Jugend – Gewalt: Erleben – Erörtern – Erinnern [1 ed.]
 9783737016469, 9783847116462

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Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch

herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Carola Dietze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Michael Philipp, Dirk Schumann, Detlef Siegfried für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«

Jahrbuch 18 | 2023

Meike Sophia Baader / Till Kössler / Dirk Schumann (Hg.)

Jugend – Gewalt Erleben – Erörtern – Erinnern

Mit 12 Abbildungen

V&R unipress

Finanziert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Redaktion: Susanne Rappe-Weber Umschlagabbildung: Gestaltung: web-leo.de unter Verwendung eines Fotos von Julius Groß (1932) aus dem Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb, F 1 Nr. 515_178). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-9106 ISBN 978-3-7370-1646-9

Inhalt

Meike Sophia Baader / Till Kössler / Dirk Schumann Jugend – Gewalt im 20. Jahrhundert: Erleben, Erörtern, Erinnern. Einführende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Meike Sophia Baader (Sexualisierte) Gewalt und Generationenverhältnisse im Diskurs der Wissenschaften. Konjunkturen von Wissen und Wahrnehmungen im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jens Elberfeld »Sittlichkeitsvergehen«. Zum Diskurs um sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . .

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Mischa Honeck Das verspielte Imperium. Die Pazifizierungsarbeit der Boy Scouts of America in den Philippinen und Westdeutschland . . . . . . . . . . . . .

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Lieven Wölk »Seid bereit!« – Wehrhaftigkeit und Gewaltbereitschaft im deutsch-jüdischen Jugendbund Schwarzes Fähnlein . . . . . . . . . . . .

87

Sarina Hoff Erziehungsgewalt als Mittel gegen die »Verwilderung der Jugend«? Diskurse über körperliche Schulstrafen in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Petra Josting »Keile fehlt euch« – Gewalt im Medienverbund Revolte im Erziehungshaus von Peter Martin Lampel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

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Inhalt

Katharina Lenski Erziehung. Gewalt. Eine Jugend in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Christian Sachse Jugend, Gewalt und Herrschaft in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Giorgio del Vecchio / Christian Jansen Jugendlichkeit und jugendliche Gewaltdiskurse in den 1960er und 1970er Jahren. Italienische Besonderheiten und ihre Folgen . . . . . . . . . . . . 183

Weitere Beiträge Hajo Frölich »Raus wollte ich u. einen möglichst ›männlichen‹ Beruf wollte ich auch«. Karl Fischer und der deutsche Kolonialismus in China . . . . . . . . . . . 207 Barbara Stambolis Haltgebende Gemeinschaften auf unsicherem Grund. Jüdische Jugendbewegungen im Schatten der Shoah 1945–1948 . . . . . . 223 Barbara Stambolis Jugendhöfe in der Britischen Besatzungszone – Orte zivilgesellschaftlich-demokratischen Lernens

. . . . . . . . . . . . . 241

Werkstatt Aaron Glöggler Selbstverständnis und Selbstdarstellung der vegetarischen Bewegung in Deutschland, 1918–1933. Eine Analyse anhand ausgewählter Zeitschriften und Flugblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Florian Metzger Kolonial und Rechtsradikal. Wilhelm Arning und die Schüler der Deutschen Kolonialschule am Ende der Weimarer Republik . . . . . . . . 267 Max-Ferdinand Zeterberg Pädagogische Diskurse im evangelischen Pfadfinden 1962–1976 . . . . . . 275

Rezensionen Walter Sauer (Hg.): Kunst und Künstler im Umfeld der Jugendbewegung, Bd. 1, Baunach 2022 (Wolfgang Braungart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Inhalt

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Christoph Wagner: Lichtwärts! Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel – die ersten Ökos im Südwesten (1880–1940), Ubstadt-Weiher 2022 (Susanne Rappe-Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Franziska Meier: Ein »bündischer Kulturmarkt« entsteht. Die deutsche Jugendbewegung und Jugendmusikbewegung als Katalysator für den Aufbau von Kulturmarktunternehmen 1918–1933, Stuttgart 2022 (Felix Ruppert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Ulrich Linse: Völkisch – Nationalsozialistisch – Rechtsradikal. Weltanschauung und Lebenswelt einer Jugendbewegten. Eine deutsche Biographie im 20. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin 2022 (Bernd Wedemeyer-Kolwe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Eva Locher: Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Frankfurt a. M. 2021 / Stefan Rindlisbacher: Lebensreform in der Schweiz (1850–1950). Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen, Berlin 2022 (Justus H. Ulbricht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Marcel Glaser: Peter Koller (1907–1996). Stadtplaner in Diktatur und Demokratie. Eine Biografie, Göttingen 2021 (Gudrun Fiedler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Oliver Werner: Wissenschaft »in jedem Gewand«? Von der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung« zur »Akademie für Raumforschung und Landesplanung« 1935 bis 1955, Göttingen 2022 (Hans-Ulrich Thamer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Deutsche Freischar e.V. – Bund der Wandervögel und Pfadfinder (Hg.): »Wir sind wie der Wind der über Landstraßen geht …«. Die Deutsche Freischar in Bremerhaven und umzu, 1945–1970, Berlin 2022 (Sylvia Wehren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Rückblicke Susanne Rappe-Weber Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2022 . . . . . . 317

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Inhalt

Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2022 sowie Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Wissenschaftliche Archivnutzung 2022 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Meike Sophia Baader / Till Kössler / Dirk Schumann

Jugend – Gewalt im 20. Jahrhundert: Erleben, Erörtern, Erinnern. Einführende Überlegungen

Als in den 1950er Jahren die Gewaltausbrüche der »Halbstarken« zuerst in den USA und dann in der Bundesrepublik die Öffentlichkeit beunruhigten, fragte der Erziehungswissenschaftler Heinrich Roth: »Wo war denn diese Aggressivität in der Zeit der alten Erziehung, als die Jugend noch gesittet, gehorsam und überwacht in ihrer vorgeschriebenen Bahn wandelte? War sie überhaupt geringer, oder war sie nur stärker in eine Unterwelt schulischer Geheimbünde, in Wald- und Kneipenzusammenkünfte, in eine Welt der Bubenstreiche, in den Kleinkrieg zwischen Schüler und Lehrer (mehr Feind- als Freundverhältnis) abgedrängt?«1

Offensichtlich zur zweiten Position tendierend verlangte Roth, die »aggressive Seite des Menschen«2 zu akzeptieren. Hergebrachte Disziplinierungsmethoden könnten ihre Kontrolle jedoch nicht mehr gewährleisten. Notwendig sei deshalb einerseits, »der jugendlichen Aggressivität […] ein Ausleben zu geben«, wo dies in harmloser Form geschehe, und sie andererseits dort »rechtzeitig für jugendgemäße Lebensaufgaben einzuspannen«, wo sie auf »Abwege« zu geraten drohe.3 Der Schule maß Roth dabei eine bedeutende Rolle zu, die sie über den Ausbau gemeinschaftlicher Aktivitäten vor allem künstlerischer und sportlicher Art ausfüllen sollte. Demgegenüber wollte er die im Nachkriegsjahrzehnt eher kritisch gesehene »Soldatenspielerei« von Kindern und Jugendlichen nicht unbedingt ablehnen, aber auch nicht nachdrücklich empfehlen.4 Roth bezog hier auf der einen Seite Position gegen aufgeregte Forderungen nach hartem, auch ge-

1 Heinrich Roth: Hat die neue Erziehung versagt? [zuerst 1954], in: ders.: Jugend und Schule zwischen Reform und Restauration, Hannover 1961, S. 156–178, das Zitat S 163. Zum Diskurs über den Umgang mit Jugendgewalt seit der Wilhelminischen Zeit s. Benno Hafeneger: JugendGewalt. Zwischen Erziehung, Kontrolle und Repression. Ein historischer Abriß, Opladen 1994. 2 Roth: Erziehung (Anm. 1), S. 172. 3 Ebd., S. 174. 4 Ebd., S. 174–177, das Zitat S. 174.

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waltsamem Durchgreifen gegen die »Halbstarken«5 und empfahl gut ausgestattete US-amerikanische Schulen als vorbildhaft. Auf der anderen Seite wird man in seiner Stellungnahme auch den Einfluss eigener biographischer Erfahrungen in der Bündischen Jugend und als Heerespsychologe in der NS-Zeit ausmachen können, indem er hier vor allem ein Problem der auf Unerschrockenheit und Durchsetzungsfähigkeit zielenden, im konkreten Fall aber eben auf »Abwege« geratenen Entwicklung männlicher Jugendlicher erkannte.6 Vor 1945 (und nicht erst in der NS-Zeit) galt die jugendliche Beschäftigung mit Militärischem, anders als im ersten Jahrzehnt danach, einer großen Mehrheit der deutschen Gesellschaft und besonders bürgerlichen Schichten als sinnvoll und wünschenswert.7 So rief Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz 1911 den Bund »Jung-Deutschland« ins Leben, der, inspiriert insbesondere durch die auf Erfahrungen im Burenkrieg zurückgehende Gründung der englischen Boy Scouts, vormilitärisches Training in ganz Deutschland organisieren sollte. Goltz unterschied zugleich vermeintlich fördernswerte von abzulehnenden Formen der Gewalt. Ein gefestigter »kriegerischer Geist« sei keineswegs verwerflich, denn er sei eben gerade nicht »zänkisch«, weil er »den Ernst des Kampfes« richtig vorstellbar mache; dagegen brächten die »für wenig kriegerisch geltenden Völker die meisten Messerhelden und Radaubrüder hervor.«8 Vorübungen für den späteren 5 So etwa Adolf Busemann: Verwilderung und Verrohung, in: Unsere Jugend, 1956, Jg. 8, S. 159– 168; Paul Diwo: Die Diktatur der »Halbstarken«, in: Die Pädagogische Provinz, 1956, Jg. 10, S. 314–318. 6 Zur Diskussion über Roths Biographie vor 1945 s. u. a. Andreas Hoffmann-Ocon: Heinrich Roths Weg in das Professorenamt. Eine biographische Rekonstruktion, in: Margret Kraul, Jörg Schlömerkemper (Hg.): Bildungsforschung und Bildungsreform. Heinrich Roth revisited (Die Deutsche Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, 9. Beiheft 2007), S. 31–60; ders.: Heinrich Roth und der Preis der Forschung – Historisierungen, Verundeutlichungen und erziehungswissenschaftliche Erinnerungsgeschichten, in: Erziehungswissenschaft, 2014, Jg. 25, Heft 49, S. 11–26; Micha Brumlik: Vergangenheit, die nicht vergehen will – wie sich die deutsche Erziehungswissenschaft mit den nationalsozialistischen Altvorderen plagt, in: Markus Rieger-Ladich, Anne Rohstock und Karin Amos (Hg.): Erinnern, Umschreiben, Vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis, Weilerswist 2019, S. 277–289; Dieter Hoffmann: Heinrich Roth oder die andere Seite der Pädagogik. Erziehungswissenschaft in der Epoche der Bildungsreform, Weinheim 1995, S. 14– 29, 43–47; etwas holzschnittartig die Argumentation von Benjamin Ortmeyer: Heinrich Roths »realistische Wendung« nach 1933, in: Heinrich Roths Schriften und Artikel in der NS-Zeit. Dokumente 1933–1941, Frankfurt a. M. 2014, S. I–XII. 7 In anderen Ländern wie Frankreich geriet dagegen bereits nach dem Ersten Weltkrieg militärische Erziehung und Bildung umfassender in die Kritik: Mona Siegel: The Moral Disarmament of France. Education, Pacifism, and Patriotism, 1914–1940, Cambridge 2004. 8 [Colmar] Freiherr von der Goltz: Jung-Deutschland. Ein Beitrag zur Frage der Jugendpflege, Berlin 1912, die Zitate S. 43f. Zu diesen und ähnlichen vormilitärischen Aktivitäten im Wilhelminischen Deutschland: Christoph Schubert-Weller: »Kein schönrer Tod …« – die Militarisierung der männlichen Jugend und ihr Einsatz im Ersten Weltkrieg 1890–1918, Weinheim/ München 1998, S. 47–215, zum Jungdeutschlandbund S. 173–193; Derek S. Linton: »Who Has

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Wehrdienst verhinderten in dieser Perspektive also unerwünschte jugendliche Gewalt, die oftmals mit großstädtischen Arbeiterjugendlichen und Kriminalität in Verbindung gebracht wurde.9 Ausdrücklich würdigte Goltz in diesem Zusammenhang die Jugendbewegung in Gestalt des »Wandervogel«, sah dessen körperliche Aktivität in der Natur jedoch als noch zu unbestimmt, um als Grundlage soldatischer Männlichkeit fungieren zu können.10 Der in den Aussagen Roths wie Goltz’ angesprochene Zusammenhang zwischen ›guter‹ und ›böser‹ jugendlicher Aggressivität, zwischen der daraus hervorgehenden positiven Gewalt(bereitschaft) auf der einen und negativ bewerteten Formen von Gewalt auf der anderen Seite verweist auf eine wichtige Dimension der gesellschaftlichen Verhandlung von Gewalt seit dem 19. Jahrhundert. Nach 1900 traten zudem Jugendliche als Opfer von Gewalt vermehrt in das öffentliche Bewusstsein. Die Beziehungen und Verschiebungen zwischen diesen unterschiedlichen Formen von und Sichtweisen auf Gewalt bilden die Leitperspektive des vorliegenden Bandes. Im Zentrum steht also nicht, wie in der bisherigen Forschung, nur eine je spezifische Form von Gewalt, die entweder von Jugendlichen ausgeübt oder von Erwachsenen etwa in Schulen und Fürsorgeheimen diesen zugefügt wurde. Vielmehr werden verschiedene Gewaltentwürfe und Gewaltformen in ihren jeweiligen situativen und argumentativen Kontexten in den Blick genommen. Dies zielt darauf, potentielle Bezüge zwischen ihnen erkennbar werden zu lassen, diskursiver wie praktischer Art. Für im weiteren Sinn politische Gewalt sind solche Zusammenhänge in den einschlägigen Gewaltreflexionen postuliert worden, worauf Meike Sophia Baader in ihrem Beitrag aufmerksam macht: beispielsweise in der Rede von staatlicher Gewalt und Gegengewalt in den 1970er Jahren, in Hannah Arendts Feststellung, dass die jugendliche Gewalt im Kontext von 1968 eine Antwort auf die gewaltvolle Bedrohung durch die Atombombe sei, aber auch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wenn Georges Sorel darauf verweist, dass die revolutionäre Gewalt eine Antwort auf die Macht des Staates sei. Vergleichbare Bezüge lassen sich im vorliegenden Band etwa in den Beiträgen von Giorgio del Vecchio/Christian Jansen und Lieven Wölk zu Gewaltformen in politischen Jugendgruppen finden. Relevant sind freilich auch andere Zusammenhänge, die weniger öffentliche oder der Öffentlichkeit ganz entzogene Formen von erziehungsbezogener Gewalt the Youth, Has the Future«: The Campaign to Save Young Workers in Imperial Germany, New York 1991, S. 139–164. 1911 wurde auch das deutsche Pendant zu den Boy Scouts, der Deutsche Pfadfinderbund, gegründet, der nach anfänglicher Distanz zum Militärischen sich bereits im Gründungsjahr in diese Richtung orientierte und dann dem Jungdeutschlandbund korporativ anschloss. Dazu Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte; 1918– 1933, Göttingen 2014, S. 39–42, 46. 9 Clemens Schultz: Die Halbstarken, Leipzig 1912. 10 Goltz: Jung-Deutschland (Anm. 8), S. 58.

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betreffen und in den Beiträgen des Bandes thematisiert werden. Dies meint etwa verdeckende oder verharmlosende Semantiken von Gewalt und ihre Beförderung des Gebrauchs von Gewalt gegen Jugendliche in räumlich-institutionellen Kontexten. Von Interesse sind auch die situativen Kontexte, in denen die Gewalt(bereitschaft) von Jugendlichen ihrerseits sich ausbildete, die Rolle von Erwachsenen dabei und die jeweiligen Intentionen und eigenständigen Handlungsmöglichkeiten. Angesichts des gegebenen Rahmens und des Forschungsstandes zur jugendbezogenen Gewalt können mit den Beiträgen des Bandes freilich nur erste Impulse für weitere, eine solch komplexe Perspektive einnehmende Studien gegeben werden. Dazu soll auch beitragen, dass mit dem gesamten 20. Jahrhundert ein längerer Zeitraum erfasst und damit die Frage nach langfristigem Wandel in den Blick genommen wird. Aus einer solchen, auf längere zeitliche Entwicklungslinien und Wechselwirkungen gerichteten Perspektive ergeben sich nicht zuletzt Anregungen für die kontroverse Debatte darüber, ob im Verlauf dieses Jahrhunderts eine insgesamt wachsende gesellschaftliche Sensibilität für Gewalt zu verzeichnen war und ihr damit verbundener tatsächlicher Rückgang. Der optimistischen Analyse eines Steven Pinker, der eine zunehmende Ächtung und Zurückdrängung von Gewalt diagnostiziert, steht eine skeptische Position gegenüber, die keinen entsprechenden Rückgang an Gewalt erkennen kann.11 Der berücksichtigte geographische Raum schließlich ist nicht auf Deutschland bzw. die beiden deutschen Staaten der Nachkriegsjahrzehnte beschränkt, so dass potentielle nationale Spezifika des Themas deutlicher hervortreten können.

Gewalt definieren Jegliche Diskussion von Gewalt erfordert eine Definition dessen, was darunter verstanden werden soll, gerade auch, wenn es sowohl um ausgeübte als auch erlittene Gewalt geht. Die Definitionsfrage wird freilich seit langem kontrovers diskutiert. Für die historische Analyse ist es sinnvoll, zwischen einem aus heutiger wissenschaftlicher Perspektive formulierten analytischen, dem Anspruch nach eher überzeitlichen Gewaltbegriff und einem sich im historischen Verlauf wandelnden, in zeitgenössischen Diskursen je unterschiedlich ausgeformten Verständnis von Gewalt zu unterscheiden. Beide weisen ein großes Spektrum auf. In der in ihrer Breite insgesamt mittlerweile kaum noch überschaubaren sozio11 Als wichtiger Anstoß: Steven Pinker: Gewalt: eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Amerikan. von Sebastian Vogel, Frankfurt 2011; kritisch dazu etwa Benjamin Ziemann: Eine »neue Geschichte der Menschheit«? Zur Kritik von Steven Pinkers Deutung der Evolution der Gewalt, in: Mittelweg, 2012, Jg. 36, Nr. 22, S. 45–56.

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logischen Gewaltforschung hat sich ein gewisser Konsens herausgebildet, in physischer Gewalt den Kern eines analytischen Gewaltbegriffs zu sehen.12 Daneben plädieren jedoch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Umfeld der Aufarbeitung erzieherischer und sexualisierter Gewalt in jüngster Zeit für einen »mehrdimensionalen« Gewaltbegriff, der von einem Gewaltkontinuum »physischer, psychischer, struktureller, sozialer, verbaler und symbolischer Gewalt« ausgeht.13 Auch die jeweilige Definition der Zeitgenoss*innen schwankte stark. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts benutzten diese den Begriff der Gewalt vor allem als einen Rechtsbegriff und sprachen in diesem Sinne von »staatlicher Gewalt« oder »elterlicher Gewalt«. Der Begriff wurde aber noch kaum in unserem gegenwärtigen Sinn zur Kennzeichnung körperlicher oder seelischer Übergriffe und Verletzungen gebraucht. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und verstärkt seit den 1970er Jahren gewann dieser neue Begriff von Gewalt gegenüber älteren Begriffen wie demjenigen der »Zucht« an Bedeutung, und mit ihm erfolgte eine immer stärkere Problematisierung auch der körperlichen wie psychischen Folgewirkungen von Gewalterfahrungen.14 Analytische Zugriffe auf Gewalt in ihrer jeweiligen fachbezogenen Ausprägung und die mit ihrer Hilfe untersuchten historischen Gewaltverhältnisse und -verständnisse stehen so

12 Zu den grundlegenden Fragen der Gewaltforschung s. etwa Christian Gudehus, Michaela Christ (Hg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013; Wilhelm Heitmeyer, John Hagan (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002; Louise Edwards, Nigel Penn, Jay Winter (Hg.): The Cambridge History of Violence: Vol. IV: 1800 to the Present, Cambridge 2020; Ferdinand Sutterlüty, Matthias Jung, Andy Reymann (Hg.): Narrative der Gewalt. Interdisziplinäre Analysen, Frankfurt 2019. Jüngere Beiträge zur Gewalt gegen Kinder und Jugendliche: Stefan Grüner, Markus Raasch (Hg.): Zucht und Ordnung. Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive, Berlin 2019. 13 Siehe nur Meike Sophia Baader: History and gender matters. Erziehung – Gewalt – Sexualität in der Moderne in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Claudia Mahs, Barbara Rendtorff, Thomas Viola Rieske (Hg.): Erziehung, Gewalt, Sexualität. Zum Verhältnis von Geschlecht und Gewalt in Erziehung und Bildung, Opladen 2016, S. 13–36, hier S. 26; Sabine Andresen, Marie Demant: Worin liegt die Verantwortung der Erziehungswissenschaft? Ein Diskussionsbeitrag zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der Erziehungswissenschaft, in: Erziehungswissenschaft, 2017, Jg. 28, S. 39–49, hier S. 6f.; Joachim Renn, Jürgen Straub, Gewalt in modernen Gesellschaften. Stichworte zu Entwicklungen und aktuellen Debatten in der sozialwissenschaftlichen Forschung, in: Handlung Kultur Interpretation, 2002, Jg. 11, Heft 2, S. 199–224. 14 Svenja Goltermann: Gewalt und Trauma. Zur Verwandlung psychiatrischen Wissens in Ostund Westdeutschland seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Christine Wolters, Christof Beyer, Brigitte Lohff (Hg.): Abweichung und Normalität. Psychiatrie In Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit, Bielefeld 2013, S. 279–308; Jürgen Straub: Verletzungsverhältnisse: Erlebnisgründe, unbewusste Tradierungen und Gewalt in der sozialen Praxis, in: Zeitschrift für Pädagogik, 2014, Jg. 60, Heft 1, S. 74–95. Stefan Grüner, Kinder und Trauma. Zur wissenschaftlichen Konzeptionalisierung von kindlicher Kriegs- und Gewalterfahrung seit dem 19. Jahrhundert, in: ders., M. Raasch: Zucht (Anm. 12), S. 321–370.

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immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander, ein daraus resultierendes Dilemma lässt sich nicht ganz auflösen. In Hinblick auf das Thema des Bandes ist an erster Stelle das Machtgefälle zu berücksichtigen, dem Jugendliche ausgesetzt waren, wenn sie mit Erwachsenen interagierten und eben nicht aus der Position einer mit gleichen Rechten ausgestatteten Person handelten. Das galt für die Familie, für die Schule und für die Erziehungsheime, vor allem diejenigen geschlossenen Typs, die über den längeren in diesem Band behandelten Zeitraum eine deutlich größere Relevanz besaßen als in der Gegenwart. Wenn solche Institutionen sich in katholischer oder evangelischer Trägerschaft befanden, wurde das Machtgefälle überdies durch die religiös legitimierte Autorität der dort in leitender oder betreuender Funktion tätigen Erwachsenen noch verstärkt. Vielfältige Formen von Zwang verbanden sich nicht nur, aber gerade in den Erziehungsheimen miteinander, und konnten in physische Gewalt – und nicht zuletzt auch die in jüngerer Zeit intensiv in den Blick genommene sexualisierte Gewalt – münden, aber auch unabhängig von ihr psychisch verletzend wirken. Der in den 1970er und 1980er Jahren intensiv diskutierte, in etwas anderen Zusammenhängen angesiedelte Begriff der »strukturellen Gewalt« dürfte zum Verständnis dieser Komplexität nur bedingt tauglich sein, da er primär auf soziale Ungleichheit fokussiert, die gerade angeführten akteursbezogenen Aspekte der psychischen und sexualisierten Gewalt dagegen nur unzureichend aufnimmt.15 Vielmehr müssen die verschiedenen Gewaltformen in ihrer potentiellen Verflochtenheit miteinander erfasst werden. Die von Jugendlichen selbst ausgeübte Gewalt ist dabei nicht zu übersehen. Sie erscheint zunächst als weniger komplexes Verhalten, zumindest in der Interaktion mit anderen Jugendlichen. Wird jedoch die eingangs erwähnte intendierte Einhegung und Lenkung solcher Gewalt durch Erwachsene berücksichtigt, erweist sich eine solche Annahme als nicht zutreffend. Die lange Zeit als notwendig gesehene Erhaltung und Förderung (männlicher) jugendlicher Wehrhaftigkeit zu Zwecken des Staates basierte auf der Erhaltung latenter Gewaltbereitschaft mit ihren körperlichen wie psychischen Elementen und wies somit einen (näher zu bestimmenden) Zusammenhang mit einer auf den ersten Blick eher spielerischen (männlichen) jugendlichen Gewaltausübung auf. Um jugendbezogene Gewalt in ihren historischen Manifestationen zu erfassen, bleibt es daher sinnvoll, aus analytischer Perspektive in deren physischer Ausprägung den Kernbestandteil zu sehen, aber anderen, damit unterschiedlich verbundenen 15 Einführend zur Debatte über den von Johan Galtung geprägten Begriff: Michaela Christ, Christian Gudehus, Gewalt – Begriffe und Forschungsprogramme, in: Gudehus: Gewalt (Anm. 12), S. 1–15, hier S. 2–4; Peter Imbusch: Der Gewaltbegriff, in: Heitmeyer: Handbuch (Anm. 12), S. 26–57, hier S. 39f.; vgl. auch Dirk Schumann: Hoffnung, Skepsis, Ermahnung: Johan Galtung, Violence, Peace, and Peace Research (1969), in: Uffa Jensen u. a. (Hg.): Gewalt und Gesellschaft. Klassiker des modernen Denkens neu gelesen, Göttingen 2011, S. 317–325.

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Formen verletzender wie lenkender Gewalt nicht-physischer Form größeres Gewicht zu verleihen als bei Erwachsenen. Zugleich ist danach zu fragen, was die Zeitgenoss*innen jeweils unter »(Jugend)Gewalt« verstanden und welche Konsequenzen dies jeweils nach sich zog. Meike Sophia Baader geht in ihrem Beitrag auf diese Definitionsproblematik detailliert ein und zeichnet auch Aspekte der Ausweitung des Gewaltbegriffs als Momente gewachsener Gewaltsensibilität in den Wissenschaften nach, zu denen seit den 1970er Jahren auch verstärkt Impulse des Feminismus und der Geschlechterforschung gehören. Christian Sachse legt in seinen Ausführungen dar, inwiefern das Konzept der »strukturellen Gewalt«, ungeachtet seiner problematischen Aspekte, sich als produktiv für die Geschichte der DDR erweisen kann, gerade hinsichtlich verschiedener Facetten der Jugenderziehung.

Handlungsfelder und Entwicklungen Die mit dem Jungdeutschlandbund durch von der Goltz beförderten, teils schon vorher begonnen Lenkungsaktivitäten zur vormilitärischen Ausbildung Jugendlicher erwiesen sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als durchaus zugkräftig, vor allem, aber nicht allein bei Jugendlichen aus bürgerlichen Schichten. In den drei Jahren bis zum Vorabend des Krieges mobilisierte der Jungdeutschlandbund 67.000 Jugendliche in 761 lokalen Einheiten; eine 1910 begonnene vergleichbare Initiative in Bayern zählte dort nun über 10.000 Mitglieder.16 Als 1919 der Versailler Vertrag das vorläufige Ende der Wehrpflicht festschrieb und eine direkte staatliche Förderung solcher Aktivitäten nicht mehr möglich war, kamen sie aber keineswegs zum Erliegen. An erster Stelle waren es Organisationen rechtsnationaler Ausrichtung, aber nicht sie allein, die es sich jetzt zur Aufgabe machten, Jugendliche (und jüngeren erwachsenen Männern) mittels entsprechend zugeschnittener sportlicher Übungen, aber auch durch direktes Schießtraining militärisch einsetzbare Fertigkeiten erwerben zu lassen. Dies galt für große Teile der (bürgerlichen) Jugendbewegung, die sich jetzt als schon vom Erscheinungsbild her militärnähere Bündische Jugend verstand, und für einen wesentlichen Teil der studentischen Verbände.17 Nachdrücklich vorangetrieben wurden sie aber auch von den Jugendorganisationen der neuen »Wehrverbände«, zunächst vom »Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten«, der seine Anhängerschaft über die Kriegsveteranen hinaus erweitern wollte. Vergleichbare 16 Linton: Youth (Anm. 8), S. 157, 153; vgl. Schubert-Weller: Tod (Anm. 8), S. 191. Zusammen mit affiliierten Verbänden erfasste der Bund nahezu eine Dreiviertelmillion Jugendliche. 17 Ahrens: Bündische Jugend (Anm. 8); Sonja Levsen: Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929, Göttingen 2005.

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Aktivitäten, die sich insgesamt seit Ende der 1920er Jahre verstärkten, fanden sich aber auch auf der Linken, zunächst im Kontext von Versuchen zur Fortsetzung der Revolution bei den Kommunisten, und auch, in abgeschwächter Form, beim prorepublikanischen, maßgeblich von Sozialdemokraten getragenen »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«.18 Verstärkend trat am Ende der 1920er Jahre eine Deutung des Weltkriegs hinzu, als dessen gemeinsames Element, ungeachtet aller sonstigen politischen Gegensätze, sich ein Verständnis der Soldaten als heldenhafter Kämpfer und nicht als bloß Leidender herausbildete.19 Während nach 1933 die HJ das vormilitärische Training intensiviert weiterführte, bedeutete das Kriegsende 1945 einen radikalen Bruch, der diesem Element jugendlicher Kriegserziehung vor einem Militärdienst zumindest in Westdeutschland ein Ende setzte, von Bestrebungen auf der extremen Rechten einmal abgesehen.20 Lieven Wölk zeigt in seinem Beitrag, wie in einem grundsätzlich rechtsnational positionierten jüdischen Jugendbund unmittelbare Gewalterfahrungen durch antisemitische Jugendgruppen am Ende der Weimarer Republik dazu führten, die erworbene eigene Wehrhaftigkeit nun als dezidiert der Verteidigung gegen antisemitisch motivierte Angriffe zu verstehen und somit die eigene Handlungsfähigkeit in den Folgejahren bis zu einem gewissen Grad bewahren zu können, dies dann auch in Palästina, wie einzelne Mitglieder in ihren Erinnerungen betonen. In Mischa Honecks Beitrag wird offenbar, welche transnationalen Facetten solcher Handlungsmacht sich in Nachkriegszeiten ergeben konnten: US-amerikanische Leiter von Pfadfinderverbänden bemühten sich im Umkreis des Ersten Weltkriegs auf den Philippinen und nach 1945 in Westdeutschland jugendliches Gewaltpotential abzubauen und dabei zugleich ihre eigenen Gewalterfahrungen zu bewältigen; dabei trafen sie freilich auf den Philippinen auf Jugendliche, die im Interesse antikolonialen Kampfes durchaus an militärähnlichem Training interessiert waren. Dies lässt auch erkennen, dass das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Jugendlichen in auf die Jugend zielenden Verbänden mit größerer Differenziertheit hinsichtlich der jeweiligen 18 Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001; Volker Berghahn: Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten 1918–1935, Düsseldorf 1966; Sebastian Elsbach: Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Republikschutz und politische Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019, v. a. S. 320–328, 514–518. 19 Arndt Weinrich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen 2013. 20 Zur HJ zuletzt André Postert: Die Hitlerjugend. Geschichte einer überforderten Massenorganisation, Göttingen 2020, der freilich auch die Grenzen ihrer Mobilisierungsfähigkeit hervorhebt; zur Entwicklung in Westdeutschland nach 1945 s. etwa Eckart Conze: »Pädagogisierung« als Liberalisierung. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit (1945–1970), in: ders., Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012, S. 67–81; demnächst dazu auch die Dissertation von Frauke Schneemann.

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Handlungsspielräume behandelt werden muss als ihr Pendant in den mehr oder weniger geschlossenen Institutionen. Eine ganz andere Art von Einhegung jugendlichen Gewalt- und anderen Devianzpotentials (und zugleich einen eigenen Ort von Gewalt) stellte die Fürsorgeerziehung dar. Zwar war seit ihrer ›Entdeckung‹ am Ende des 19. Jahrhunderts Jugend als eine Gruppe der Bevölkerung gefasst worden, die besondere Zuwendung verdiente und erforderte. Doch zu verhindernde Gewalt wurde vor allem als Problem männlicher Jugendlicher identifiziert. Weibliche Jugendliche wurden dagegen vor allem durch vermeintliches sexuelles Fehlverhalten auffällig. Allerdings war der disziplinierende Zugriff auf beide Gruppen von als deviant – oder als von Devianz bedroht – eingestuften Jugendlichen im Kern derselbe. Er wurde zudem im Jahr 1900 mit dem preußischen Gesetz »über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger« deutlich erweitert und zielte jetzt nicht mehr nur auf die Disziplinierung nach erwiesenem Fehlverhalten, sondern sollte auch dessen Prävention dienen.21 Wesentliches Instrument dieses umfassenderen Zugriffs war für männliche wie weibliche Jugendliche gleichermaßen das Erziehungsheim, für ›schwere Fälle‹ als geschlossene Einrichtung konzipiert und damit einem Gefängnis nicht unähnlich. Diese Form der Disziplinierung erwies sich bis in die 1970er Jahre hinein als sehr veränderungsresistent, auch über die Grenzen politischer Systeme hinweg.22 Aus der Kombination des, wie bereits angedeutet, extremen Machtgefälles und der mangelnden personellen wie materiellen Ressourcen in solchen »totalen Institutionen«23 erwuchsen verschiedene Formen der Gewalt, physischer und anderer, die zwar weitgehend vor der Öffentlichkeit verborgen blieben, aber in einzelnen Fällen immer wieder Anlass für mediale Skandalisierung boten. Mit deren besonders wirkmächtiger künstlerischer Ver21 Edward Ross Dickinson: ’Until the stubborn will is broken’. Crisis and reform in Prussian reformatory education, 1900–34, in: European History Quarterly, 2002, Jg. 32, S. 161–206, hier S. 161f.; Markus Gräser: Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtsjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik, Göttingen 1995, S. 25f. Die Forschung zur Fürsorgeerziehung hat mittlerweile einen großen Umfang angenommen, wobei sich die meisten Studien auf die Zeit nach 1945 beziehen. Guter Überblick: Wilfried Rudloff: Eindämmung und Persistenz: Gewalt in der westdeutschen Heimerziehung und familiäre Gewalt gegen Kinder, in: Zeithistorische Forschungen, 2018, Jg. 15, S. 250–276; wichtige, auch die Zeit vor 1945 abdeckende Einzelstudie: Matthias Benad, Hans-Walter Schmuhl, Kerstin Stockhecke (Hg.): Endstation Freistatt. Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bis in die 1970er Jahre, Bielefeld 2009; zur Fürsorgeerziehung in der DDR s. die Literaturhinweise in den Beiträgen von Lenski und Sachse in diesem Band; aus jüngster Zeit: Isabel Richter: Jugendwerkhöfe in Thüringen. Sozialistische Umerziehung zwischen Anspruch und Realität, in: Grüner: Zucht (Anm. 12), S. 241–269. 22 Zu den gescheiterten Reformbemühungen des aus der Jugendbewegung kommenden Karl Willker in den 1920er Jahren s. Gräser: Wohlfahrtsstaat (Anm. 21), S. 58–63. 23 Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a. M. 1973 (engl. Originalfassung 1961), S. 13–123.

