich im Aufsatz Anjas: „Als ich mit meinen Eltern und Geschwistern über die Grenze nach West-Berlin ging, hatte ich mich gewundert. Die Straßen waren voll mit Büchsen und Zeitungen.“47 Anna wiederum ist zwar von der Schönheit der Bauwerke beeindruckt, sie hat aber auch die Armut einiger Menschen auf der Straße bemerkt, die hohen Preise für bestimmte Lebensmittel, so dass ihre Meinung am Ende ambivalent bleibt: „Als wir eine Weile liefen, sah ich die Gedächtniskirche. Wie sie schön aussah! Aber dann stand ich enttäuscht davor. So viel Schmutz und Leute, die da saßen und um Almosen baten. Zuerst war ich überrascht, ja. Aber als ich die Preise sah, das war ja schlimm, z. B. die Nahrungsmittel! Vor lauter Aufregung verschlug es mir die Sprache. Als ich nach einer ganzen Weile dann wieder zur Sprache fand, sagte ich: Das ist dieser goldene Westen also, Na ja sagte Mama: Bist du enttäuscht? Im Gegenteil. Ganz gut gefiel es mir doch alles von außen. Aber wie alles wirklich ist, muß man abwarten und später erkunden. Nun sagte Mama: Dann wollen wir mal losgehen. Aber ich wollte noch in dies und jenes Geschäft. Als wir zu Hause waren, war ich aber auch ein bißchen enttäuscht. Denn andere haben immer erzählt, dies und das ist so schön. Dabei war es das gar nicht.“48 44 45 46 47 48

Sm/Sch A, 90-16, Aufsätze zu den Erlebnissen 1989–1990, unpag. Sm/Sch A, 90-19, Aufsätze zu den Erlebnissen 1989–1990, unpag. Sm/Sch A, 90-16, op. cit. Sm/Sch A, 90-20, Aufsätze zu den Erlebnissen 1989–1990, unpag. Sm/Sch A, 90-23, op. cit.

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Die meisten Berichte erwähnen den Kauf von Gegenständen, meistens von Spielzeug, das die Eltern zu diesem Anlass ihren Kindern schenken. Die Qualität der erworbenen Produkte wird zum Gegenstand von Vergleichen, die die Kinder wiedergeben. So erzählt beispielsweise Mandy, wie sehr ihr Vater das Bier im Westen schätzt: „Am Abend sind wir drei noch zu meiner Tante gefahren. Mein Papi war auch sehr erstaunt über das Bier. Das schmeckte ihm besonders gut.“49 Die Kinder betonen auch die Möglichkeit, exotische Früchte zu essen, namentlich Bananen. Wir können hier die persönlichen Erlebnisse heranziehen, die Claudia Rutsch in einem autobiographischen Roman wiedergibt: Als die Mauer fällt, ist sie 18 Jahre alt und gehört zu den ersten Ostdeutschen, die nach Westberlin fahren. Sie findet sich schließlich in einer Bar im Bezirk Kreuzberg wieder, wo sie einen Bananensaft bestellt!50 Durch diesen Wunsch, Bananen zu essen, hindurch verspürt man, in wie hohem Maße die Mangelwirtschaft ihre Kindheit geprägt hat. Es ist, als müsse ein Defizit aufgeholt werden. Und schließlich sieht man deutlich, wie diese Kinder sich ständig in einer Situation des Systemvergleichs wiederfinden. Wenn wir diese Aufsätze mit den Interviews vergleichen, die mit Personen geführt wurden, die 1989 zwischen zehn und 15 Jahren alt waren, dann wird deutlich, in wie hohem Maße der erste Eindruck ganz wesentlich vom konkreten besuchten Ort abhängt. Alle Texte erwähnen den Kurfürstendamm. U. G., damals 1­ 5 J­ahre alt, begibt sich am 13. November 1989 nach Westberlin. Er nimmt die S-Bahn und steigt an der Station Gesundbrunnen aus. Sein Eindruck von der Stadt ist ein ­anderer: „Wir sind mit der S-Bahn über Jannowitzbrücke und dann Richtung Gesundbrunnen gefahren. Ich war mit einem Freund zusammen. Ich hatte von den Eltern 5 oder 10 DM nachgekriegt und habe Süßigkeiten gekauft. Zwei Haribos. Wir sind rumgelaufen, haben ein bisschen geguckt und sind dann zurückgefahren. Ich fand die Stadt dreckig, das war eine völlig unbekannte Gegend.“51

Das Zeugnis von A. R., einer Jugendlichen von damals 14 Jahren, geht in die gleiche Richtung, da ihre Entdeckung Westberlins sie über Rudow führt: „Es war in Rudow, da sind wir einmarschiert, und es sah fast genauso aus. Das war im Herbst gewesen. Das war keine bunte Welt. Es war nicht nach dem Motto Paradies. Die Strukturen von Rudow und Alt-Glienicke sind einfach zu ähnlich. Danach sind wir nach Kreuzberg gefahren. Und in den ersten Momenten war das auch ein bisschen gruselig da. Das war wirklich Großstadt mit Unbekannten. Ich meine, Kreuzberg ist eine Menschenmischung, die man nicht kennt, wenn man aus dem Osten kommt. Es war für mich anregend und interessant.“52 49 50 51 52

Sm/Sch A, 90-16, op. cit. C. Rutsch, Meine freie deutsche Jugend, Frankfurt/M. 2003, S. 74–79. Transkription des Interviews mit U. G. vom 9. Oktober 2003, pag. 8–9. Transkription des Interviews mit A. R. vom 8. September 2004, pag. 5–6.

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Interessant an der Erzählung A. R.s ist hier insbesondere das Entdecken des ­Anderen, Fremden. Dieser Kulturschock wird auch im Aufsatz des jungen Sascha thema­tisiert. Während seine Kameraden im Wesentlichen in dieser oder jener Form das Thema „goldener Westen“ durchspielen, wählt der junge Sascha als Titel für ­seinen Text: „Die schmutzigen Türken.“53 In seinem sehr kurzen Text beschreibt Sascha insbesondere, wie diese die Wände beschmieren (vermutlich geht es um Tags). Dann erzählt er von einem Vorfall, bei dem junge Türken einer Büdchenbetreiberin übel mitspielen: „Meine Eltern und ich waren eines Nachmittages in Westberlin. Wir sahen wie Türken die Wände beschmierten. Aus dem Auto der Budenbesitzerin haben sie die Luft der Autoräder ausgelassen. Die Budenbesitzerin sah es. Sie rannte raus. Alle liefen weg. Aber sie hatte sich einen geschnappt. Die Budenbesitzerin war traurig. Aber dann war die ­Ampel grün, und wir mußten weitergehen. Ich fand dabei schlimm, daß die Türken so was machen.“54