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arbeitung in Theater und Film in der Weimarer Republik und ihrer Wiederaufnahme in der Bundesrepublik befasst sich der Beitrag von Petra Josting. Katharina Lenski zeigt den umfassenden, bürokratisch verfestigten Charakter des disziplinierenden Zugriffs, der aus der Kategorisierung eines Jugendlichen als deviant in der DDR erwachsen konnte und weist damit auf Kontinuitäten zur ersten Hälfte des 20. Jahrhundert wie auf Parallelen zwischen den konträren politischen Systemen in Ost- und Westdeutschland hin. In den USA und Kanada wird gegenwärtig in vergleichbarer Art und Weise die Gewalt gegen indigene Jugendliche in den sogenannten Indian Boarding Schools erforscht, in denen auch mithilfe massiver Disziplinierungsmaßnahmen »Wilde« zivilisiert werden sollten. Gewalt bestand hier einerseits in körperlichen Übergriffen, deren erschreckendes Ausmaß erst allmählich sichtbar wird. Andererseits, so lässt sich argumentieren, bestand Gewalt aber auch in der Unterdrückung der Herkunftsidentität und insbesondere der Sprache sowie der radikalen Separierung von Familien und Herkunftsmilieu.24 Erst in jüngerer Zeit hat mit sexualisierter Gewalt eine Gewaltform öffentliche Beachtung gefunden, die ebenfalls unter anderem Erziehungseinrichtungen zuzuschreiben ist, allerdings auch solchen, die nicht den Zwangscharakter der Fürsorgeheime besitzen, als Internate aber gleichfalls von der Öffentlichkeit bis zu einem gewissen Grad abgeschottet sind. Den prominentesten Fall im deutschsprachigen Raum stellt die Odenwaldschule dar, die den Skandal als Institution schließlich nicht überstand.25 Besondere Aufmerksamkeit gilt gegenwärtig zahlreichen Fällen solcher Gewalt in kirchlichen Kontexten, vor allem solchen im Katholizismus.26 Auch wenn hier der Zwangscharakter der Fürsorgeheime fehlte, bestand doch ein deutliches Machtgefälle, das die – zumeist männlichen – Täter unabhängig von ihren sehr unterschiedlichen politischweltanschaulichen Positionierungen geschickt und skrupellos einzusetzen wussten. Die situativen Bedingungen und die aus der Lebensphase Jugend resultie24 Siehe nur John R. Gram: Acting Out Assimilation: Playing Indian and Becoming American in the Federal Indian Boarding Schools, in: American Indian Quarterly, 2016, Jg. 40, S. 251–273. 25 Jens Brachmann: Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Praxis der Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt, Bad Heilbrunn 2019; Heiner Keupp u. a.: Die Odenwaldschule als Leuchtturm der Reformpädagogik und als Ort sexualisierter Gewalt. Eine sozialpsychologische Perspektive. Wiesbaden 2019. Vgl. auch die Beiträge von Heinemann, Lieske, Matter und Mayer in: Grüner: Zucht (Anm. 12). 26 Peter Mosser, Gerhard Hackenschmied, Heiner Keupp: Strukturelle und institutionelle Einfallstore in katholischen Einrichtungen: Eine reflexive Betrachtung von Aufarbeitung sexueller Gewalt in katholischen Klosterinternaten, in: Zeitschrift für Pädagogik, 2016, Jg. 62, S. 656–669; Martin Wazlawik: Sexualisierte Gewalt und die katholische Kirche in Deutschland – Diskurse, Reaktionen und Perspektiven, in: ders., Karin Böllert (Hg.): Sexualisierte Gewalt. Institutionelle und professionelle Herausforderungen, Wiesbaden 2014, S. 45–58. Vgl. auch schon Tom O’Donoghue: Child-abuse scandals and the Catholic Church: Are we asking the right historical questions?, in: History of Education Review, 2003, Jg. 32, S. 1–15.

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rende psychische Lage als die Gewalt begünstigende Faktoren gewinnen hier ein besonders klares Profil. Warum die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für diese Form der Gewalt zwar schon länger bestand, aber noch keine große gewaltdämpfende Wirkung entfaltete, erörtert Jens Elberfeld in seinem Beitrag. Darin zeigt er, dass sich die Perspektive in solchen bekanntgewordenen Fällen bis ins letzte Drittel des vergangenen Jahrhunderts vor allem auf die Wahrung moralischer Maßstäbe richtete, nicht jedoch auf die Befindlichkeit der Opfer, bedingt vor allem auch durch einen damals (noch) eng gefassten Gewaltbegriff. Schulen, vor allem solche in öffentlicher Trägerschaft, die ihre Schüler*innen wieder nach Hause entließen, boten ein wieder etwas anderes Terrain, in dem sich Gewalt entfalten, aber auch etwas leichter problematisiert werden konnte als in von der Öffentlichkeit abgeschotteten Räumen. Erste Schritte zur Einhegung strafender Lehrergewalt erfolgten mit einem Vorlauf im 19. Jahrhundert schon in den 1920er Jahren, aber erst in den 1970er Jahren geschah dies in dauerhafter Form. Bis dahin sorgte das »besondere Gewaltverhältnis« für die Einschränkung von Grundrechten der Schüler*innen und einer Ausweitung der Handlungsspielräume der Lehrpersonen, zu denen ein gewisses Maß an Gewalt gehören durfte.27 Wie sich dieser Prozess gestaltete, verfolgt Sarina Hoff in ihrem Beitrag und weist dabei der Diskussion um die Frage von »Autorität« und eine wachsende Sensibilisierung im Gefolge der öffentlichen Diskussion um die NS-Verbrechen besonderes Gewicht zu. Schülergewalt ihrerseits erfuhr in Westdeutschland erst zu diesem späten Zeitpunkt (anders als etwa in den USA) eine intensive und von neuerlichen Ängsten getriebene Beachtung, ohne dass dies aber zu neuerlichen Verschärfungen des disziplinierenden Zugriffs geführt hätte; stattdessen war jetzt ein Spektrum von Formen intensiverer Zuwendung zu den Schüler*innen und besserer Gestaltung des schulischen Raumes angesagt, die zugleich mit einer Ausweitung des Gewaltverständnisses – und von Gewaltprävention – einherging, das nun etwa auch Formen psychischer Gewalt wie Mobbing umfasste.28 Das vor27 Sarina Hoff: Vom Ende der »Prügelpädagogen«. Der Weg zur Ächtung von körperlichen Schulstrafen in Hessen und Rheinland-Pfalz 1945–1974, in: Grüner: Zucht (Anm. 12), S. 169– 191; Dirk Schumann: Legislation and Liberalisation. The Debate About Corporal Punishment in Schools in Postwar West Germany, 1945–1975, in: German History, 2007, Jg. 25, S. 192–218; allgemein zur Diskussion über Autorität in der Schule nach 1945: Sonja Levsen: Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975, Göttingen 2019. 28 Till Kössler: Jenseits von Brutalisierung oder Zivilisierung. Schule und Gewalt in der Bundesrepublik (1970–2000), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2018, Jg. 15, S. 222–249; Dirk Schumann: School Violence and Its Control in Germany and the United States Since the 1950s, in: Wilhelm Heitmeyer u. a. (Hg.), Control of Violence: Historical and International Perspectives on Violence in Modern Societies, New York/Heidelberg 2010, S. 233–259.

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malige klare Autoritätsgefälle bestand jetzt so nicht mehr, die Handlungsspielräume der Schüler*innen wuchsen. Welche Belastungen und spezifischen Gewaltformen damit auch verbunden sein konnten, zeigt der Beitrag von Georgio DelVecchio und Christian Jansen zu entsprechenden Entwicklungen in Italien in den 1960er und 1970er Jahren. Hier etablierte sich im Kontext der scharfen, mit auch tödlicher Gewalt verbundenen politischen Polarisierung im Land ein Muster routinisierter Gewalt an Schulen, bei dem Angehörige rechts- und linksradikaler Gruppen unter Einsatz begrenzter physischer Gewalt, aber auch mit Demütigungsritualen Terrain zu beherrschen suchten, ohne dass die Schulautoritäten in der Lage waren, dem Einhalt zu gebieten. Seit Ende der 1970er Jahren erfolgte schließlich in Westdeutschland eine neue Thematisierung von Jugendgewalt in Bezug auf neue Jugendsubkulturen wie die Skinheads und Hooligans im Umfeld von Fußballfankulturen. Die Frage nach den Ursachen dieser als neuartig wahrgenommenen Gewalt beschäftigte eine pädagogische Fachöffentlichkeit ebenso wie die Massenmedien, zumal sie sich vielfach mit rechtsextremen Orientierungen verband. In diesem Kontext wurde dann in den 1990er Jahren der Konnex von Schule, Familie, Rechtsextremismus und auch die Bedeutung von Jugendarbeit verstärkt in den Blick genommen.29 Parallel erlebte die Figur des gewaltbereiten migrantischen Jugendlichen als vermeintliche »Zeitbomben in den Vorstädten« in den Medien und Sozialwissenschaften eine beachtliche und problematische Verbreitung.30 Die Bundesregierung hielt diese Phänomene und Fragen für so dringlich, dass sie 1987 eine »Gewaltkommission« mit der detaillierten Erforschung auch von Jugendgewalt beauftragte.31 Nach 1990 gewann dann Jugendgewalt im Zuge einer Welle rechtsextremer und rassistischen Übergriffe auf Geflüchtete und Minderheiten 29 Exemplarisch für viele Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Das Gewalt-Dilemma, Frankfurt a. M. 1994; Christel Hopf, Peter Rieker, Martina Sanden-Marcus, Christiane Schmidt: Familie und Rechtsextremismus. Familiale Sozialisation und rechtsextreme Orientierung junger Männer, Weinheim/München 1995; Wilfried Schubart, Wolfgang Melzer (Hg.): Schule, Gewalt und Rechtsextremismus, Wiesbaden 1995. 30 Bernd Dollinger u. a.: Von Spitzeln, Zeitbomben und der sozialen Feuerwehr. Die Analyse von Interdiskursen und Kollektivsymbolen am Beispiel von Jugendkriminalität in den 1970er und 1980er Jahren, in: Susann Fegter u. a. (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Diskursforschung. Empirische Analysen zu Bildungs- und Erziehungsverhältnissen, Wiesbaden 2015, S. 283– 299. Zitat: Uwe Klußmann, Milena Pieper: Zeitbomben in den Vorstädten, in: Der Spiegel, 1997, Heft 16, verfügbar unter https://www.spiegel.de/politik/zeitbomben-in-den-vorstaed ten-a-899243ba-0002-0001-0000-000008694129?context=issue – [16. 06. 2023]. 31 Michael Kohlstruck: Maskuline Jugendszenen und fremdenfeindliche Gewalt in den 1980erund fru¨ hen 1990er-Jahren in Ost und West, in: Till Kössler, Janosch Steuwer (Hg.): Brandspuren. Das vereinte Deutschland und die rechte Gewalt der frühen 1990er-Jahre, Bonn 2023, S. 94–114; Roland Eckert, Anette Schumacher, Helmut Willems: Im Schatten der Geschichte. Die (vergessene) »Gewaltkommission« der Bundesregierung (1987–1990), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2018, Jg. 15, S. 369–382.

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für einige Jahre eine hohe Aufmerksamkeit und ebnete zugleich einer neuen sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung den Weg.32

Fazit Diese Formen jugendlicher Aggressivität in und jenseits der Schule waren zweifellos nicht die, die sich der eingangs zitierte Heinrich Roth vorgestellt hatte. Das italienische Fallbeispiel deutet darauf hin, dass es auch im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts keine einfache zu fassende Entwicklung der Jugendgewalt gab und die Abschwächung und Transformation strafender Zugriffe nicht mit einem linearen Rückgang der von Jugendlichen ausgeübten Gewalt einherging. Zugleich blieb sexualisierte Gewalt eine noch für einige Zeit unbeachtete Form der Gewalt gegen Jugendliche, die auch nicht nur Schulformen, sondern ebenso Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe betraf. Die Beiträge des Bandes helfen dabei, den Verlaufsmustern und Entwicklungen der Gewalt von und gegen Jugendliche, ihren zeitgenössischen Deutungen und deren Folgen schärfere Konturen zu verleihen, ohne dass sie alle potentiell relevanten Felder behandeln können, etwa das weiterhin schwierig zu fassende Thema der Gewalt in der Familie. Sie lassen aber in je verschiedener Weise erkennen, dass jugendbezogene Gewalt nur dann angemessen verstanden werden kann, als Erfahrung wie auch in ihrer diskursiven Verarbeitung, wenn sie in den größeren gesellschaftlichen Kontext gestellt wird, sei es in der Frage von Wehrhaftigkeit wie in der moralisch angemessenen Verhaltens oder der von Generationen- und Geschlechterverhältnissen. Zugleich wird erkennbar, dass es zwar über das 20. Jahrhundert hinweg grundsätzlich eine Tendenz zu erhöhter Sensibilisierung für und zur negativen Bewertung von Gewalt gab, abgeschottete Räume mit starkem Autoritätsgefälle dabei aber eine bemerkenswerte systemübergreifende Veränderungsresistenz aufwiesen. Bezüge zwischen beiden genauer herauszuarbeiten, wird eine Aufgabe künftiger Forschung sein. Sie wird sich auch eingehender mit der Frage beschäftigen müssen, welche Rolle dem Geschlechterverhältnis in der Erfahrung von und dem Diskurs über jugendbezogene und zunächst einmal als männliche gefasste Gewalt zukam. Wie stark vergeschlechtlichte Sichtweisen in die Beschreibung der gewaltbezogenen Phänomene und Konstellationen jeweils eingeschrieben waren und sind, auch das zeigt sich am eingangs aufgeführten Zitat von Heinrich Roth. Die Beiträge des Bandes sind aus der Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung 2022 hervorgegangen. Allen, die daran mitgewirkt haben, gilt 32 Janosch Steuwer, Till Kössler: Gewalttaten, Gewaltdeutungen. Historische Perspektiven auf die rechte Gewalt der frühen 1990er-Jahre, in: dies., Brandspuren (Anm. 31), S. 36–60.

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der besondere Dank der Herausgeber*innen, den Referent*innen (auch denjenigen, die ihre Beiträge leider nicht verschriftlichen konnten), den Diskussionsteilnehmer*innen und nicht zuletzt Susanne Rappe-Weber für die Organisation der Tagung und die sorgfältige Endredaktion des Bandmanuskripts.

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(Sexualisierte) Gewalt und Generationenverhältnisse im Diskurs der Wissenschaften. Konjunkturen von Wissen und Wahrnehmungen im 20. und 21. Jahrhundert

Einleitung Der Beitrag zielt darauf, einen Überblick über wissenschaftliche Diskurse zu Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert und deren Wandel zu geben und damit den intellektuellen Kontext zu erhellen, in den die Aufsätze des Bandes zum Verhältnis von Jugend und Gewalt zu platzieren sind. Er konzentriert sich auf theoretische Texte, die sich mit dem Verständnis und der Rolle von Gewalt in Geschichte und Gesellschaft befassen und eine gewisse, auch transnationale, Bedeutung erlangt haben, so dass in der weiteren theoretischen Reflektion von Gewalt auf sie verwiesen wird. Neben der Analyse des Gewaltverständnisses wird nach der Thematisierung von Generationenverhältnissen sowie von Kindheit und Jugend in diesen Texten gefragt. Von Interesse sind somit die Bezüge zwischen Gewaltreflektion und Generationenverhältnissen. Es werden also Schlaglichter auf die jeweiligen theoretischen Perspektivierungen von Gewalt seit dem 20. Jahrhundert geworfen und deren Konjunkturen in den Blick genommen. Der nachgezeichnete Wandel in der Reflektion spiegelt zugleich Veränderungen in der Wahrnehmung von Gewalt, die wiederum eng mit Wissensformen verbunden sind. Ausgespart bleibt dagegen die Geschichte der Gewaltforschung im engeren Sinne. Ein besonderer Akzent liegt zudem auf Fragen der sexualisierten Gewalt. Deren öffentliche Thematisierung seit 2010 hat zu einer intensivierten Erforschung von Sexualität und Gewaltgeschichte, vor allem unter dem Aspekt des Kindesmissbrauchs, geführt. In diesem Kontext wurde auch die Gewaltblindheit der wissenschaftlichen Legitimation von Pädosexualität in den 1970er/1980er Jahren in der Bundesrepublik fokussiert, die der Beitrag ebenfalls diskutiert. Insgesamt folgt der Aufsatz einer wissenschafts- und wissensgeschichtlichen Perspektive und bleibt durch seinen Überblickscharakter notwendigerweise lückenhaft. Zum einen wird gezeigt, dass Gewalt ein äußerst fluides Phänomen und nicht leicht zu definieren ist, zum anderen wird die These verfolgt, dass seit den 1960er und dann intensiviert seit den 1970er Jahren die Sensibilität gegenüber unterschiedlichen Formen der Gewalt in der Wissenschaft zunimmt. Dies hängt

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mit einem engen Verhältnis von Wissenschaft und sozialen Bewegungen, mit dem (kritischen) Selbstverständnis insbesondere der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren, aber auch damit zusammen, dass seit den 1990er Jahren der Körper zunehmend in den Fokus dieser Wissenschaften geriet, was auch als »body turn« beschrieben wurde. Insbesondere die Soziologie, die dabei jedoch häufig gewaltvergessen ist, aber auch die Geschichts- und die Erziehungswissenschaft setzen sich in den letzten Jahrzehnten intensiviert mit dem Körper auseinander.1 Wesentliche Impulse dafür kommen auch aus der Geschlechterforschung. Dass die neuere Gewaltforschung dafür plädiert, die körperliche Gewalt und das damit verbundene Leid ernst zu nehmen, unterstreicht auch Jan Philipp Reemtsma in seiner Studie »Vertrauen und Gewalt« aus dem Jahre 2008.2 Über die körperliche Gewalt hinausgehend sind jedoch gerade in den letzten Jahrzehnten weitere Gewaltformen fokussiert worden. Zusätzlich zur grundsätzlichen Schwierigkeit der Definition von Gewalt, die nicht nur mit der Fluidität, sondern auch mit der Abgrenzung zu Zwang, Herrschaft und Macht verbunden ist,3 stellt die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Formen ein Problem der Forschung zu Gewalt dar. Dabei, so eine hier verfolgte These, arbeiten sich jedoch alle Formen – implizit oder explizit – weiterhin am zentralen Stellenwert von körperlicher Gewalt ab. Diese bildet nach wie vor eine wichtige Referenz, auch für das Verständnis oder die Definitionsversuche anderer Gewaltformen, wie im Rahmen des Beitrags anhand der symbolischen und der verbalen Gewalt deutlich wird. Zudem folgt die Aufmerksamkeit für Gewalt Konjunkturen, die unterschiedlich bedingt sind und durchaus auch im Wechselspiel zwischen politischer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit stehen. Diese Wellen sind insbesondere von einschneidenden (diskursiven) Ereignissen, aber auch vom Selbstverständnis der Wissenschaften bestimmt. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Gewalt allerdings kein zentrales Thema der Wissenschaften, wie im ersten Abschnitt 1 Exemplarisch für viele: Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987; Robert Gugutzer, Gabriele Klein, Michael Meuser (Hg.): Handbuch Körpersoziologie, Wiesbaden 2017; Britta Hoffarth: Profane Praktiken. Zur Intersektionalität dekorativer Körpertechniken, Frankfurt a. M. 2021; Paula-Irene Villa: Feministische Theorie, in: Robert Gugutzer, Gabriele Klein, Michael Meuser (Hg.): Handbuch Körpersoziologie, Wiesbaden 2017, S. 205–221; Imke Schmincke: Körpersoziologie, Paderborn 2021. Sylvia Wehren: Erziehung – Körper – Entkörperung. Forschungen zur pädagogischen Theorieentwicklung, Bad Heilbrunn 2020. Es fällt auf, dass in der boomenden Körpersoziologie Gewalt häufig kein Thema ist. 2 Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008. 3 In dem von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebenen Historischen Lexikon »Geschichtliche Grundbegriffe« gibt es keinen isolierten Eintrag zu Gewalt, sondern zu »Gewaltenteilung« vgl. Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 923–959 sowie zu »Macht, Gewalt« in Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 817–935.

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ausgeführt wird. Stärker in den Fokus geriet das Thema erst seit den 1970er Jahren, so dass seitdem von einer Verwissenschaftlichung von Gewalt gesprochen werden kann.

Theoretische Reflektionen von Gewalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Sorel, Benjamin, Plessner Eine der grundlegenden Schriften zur politischen Gewalt, »Über die Gewalt«, die immer wieder eine zentrale Referenz für einschlägige Texte zur Gewalt darstellt, etwa in der Beschäftigung der politischen Theoretikerin Hannah Arendt mit »Macht und Gewalt« (1970), wurde 1906 von dem Sozialphilosophen Georges Sorel verfasst. Sein Beitrag, der zunächst in mehreren Aufsätzen in der Theoriezeitschrift »Le mouvement socialiste« erschien, stellte eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus und der Arbeiterbewegung sowie deren Potential zur Erneuerung der Gesellschaft dar.4 Dabei geht es wesentlich um die Legitimität »proletarischer Gewalt« und um eine »durch die Idee des Generalstreikes erleuchtete Gewalt«.5 Einige Jahre später wandte sich Sorel vom Sozialismus ab und wurde Anhänger der rechten und antisemitischen Action Française. Seine Schrift wurde im Anschluss daran eine der Inspirationsquellen für Benito Mussolini sowie für Carl Schmitt. Gewalt war für Sorel Ausdruck eines »ernsten, furchtbaren und erhabenen Werks« und ein Ausweg aus der bürgerlichen Dekadenz, ihn interessierte »die Ordnung der Gewalt, die in der Geschichte eine sehr bedeutsame Rolle spielt« sowie ihre Kraft zur Zerstörung der Macht des Bürgertums.6 Dabei unterschied er zwischen etablierter Macht und revolutionärer Gewalt. Auf Sorel bezog sich einige Jahrzehnte später auch Walter Benjamin in seiner Schrift »Zur Kritik der Gewalt« aus dem Jahre 1921,7 drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Benjamin, der bekanntlich eine jugendbewegte Phase in seiner Biographie hatte, interessierte sich für die Gewalt als »reine, unmittelbare« Form. Dazu gehört auch die Frage nach ihrer Faszination, die er anhand der »heimlichen Bewunderung des Volkes« gegenüber der Figur des »›großen‹ Verbrechers« diskutiert, auch wenn die Zwecke »abstoßend« seien.8 Zudem interessiert ihn die »reine Gewalt« etwa in Form der »revolutionären Gewalt«. Die »Durchbrechung« des Ablaufs von Gewalt und Gegengewalt würde in der Ge4 5 6 7

Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 2017. Georges Sorel: Über die Gewalt. Nachwort von George Lichtheim, Frankfurt a. M. 1969, S. 306. Sorel: Gewalt (Anm. 5), S. 341, 204, 203. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in: Walter Benjamin: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a. M. 1966, S. 42–66. 8 Ebd., S. 46.

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schichte ein »neues geschichtliches Zeitalter« begründen.9 Diese utopische und messianische Figur wird in den späteren geschichtsphilosophischen Abhandlungen Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« (1940) erneut zum Thema.10 Benjamin greift von Sorel die Unterscheidung zwischen einem einfachen Streik als Recht der Arbeiter einerseits und der Idee des Generalstreikes als Revolution andererseits auf und verortet die Frage nach der Gewalt grundsätzlich im Spannungsfeld zwischen »Recht und Gerechtigkeit«. Damit wirft er das Problem auf, ob Gewalt ein legitimes Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit sei und differenziert grundlegend zwischen Gewalt als Mittel und als Zweck. In seinen Ausführungen zur »Militärgewalt« unterstreicht er etwa, dass Militarismus den »Zwang« »zur allgemeinen Anwendung von Gewalt als Mittel zu Zwecken des Staates« darstelle.11 Beim popularisierten Sozialdarwinismus hingegen identifiziert er einen Rückgriff auf Naturrecht zur Legitimation der Rechtmäßigkeit von Gewalt zu »natürlichen Zwecken«.12 Diesem Rückgriff auf die Legitimation von Gewalt durch das Naturrecht würden aber auch viele (unkritische) Ansätze der Rechtsphilosophie folgen, der Schritt zur »darwinistischen Popularphilosophie« sei dann nicht weit. Benjamin greift zudem die Frage nach der »göttlichen Gewalt« auf, die er außerhalb des Rechts verortet und die sich auch im gegenwärtigen Leben manifestiere. Diese beschreibt er als »erzieherische Gewalt«, die sich im »unblutigen, schlagenden und entsühnenden Vollzug« zeige.13 Bezeichnet er hier die Ausübung göttlicher Gewalt als erzieherische, kritisiert Benjamin an anderer Stelle Gewaltanwendung in konkreten erzieherischen Verhältnissen und in der generationalen Ordnung, so dass er ein früher Kritiker von körperlicher Gewalt als Mittel der Erziehung ist. In einem Text aus dem Jahre 1928, in dem er auch die »fürchterlichste« Gewalterfahrung durch die Technik im Ersten Weltkrieg beschreibt, nimmt er den Generationenbegriff Karl Mannheims auf und fasst ihn pädagogisch, wenn er fragt: »Wer aber möchte einem Prügelmeister trauen, der Beherrschung der Kinder durch die Erwachsenen für den Sinn der Erziehung erklären würde? Ist nicht Erziehung vor allem die unerlässliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und also, wenn man will, Beherrschung des Generationenverhältnisses und nicht der Kinder?«.14 Auf die Begrenzung von »Gewalttätigkeit« in der Erziehung durch das Recht, welches die

9 Ebd., S. 65, 66. 10 Klaus Große Kracht: Georges Sorel und der Mythos der Gewalt, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online Ausgabe, 2008, Nr. 5, Heft 1. 11 Benjamin: Kritik (Anm. 7), S. 49. 12 Ebd., S. 43. 13 Ebd., S. 63. 14 Walter Benjamin: Einbahnstraße, Frankfurt a. M. 1972, S. 125.

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»erzieherische Strafbefugnis« begrenze, verweist er auch in seiner Schrift »Zur Kritik der Gewalt«.15 Ebenfalls einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und angesichts der Novemberrevolution von 1918 setzte sich Helmuth Plessner im Jahre 1924 in einem Text mit dem Titel »Die Utopie der Gewaltlosigkeit und die Pflicht zur Macht« mit dem Gewaltkomplex auseinander.16 Der Text ist Teil einer 1924 unter dem Titel »Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus« veröffentlichten Schrift Plessners. Plessner, dem Max Scheler 1925 eine Nähe zur Jugendbewegung als Ausgangspunkt der Schrift attestierte,17 setzte sich darin zum einen mit Fragen der Revolution und des Marxismus auseinander und zum anderen mit dem radikalen Pazifismus, beides Themen, die auch von Benjamin diskutiert wurden. Im Zentrum von Plessners Überlegungen steht jedoch die Kritik am Gemeinschaftsgedanken und der Versuch – gegen Ferdinand Tönnis’ (1912) Hypostasierung der Gemeinschaft – die Idee der Gesellschaft zu verteidigen. Den Kult um die Gemeinschaftsidee sieht Plessner vor allem in der Jugendbewegung und den »vorwärtsdrängenden Kräften der Jugend«, die mit dem »Gemeinschaftsgedanken« sympathisieren.18 Davon ausgehend formuliert der in der Schrift enthaltene Text »Zwischen Herrenmoral und Gemeinschaftsmoral« eine Kritik an der Jugendbewegung und ihrer Gemeinschaftsorientierung, die sich sowohl von Marx als von Nietzsche her speise, was in dieser Widersprüchlichkeit nur der Jugend gelinge.19 Plessner bringt die Jugend mit Radikalität in Verbindung und mit dem »Kampfruf gegen die Ordnungen der Gesellschaft«, der sich gegen die Generation der Väter richte. Eine Bewegung, so Plessner ironisch gegenüber der Jugendbewegung, brauche Ideen, denn »der Wald allein tut es nicht«. Die Idee der Jugendbewegung, so stellt Plessner heraus, sei , »empor zur Gemeinschaft.«20 In seiner »Kritik an der Utopie der Gewaltlosigkeit« und seiner Verteidigung der Gesellschaft verortet er das Konzept der Gewalt bemerkenswerterweise in der Gesellschaft. Gesellschaft ist für ihn ein Verkehr der Vielen, die sich durch Distanz, Rohheit, Kälte und Gewalt auszeichnet und durch Formen 15 Benjamin: Kritik (Anm. 7), S. 45. 16 Zur politischen Gewalt in der Weimarer Republik grundlegend: Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik, 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. Zu Helmuth Plessner und zu den historischen Kontexten der Grenzen der Gemeinschaft, vgl. Carola Dietze: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892– 1985, Göttingen 32018, insbesondere Kap. 2.2. 17 Joachim Fischer: Nachwort, in: Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a. M. 2002, S. 135–142. Plessner engagierte sich während seiner Studienzeit in der Freistudentenschaft und gehörte zumindest kurzzeitig der Freideutschen Jugend an: siehe Dietze (Anm. 16), S. 29–41. 18 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a. M. 2002, S. 12. 19 Ebd., S. 36. 20 Ebd., S. 35.

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des Spiels, der Rolle, der Maske auf dem »Kampfplatz der Öffentlichkeit« beherrscht wird.21 Plessner unterstreicht die Unausweichlichkeit von Gewalt, deren Notwendigkeit und »Bejahung« als Mittel der Führung, in diesem Zusammenhang spricht er von »Initiativgewalt«.22 Gewalt erscheint ihm sowohl als Ausdruck von Kreativität und schöpferischer Kraft im Geist als auch der Distanzierung von der »Freundschaftsseligkeit« der Jugendbewegung, der die »Kälte in den Beziehungen von Mensch zu Mensch« unverständlich sei.23 Gewalt sei wesentlich ein Medium der Distanzherstellung gegenüber zu großer Nähe. »Wie dann, wenn die Psyche Gewaltmittel als Schutzmittel der Distanz und Verhaltenheit, Vornehmheit und Künstlichkeit zu ihrer Entwicklung braucht, weil sie durch allzu große Nähe, durch restlose Aufrichtigkeit und Unverhülltheit leidet und Schaden nimmt?« Sie ist »Ausdruck des Mehrdeutigen, damit es seine schöpferische Kraft im Geist behält, die Gewalt in irgendeinem Sinne bejaht«.24 Gewalt ist damit bei Plessner ein verteidigtes Moment von Distanz und der »Verhaltenslehren der Kälte«.25 Zeitdiagnostisch prognostiziert er jedoch eine wachsende Gewaltsensibilität vor dem Hintergrund der Moralisierung von Gesellschaft: »Mit der Entwicklung seines Verantwortlichkeitsgefühls wird dem Menschen die Unausweichlichkeit der Gewalt im sozialen Leben zum Problem«.26

Theoretische Reflektionen von Gewalt seit den 1960er Jahren: Fanon, Arendt, Popitz Wurden Fragen der Legitimität von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere durch die Auseinandersetzung mit der Arbeiterbewegung und dem Marxismus sowie durch die Gewaltkritik nach dem Ersten Weltkrieg aufgeworfen und wurde der Topos der Radikalität der Jugend in den analysierten Texten im Zusammenhang mit der Kritik an der Jugendbewegung entwickelt, so wurde die Frage nach der Legitimität von politischer Gewalt zu Beginn der 1960er Jahre prominent insbesondere im Kontext der antikolonialen Revolution gestellt. Die Dekolonisation, so Frantz Fanon in seiner Schrift »Die Verdammten dieser Erde« aus dem Jahre 1961, lasse durch alle Poren »glühende Kugeln und nackte Messer ahnen«, sie könne »nur siegen, wenn man alle Mittel, die Gewalt natürlich ein-

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Ebd., S. 82. Ebd., S. 116. Ebd., S. 35. Ebd., S. 132. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994, beinhaltet unter anderem eine Auseinandersetzung mit Plessners Anthropologie. 26 Plessner: Grenzen (Anm. 17), S. 131.

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geschlossen, in die Waagschale wirft«.27 Begründet wird die Gewalt der Kolonisierten als politische Praxis und als Antwort auf die erfahrene Gewalt. »Der kolonisierte Mensch befreit sich in der Gewalt und durch sie.«28 Fragt man nach der Thematisierung von Generationenverhältnissen in Fanons Schrift, dann fällt ein theatralischer Dialog zwischen der »Mutter« und dem »Rebell« auf. Der Rebell will eine hellere Zukunft für seinen eigenen Sohn, weshalb er sich im revolutionären Kampf engagiert, während die Mutter Angst vor dem Tod ihres Sohnes, des Rebellen, hat, von dem sie erträumt hatte, dass »der seiner Mutter die Augen schließt«. Gegen ihre Angst vor seinem Tod setzt der jugendliche Sohn einen heroischen »lebenskräftigen und prächtigen Tod«.29 Das letzte Kapitel trägt den Titel »Kolonialkrieg und psychische Störungen«. In diesem Kontext finden sich Falldarstellungen von Schwangerschaften durch Vergewaltigung sowie von Folterungen von Frauen und Kindern durch die Kolonialherren, von Morden an europäischen Jugendlichen durch 13 und 14 Jahre alte algerische Kinder, vom suizidalen Verhalten eines 22-jährigen ehemalig begeisterten Pfadfinders, »einer der wichtigen Führer der Moslem-Pfadfinder«.30 Der aus Martinique stammende Arzt und Psychiater Fanon war sowohl in Psychiatrien Frankreichs als auch Algeriens tätig, dort behandelte er auch Widerstandskämpfer. An Fanons Falldarstellung der vergewaltigten Ehefrau fällt die Perspektive der Identifikation auf, in der erzählt wird: Thematisiert wird nicht das Leid der vergewaltigten Frau, sondern das des Ehemanns, der auf die Vergewaltigung der Frau mit Impotenz reagiert habe und sich vor die Herausforderung der Akzeptanz des Kindes gestellt sieht.31 Fanons Schrift sowie das Vorwort von Jean-Paul Sartre greift Hannah Arendt in ihrem einschlägigen und umfangreichen Essay »Über Macht und Gewalt« aus dem Jahre 1969 (engl.) bzw. 1970 (dt.) auf. Eingangs bemerkt sie, dass trotz der Kriege und Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die Themen Macht und Gewalt merkwürdig wenig reflektiert seien. Auch in der einschlägigen »Encyclopedia of the Social Sciences« werde »violence« nicht erwähnt. Die reiche Literatur zum Krieg würde sich nicht mit der »Gewalt als solcher« auseinandersetzen, die Rolle der Gewalt in der Politik sei so selbstverständlich, dass man sie nicht befrage.32 Und die wissenschaftliche Fachsprache würde nicht zwischen »Macht, Stärke, Kraft, Autorität und schließlich Gewalt« unterscheiden.33 Es sei eigentlich er27 Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre, Frankfurt a. M. 1966, S. 30f. 28 Ebd., S. 72. 29 Ebd., S. 73. 30 Ebd., Falldarstellungen, S. 210–242, Beschreibung des Pfadfinders, S. 230. 31 Ebd., S. 213–218. 32 Arendt: Macht (Anm. 4), S. 12f. 33 Ebd., S. 44.

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staunlich, dass erst durch die »einzigartige und weltweite Rebellion an den Universitäten und die Debatten über gewalttätigen oder gewaltlosen Widerstand« das Thema »in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit und Diskussion gerückt« sei.34 Arendt setzt sich in ihren Überlegungen mit der internationalen Bewegung von 1968, der Studentenbewegung und der Neuen Linken sowie mit Fanons Schrift »Die Verdammten dieser Erde« auseinander. Im Fokus des Textes stehen die »Eskalationen der Gewalt in der Studentenbewegung« in globaler Perspektive und unter dem Aspekt der »neuen Generation«.35 In Deutschland versuche die Studentenbewegung die Jugendverbände der Jugendbewegung zu rekrutieren.36 Arendt erklärt die Gewaltaffinität der »neuen Generation« und einen damit verbundenen »Generationenbruch« mit dem Verlust an Zukunft der Jugend durch Technisierung und Militarisierung. Die Attraktivität von Gewalt ist in ihrer zeitdiagnostischen Einschätzung in der »unheimlichen und selbstmörderischen Entwicklung der modernen Waffen« begründet. Über die Studentenbewegung schreibt sie: »Wo der Generationenbruch nur den eben erwähnten Faktoren geschuldet [ist], (…), ist Gewalt meist eine rhetorische Angelegenheit und eine Sache des rhetorischen Stils geblieben«, sie diagnostiziert eine »theoretische Verherrlichung der Gewalt in der Neuen Linken«.37 Dabei attestiert sie Sartre, mit dessen Vorwort zu Fanons »Die Verdammten dieser Erde« sie sich besonders auseinandersetzt, dass seine »Glorifizierung von Gewalt« die von Sorel wie die von Fanon überschreite und im übrigen Hegel und Marx missverstehe. Keine »theoretische oder bloß rhetorische Angelegenheit« sei die Gewalt hingegen für die Black-Power-Bewegung.38 Arendt entfaltet in ihrem Text eine explizite Trennung von Macht und Gewalt und verweist unter anderem darauf, dass Macht der vielen und der Legitimität bedürfe, während Gewalt gerechtfertigt werden könne, aber niemals legitim sei.39 Da, wo Macht nicht legitimiert sei, schlage sie in Gewalt um. Mit dieser Unterscheidung verteidigt Arendt die legitime Macht demokratischer Staaten. Macht gehöre zum 34 35 36 37 38

Ebd., S. 7. Ebd., S. 18. Ebd., S. 27. Ebd., S. 21, 23. Ebd., S. 22. In den letzten Jahren ist Arendts Verhältnis zu den Schwarzen in den USA immer wieder kritisch diskutiert worden. So etwa kritisch gegenüber Arendts Sicht auf die Durchsetzung gemeinsamer Beschulung von weißen und schwarzen Kindern durch schwarze Kinder und Eltern sowie die gesetzlich forcierte Aufhebung der Rassentrennung im Kontext der Auseinandersetzung um die zentrale High School in Little Rock, Arkansas, siehe Roger Berkowitz: Zur Kritik an Hannah Arendts »Reflections on Little Rock«, in: Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross: Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert, München, S. 137–146 sowie Marie Luise Knott: 370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Elisson, Berlin 2022, dort zu Arendts Eingeständnis, die »nackte Gewalt« gegen Schwarze nicht bedacht zu haben. 39 Arendt: Macht (Anm. 4), S. 53.