Parallel zur Entdeckung des materiellen Reichtums Westberlins funktionieren ­einige Texte wie ethnographische Berichte, die eine auf der Schule gelernte Information bestätigen. So ist die Furcht vor den „Neonazis“ ein Thema, das in einigen Aufsätzen auftaucht. Die DDR, die in den 1970er Jahren mit einem ähnlichen Problem konfrontiert war, präsentiert die BRD als „Land der Faschisten und Neonazis“; sie stellt eine Kontinuität zwischen dem Dritten Reich und der BRD her, während die DDR das „gute Deutschland“ repräsentiere. Der Aufsatz des jungen Lars, damals elf Jahre alt, bringt diese internalisierte Furcht sehr deutlich heraus, bevor diese verschwindet in einer Passage, in der der Versuch beschrieben wird, von der Mutter ein Spielzeug zu bekommen: „Tiergarten stiegen wir aus. Ich hatte etwas Angst. Ihr fragt warum? Gut, ich werde es euch sagen. Wegen den Neonazis.“55 Wir verfügen über keinerlei Angaben zur wahren Identität dieser „Neonazis“. Es kann sich um eine Gruppe junger Skinheads handeln, die gegen die bestehende soziale Ordnung rebellieren und sich an bestimmten Orten innerhalb der Stadt zusammenfinden.56 Neben der Entzückung über Lichter und Warenangebot werden die Kinder jedenfalls mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die ihnen nicht vertraut ist und die sie schockiert. Die Entdeckung Westberlins ist nur eine Folgewirkung des Falls der Mauer. Dieser führt in den Schulen zu einer Umwälzung des Alltags, insbesondere für die Älteren, die nach dem 9. November eine Zeit der Freiheit erleben, der endlosen ­Diskussionen über Schule, Erziehung, Demokratie. 53 54 55 56

SM/Sch A, 90-17, Aufsätze zu den Erlebnissen 1989–1990, unpag. SM/Sch A, 90-17, op. cit. Sm/Sch A, 90-24, Aufsätze zu den Erlebnissen 1989–1990, unpag. Sm/Sch A, 90-17, op. cit.

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Die Schule nach dem 9. November 1989  Unbezweifelbar gibt es ein vor und ein nach dem Monat November für die Schüler, die Lehrenden, die hauptamtlichen Funktionäre der Jugendorganisationen. Eine friedliche schulische Revolution fegt eine ganze Reihe konstitutiver Elemente des ostdeutschen Schulsystems hinweg. Ab dem 2. November ist die Wehrerziehung abgeschafft, ebenso der Unterricht in Staatsbürgerkunde. Dieser wird im März 1990 durch Sozial- bzw. Gemeinschaftskunde ersetzt. Die Kriterien für die Aufnahme auf die Erweiterte Oberschule werden geändert. All diese Veränderungen werden von den einzelnen Akteuren des schulischen Feldes unterschiedlich wahrgenommen. Die Wahrnehmung der Schüler Der 9. November 1989 stellt eine grundlegende Zäsur für die Funktionsweise des ostdeutschen Schulsystems dar. Die Schule, wie sie seit vierzig Jahren bestanden hat, existiert nicht mehr, ist vom Wind der Freiheit und der Demokratie hinweggefegt worden. Konkret verschwindet die gesamte offizielle symbolische Politik: Die Schüler grüßen ihre Lehrer mit „Guten Tag“ und nicht mehr mit der Parole der Pioniere oder der FDJ, die Appelle sind abgeschafft. Die Schulen – zumindest die EOS – verwandeln sich in wirkliche demokratische Foren. Die Schüler beginnen zu debattieren, halten Versammlungen ab und verfassen Texte, in denen sie bestimmte Rechte festlegen und einfordern, darunter das, frei seine Meinung zu äußern, das heißt das „so tun als ob“ einstellen zu können. A. R stammt aus einer Ingenieursfamilie protestantischer Konfession, die sich dem SED-Regime widersetzt. Sie beschreibt diese Zeit, in der alles offen und möglich schien: „Nach dem 9. November war der Schulalltag toll. Das war eine ganz tolle Zeit: Wir haben viel diskutiert. Die Lehrer waren selbst erstaunt, daß Schüler soviel denken konnten. Wir haben Gremien gebildet, Versammlungen von Schülern organisiert, um etwas durchzusetzen. Irgendwelche Regelungen: Schülervertretungen, Schülerrechte, Kampf um den freien Sonnabend … Das war mein schönstes Schuljahr.“57

Die Schüler steigern die Zahl der Demonstrationen, fordern mehr Demokratie und Transparenz in der Schule. Die ehemalige Ministerin für Volksbildung zieht alle Kritik auf sich. Bei einer Demonstration in Ostberlin schwenken die Schüler ein Transparent mit der Aufschrift: „Margot, Karten auf den Tisch!“ Die Schulleiter sind mit zahlreichen wilden Streiks konfrontiert, mit dem Boykott bestimmter hochsymbolischer Fächer wie Russisch oder Geschichte. Zahlrei57

Transkription des Interviews mit A. R. vom 8. September 2004, pag. 6.

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che Schüler weigern sich, an den von Funktionären der Jugendorganisationen geleiteten AGs teilzunehmen. Im Laufe des Winters 1989/1990 demonstrieren die Schüler auch für die FünfTage-Woche. Sie kämpfen dafür, den Samstag frei zu haben. Am 18. November 1989 wird der erste unterrichtsfreie Samstag im Bezirk Leipzig genehmigt durch eine Entscheidung der Schulinspektion ohne Benachrichtigung des zuständigen Ministeriums. Der Samstag wird offiziell ab dem 5. März 1990 in der gesamten DDR unterrichtsfrei.58 Für viele ist dieses Jahr eine ausgezeichnete politische Schulung. Die Schüler erleben eine revolutionäre Phase, das heißt eine Phase des Wandels, des Bruchs mit der alten Welt, und wir sehen eine Explosion von Wortmeldungen. Sie bringen Forderungen zum Ausdruck, die nicht immer realistisch sind. Entsprechende Spuren finden sich im Schulmuseum in Berlin, in einem Dokument, das von Schülern einer Einrichtung Ostberlins produziert wurde, die wir nicht haben ausmachen können.59 Einige sehr starke Symbole begleiten diese Forderungen. Diese Schulverfassung, dieses Reglement, das zu Beginn des Jahre 1990 verfasst wird, soll, wie uns das Symbol der Unendlichkeit mitteilt, für unbegrenzte Zeit gültig sein. Neben dem Titel „Die Rechte der Schüler“ finden wir eine verwelkte Blume mit der Beschriftung 1948–1989 sowie eine aufblühende Blume mit der Beschriftung 1990. Dies alles symbolisiert den Tod eines verachteten Systems und die Geburt einer neuen Welt, einer neuen Schule, in der die Schüler eine Reihe von Rechten einfordern. Das erste hier genannte Recht ist das auf freie Meinungsäußerung gegenüber Lehrkräften und Erziehern. Die Schüler können nicht gegen eine schlechte Note protestieren, es sei denn, sie haben den Eindruck, Opfer der Willkür oder des Zorns der Lehrkraft geworden zu sein. Artikel 2 respektiert also die hierarchischen Beziehungen. Die Schüler bestimmen selbst Vertreter für bestimmte Funktionen, ohne dass die Lehrkräfte an der Auswahl beteiligt wären. Der folgende Artikel bringt eher eine Wunschvorstellung zum Ausdruck, denn er legt fest, dass die Kinder Spielsachen (unter der Bedingung, dass sie nicht im Unterricht damit spielen) und Obst mit in die Klasse bringen dürfen. Werden solche Sachen konfisziert, sollen sie sie nach der Stunde zurückerhalten können: Anders als in den westdeutschen Schulen ist es in der DDR verboten, während des Unterrichts zu essen und zu trinken. Während aber die Schüler Demokratie lernen, sehen sich die Lehrenden einer instabil gewordenen Welt und einer Erschütterung ihres Arbeitsumfelds gegenüber. 58 59