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Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, Gewalt jedoch nicht, sie sei instrumental und damit Mittel zu einem Zweck.40 Gewalt könne keine Macht erzeugen und lasse sich nicht aus Macht ableiten.41 Auf Arendts Text zu »Macht und Gewalt« sowie auf ihre Überlegungen zur Autorität bezieht sich in den 1980er Jahren der Soziologe Heinrich Popitz, der vier verschiedene Formen von Macht differenziert. Zu diesen zählt, neben der Autorität, auch die »Gewalt«. Gewalt, so Popitz, bezeichnet er vor dem Hintergrund seiner Unterscheidungen als »Aktionsmacht«, die Anderen Schaden zufüge, »ihnen etwas antue« und sie verletze. Der direkte Akt des Verletzens verweise in anthropologischer Hinsicht auf die »permanente Verletzbarkeit des Menschen«, seine »Verletzungsmächtigkeit« und »Verletzungsoffenheit«, die Popitz in besonderer Weise mit der »Fragilität und Ausgesetztheit des Körpers« verbindet.42 Seine Überlegungen zu Gewalt beziehen dabei auch die körperliche Gewaltanwendung bei Kindern und deren Bestrafung ein. Außerdem differenziert er die »absolute Gewalt« als Gewalt des Tötens.43 Die Indifferenz gegenüber dem Leiden von Opfern, verbunden mit der Glorifizierung von Gewalt und deren Technisierung bezeichnet er hingegen als »totale Gewalt«.44 Diese diskutiert er mit Verweis auf die nationalsozialistische Tötungsmaschinerie und deren Ignoranz gegenüber den Leiden der Opfer sowie mit Blick auf die Technisierung von Vernichtung durch Atombomben.45 Mit den Unterscheidungen zwischen »absoluter« und »totaler Gewalt« differenziert Popitz nicht nur zwischen Formen der Macht, von denen Gewalt in seinem Verständnis eine ist, sondern auch zwischen Formen der Gewalt.

(Sexualisierte) Gewalt und die Diskurse der Frauenbewegungen Während Gewalt und Geschlecht sowie Geschlechterverhältnisse in den analysierten Texten keine explizite Rolle als Dimension der Reflektion spielte, ist das Thema Gewalt als Merkmal der Geschlechterordnung zentraler Gegenstand so-

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Ebd., S. 52. Ebd., S. 57, 58. Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 68f. Popitz: Phänomene (Anm. 42), S. 52. Ebd., S. 66. Im Kontext der Glorifizierung von Gewalt verweist er auf S. 68 auf Arendt und G. Agamben: Sui limiti della violenza, in: Nuovo Argumenti, 1970, S. 159–173. Agambens Text, in dem auch Benjamins Kritik der Gewalt diskutiert wird, war ein Brief an Hannah Arendt. 1995 erschien in Italien Agambens Studie über das Lager als biopolitisches Paradigma der Moderne, Georgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002. 45 Popitz: Phänomene (Anm. 42), S. 71–75.

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wohl der ersten, vor allem jedoch der zweiten Frauenbewegung.46 So hatte sich die erste Frauenbewegung beispielsweise im Kampf gegen die Prostitution engagiert, aber auch für den Kinderschutz. In Europa setzten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkte Regelungen zum Kinderschutz durch, das betraf insbesondere Fragen des Verbots von Kinderarbeit. Diese war etwa von Friedrich Engels mit dem Verweis darauf angeprangert worden, dass die Fabrikaufseher die Kinder am Arbeitsplatz schlügen. Es war vor allem das Zusammenspiel von Arbeiterbewegung, Frauenbewegung und Wohltätigkeitsorganisationen, welches zu einer allmählichen Durchsetzung von Kinderschutzbestimmungen und dann auch der Kategorie des »Kindeswohl« führte, das im Zeitraum von 1880–1930 in allen europäischen Ländern eingeführt wurde.47 Gegen Kindermisshandlung und sexuellen Missbrauch an Mädchen setzte sich auch die bürgerliche Frauenbewegung ein. Die Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin Adele Schreiber thematisiert in dem von ihr herausgegebenen zweibändigen Sammelwerk »Vom Kind« (1907) im Eintrag »Kindermisshandlung« den Fall von sexuellem Missbrauch an einem 14-jährigen Mädchen und diskutiert den pädagogischen Sadismus am Beispiel des reformpädagogischen Hauslehrers Dippold, gegen den 1903 ein großangelegter Prozess stattgefunden hat. Sie reflektiert in ihrem Eintrag, dass sexuelle Übergriffigkeit gegenüber Kindern sich nicht nur in den unteren Schichten ereignen würde, und verweist auf die Bedeutung von Aktivitäten wie die des »Verein[s] zum Schutze der Kinder gegen Ausnutzung und Misshandlung«.48 Allerdings fällt auf, dass bei der Thematisierung körperlicher Bedrohung von Frauen in Texten der ersten Frauenbewegung der Begriff »Gewalt« in den

46 Meike Sophia Baader, Eva Breitenbach, Barbara Rendtorff: Bildung, Erziehung und Wissen der Frauenbewegungen. Eine Bilanz, Stuttgart 2021. 47 Meike Sophia Baader: Die Kindheit der sozialen Bewegungen, in: Meike Sophia Baader, Florian Eßer, Wolfgang Schröer (Hg.): Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt a. M. 2014, S. 154–189. Verbunden war die Debatte über den Kinderschutz auch mit einer Sicht auf das Kind als vulnerabel, die sich nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte und zu einem dominanten Muster der Sicht auf das Kind wurde, so Pia Haudrup Christensen: Childhood and the Cultural Constitution of Vulnerable Bodies, in: Jo Campling, Alan Prout (Hg.): The Body, Childood and Society, New York 2000, S. 38–59, zu Phasen der Sicht auf das vulnerable Kind sowie zur Rolle der Psychoanalyse siehe Meike Sophia Baader: Vulnerable Kinder in erziehungs- und emotionsgeschichtlicher Perspektive, in: Sabine Andresen, Klaus Koch, Julia König (Hg.): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen, Wiesbaden 2015, S. 79–102. 48 Hugh Cunningham: Children and Childhood in Western Society Since 1500, London 2004; Baader: Kindheit (Anm. 47); Adele Schreiber: Kindermisshandlung, in: Adele Schreiber (Hg.): Das Buch vom Kinde. Ein Sammelwerk für die wichtigsten Fragen der Kindheit unter Mitarbeit zahlreicher Fachleute, Leipzig/Berlin 1907, S. 70–78; Michael Hagner: Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls, Berlin 2010. Siehe auch Elizabeth Malleier: »Kinderschutz« und »Kinderrettung«. Die Gründung von freiwilligen Vereinen zum Schutz misshandelter Kinder im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Innsbruck u. a. 2014.

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Quellen eher selten vorkommt; Verwendung findet er jedoch beispielsweise in Berta Pappenheims Schriften gegen den Mädchenhandel, wenn auch marginal.49 Für die zweite Frauenbewegung ist das Thema Gewalt dann ganz zentral. Anders als bei den Auseinandersetzungen um die Rechtfertigung politischer Gegengewalt durch die proletarische und antikoloniale Revolution, steht bei der Frauenbewegung die erlittene, insbesondere körperliche Gewalt, stark im Vordergrund. In dem Lexikoneintrag »Gewalt« eines Handbuches der zweiten Frauenbewegung aus dem Jahre 1983 unterstreicht die Soziologin Carol Hagemann-White, dass auch die erste Frauenbewegung das Thema Gewalt fokussiert habe, aber die zweite Frauenbewegung einen weiten Gewaltbegriff zugrunde lege, der mit der »Wiederaneignung des Körpers und der eigenen Sexualität« zusammenhänge.50 Dieser Gewaltbegriff, so die Autorin, schließe etwa das Verbot von Abtreibung durch den § 218 ein, da er das Selbstverfügungsrecht über den eigenen Körper einschränke. Definiert wird eine Gewalt, die »geschlechtsspezifisch und abstrakt« sei und sich nicht nahtlos in andere Gewaltformen »von Kindesmißhandlung bis Mittelstreckenraketen« einreihe, denn bei der geschlechtsspezifischen Gewalt an Frauen gehe es um die gesellschaftliche »Rangordnung«.51 Fokussiert wird in dem Beitrag insbesondere der sexuelle Missbrauch an Mädchen, der für Mädchen und weibliche Jugendliche zu Frühehen, dem Leben auf der Straße und zur Prostitution führen könne. Mit Verweis auf die internationale Debatte im Anschluss an die einschlägige Publikation der US-Amerikanerin Florence Rush »Das bestgehütete Geheimnis, sexueller Kindesmißbrauch« (engl. 1980/dt. 1982) wird auf die zerstörerischen Folgen von Missbrauch hingewiesen. Hagemann-White markiert eine eigene Dimension der Gewalt gegen Frauen als Teil patriarchaler Geschlechterordnung, die nicht ausschließlich in sexualisierter Gewalt aufgeht. Im »Widerstand gegen Gewalt« – in den skizzierten Aspekten der geschlechtsspezifischen Gewalt – macht die Autorin den »Nerv der neuen Frauenbewegung« aus, den sie auch als Widerstand

49 Stattdessen werden die Begriffe Zwang, Rohheit, Verbrechen, Misshandlung, »geschlechtliche Ausbeutung« oder »Geschlechtssklaverei« dominant verwendet und die »Sittlichkeitsfrage« in der Perspektive der Rettung und »Gefährdeten-Fürsorge«, von »Unsittlichkeit«, »Jugendnot« oder »Mädchenschutz« diskutiert, so bei Berta Pappenheim: Sisyphus: gegen den Mädchenhandel – Galizien, Freiburg 1992, zur »Gefährdeten-Fürsorge«, S. 279–288, zur »Unsittlichkeit«, S. 263, »Jugendnot« und »Mädchenschutz« S. 257. Bei Pappenheim findet sich jedoch vereinzelt auch der Begriff der »Gewalt«, so etwa in ihrem »Entwurf eines internationalen Flugblattes« (1913), dort ist von »Gewalt, Rohheit, Verbrechen« die Rede, S. 249. Zur Thematisierung von Macht und Gewalt in der ersten Frauenbewegung und zur Begrifflichkeit siehe auch Baader u. a.: Bildung (Anm. 46), S. 126–128 sowie den Beitrag von Elberfeld in diesem Band. 50 Carol Hagemann-White: Gewalt, in: Johanna Beyer, Franziska Lamott, Birgit Mayer (Hg.): Frauenhandlexikon. Stichworte zur Selbstbestimmung, München 1983, S. 114. 51 Ebd.

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gegen die »sadistische Kultur« bezeichnet.52 In der zweiten Frauenbewegung ist somit die Thematisierung von Gewalt eng mit der des Körpers verbunden, dabei liegt immer auch ein Akzent auf den Erfahrungen und der Sozialisation von Mädchen und weiblichen Jugendlichen.

Wissenschaftliche Dimensionen von Gewalt in den 1970er und 1980er Jahren Sowohl das weite Gewaltverständnis, das Hagemann-White markiert, wie auch der Versuch, Dimensionen von Gewalt zu definieren, charakterisiert die Debatten um Gewalt in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit den 1970er Jahren. Einen Meilenstein bezüglich eines weiten Gewaltbegriffs stellt der Begriff der »strukturellen Gewalt« dar, dem die Annahme der Gewaltförmigkeit der Gesellschaft zugrunde liegt und von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung entwickelt wurde. »Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung …. Gewalt ist das, was den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung des Abstandes erschwert«.53

Der Begriff der strukturellen Gewalt findet vielfach Eingang in die politischen Diskurse und insbesondere in die Sprache der neuen sozialen Bewegungen, dort vor allem auch in den Linksradikalismus. So verweist etwa Ulrike Meinhof in ihrer Kritik am Umgang mit weiblichen Jugendlichen in den Heimen auf die Gewalt des Staates in der Fürsorgeerziehung und die dadurch »produzierte Gegengewalt«.54 Der Begriff der »strukturellen Gewalt« wird schließlich in die Alltagssprache aufgenommen, was der Soziologe Helmut Schelsky, auch mit Verweis auf andere Begriffe aus den Wissenschaften wie »Sozialisation« oder »Emanzipation«, kritisiert und die Verwissenschaftlichung der Sprache als (wissenschaftliches) Herrschaftsinstrument wiederum selbst in einen Zusammenhang mit Gewalt bringt: »Die Beherrschung durch Sprache scheint uns vorläufig die letzte Form der Versklavung von Menschen zu [sein] …. In der Herrschaft durch Sprache ist ein Herrschaftsgrad von Menschen über Menschen erreicht, demgegenüber physische Gewalt geradezu veraltet ist«.55

52 Ebd., S. 118. 53 Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975, S. 5. 54 Ulrike Marie Meinhof: Bambule. Fürsorge – Sorge für wen?, Berlin 1974. 55 Helmut Schelsky: Der selbständige und der betreute Mensch, Stuttgart 1976, S. 116.

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Diskussionen um politische Gewalt prägten die Diskussionen der 1970er Jahre seit 1967/68 und bildeten eine ihrer zentralen politischen Diskurse, einschließlich der Versuche, »Differenzierungen im Begriff der Gewalt« vorzunehmen, prominent ist dabei insbesondere die Unterscheidung zwischen ›Gewalt gegen Sachen‹ und ›gegen Personen‹.56 Diese, auch transnational geführten Diskussionen, hatte Arendt mit ihrem Text zu »Macht und Gewalt« aufgegriffen. Die Debatten im Umfeld der Proteste von 1967/68, die pädagogischen Dimensionen der antiautoritären Bewegung und die Kritik an Autorität haben in ihrem Zusammenspiel mit Bildungs- und Rechtsreformen schließlich auch zur endgültigen Abschaffung der Prügelstrafe in pädagogischen Einrichtungen der Bundesrepublik geführt, nachdem körperliche Gewaltanwendung in der Erziehung bis in die 1970er Jahre als legitimes Mittel in öffentlichen Einrichtungen galt (siehe auch den Beitrag von Hoff in diesem Band). Abgeschafft wurde in den 1970er Jahren für Schulen, Heime und Gefängnisse zudem das besondere Gewaltverhältnis, wonach Schüler*innen, Heimbewohner*innen oder Gefangene in Gefängnissen nicht über Persönlichkeitsrechte verfügten.57 Bis zur Durchsetzung des Rechtes auf gewaltfreie Erziehung auch in der Familie sollte es noch weitere 30 Jahre dauern, es wurde im Jahre 2000 eingeführt und war politisch – als Eingriff in das Elternrecht – nicht unumstritten. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung fixiert, dass Gewalt kein legitimes Mittel der Erziehung ist. Der Begriff der »elterlichen Gewalt« wurde im BGB 1980 durch den der »elterlichen Sorge« als Pflicht, nicht als Recht, ersetzt.

56 Zu den »Differenzierungen im Begriff der Gewalt« um 1970 im Kontext studentischer Proteste siehe Oskar Negt: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 1995, S. 78–97. 57 Zur Prügelstrafe in der Schule siehe auch Dirk Schumann: School Violence and Its Control in Germany and the United States Since the 1950s, in: Wilhelm Heitmeyer, Heinz-Gerhard Haupt, Stefan Malthaner, Andrea Kirschner (Hg.): Control of violence. Historical and international perspectives on violence in modern societies, New York 2011, S. 233–259; sowie Till Kössler: Jenseits von Brutalisierung oder Zivilisierung. Schule und Gewalt in der Bundesrepublik (1970–2000), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2018, Jg. 15, S. 222–279; zur Legitimität von Gewalt bis in die 1970er Jahre Benno Hafeneger: Strafen, prügeln, missbrauchen. Gewalt in der Pädagogik, Frankfurt a. M. 2011; zur Schule als besonderes Gewaltverhältnis Meike Baader, Kirsten Scheiwe: Erziehung und Schule nach 68. Die pädagogische Dimension von 68, in: Sozial Extra 2019, Heft 1, S. 48–52 sowie Dirk Schumann: Legislation and Liberalisation. The Debate About Corporal Punishment in Schools in Postwar West Germany, 1945–1975, in: German History, 2007, Jg. 25, S. 192–218.

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Die Gewaltblindheit wissenschaftlicher Legitimation von Pädophilie der 1970er und 1980er Jahre Die Abschaffung der Prügelstrafe in pädagogischen Institutionen bildete eine der diskursiven Hintergrundfolien für die Legitimation von Pädophilie in der Wissenschaft der 1970er/1980er Jahre sowie für Forderungen nach Abschaffung der Schutzaltersgrenze. Seit dem Reichstrafgesetzbuch von 1872 liegt die Schutzaltersgrenze für Sexualkontakte bei 14 Jahren. Dies wurde im § 176 des StGB festgeschrieben und bildet seitdem bis heute die »Hauptregel der strafrechtlichen Normierung der jugendlichen Sexualität«.58 In den 1970er und 1980er Jahren wurden nicht nur in aktivistischen Kontexten, sondern auch innerhalb der Wissenschaft, etwa der Erziehungswissenschaft, der Soziologie, der Philosophie, der Sexualwissenschaft sowie in der pädagogischen Praxis Forderungen nach Abschaffung der Schutzaltersgrenzen bzw. nach der Legitimität von Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen vertreten. Diese waren verbunden mit dem Mantra, dass Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen bei Gewaltfreiheit und Einvernehmlichkeit erlaubt sein sollte, so etwa bei den Sexualwissenschaftlern Eberhard Schorsch, Helmut Kentler oder Ernest Bornemann u. a.59 Dabei wurde ein verengter Gewaltbegriff zugrund gelegt, der auf körperliche Gewalt fokussierte, andere Gewaltformen, wie etwa psychische wurden negiert, was zugleich eine Ignoranz gegenüber der Macht im Generationenverhältnis, etwa von Abhängigkeit, aufwies.60 Dies zeigt sich auch bei dem Machttheoretiker Michel Foucault. Zur Verteidigung seiner Unterzeichnung einer Petition zur Abschaffung der Schutzaltersgrenze im Jahre 1977 schrieb er: »Jedenfalls hat eine gesetzlich festgelegte Altersgrenze keinen Sinn. Man kann dem Kind selbst zutrauen zu sagen, ob ihm Gewalt angetan worden ist«.61 Damit weist auch der Machtbegriff Foucaults eine Blindheit gegenüber der Macht im Generationenverhältnis auf.62 Darauf, dass die unterstellte informierte Zustimmung von Kindern nicht möglich sei, weil die Folgen der Handlungen für

58 Harry Willekens: Der rechtliche Umgang mit der Sexualität von Jugendlichen und Kindern: Widersprüchliche Entwicklungen, in: Meike Sophia Baader, Christian Jansen, Julia König, Christin Sager (Hg.): Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968, Köln u. a. 2017, S. 123–136. 59 Meike Sophia Baader: Zwischen Politisierung, Pädosexualität und Befreiung aus dem »Getto der Kindheit«, in: dies. u. a. (Hg.): Tabubruch (Anm. 58), S. 55–84. 60 Ebd. 61 Michel Foucault: Schriften in vier Bänden, Bd. 3, Frankfurt a. M. 2003, S. 969. 62 Meike Sophia Baader: Blinde Flecken der Disziplin und ihrer Geschichte. Die Involviertheit der Wissenschaft in pädosexuelle Diskurspositionen der 1960er bis 1990er Jahre, in: Markus Rieger-Ladich, Anne Rohstock, Sigrid Amos: Erinnern, umschreiben, vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis, Weilerswist 2019, S. 254–276.

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Kinder nicht überschaubar seien, hat David Finkelhor bereits früh hingewiesen.63 Die Legitimation von Pädophilie war unter anderem im öffentlichen Diskursraum über körperliche Gewalt nach der Abschaffung der Prügelstrafe in pädagogischen Institutionen sagbar. In diesem Diskurs wird die körperliche Gewalt, die nun strafbar ist, gegen »pädophile Zärtlichkeit«/»Liebe« gegenüber Kindern ausgespielt. Diese Gegenüberstellung fand sich etwa in Form einer Karikatur auf dem Titelblatt der damals meistgelesenen erziehungswissenschaftlichen Zeitschrift im Jahre 1973, die den Titel »Pädophilie – Verbrechen ohne Opfer« trug.64 Eine weitere Rolle für die öffentliche Sagbarkeit der Legitimation von Pädophilie und für die Forderung nach Abschaffung der Schutzaltersgrenzen spielten die ungleichen Schutzaltersgrenzen bei heterosexuellen und homosexuellen Kontakten, die in der Tradition des § 175, des Verbotes von Homosexualität im Jahre 1872, stand. Die bundesrepublikanische Strafrechtsreform von 1969 legte eine Schutzaltersgrenze für mann-männliche Sexualkontakte auf 21 Jahre fest, die dann in der Strafrechtsreform von 1973 auf 18 Jahre abgesenkt wurde. Die ungleiche Schutzaltersgrenze wurde, zusammen mit dem § 175, erst 1994 aufgehoben.65 Neben der Kontrastierung von körperlicher Gewalt in der Erziehung in Familie, Schule und Fürsorgeeinrichtungen und vermeintlich gewaltfreier Pädophilie wurde auch die Verwissenschaftlichung zur Legitimation genutzt, indem wissenschaftliche Studien ins Feld geführt wurden, die vermeintlich die Unschädlichkeit nachwiesen. Rekurriert wurde dabei auch auf ethnologische und anthropologische Studien, die im kolonialen Modus des Othering und der Infantilisierung auf einen anderen, als natürlich und frei und ›unverklemmt‹ bezeichneten, Umgang etwa in asiatischen Regionen der Welt verwiesen, der keine Schutzaltersgrenzen kenne.66 Grundsätzlich wurden in den Diskursen zur Legitimation von Pädophilie die Altersangaben und damit auch die Differenz 63 David Finkelhor: What’s Wrong with Sex Between Adults and Children? Ethics and the Problem of Sexual Abuse, in: American Journal of Orthopsychiatry, 1979, Jg. 49, Heft 4, S. 692–697. 64 Ausführlich dazu siehe Baader: Flecken (Anm. 62); außerdem Jan-Henrik Friedrichs: »Verbrechen ohne Opfer«? Die Pädophiliedebatte der 1970er Jahre in Sozialwissenschaft und Schwulenbewegung, in: Melanie Babenhausen, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen, Benedikt Wolf (Hg.): Jahrbuch Sexualität 2021, Göttingen, S. 62–84; zur diskursiven Kontrastierung von Pädophilie und Gewaltanwendung in der Fürsorgeerziehung Jan-Henrik Friedrichs: »Freie Zärtlichkeit für Kinder«. Gewalt, Fürsorgeerziehung und Pädophiliedebatte in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft 2018, Jg. 44, Heft 4, S. 554–585. 65 Baader: Flecken (Anm. 62) und Willekens: Umgang (Anm. 58). 66 Meike Sophia Baader: Zwischen Befreiungsrhetorik und Sehnsucht nach Bindung. Der Diskurs um den sexuellen Körper des Kindes und die Legitimation von Pädophilie in Wissenschaft, Pädagogik und Gesellschaftsentwürfen der 1960er bis 1980er Jahre, in: Rita Casale, Markus Rieger Ladich, Christiane Thompson (Hg.): Verkörperte Bildung. Körper und Leib in gesellschaftlichen Transformationen, Weinheim/Basel 2020, S. 78–95.

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zwischen Kindheit und Jugend vage gehalten, was ein zentrales Merkmal dieses Diskurses darstellt. Zudem zeichnet sich der legitimierende Diskurs durch eine Ignoranz gegenüber den Opfern aus67 sowie durch eine Umkehr, indem erwachsene Männer/ Täter sich als Opfer und Betroffene einer »restriktiven Sexualmoral« beschreiben. Darüber hinaus sind die Diskurse der Legitimation vergeschlechtlicht und argumentieren im Kontext der Verwissenschaftlichung mit der »Normalisierung von Missbrauch« an Mädchen als vermeintlichem Hinweis für deren Unschädlichkeit.68 Die Diskurse der Legitimation in der Bundesrepublik zogen kaum kontroverse Debatten nach sich und blieben vergleichsweise unwidersprochen. Im internationalen Vergleich lassen sich keine vergleichbar breiten und langanhaltenden Diskurse identifizieren. Ende der 1980er Jahre wird die Debatte um Pädophilie/ Pädosexualität in der Bundesrepublik dann abgelöst durch den Diskurs über Missbrauch, der wesentlich durch die Frauenbewegung angestoßen wurde. In den frühen 1990er Jahren gelangte durch empirische Studien auch der Missbrauch an Jungen in den Blick, was zu einer Verschiebung der Begrifflichkeit führte, nun war nicht mehr von »Gewalt gegen Mädchen und Frauen«, sondern von »Gewalt im Geschlechterverhältnis« die Rede.69 Vor dem Hintergrund der Öffnung und Schließung von Diskursräumen des Sagbaren und der damit verbundenen spezifischen Konstellationen ist das in der Forschung zur Pädosexualität und zur Abschaffung der Schutzaltersgrenze gerne als Erklärung angeführte Liberalisierungsparadigma nicht schlüssig.70 Innerhalb dieser Zeiträume des Sagbaren von den späten 1960er bis in die späten 1980er Jahren entstanden jedoch Strukturen und Netzwerke, die Pädophilie und Missbrauch schützen, legitimieren und ermöglichen und bis heute weiterwirken.71 Für 67 Dagmar Herzog: Sexuelle Traumatisierung und traumatisierte Sexualität. Die westdeutsche Sexualwissenschaft im Wandel, in: Baader u. a. (Hg.): Tabubruch (Anm. 58), S. 37–54. 68 Baader: Flecken (Anm. 62). 69 Baader u. a.: Bildung (Anm. 46), S. 131. 70 Meike Sophia Baader, Jan-Henrik Friedrichs: Sexuelle Befreiung oder sexuelle Bildung? Konzepte, Organisationen und Akteur*innen nach 1968 zwischen Pädophilie- und Missbrauchsdiskurs, in: Julia Kerstin Maria Simoneit, Karla Verlinden, Elke Kleinau (Hg.): Sexualität, sexuelle Bildung und Heterogenität im erziehungswissenschaftlichen Diskurs, Weinheim/Basel 2023, S. 32–53; zur Kritik am Liberalisierungsparadigma siehe auch Jens Elberfeld, Von der Sünde zur Selbstbestimmung. Zum Diskurs ›kindlicher Sexualität‹ (Bundesrepublik Deutschland 1960–1990), in: Magdalena Beljan, Peter-Paul Bänzinger, Franz Eder, Pascal Eitler (Hg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015, S. 247–283; zur Geschichte der Sexualaufklärung siehe auch Christin Sager: Das aufgeklärte Kind. Zur Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung, Bielefeld 2015. 71 Meike Sophia Baader, Caroline Oppermann, Julia Schröder, Wolfgang Schröer (Hg.): Ergebnisbericht »Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe«, Hildesheim 2020.

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die weitere Forschung sind dabei perspektivisch etwa die Strukturen der Kinderund Jugendhilfe und insbesondere Jugendreisen und Jugendfreizeiten als entgrenzte pädagogische Räume in den Blick zu nehmen.

Dimensionen der Gewalt seit den 1990er Jahren: symbolische, verbale und sexualisierte Gewalt Seit den 1990er Jahren befassen sich die Wissenschaften verstärkt mit Fragen der Gewalt. In diesem Kontext gewinnt auch das Konzept der »symbolischen Gewalt« des Soziologen Pierre Bourdieu an Bedeutung, der die Sichtbarmachung von Gewalt als Aufgabe der Sozialwissenschaften definiert. Dabei geht es ihm insbesondere darum, die sanften Gewaltformen sowie das subtile Leiden in den Blick zu nehmen. Dessen Sichtbarmachung sowie Weisen der Ausgrenzung rücken etwa in seiner Studie »Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens in der Gesellschaft« ins Zentrum.72 Symbolische Gewalt zeichnet sich für Bourdieu gerade durch eine geringe Sichtbarkeit aus und das Konzept zielt vor allem auf die Markierung von Gewalt in der Geschlechterordnung.73 Sein Ende der 1990er Jahre auf Französisch erschienenes Buch »Die männliche Herrschaft« enthält das Kapitel »Die symbolische Gewalt«.74 Diese verortet er im Kontext einer hierarchischen Geschlechterordnung und bringt sie in Zusammenhang mit »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmatrizen aller Mitglieder einer Gesellschaft, als historische Transzendentalien, die, da sie allgemein geteilt werden, sich jedem Akteur als transzendente aufzwingen«.75 Dabei sei der Begriff des Symbolischen unbedingt als streng und gerade nicht als »Verharmlosung von körperlicher Gewalt« zu verstehen. Das Sanfte und Unsichtbare der symbolischen Gewalt würde sich im »unendlich Kleinen der Interaktionen« zeigen, es würde wesentlich über Wege der »Kommunikation und des Erkennens oder genauer des Verkennens, des Anerkennens oder, äußerstenfalls, des Gefühls ausgeübt«. Die Kraft der symbolischen Gewalt sei eine Form der Macht, die »jenseits allen physischen Zwangs unmittelbar und wie durch Magie auf die Körper ausgeübt wird. Wirkung erzielt diese Magie nur, indem sie sich auf Dispositionen stützt, die wie Triebfedern in die Tiefe der Körper ein72 Pierre Bourdieu: Das Elend der Welt, Köln 2002 [1993]. 73 Auf welche Impulse aus der Frauenbewegung Pierre Bourdieu hier zurückgreift, müsste genauer untersucht werden. Dies betrifft etwa die Ansätze Simone de Beauvoirs, deren Thematisierung von Gewalt gleichfalls ein lohnenswertes Thema wäre. 74 Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M. 2005 [1998]; hier greift er das Konzept aus den 1970er Jahren wieder auf, Pierre Bourdieu: Sur le pouvoir symbolique, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales, 1977, Jg. 32, Heft 3, S. 405–411. 75 Bourdieu: Herrschaft (Anm. 74), S. 63.

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gelassen sind«.76 Sie basiere auf der vorgängigen sowie nachhaltigen Arbeit der Transformation des Körpers, der »Inkorporierungsarbeit«.77 Man könne die Wirkung symbolischer Gewalt nicht verstehen, ohne den Beitrag derjenigen einzubeziehen, die ihr unterliegen. Auch die symbolische Gewalt wird also in mehrfacher Hinsicht in eine Beziehung zum Körper und Prozessen der Inkorporierung gebracht, die unter anderem über das System der Erziehung erfolgen, der Bourdieu eine wichtige Rolle einräumt.78 Mit der Akzentuierung tiefsitzender und mit Gefühlen verbundener Prozesse der Inkorporation liegt für Bourdieu auch die Differenz zu einer marxistischen Betrachtungsweise der hierarchischen Geschlechterordnung, die lediglich auf die Ebene des Bewusstseins rekurriere und die »Opakheit und Trägheit«, »die aus der Einprägung der sozialen Strukturen in den Körper« resultiere, nicht berücksichtige, so Bourdieus Kritik.79 Einige Jahre nach Bourdieus Buch »Die männliche Herrschaft«, der die symbolische Gewalt als eine Form der Kommunikation der männlichen Herrschaft und der Herstellung von Männlichkeit beschreibt, entwickelt Judith Butler ihr Konzept der verbalen Gewalt in der Auseinandersetzung mit Rassismus und hate speech als »eigene Form von Gewalt« durch »repressive Sprache«.80 Dabei reflektiert Butler die Verletzung durch Sprache im Kontext von Überlegungen zur Macht der Sprache als Erfahrung, durch Sprechen auf »seinen Platz verwiesen« zu werden.81 Dies diskutiert Butler in Analogie sowie in Differenz zur körperlichen Verletzung. Mit Metaphern wie »ein Schlag ins Gesicht«,82 werde suggeriert, dass sprachliche Verletzungen wie körperliche wirken. Dies mache darauf aufmerksam, dass es keine eigene Beschreibung für sprachliche Verletzung gebe und verweise damit auch auf die Besonderheit der somatischen Dimension.83 Gegen die körperlose Konzeption des politischen Handelns bei Arendt führt Judith Butler den Körper in die Arena des Politischen ein.84 So wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der politischen Gewalt um 1900 die Frage nach der Berechtigung von Gegengewalt aufwarf – eine Frage, die auch die politischen Debatten in den 1970er Jahren auszeichnete –, so beschäftigt der Aspekt von Widerstandsmöglichkeiten die Konzepte der symbolischen und insbesondere der verbalen Gewalt ebenfalls. Bourdieu sieht in der Arbeit an der »Historisierung« vermeintlich natürlicher Hierarchien eine Mög76 77 78 79 80 81

Ebd., S. 71. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd., S. 75. Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a. M. 2006 [1997], S. 21. Judith Butler: Hass spricht, in: Johannes Müller-Salo: Gewalt. Texte von der Antike bis in die Gegenwart, Stuttgart 2018, S. 161–169, S. 163. 82 Butler: Hass (Anm. 81), mit Verweis auf Charles Lawrence, S. 164. 83 Ebd., S. 164. 84 Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016.

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lichkeit, »männliche Herrschaft der Geschichte zu entreißen«.85 Die Voraussetzung für Akte des Aufbrechens von Komplizenschaft lägen in einem »relationale(n) Verständnis des Herrschaftsverhältnisses«.86 Butler hingegen sieht in der Sprache nicht nur die Möglichkeit der Unterwerfung, sondern betrachtet sie immer zugleich auch als »Instrument des Widerstandes«, der Möglichkeit des Sprechens ohne vorgängige Autorisierung, als »Sprechen des Widerstandes«.87 Auch im Kontext der Rede von sexualisierter Gewalt, die sich seit 2010 gegenüber den Begrifflichkeiten der »sexuellen Gewalt« oder der »sexuellen Übergriffe« immer stärker durchsetzt, wird auf das Sprechen und die öffentliche Rede, unter anderem durch Aufarbeitung und durch »Geschichten, die zählen«, gesetzt.88 Der Begriff der sexualisierten Gewalt wird insbesondere auch von Betroffenenverbänden favorisiert und unterstreicht, das Thema von der Gewalt her zu denken und versteht sexualisierte Gewalt dabei als Gewalt, die sich des Mediums der Sexualität bedient89 und auf die Verletzung des Anderen und seiner Integrität zielt. Das Konzept der sexualisierten Gewalt verdankt sich der Wahrnehmung und dem Wissen der Betroffenen. In der Forschung hat die Welle der Aufmerksamkeit für sexualisierte Gewalt in pädagogischen Kontexten seit 2010 einen »Dominoeffekt« hervorgebracht.90 Seit den 1990er/2000er Jahren gibt es jedoch nicht nur in der Soziologie, der Philosophie und der Geschlechterforschung ein hohes Interesse an Fragen der Gewalt, sondern auch die Bildwissenschaften haben sich verstärkt den Fragen nach Bildern der Gewalt zugewandt.91 Allerdings seien große Forschungspro-

85 Bourdieu: Herrschaft (Anm. 74), S. 177. 86 Butler: Hass (Anm. 81), S. 169. 87 Für gewaltlose Formen des Widerstandes als Teil einer globalen »Pflicht zur Gewaltlosigkeit« plädiert sie in ihrem 2020 auf Deutsch erschienen Buch die »Macht der Gewaltlosigkeit« [2020]. Die Notwendigkeit von Gewalt stellt sie infrage und sieht dies auch als »Widerstand gegen Gewaltformen, die nicht beim Namen genannt werden«, unter anderem mit Verweis auf geschlechterspezifische Verknüpfungen mit Männlichkeit, siehe Judith Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit, Frankfurt a. M. 2020, S. 242, S. 244. Butler diskutiert in diesem Buch die Texte von Benjamin, Fanon, Arendt sowie Agamben. 88 Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (Hg.): Geschichten, die zählen. Bilanzbericht, Berlin 2019. 89 Sabine Reh, Meike S. Baader, Werner Helsper, Manfred Kappeler, Marianne LeuzingerBohleber, Uwe Sielert, Werner Thole, Christiane Thompson: Sexualisierte Gewalt in pädagogischen Institutionen – eine Einleitung, in: Werner Thole, Meike Baader, Werner Helsper, Manfred Kappeler, Marianne Leuzinger-Bohleber, Sabine Reh, Uwe Sielert, Christiane Thompson (Hg.); Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik, Opladen u. a. 2012, S. 13–26, hier S. 15. 90 Jens Brachmann: Tatort Odenwaldschule. Das Tätersystem und die diskursive Aufarbeitung von Vorkommnissen sexualisierter Gewalt, Bad Heilbrunn 2019, S. 7. 91 Jean-Luc Nancy: Am Grunde der Bilder, Zürich 2006.