Im Land Brandenburg diskutiert die Regierung die Möglichkeit der Wiedereinführung des Samstag als Unterrichtstag, im Rahmen einer Reform des Abiturs, die 2007 in Kraft tritt (Abitur nach zwölf Schuljahren). Sm/Sch A, 90/33, Schulgesetz eines Ostberliner Schülers, 23. 12. 1989.

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Die stabilisierte sozialistische Schule ­(1959–1989) Abb. 17  Entwurf eines Schulgesetzes für 1990 „Die Rechte der Schüler“, Dezember 1989

Geschwächte Lehrkräfte? Zwei gegensätzliche Tendenzen zeichnen sich innerhalb des Lehrkörpers ab. Auf der einen Seite befinden sich die Lehrenden in einer unsicheren Lage und ziehen es vor, Anordnungen seitens des Volksbildungsministeriums abzuwarten. Viele haben Angst, eine schlechte Wahl zu treffen, das heißt sich so in der Bewegung zu engagieren, dass es sie den Job kosten könnte. Für manche Lehrkräfte bedeutet der Mauerfall ein Ereignis, das sie in eine schwierige Lage bringt, zumal sie sich selbst überlassen bleiben. Manche machen also weiter, als wäre nichts geschehen, da sie nicht wissen, wie sich die Situation weiterentwickeln wird. Die große Mehrheit der Lehrkräfte weiß nicht wirklich, was sie tun und vor allem wie sie gegenüber den Schülern auftreten soll. Einige, die sehr stark in der SED engagiert sind, befürchten sogar körperliche Repressalien.

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Auf der anderen Seite kritisieren Lehrkräfte, die den Oppositionsgruppen angehören, das ostdeutsche Schulsystem und machen im öffentlichen Raum Vorschläge, um ein neues humanistisches und demokratisches Modell zustande zu bringen. Diese Minderheit unter den Lehrenden engagiert sich in unabhängigen politischen und gewerkschaftlichen Bewegungen. So wird am 30. November der Unabhängige Interessenverband „Demokratische Bildung und Erziehung“ in Ostberlin gegründet. Er erstellt einen Forderungskatalog, der gleichzeitig eine Art Inventar von 40 Jahren Sozialismus darstellt, denn er macht nicht völlig reinen Tisch mit der Vergangenheit. Die Vereinigung will einige strukturelle Elemente des ostdeutschen Schulsystems bewahren: „Liebe Eltern! Im Zuge der notwendigen Erneuerung unseres Bildungswesens haben wir uns mit der Neuprofilierung unserer Schule beschäftigt. Im Ergebnis dessen wollen wir ein Schulmodell konzipieren und realisieren, das unseres Erachtens den Interessen unserer Schüler im Wohngebiet am nächsten kommt. Bewahrenswertes wollen wir erhalten, veraltete Strukturen radikal verändern. Was wollen wir unbedingt bewahren? • Erhalten der Klassenstufen 1 bis 10 an der Schule (evtl. zukünftig bis zum Abitur) • Erhalt des Hortes und der Schulspeisung für alle, die es wünschen.“60

Diese demokratische Plattform fordert mehr Autonomie für die Lehrenden, eine kollegiale Schulleitung und die Verringerung der bürokratischen Kontrolle. Zahlreiche Lehrkräfte schließen sich der demokratischen Oppositionsplattform Neues Forum an. Auch hier wird eine Reihe von Forderungen beschlossen: Festlegung neuer edukativer Ziele, Demilitarisierung des Schulsystems, Trennung der Schule von den politischen und sozialen Organisationen. Viele wollen die Struktur der Schule erhalten, sie aber von ihrem ideologischen Inhalt befreien. Auf Veranlassung der evangelischen Kirche finden sich diese Akteure gemeinsam mit der SED (der künftigen PDS), andern Parteien und sozialen Kräften, die nun entstehen, ab Dezember am Zentralen Runden Tisch in Berlin und regionalen Runden Tischen (Erfurt, Rostock, Leipzig) wieder, um unter anderem über die Zukunft der Edukation und der Schule in der DDR zu diskutieren.61 Am 18. Dezember 1989 wird vom Verband „Demokratische Bildung und Erziehung“ ein öffent­licher Appell unter dem Titel „Die Zeit drängt“ lanciert. Darin wird eine Erneuerung der Edu60 Matthias-Domaschk-Archiv, unpag. 61 Diese Runden Tische greifen ein Modell auf, das bereits in anderen Ostblockländern wie Polen und Ungarn erprobt worden ist. G. Köhler, Anders sollte es werden. Bildungspolitische Visionen und Realitäten der Runden Tische, Köln 1999; K.-M. Rogner, Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR, Berlin 1993. Siehe auch den Augenzeugenbericht von U. Thaysen, Der Runde Tisch – Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990.