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gramme, so Reemtsma, immer wieder auch gescheitert.92 Dies verweist sowohl auf spezifische Schwierigkeiten wie auch auf Konjunkturen der Verwissenschaftlichung von Gewalt. Die Zunahme der wissenschaftlichen Dimensionierung von Gewalt seit den 1990er Jahren und ihre Fokussierung durch die Wissenschaft in den letzten Jahren ist zugleich unmittelbar relationiert mit der Perspektivierung von Leiden, Vulnerabilität und Verletzlichkeit. Eine wichtige Rolle spielt dabei außerdem die Ausbreitung des Wissens über Traumata als anhaltende Verwundung und deren Folgen. Für die Traumaforschung hat die Beschäftigung mit extremen Gewalterfahrungen als Folgen des Holocaust, etwa durch die Arbeiten des Psychoanalytikers Hans Keilson, sowie des Vietnamkriegs wichtige Ergebnisse mit sich gebracht.93 Insgesamt ist die Traumaforschung eng mit der Psychoanalyse als Wissenschaft verbunden.94

Aus dem Schatten des Selbstverständlichen: Fazit und Ausblick Gewalt gerät je stärker ins Zentrum der Wissenschaften, desto mehr Gewalt aus den verschiedensten Perspektiven als selbstverständlich infrage gestellt wird. Etwas als Gewalt zu bezeichnen, ist häufig bereits Teil einer kritischen Praxis, wie am Beispiel der strukturellen, der symbolischen, der verbalen und der sexualisierten Gewalt gezeigt wurde. Mit der Loslösung aus dem Selbstverständlichen kann es der Kritik zugeführt werden. Auch das Sprechen über bzw. die Erforschung von Gewalt und Gewaltanwendung im Kontext von Erziehung, Kindheit und Jugend nimmt historisch erst ab dem Zeitpunkt zu, ab dem Gewalt nicht mehr selbstverständlich Teil legitimer Erziehungsmaßnahmen war, also etwa seit den 1970er Jahren.95 Im frühen 20. Jahrhundert war im Zusammenhang mit der Erziehung von Kindern und Jugendlichen nicht von Gewalt, sondern von »Zucht«

92 Siehe hierzu Jan Philipp Reemtsma: Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie, in: KarlSiegbert Rehberg (Hg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Soziologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 42–64. 93 Hans Keilson: Sequentielle Traumatisierung. Deskriptiv-klinische und quantifizierend-statistische follow-up Untersuchung zum Schicksal der jüdischen Kriegswaisen in den Niederlanden, Gießen 2001. 94 Zum Überblick siehe Werner Bohleber: Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse, in: Psyche, 2000, Jg. 54, S. 797–839. 95 Hafeneger: Strafen (Anm. 57), so etwa die Untersuchung von Horst Petri, Matthias Lauterbach: Gewalt in der Erziehung. Plädoyer für die Abschaffung der Prügelstrafe. Analysen und Argumente, Frankfurt a. M. 1975 und Katharina Rutschky (Hg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1977.

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die Rede, um Ordnung und Disziplin aufrecht zu erhalten.96 Auch der begriffliche Konnex von »Jugend und Gewalt« muss historisiert und begriffsgeschichtlich kontextualisiert werden, waren im frühen 20. Jahrhundert doch eher andere Begriffe geläufig, wie jugendliche »Kriminalität«, »Verbrechen«, »Verwahrlosung oder Verrohung« und dies jeweils stark geschlechterdifferierend akzentuiert. In den analysierten theoretischen Texten wird eine explizite begriffliche Verbindung von »Jugend und Gewalt« erst in den 1970er Jahren im Kontext der studentischen Protestbewegungen hergestellt und dabei in einen Zusammenhang mit Generationenkonflikten eingeordnet. Etwa ab den 1980er/90er Jahren wird der Begriff »Jugendgewalt« durch die sich etablierende Jugendforschung hervorgebracht.97 Der Verweis auf die Radikalität der Jugend gehörte hingegen zu zentralen Topoi im 20. Jahrhundert genau wie der auf die Generationenkonflikte der jüngeren »neuen Generation« mit der älteren, wie in den diskutierten Texten bei Plessner oder Arendt der Fall. Arendt begründet die Gewaltaffinität von jungen Menschen im Kontext der studentischen Unruhen mit dem Verlust an Zukunft. Diese Sichtweise, die nach dem Zusammenhang von Jugend, Zukunft und politischer Gewalt als Protestform fragt, ist äußerst anschlussfähig an aktuelle Diskussionen zu Jugend und Gewalt in der Klimaschutzbewegung. Sie kann auch mit der von Arendt vertretenen Position nach der »eigenen Chance des Neuen« als Recht, das jede »neue Generation« mit sich bringe, in Verbindung gebracht werden.98 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Frage nach der Gewalt eher singulär und insbesondere im Kontext der politischen Gewalt, der Auseinandersetzung mit dem Marxismus und der Legitimität der proletarischen Revolution gestellt. Der Beitrag hat gezeigt, dass die Wissenschaft sich erst ab den 1970er Jahren grundsätzlicher und intensiver mit dem Thema auseinandergesetzt hat und dabei Wellen der Aufmerksamkeit folgte, die auch mit sozialen Bewegungen und deren Wahrnehmungen und Wissen zusammenhingen. Dabei waren es insbesondere die antikolonialen Bewegungen, die Studentenbewegung und dann auch 96 So etwa einschlägig Wilhem Rein (Hg.): Enzyclopädisches Handbuch der Pädagogik, 7 Bde., Langensalza 1905–1908; siehe dort Wilhelm Rein: Die Regierung der Kinder, in: Bd. 7, S. 371– 374. 97 Diesem Aspekt der Hervorbringung des Begriffes im Kontext der expandierenden Jugendforschung seit den 1980er Jahren müsste begriffsgeschichtlich weiter nachgegangen werden. In Reins Handbuch (Anm. 96) kommt der Eintrag »Gewalt« nicht vor, unter »Gewaltsmaßregeln« (Bd. 4) findet sich der erwähnte Verweis auf die »Regierung der Kinder«. Auch der Eintrag »Jugend« kommt bekanntlich nicht vor, aber der Eintrag »Jugendliche Verbrecher« (Bd. 4). Die Verbindung von Jugend und Verbrechen bzw. Kriminalität weist in der Jugendpsychologie des 20. Jahrhunderts eine lange Geschichte auf und spiegelt sich noch in Erik H. Eriksons Verständnis von Jugend als Moratorium, siehe Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1973. 98 Hannah Arendt: Die Krise in der Erziehung, in: Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, München 2012, S. 255–276, S. 258, 273.

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die neue Frauenbewegung, die das Thema in die Arenen des Politischen brachten und zu einer breiteren Auseinandersetzung beitrugen. Mit dem Konzept der »epistemischen Gewalt«, das wesentlich von der Geschlechterforschung entwickelt wurde, richtet sich die Kritik dann auf die Wissenschaft selbst und ihre machtvollen Ausschlüsse.99 Wie stark das Thema Gewalt eine Geschlechterdimension aufweist, hat die neue Frauenbewegung seit den 1970er/1980er Jahren herausgestellt. Eine Fortsetzung erfahren diese Perspektiven seit den 1990er Jahren im Kontext der Auseinandersetzungen um symbolische und verbale Gewalt, aber auch in der Thematisierung von sexualisierter Gewalt seit den 2010er Jahren. Die Verwobenheit der Geschlechterordnung im Gewaltdiskurs, die auch Reemtsma unterstreicht,100 bleibt jedoch häufig unsichtbar und impliziert subtile Aspekte der Verkörperlichung und Kommunikation, die auch in Prozessen von Erziehung und Sozialisation, also in der generationalen Tradierung, weitergegeben werden. Auf extreme Formen der Gewalt, die sich der wissenschaftlichen Beschreibung teilweise entziehen, hat die Holocaust-Forschung immer wieder hingewiesen.101 Grundsätzlich ist die zunehmende wissenschaftliche Ausdifferenzierung sowohl ein Hinweis auf die Verwissenschaftlichung von Gewalt als Aspekt der »Verwissenschaftlichung des Sozialen« (Lutz Raphael) wie auch auf eine gewachsene Gewaltsensibilität. Diese hatte Plessner, nicht für die Wissenschaft, aber als Folge einer Moralisierung der Gesellschaft, bereits in den 1920er Jahren für eine fernere Zukunft prognostiziert. Die gewachsene Gewaltsensibilität in der Wissenschaft geht mit der zunehmenden Bedeutung des Begriffs »Verletzlichkeit« in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften einher. Allerdings bleiben bei der wissenschaftlichen Thematisierung von Gewalt die Schwierigkeiten der Definitionen und Abgrenzungen sowie die Nähe zu Aspekten von Macht und Zwang bestehen. Dies zeigt auch die Definition der WHO aus dem Jahre 2003. Gewalt ist hier »der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichen Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt«.102

99 Sabine Hark: Schweigen die Sirenen? Epistemische Gewalt und feministische Herausforderungen, in: Steffi Hobuß, Nicola Tams, Nicola (Hg.): Lassen und Tun. Kulturphilosophische Debatten zu Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken, Bielefeld 2014, S. 99– 118. 100 Jan Philipp Reemtsma: Gewalt als Lebensform. Zwei Reden, Stuttgart 2016. 101 Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996. 102 Weltgesundheitsorganisation (Hg.): Weltbericht Gewalt und Gesundheit, Kopenhagen 2003, S. 6.

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Der Körper bleibt weiterhin eine zentrale Dimension von Gewalterfahrung. Es wird deutlich, dass auch da, wo es nicht um unmittelbare körperliche Gewaltanwendung geht, sondern um psychische, symbolische oder verbale Formen von Gewalt, Auswirkungen auf den Körper im Spiel sind, die sich teilweise sprachlich schwer fassen lassen. So hat auch die psychische Gewalt eine körperliche Seite und die verbale Gewalt ruft körperliche Reaktionen wie etwa Scham hervor. Trotzdem bleibt die boomende Körpersoziologie weitestgehend gewaltvergessen. Auffällig ist außerdem, dass trotz aller Thematisierung in den letzten Jahrzehnten der Begriff der Gewalt bis heute eine Leerstelle in einschlägigen pädagogischen Lexika, Wörterbüchern oder bei den Grund- und Schlüsselbegriffen ist, während der Begriff der Macht zunehmend Einzug in die Reflexion erhält. Gewalt, so kritisiert auch Reemtsma, werde häufig unzureichend unter »Macht« subsumiert.103 Anders als Macht zielt Gewalt jedoch stets auf Verletzung und Zerstörung. Bei Macht wird, seit Foucault, in der Regel auf die Doppelstruktur von Verhinderung oder Ermöglichung, von Repression und Produktivität, verwiesen,104 während Gewalt als zerstörerische Kraft verstörend bleibt. Verstörend am Phänomen der Gewalt ist auch die von ihr ausgehende Faszination.

103 Jan Philipp Reemtsma: Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002, S. 10ff. 104 Christiane Thompson: Macht, in: Milena Feldmann, Markus Rieger-Ladich, Carlotta Voss, Kai Wortmann (Hg.): Schlüsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, Weinheim/Basel 2022, S. 286–294, S. 297; in diesem neueren Band zu Schlüsselbegriffen findet sich kein Eintrag zu Gewalt, auch nicht in: Dietrich Benner, Jürgen Oelkers (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim/Basel 2004; auch nicht im neueren Band von Gerhard Kluchert, Klaus-Peter Horn, Carola Groppe, Marcelo Caruso (Hg.): Historische Bildungsforschung. Konzepte – Methoden – Forschungsfelder, Bad Heilbrunn 2021; auch Sexualität ist in keiner der genannten Überblicksdarstellungen ein Thema.

Jens Elberfeld

»Sittlichkeitsvergehen«. Zum Diskurs um sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Gebannt blickte die Öffentlichkeit im Spätsommer 1921 in die thüringische Provinz, wo einem der bekanntesten Vertreter der Reformpädagogik vor dem Landgericht Rudolstadt der Prozess gemacht wurde: Gustav Wyneken. Dem Leiter der Freien Schulgemeinde Wickersdorf wurden unzüchtige Handlungen mit Schutzbefohlenen, einem 17- und einem 12-jährigen Schüler, zur Last gelegt.1 Nachdem die Vorwürfe Ende 1920 aufgekommen waren, hatte sich die Presse begierig auf den »Eros-Skandal« gestürzt und es war zur Lagerbildung entlang politisch-weltanschaulicher Fronten gekommen. Unterstützung erhielt Wyneken aus bürgerlich-liberalen und sozialdemokratischen Kreisen, von linken Intellektuellen sowie der Jugendbewegung.2 Bis zuletzt verteidigten sie ihn mit Verweis auf sein Lebenswerk.3 Demgegenüber nutzten konservative und klerikale Kritiker*innen Wynekens den Fall zur Generalabrechnung mit modernen Erziehungsmethoden und den umstrittenen Reformen des Bildungswesens der jungen deutschen Demokratie.4 Hier deutet sich bereits an, dass die minder1 Zum »Fall Wyneken« vgl. Laura Martena: (H)eros vor Gericht. Der »pädagogische Eros« und der Missbrauchsprozess gegen Gustav Wyneken, 1920–1922 (unveröffentlichte Masterarbeit, Ruhr-Universität Bochum 2016). Peter Dudek: »Körpermissbrauch und Seelenschändung«. Der Prozess gegen den Reformpädagogen Gustav Wyneken, Bad Heilbrunn 2020. Thijs Maasen: Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, Berlin 1995. Für Anmerkungen und Kritik danke ich den Herausgeber*innen, besonders Dirk Schumann, sowie Marcel Streng (Düsseldorf/Berlin). 2 So fanden Demonstrationen statt und diverse Solidaritätserklärungen wurden publiziert. Vgl. Martena: (H)eros (Anm. 1), S. 46–49. Maasen: Eros (Anm. 1), S. 153ff. Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011, S. 246f. 3 Erst nach der öffentlichen Verhandlung im zweiten Prozess rückten mehr und mehr Unterstützer*innen von ihm ab. Vgl. Peter Dudek: Versuchsacker fu¨ r eine neue Jugend. Die freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1945, Bad Heilbrunn 2009, S. 284f. Maasen: Eros (Anm. 1), S. 162ff. 4 Wyneken galt ihnen quasi als lebender Beweis dafür, dass derlei Ideen dem Schwinden der Sexualmoral Vorschub leisteten. Vgl. Maasen: Eros (Anm. 1), S. 155ff. Martena: (H)eros (Anm. 1), S. 50ff. Zu Zielen und Reichweite der Reformen vgl. Gerhard Kluchert: Umbruch, Aufbruch, Abbruch. Schulrecht und Schulreform in der Weimarer Republik, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, 2012, Bd. 60, Heft 4, S. 442–452. Jahrbuch für Historische

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jährigen Opfer und ihre Erfahrung sexualisierter Gewalt nicht im Zentrum standen. Dabei leugnete Wyneken die ihm vorgeworfenen Handlungen, wie körperliche Berührungen oder unbekleidetes Schlafen in einem gemeinsamen Bett, mitnichten. Seine Verteidigungsstrategie bestand vielmehr darin, ihren sexuellen Gehalt zu bestreiten. Im Verhältnis zu den Schülern sei er allein dem Erziehungsmodell des pädagogischen Eros gefolgt, und zwischen Erotik und Sexualität müsse man strikt trennen.5 Auffällig ist, dass selbst bei den Eltern der Wickersdorfer Schüler*innen weniger der Verdacht des sexuellen Missbrauchs die Gemüter zu erregen schien als dessen gleichgeschlechtliche Natur.6 Aus diesem Grund rief Wyneken Hans Blüher als Zeugen auf, der ihm als Experte für Männerbünde bescheinigte, der pädagogische Eros habe nichts mit Homosexualität zu tun.7 Ungeachtet dessen wurde Wyneken 1922 vom Gericht zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Antreten musste er die Haft allerdings nicht, da ihm aus unbekannten Gründen die Strafe erlassen wurde.8 Zweierlei lässt sich daran zeigen: Erstens wurde sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Anfang des 20. Jahrhunderts grundsätzlich schon beträchtliche Aufmerksamkeit zuteil, zweitens unterschieden sich Wahrnehmung und Umgang im Rahmen des damals vorherrschenden Konzepts des Sittlichkeitsvergehens aber signifikant von der Gegenwart. Entscheidend für die Herausbildung der heutigen Sichtweise war die Neue Frauenbewegung, die sich Mitte der 1970er Jahre dem Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verschrieb.9 Dieser wurde geprägt durch die Rezeption feministischer

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Bildungsforschung, 2019, Bd. 25, Schwerpunkt: »1919: Demokratisierung, Bildungssystem und Politische Bildung«. Marjorie Lamberti: The Politics of Education. Teachers and School Reform in Weimar Germany, New York/London 2004. Ausführlich hierzu seine Verteidigungsschrift. Vgl. Gustav Wyneken: Eros, Lauenburg/Elbe 1921. Vgl. auch Meike Sophia Baader: Blinde Flecken in der Debatte über sexualisierte Gewalt. Pädagogischer Eros in geschlechter-, generationen- und kindheitshistorischer Perspektive, in: Werner Thole u. a. (Hg.): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik, Opladen/Toronto 2012, S. 80–95. Vgl. Dudek: Versuchsacker (Anm. 3), S. 280f. Maasen: Eros (Anm. 1), S. 135f. Stattdessen führte Blüher in einem Gutachten aus, einer der Jugendlichen habe seine eigenen homoerotischen Gefühle aus Scham verdrängt, was in Hass gegenüber Wyneken umgeschlagen sei. Damit sollte zugleich der Vorwurf der Falschaussage untermauert werden, der schon bei der internen Untersuchung in Wickersdorf erhoben worden war. Vgl. Martena: (H)eros (Anm. 1), S. 46f. Zu Blüher vgl. Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln u. a. 2008. Vgl. Martena: (H)eros (Anm. 1), S. 47. Vgl. Ilse Lenz (Hg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008, S. 283–326, 765–735. Tanja Hommen: Von der Sexualreform bis zur Sexuellen Revolution. Sexualität und sexuelle Gewalt als Themen der Frauenbewegung, in: Ariadne, 2000, Nr. 37/38, S. 100–105. Meike Sophia Baader, Eva Breitenbach, Barbara Rendtorff: Bildung, Erziehung und Wissen der Frauenbewegungen, eine Bilanz, Stuttgart 2021, S. 124–166.

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Theorien aus den USA, die Vergewaltigung aus der engen Bindung von männlicher Sexualität und Gewalt erklärten.10 Der Missbrauch Minderjähriger rückte erst Anfang der 1980er Jahre in den Fokus. Einen Wendepunkt markierte die 1984 erschienene Studie »Väter als Täter«.11 Zum einen wurde deutlich, dass Kindesmissbrauch häufiger vorkam als gemeinhin angenommen und de facto Teil gesellschaftlicher Normalität war. Zum anderen wurde die langlebige Legende vom fremden Mann, der sich an Kindern vergreife, abgelöst von der Erkenntnis, dass die Täter*innen zumeist aus dem sozialen Umfeld des Opfers stammen.12 Nachdem in der Frauenbewegung anfangs Begriffe wie Vergewaltigung und Missbrauch oder bei Kindern Inzest genutzt wurden, setzte sich spätestens in den 1990er Jahren die Rede von »sexueller Gewalt« durch. Auf diese Weise sollte die Gewaltförmigkeit der Handlung akzentuiert und von konsensualer Sexualität kategorisch unterschieden werden. Der zugrundeliegende Gewaltbegriff war weitgefasst und beinhaltete eine strukturelle Dimension ebenso wie psychische Gewalt. In den 2000er Jahren fand der Begriff der »sexualisierten Gewalt« Verbreitung: »Diese Begrifflichkeit macht deutlich, dass es sich in erster Linie um eine Gewalttat handelt, die mittels sexueller Übergriffe ihren Ausdruck findet. Sexuelle Handlungen werden instrumentalisiert, um Gewalt und Macht auszuüben.«13 Bei sexualisierter Gewalt liegt die Betonung also auf Gewalt, auf Gewalt, die das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt. Bei Kindern ist dies auch dann der Fall, wenn sie dem zustimmen. Vor allem im Bereich der Opferberatung, in der Präventionsarbeit und der Sexuellen Bildung hat sich dieses Verständnis mittlerweile durchgesetzt.14 Im vorliegenden Beitrag wird diskursgeschichtlich der Frage nachgegangen, wie sexualisierte Gewalt betrachtet und behandelt wurde, bevor ein solches Konzept existierte. Diesbezüglich richtet sich der Blick auf die deutsche Gesellschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Der Zeitraum ist hierfür besonders geeignet, weil sich ein breiterer Diskurs um den Missbrauch Minderjähriger 10 Vgl. Susan Brownmiller: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, Frankfurt a. M. 1977. 11 Barbara Kavemann, Ingrid Lohstöter: Väter als Täter. Sexuelle Gewalt gegen Mädchen, Reinbek 1984. 12 Vgl. Jens Elberfeld: Von der Sünde zur Selbstbestimmung. Zum Diskurs »kindlicher Sexualität« (BRD 1960–1990), S. 270ff., in: Peter-Paul Bänziger u. a. (Hg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015, S. 247–284. 13 Zartbitter Münster: Sexualisierte Gewalt – was ist das?, 2023, verfügbar unter: https://www.za rtbitter-muenster.de/informationen/sexualisierte-gewalt/begriffsdefinition [15. 04. 2023]. 14 Vgl. Alexandra Retkowski, Angelika Treibel, Elisabeth Tuider (Hg): Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte: Theorie, Forschung, Praxis, Weinheim/Basel 2018. Demgegenüber wird im Strafrecht weiterhin vornehmlich von Missbrauch gesprochen. Vgl. Garonne Bezjak: Grundlagen und Probleme des Straftatbestandes des sexuellen Missbrauchs von Kindern gema¨ß § 176 StGB, Berlin 2015, S. 76–89.

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entfaltete, der von der Wissenschaft über das Recht bis zu den Massenmedien reichte. Das lag auch daran, dass um 1900 ein Konzept jugendlicher Sexualität überhaupt erst entstand und sich damit einhergehend ebenso die Vorstellung kindlicher Sexualität wandelte.15 Hinsichtlich sexualisierter Gewalt an Minderjährigen liegen für den Untersuchungszeitraum verschiedene Studien vor.16 Allerdings beschränken sie sich in der Regel auf ausgewählte Bereiche und Akteur*innen. So befassen sich einige Arbeiten mit medialen Skandalen um bekannte Personen wie den Bankier Sternberg17 oder den Maler Graef 18, aber auch um bis dahin Unbekannte.19 Angesichts der Geschehnisse in der Odenwaldschule geriet die Reformpädagogik, und mit ihr die Jugendbewegung, verstärkt ins Visier kritischer Untersuchungen.20 Zu anderen Themen, beispielsweise sexualisierter Gewalt gegen weibliche Arbeiterjugendliche, finden sich dagegen nur vereinzelt Untersuchungen.21 Eine wichtige Ausnahme stellt die Studie von Tanja Hommen dar, die eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektive einnimmt.22

15 Vgl. Lutz Sauerteig: Loss of Innocence: Albert Moll, Sigmund Freud and the Invention of Childhood Sexuality Around 1900, in: Medical History, 2012, Jg. 56, Nr. 2, S. 156–183. Jens Elberfeld: Kindliche Sexualität historisch, in: Gender Glossar (i. E.). 16 Zur Forschung vgl. Dirk Bange: Geschichte der Erforschung von sexualisierter Gewalt im deutschsprachigen Raum unter methodischer Perspektive, in: Cornelia Helfferich, Barbara Kavemann, Heinz Kindler (Hg.): Forschungsmanual Gewalt: Grundlagen der empirischen Erhebung von Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierter Gewalt, Wiesbaden 2016, S. 33– 49. Zu unterscheiden ist hier die Literatur zu Pädophilie, »Kinderschänder« etc. vgl. Brigitte Kerchner: Körperpolitik. Die Konstruktion des »Kinderschänders« in der Zwischenkriegszeit, in: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Geschichte und Gesellschaft, 2005, Sonderheft 21, S. 241–278. Katrin M. Kämpf: Pädophilie. Eine Diskursgeschichte, Bielefeld 2022. 17 Vgl. Brigitte Kerchner: »Unbescholtene Bu¨ rger« und »gefährliche Mädchen« um die Jahrhundertwende. Was der Fall Sternberg fu¨ r die aktuelle Debatte zum sexuellen Mißbrauch an Kindern bedeutet, in: Historische Anthropologie, 1998, Jg. 6, Heft 1, S. 1–32. 18 Vgl. Dagmar Reese: Akt und Anstand. Der Skandal um den Gustav Graef Prozess, Berlin 1885, Köln 2014. 19 Vgl. Michael Hagner: Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900, Berlin 2010. 20 Vgl. Peter Dudek: »Liebevolle Züchtigung«. Ein Mißbrauch der Autorität im Namen der Reformpädagogik, Bad Heilbrunn 2012. Oelkers: Eros (Anm. 2). Sven Reiß: Päderastie in der deutschen Jugendbewegung. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, in: Zeitschrift fu¨ r Pädagogik, 2016, Jg. 62, Nr. 5, S. 670–683. Edith Glaser: »Freilich ist der Fall bei einem Pädagogen besonders heikel …«. Zur (Nicht-)Thematisierung sexualisierter Gewalt in der reformpädagogischen Historiographie, in: Erziehungswissenschaft, 2021, Jg. 32, Nr. 63, S. 41– 51. 21 Vgl. Eva Brücker: »Und ich bin heil da ’rausgekommen.« Gewalt und Sexualität in einer Berliner Arbeiternachbarschaft (1916/17–1958), in: WerkstattGeschichte, 1993, Heft 4, S. 20– 32. 22 Vgl. Tanja Hommen: Sittlichkeitsverbrechen. Sexuelle Gewalt im Kaiserreich, Frankfurt a. M./ New York 1999.

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Im Unterschied zum Gros der Forschung wird der Begriff sexualisierte Gewalt im Folgenden nicht analytisch, sondern heuristisch benutzt, um dergestalt zur Historisierung des Phänomens beizutragen: Welche Begriffe und Konzepte verwendete man Anfang des 20. Jahrhunderts stattdessen? Wurde damit derselbe Gegenstandsbereich bezeichnet wie mit den heutigen? Und was bedeutete dies für die Wahrnehmung und den Umgang mit ›sexualisierter Gewalt‹? Dafür werden zunächst das Sexualstrafrecht und die Rechtspraxis betrachtet. Im Anschluss wird untersucht, wie sich die Institution Schule dazu verhielt. Nachdem so die hegemoniale Sichtweise herausgearbeitet worden ist, wird abschließend nach Gegendiskursen gefahndet. Konkret wird erörtert, inwiefern sich in bürgerlicher Frauenbewegung und Psychoanalyse divergierende Vorstellungen finden lassen. Im Fazit werden die Befunde diskutiert und ausblickhaft gefragt, welche Faktoren die weitere Entwicklung des Diskurses prägten.

Konkurrierende Rechtsgüter: Sittlichkeit statt Selbstbestimmung Das Recht stellt ein wesentliches Instrument für die Regulierung und Regierung des Sexuellen dar. Das betrifft nicht nur den Umgang mit Tätern und Opfern strafbarer Handlungen, sondern ebenso die Etablierung und Durchsetzung sexueller Normen.23 Ende des 18. Jahrhunderts setzte diesbezüglich eine grundlegende Reform des Strafrechts ein, beispielsweise in Österreich unter Kaiser Joseph II. Mithin schwand im Spätabsolutismus und unter dem Einfluss der Aufklärung die zentrale Bedeutung der Religion. Infolgedessen wurden konsensuale heterosexuelle Praktiken ein Stück weit entkriminalisiert, allen voran Ehebruch, und in die moralische Verantwortung der/des Einzelnen übergeben.24 Das moderne Strafrecht entstand jedoch erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als in verschiedenen deutschen Staaten neue Gesetzbücher ausgearbeitet wurden und die zum Teil noch geltende Constitutio Criminalis Carolina ablösten.25 Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs kam es zu deren Vereinheitlichung. Am 1. Januar 1872 trat das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) in Kraft, das den Bereich 23 Vgl. Ulrike Lembke: Sexualität und Recht. Eine Einführung, in: dies. (Hg.): Regulierungen des Intimen. Sexualität und Recht im modernen Staat, Wiesbaden 2017, S. 3–27. Christine Künzel (Hg.): Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung. Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von der Aufklärung bis heute, Frankfurt a. M. 2003. 24 Vgl. Gerhard Ammerer: Revolution in der Bewertung des Sexuellen? Diskurse und Neuinterpretation sexuellen Verhaltens während der Vorbereitung des Josephinischen Strafgesetzbuches (1781–1787), in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, 2019, Bd. 18, S. 81–102. Franz X. Eder: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München 2002, S. 74–90. Zum frühneuzeitlichen Recht vgl. ebd., S. 51–74. Bezjak: Grundlagen (Anm. 14), S. 43–64. 25 Vgl. Hommen: Sittlichkeitsverbrechen (Anm. 22), S. 23–31.

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des Sexuellen in Abschnitt 13 behandelte.26 Im Unterschied zum frühneuzeitlichen Recht hatte man eigene Tatbestände in Bezug auf Minderjährige eingeführt und an mehreren Stellen Differenzierungen nach dem Alter der/des Betroffenen vorgenommen.27 Zwei Gesetze sind vor allem von Interesse.28 So hieß es in § 176, 3 RStGB: »Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet.« Folglich waren sexuelle Kontakte mit Minderjährigen auch dann strafbar, wenn sie einvernehmlich erfolgten. Dahinter stand die Vorstellung, Kinder verfügten über keinen eigenen Willen, sowie das langlebige Konzept kindlicher Asexualität.29 Bei der Einführung eines Schutzalters orientierte man sich an der landläufigen Auffassung, die Kindheit ende mit dem vierzehnten Geburtstag. Ansonsten war die Differenzierung zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsensein nicht immer eindeutig und wandelte sich im Rahmen der Schutzalterdebatte. Ferner bedeutete der Begriff der »unzüchtigen Handlung«, dass nicht erst bei vollzogenem Geschlechtsverkehr ein Vergehen vorlag, wie im Fall der »Notzucht« mit Erwachsenen, sondern ein größeres Spektrum devianter Praktiken zugrunde gelegt wurde. Wenngleich im Gesetzestext nicht nach Geschlecht unterschieden wurde, lag der Fokus auf weiblichen Opfern.30 Des Weiteren lautete § 182 RStGB: »Wer ein unbescholtenes Mädchen, welches das sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat, zum Beischlaf verführt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft.« An der Bestimmung zeigte sich deutlich die Ambivalenz im neuzeitlichen Strafrecht von individuellem Schutz und bürgerlich-moralischer Normierung.31 Zentral war die Einführung der vagen Kategorie der Unbescholtenheit, wodurch die Frage der Strafbarkeit vom Lebenswandel des Opfers abhängig gemacht wurde. Überdies lag ein spezifisches Merkmal des Vergehens im außerehelichen Charakter, weniger im Alter. Letztlich bestand der entscheidende Unterschied zum aktuellen Sexualstrafrecht im zu schützenden Rechtsgut.32 Im Kaiserreich war der Schutz des Indi26 Schon kurz nach seiner Einführung wurden in der Rechtswissenschaft Debatten über eine erneute Reform geführt. Diesbezüglich machte sich spätestens ab der Jahrhundertwende der wachsende Einfluss der Sexualwissenschaft und der Psycho-Disziplinen bemerkbar. Da aber die hier relevanten Gesetze im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht gravierend verändert wurden, konzentriere ich mich auf die ursprüngliche Fassung von 1871/72. 27 Vgl. Bezjak: Grundlagen (Anm. 14), S. 65–76. Hommen: Sittlichkeitsverbrechen (Anm. 22), 28f. 28 Weitere Gesetze, auf die hier nicht weiter eingegangen wird, betrafen Inzest bzw. die sogenannte Blutschande (§ 173, 4), den Umgang mit Schutzbefohlenen (§ 174) und Kuppelei (§ 180). 29 Vgl. Hommen: Sittlichkeitsverbrechen (Anm. 22), S. 29. 30 Vgl. ebd., u. a. S. 2. 31 Vgl. ebd., S. 29f. 32 Vgl. ebd., S. 24–27.

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viduums und dessen körperlicher Unversehrtheit nur sekundär von Belang. Im Vordergrund stand der Schutz der Öffentlichkeit sowie der bürgerlichen Moral, weshalb Sexualität an Hand des Codes sittlich/unsittlich be- und verurteilt wurde. Das schlug sich nicht zuletzt in der Terminologie nieder, wo explizit von »Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit« die Rede war, die – nur folgerichtig – unter die »Delikte gegen die Allgemeinheit« subsumiert wurden. Heutzutage werden diese als »Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung« begriffen, woran der Wandel im zu schützenden Rechtsgut abzulesen ist. In der historischen Forschung wird daher die Hauptfunktion des Strafrechts auch im Schutz der staatlichen Ordnung gesehen.33 Noch deutlicher trat dies in der Rechtspraxis zutage.34 Wirft man zunächst einen Blick auf das quantitative Ausmaß ist festzuhalten, dass unzüchtige Handlungen an Kindern erst seit 1897 in der Kriminalstatistik des Deutschen Reichs ausgewiesen wurden. Aus den offiziellen Zahlen, die freilich nur das Hellfeld abbildeten, geht hervor, dass zwischen 1897 und 1912 pro Jahr durchschnittlich 222 Personen angeklagt und 186 für schuldig befunden wurden.35 Die überwiegende Mehrheit der Täter war männlich, die Mehrzahl der Opfer weiblich. Vor allem bei Fällen wiederholten sexuellen Missbrauchs stammten die Täter meistens aus der Familie oder dem näheren sozialen Umfeld.36 Im Hinblick auf Kinder und Jugendliche lässt sich an zwei Punkten exemplarisch ausführen, welche Effekte der Sittlichkeits-Diskurs in der Rechtspraxis zeitigte. Der erste betraf vorrangig weibliche Jugendliche, die Opfer einer Notzucht geworden waren. Am Umgang mit ihnen wurde der Einfluss eines bürgerlich-patriarchalen Geschlechterarrangements offenkundig. So beschäftigte man sich vor Gericht intensiv mit der Frage, ob und inwieweit physische Gewalt angewendet worden war. Allerdings stand dies in Verbindung mit der vordringlicheren Frage, ob das Opfer Widerstand geleistet hatte. Dahinter verbarg 33 Vgl. ebd., S. 24f. Vgl. auch Johann Karl Kirchknopf: Sexuelle Gewalt gegen Kinder im österreichischen Strafrecht des 19. und 20. Jahrhunderts – ein Delikt und Strukturmerkmal zugleich, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 2017, Jg. 27, Nr. 3, S. 106–132. 34 Dabei beziehe ich mich auf die grundlegende Studie von Tanja Hommen. Vgl. dies.: Sittlichkeitsverbrechen (Anm. 22), bes. S. 98–111, 140–169. 35 Vgl. ebd., S. 140–142. Oft verzichteten die Eltern aus Scham und der Sorge um den Ruf des Kindes sowie der Familie auf eine Anzeige; vgl. ebd., S. 174f. Zum Vergleich: Laut polizeilicher Kriminalstatistik kam es 2022 zu 15.520 Fällen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen; siehe Polizeiliche Kriminalstatistik 2022. Ausgewählte Zahlen im Überblick, S. 16, verfügbar unter: https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminal statistik/2022/FachlicheBroschueren/IMK-Bericht.pdf ?__blob=publicationFile&v=4 [31. 03. 2023]. 36 Vgl. Hommen: Sittlichkeitsverbrechen (Anm. 22), S. 146–152. Dass man schon im Kaiserreich darum wusste, sich das Bild des fremden Täters aber bis in die 1980er Jahre hielt und zuweilen heute fröhliche Urständ feiert, wird so noch erklärungsbedürftiger.