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kation, eine Demokratisierung der Institution Schule durch die Einrichtung von Vertretungsorganen der Eltern, Lehrkräfte und Schüler gefordert. Sie ruft außerdem zu einem Runden Tisch über Bildungs- und Erziehungsfragen im Januar 1990 auf. Erstmals am 4. Januar 1990 tritt eine Arbeitsgruppe „Bildung, Erziehung, ­Jugend“ aus Vertretern der verschiedenen politischen Parteien (CDU, NDPD, SED-PDS, Demokratie Jetzt, Grüne Partei), der ostdeutschen Gewerkschaft FDGB und dem Neuen Forum zusammen. Nach zwei Monaten Sitzungen und Arbeiten veröffentlicht sie ihre Ergebnisse in Form eines Appells, eine Reihe grundlegender Prinzipien wie Chancengleichheit und die Einhaltung der individuellen Rechte (Würde, Recht auf Bildung, demokratische Partizipation am schulischen Leben) zu respektieren. Der Text fordert zu einer Reform des pädagogischen Denkens und der pädagogischen Praxis auf. Die Autoren sind inspiriert von der Reformpädagogik der 1920er Jahre. Dabei ist es interessant, festzuhalten, dass die Gruppenmitglieder die Struktur der zehnklassigen Einheitsschule, das Prinzip der polytechnischen Ausbildung und eine in unabhängiger Form organisierte Jugendweihe beibehalten wollen. Sie bestehen auch auf der Beibehaltung einiger sozialer Einrichtungen wie der subventionierten Schulmahlzeit. Sie sind entschlossen, sich dem Abbau des Wohlfahrtsstaates unter dem Deckmantel der Demokratisierung entgegenzustellen. Im Prozess der Transformation bleibt jedoch von diesen Runden Tischen wenig übrig, abgesehen von einer postrevolutionären Nostalgie in Bezug auf eine Epoche, in der alles möglich war. Ab dem Frühjahr 1990 entwickelt sich das politische Klima hin zur Lösung durch rasche Wiedervereinigung. Während der Vorverhandlungen über den Einigungsvertrag kommt die deutsch-deutsche Gemeinsame Bildungskommission überein, alle von der westdeutschen Kultusministerkonferenz getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren. Im Bereich der Schule bedeutet dies die Anpassung an das westdeutsche Strukturmodell. Im außerschulischen Bereich sind die Jugendorganisationen damit endgültig aus dem schulischen Alltag eliminiert, wobei sie tatsächlich bereits seit dem Winter 1989/1990 faktisch verschwunden waren. Die Jugendorganisationen: Zwischen Verwirrung und Kritik Der Fall der Mauer reißt in den darauffolgenden Wochen auch die Organisationen mit sich, die mit der Betreuung der schulischen und außerschulischen Aktivitäten betraut sind. Die Jugendorganisationen verschwinden rasch, quasi von einem Tag auf den anderen, aus der schulischen Landschaft. Es bricht ein ganzes System zusammen, fortgespült von einer Flutwelle. Diese Erschütterung wird von den Schülern als etwas „Normales“ empfunden. Für sie handelt es sich um eine Aufhebung von Zwängen. Für U. G. erfolgt das Verschwinden der FDJ aus seiner Schule in Marzahn tatsächlich sehr abrupt: „Die FDJ ist zusammengebrochen. Keiner wollte mehr

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e­ twas damit zu tun haben. Ich habe meinen Beitrag bis Dezember 1989 bezahlt. Das zeigt, daß das Ende mit der FDJ sehr abrupt war. Das hat mich nicht gestört. Ich habe mehr Sport gemacht. Letztendlich das hat mir nicht gefehlt.“62 Im Allgemeinen lösen sich die Basiszellen der FDJ in den Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer auf. Langsamer erfolgt diese Bewegung bei den Jungen ­Pionieren, die der Welle, die die FDJ fortgespült hat, ein wenig mehr Widerstand entgegensetzen. Wir besitzen die Chronik einer Pioniergruppe der Lenin-Oberschule in Friedrichshain, die bis Juni 1990 reicht.63 Es ist eigenartig zu sehen, dass dort ab dem Winter 1989/1990 westdeutsche Aufkleber auftauchen. Die offizielle Zeitschrift der FDJ, Junge Welt, erhält ab Oktober 1989 im Schnitt monatlich 500 Briefe. Die Verwirrung mancher FDJ-Mitglieder spiegelt sich in den Leserbriefen vom Dezember 1989 wider. J.S., ein Student von 24 Jahren und ehrenamtlicher Funktionär der FDJ in Ostberlin, schreibt am 13. Dezember 1989: „Für mich bricht hier eine Welt zusammen, von der ich über Jahre in der Schule und im Beruf gelernt habe, daß immer sie das Beste ist und das Beste will. Alles für den Menschen. […] Wie ein Kartenhaus fiel das Vertrauen des Volkes an Regierung und Staat zusammen. Und anstelle jetzt und glasklar die Fehler zu bekennen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, stellt sich die Führung in den Schatten des Volkes und reagiert nur aktionslos. […] Es herrscht Sprachlosigkeit, vor allem in SED und FDJ.“64

Für manche, deren berufliche Karriere gerade beginnen soll, ist der Schock gewaltig. So etwa für D.W., eine Jugendliche von 16 Jahren, die soeben die Schule abgeschlossen hat und sich fragt, wie ihre Zukunft aussehen wird: „Es ist in den letzten Tagen viel in unserem Land passiert. Natürlich habe ich auch großes Interesse daran. Mich bewegen die Bilder aus dem Fernseher vom 9. und 10. November. Ja ich begann zu weinen. Ich durfte das weiterleben. Aber ich komme mit den Geschehnissen nicht mehr mit. Ich habe am 1. September eine Lehre für den Beruf des Facharbeiters für Datenverarbeitung begonnen. Ich schloß die 10. Klasse mit dem Prädikat Auszeichnung ab. Und jetzt weiß ich nicht mehr weiter. […] In der Schule habe ich fast alles geglaubt. Natürlich habe ich einige Behauptungen der Lehrer in Frage gestellt aber im großen und ganzen bezweifelte ich kaum, was die Lehrer sagten. Wenn ich mich heute mit Menschen in der Berufsschule unterhalte, so sagt man mir, daß alles falsch ist, was ich gelernt habe. Aber das kann doch nicht wahr sein. Dann müßte ich jetzt noch mal 10 Jahre zur Schule gehen ? Nichts stimmt mehr, es wird sogar der Marxismus angezweifelt, der mir persönlich sehr glaubwürdig erscheint. Ich versuche, mein Gelerntes zu verteidigen, aber ich komme gegen die Argumente nicht an. Man sagt mir dazu, daß ich zu jung bin. […] Natürlich freue ich mich, daß ich in andere Länder, die nicht sozi-

62 63 64

Transkription des Interviews mit U. G. vom 9. Oktober 2003, pag. 9. Sm/SchA 92/23, 25 0 S Lenin-Oberschule Berlin-Friedrichshain, 1987–1990, unpag. BBF/DPIF, JW 235, Leserbriefredaktion Junge Welt Leserbriefe, Dezember 1989, pag. 70.

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Die stabilisierte sozialistische Schule ­(1959–1989)

alistisch sind, reisen kann. Mich interessieren besonders die Tradition und die Kultur des französischen Volkes. Jetzt habe ich die Möglichkeit das Land selbst zu besuchen.“65

Der Brief bringt gemischte Gefühle zum Ausdruck: Die Autorin ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Freude, vielleicht nach Frankreich gehen zu können, und der Erfahrung der Desillusionierung und ideologischen Ernüchterung. Sie hat das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Zur gleichen Zeit schreiben auch Kinder an das offizielle Organ der Pioniere, Die Trommel. Einige Leserbriefe bringen Forderungen ihrer Eltern vor: „Ich bin Schüler der 7. Klasse, bin das letzte Jahr Thälmannpionier gewesen. Ich bin darüber sehr erfreut, daß die Programme der Pionierorganisation aufgegeben werden. Es darf keinen Pionierauftrag mehr geben. Das Leben in Pioniergruppen muß freier oder selbstbestimmt werden. Dann müßten Pioniernachmittage frei werden, nicht mehr Pflicht wie bei uns an der Schule. Das Geld von Klassen beim Solibasar oder anderen Einnahmen darf nicht auf ein Konto gehen, sondern muß an der Schule bleiben.“66

Der Fall der Mauer markiert unbezweifelbar den Zusammenbruch der Integrationsstrukturen des Regimes. Je nach der Haltung, die jemand gegenüber der Schule und dem Erziehungssystem hat, folgt ein Gefühl der Befreiung oder der Verwirrung. In jedem Falle erleben wir eine Explosion von Wortmeldungen bei den Schülern, wie sie typisch ist für Zeiten revolutionärer Veränderung. Ein großer Teil der Lehrkräfte verhält sich abwartend, zieht es vor zu beobachten, wie sich die Situation entwickeln wird, steht aber insgesamt der Reformbewegung positiv gegenüber. Ab dem Sommer 1990 wird der zur Wiedervereinigung führende Prozess immer unausweichlicher und vermittelt sich als strukturelle Transformation des ostdeutschen schulischen Feldes.

65 BBF/DIPF, JW 245, Leserpost Junge Welt, Antwortschreiben der Redaktion, November 1989, pag. 65. 66 SM/Sch a, 90/36, Brief eines Schülers (7. Kl.) an die Trommelredaktion, November 1989, unpag.

Resümee

Es war unsere Absicht, durch das Prisma der Schule in Ostberlin in einer mittelfristigen und generationellen Perspektive die politischen, sozialen und kulturellen Logiken der Funktionsweise der sozialistischen Gesellschaft in der DDR zwischen 1949 und 1989 aufzuhellen. Die Institution Schule ist dafür ein besonders geeigneter Untersuchungsgegenstand, weil sich hier das soziale Projekt der DDR, seine utopische Dimension, seine Erfolge und Blockaden sehr deutlich erkennen lassen. Mit der Entscheidung, die Schule gestützt auf einen reichen und vielfältigen Quellenkorpus als ein totales soziales Phänomen zu untersuchen, konnten wir verschiedene Aspekte dieser Institution im Rahmen der „Erziehungsdiktatur“ zu Tage fördern.

Die Schule als „Tempel des Wissens“ Vor allem anderem ist die Schule ein Ort des Erwerbs von Wissen und Fähigkeiten. Diese erste Funktion kommt jeder schulischen Institution zu, auch wenn sich die DDR von den westeuropäischen Ländern durch ihr diktatorisches politisches System unterscheidet. Im Rahmen eines polytechnischen Bildungssystems hat die DDR naturwissenschaftlichen Fächern den Vorrang gegeben und von den Schülern hier einen sehr hoch entwickelten Kenntnisstand verlangt, der den in der BRD weit übersteigt. Diese Anforderung drückt sich im schulischen wie im außerschulischen Bereich aus. Sie resultiert in internationaler Anerkennung und zahlreichen Auszeichnungen bei den internationalen mathematischen Olympiaden. Diese Eigenart des ostdeutschen Schulsystems hängt mit dem sozialistischen Projekt einer Modernisierung der Gesellschaft zusammen und spiegelt jene technologische Utopie, jenen quasi religiösen Glauben an einen technischen Fortschritt wider, der den Entwicklungsgesetzen der Geschichte entspreche. Sie vermittelt außerdem die Illusion, dass das sozialistische Modell dem kapitalistischen Modell überlegen sein kann. Getragen von den Raumfahrterfolgen der UdSSR beruft sich diese Technikeuphorie auf die Tradition des wissenschaftlichen Sozialismus Marx‘ im 19. Jahrhundert und auf einen unerschütterlichen Glauben an die Zukunft und an die Wissenschaft.

Die Schule als Ort der Konsolidierung der politischen Macht Abgesehen von der Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten ist die Schule sehr wohl ein Instrument der Konsolidierung der Dominanz und der relativen Stabilität

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der sozialistischen Macht. Sie ist eine Sozialisierungsinstanz, die darauf abzielt, engagierte sozialistische Bürger hervorzubringen. Sie ist der konkrete Ausdruck eines starken politischen Willens, der auf allen administrativen Ebenen besteht und alle strukturellen, personellen und symbolischen Transformationen ihrer Form zwischen 1949 und 1959 leitet. Dieser Durchsetzungswille, der sich in allen offiziellen Quellen in einer Mischung aus Enttäuschung (wenn Dinge nach dem Geschmack der Autoren nicht rasch genug gehen oder nicht hinreichend gut umgesetzt wurden) und Vertrauen in die Zukunft widerspiegelt, stößt vor Ort auf Grenzen materieller, personeller, mentaler und kultureller Natur, die bei den Lehrkräften ebenso wie bei den Schülern bestehen. Gleichwohl wird er (zumindest bis in die 1960er Jahre) von einem unerschütterlichen Glauben an Planbarkeit, an die planmäßige Produktion engagierter Sozialisten getragen. Wir finden im schulischen Feld eine der Funktionsweise der sozialistischen Gesellschaft eigene religiöse Dimension wieder, die Sandrine Kott bereits für den Bereich der Betriebe aufgezeigt hat.67 Neben der ­Rhetorik der Liebe und der Spendengabe kommt die Heranziehung des Religiösen in der unterschwelligen Idee der Konversion zum Ausdruck: Die Sozialisierung in der Schule fügt dem existierenden Wesen ein neues Wesen hinzu, das von ihr allmählich zum erwachsenen Leben und dem, was dieses erfordert, konvertiert wird: zum politischen und sozialen Engagement in der sozialistischen Gesellschaft, zum Eintritt in die Welt der Arbeit gemäß den Erfordernissen der nationalen Wirtschaft. Der Sinn dieser Konversion, als Blaupause einer Erziehungskonzeption, die vom Christentum übernommen wurde, erschließt sich durch den Bezug auf zwei Modi religiöser und politischer Aktion, die die schulische Sozialisierung in der DDR enthält. Auf der einen Seite geht es darum, ein System von Glaubenssätzen und Sehnsüchten einzuprägen, ein gemeinsames Ideal, das auf den Mythen des Antifaschismus, der „Arbeiterklasse“, der Einrichtung einer sozialistischen Gesellschaft aufbaut. Auf der anderen Seite geht es darum, Bürger heranzuziehen, die bereit sind, sich zur militärischen Verteidigung dieses „Vaterlands“ zu melden. Die sozialistische Edukation besteht auf diese Weise darin, gleichzeitig einen Glauben einzuflößen und einem Regelsystem zu unterwerfen. Im Falle der Nichtbefolgung dieser Normen werden die Schüler stigmatisiert oder gar als „Kriminelle“ oder „Asoziale“ betrachtet, die entweder in speziellen Einrichtungen umerzogen oder überwacht werden müssen.