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sich die Idee, es gehöre für die Frau, gleich welchen Alters, eben zur moralischen Konvention, amouröse Avancen zunächst zurückzuweisen und sich demonstrativ zu zieren. Dies allein wurde aber vor Gericht weder als ernstgemeinte Abwehr unerbetener Zudringlichkeiten gewertet, noch wurde ein ›grobes‹ Vorgehen des Angeklagten, das man aus heutiger Perspektive wahrscheinlich als gewaltsam einstufen würde, zwingend als strafbare Handlung gewertet.37 Vielmehr musste die Frau respektive die Jugendliche nachweisen, sich entschieden und dauerhaft gewehrt zu haben, ansonsten konnte ihr das als stillschweigendes Einverständnis ausgelegt werden.38 Umgekehrt wurde ein gewisses Maß an »Kraftanwendung«39 seitens des Mannes in der Regel gebilligt, entsprach es doch der gängigen Vorstellung einer aktiven und zuweilen aggressiven männlichen Sexualität.40 Nur wenn eine gewisse Grenze überschritten worden war, etwa bei schweren Verletzungen oder »thätlichem Widerstand«41, wurde aus dem Verhalten eine rechtlich relevante Gewaltanwendung und erfüllte den Tatbestand der Notzucht.42 Im Unterschied zum heutigen Konzept sexualisierter Gewalt wurde Gewalt demnach enger gefasst und vor allem relational betrachtet in Abhängigkeit vom Auftreten des Opfers.43 Der zweite Punkt betraf die Kategorie der Unbescholtenheit. Diese spielte nicht nur bezüglich des genannten § 182 eine Rolle, sondern war bei Sittlichkeitsvergehen generell von Bedeutung. So gehörte es zum üblichen Procedere, Auskünfte über die Persönlichkeit und den Lebenswandel des zumeist weiblichen Opfers einzuholen. Galt die Person als ›frech‹ oder war als Lügnerin bekannt, wirkte sich das negativ auf ihre Glaubwürdigkeit aus.44 Pflegte sie einen ›leichtfertigen‹ Umgang mit Männern und besuchte regelmäßig Tanzveranstaltungen, wurde ihre Sittlichkeit in Zweifel gezogen.45 Angesichts dessen war es gerade für junge Frauen von enormer Wichtigkeit, sich als moralisch einwand-

37 »Umgangsweisen wie schubsen, anschreien oder den Mund zuhalten konnten Teil einer gegenseitigen Annäherung sein.«; Hommen: Sittlichkeitsverbrechen (Anm. 22), S. 126. 38 Vgl. ebd., S. 120–123, S. 129. 39 Ebd., S. 35. 40 Vgl. ebd., S. 36–38. Überdies waren in manchen Regionen und Milieus gewisse Praktiken etabliert, die als ›derbe Scherze‹ oder lokales Brauchtum durchgingen, aus heutiger Sicht aber problematisch erscheinen. Insofern war die Wahrnehmung und Deutung von Gewalt immer auch situativ und kontextabhängig; vgl. ebd., S. 110f., 133–135. 41 Ebd., S. 35. Vgl. auch ebd., S. 139. 42 Zugleich wurde auf diese Weise ein Raum für legale und legitime Formen von Gewalt im Bereich des Sexuellen geschaffen. 43 Vgl. ebd., S. 35–42. 44 Diesbezüglich spielte auch das Ansehen des Beschuldigten und sein sozialer Status eine wichtige Rolle, etwa wenn es um Missbrauch durch den Dienstherren ging; vgl. ebd., S. 129– 133, 148–150, 179–181. 45 Vgl. ebd., S. 130–133.

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freie, schamhafte und sexuell unerfahrene Person zu präsentieren.46 Demgegenüber konnte eine Verteidigungsstrategie darin bestehen, das vermeintliche Opfer als verdorben und ›leicht zugänglich‹ hinzustellen.47 Aus diesem Grund wurde im Rahmen der gerichtsmedizinischen Untersuchung überprüft, ob die Betroffene noch Jungfrau war und an ihrem Körper nach weiteren Anzeichen für sexuelle Aktivitäten gesucht.48 Obwohl Unbescholtenheit bei Vergehen an Kindern in den entsprechenden Gesetzen nicht erwähnt wurde, gerieten sie ebenfalls unter Rechtfertigungsdruck.49 Zu früher Kontakt mit Sexualität widersprach dem Ideal kindlicher Unschuld und konnte als Ausdruck moralischer Verdorbenheit gewertet werden.50 Tanja Hommen spricht den Fall eines fünfjährigen Mädchens an, dem die Kenntnis bestimmter Worte bereits als sexuelle Verwahrlosung ausgelegt wurde, was den zuständigen Richter veranlasste, dem Angeklagten eine Strafmilderung zu gewähren.51 Ergo existierte nicht nur kein Recht des Kindes auf eine eigene Sexualität, die es durch das Strafrecht zu schützen galt. Im Gegenteil wurde aus dem Befund sexuellen Verhaltens oder bloßen Vorwissens eine Mitschuld des Kindes an dem an ihm begangenen Vergehen abgeleitet!52 Summa summarum trug die Ausrichtung des Strafrechts an der Sittlichkeit zu einer Relativierung körperlicher Gewalt und individueller Verantwortung sowie damit verbunden zu einer tendenziellen Täter-Opfer-Umkehr bei.53 Insofern dies zulasten von Frauen, aber auch von Kindern und Jugendlichen ging, wurde die hierarchische und hierarchisierende Geschlechter- und Generationenordnung (re)produziert.54 Dass der Schutz der Sittlichkeit nicht gleichbedeutend sein musste mit dem Schutz vor sexualisierter Gewalt, traf ebenso auf andere Bereiche zu.

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Vgl. ebd., S. 118f. Vgl. ebd., S. 207f. Vgl. ebd., S. 64–73. Vgl. ebd., S. 155–158. Vgl. ebd., S. 167f. Vgl. ebd., S. 168. Bei dem besagten Begriff handelte es sich um »stopfeln« als Umschreibung für Geschlechtsverkehr. 52 Vgl. ebd., S. 209f. 53 Paradoxerweise trug gerade die ›Erfindung‹ des Opfers im Strafrecht Anfang des 20. Jahrhunderts, welche die bisherige Fixierung auf die/den Täter*in beendete, dazu bei, verstärkt nach dessen Mitschuld zu fragen, gerade bei Sexualvergehen. Vgl. David von Mayenburg: »Geborene Opfer«. Bausteine fu¨ r eine Geschichte der Viktimologie – Das Beispiel Hans von Hentig, in: Rechtsgeschichte, 2009, Bd. 14, S. 122–147. 54 In der Forschung ist daher bisweilen auch von struktureller Gewalt im Sexualstrafrecht die Rede; vgl. Kirchknopf: Gewalt (Anm. 33). Zu Kontinuitäten vgl. Isabel V. Hull: Sexualstrafrecht und geschlechtsspezifische Normen in den deutschen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 221–234.

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Sittlichkeitsvergehen an Schulen: Eine Fallstudie zu den Franckeschen Stiftungen Kontrolle und Disziplinierung von Sexualität durch die Schule war kein neues Phänomen. Parallel zum Aufkommen des Anti-Onanie-Diskurses und dem Wandel in der Wahrnehmung der Kindheit begannen sich Pädagogen schon im späten 18. Jahrhundert darüber Gedanken zu machen. Das schlug sich in Erziehungskonzepten nieder, prominent in Jean-Jacques Rousseaus »Émile«, aber ebenfalls in der Erziehungspraxis.55 Im deutschsprachigen Raum taten sich die Philanthropen hervor, in deren Schulen ein strenges Überwachungsregime herrschte.56 Um 1900 setzte erneut eine breite öffentliche Debatte ein, die sich dieses Mal auf die angebliche Zunahme von Sittlichkeitsvergehen unter Schüler*innen bezog, womit hauptsächlich männliche Jugendliche der höheren Schulen gemeint waren.57 Das muss vor dem Hintergrund dreier gesellschaftlicher Entwicklungen gesehen werden: erstens der ›Erfindung‹ der Jugend und damit verknüpfter Krisenszenarien und Moralpaniken, zweitens der zunehmenden Kritik an Schule und Bildung sowie deren gesundheitsschädigender Wirkung auf Körper und Geist, sowie drittens dem Entstehen des modernen Sexualitätsdiskurses samt der Warnung vor diversen Gefahren.58 Eingebettet war dies in eine grassierende Moderne-Skepsis und Kulturkritik, die allerorten Niedergang, Verfall und Entartung auszumachen glaubte.59 An dieser Stelle widme ich mich der Frage, wie die Institution Schule Anfang des 20. Jahrhunderts mit Sittlichkeitsvergehen umging. Dabei konzentriere ich 55 Vgl. Hilke Hentze: Sexualität in der Pädagogik des späten 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 1979, S. 17–46. Auch im deutschsprachigen Raum machten sich bekannte Pädagogen wie Salzmann und Basedow Gedanken über kindliche Sexualität; vgl. ebd., S. 47–92. 56 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983, S. 40–43. Käte Meyer-Drawe: Hygienische Imaginationen. Der Schrecken der Selbstbefleckung im Philanthropinismus, in: Stefanie Zaun, Daniela Watzke, Jörn Steigerwald (Hg.): Imagination und Sexualität. Pathologien der Einbildungskraft im medizinischen Diskurs der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 209–223. 57 Vgl. u. a. William Stern, Walter Hoffmann: Sittlichkeitsvergehen an höheren Schulen und ihre disziplinäre Behandlung. Gutachten auf Grund amtlichen Materials, Leipzig 1928. Wilhelm Schramm: Sittlichkeitsvergehen an höheren Schulen und ihre disziplinare Behandlung, in: Deutsches Philologen-Blatt, 1928, Heft 37, S. 547–550. 58 Vgl. Barbara Stambolis: Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach 2003. Jörn Eiben: ›Die schlaffe Jugend‹ im Kaiserreich. Leistungsfähigkeit und bewegte Schu¨ lerkörper, in: Sabine Reh, Norbert Ricken (Hg.): Leistung als Paradigma. Zur Entstehung und Transformation eines pädagogischen Konzepts, Wiesbaden 2018, S. 211–226. Edward Ross Dickinson: Sex, Freedom, and Power in Imperial Germany, 1880–1914, New York 2014. 59 Vgl. Edward J. Chamberlain, Sander L. Gilman (Hg.): Degeneration. The Dark Side of Progress, New York 1985. Daniel Pick: Faces of Degeneration. A European Disorder 1848–1918, Cambridge 1989.

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mich aus arbeitspragmatischen Gründen auf die Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale.60 Der Untersuchungszeitraum der nicht-repräsentativen Fallstudie reicht von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre und umfasst somit Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Nicht systematisch nachgegangen wird der Frage, welchen Einfluss das jeweilige politische System bzw. deren Wandel auf Wahrnehmung und Umgang mit Sittlichkeitsvergehen an Schulen hatte. Seit ihrer Gründung als Waisenanstalt durch August Hermann Francke Ende des 17. Jahrhunderts beheimateten die Stiftungen eigene Schulen. Anfang des 20. Jahrhunderts existierten auf dem Gelände fünf Schulen unterschiedlichen Typs und für beiderlei Geschlecht, sowie drei Erziehungsanstalten.61 Für eine pietistische Einrichtung wenig überraschend legte man größten Wert auf eine moralisch tadellose Lebensführung und hatte ein wachsames Auge auf das Treiben der Zöglinge. Um 1900 wuchs das Interesse an ihrer Sexualität nicht nur, es veränderte sich auch. Abiturienten wurden in ärztlichen Vorträgen vor Geschlechtskrankheiten gewarnt, Aufklärungsunterricht kam langsam auf und Sport erlebte einen rasanten Aufschwung als Antidot zu den überall lauernden Versuchungen des Trieblebens.62 Für den Untersuchungszeitraum finden sich dennoch (oder gerade deshalb?) etliche Vorfälle in den Akten. In einem Schreiben vom 13. 07. 1911 berichtete das Direktorium der Franckeschen Stiftungen dem Königlichen Provinzial-Schulkollegium in Magdeburg von einer Missetat eines ihrer Schüler.63 Erich M. lebe seit zehn Jahren als Zögling im Alumnat des Pädagogiums und sei zurzeit Primaner der Latina. Zu Beginn des Schreibens wird betont, der Schüler sei nie schlecht aufgefallen. Im Gegenteil habe er wissenschaftliches Interesse gezeigt, vor allem an deutscher Literatur. Zudem sei er ein »frischer Turner und Ballspieler«64, dem man in sittlicher Beziehung glaubte vertrauen zu können. Umso überraschter sei man gewesen, als Ende Mai zwei jüngere Mitzöglinge meldeten, Erich M. habe sich an ihnen »wiederholt durch unzüchtige Handlungen vergangen«65. In einem sogleich an60 Da ein großer Teil der Schüler*innen auch in den Franckeschen Stiftungen wohnte, unterschied sich deren Situation von der in ›reinen‹ Schulen. Zukünftige Studien müssten untersuchen, inwiefern der Umgang mit Sexualität dadurch geprägt war, dass es sich partiell um eine »totale Institution« (Erving Goffman) handelte. 61 Vgl. Rüdiger Loeffelmeier: Die Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale von 1918–1946. Bildungsarbeit und Erziehung im Spannungsfeld der politischen Umbrüche, Tübingen 2004, S. 13–58. 62 Vgl. Jens Elberfeld: Jugendliche Körper. Aufbrüche, Anforderungen und Ambivalenzen der Moderne, in: Holger Zaunstöck (Hg.): Moderne Jugend? Jungsein in den Franckeschen Stiftungen 1890–1933, Halle 2019, S. 126–137. 63 Im Folgenden werden die Namen aller direkt Beteiligten bewusst nicht vollständig genannt. 64 O. A.: Schreiben an das Königliche Provinzial-Schulkollegium Magdeburg (1911). AFSt/W VIII/II/12 Bd.2, 77. 65 Ebd.

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gesetzten Verhör habe er die »Berührung und Reizung der Geschlechtsteile«66 seiner Mitschüler gestanden. Zur Erklärung gab er an, »(…) es sei plötzlich und unwiderstehlich über ihn gekommen, er bereue sein Vergehen und sehe ein, daß er die schwerste Bestrafung verdiene.«67 In der Tat ergriff man die härtesten Maßnahmen und ordnete an, Erich M. umgehend aus dem Pädagogium und ebenso aus der Latina zu entfernen. Dies konnte weitreichende Konsequenzen haben, denn die Aufnahme an eine andere Schule – und die Möglichkeit das Abitur abzulegen – war damit nahezu ausgeschlossen. Der Vormund von Erich M. bat daher in mehreren Briefen, die Entlassung rückgängig zu machen und ihm wenigstens den Besuch einer anderweitigen Schule zu ermöglichen.68 Nicht ersichtlich wird aus den Quellen, ob es sich nach heutigen Maßstäben um sexualisierte Gewalt gehandelt hat. Weder erfährt man etwas über den genauen Hergang, noch über das Alter der betroffenen Schüler. Generell fällt auf, dass bei allen in den Akten vermerkten Vorfällen mehrere Personen beteiligt waren und der Verdacht der Nötigung im Raum stand. Offenbar hat bloß individuelles Onanieren kein offizielles Verfahren nach sich gezogen. Ansonsten scheint man in erster Linie daran interessiert gewesen zu sein, einen Schuldigen ausfindig zu machen und zu bestrafen, wohingegen das Gros der Beteiligten für gewöhnlich als verführte Mitläufer betrachtet wurde und mit milden Strafen rechnen durfte. Das traf ebenfalls auf mehrere Begebenheiten Ende 1938/Anfang 1939 zu.69 Demzufolge waren im Oktober 1938 mehrere Schüler beim gegenseitigen Onanieren erwischt worden. Im Verhör gab der Schüler Z. an, von dem Schüler B. dazu genötigt worden zu sein. Gleichwohl räumte er ein, auch alleine »Dummheiten« zu treiben, etwa auf dem »Lokus« oder im Bett.70 B. habe außerdem des Öfteren versucht, andere Schüler anzufassen. Unter der Androhung, seine Mutter zu einem gemeinsamen Gespräch dazu zu holen, gab B. schließlich einen derartigen Vorfall zu. Der mit der Angelegenheit betraute Studienassessor Dr. Karl Aley vermerkte in seinem Bericht, man habe die Beschuldigten und zwei weitere Schüler seit längerem im Verdacht gehabt. In den nun veranlassten Verhören gaben die Befragten zu, regelmäßig alleine oder gemeinsam zu onanieren. Zu ihrer Entschuldigung brachten sie vor, dies sei übliche Praxis in den Stiftungen und sie hätten es von älteren Schülern übernommen. Darüber hinaus 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Vgl. AFSt/W VIII/II/12 Bd. 2, S. 78–80. Kritik an dieser Form der Bestrafung übte prominent William Stern; vgl. Stern, Hoffmann: Sittlichkeitsvergehen (Anm. 57), S. 94ff. 69 Insgesamt scheint sich der Umgang der Franckeschen Stiftungen mit Sittlichkeitsvergehen im Untersuchungszeitraum und trotz der verschiedenen politischen Systeme nicht verändert zu haben. 70 Dr. Aley: Niederschrift über sexuelle Verfehlungen von B. und Z. (17. 10. 1938). AFSt/S A IV 106.

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gaben sie zu Protokoll, von anderen, namentlich von B., dazu verführt worden zu sein.71 Am Ende wurde B. der Schule verwiesen. Die restlichen Beschuldigten wurden auf andere Stuben aufgeteilt und sollten mit Hilfe ihrer Mütter durch »scharfes Drohen und dauerndes Ermahnen«72 in Zukunft davon abgehalten werden. Obendrein wollte man für ihre »vernünftige Aufklärung«73 sorgen und dafür extra Materialien bestellen. Ein ähnlich gelagerter Fall ereignete sich im folgenden Januar. Wieder waren mehrere Schüler beim gemeinsamen und gegenseitigen Onanieren erwischt worden. Bei der Aufklärung des Vergehens wurde rasch unterschieden zwischen jenen, denen man eine aktive Rolle unterstellte, und solchen, die verführt worden seien. Und während Letztere eine nicht näher dargelegte Bestrafung erwartete, wurden Erstere von der Schule geworfen.74 In den überlieferten Schriftstücken zu Sittlichkeitsvergehen von Schülern ist zwischen den Zeilen eine gewisse Empörung ob des Delikts zu spüren, die gelegentlich offen zutage tritt in Form einer expliziten moralischen Verurteilung der Tat respektive des Täters. Des Weiteren ist den Protokollen zu entnehmen, mit welchem Nachdruck die Verhöre geführt wurden. Bisweilen scheinen sie weniger ein Instrument zur Erkenntnis, denn zum erzwungenen Bekenntnis gewesen zu sein: Vergehen zugeben, moralische Schuld eingestehen, Reue zeigen, eigene Bestrafung fordern. Anders sah das im Fall des Lehrers Dr. H. aus. Am 21. 03. 1925 war seitens der Stiftungen eine Untersuchung gegen den Studienrat eingeleitet und eine sofortige Beurlaubung bis Ostern 1926 beantragt worden. Überdies verlieh das zuständige Gremium seinem Wunsch Ausdruck, H. möge danach nicht in den stiftischen Dienst zurückkehren.75 Was war passiert? In den Wochen zuvor waren Vorwürfe laut geworden, H. habe mehrfach »unzüchtige Handlungen«76 an minderjährigen Knaben begangen, von denen einige die Oberrealschule der Franckeschen Stiftungen besuchten, an der er als Lehrer tätig war. In seiner Privatwohnung habe er diese mit dem Stock und mit der Hand auf den entblößten Hintern geschlagen.77 In einem Fall habe er gar einen unbekleideten 71 In einem Gespräch äußerte B.s Mutter wiederum, ihr Sohn sei als »reiner, unschuldiger Junge« in die Anstalten gekommen und hier von einem älteren Schüler verführt worden; vgl. Dr. Aley: Betr. Waisenanstalt. Sexuelle Verfehlungen von B. u. a. (28. 10. 1938). AFSt/S A IV 106. 72 Aley: Niederschrift (Anm. 70). 73 Ebd. 74 Vgl. o. A.: Sonderprotokoll der Hauskonferenz vom 18. 01. 1939. AFSt/S A IV 106. 75 AFSt/W VIII/IV/7, Bd. 7, Verfahren gegen Dr. H., S. 2. 76 Ebd., S. 3a. 77 Nicht angesprochen wurde in diesem Zusammenhang die zeitgenössisch verbreitete Annahme, körperliche Züchtigung diene manchen zur sexuellen Erregung; vgl. Artur Kronfeld: Flagellation, in: Max Marcuse (Hg.): Handwörterbuch der Sexualwissenschaft. Enzyklopädie

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Knaben angehalten, sich auf seinen Rücken zu setzen. Aufgrund dessen wurde ein Disziplinarverfahren durch das Provinzial-Schulkollegium gegen ihn eröffnet. Auffällig ist, dass die Stimmen der Betroffenen in den Akten kaum und höchstens indirekt zu vernehmen sind. Stattdessen befasste man sich ausgiebig mit dem sich anschließenden Konflikt über ausstehende Gehaltszahlungen und die weitere Beschäftigung des Beschuldigten. Die Stiftungen machten eine schwere Pflichtverletzung geltend und argumentierten, H. habe sich durch sein Verhalten »unwürdig«78 für den Lehrerberuf erwiesen. In der Zwischenzeit hatte sich H. jedoch einen Rechtsanwalt genommen und dafür gesorgt, dass sein Fall im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung landete. Dieses ordnete im September 1926 an, die Amtsenthebung wieder aufzuheben und das ausstehende Gehalt auszuzahlen. Allerdings sollte H. wegen der Vorfälle versetzt werden. Im weiteren Verlauf fand man heraus, dass H. seit langem ein ausgeprägtes Interesse an »psychopathologischen Jugendlichen«79 hegte. Aus diesem Grund sei er von 1922 bis 1924 beurlaubt gewesen, um hierzu an der medizinischen Fakultät der Universität Halle zu forschen. Das habe sich herumgesprochen, weshalb in der Folgezeit immer wieder auffällige Jugendliche zur Untersuchung und Beratung an ihn überwiesen worden seien.80 Etliche von ihnen wurden daraufhin befragt. Ihre Darstellungen des Geschehens wurden von H. mit Nachdruck zurückgewiesen. Vielmehr erhob er seinerseits gegen den Schüler Konrad P. den Vorwurf der Falschaussage.81 Andere Punkte versuchte er zu entkräften. Beispielsweise hätten sich die Jugendlichen nur für gymnastische Übungen der Kleider entledigt oder zur Untersuchung auf Würmer. Ferner seien

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der natur- und kulturwissenschaftlichen Sexualkunde des Menschen, Bonn 21926, S. 190. Zudem wurde in der Wissenschaft diskutiert, inwiefern Kinder und Jugendliche dabei Lust empfänden; vgl. Dr. O. Kiefer: Kindesmisshandlung und Sexualität, in: Mutterschutz, 1906, Jg. 2, Nr. 4, S. 156–159. Albert Moll: Ueber eine wenig beachtete Gefahr der Pru¨ gelstrafe bei Kindern, in: Zeitschrift fu¨ r pa¨ dagogische Psychologie und Jugendkunde, 1901, Jg. 3, Heft 3, S. 215–219. AFSt/W VIII/IV/7, Bd. 7, Verfahren gegen Dr. H., S. 3a. Ebd., S. 52a. Das Verhalten von H. wies Ähnlichkeit mit Strategien pädosexueller Täter auf; vgl. Judith Ohlmes: Pa¨ dosexuelle Ta¨ ter. Merkmale und Strategien als Ansatzpunkte pra¨ ventiver Maßnahmen, Wettenberg 2005. Die Problematik der Falschaussage von Minderjährigen wurde Mitte der 1920er Jahre erregt diskutiert; vgl. William Stern: Jugendliche Zeugen in Sittlichkeitsprozessen. Ihre Behandlung und psychologische Begutachtung. Ein Kapitel der forensischen Psychologie, Leipzig 1926. Beispielsweise sollten Verhöre von der weiblichen Kriminalpolizei durchgeführt werden, da Frauen eher die benötigte Empathie aufbrächten; vgl. Laurens Schlicht: Reading Children’s Minds: Female Criminal Police and the Psychology of Testimony, ca. 1920–1944, the Cases of Maria Zillig and Berta Rathsam, in: ders., Carla Seemann, Christian Kassung (Hg.): Mind Reading as a Cultural Practice, Cham 2020, S. 163–189.

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die körperlichen Züchtigungen mit den Eltern abgesprochen gewesen.82 Da eine gerichtsärztliche Untersuchung keine Belege für »homosexuelle oder sadistische Triebe«83 des Beschuldigten fand, wurde schlussendlich nur eine Ordnungsstrafe verhängt, da er Schüler zu sich nach Hause eingeladen hatte. Zur Sühne wurde ihm durch das Ministerium zusätzlich eine Geldstrafe in Höhe von 300 Reichsmark auferlegt.84 Dennoch war der Vorgang damit nicht abgeschlossen. Die Beurlaubung von H. musste in den kommenden Jahren krankheitsbedingt mehrmals verlängert werden. Neben diversen körperlichen Leiden infolge einer Kriegsverletzung setzte ihm laut eigener Aussage die nervliche Belastung wegen seiner persönlichen Situation schwer zu.85 Die angedachte Versetzung nach Merseburg fand daher nie statt. Stattdessen promovierte er 1928 in Medizin und stellte im nächsten Jahr einen Antrag auf Genehmigung seiner Habilitation, um an der Fakultät lehren zu können.86 Der Briefwechsel endete 1934, als H. mit reduzierter Stundenzahl wieder an die Oberrealschule zurückkehrte.87 Obschon die Franckeschen Stiftungen zeitnah reagierten und H. aus dem Schulbetrieb entfernten, behandelten sie die Angelegenheit mit weniger Elan als Sittlichkeitsvergehen von Schüler*innen. So wurde er keinem intensiven Verhör unterzogen, geschweige denn dazu gedrängt, seine Schuld einzugestehen. Überdies fällt auf, dass die Handlungen zwar moralisch verurteilt wurden, man aber nicht erwog, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Hier zeigt sich eine offenkundige Diskrepanz zwischen dem sich radikalisierenden »Kinderschänderdiskurs« und dem Umgang mit zumindest einem Teil der mutmaßlichen Täter.88 Im konkreten Fall war denn auch nirgends von Gewalt die Rede, obwohl sie in Form von Schlägen ausgeübt worden war. Problematisiert wurden allein die übermäßige körperliche Züchtigung sowie der private Kontext.89 Demgemäß zeigte man kaum Empathie für die Opfer oder beschäftigte sich eingehender mit den Folgen für sie. Wie schon bezüglich des Strafrechts erörtert, zielte auch der Umgang mit Sittlichkeitsvergehen an Schulen nicht auf den Schutz vor sexualisierter Gewalt. Im Wesentlichen konzentrierte man sich darauf, jedwede sexuelle 82 AFSt/W VIII/IV/7, Bd. 7, Verfahren gegen Dr. H., S. 52c. Im weiteren Verfahren war dies der einzige Punkt, bei dem Gewalt überhaupt thematisiert und problematisiert wurde. 83 Ebd., S. 52d. 84 Ebd., S. 52f. 85 Vgl. ebd., S. 70. 86 Vgl. ebd., S. 111, 135. 87 Ebd., S. 202. 88 Vgl. Dagmar Lieske: Zwischen repressivem Maßnahmenstaat und der Bagatellisierung sexueller Gewalt. Zur strafrechtlichen Verfolgung von Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus, in: Sexuologie, 2018, Bd. 25, Heft 3/4, S. 193–199. Kerchner: Körperpolitik (Anm. 16). 89 Zu körperlicher Züchtigung vgl. Dirk Schumann: Legislation and Liberalisation. The Debate About Corporal Punishment in Schools in Postwar West Germany, 1945–1975, in: German History, 2007, Jg. 25, S. 192–218.

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Aktivität von Kindern und Jugendlichen zu unterbinden, gleich ob sie einvernehmlich zwischen Gleichaltrigen erfolgte oder nicht.

Gegendiskurse in radikaler Frauenbewegung und Psychoanalyse Das Konzept des Sittlichkeitsvergehens prägte wie gesehen die Wahrnehmung und Deutung sexualisierter Gewalt nachhaltig. Dennoch existierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts genauso alternative Sichtweisen. Im Folgenden werden zwei Diskursstränge und die sie tragenden Akteur*innen in den Blick genommen. Zunächst wende ich mich der Thematisierung von Sittlichkeitsverbrechen durch Teile der Frauenbewegung zu, bevor anschließend der Diskurs der Psycho-Disziplinen betrachtet wird. Innerhalb der sich im späten 19. Jahrhundert etablierenden bürgerlichen Frauenbewegung spielte Sexualität vornehmlich für den sogenannten radikalen Flügel eine wichtige Rolle.90 Dort beschäftigte man sich mit dem Schutz vor Geschlechtskrankheiten, der Entkriminalisierung von Abtreibung, alternativen Formen von Ehe und Partnerschaft oder auch der geschlechtlichen Aufklärung. Besonders hervor tat sich in diesem Zusammenhang Helene Stöcker, die vehement für eine neue Sexualethik eintrat.91 Dazu nutzte sie die von ihr herausgegebene Zeitschrift »Neue Generation«, die zugleich Publikationsorgan des von Stöcker mitgegründeten »Bundes für Mutterschutz« war.92 Anhand der »Neuen Generation« wird erörtert, wie Stöcker und die »Radikalen« sich zur Problematik sexualisierter Gewalt an Minderjährigen verhielten. Ein entscheidender Unterschied zum hegemonialen Sittlichkeits-Diskurs bestand in der öffentlichen Skandalisierung, die das Ausmaß und die Alltäglichkeit solcher Vergehen akzentuierte. Auf den Seiten der Zeitschrift fanden sich wiederholt Auflistungen von Fällen, die der Tagespresse entnommen waren: »1. In Berlin wurde der Arbeiter Paul Nickel wegen wiederholten Sittlichkeitsverbrechen im Sinne des § 176, 3 begangen an seiner eigenen 6jährigen Nichte mit zwei Jahren Zuchthaus bestraft. 2. Ein etwa achtjähriges Mädchen, das allein in der Wohnung war, wurde von einem Briefträger unsittlich berührt. 3. Nach der 90 Vgl. Anne-Laure Briatte: Bevormundete Staatsbürgerinnen. Die »radikale« Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M./New York 2020. 91 Vgl. Gudrun Hamelmann: Helene Stöcker, der »Bund für Mutterschutz« und »Die Neue Generation«, Frankfurt a. M. 1992. Sophia Sotke: Feminismus, Sexualreform, Eugenik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine Netzwerkanalyse, Göttingen 2016. 92 Von 1905 bis 1907 erschien die Zeitschrift unter dem Titel »Mutterschutz. Zeitschrift zur Reform der sexuellen Ethik. Publikationsorgan des Bundes für Mutterschutz«. Mit der Namensänderung einher ging eine partielle Loslösung vom Bund für Mutterschutz, dem die Zeitschrift aber weiterhin eng verbunden blieb.

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Frankfurter Zeitung wurde der Lehrer Halling in Kottbus [sic!] von der Gemeindeschule verhaftet unter dem Verdacht, sich an seinen Schülerinnen sittlich vergangen zu haben. Halling ist 27 Jahre alt.«93 Bei den mutmaßlichen Tätern, die alle männlich waren, sticht ins Auge, dass es sich nicht ausschließlich um gesellschaftliche Außenseiter oder Angehörige unterbürgerlicher Schichten handelte, sondern ebenso ein Pfarrer, ein Kaplan und der erwähnte Lehrer darunter waren. Dasselbe galt für die Opfer, zu denen die Tochter eines Fabrikbesitzers und die eines Ingenieurs zählten. Mit anderen Worten kamen aus der Perspektive der »Neuen Generation« derartige Vergehen wesentlich häufiger vor als gemeinhin angenommen und zwar in allen Klassen und sozialen Milieus. Entgegen den Diskursen der Psychiatrie und Kriminologie sowie massenmedialen Darstellungen handelte es sich bei den Tätern auch nicht vorrangig um Fremde.94 Vielmehr gehörten etliche Beschuldigte zum näheren sozialen Umfeld oder gar der Familie des Opfers. Schließlich umspannten die Vergehen ein größeres Spektrum an Handlungen: von der unsittlichen Berührung bis zur Notzucht, vom Ausbleiben unmittelbarer physischer Gewaltanwendung bis zu Totschlag. Einerseits entsprach das dem allgemeinen Verständnis von Sittlichkeitsvergehen, andererseits kann man darin gleichermaßen Konvergenzen zum heutigen Konzept sexualisierter Gewalt erkennen. Für letzteres spricht die Parteinahme für die Opfer, denen keine Mitverantwortung oder Schuld zugeschrieben wurde. Und ebenso wie im Rahmen des propagierten Mutterschutzes von moralischen Urteilen über die hilfsbedürftigen Frauen weitestgehend abgesehen wurde, verzichtete man im Hinblick auf den Kinderschutz grosso modo darauf, ihren Lebenswandel zu bewerten. In einem weiteren Punkt lassen sich Ähnlichkeiten feststellen. In Verbindung mit der Pathologisierung sexueller Devianz wurden Sittlichkeitsvergehen zeitgenössisch für gewöhnlich individualisiert, indem man die Ursachen in der abnormen Persönlichkeit oder einer psychischen Erkrankung des – in der Regel männlich imaginierten – Täters ausmachte. Autor*innen der »Neuen Generation« wiesen demgegenüber auf den sozialen Kontext und insbesondere auf ungleiche Machtstrukturen zwischen Opfer und Täter hin. In diesem Zusammenhang wurde vor allem das Schicksal vieler Dienstmädchen beklagt. Mit dem Gegenstand befasste sich beispielsweise ein Artikel des linksliberalen Nationalökonomen Oscar Stillich, der im Zuge des Ersten Weltkriegs zu einem entschiedenen Kritiker des Wilhelminismus und bekannten Pazifisten wurde.95 Auf Basis eigener Studien beschrieb er plastisch das Los der oft noch 93 o. A.: Sittlichkeitsverbrechen (an Kindern), S. 44, in: Mutterschutz, 1905, Jg. 1, Nr. 1, S. 44–45. Die Aufzählung umfasste neun Fälle und erstreckte sich über zwei Seiten. 94 Vgl. die Ausführungen auf den Seiten 67f. 95 Vgl. Oscar Stillich: Die Sittlichkeit der Dienstboten, in: Mutterschutz, 1907, Jg. 3, Nr. 6, S. 230– 241.

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jungen Mädchen.96 Laut Stillich gestattete die Gesindeordnung eine nahezu uneingeschränkte Verfügungsgewalt, die sich bis zur Überwachung ihrer Sexualität erstreckte. Mitunter zwinge man sie zu einem Leben im Zölibat. Zugleich komme es vor, dass eine Herrschaft die Abhängigkeit aufs Schändlichste ausnütze: »Ein 19jähriges Dienstmädchen, das bei einem Schriftsteller dient, beklagt sich: ›Bei der jetzigen Herrschaft habe ich den Herrn in fast unbekleidetem Zustande zu bedienen (…).‹«97 Ein anderes Dienstmädchen klagte gegenüber Stillich: »Der Hausherr wollte mich in Abwesenheit seiner Frau gewaltsam gebrauchen.«98 Entsprechend resümierte er: »Diese Fälle liessen sich leicht vermehren. Sie beweisen, dass der Missbrauch des herrschaftlichen Machtbewusstseins auch in die sexuelle Sphäre hineinreicht.«99 Mit der Betonung von Macht und Herrschaft und der Differenzierung entlang sozialer Kategorien wie Alter, Geschlecht und Klasse entsprach das in mancherlei Hinsicht einer Perspektive auf sexualisierte Gewalt, wie sie sich mit der Zweiten Frauenbewegung entwickelte. Ungeachtet dessen sollte man weder Unterschiede ausblenden noch problematische Aspekte negieren. So beriefen sich Stöcker und der »Bund für Mutterschutz« ausdrücklich auf Eugenik und Rassenhygiene, wenn es darum ging, wie Sexualität zukünftig gestaltet werden sollte.100 Des Weiteren erfolgte die Skandalisierung von Sittlichkeitsvergehen häufig in Verbindung mit Berichten über Kinderhandel und Zwangsprostitution weiblicher Jugendlicher.101 Dabei wurde auch der Topos der »weißen Sklaverei« bemüht, der nicht frei von rassistischen und antisemitischen Konnotationen war.102 Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass die radikale Frauenbewegung – trotz ihrer Bemühungen um eine neue Sexualmoral – dem »bürgerlichen Wertehimmel«103 verhaftet blieb. Im Verhältnis zu den zu schützenden Mädchen, die vorwiegend niederen Schichten angehörten, beförderte das mitunter einen gewissen Paternalismus sowie die Disziplinierung von Verhalten, das nicht den eigenen, bürgerlichen

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Vgl. ders.: Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin, Berlin/Bern 1902, bes. S. 248–264. Ders.: Sittlichkeit (Anm. 95), S. 235. Ebd. Ebd., S. 236. Vgl. z. B. Walther Borgius: Mutterschutz und Rassenhygiene, in: Mutterschutz, 1905, Heft 4/ 5, S. 207–212. Vgl. auch Ann Taylor Allen: German radical feminism and eugenics, 1900– 1908, in: German Studies Review, 1988, Bd. 11, Nr. 1, S. 31–56. Baader, Breitenbach, Rendtorff: Bildung (Anm. 9), hier bes. S. 126–138. 101 Vgl. o. A.: Deutsche Kinder in Bordellen, in: Mutterschutz, 1907, Jg. 3, Nr. 12, S. 495–496. o. A.: Ein Adressbuch für Mädchenhändler, in: Mutterschutz, 1907, Jg. 3, Nr. 10, S. 410f. 102 Vgl. o. A.: Weiße Sklavinnen, in: Mutterschutz, 1906, Jg. 2, Nr. 5, S. 207. 103 Vgl. Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.