Die zahlreichen Akteure des Schulsystems Um dieses Programm einer sozialistischen Sozialisierung umsetzen zu können, stützen sich die Herrschenden sowohl auf den Lehrkörper als auch auf die Funktionäre 67

S. Kott, op, cit., S. 322.

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der Jugendorganisationen. Es ist aber gleichwohl bei der Untersuchung dieser Institution frappierend, dass die Schule kein Monopol als edukative Institution genießt. Tatsächlich ist die Schule für das sozialistische Regime nur ein edukativer Akteur unter anderen in der Gesellschaft. Wir haben für die Zeit von 1949 bis 1989 beobachten und zeigen können, dass es einen Transfer edukativer Kompetenzen von der Institution Schule auf die Massenorganisationen der Jugend, die Betriebe, die Armee und ihre paramilitärische Organisation, die GST, gegeben hat. Über die auf mehreren Ebenen abgeschlossenen Patenschaften werden die Betriebe damit betraut, den Schülern die Liebe zur Industriearbeit zu vermitteln. Dabei fungiert die Praxis der Patenschaft als symbolisches Band und als Instrument zur Festigung der sozialistischen Gemeinschaft. Die Arbeiter sollen sich konkret in die berufliche und staatsbürgerliche Ausbildung der Kinder und Jugendlichen einbringen. Diese generationsübergreifende Praxis nimmt in den 1950er Jahren eine im Wesentlichen soziale und ökonomische Dimension an, da sie auf einem Austausch von Dienstleistungen beruht: Geld oder Schulmaterial gegen die Organisation kleiner Feste. Die Patenschaftsbeziehungen zwischen den Schülern und der „Arbeiterklasse“ wirken vor allen Dingen entlarvend in Bezug auf die Dysfunktionalitäten und Mängel der sozialistischen Gesellschaft. Ungeachtet der unablässigen Bemühungen des Ministeriums für Volksbildung bleiben die Beziehungen zur „Arbeiterklasse“ insgesamt oberflächlich und beschränkt. Den ab den 1960er Jahren praktizierten regelmäßigen Begegnungen zwischen Klassen und Produktionsbrigaden mangelt es an Dialog und Austausch zwischen Erwachsenen und Schülern. Die Heranziehung von Fotos hat es sogar ermöglicht, die völlige Abwesenheit von Dialog aufzuzeigen: Die Erwachsenen haben den Schülern nicht viel zu sagen und wollen sich nicht konkret in die ideologische Arbeit einbringen. Darüber hinaus führt die Einführung der Praktischen Arbeit in den Betrieben ab 1958 mitunter zu gravierender Desillusionierung über die Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus und der „Arbeiterklasse“. Die Schüler entdecken eine Welt, in der es an materiellen Ressourcen fehlt, in der die Arbeiter Westradio hören, trinken oder Material stehlen. Die Erfahrung der Enttäuschung ist eine der Wirkungen dieser Politik des Transfers edukativer Kompetenzen in den 1970er und 1980er Jahren. Die Armee rückt ab 1961 auf das schulische Feld vor und soll zur Herausbildung eines Gefühls ostdeutscher nationaler Identität beitragen. Zwar vermag sie eine gewisse Faszination bei den Kindern und einigen Jugendlichen für Uniformen und Waffen sowie eine Schwärmerei für die Manöver an der frischen Luft zu nutzen; sie kollidiert aber mit dem Gewicht eines generationsübergreifenden Antimilitarismus. Der Diskurs über den Frieden innerhalb der Familien hat immer eine größere Überzeugungskraft als die offizielle Botschaft, die um ein Konzept des „bewaffneten Friedens“ kreist, das die ostdeutsche Bevölkerung niemals überzeugt hat und das sich in den 1970er Jahren im Widerspruch befindet zum internationalen Kontext

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der Entspannung. Die Politik der Rekrutierungen künftiger Offiziere und Unteroffiziere ist niemals zu voller Zufriedenheit verlaufen. Zudem wird die vormilitärische Erfahrung mit der Einführung der Praktika in den Jugendlagern ab den späten 1970er Jahren vor allem als ein Zwang empfunden, eine Übung der Dressur, der körperlichen Ausdauer, der Erniedrigungen und Schmerzen. Jedenfalls sollen alle edukativen Akteure in ihrer Weise zur staatsbürgerlichen und technischen Ausbildung der Schüler beitragen. Aber die Eingliederung der Schule in das weitgespannte Netz staatlicher Institutionen führt dazu, Konkurrenzen und Spannungen zwischen diesen hervorzubringen, die sich mitunter als kontraproduktiv erweisen. Ungeachtet der oberflächlichen ideologischen Homogenität der edukativen Akteure ist die Schule ein Ort beruflicher Konkurrenzen. Die Welt der Erzieher ist gezeichnet von zahlreichen Spannungen zwischen Lehrkräften und hauptamtlichen Funktionären der Jugendorganisationen. Die Ersteren misstrauen dem Eindringen der Letzteren in ihren Kompetenzbereich. Es liegt bei den Schulleitern, mit diesen Platzierungsproblemen fertigzuwerden, indem sie zwischen den Forderungen der Partei, der FDJ, der Lehrenden und der Familien hin- und herlavieren. Trotz der Grenzen des Modells haben die ostdeutschen politischen Führungskräfte immer großen Wert auf dieses polyzentrische Erziehungssystem gelegt, für das alle Institutionen mobilisiert wurden.

Eine akzeptierte Institution Die zunehmende Stabilität des Schulsystems beruht auch darauf, dass sich die meisten Familien ab den späten 1950er Jahren in den Regeln des sozialistischen Lebens einrichten. Dabei bedeutet Akzeptanz nicht Zustimmung. Der Prozess der Sozialisierung der Schüler verläuft nicht nur im schulischen Mikrokosmos, sondern auch in der Kernfamilie, wo die Kinder und Jugendlichen von einem Diskurs geprägt sind, der weit davon entfernt ist, immer dem zu entsprechen, der in den Schulen vermittelt wird. Die Familie ist aber auch nicht die von Günter Gaus beschriebene Nische, diese Sphäre, die vor staatlichem Zugriff geschützt wäre. Sie ist sicherlich ein Ort, wo ein Gegendiskurs zum Ausdruck kommt, ein Gegengedächtnis wie das über den 17. Juni 1953, eine Gegenkultur, die über das Anhören des Westradios, später über das Westfernsehen vermittelt wird. Aber die Familie ist als Instanz primärer ­Sozialisierung auch eine Struktur des Erlernens offizieller Normen. Die Mehrheit ­der Schüler erlernt die Beherrschung des code switching im privaten Bereich. Die Beherrschung der offiziellen Sprechweise wird immer mehr zu einer Notwendigkeit, wenn man seine Ausbildung fortsetzen möchte. Man lernt hier, was man vor der Klasse sagen soll oder nicht sagen darf, gegenüber dem Lehrer oder den Kameraden. Man arbeitet an der Herausbildung einer Persönlichkeit, die auf der schuli-

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schen Bühne den Minimalanforderungen der Herrschenden entspricht. Der Schüler erprobt selbst in der Klasse die Grenzen dessen, wie weit er gehen darf. Er lernt, mit den offiziellen Regeln zu spielen, wobei er sich in manchen Fällen einen Raum schafft, um einen alternativen Diskurs zu entwickeln: über die Frage der Wiedervereinigung, über die Verteidigungspolitik der DDR, über die UdSSR. Insgesamt haben sich die Familien – vor allem nach 1960 – an die sozialistischen Normen angepasst, sowohl unter dem Eindruck der Pressionen und der vielfältigen Einschüchterungen, die gegen die Kinder oder sie selbst am Arbeitsplatz ausgeübt werden, als auch aus dem Wunsch heraus, das Beste aus den „Spielregeln“ herauszuholen. Dieses Übereinkommen ist nicht immer gleichbedeutend mit Resignation oder Passivität. Die Analyse des Rituals der Jugendweihe zeigt, dass die Alltagsrealität der Dominanz der Partei über die Gesellschaft Konzessionen und Arrangements angelegen sein lässt. In diesem Sinne wünschen und erreichen viele Eltern in den 1970er Jahren, dass die Jugendweihe samstags abgehalten wird anstatt sonntags. Trotz dieser Erziehung zum Übereinkommen, das einem „So Tun Als Ob“ nahekommt, müssen wir festhalten, dass es der DDR gelungen ist, über die Institution Schule spezifische Werte und Verhaltensweisen zu vermitteln. Die Konstitution des sozialistischen Subjekts, das nicht immer den Wünschen des Regimes entspricht, vollzieht sich über das Erlernen einer bestimmten Rhetorik, die sowohl in den Schulen als auch in den Familien vermittelt wird – Sprache ist einer der Vektoren von Herrschaft – sowie über die Teilnahme an Ritualen. Die ostdeutsche Schule bringt tatsächlich eine sozialistische Subjektivität hervor. Wir kommen nicht umhin, festzuhalten, dass es den sozialistischen Herrschenden in vierzig Jahren der Existenz der DDR gelungen ist, gemeinsame Werte (Frieden, soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Kampf gegen den Imperialismus) zu vermitteln und Kinder und Jugendliche in den Spendenaktionen zu mobilisieren. Über die Begegnungen mit ehemaligen kommunistischen Gefangenen der Konzentrationslager in den 1950er Jahren tragen die politischen Instanzen dazu bei, den Mythos des Antifaschismus bei Diskussionen oder Zeremonien in die Schulklassen zu tragen. Diese Zeitzeugen sind der lebende Beweis für den Widerstand gegen den Faschismus und sollen den Jüngeren als Rollenmodell dienen. Dieser von oben verordnete Antifaschismus ist ebenfalls ein Wert, den die ostdeutsche Schule, unterstützt von Besichtigungen der Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen, von Büchern und Filmen, zu vermitteln gewusst hat. Dabei behalten die Schüler vor allem die Greueltaten der Nazis zurück und nicht die Rolle, die die Kommunisten im Widerstand gespielt haben. Die ­Schüler der 1970er Jahre wachsen auch mit den vom amerikanischen Imperialismus geschaffenen Märtyrerfiguren wie Angela Davis oder Luis Corvalán auf. Die Generationen, die nach dem Mauerbau geboren werden, wachsen insgesamt mit einer sehr genauen Vorstellung von Sozialismus auf, den sie mit dem Wohlfahrtsstaat identifizieren. Es ist im Übrigen kein Zufall, dass es gerade diese Werte sind,

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die Jana Hensel in Zonenkinder hervorhebt und die man unter dem Begriff Ostalgie zusammenfasst. Zum größten Leidwesen eines Regimes, das keine Anstrengungen scheut, ist es gleichwohl die BRD und nicht der „große sowjetische Bruder“, die den unumstößlichen Referenzpunkt für mehrere Generationen von Schülern bildet. Diese für die Pädagogen und politisch Verantwortlichen grausame Wahrheit lässt sich in Ost­berlin wunderbar beobachten. Als Untersuchungsgegenstand eignet sich die Stadt sehr gut für eine Analyse des westlichen Einflusses vor und nach 1961. Allgemein gesprochen bildet das externe soziokulturelle Umfeld eine der Grenzen der „Erziehungsdiktatur“: Familie, Kirche, westliche Medien, informelle Freundeskreise sorgen dafür, dass die Sozialisierung zwangsläufig pluralisiert wird. Das Regime bemüht sich, die verschiedenen interagierenden Mikrosysteme zu homogenisieren, indem es den Elternrat kontrolliert, indem es protestantische Jugendgruppen oder „Jugendbanden“, deren Zusammenkünfte auf Plätzen und in Parks als „potentiell gefährlich“ ansieht, überwacht oder unterdrückt, indem es Einflüsse aus den westlichen Medien bekämpft. Dieser Kampf ist sicherlich in Ostberlin mit seiner direkten Nähe zum Westen besonders ausgeprägt; deswegen wurde diese Region als Untersuchungsgegenstand ausgewählt. Die längste Zeit sind die Ostberliner Schüler – mehr als ihre Kameraden in anderen Teilen der DDR – von diesem Einfluss der Westmedien geprägt. Bis 1961 haben sie unmittelbaren Zugang zu den kulturellen Erzeugnissen des Westen (Filme, Schallplatten, Comics). Es gelingt dem DDR-Regime nicht, den alternativen Diskurs zu schwächen, der außerhalb der Schule produziert wird, und massenhaft neue sozialistische Menschen herzustellen. Aber wäre dies überhaupt möglich gewesen? Selbst wo es auf Zwang, auf Pressionen aller Art zurückgreifen konnte: Es hatte mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die sich ihre Lebenswelt aneignen, sich eigene Aktionsräume schaffen und die Ziele offizieller Praktiken umkehren. Wir haben dies am Beispiel der Comics oder des Engagements in der GST gezeigt.