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Normen entsprach.104 In der Weimarer Republik verlagerte sich das Engagement und galt vermehrt dem auf internationaler Ebene ausgefochtenen Kampf für die Einführung eines sexuellen Schutzalters.105 Ein weiterer Diskursstrang, der eine divergierende Sichtweise präsentierte, entstammte den sich ausdifferenzierenden Psycho-Disziplinen. An der Freudschen Psychoanalyse kann demonstriert werden, wie um 1900 eine Verschiebung vom Täter zum Opfer und von den psychopathologischen Ursachen zu den psychischen Folgen einsetzte. Diese Entwicklung war nicht frei von Widersprüchen und musste sich gegen fachinterne Widerstände behaupten. Denn seit dem späten 19. Jahrhundert hatte sich die Psychiatrie bei ihrer Beschäftigung mit Sittlichkeitsvergehen auf die Persönlichkeit des Täters konzentriert.106 Das betraf ebenfalls Vergehen an Kindern und Jugendlichen. So schuf der österreichische Psychiater Richard von Krafft-Ebing mit seinem Konzept der »Pädophilia Erotica«107 die Grundlagen für ein im Kern bis heute fortlebendes Verständnis von Pädophilie als sexueller Sondernatur.108 Allerdings nahm man bereits Anfang des 20. Jahrhunderts an, dass sich nur ein Teil der Täter aufgrund sexueller Präferenzen an Minderjährigen verging. Zumeist handele es sich um sogenannte Zufallsverbrecher, die sie aufgrund eines Mangels an »natürlichen Sexualobjekte[n]«109 auswählten. Ursachen für die fehlende Affekt- und Triebkontrolle erkannte man zum einen in verschiedenen Psychopathologien, zum anderen wurde der Einfluss des sozialen Milieus betont.110 Beispielsweise genössen proletarische Großstadtbewohner eine schlechtere Erziehung und seien anfälliger 104 Zu einem solchen Paternalismus vgl. Ute Frevert: »Fürsorgliche Belagerung«. Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 1985, Bd. 11, S. 420–446. 105 Vgl. Sonja Matter: Das sexuelle Schutzalter. Gewalt, Begehren und das Ende der Kindheit (1950–1990), Göttingen 2022, S. 43–69. 106 Dabei schloss man an kriminalbiologische Konzepte an, wie sie prominent von Cesare Lombroso vertreten wurden; vgl. Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Zur Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002. Die Täterfixierung fand sich, wie gezeigt, auch im Strafrecht. 107 Vgl. Richard von Krafft-Ebing: Über Unzucht mit Kindern oder Pädophilia Erotica, in: Friedrich’s Blätter für gerichtliche Medicin und Sanitätspolizei, 1896, Bd. 47, S. 261–283. Sein einflussreiches Werk »Psychopathia Sexualis« war paradigmatisch für den zeitgenössischen Fokus auf sexuelle Abweichungen; vgl. Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia Sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung, Stuttgart 101898. Vgl. auch Harry Oosterhuis: Stepchildren of Nature. Krafft-Ebing, psychiatry, and the making of sexual identity, Chicago 2000. 108 Vgl. Kämpf: Pädophilie (Anm. 16). 109 Karl Birnbaum: Sexualdelikte I. Psychologie und Psychopathologie, in: Marcuse: Handwörterbuch (Anm. 77), S. 702–707, hier S. 706. 110 Der einflussreiche Begriff des Milieus war um 1900 eng verwoben mit der omnipräsenten Degenerationstheorie und prägte ebenso die erwähnte Kriminalbiologie. Überdies lag ihm ein ausgeprägter Klassismus zugrunde, wie sich hier unschwer erkennen lässt.

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für Trunksucht, was sich beides negativ auf ihre »seelischen Hemmungs- und Regulierungskräfte«111 auswirke. Schließlich spiele auch das Alter eine Rolle. Gerade Jugendliche neigten aufgrund ihrer psychischen Labilität und dem plötzlichen Erwachen des Geschlechtstriebs zu sexuellen Entgleisungen, bis hin zum Missbrauch von Kindern.112 Insgesamt entsprach die Psychiatrie mit ihrer Konstruktion des außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehenden pathologischen Täters dem dominierenden Diskurs um Sittlichkeitsvergehen. Den Opfern schenkte man kaum Aufmerksamkeit.113 Eine Ausnahme stellte – mit Einschränkungen – die Psychoanalyse dar. Am 25. April 1896 hielt ein niedergelassener Nervenarzt einen Vortrag vor dem Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie, der in die Geschichte eingehen sollte: die Rede ist von Sigmund Freud. Nachdem seine akademische Karriere ins Stocken geraten war, widmete sich Freud unter dem Einfluss seines väterlichen Freundes Josef Breuer fortan der Behandlung nervöser Leiden, die im Fin de Siècle rasant zunahmen.114 Ausgehend von Erfahrungen mit seinen Patient*innen versuchte er, eine wissenschaftliche Erklärung für ihre Symptome zu finden. In den zusammen mit Breuer 1895 publizierten »Studien über Hysterie«115 entwickelte Freud ein psychologisches Konzept, laut dem ein schmerzliches Erlebnis in der Vergangenheit nicht verarbeitet worden sei und als eingeklemmter Affekt im Unbewussten verharre, von wo aus es die hysterischen Symptome hervorrufe. In dem besagten Vortrag »Zur Ätiologie der Hysterie« ging er einen Schritt weiter, indem er behauptete, auf den »caput Nili der Neuropathologie«116 gestoßen zu sein: »Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich […] ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung die der fru¨ hesten Jugend angehören.«117 Da Freud bei allen 18 Patient*innen im Verlauf der Therapie infantile Sexualerlebnisse zutage gefördert hatte, zog er daraus den Schluss, diese seien die Grundbedingung für Hysterie. Die Erlebnisse unterteilte er in drei Gruppen: erstens vereinzelter Missbrauch durch Fremde, zweitens – und wesentlich häufiger – sexuelle Beziehungen mit nahestehenden Personen einschließlich Verwandten, 111 Birnbaum: Sexualdelikte (Anm. 109), S. 704. 112 Vgl. ebd. 113 Demgegenüber schreibt Hommen allerdings, dass seit den 1870er Jahren die psychischen Folgen der Notzucht thematisiert worden seien; vgl. Hommen: Sittlichkeitsverbrechen (Anm. 22), S. 66f. 114 Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998. 115 Josef Breuer, Sigmund Freud: Studien u¨ ber Hysterie, in: Sigmund Freud: Gesammelte Werke I, Frankfurt a. M. 31969, S. 75–313. 116 Sigmund Freud: Zur Ätiologie der Hysterie, in: ders.: Gesammelte Werke I, Frankfurt a. M. 3 1969, S. 425–459, hier S. 439. 117 Ebd.

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drittens sexuelle Kontakte zu anderen Kindern.118 Sein Vortrag stieß bei den versammelten Kollegen, unter ihnen Krafft-Ebing, mehrheitlich auf Ablehnung. Schließlich räumte Freud nicht nur en passant mit der Vorstellung kindlicher Asexualität auf, er wies obendrein auf die ungeheuerliche Verbreitung sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen hin, der auch in der Familie vorkomme.119 An dieser Stelle entscheidend ist die vornehmliche Beschäftigung mit den psychischen Folgen, die sich noch Jahre später im Erwachsenalter zeigen würden. Bekanntermaßen hat Freud sein später als Verführungstheorie bekannt gewordenes Krankheitskonzept rasch wiederrufen, worin wahlweise die Geburtsstunde der Psychoanalyse oder ihre Ursünde gesehen wird.120 Ungeachtet dessen war es in der Welt und wurde, wenn auch bloß vereinzelt, aufgegriffen. Beispielsweise bezog sich der Zürcher Psychiatrieprofessor Eugen Bleuler in einem Artikel für Stöckers Zeitschrift explizit auf Freuds Verführungstheorie, um die Annahme zu wiederlegen, sexuelle Vergehen an Minderjährigen seien alles in allem harmlos.121 Demgegenüber vertrat Bleuler die Meinung, die psychischen Folgen bei einer ›Verführung‹ durch Erwachsene seien gravierend: »Das Kind wird also seelisch geschädigt, wenn nicht an seiner Sittlichkeit, so doch an seiner seelischen Gesundheit.«122 Es sollte gut drei Jahrzehnte dauern, bis sich die Psychoanalyse wieder ernstlich mit realem Missbrauch beschäftigte. Gegen den erklärten Willen Freuds hielt dessen früherer Lieblingsschüler Sándor Ferenczi auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Wiesbaden im September 1932 einen Vortrag mit dem harmlos klingenden Titel »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind«123, in dem er auf offener Bühne gegen die analytische Orthodoxie aufbegehrte: »Vor allem wurde meine schon vorher mitgeteilte Vermutung, daß das Trauma, speziell das Sexualtrauma, als krankmachendes Agens nicht hoch genug angeschlagen werden kann, von neuem bestätigt. Auch Kinder angesehener, von puritanischem Geist beseelter Familien fallen viel öfter, als man es zu ahnen wagte, wirklichen Vergewalti118 Vgl. ebd., S. 444f. 119 »Es scheint mir sicher, dass unsere Kinder weit häufiger sexuellen Angriffen ausgesetzt sind, als man nach der geringen, von den Eltern hierauf verwendeten Fürsorge erwarten sollte«; Freud: Ätiologie (Anm. 116), S. 443. 120 Letzteres gilt vor allem für die feministische Kritik an der Psychoanalyse, die sich in den USA zu regelrechten »Freud wars« auswuchs; vgl. Jeffrey M. Masson: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Siegmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie, Reinbek 1984. 121 Vgl. Eugen Bleuler: Zur Frage der strafrechtlichen Behandlung von Sittlichkeitsvergehen an Kindern, in: Mutterschutz, 1905, Jg. 1, Nr. 12, S. 502–506. Der Text war eine Replik auf Walther Borgius: Zur Frage der strafrechtlichen Behandlung von Sittlichkeitsvergehen an Kindern, in: Mutterschutz, 1905, Jg. 1, Nr. 9, S. 376–383. 122 Bleuler: Frage (Anm. 121), S. 504. 123 Wobei der ursprüngliche Titel »Die Leidenschaften der Erwachsenen und deren Einfluß auf Charakter- und Sexualentwicklung der Kinder« angeblich auf Druck des analytischen Establishments geändert worden war.

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gungen zum Opfer. Entweder sind es die Eltern selbst, die für ihre Unbefriedigtheit auf diese pathologische Art Ersatz suchen, oder aber Vertrauenspersonen, wie Verwandte (Onkel, Tanten, Großeltern), Hauslehrer, Dienstpersonal, die Unwissenheit und Unschuld der Kinder mißbrauchen. Der naheliegende Einwand, es handle sich um Sexualphantasien des Kindes, also um hysterische Lügen, wird leider entkräftet durch die Unzahl von Bekenntnissen dieser Art, von Sichvergehen an Kindern, seitens Patienten, die sich in Analyse befinden.«124

Ferenczi insistierte – analog zum voranalytischen Freud – auf der Bedeutung sexueller Erlebnisse für die Entstehung psychischer Störungen und erinnerte die Fachöffentlichkeit zugleich an die Normalität des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen. Nicht umsonst dient sein Vortrag der heutigen Traumatherapie als Bezugspunkt.125

Fazit »Törleß unterschied aus den Geräuschen, daß sie Basini die Kleider vom Leibe zogen und ihn mit etwas Dünnem, Geschmeidigem peitschten. Sie hatten dies alles offenbar schon vorbereitet gehabt. Er hörte das Wimmern und die halblauten Klagerufe Basinis, der unausgesetzt um Schonung flehte; schließlich vernahm er nur noch ein Stöhnen, wie ein unterdrücktes Geheul, und dazwischen halblaute Schimpfworte und die heißen leidenschaftlichen Atemstöße Beinebergs.«126

Auch Anfang des 20. Jahrhunderts kam es, in unterschiedlichen Formen und an verschiedensten Orten, zu sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige. Das galt für Übergriffe von Erwachsenen ebenso wie für den Missbrauch durch Altersgenossen, zumeist männliche Jugendlichen. Die soziale Herkunft scheint dabei weniger von Belang gewesen zu sein als das Geschlecht der vorwiegend weiblichen Opfer und männlichen Täter. Gesellschaftlich erfuhr die Thematik große Aufmerksamkeit, wie die strafrechtliche Regelung und die wiederkehrenden öffentlichen Debatten demonstrieren. Auf den ersten Blick unterschied sich die Situation also nicht sonderlich von der heutigen. Dennoch existierten gravierende Unterschiede in der Wahrnehmung und dem daraus folgenden Umgang mit den entsprechenden Taten.

124 Sándor Ferenczi: Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind, in: ders.: Infantil-Angriffe! Über sexuelle Gewalt, Trauma und Dissoziation, Berlin 2014, S. 121–131, hier S. 125, erstveröffentlicht in: Internationale Zeitschrift fu¨ r Psychoanalyse, 1933, Bd. 19, Heft 1/2, S. 5–15. 125 Vgl. ebd., S. 119f. Interessant ist hier die Parallelität zur Kriminologie, die sich ebenfalls in der Zwischenkriegszeit dem Opfer zuwandte. Dem und weiteren Entwicklungen dieser Art wäre systematischer nachzugehen. 126 Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Wien/Leipzig 1906, S. 147.

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Erstens zielte das hegemoniale Konzept des Sittlichkeitsvergehens nicht primär auf den Schutz des Individuums. Im Vordergrund stand mithin der Schutz der Allgemeinheit vor normabweichendem Verhalten, was nicht gleichbedeutend war mit sexualisierter Gewalt. Prägnant zeigte sich das im Strafrecht, aber es schlug sich vielerorts ebenso in der sozialen Praxis nieder. Für das Bildungswesen wurde am Beispiel der Franckeschen Stiftungen dargelegt, dass auch innerhalb der Schule der Schutz der allgemeinen Sittlichkeit zentrales Anliegen war. Demnach machte es keinen grundsätzlichen Unterschied, ob es um konsensuale Praktiken oder die Anwendung von Gewalt ging. Zweitens war der Gewaltbegriff respektive die Bedeutung von Gewalt eine andere. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde Gewalt im Zusammenhang mit Sittlichkeitsvergehen wesentlich enger gefasst und beinhaltete nur unmittelbare physische Gewalt. Diese stellte nicht an sich schon ein Problem dar und das Sprechen darüber war nicht vergleichbar emotional aufgeladen wie heutzutage.127 Demgemäß war vornehmlich von konkreten Gewaltpraktiken die Rede, wohingegen es keinen umfassenden Begriff der Gewalt zu geben schien. Ein Verständnis von psychischer, struktureller oder sexualisierter Gewalt existierte allerhöchstens in Ansätzen. Körperliche Gewalt wurde zudem stärker situativ und relational, das heißt in Abhängigkeit vom Verhalten des Opfers, betrachtet und bewertet. Das war nicht zuletzt dem Sittlichkeitsbegriff geschuldet, durch den eine geschlechtsdifferente (Sexual-)Moral die Deutung von Gewalt prägte. Des Weiteren unterschieden sich die Gegenstandsbereiche: Handlungen, die heute als sexualisierte Gewalt verstanden würden, waren nicht zwingend Sittlichkeitsvergehen. Es ließe sich diesbezüglich argumentieren, dass die ungleiche Geschlechter- und Generationenordnung zu einer diskursiven Verdrängung von Gewalt führte. Umgekehrt war insbesondere jugendliche Sexualität stets damit konfrontiert, als Sittlichkeitsvergehen verurteilt zu werden. Drittens wirkte sich das divergierende Gewaltkonzept auf die Konstruktion der Täter-Opfer-Beziehung aus, und vice versa. Gerade hinsichtlich des Umgangs mit dem/der Betroffenen fällt die moralische Normierung ins Auge. Das steht in scharfem Kontrast zu aktuellen Positionen, die Parteilichkeit einfordern. Außerdem leistete dies einer Relativierung der Verantwortung der beschuldigten Person Vorschub. Schließlich wurden strukturelle Machtasymmetrien, wie zwischen Erwachsenen und Kindern, kaum problematisiert. Wenn überhaupt bezog sich dies auf die höhere moralische Verantwortung, die Erwachsenen zugeschrieben wurde.

127 Hier wäre noch detaillierter zu fragen, welche Rolle die Figur des Kindes als unschuldigem Opfer von (sexualisierter) Gewalt auf den Diskurs hatte. Mit der Herausbildung und Durchsetzung der Figur des unschuldigen Opfers in psychowissenschaftlichen, strafrechtlichen und öffentlichen Diskursen in Deutschland nach 1945 beschäftigt sich aktuell ein Projekt von Marcel Streng (Düsseldorf/Berlin).

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Allerdings entstanden ebenfalls Gegendiskurse, die sich punktuell vom Sittlichkeitsmodell abgrenzten respektive dessen Wandel vorantrieben. An der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung zeigte sich früh der Einfluss sozialer Bewegungen auf den Gewaltdiskurs im 20. Jahrhundert. Vergleichbar mit der Zweiten Frauenbewegung trat sie der Vorstellung entgegen, es handele sich um exzeptionelle Vorfälle, die sich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zutragen. Ferner ergriffen sie, wenigstens implizit, Partei für die Opfer, indem sie von einer moralischen Bewertung ihres Lebenswandels Abstand nahmen. Darüber hinaus rückten sie von psychopathologischen Erklärungen ab. Stattdessen richteten sie den Blick verstärkt auf die sozialen Bedingungen und strukturelle Machtungleichheiten, wie im Fall der Dienstmädchen, was man als Politisierung sowohl von Gewalt als auch von Sexualität interpretieren kann und von der Neuen Frauenbewegung noch radikaler betrieben werden sollte. Des Weiteren wurden Gewalt und deren Wahrnehmung seit Ende des 19. Jahrhunderts von Prozessen der Verwissenschaftlichung erfasst, was auch sexualisierte Gewalt betraf. Ein bedeutsamer Akteur waren hierbei die Psychodisziplinen mit dem von ihnen forcierten Prozess der Psychologisierung.128 Die Psychoanalyse nahm eine Sonderrolle ein, als sie sich dem Opfer zuwandte. Dementsprechend ruhte das Augenmerk weniger auf den Ursachen als auf den tiefgreifenden und langfristigen Folgen. Wenngleich dieser Standpunkt innerhalb der Psychoanalyse durchaus umstritten war, trug er à la longue maßgeblich zu einem diskursiven Wandel bei. Für zukünftige Forschungen dürfte nicht zuletzt die Frage relevant sein, wann und wie das Konzept des Sittlichkeitsvergehens sich veränderte, bis es von dem gegenwärtigen Konzept sexualisierter Gewalt abgelöst wurde. Obwohl bereits einige Anfänge und Anschlussmöglichkeiten im Untersuchungszeitraum zu finden sind, erfolgte der eigentliche Wandel – so die abschließende These – in den ›langen‹ 1970er Jahren. Vier Faktoren zeichneten sich meines Erachtens dafür verantwortlich: – Der Wandel der Sexualität, so dass Kindern und Jugendlichen eine eigene Sexualität zugestanden wurde129 – Das Aufkommen von Kinderrechten, womit ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung denkbar und durchsetzbar wurde

128 Andere Disziplinen waren Rechtswissenschaften, Medizin, Kriminologie und Sexualwissenschaften. Die Erziehungswissenschaften befassten sich zwar ebenfalls mit dem Thema, aber nach meinem Dafürhalten bildeten sie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts noch keinen eigenständigen Diskurs heraus. 129 In Ansätzen traf das schon auf die späten 1920er Jahre und die Jugendforschung mit ihrem psychosexuellen Entwicklungsmodell zu. Inwiefern der NS hier einen Bruch markierte, gilt es noch weiter zu untersuchen.

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– Die Popularisierung des (revidierten) Traumakonzepts, welches das Verständnis sexualisierter Gewalt nachhaltig prägte – Der Gewaltdiskurs in Wissenschaft und Politik, durch den Gewalt konzeptionell ausgeweitet und gesellschaftlich affektiv negativ aufgeladen wurde Welche Brüche und Konflikte es zwischen Ende der 1920er und Ende der 1970er Jahre gab, müssen zukünftige Arbeiten systematischer untersuchen. Offen scheint mir beim aktuellen Stand der Forschung jedenfalls, ob sich die Beziehung zwischen Jugend und Gewalt im 20. Jahrhundert auf einen Begriff bringen lässt oder ob man dergestalt nicht die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Phänomens verkennt. Selbiges gilt für das Deutungsangebot einer sukzessiven Sensibilisierung der Gesellschaft, mit dem die Ambivalenzen von Schutz und Kontrolle, Empowerment und gouvernementaler Selbstführung – gerade im Umgang mit sexualisierter Gewalt – nur unzureichend erfasst werden können.130

130 Vgl. Till Kössler: Jenseits von Brutalisierung oder Zivilisierung. Schule und Gewalt in der Bundesrepublik (1970–2000), in: Zeithistorische Forschungen, 2018, Jg. 15, Heft 2, S. 222– 249.

Mischa Honeck

Das verspielte Imperium. Die Pazifizierungsarbeit der Boy Scouts of America in den Philippinen und Westdeutschland

Erste Szene, wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Eine Dschungellichtung auf Mindanao, der südlichsten Inselgruppe der Philippinen. Dort ensteht ein Foto, das einen weißen Offizier im Kreise indigener Kinder und Jugendlicher abbildet. Alle tragen Uniform, und der Mann hebt die rechte Hand zum Pfadfindergruß, den die Jugendlichen treu erwidern. Der Name des Offiziers ist Sherman Kiser, ein Amerikaner im Dienste der US-amerikanischen Streitkräfte. Als Kiser im September 1914 das Dorf der jungen Moros betrat, betrachteten ihn die Bewohner misstrauisch. Viele Kinder waren ohne Väter. Tausende Männer hatten ihr Leben im Philippinisch-Amerikanischen Krieg verloren, der im Süden besonders grausam tobte und Züge eines Vernichtungskrieges annahm. Erst in den 1910er Jahren ebbten die Kämpfe langsam ab. Wie es Kiser genau gelang, die Dorfbewohner davon zu überzeugen, in ihm nicht den blutrünstigen Besatzer zu sehen, sondern einen potenziellen Spielgefährten für ihre Kinder, lässt sich nicht so einfach sagen. Offenkundig hatte zuvor eine wohlhabenden Reformerin aus Connecticut, Caroline Spencer, die in den Philippinen als protestantische Missionarin unterwegs war und die Kinder in ihr Herz geschlossen hatte, wichtige Vorarbeit geleistet. Wahrscheinlich spielte aber auch eine Mischung aus materiellen Gaben und politischen Versprechungen eine wichtige Rolle. Sicher ist, dass Kisers Befriedungsexperiment in den USA Schlagzeilen machte. Die Presse feierte die Filipino Boy Scouts als Beleg für den Erfolg der US-amerikanischen Zivilisierungsmission. Kommentatoren hoben den kameradschaftlichen Charakter der Boy Scouts of America (BSA) hervor, einer »brotherhood«, die keine Grenzen kannte. Andere Fotos verstärkten das Narrativ der Pfadfinderei als einer Bewegung, die aus Feinden Freunde machen konnte. Unter der Anleitung des amerikanischen Offiziers lernten die Jungs, Spuren zu lesen, Erste Hilfe zu leisten und den »Pledge of Allegiance« aufzusagen.1 1 Little Moros of the Boy Scouts Are Quick to Learn, in: Christian Science Monitor, 12. 04. 1915; The Boy Scout Movement, in: Labor Digest, Juli 1915, S. 18; und A Boy’s a Boy for A’That, in: The Outlook, 05. 05. 1915, S. 5.

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Zweite Szene, knapp 44 Jahre später: Wieder treffen US-amerikanische Scoutmaster-Soldaten auf ausländische Kinder. Nur ist der Schauplatz dieses Mal ein Zeltlager außerhalb von Kempten im Allgäu. Organisiert wurde das Sommerlager von der German Youth Activities Abteilung der US-Armee, die engmaschig mit den Boy Scouts und anderen Jugendgruppen kooperierte. Alltagsmomente aus dem Camp wurden von einem Kameramann der GYA eingefangen. Der daraus hervorgegangene Dokumentarfilm aus dem Jahre 1949 unterstrich, wie deutschen Kriegskindern und Jugendlichen an der frischen Luft spielerisch die Vorzüge der Demokratie beigebracht wurden. »There’s a complete absence of the heavy-handed discipline which dominated their early live under the Nazis, which, if continued, would prove a menace to world peace«, bemerkte der Erzähler. Stattdessen lernten ehemalige Hitlerjungen und BDM-Mädchen, Verantwortung für eine bessere Zukunft zu übernehmen. »To enlarge their chances to live in a world free from war« – das war das erklärte Ziel.2 Damit dies gelänge, und damit der Bann der nationalsozialistischen Gewaltpädagogik gebrochen werden könne, bräuchten die Jugendlichen verlässliche Partner. Hilfsbereite Soldaten und Pfadfinderführer mit dem Sternenbanner auf der Brust, so der Erzähler, zeigten sich der Aufgabe gewachsen. Bevor ich dem Kulturhistorikerreflex erliege, dieses liberal-imperiale Narrativ zu dekonstruieren, sollen einige Vorbemerkungen zu dieser gewöhnungsbedürftigen Gegenüberstellung – die südlichen Philippinen Anfang des 20. Jahrhunderts auf der einen, die US-amerikanische Okkupation Süddeutschlands nach Ende des Zweiten Weltkrieges auf der anderen Seite – erlaubt sein. Auf den ersten Blick haben die zwei Szenen wenig gemeinsam. Die erste Situation schildert eine in vielerlei Hinsicht klassische koloniale Begegnung. Ein ›wohlgesonnener‹ weißer Mann ›erzieht‹ die Söhne angeblich primitiver Eingeborener in der Hoffnung, aus ihnen loyale Subjekte zu machen.3 Die zweite Szene findet dagegen im Kontext der US-amerikanischen Reeducation-Politik statt, deren offizielles Ziel nicht die Kolonisierung, sondern die Denazifizierung und Demokratisierung Deutschlands war.4 Um es deutlich zu sagen: Es geht hier um einen historischen 2 US Department of Defense, »German Youth Activities – The Big Picture«, 1949, Record Group 111, Records of the Office of the Chief Signal Officer, National Archives and Records Administration (NARA) II, College Park, Maryland. 3 Zur militärischen Unterwerfung und Kolonisierung der Philippinen nach 1898, siehe Paul A. Kramer: The Blood of Government. Race, Empire, The United States and the Philippines, Chapel Hill, NC 2006; und Christopher Capozzola: Bound by War. How the United States and the Philippines Built America’s First Pacific Century, New York 2020. 4 Zur US-amerikanischen Reeducation-Politk im besetzten Deutschland, siehe Petra Goedde: GIs and Germans. Culture, Gender, and Foreign Relations, 1945–1949, New Haven 2003. Einen komparatistischen Blick bieten Katharina Gerund, Heike Paul (Hg.): Die Amerikanische Reeducation-Politik nach 1945. Interdisziplinäre Perspektiven auf »America’s Germany«, Bielefeld 2015.

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Vergleich, nicht um eine wie auch immer geartete moralische Gleichsetzung der Vorkommnisse auf den Philippinen nach 1898 und in der US-amerikanischen Besatzungszone in Westdeutschland nach 1945. Diese verbietet sich. Es macht doch einen großen Unterschied, ob Waffengewalt dazu eingesetzt wurde, um »zones of concentration« zu errichten, wie es die US-Amerikaner in den Philippinen taten, oder ob eine kriegerische Intervention die Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager ermöglichte, für die viele Alliierte im Zweiten Weltkrieg ihr Leben ließen. Worum es in diesem Beitrag gehen soll – und wozu der Vergleich nützlich sein kann – ist, den raumübergreifenden Blick für die Genese einer Herrschaftstechnik zu schärfen, die im 20. Jahrhundert an den Schnittstellen von transnationaler Jugendarbeit, Kriegsgewalt und imperialer Selbstlegitimation wirksam wurde. Die Rede ist von einer Form der Pazifizierungsarbeit, die in mindestens dreierlei Hinsicht auf die Erfahrungen moderner Massengewalt reagierte, die Minderjährige und Erwachsene gleichsam traf. Die Unterscheidung zwischen Kindern und Jugendlichen war in diesem Zusammhang nie wirklich trennscharf. Sie spielte aber für die Besatzer insofern eine Rolle, als heranwachsende männliche Jugendliche aufgrund ihres Alters und Geschlechts grundsätzlich als größere Gefahr für die Aufrechterhaltung der imperialen Ordnung angesehen wurden. Das Anliegen der Gewaltprävention trat dabei am deutlichsten zutage. Ein besiegter Gegner sollte erstens dadurch gezähmt werden, dass Jugendliche freundschaftliche Gefühle für die Besatzer entwickelten, oder sie mindestens nicht hassten. Proamerikanische Erziehung war gleichbedeutend mit der Aberziehung antiamerikanischer Einstellungen. Die vollständige »Entwaffnung« der lokalen Jugend war jedoch keineswegs das Hauptziel imperialer Besatzungspolitik; vielmehr galt es zweitens, hier jugendliche Gewaltpotenziale im Sinne USamerikanischer Interessen zu steuern. Eine entmännlichte und gänzlich entmilitarisierte westdeutsche Jugend war spätestens ab 1948 angesichts der sich verschärfenden Blockkonfrontation mit der Sowjetunion nicht mehr im US-amerikanischen Interesse. Drittens diente die transnationale Jugendarbeit der Boy Scouts und ihrer Verbündeten in Staat und Militär dem Wunsch nach Gewaltbewältigung der US-amerikanischen Soldaten. Im Mittelpunkt stand nicht nur die Resozialisierung der Jugendlichen. Genauso wichtig war den Eroberern das Zurschaustellen emotionaler Nähe und Verbundenheit mit jüngeren Kindern, und damit das Streben nach moralischer Regeneration. Eigene Gewalterfahrungen zu verarbeiten und eine im Krieg angeblich verlorengegangene Unschuld wiederzuerlangen, war auf den Philippinen und im Nachkriegsdeutschland, so meine These, eine (wenn auch nicht die einzige) wichtige Antriebsfeder USamerikanischer Pazifizierungspolitik.5 5 Das Wechselspiel zwischen kindlicher Unschuldsprojektion und imperialer Machtausübung

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Der Aufsatz gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden die kolonialen Ursprünge der anglo-amerikanischen Pfadfinderbewegung rekapituliert. Diese sind zwar von der historischen Jugendforschung hinreichend beleuchtet worden, aber als Grundlage für den hier angestellten Vergleich von immenser Bedeutung, zumal die Reeducation-Politik der US-Amerikaner nach 1945 zu erheblichem Teil auf Wissensbestände aus der kolonialen Jugendarbeit Anfang des 20. Jahrhunderts rekurrierte.6 In einem zweiten Schritt wendet sich der Aufsatz der Frage zu, inwiefern die Pazifizierungsarbeit der BSA als imperiale Variante der Verhinderung von Jugenddelinquenz verstanden werden kann, die bisher überwiegend in innenpolitischen Kontexten thematisiert wurde. Diese Perspektiverweiterung lohnt sich deshalb, weil deutlich wird, dass der Zusammenhang von jugendlicher Disziplinierung und staatlichem Gewaltmonopol nicht alleine Schulen, Jugendgerichte und Sozialeinrichtungen im nationalen Maßstab betraf, sondern auch für unterschiedliche staatliche und zivilgesellschaftliche Trägergruppen eines liberal-demokratischen Imperiums von elementarer Bedeutung war. Der dritte Teil fügt eine letzte Vergleichsfolie hinzu, indem er die Handlungsoptionen der Jugendlichen selbst, die Ziel der Befriedungspolitiken waren, skizziert. Es wird hier bewusst von Optionen gesprochen, nicht von einer zu einseitig an romantischen Widerstandsvorstellungen orientierten Konzeption von Agency. Ein weitaus flexibleres Modell zur Untersuchung jugendlicher Subjektivitäten lieferte vor einigen Jahren die US-amerkanische Kindheitshistorikerin Susan Miller, die von einem »continuum from opposition to assent« sprach.7 Damit entwarf Miller eine Bandbreite möglicher Praktiken in hierarchisch organisierten Kontexten, die der Komplexität jugendlicher Erfahrungswelten gerechter wird.

Koloniale Anfänge und Kontinuitäten Die Rolle von Jugendorganisationen für die US-amerikanische Außenpolitik nach 1900 galt in der Forschung lange als marginal, doch die Bedeutung der Boy Scouts und vergleichbarer Jugendverbände in der Etablierung eines American way of empire kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Gründe für diese steht im Zentrum meiner Monografie: Our Frontier is the World. The Boy Scouts of America in the Age of American Ascendancy, Ithaca, NY 2018. 6 Zu den kolonialen Anfängen der Pfadfinderbewegung, siehe insbesondere Robert H. MacDonald: Sons of the Empire. The Frontier and the Boy Scout Movement, Toronto 1993; und Timothy H. Parsons: Race, Resistance, and the Boy Scout Movement in British Colonial Africa, Athens 2004, S. 30–71. 7 Susan A. Miller: Assent as Agency in the Early Years of the Children of the American Revolution, in: Journal of the History of Childhood and Youth, Winter 2016, 9/1, S. 49.

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Vernachlässigung liegen teilweise in der noch heute anhaltenden Verklärung der Ursprünge der US-amerikanischen Pfadfinderei, die sich selbst lange als demokratisch-nichtimperiale Alternative zur britischen Scout-Bewegung stilisierte. An diesem Mythos strickten schon die Gründerväter der BSA eifrig mit, als sie 1910 eine amerikanisierte Version von Robert Baden-Powells zwei Jahre zuvor fertigestelltem Handbuchs Scouting for Boys herausbrachten. Anders als das britische Original enthält das US-amerikanische Boy Scout Handbook keinen Treueschwur auf den König und schwächte Baden-Powells klassistische Sprache zugunsten einer individualistisch-kommunitaristischen Rhetorik ab, die im Einklang mit Traditionen republikanischer Selbstverwaltung stand.8 Zudem verzichteten die BSA-Gründer auf explizit militaristische Referenzen, um nicht die vom Geschaftsführer James E. West vorgegebene Devise zu unterlaufen, es handele sich bei dem Jungenverband um eine zivilpatriotische Organisation, die »neither military nor anti-military« sei.9 Auch gegenüber ihren jugendlichen Mitgliedern entwickelte die BSA-Führungsriege einiges an diskursiver Fantasie, um diese von der Nicht-Imperialität der USA zu überzeugen. Die Verkindlichung der Frontier, jener mythischen und zugleich blutbefleckten Kontaktzone, die vom Abwehrkampf indigener Amerikaner*innen gegen euro-amerikanische Siedlerströme geprägt wurde, lässt sich gut an den Heldenepen der frühen Boy Scouts ablesen. So enthält das Boy Scout Handbook patriotisch anmutende Geschichtsfantasien, die das Erwachsenwerden der jungen USA von einer kleinen Siedlerrepublik am Rande des britischen Imperiums zu einer Weltmacht als gemeinsame Errungenschaft tatkräftiger Staatsmänner und unerschrockener Pioniere feiern. Die Kriege gegen Mexiko, Spanien und die Native Americans werden zwar erwähnt, aber stets als Verteidungskämpfe oder chevalereske Rettungseinsätze verbrämt.10 »There is no country less warlike than ours«, resümierte der Erzähler lakonisch.11 Ihres aggressiv-expansionistischen Charakters beraubt, wurde die Frontier zum Erprobungsfeld eines blütenweißen nationalen Entwicklungsnarrativs. Die jungen Scouts sollten spielerisch die Wehrhaftigkeit der alten Pioniere erwerben, ohne sich mit dem blutigen Erbe des Imperiums auseinandersetzen zu müssen. Die Gewaltspur der siedlerkolonialen Eroberung des nordamerikanischen Kontinents verschwand hinter einer infantilisierten Erzählung, in der heranwachsende

8 Robert Baden-Powell: Scouting for Boys, London 1908, S. 19; BSA. Boy Scout Handbook, New York 1910, S. 14. Siehe ebenso Benjamin R. Jordan: Modern Manhood and the Boy Scouts of America. Citizenship, Race, and the Environment, Chapel Hill 2016, S. 46ff. 9 BSA: Handbook for Boys, 2New York 1916, S. 12; BSA: Annual Report of the Boy Scouts of America, Washington 1920, S. 7. 10 BSA: Handbook (Anm. 9), S. 338–339. 11 Ebd., S. 339.

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Jungen in die Fußstapfen einer herangewachsenen amerikanischen Großmacht traten.12 Diese Formel begleitete auch das Ausgreifen der BSA auf Schauplätze außerhalb der Staatsgrenzen der USA. Neben der Gründung einzelner Pfadfindergruppen in den annektierten Gebieten nach 1898 betraf dies vor allem die wachsende Bedeutung der US-amerikanischen Scouts in den internationalen Gremien der anfänglich britisch dominierten Weltpfadfinderei. Besonders schillernd strahlte das Bild der Scout-Bewegung als Garant der Völkerfreundschaft in einer anglo-amerikanisch dominierten Weltordnung auf den World Jamborees. Die Weltpfadfindertreffen, die seit 1920 alle vier bis fünf Jahre stattfanden (für eine längere Unterbrechung sorgte lediglich der Zweite Weltkrieg), wurden gezielt als Friedensfeste inszeniert. ›Jugend‹ trat dort als reinigende und revitalisierende Kraft auf, die die Wunden des Krieges heilte und alte Feindschaften überwand. Im Abkehr vom martialischen Trommelwirbel vergangener Tage verschrieben sich die Pfadfinder nicht nur dem Internationalismus der Zwischenkriegszeit; sie setzten sich an dessen Spitze. Jugendlichkeit und eine diffuse und zugleich wohldosierte Ablehnung des »Alten« waren die Vehikel ihrer Selbstbedeutungszuschreibung. Pfadfinder und ihre Anführer betonten ihre Abneigung gegenüber der Diplomatie der alten Männer, die sie als unaufrichtig und intrigant geißelten. Wer echte Freundschaft zwischen Nationen erfahren wollte, sollte die Bürokraten im Völkerbund meiden und an die JamboreeLagerfeuer kommen. Dort predigten Pfadfinder aus fünf Kontinenten nicht nur Brüderlichkeit fernab von Egoismus und Zynismus; sie lebten sie.13 Gleichzeitig blieb das Ideal einer grenzüberschreitenden Verbrüderung mit patriarchalisch-rassistischen Hierarchien durchaus vereinbar. Der offizielle Globalismus der Bewegung hatte einen klar anglozentrischen Kern. Englisch wurde zur Hauptverkehrssprache der internationalen Pfadfinderfamilie. Nur Organisationen, die dem angelsächsischen Modell folgten, wurden aufgenommen. Hinzu kam, dass die globale Pfadfinderei im Inneren von Hierarchien durchzogen war. Geschlecht war die auffälligste Differenzkategorie. Auch wenn die meisten Länder, dem Beispiel der englischen Girl Guides folgend, Mädchenverbände zuließen, blieb die Pfadfinderei im Selbstverständnis der Boy

12 Honeck: Frontier (Anm. 5), S. 45f. 13 Zur Internationalisierung der Scout-Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, siehe Nelson R. Block, Tammy M. Proctor (Hg.): Scouting Frontiers. Youth and the Scout Movement’s First Century, Newcastle 2009. Zu den World Scout Jamborees insbesondere, siehe Tammy R. Proctor: On My Honor. Guides and Scouts in Interwar Britain, Philadelphia 2002, S. 107–154; und Honeck: Frontier (Anm. 5), S. 88–128.

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Scouts wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung ein Männerbund.14 Obwohl der Weltverband sich 1924 in seinen Statuten gegen rassische Diskriminierung aussprach, blieben darüber hinaus dunkelhäutige Jugendliche lange Pfadfinder zweiter Klasse. Euro-amerikanische Organisatoren sahen keinen Widerspruch zwischen internationaler Verständigung und kolonialer Praxis. Während indische Scouts als Ausdruck eines wohlwollenden britischen Imperialismus auf den Jamborees marschieren durften, waren in den Delegationen Südafrikas keine schwarzen Jugendlichen zu sehen.15 Die Einheiten aus den Vereinigten Staaten spiegelten ebenfalls die rassistische Segregation ihrer Gesellschaft wider. Zwar wurde mit Indianertänzen und philippinischen Scouts das Bild eines jungen, fröhlichen multiethnischen Imperiums evoziert; von der Tatsache, dass zur gleichen Zeit in den Südstaaten afroamerikanische Jugendliche, die in einer Scout-Uniform gesehen wurden, schlimmen Anfeindungen ausgesetzt waren, erfuhr die Weltöffentlichkeit lange nichts.16 Entscheidend war eine performative Praxis, mit der das American Empire in eine Spielwiese umgewandelt wurde, auf der Scoutmaster-Soldaten im gemeinsamen Spiel mit einheimischen Jugendlichen sowohl diese als auch die Folgen erlebter Kriegsgewalt beherrschbar machen wollten.

Erobern, Befrieden, Formen Eine Lesart dieser Befriedungspolitik besteht darin, sie als Internationalisierung eines in der Scout-Bewegung verankerten Antidelinquenzdiskurses zu verstehen. Das Beispiel der Philippinen zeigt, wie früh die Vermutung, dass die BSA eine hohe Kompetenz im Umgang mit »Problemjugendlichen« besaßen, Eingang in das soft-power-Arsenal der aufstrebenden Weltmacht fand. Das Maskulinisierungsangebot, das die Boy Scouts unterbreiteten, reagierte nicht nur auf eine in der Literatur oft konstatierte, jedoch recht unscharf definierte »Krise der Männlichkeit« in den industrialisierten Gesellschaften nach 1900.17 Es konvergierte auch zeitlich mit sozialen und institutionalisierten Innovationen in der Jugendarbeit, die sich in den USA im Rahmen der Progressive Era besonders in 14 Die imperialen und internationalen Verbindungen der Girl Guides untersucht Kristine Alexander: Guiding Modern Girls: Girlhood, Empire, and Internationalism in the 1920s and 1930s, Vancouver 2017. 15 South African Dance, in: Scouting: World Jamboree Edition, 03. 08. 1929. 16 The Jamboree at Gödöllo, in: Boy’s Life, Oktober 1933, S. 21; Philippine Fete Staged by Scouts, in: New York Times, 30. 08. 1935. 17 Wegweisend hierzu Gail Bederman: Manliness and Civilization: A Cultural History of Gender and Race in the United States, 1880–1917, Chicago 1995; und Jürgen Martschukat, Olaf Stieglitz: Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a. M. 2018, S. 52–84.

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der Etablierung einer eigenständigen Jugendgerichtsbarkeit äußerte.18 Naturalisten wie Ernest Thompson Seton und Daniel Carter Beard warnten nicht nur vor den Verführungen der städtischen Moderne, deren Laster – Alkohol, Rauchen, Konsumsucht – sie als Degenerationsgefahr für die Nachkommen der weißen angelsächsischen Mittelschicht markierten. Ebenso dringlich war angesichts gesellschaftlicher Konflikte um Migration und Diversität die Frage, inwiefern organisierte Jugendarbeit für die Disziplinierung von Minderheitenjugendlichen, die als besonders strafanfällig stigmatisiert wurden, nutzbar gemacht werden konnte. Sichtlich stolz berichteten daher Zeitungen in New York und San Francisco in den frühen 1910er Jahren über erste erfolgreiche Pilotprojekte mit chinesisch-amerikanischen Jugendlichen in beiden Küstenstädten. Diese würden im Pfadfinderspiel lernen, was es bedeute, Amerikaner zu sein, und sich so besser dem Einfluss ihrer renitenten Eltern entziehen.19 Im Integrationsangebot, das Kiser den jungen Moros unterbreitete, spiegelte sich das Entwicklungsversprechen, das weiße bürgerliche Jugendverbände Arbeiterkindern aus Einwandererfamilien oder, mit deutlichen Abstrichen, auch afroamerikanischen Jugendlichen gaben. Dieser Konnex wird sichtbar am Beitrag Caroline Spencers, einer wohlhabenden Sozialarbeiterin aus Connecticut, die die Uniformen für Kisers Pfadfindereinheit spendierte. Spencer, deren Sohn Mitglied im Vorstand der BSA war, riet Kiser zum Pfadfinderspiel, nachdem sie auf ihren Streifzügen durch Mindanao zahlreiche Kriegswaisen, oft hungrig und spärlich gekleidet, kennenengelernt hatte.20 Die Aufgabenverteilung entsprach den Geschlechtervorstellungen der weißen Mittelschicht: hier die sentimentale Reformerin, dort der kampferprobte Offizier. Kiser selbst machte keinen Hehl daraus, dass er mit seinem Projekt Neuland betrat. Im zeittypischen rassistischen Duktus bezeichnete ein anwesender Journalist Kisers Schützlinge als Abkömmlinge eines »most cunningly brutal, untamed, and untamable people among all the brown-skinned eastern wards of Uncle Sam.«21 Aus den jungen Filipinos »little brown brothers« (eine von Präsident William Howard Taft geprägte paternalistisch-rassistische Bezeichnung) zu machen war mehr als nur ein Sozialexperiment. Hier wurde eine counterinsurgency Maßnahme erprobt, die antikoloniale Aufstände verhindern sollte, bevor sie geschahen. Etwas anders gelagert war der Aspekt der Gewaltvorbeugung in den Jugendcamps der German Youth Activities. Die Niederlage des nationalsozialistischen 18 David S. Tanenhaus: Juvenile Justice in the Making, New York 2004, S. 23–54; und David B. Wolcott: Cops and Kids. Policing Juvenile Delinquency in Urban America, 1890–1940, Columbus 2005. 19 Vgl. Wendy Rouse Jorae: The Children of Chinatown. Growing Up Chinese-American in San Francisco, 1850–1920, Chapel Hill 2009, S. 63f. 20 Honeck: Frontier (Anm. 5), S. 135. 21 Little Moros (Anm. 1).

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Deutschlands war total; darauffolgende Sabotageakte, die auf das Konto fanatisierter Hitlerjungen gehen sollten, waren, nach allem was wir wissen, verschwindend gering. Sorge bereiteten eher Bilder von Jugendlichen, die in zerbombten Ruinen spielten und infolge der Auflösung familiärer und schulischer Strukturen als verwahrlost galten. »Getting the young off the streets« lautete 1946 eine Direktive der US-Militärregierung in Bayern.22 Die Besatzungsmacht reagierte auf obdachlose Teenager, die sowohl Einheimische als auch allierte Politiker*innen in helle Aufregung versetzten, mit einem Maßnahmenkatalog, der u. a. die Förderung der Boy Scouts umfasste. In den Bildern des jugendlichen Kleinkriminellen, der auf dem Schwarzmarkt zuhause ist, und des weiblichen »Ami-Flittchens« wird die Sorge greifbar, dass sich eine ganze Generation dem Wiederaufbau und der Wiederherstellung der sozialen Ordnung entziehen könne.23 GIs, die in ihrer Freizeit GYA-Aktivitäten leiteten und dabei oft der Pfadfinderei nahestanden, schlüpften zusehends in die Rolle von Ersatzvätern – nicht nur, um die Lücke abwesender biologischer Väter zu schließen, sondern auch um die Gefahr einer Wiederannäherung der deutschen Nachkriegsjugend an ältere Herrschaften mit nationalsozialistischer Vergangenheit zu bannen. Mindestens ebenso viel Kapital konnten die Boy Scouts aus dem sich anbahnenden Kalten Krieg schlagen. Delinquenzvorsorge und die Bekämpfung des Kommunismus galten schon bald als zwei Seiten der gleichen Medaille, insbesondere als mit der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in der Sowjetischen Besatzungszone eine imposante sozialistische Alternative zu demokratischen Jugendverbänden auf deutschem Boden heranwuchs. Unterstützer der BSA boten ihre Organisation als wichtiges Gegengewicht an. Dies geht bereits aus einem Bericht der US-Militärregierung vom September 1945 hervor, der unbeaufsichtigt spielende Kinder als besonders verführbar im Blick auf »political propaganda« einstufte. Damit war nicht der Nationalsozialismus gemeint, sondern der vermeintlich lange Arm Moskaus. Dagegen könne die Pfadfinderei unter US-amerikanischer Obhut, so die Autoren, falls »properly organized and operated«, ein »effective counter agent to Communist propaganda and philosophy« sein.24 Ob aus dem besiegten Deutschland eine funktionierende Demokratie nach westlichen Standards werden könne, entscheide sich an der Frage, wieviele Kriegskinder und Jugendliche sich bereitwillig unter die Fittiche ihres neuen sanftväterlichen Hegemons aus Übersee begeben würden. Einer tiefergehenden Verständigung standen jedoch nicht nur Sprachbarrieren im Weg. Unterschiedliche Erwartungen und Interessen erschwerten die 22 Siehe dazu auch Martin Kalb: Coming of Age. Constructing and Controling Youth in Munich, 1942–1973, New York 2016, S. 65ff. 23 Ebd., S. 55–86. 24 Zitiert nach Emily Swafford: Democracy’s Proving Ground. U.S. Military Families in West Germany, 1946–1961 (Inauguraldissertation, University of Chicago), 2014, S. 189.

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Annäherung, und Angehörige der US-Militärverwaltung scherten sich oft wenig um die unterschiedlichen Traditionslinien innerhalb der deutschen Jugendbewegung. Am Tragen der Pfadfinderkluft entzündete sich heftiger Streit. Nicht wenige westdeutsche Pfadfinder ignorierten das Uniformverbot, das für deutsche Jugendliche in der US-Besatzungszone galt, was ihnen Ärger mit der Militärpolizei einbrachte. Zwischenfälle dieser Art veranlassten den Altpfadfinder Alexander Lion im September 1946 zu einer Protestnote. Lion, aufgrund seiner jüdischen Herkunft ein Verfolgter des NS-Regimes, warf den Amerikanern vor, mit solchen Aktionen ihr Versprechen, der deutschen Jugend »den Weg zur wahren Demokratie und Brüderlichkeit zu ebnen«, zu brechen.25 Kritik kam auch aus den Vereinigten Staaten. Die übertriebene Angst vor der Remilitarisierung westdeutscher Jugendlicher, hieß es aus der BSA-Zentrale, wurde mehr und mehr zu einem Bremsklotz am Bein der Reeducation. Sie hinderten die Behörden daran, schleunigst eine neue Generation amerikafreundlicher Pfadfinder heranzuziehen, die dann auch den Kern einer jungen prowestlichen Elite in der künftigen Bundesrepublik bilden sollten.26 An diesem Punkt trennte sich der Weg US-amerikanischer Reeducation-Politik nach 1945 von dem Pfad, den die Eroberer der Philippinen nach 1898 eingeschlagen hatten. Trotz ähnlicher Dynamiken der Verfeindung wurde das besiegte Deutschland nie dergestalt infantilisiert, wie es die als rassisch minderwertig eingestuften Südostasiaten erfahren mussten. Die Abkömmlinge der Nationalsozialisten galten als »weiß« und damit als prinzipiell kulturverwandt mit den Anführern der Freien Welt. Umgekehrt blieb den vermeintlich rückständigen Moro-Kindern, die sich Kiser anvertrauten, der Weg zur freien und gleichen Staatsbürgerschaft verbaut. Aus ihnen loyale Untertanen zu machen, die dem Imperium aus der Ferne zuarbeiten würden – darin bestand der eigentliche Zweck des Pfadfinderspielens im südphilippinischen Dschungel.

Spielgefährten oder Spielverderber Wie weit die Vorstellungen von Kolonisierern und Kolonisierten auf den Philippinen zum Teil auseinanderlagen, wird deutlich, wenn man einen Perspektivwechsel vornimmt, wie er beispielsweise von den postcolonial studies eingefordert wird. Die Bilder von Kiser und den Moros lieferten brauchbares Material für die US-amerikanische Öffentlichkeit, in der Zweifel am Krieg lauter wurden. Doch hinter der Versöhnungsfassade köchelten die Konflikte. Dem Bericht eines 25 Alexander Lion an General Walther J. Muller, 16. 09. 1946, in: OMGUS Bavaria, Education and Cultural Relations Division, RG 260, Box 48, National Archives II, College Park, Maryland. 26 Vgl. Honeck: Frontier (Anm. 5), S. 255ff.

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Auslandskorrespondenten zufolge zeigte sich eine Gruppe jugendlicher Moros enttäuscht, nach ihrer Vereidigung als Scouts keine Gewehre bekommen zu haben.27 Aus der Perspektive der Moros schien die Annahme einer Bewaffnung durchaus berechtigt gewesen zu sein. Dies lag an einer nachvollziehbaren Verwechslung: Die jungen Filipinos haben wohl in der Organisation eine Art Kadetteneinheit der Philippine Scouts, einer der US-Armee unterstellten Hilfstruppe aus Einheimischen, gesehen.28 Der mehrfach geäußerte Wunsch nach Schusswaffen lässt Rückschlüsse über das Motivationsbündel der Jugendlichen zu. Auch wenn die Kolonisierer das Gegenteil behaupteten: die Moros schienen sich für die Boy Scouts zuallererst in der Hoffnung interessiert zu haben, eine moderne militärische Ausbildung zu erhalten. Und das heißt auch, sich Wissen anzueignen und Fertigkeiten zu erlernen, mit denen sich Entwicklungschancen innerhalb des neuen Regimes eröffneten, oder aber der antikoloniale Befreiungskampf in naher Zukunft fortführen ließe. Die Agency der Jugendlichen hatte viele Gesichter, zumal sich diese, wie bereits erwähnt, nur selten im offenen Widerstand äußerte. Mal drückte sie sich im situativen Kooperieren mit den US-Mentoren aus, mal im Sich-Entziehen, mal im verkappten Widerspruch. Ging es den Scoutmaster-Soldaten allerdings darum, den Kontakt mit jungen Menschen zur Selbstreinigung im Sinne der oben angeführten Bewältigung erlebter und verübter Kriegsgewalt zu nutzen, blieb den Jugendlichen meist nur die Statistenrolle. Folgt man der Anthropologin Liisa Malkki, war die Lagerfeuerdiplomatie der Pfadfinder Ausdruck einer transideologischen Zeichensprache, die Kinder und Jugendliche zu Trägern utopischer Zukunftsentwürfe machte, und das auf gleich vierfache Weise: »(1) as embodiments of a basic human goodness (and symbols of world harmony); (2) as seers of truth; (3) as ambassadors of peace; and (4) as embodiments of the future.«29 Entsprechend bot den Scoutmaster-Soldaten der Schulterschluss mit den Söhnen und Töchtern ehemaliger Feinde die Möglichkeit, Ballast abzuwerfen und im Krieg gemachte Gewalterfahrungen zu verarbeiten. Deutlich wird dies in einem Brief Kisers an seine Frau, in der er seine Arbeit mit den Moro-Jugendlichen als für ihn transformativ beschreibt. Im Kreise der Jungen erfuhr er eine »Liebe« und »Freundschaft,« die aus ihm, dem Soldaten mit Blut an den Händen, einen anderen Mann gemacht habe. »As the boat sailed out to sea those honest little Scouts stood waving a last farewell with tears streaming over their faces. I am 27 Sons of Pirates Join Boy Scouts in Philippines, in: New York Herald Tribune, 28. 04. 1929. Vgl. auch Ernest E. Voss: Scouting among Primitive Boys (unveröffentliche Studie, University of North Carolina), 1939, S. 246f. 28 Capozola: War (Anm. 3), S. 81. 29 Liisa Maalki: Children, Humanity, and the Infantilization of Peace, in: Ilana Feldman, Miriam Ticktin (Hg.): In the Name of Humanity. The Government of Threat and Care, Durham 2010, S. 60.

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sure that every American that stood on the pier lost his heart to the Moro Boy Scouts.«30 Es bietet sich hier gewiss mehr als nur eine Interpretation an, aber aus diesen Zeilen spricht der Wunsch nach Absolution, die nur unschuldige Kinderseelen erteilen können.31 Der Identitätswandel vom waffenstarrenden Eroberer zum gutmütigen Helfer vollzog sich auch im westdeutschen Fall. Jugend wurde dabei zu einem zentralen Erprobungsfeld der alliierten Reeducation-Politik. Sie diente den Besatzern zugleich als Chiffre für die politische Unmündigkeit eines ganzen Volkes, das behutsam, Schulkindern ähnlich, demokratische Umgangsformen erlernen musste. Genau dort setzte der ambitionierte Plan der BSA an, hunderte »campfires of democracy« in der US-Zone leuchten zu lassen, an denen Soldatensöhne mit deutschen Kindern Freundschaftspakte für den Aufbau einer neuen, freien Welt schließen sollten.32 Machtdifferenzen zwischen Besatzern und Besetzten verschwanden dadurch keineswegs; die Metaphorik von großen und kleinen Brüdern gab ihnen aber den Nimbus des Natürlichen, des Familiären und damit des moralisch Unbedenklichen. Dazu passte, dass einzelne US-amerikanische Boy Scouts den Wiederaufbau der deutschen Pfadfinderei mit zahlreichen Spendenaktionen und ›Adoptionen‹ von einzelnen Stämmen materiell unterstützten. Ob die Freundschaftsgesten des großen Bruders reziprok erwidert wurden, lässt sich freilich nicht aus den Überlieferungen der Wohltäter*innen alleine rekonstruieren. Reaktionen derjenigen deutschen Nachkriegsjugendlichen, die in den Sommermonaten eines von der GYA oder der BSA betriebenen Ferienlagern besuchen durften, wurden zum Teil in Umfragen festgehalten, welche Sozialarbeiter*innen im Dienste des US-Militärs erhoben.33 Bekenntnisse zur Demokratie als Staatsform blieben bemerkenswert blass, auch weil es an Vorkenntnissen und klaren Kriterien, was denn darunter zu verstehen sei, fehlte. Die meisten Jugendlichen, deren Familien mit Knappheiten aller Art zu kämpfen hatten, betonten dagegen die materiellen Vorzüge eines Sommerlageraufenthaltes. Endlich mal richtig satt werden! Nachvollziehbare Interessen, nicht geteilte Werte, leiteten diese deutschen Jugendlichen, die unter der Anleitung USamerikanischer Scoutmaster zelteten. Das Image der USA als Konsumsupermacht vorweg, das in den 1950ern den westdeutschen Amerikadiskurs prägen sollte, deutete sich demnach in den Sommerlagern der Boy Scouts bereits an. 30 The Moro Boy Scouts, in: The Outlook, 20. 10. 1915, S. 405. 31 Zur kulturgeschichtlichen Genese der Idee kindlicher Unschuld, siehe u. a. Meike Sophia Baader: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied 1996. 32 Diese Metapher taucht in vielen BSA Publikationen der Nachkriegszeit auf, so z. B. in World Brotherhood, in: Boys’ Life, Februar 1946, S. 7, 24; und in Rediscover America, in: Boys’ Life, April 1952, S. 25. 33 Siehe Goedde: GIs (Anm. 4), S. 157–160.

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Fazit Das Maskulinisierungskonzept der Boy Scouts eignete sich in den Augen ihrer Unterstützer*innen hervorragend dazu, imperiale Machtansprüche zu festigen und gleichzeitig zu verschleiern, da Letztere vom Lachen spielender Kinder leicht übertönt werden können. Dies gilt auch für rassistische Logiken im Umgang der BSA mit nicht-weißen Jugendlichen, ganz gleich, ob sie afroamerikanischer oder philippinischer Herkunft waren. Vier Punkte verdienen es festgehalten zu werden. Erstens legt die Beschäftigung mit der Jugendarbeit der BSA in verschiedenen Besatzungskontexten spannende Verbindungslinien zwischen dem American Century und dem »Jahrhundert der Jugend« frei.34 Sie verdeutlicht zweitens, wie die Verjugendlichung moderner Gesellschaften, die einer wachsenden Konsum- und Freizeitkultur entsprang, bis in die Sphäre der internationalen Politik vordrang. Drittens schärft sie unseren Blick dafür, dass nationale und imperiale Ordnungen nicht nur auf Kinder und Jugendliche einwirkten, sondern das diese Ordnungen elementar auf die demografische wie auch symbolische Ressource ›Jugend‹ angewiesen waren. Und viertens zeigt die Geschichte, das Spiel und Spaß nicht abseits imperialer Macht existierten, sondern ihr ein kindlich-unschuldiges Antlitz verliehen, hinter dem die Grimasse der Gewalt – zeitweise – verschwand.

34 Bodo Mrozek: Das Jahrhundert der Jugend? in: Martin Sabrow, Peter Ulrich Weiß (Hg.): Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters, Göttingen 2017, S. 199– 218. Ein älteres jedoch ebenso einflussreiches Deutungsmuster stammt von der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key, die 1900 von einem anbrechenden »Jahrhundert der Kindheit« sprach.

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»Seid bereit!« – Wehrhaftigkeit und Gewaltbereitschaft im deutsch-jüdischen Jugendbund Schwarzes Fähnlein

Einleitung: Gewalt in der Geschichte eines deutsch-jüdische Jugendbundes Im Jahre 1933 wurde aus dem Selbstzweck des Bundes seine geschichtliche Sendung. […] nun wurde uns die große Aufgabe zuteil, den jungen, jüdischen Deutschen zu gestalten, der einmal repräsentativ stehen soll, wenn es letztlich um die Frage unseres Lebens in Deutschland als Juden und Deutsche geht. Das staatliche Leben der Nation wird nicht von Beamten und Funktionären bestimmt, sondern sein Träger wurde der soldatische und bündische Mensch! […] 1918 hörte der Frontkämpfer auf ›Militärperson‹ zu sein. […] Soldat, Frontsoldat sind viele geblieben und haben der Jugend jene soldatische Haltung vermittelt, die das Gesicht des neuen Staates prägt. Durch die Beziehung des Soldatischen zum Bündischen wurde eine Generationenspanne überwunden: zum Willensträger der deutschen Nation ist der soldatische und bündische Mensch geworden, die junge Generation! Wir junge, jüdische Deutsche sind unlöslich mit der deutschen Nation verbunden. Auch uns bewegt die Notwendigkeit, einen Schritt der inneren Erneuerung zu vollziehen.1

Diese programmatische Selbstbeschreibung verfasste Paul Mayer (1912–2011, geb. in Bad Kreuznach) im Frühjahr 1934 als vorletzter Bundesführer des Schwarzen Fähnleins (SF).2 Er gab im »Schild – Zeitschrift des Reichsbundes

1 Paul Yogi Mayer: Schwarzes Fähnlein, in: Der Schild. Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Fronsoldaten e. V., 1934, Nr. 13, o. S. (Hervorhebungen im Original); zu ähnlichen thematischen Bezügen der ›deutschen Erneuerung‹ in einem Erinnerungsbericht vgl. Werner T. Angress: … immer etwas abseits. Jugenderinnerungen eines jüdischen Berliners, 1920–1945, Berlin 2005, S. 100f. 2 Vgl. zum SF bislang einzig Carl J. Rheins: German Jewish Patriotism, 1918–1935. A Study of the Attitudes and Actions of the Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, the Verband nationaldeutscher Juden, the Schwarzes Fähnlein, Jungenschaft, and the Deutscher Vortrupp, Gefolgschaft deutscher Juden, unveröffentlichte Dissertation, New York State University, Stony Brook 1978, Kap. 4, S. 102–146; Rheins publizierte den Abschnitt als ders.: The Schwarzes Fähnlein, Jungenschaft, 1932–1934, in: Leo Baeck Institute Year Book, 1978, Nr. 1, S. 173–197. Die folgenden Ausführungen stehen im Zusammenhang mit meinem Promotionsstudium zu

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jüdischer Frontsoldaten« öffentlich unter seinem Fahrtennamen Yogi Auskunft über die jugendbewegte und kämpferische Selbstwahrnehmung einer Gruppe von jüdischen Deutschen, die zwischen dem Frühsommer 1932 und Winter 1934 in der späten Weimarer Republik und dem frühen Nationalsozialismus bestand. Das SF war eine Ansammlung von etwa eintausend Jugendlichen, die sich in eine Jungenschaft und eine Mädelschaft aufteilten. Im Bund waren weit weniger Akteurinnen als Akteure organisiert.3 Eine weibliche Perspektive war daher auch in der Führerschaft stark unterrepräsentiert.4 Das SF bekannte sich vehement patriotisch zum Deutschtum und verortete sich selbst als Teil der bündischen Jugend.5 Als ein Nachfolger der deutsch-jüdischen Jugendbewegung Kameraden (1919–1932), war es gleichfalls ein jüdischer Jugendbund.6 1920 war das Ziel der Kameraden, eine wegweisende Verbindung aus »Menschentum, Judentum, Deutschtum« zu finden.7 Auch zwischen 1932 und 1934 war der Aushandlungsprozess um die gelebte deutsch-jüdische Jugend in einem der drei Nach-

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einer neuen Gesamtgeschichte des SF an der Humboldt-Universität zu Berlin mit Förderung durch das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk. Die Mädelschaft dürfte ein Viertel der Mitglieder im SF gestellt haben; Ahrens u. Harvey gehen von ähnlichen Zahlen für die bündische Zeit aus, vgl. Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte, 1918–1933, Göttingen 2015, S. 220, sowie Elizabeth Harvey: Serving the Volk, Saving the Nation: Women in the Youth Movement and the Public Sphere in Weimar Germany, in: Larry Eugene Jones, James Retallack (Hg.): Elections, Mass Politics, and Social Change in Modern Germany. New Perspectives, Washington 1992, S. 201–221, hier S. 204. Vgl. Walter Laqueur: Young Germany – A History of the German Youth Movement, London 1962, S. 134; zu weiblichen Mitgliedern im SF erstmalig Lieven Wölk: Schwarzes Fähnlein, Mädelschaft – Weibliche Stimmen in einem deutschgesinnten jüdischen Jugendbund, in: Zentralrat der Juden in Deutschland (Hg.): Die jüdische Jugendbewegung – Eine Geschichte von Aufbruch und Erneuerung, Leipzig 2021, S. 148–169. Siehe zur deutschen bürgerlichen Jugendbewegung überblicksartig G. Ulrich Großmann (Hg.): Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Nürnberg 2013; einführend Joachim H. Knoll, Julius H. Schoeps (Hg.): Typisch deutsch: Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte, Opladen 1988; sowie ausführlich Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2021. Siehe aktuell Knut Bergbauer: Die »Möwe« ist eine andere Art »Wandervogel«. Zur Geschichte des Deutsch-Jüdischen Wanderbundes »Kameraden«, in: Zentralrat (Hg.): Jugendbewegung (Anm. 4), S. 69–81; sowie Bernhard Trefz: Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des »Deutsch-Jüdischen Wanderbundes ›Kameraden‹«, Frankfurt a. M. 1999. Zur jüdischen Jugendbewegung einführend Barbara Stambolis: Bewegte Jugend – Jugendbewegung(en) im 20. Jahrhundert: Aspekte deutscher und deutsch-jüdischer Geschichte, in: Zentralrat (Hg.): Jugendbewegung (Anm. 4), S. 11–24; ausführlich H. Meier-Cronemeyer: Jüdische Jugendbewegung – Erster Teil, in: Germania Judaica, 1969, Nr. 1–2, S. 1–56; ders.: Jüdische Jugendbewegung. Zweiter Teil, in: Germania Judaica, 1969, Nr. 3–4, S. 57–123; sowie die Beiträge in Yotam Hotam (Hg.): DeutschJüdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend«, Göttingen 2013. Vgl. G. Tichauer: Unsere Ziele und Wege, in: Kameraden. Verbandszeitschrift des Jugendverbandes jüdischer Deutscher, 1920, Nr. 1–3, S. 13.

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folgebünde nicht abgeebbt.8 Daraus lässt sich ein Problem ableiten, das unmittelbar zur Entstehung und Auflösung des SF beigetragen hat: Das konstante Ringen um die Stellung von Deutschtum und Judentum in der jugendbewegten Gemeinschaft. Unter den Mitgliedern gab es abweichende Positionen zur religiösen Praxis, dennoch wurde das Judentum primär unter dem Aspekt der Religion als verbindend verstanden. Eine jüdische Kollektivzugehörigkeit wurde, auch aufgrund der antizionistischen Haltung, im Bund negiert. Das Deutschtum begriffen die jungen Menschen mit den Gemeinschaftsvorstellungen von Volk oder Nation. Allerdings gründete ihre selbstgewählte Verbindung zu einem deutschen Kollektiv auf der aktiven Ebene von Fühlen, Denken und Handeln, nicht auf der Ebene von vermeintlich determinierenden Blutslinien oder der Rasse.9 Zum organisatorischen Umfeld der deutsch-jüdischen Erwachsenenwelt zählten der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF), der Verband nationaldeutscher Juden und der Deutsche Vortrupp, Gefolgschaft deutscher Juden.10 Der Jugendbund war nach dem Vorbild der Deutschen Jungenschaft (dj.1.11) um Eberhard Köbel (1907–1955, Fahrtenname tusk)11 organisiert, die sich insbesondere durch ihren radikalen Bezug auf eine uniforme und kriegerische Männlichkeit auszeichnete.12 In 15 bis 20 Ortsgruppen gegliedert, fanden sich die mitgliederstärksten Gruppen in Berlin, Breslau und Hamburg. Das Alter der männlichen und weiblichen SF-Mitglieder variierte zwischen 1932 und 1934 stark: vom Kind bis zum jungen Erwachsenen gehörten sie den Geburtsjahrgängen von 1909 bis 1924 an. Im Vordergrund der jugendbewegten Erlebnisse 8 Vgl. zum sozialistischen Nachfolgebund George Günther Eckstein: The Freie Deutsch-Jüdische Jugend (FDJJ), 1932–1933, in: Leo Baeck Institute Year Book, 1981, Nr. 1, S. 231–239; für den zionistischen Nachfolgebund E. Maoz: The Werkleute, in: Leo Baeck Institute Year Book, 1959, Nr. 1, S. 165–182. 9 Vgl. Rheins: Fähnlein (Anm. 2), S. 194ff. 10 Siehe dazu Ulrich Dunker: Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, 1919–1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins, Düsseldorf 1977; Matthias Hambrock: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden, 1921–1935, Köln 2003; Carl J. Rheins: Deutscher Vortrupp, Gefolgschaft deutscher Juden, 1933–1935, in: Leo Baeck Institute Year Book, 1981, S. 207–229; sowie Micha Brumlik: Nationaldeutsch-jüdische Jugend. Der »Vortrupp« mit Hans-Joachim Schoeps und Max Samter, in: Zentralrat (Hg.): Jugendbewegung (Anm. 4), S. 136–147. Zum rechts-konservativen Milieu deutscher Juden siehe aktuell Philipp Nielsen: Between Heimat and Hatred. Jews and the Right in Germany, 1871–1935, New York 2019. 11 Siehe dazu Eckard Holler: tusk und dj.1.11. Leben, Wirken, Wirkung, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Neue Folge: Jugend, Jugendbewegung und Kolonialismus, 2005, Nr. 1, S. 213–229; Fritz Schmidt (Hg.): tusk – Versuche über Eberhard Koebel, o. O. 1994; ders. (Hg.): tusk – Gesammelte Schriften und Dichtungen, o. O. 1996 [1962]. 12 Vgl. Jürgen Reulecke: Die Jungenschaft seit Ende der 1920er Jahre. Der Start in eine dritte jugendbewegte Phase, in: Großmann (Hg.): Aufbruch (Anm. 5), S. 100–104.