Für eine transnationale Perspektive Die Analyse der Institution Schule von unten über ihre Akteure hat es uns am Ende ermöglicht, den Modernitätsgrad dieser „Erziehungsdiktatur“ zu messen und seine ideologische, politische und soziale „Textur“ besser lesbar zu machen. Es liegt kein Widerspruch darin, gleichzeitig den diktatorischen Rahmen, die Art, in der politische Herrschaft ausgeübt wird, und soziale Modernisierungsprozesse hervorzuheben. Ungeachtet der Teilung Europas in zwei Blöcke wurde die DDR mit den gleichen Herausforderungen und den gleichen Problemen konfrontiert wie zahlreiche westliche Demokratien: der Herausforderung der quantitativen und qualitativen

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Demokratisierung, dem Problem der Ausbildung von Eliten und von leistungsfähigen und modernen ökonomischen Arbeitskräften. Eine generalisierte Reflexion über die Modernität des ostdeutschen Schulsystems fordert uns dazu auf, sowohl Kontinuitätslinien seit dem 19. Jahrhundert als auch die grundlegende Zäsur des Jahres 1945 in Rechnung zu stellen. In manchen Punkten hat die DDR eine radikal moderne edukative Politik in Gang gesetzt, weit früher als westeuropäische Länder wie Frankreich oder die BRD. Weitere Untersuchungen zum ostdeutschen Schulsystem sollten also dieses Feld im Vergleich mit anderen Ostblockländern, aber auch mit den Demokratien Westeuropas weiter erforschen. Wir müssen die DDR aus ihrem deutschen und kommunistischen „Sonderweg“ befreien, der uns dazu verführt, soziale Phänomene so zu untersuchen, als resultierten sie lediglich aus der „nationalen“ und politischen Natur des Regimes, und sie statt dessen am Maßstab anderer Länder und anderer Geschichten messen.

Abkürzungen

ABF ABV ADN AG APW BBF BBW BDM BOB BPO BPS BRD BUB CDU DDR DEFA DFD DPZI DSF DTSB DVV EOS FDGB FDJ FL GO GPL GSM GST HPL IM KPD KWO LDPD MfS

Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Abschnittsbevollmächtigter Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Arbeitsgemeinschaft Akademie der Pädagogischen Wissenschaften Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung Berliner Bremsenwerk Bund Deutscher Mädel Berufsoffiziersbewerber Betriebsparteiorganisation; Basisparteiorganisation Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Schriften Bundesrepublik Deutschland Berufsunteroffiziersbewerber Christlich-Demokratische Union Deutsche Demokratische Republik Deutsche Film AG Demokratischer Frauenbund Deutschlands Deutsches Pädagogisches Zentralinstitut Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Deutscher Turn- und Sportbund Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung Erweiterte Oberschule Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Freundschaftsleiter Grundorganisation Gruppenpionierleiter Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Gesellschaft für Sport und Technik Hauptamtlicher Pionierleiter Inoffizieller Mitarbeiter Kommunistische Partei Deutschlands Kabelwerk Oberspree Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Ministerium für Staatssicherheit

Abkürzungen

Mf V MMM NATO NDPD NSDAP NVA OECD PA PDS PO POS RAW RFB RGW RIAS S-Bahn SBZ SED SFB SMAD SPD SPO TRO UNESCO UTP VEB VPI VRP WKK ZAIG ZIJ ZK ZSGL ZV

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Ministerium für Volksbildung Messe der Meister von Morgen North Atlantic Treaty Organization National-Demokratische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationale Volksarmee Organisation for Economic Cooperation and Development Produktive Arbeit Partei des Demokratischen Sozialismus Pionierorganisation Polytechnische Oberschule Reichsbahnausbesserungswerk Roter Frontkämpferbund Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Rundfunk im Amerikanischen Sektor Schnell-Bahn Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sender Freies Berlin Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schulparteiorganisation Transformatorenwerk Karl Liebknecht United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization Unterrichtstag in der Produktion Volkseigener Betrieb Volkspolizeiinspektion Volksrepublik Polen Wehrkreiskommando Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zentralinstitut für Jugendforschung Zentralkomitee Zentrale Schulgruppenleitung Zivilverteidigung

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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KATRIN BOBSIN

DAS PRESSEAMT DER DDR STAATLICHE ÖFFENTLICHKEITSARBEIT FÜR DIE SED (MEDIEN IN GESCHICHTE UND GEGENWART, BAND 29)

Das Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrats war eine zentrale Einrichtung zur Lenkung und Kontrolle der Medien in der DDR. Die vorliegende Studie liefert auf breiter Quellengrundlage die erste eingehende Untersuchung dieser Institution. Sie beschreibt detailliert die Entstehung, den Auf bau und die Funktionen des Presseamts sowie die vielfältigen Strukturen und Hierarchien der Anleitung und Kontrolle im Mediensystem der DDR. Obwohl es eine staatliche Stelle war, diente es ganz der Öffentlichkeitsarbeit der SED und trug entscheidend zur ideologischen Verfälschung des DDR-Bildes in den Medien im In- und Ausland bei. 2013. 477 S. BR. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-21029-8

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KLAUS SCHROEDER

DER SED-STAAT GESCHICHTE UND STRUKTUREN DER DDR 1949–1990 3., VOLLSTÄNDIG ÜBERARBEITETE UND STARK ERWEITERTE NEUAUSGABE

Das erstmals vor fünfzehn Jahren erschienene Buch „Der SED-Staat“ wurde als die erste nach der Wiedervereinigung erschienene Gesamtdarstellung von Geschichte und Strukturen der DDR aufgenommen. Jetzt hat der Politologe Klaus Schroeder sein Buch vollständig überarbeitet und um mehrere Kapitel – u.a. Kultur, Umwelt, Sport, Rechtsextremismus, Korruption – sowie Kurzbiografien der wichtigsten politischen Akteure ergänzt. So ist in vielerlei Hinsicht ein neues Buch entstanden, das sich zwar auf das Grundgerüst der ursprünglichen Fassung bezieht, aber vieles neu komponiert und einordnet. In die umfassende Überarbeitung fließen die seit dem ersten Erscheinen veröffentlichten (wesentlichen) Darstellungen und Analysen zu Geschichte und Strukturen der DDR mit ein. Diese ergänzen, präzisieren oder modifi zieren mitunter auch die frühere Darstellung. Zum Verständnis der deutschen Teilungs- und Vereinigungsgeschichte ist Schroeders Buch unverzichtbar. 2013. XXII, 1134 S. 61 S/W-ABB. 32 S. M. TAF. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-21109-7

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