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standen wöchentliche Heimabende und insbesondere die Fahrten: Aufenthalte in der Natur unter der Leitung von unwesentlich älteren Jugendführern und -führerinnen, als kurze Tagesausflüge einzelner Kleingruppen oder auch als längere Sommer- und Winterlager im Zusammenschluss von mehreren Ortsgruppen. Während die jungen Menschen die Begegnung mit der Natur suchten, in Uniform (der sogenannten Kluft) marschierten, kämpferische und romantische Lieder sangen, gemeinsam zelteten oder das Lagerfeuer und die Fahne bewachten, sollten sie sich zur kameradschaftlichen, deutsch-jüdischen Gemeinschaft finden.13 Die älteren Führer und Führerinnen imaginierten die Bundesmitglieder als eine elitäre Formation: Das Schwarze Fähnlein wollte durch »Aristokratie« als Haltung und »Auslese« an den Mitgliedern Vorbilder schaffen, die als Speerspitze voran, als ›neue Menschen‹ in eine ›neue Zeit‹, ein ›neues Deutschland‹ ziehen sollten.14 Im weiteren Verlauf wird der Beitrag jugendbewegte Selbstimaginationen sowie Erlebnis- und Erfahrungsräume deutsch-jüdischer Jugendlicher aus dem SF zwischen der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus mit dem thematischen Fokus auf Gewalt erkunden.15 Damit soll eine relevante Prägungssphäre in Deutschland im Kontext von bündisch vermittelter Kampf- und Gewaltbereitschaft aber auch physischer Gewalterfahrung und Gegenwehr erhellt werden. Dabei steht im Vordergrund nicht »das Haben von Gewalt, im Sinne von Amtsgewalt, Herrschaftsgewalt« sondern das »Gewalthandeln, jemandem Gewalt zufügen« im historischen Rahmen der Jugendbewegten.16 Speziell schriftliche 13 Vgl. Rheins: Fähnlein (Anm. 2), S. 184f, 197; sowie allgemein Walter Sauer: Der Mythos des Naturerlebnisses in der Jugendbewegung, in: Knoll (Hg.): Jugendbewegung (Anm. 5), S. 55– 70. 14 Vgl. Mayer: Fähnlein (Anm. 1), o. S.; zum neuen Adel siehe Eckart Conze: »Neuen adel den ihr suchet …«. Aristokratismus in der Jugendbewegung nach 1918, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart 2018, S. 69–83, insbes. 74–77; zum Topos des neuen Menschen einführend S. A. Haring: Der neue Mensch im Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2016, Nr. 37–38, S. 10–15, hier 10f; sowie ausführlich Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994, insb. 153–174; zum romantischen Erneuerungsmythos vgl. Winfried Mogge: »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ …«. Das Phänomen »Jugend« in der deutschen Jugendbewegung, in: Knoll (Hg.): Jugendbewegung (Anm. 5), S. 35–54, hier 51f. 15 Siehe zur Gewaltforschungen überblicksartig Michaela Christ: Gewaltforschung. Ein Überblick, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2017, Nr. 4, S. 9–15; einführend Teresa Koloma Beck, Klaus Schlichte: Theorien der Gewalt zur Einführung, Hamburg 2014; allgemein Trutz von Trotha: Zur Soziologie der Gewalt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1997, Nr. 37, S. 9–56; vertiefend Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Verrsuche über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008; sowie kritisch Thomas Hoebel, Wolfgang Knöbl: Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie, Hamburg 2019. 16 Michael Wildt: Volksgemeinschaft. Eine Gewaltkonstruktion des Volkes, in: Ulrich Bielefeld u. a. (Hg.): Gesellschaft, Gewalt, Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2012, S. 438–457, hier S. 438.

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und performative Entwürfe von Wehrhaftigkeit nach 1918 hat Rüdiger Ahrens wie folgt beschrieben: »Die bündische ›Wehrhaftigkeit‹ lässt sich daher als symbolische Form von Gewalt deuten: Nicht in der tatsächlichen, unmittelbaren Anwendung war das zentrale Moment zu finden, sondern in Bereitschaft und Wille.«17 In den veröffentlichten wie privaten Schriften und Schreiben der deutschjüdischen Jugendlichen soll dieser symbolischen Form von Gewalt ausschnitthaft für die Kameraden und vertiefend für das SF nachgegangen werden. Folglich ist insbesondere der im Gewalthandeln enthaltene kommunikative Aspekt für die Analyse ausgewählter Materialien aus dem Umfeld des SF wesentlich.18 Im Mittelpunkt der Untersuchung werden die Argumentationsstrategien für Gewaltanwendung und die Einübung von militärisch orientierter Wehrhaftigkeit sowie die vornehmlich textuelle Konstruktion gewaltaffiner Selbstbilder stehen, die – orientiert an soldatischen Vorbildern aus der realen und fiktionalen Erwachsenenwelt – in zeitgenössischem Material des Schwarzen Fähnleins und in Erinnerungsliteratur aufscheinen. Zu fragen ist, welchen Angriffen sich die Akteure und Akteurinnen ausgesetzt sahen, aber auch, welche Ziele sie als legitim betrachteten, um ihr eigenes Gewalthandeln in Form von Angriff oder Verteidigung auszurichten. Darüber hinaus wird zu fragen sein, welche Konsequenzen aus der Sozialisation in einem gewaltaffinen Umfeld resultierten beziehungsweise welche bleibenden Spuren in den Erinnerungen der Ehemaligen aus dem SF Bestand hatten. Ein akteurszentrierter Ansatz leitet dabei durch die Quellenbestände, so dass im Folgenden erstens die Vorbilder und der Entstehungskontext einer spezifisch deutsch-jüdischen Wehrhaftigkeit, zweitens die Aneignung eben jener Wehrhaftigkeit sowie die tatsächlichen Gewalterfahrungen und drittens das Nachwirken erlebter Gewalt und Gegengewalt von deutsch-jüdischen Jugendbewegten nach 1945 untersucht werden. Schließlich rückt dabei eine latente jugendliche Renitenz als Reaktion auf die judenfeindlichen verbalen wie physischen Angriffe in Deutschland in den Vordergrund der Forschung.

17 Ahrens: Jugend (Anm. 3), S. 154f. 18 Vgl. Reemtsma: Vertrauen (Anm. 15), S. 107; für eine »Phänomenologie körperlicher Gewalt«, ebd., S. 104–124.

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Kameraden – deutsch-jüdische Wehrhaftigkeit Auf der Suche nach Erneuerung und Gemeinschaft schlossen Teile der bürgerlichen Jugendbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Juden und Jüdinnen als vermeintlich anders und undeutsch aus.19 In Reaktion darauf und im Kontrast zu national-jüdisch orientierten Jugendgruppen gründeten sich zwischen 1916 und 1919 die Kameraden – Verband jüdischer Wander-, Sport- und Turnvereine als dezidiert deutsche und jüdische Jugendbewegung. Der Berliner Kamerad und erste Bundesleiter Hugo Herzfeld20 veröffentlichte im Frühjahr 1920 in der Bundeszeitschrift einen Leitartikel unter der Überschrift, »Was wollen die ›Kameraden‹?«.21 Sein Aufsatz war ein politisches Programm und kontextualisierte die Entstehung der Bewegung im Zeitgeschehen: Die jüdische Jugend, die eben aus dem Felde zurückgekehrt war, wo sie über 4 Jahre für ihr Vaterland Gefahr, Not und Entbehrung erlitten hatte, war nicht gesonnen, kampflos das Feld vor den Antisemiten auf der einen und dem National-Judentum auf der andern [sic.] Seite zu räumen. Sie wollte sich ihr Staatsbürgerrecht in dem von ihr eben noch mit eigenem Blut verteidigten Vaterland und ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volks- und Kulturkreis nicht rauben lassen. An den Hochschulen wuchs lawinenartig der K. C. [Kartell-Convent der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens], überall ertönte stürmisch der Ruf nach Abwehr gegen äußere Vernichtung und innere Zersetzung. […] Das, was die Gründer beseelte, war das Ziel, die jüdische Jugend zu selbstbewussten Juden zu erziehen, sie in ihrer Liebe zum Deutschen Vaterlande und Volkstume zu festigen, ihren geselligen Zusammenschluss und ihre körperliche Stählung zu fördern22

Herzfeld rückte die ersten männlichen Mitglieder der Kameraden in eine Tradition mit der Frontgeneration und verdeutlichte, dass mit dem Kriegsdienst auch die gleichberechtige Teilhabe am Leben des ›Vaterlandes‹ erkämpft werden sollte. Sein Beitrag liest sich auch als Kommentar zum zeitgenössisch weit verbreiteten Phantasma von einer jüdischen Drückebergerei im Ersten Weltkrieg, 19 Zur Judenfeindschaft und Jugendbewegung siehe Knut Bergbauer: Davidstern am Hohen Meißner? Wandervogel, Antisemitismus und jüdische Jugendbewegung, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, 2014, Nr. 2, S. 112–145; Walter Laqueur: The German Youth Movement and the ›Jewish Question‹. A Preliminary Survey, in: Leo Baeck Institute Year Book, 1961, Nr. 1, S. 193–205; sowie Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte und Pathogenese der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Köln 1991. 20 Vgl. Trefz: Jugendbewegung (Anm. 6), S. 177. 21 Hugo Herzfeld: Was wollen die »Kameraden«? I, II, in: Bundeszeitschrift des »Reichsverbandes der Kameraden«, Verbandes jüdischer Wander-, Sport- und Turnvereine, 1920, Nr. 1– 3, S. 4–11; ders.: Was wollen die »Kameraden«? III, in: Bundeszeitschrift des »Reichsverbandes der Kameraden«, Verbandes jüdischer Wander-, Sport- und Turnvereine, 1920, Nr. 4, S. 5–8. 22 Herzfeld: Kameraden I, II (Anm. 21), S. 5–6.

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dass durch die Judenzählung von 1916 Auftrieb erhalten hatte.23 Gegen diese und weitere judenfeindliche Propaganda kämpften auf der politischen Ebene unter anderen die Veteranen im RjF und der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.24 Der Kampf um Anerkennung als vollzugehörige deutsche Staatsbürger mit jüdischem Glauben war für die Kameraden in der Weimarer Republik aber nicht nur auf der geistigen Ebene angesiedelt, sondern auch körperlich und praktisch zu verstehen. So forderte Herzfeld alle Bundesmitglieder auf: »Selbstständig wird jeder einzelne von uns gegen Antisemitismus Front machen, wo er etwa zum Opfer antisemitischer Übergriffe wird, sich niemals eine Anpöbelei oder Rempelei gefallen lassen, sondern bei jeder Gelegenheit, bei der das Judentum in unserer Gegenwart angegriffen wird, energisch dafür eintreten.«25 Das Vorbild hierfür würden die jüdischen Studentenverbindungen liefern.26 In diesem Zusammenhang müsste die »Stählung des Körpers« dienlich sein. Diese beschrieb der erste Bundesleiter »als eine unserer wichtigsten Aufgaben«.27 Dabei sollten die gemeinschaftliche körperliche Ertüchtigung im Bund und die Begegnung mit der Natur helfen. Herzfeld verlangte nach der »Zügelung innerer und äußerer Freiheit durch Selbstdisziplin«, die dem falschen und »phrasenhaften Freiheitsgeschrei« der Revolution und dem modernen Drang nach »ungezügelter Freiheit« der Jugend im Nachkriegsdeutschland entgegengestellt wurde.28 Er reagiert aber auch auf zeitgenössische antisemitische Topoi und beschrieb, dass die Selbstbegrenzung deshalb ganz besonders für jüdische Jugendliche notwendig sei, »weil uns häufig der Vorwurf gemacht wird, daß wir vorlaut sein und Disziplin vermissen ließen. Wir Kameraden haben auf unseren Fahrten und Heimabenden ausgezeichnete Gelegenheit, den Vorwurf zu entkräften und unsere Mitglieder zur Unterordnung unter die aus freier Wahl hervorgegangenen Führer und ihre Gesetzte zu

23 Zur sogenannten Judenzählung siehe Jacob Rosenthal: »Die Ehre des jüdischen Soldaten«. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt a. M. 2007; zu Juden im Militär einführend Derek Penslar: Jews and the Military. A History, Princeton 2013, insb. Kap. 5; Zu deutsch-jüdischen Soldaten im 1. WK vgl. Crouthamel, Jason: »Even a Jew Can Fight Back«. Masculinity, Comradeship and German-Jewish Soldiers in the First World War, in: Gerald Lamprecht u. a. (Hg.): Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe. The Remembrance of World War I from a Jewish Perspective, Wien 2019, S. 69–89; sowie die Beiträge in: Jason Crouthamel u. a. (Hg.): Beyond Inclusion and Exclusion. Jewish Experiences of the First World War in Central Europe, New York 2019. 24 Siehe dazu Avraham Barkai: »Wehr Dich!«. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1893–1938, München 2002. 25 Herzfeld: Kameraden I, II (Anm. 21), S. 8–9. 26 Siehe dazu Miriam Rürup: Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten, 1886–1937, Göttingen 2008. 27 Herzfeld: Kameraden I, II (Anm. 21), S. 10. 28 Vgl. ebd.

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erziehen.«29 Mit der Ablehnung von Individualismus und Materialismus zugunsten einer bündischen Gemeinschaft und tieferem geistigen und religiösen Erleben nahm Herzfeld die Zeitgeistkritik der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung auf.30 Die frühe Weimarer Republik wurde misstrauisch betrachtet und eine Erneuerung von Mensch und Gemeinschaft in Rückbesinnung auf natürliche Ursprünglichkeit als Ziel der Bewegung postuliert. Sei es bei der »Bekämpfung aller Bestrebungen, die deutschen Juden national-jüdisch zu organisieren«,31 oder bei der Abwehr von antisemitischen Anfeindungen und Angriffen bis hin zur »körperlichen Abwehr gegen antisemitische Pogrome«32 – , die deutsch-jüdischen Kameraden sahen sich 1920 von innen und außen bedroht. In »Was wollen die ›Kameraden‹?« entwarf und kommunizierte Herzfeld daher für die Bundesmitglieder das Vorbild einer jugendbewegten Körperpraxis der wehrhaften deutsch-jüdischen Männlichkeit:33 Das Gefühl der körperlichen Kraft gibt dem Manne ein ganz anderes, selbstbewußtes Auftreten. Wer sich vor strapazenreichen Wanderungen in Sturm und Wetter nicht scheut, wer reißende Ströme überschwimmt, ein feuriges Roß bändigt, die blanke Waffe zu führen weiß, der hat auch in seinem Auftreten jenes sieghafte Kraftgefühl, das das Bewußtsein der Herrschaft über einen gestählten Körper dem Menschen verleiht.34

»Seid bereit!« – bündische Kampf- und Gewaltbereitschaft im Schwarzen Fähnlein Die über ein Jahrzehnt währende Geschichte der Kameraden war vom Suchen, Aushandeln Umformen und Spalten unter häufig wechselnden Mitgliedern geprägt. Nicht jeder oder jede der Jugendlichen stimmte mit dem soldatischen Anklang oder dem vehementesten Antizionismus überein. Es gab linke und rechte Untergruppen und das Verhältnis zwischen dem Deutschen und Jüdischen blieb uneindeutig bis ungeklärt. Nach der Auflösung der Bewegung im Frühsommer 1932 gründeten zumeist Mitglieder der Jungenschaft aus den Kameraden das Schwarze Fähnlein. Zur Speerspitze als Gruppensymbol, dem sogenannten Jugenschaftskeil, hieß es unter der Herausgeberschaft des ersten Bundesführers Hans Davidsohn (o. D.) wie folgt: 29 30 31 32 33

Ebd. Vgl. ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 5. Dazu weiterführend mit Blick auf das körperverändernde Turnen siehe Daniel Widmann: Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900, Tübingen 2009, insb. Kap. 4.2. 34 Herzfeld: Kameraden I, II (Anm. 21), S. 11.

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Das Zeichen der Jungenschaft ist die Speerspitze/ Die Speerspitze ist das Zeichen kämpferischer Haltung/ Die Speerspitze ist das Zeichen edler Gesinnung/ Die Speerspitze sprach:/ ›Wir bejahen den Kampf. Kämpfend uns einzusetzen, ist Sinn unseres Lebens. Lebendiger Teil eines großen Kampfes zu sein, unser Schicksal. Die lange Kette deutscher Niederlagen in den Endsieg zu verwandeln, ist unsere Aufgabe. Wir sind bereit zu kämpfen. Doch wir verachten feiges, niedriges, gemeines Kämpfen. Menschen würdig allein ist der Kampf, der von edler Gesinnung geführt wird./ Seid bereit!‹/ So sprach das Zeichen und die Jungen folgten ihm.35

Der Erste Weltkrieg bildete nach seinem Ende 1918 für einige Jugendbewegte in der Weimarer Republik einen Sehnsuchtsort. Zu jung für die Kriegsteilnahme der Frontgeneration gewesen zu sein, einte sie das Gefühl einer verpassten Chance.36 Trotz der Schrecken, Gräuel und traumatisierenden Realität für Millionen Frontkämpfer transportierten wesentliche Vertreter der zeitgenössischen Literatur auch ein romantisierendes Bild vom Kriegserlebnis. Dabei war der Kern des zum Mythos überhöhten Fronterlebnisses das Ideal einer männlichen Kameradschaft. Die Mitglieder im Schwarzen Fähnlein lassen sich zum Großteil in diese Gruppe Jugendbewegter einordnen: Sie entstammten zumeist assimilierten und wohlsituierten deutsch-jüdischen Familien (Mitglieder mit ostjüdischen Familien waren die Ausnahme), ihre Väter hatten häufig im Ersten Weltkrieg gekämpft und waren im RjF organisiert. Die Jugendlichen lasen neben Kiplings Dschungelbuch insbesondere Rilkes Cornet oder Dwingers Weiß und Rot sowie von Salomons Kadetten auf ihren Heimabenden.37 Die Erfahrung des gemeinsamen kriegerischen Kampfes wurde – in der Romantisierung vom Leid und massenhaften Sterben junger Männer – auch im SF über konfessionelle Grenzen hinweg als verbindend entworfen. Die selbstverfassten Schriften unter dem programmatischen Titel Fahnenträger und das rezipierte Liedgut des Bundes befassten sich zu einem Großteil mit soldatischer Gewalt.38 Die bündische Kluft 35 Hans Davidsohn (Hg.): RE 4 – Blatt der Jungenschaft Kameraden, 1932, S. 3; verfügbar im: Archiv Kibbutz Hazorea, Sammlung Ernst Wolff, 30049/1. 36 Vgl. George L. Mosse: Nationalism and Sexuality. Middle-Class Morality and Sexual Norms in Modern Europe, Madison 1985, S. 114; sowie mit Blick auf tusk Ulrike Brunotte: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2004, S. 95–96; dazu auch der Aufruf zur Einordnung in die nationalsozialistische Revolution von tusk aus dem Völkischen Beobachter vom 15. 05. 1925, im Auszug bei Mogge: Seit’ (Anm. 14), S. 50; siehe ausführlicher Arndt Weinreich: Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus, Essen 2013. 37 Siehe Rudyard Kipling: Das Dschungelbuch, Freiburg i. Br. 1921; ders.: Das neue Dschungelbuch, Berlin 1922; Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, Leipzig 1926; Edwin Erich Dwinger: Zwischen Weiß und Rot. Die russische Tragödie, Jena 1930; Ernst von Salomon: Die Kadetten, Berlin 1933. 38 Vgl. Günter Holzmann, Berndt Krombach (Hg.): Der Fahnenträger 1932, Nr. 1, S. 1–16; Paul Mayer (Hg.): Der Fahnenträger, 1933, Nr. 2, S. 1–17; Günter Holzmann (Hg.): Der Fahnenträger, 1933, Nr. 3, S. 1–12; sowie Günther [sic] Holzmann, Paul Yogi Mayer (Hg.): Der Fahnenträger, 1934, Nr. 4–5, S. 1–36.

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der Jugendlichen, bestehend aus einer dunkelblauen ultrakurzen Hose, einem weißen Hemd und der sogenannten Jungenschaftsjacke, wurde durch ausrangierte Reichswehrmäntel ergänzt. Diese und die militärische Koppel, die von einigen Älteren auch in Verbindung mit einem Dolch getragen wurde, vermittelten den Jugendlichen daneben visuell-uniform das Gefühl von bündischer Kampfbereitschaft.39 So wurde auch in der Fahrtenpraxis eine militärisch geschlossene Gruppe inszeniert, die exerzierte, marschierte und Appell abhielt. Dabei nutzten die Führer zum Teil militärischen Drill.40 Kurt Teil (1923, geb. als Teitelbaum in Hamburg) aus einer norddeutschen Ortsgruppe des SF erinnerte sich mit deutlichem zeitlichen Abstand, 2020, wie sein Führer auf einem Gewaltmarsch den durstigen Marschierenden zurief, wenn sie Durst hätten, könnten sie ja Steine lutschen!41 Mit solcher Härte sollten die vermeintlich verweichlichten Großstadtkinder zu mehr Stärke und Ausdauer erzogen werden.42 Die Kampfbereitschaft wurde im Bund auch auf das sogenannte Grenzland im Osten projiziert. So hieß es im ersten Fahnenträger: Jungen! Ein Land lockt! Masuren! Wälder, Sümpfe und Seen, Reiher, Wildgänse, Ottern [sic], Füchse und Elche, für uns Jungen aus einem der zivilisiertesten Länder der Welt noch beinahe Wildnis. Unberührter, verschlossener als das übrige Deutschland. Ein Land, das uns braucht! Abgeschnitten liegt es wie eine Insel in einem fremden Land. Grenzland an der bedrohtesten Stelle des Reiches. Ein Land, das ruft; das es bitter nötig hat, daß vom Reiche her der Strom nicht abreißt. In diesem Land wollen wir ein Lager bauen, wie bei uns noch keines war. Ganz in unserem Geist. Jungenschaft, voll Zucht und Wildheit.43

Insbesondere rechte paramilitärische Gruppen und Jugendbünde betrieben die Grenzlandpolitik an der polnischen Grenze.44 Aber auch von deutsch-jüdischer Seite gab es nationalistisch orientierte Siedlungsideen mit Blick nach Osten.45 So reihte sich das SF in die Grenzlandpolitik weiterer rechter Verbände und Vereine in der Weimarer Republik ein, indem es gedachte das Deutschtum im ›Osten‹ zu verteidigen. Beim Masurenlager im Sommer 1932 praktizierten Berliner und Breslauer Ortsgruppen wiederholt militärisch konnotierte Gruppenübungen zu Land und auf dem Wasser. Es wurde nachts die Gefangennahme von designierten Gegnern oder die Gefangenenbefreiung trainiert. Dabei mussten mehrere Schwimmer Wachtposten auf Inseln überwältigen und diese gefesselt in Booten 39 40 41 42 43 44 45

Vgl. Rheins: Fähnlein (Anm. 2), S. 178. Vgl. ebd., S. 184–185. Interview des Autors mit K. Teil, 05. 12. 2020. Vgl. Gert Lippman: A Link in the Chain. Biographical Notes, Sydney 1990, S. 11ff. N. N.: Masurenlager!, in: Der Fahnenträger, 1932, Nr. 1, S. 6. Vgl. Ahrens: Jugend (Anm. 3), S. 130–141; sowie Nielsen: Heimat (Anm. 10), S. 154–162. Vgl. Philipp Nielsen: »Blut und Boden«. Jüdische Deutsche zwischen Heimat und Deutschtum, 1892–1936, in: Geschichte und Gesellschaft, 2013, Nr. 1, S. 35–58.

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über den See in das eigene Lager schleppen.46 Im Lagerleben wurden weitere soldatisch inspirierte Dienste vergeben. Bei der Fahnenwache sollte der Gemeinschaftssinn der Wachthabenden gefördert werden, indem der Fahne mit der Speerspitze als Sinnbild des Bundes auch bei Kälte, Wind oder Regen strammstehend gehuldigt wurde. Vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten diente die in Schichten organisierte Nachtwache darüber hinaus dazu, spielerisch organisierte Überfälle von weiteren deutsch-jüdischen Bünden oder anderen Ortsgruppen aus dem SF abzuwehren.47 Dabei waren diese nächtlichen Scharmützel als Kriegsspiele schon bei den Kameraden bekannt.48 Aus dem Spiel sollte spätestens im Jahr 1933 Ernst werden. An eine Aufgabe der deutsch-patriotischen Position von jüdischer Seite dachten die Jugendlichen im SF deshalb aber nicht. Auch die offizielle Publizistik im Fahnenträger bezog, mit dem Hinweis auf die stolze und aktive Selbstverortung im deutschen Volk, Stellung gegen die Aberkennung ihrer deutsch-jüdischen Zugehörigkeit durch die frühen judenfeindlichen Gesetze. Unter der Überschrift »April 1933« wurde der Ausschluss von einem als nicht-arisch bezeichneten deutschen Studenten an einer Universität geschildert und kritisiert: Eine Universitätsstadt am Rhein. Stolze Tradition glänzender studentischer Korps und Reiterregimenter. April 1933. […] Immatrikulation: statistikausfüllen. Nun, das kennt man doch schon. Aber, was ist denn das! Ich lese fliegend: ›Erklärung. Ich erkläre ehrenwörtlich nach bestem Wissen und Gewissen, daß meine Eltern und Großeltern deutscher Abstammung sind… Name… Studienfach… Semesterwohnung…‹ Ich erkundige mich. Man erteilt mir die Auskunft: ›Nein, Ausländer sind damit nicht gemeint. Nur Nichtarier!‹ Nur Nichtarier?! Jetzt bin ich also noch nicht einmal Deutscher mehr? Warum? Weil ich Jude bin! – Es ist zum Irrewerden…49

Der anonyme Protagonist (vermutlich der Autor des Textes) verlangte im weiteren Verlauf der Darstllung, in die Wehrsportabteilung der Studentenschaft aufgenommen zu werden und wurde von einem Vorgesetzten in SA-Uniform mit den Worten »Juden haben da nichts zu suchen« abgewiesen. Der junge Mann fühlte in der abwertenden Aussage seiner akademischen Umgebung »Er ist ja ›nur‹ Jude« einen tiefen Verlust seiner Ehre und konnte sich trotz der Zurückweisung dennoch gedanklich nicht von seiner Zugehörigkeit zu Deutschland

46 Vgl. N. N.: Nacht im Lager, in: Der Fahnenträger, 1933, Nr. 1 (Anm. 38), S. 9–11; sowie N. N.: Masurenlager – Ein Sprechchor für 30 Jungen und Gong, in: Der Fahnenträger, 1933, Nr. 2 (Anm. 38), S. 6–8. 47 Vgl. Angress: Jugenderinnerungen (Anm. 1), S. 113, 122; für eine textuelle Verarbeitung dieser »Überfälle« N. N.: Die Fahne mit dem gespannten Bogen, in: Der Fahnenträger, 1933, Nr. 2 (Anm. 38), S. 2–5. 48 Vgl. Lippman: Link (Anm. 42), S. 12. 49 N. N.: April 1933, in. Der Fahnenträger, 1934, Nr. 4–5 (Anm. 38), S. 18.

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distanzieren.50 Er beschrieb die auf diese Ausschlusserfahrung folgende Zeit als Isolation und Zeit der großen Zweifel: Es seien Zweifel am Selbst, Zweifel an Deutschland, Zweifel an seinem Volk gewesen.51 Da die nationalsozialistische Diskriminierung im Jugendbund thematisiert sowie kritisiert wurde, nahmen Polizei- und Regierungsstellen des Regimes deutlich Anstoß am Bestehen des Bundes.52 Gerade die positive patriotische Bezugnahme auf das Deutschtum war den NS-Behörden ein Dorn im Auge. Stellte doch die nationale Selbstverortung der Jugendlichen deren rassistische und antisemitische Logik in Frage.53 Das SF löste sich unter anderem am 9. Dezember 1934 selbstständig auf, weil die Reichsjugendführung sowie die Gestapo Passagen in den Schriften des Jugendbundes zu beanstanden hatten und eine Auflösung planten.54 So sollte einem Verbot zuvorgekommen und das weitere Treffen von Mitgliedern ohne die Einstufung als illegale Gruppe gewährleistet werden.55 Zusätzlich zu den Angriffen der NS-Staatsgewalt auf die jungen jüdischen Deutschen erlebten die meisten Bundesmitglieder physische Attacken durch ihre etwa gleichaltrigen Mitmenschen. Diese körperlichen Gewalterfahrungen blieben den Ehemaligen bis ins hohe Alter im Gedächtnis und fanden Eingang in die Erinnerungen an die Jugendzeit im SF. Judenfeindliche Angriffe unter Kindern und Jugendlichen ereigneten sich allerdings nicht erst ab 1933 im Nationalsozialismus. Lotte Noam (1920, geb. als Liselotte Ruth Dahn in Bremen) berichtete für die Zeit der Weimarer Republik, wie Mitte der 1920er Jahre deutliche ältere Jugendliche ihren sechsjährigen Bruder Hans beim friedlichen Spielen im häuslichen Vorgarten als Gruppe brutal verprügelten, während sie von den gewalttätigen Komplizen festgehalten wurde und den Überfall wehrlos mit ansehen musste. In kurzfristiger Konsequenz zog die Familie daraufhin in eine besser situierte Gegend Bremens um. Langfristig blieb der Zeitzeugin ein Detail im Gedächtnis, dass sie über 95 Jahre später noch immer eindrücklich vermittelte.56 Die jugendlichen Gewalttäter hatten bei ihrer Attacke ein Lied gesungen, dessen Refrain ihre Erinnerung bestimmte: »Hakenkreuz am Stahlhelm/ Schwarz-weißrotes Band/ Bund der Frontsoldaten/ Werden wir genannt// Hat man uns einst verraten/ trieb mit uns Schindluderei/ wir blieben als Kam’raden/ einig, ent-

50 Vgl. ebd., S. 18. 51 Vgl. ebd.; weiterführend siehe Sebastian Huebel: Fighter, Worker, and Family Man. GermanJewish Men and Their Gendered Experiences in Nazi-Germany, 1933–1941, Toronto 2022, insb. Kap. 1. 52 Vgl. Julius H. Schoeps: Düstere Vorahnungen. Deutschlands Juden am Vorabend der Katastrophe, Leipzig 2018, S. 443f. 53 Vgl. Rheins: Fähnlein (Anm. 2), S. 194. 54 Vgl. Lippman: Link (Anm. 42), S. 20. 55 Vgl. ebd., S. 24. 56 Interviews des Autors mit L. Noam, 16.08.–19. 08. 2022.

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schlossen, treu.// Hakenkreuz am Stahlhelm/ Schwarz-weiß-rotes Band/ Bund der Frontsoldaten/ Werden wir genannt//«.57 Die Angreifer waren daher, mit großer Wahrscheinlichkeit, Mitglieder in einer Jugendorganisation des Stahlhelms und sangen während der judenfeindlichen Gewalttat das Lied des Freikorps Marine-Brigade Ehrhardt, welches später vom Stahlhelm und der SA adaptiert werden sollte. Die SA änderte »Schindluderei« zu »Schindjuderei« ab, um den vermeintlichen Verrat der Juden im Ersten Weltkrieg deutlicher hervorzuheben.58 Noch bevor die 5-jährige Lotte im positiven Sinne wusste, was sie als Jüdin auszeichnete (Tradition/ Familie/ Geschichte),59 machten sie und ihr Bruder in frühester Kindheit die Negativerfahrung, dass Jüdin- und Judesein in Deutschland hieß, unsicher und unwillkommen zu sein. Die gewalttätige Begegnung mit der Jugend aus einer rechten Veteranenorganisation hinderte Noam allerdings nicht daran, vom Sommer 1933 an Mitglied im SF mit Nähe zur jüdischen Veteranenorganisation zu werden.60 Ihr handschriftliches Liederbuch der Mädelschaft gibt auf vielen Seiten Auskunft über die Ikonen und kulturellen Vorbilder der deutsch-jüdischen Jugendlichen. Ein Großteil der gesungenen Texte im Bund (ob selbstverfasst oder dem Kanon entnommen) waren »Lieder, die die Gewalt verherrlichten«.61 Das erste Lied im Buch von Noam hieß etwa »der Trommelbube«: Wir ziehen über Straßen/ mit ruhig festem Schritt/ und über uns die Fahne/ sie knallt/ und flattert mit/ Don, Don// Voran der Trommelbube/ er schlägt die Trommel gut/ er weiß noch nichts von Liebe,/ weiß nicht wie scheiden tut/ Don, Don.// Er trommelte schon manchem/ ins Blut und in sein Grab/ und dennoch liebt ein jeder/den frohen Trommelknab/Don, Don// Vielleicht bin ich es morgen/ der sterben muss im Blut/ der Knab weiß nichts von Liebe/ weiß nicht/ wie Sterben tut//62

Der Drang nach der heldenhaften Kriegsteilnahme mit dem antizipierten und heroisierten Tod für die Gemeinschaft im Feld wurde darin verarbeitet. Gleich-

57 Verfügbar unter: https://www.volksliederarchiv.de/kamrad-reich-mir-die-haende-stahlhelm/ [13. 04. 2023]. 58 Vgl. https://www.volksliederarchiv.de/sturmabteilung-hitler/ [13. 04. 2022]. 59 Interviews des Autors mit L. Noam, 05.–07. 07. 2019. 60 Zu weiblichen Jugendbewegten siehe einführend u. mit besonderem Fokus auf deutschjüdische Akteurinnen vgl. Irmgard Klönne: Jugend weiblich und bewegt. Mädchen und Frauen in deutschen Jugendbünden, Berlin 2020 [2000], hier S. 112–114; sowie Stefanie Schüler-Springorum: Die »Mädelfrage«. Zu den Geschlechterbeziehungen in der deutschjüdischen Jugendbewegung, in: Marion Kaplan, Beate Meyer (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Göttingen 2005, S. 136–154; ausführlich siehe die Beiträge in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 1984/85 mit dem Themenschwerpunkt: »Mädchen und Frauen in der Jugendbewegung«; sowie Meike Sophia Baader, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Historische Jugendforschung. 61 Angress: Jugenderinnerungen (Anm. 1), S. 105ff, hier 105. 62 Lotte Noam: M. S. Lieder (1933–1934), S. 1–2 (Privatbesitz L. Noam).

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zeitig sprach der Text die Transformation vom jugendlichen zum erwachsenen Menschen durch das Kriegserlebnis an. Im Fahnenträger wie in den Liederbüchern wurden ähnliche Lieder und Reime thematisch passend mit einer Vielzahl an Waffengattungen illustriert.63 Auch die weiblichen Mitglieder marschierten, exerzierten und kämpften also im performativen Selbstentwurf für die Idee von einem ›neuen Deutschland‹. Damit wurde ebenfalls auf weiblicher Seite des Bundes symbolträchtig Kampfbereitschaft kommuniziert. Im Unterschied zur Jungenschaft fehlten bei der Mädelschaft die visuellen militärischen Marker, wie Koppel, ausrangierte Reichswehrmäntel oder mitgeführte Dolche. Auch im Umfeld der Jugendbewegung kam es immer häufiger zu gewalttätigen Begegnungen zwischen der Hitlerjugend und den deutsch-jüdischen Jugendlichen. Gunther Stent (1924–2008, geb. als Günther Stensch in Berlin) trug aufgrund seines geringen Alters im Bund als 8-Jähriger den Fahrtennamen Krümel und berichtete in der Rückschau über eine gewaltsame judenfeindliche Attacke aus seiner Kindheit im SF das Folgende:64 The military drill we did on our Fahrten, especially practicing guard duty, was not a wholly academic exercise. We were in constant danger of being attacked by a Hitlerjugend detachment. In the one such attack I experienced, we were luckily (and most unusually) camping indoors, in a barn in a small village in the outer reaches of the Mark. The Nazi gang came from their camp to storm the barn at about midnight, and our guards managed to get inside just in time and lock the door. […] We made a lot of noise, shouting commands like ›Ten men to secure the southeast window!‹ to give the impression that there were many of us inside, ready to do battle. But we were too cowed to make verbal responses to the obscene anti-Semitic taunts and chanting of ›Juda verrecke!‹ (›Jews, drop dead!‹) by the howling mob out in the street. They were pounding the side of the barn with their fists and kicking it with their boots. […] All I could think of was what the bloodthirsty beasts were going to do to me once they got inside.65

Diese Begegnung mit der gewalttätigen nationalsozialistischer Jugend verfolgte Stent über Jahre in seinen Träumen.66 Die als Kind erlebte verbale und physische Aggressivität der nicht-jüdischen deutschen Umwelt gegenüber ihren jüdischen Mitmenschen zählte er im Rückblick zu einem der größten Traumata seines Lebens – nur übertroffen vom Selbstmord seiner schwer depressiven Mutter in der Kindheit.67 Tom Angress (1920–2010, geb. als Werner Angreß in Berlin, Fahrtenname Töpper) berichtete in seinen Erinnerungen von regelmäßigen judenfeindlichen 63 Vgl. Noam: Lieder (Anm. 62), S. 1–71. 64 Gunther S. Stent: Nazis, Women and Molecular Biology. Memoirs of a Lucky Self-Hater, Kensington 1998, S. 52. 65 Ebd., S. 54 (Hervorhebungen im Original). 66 Vgl. ebd., S. 54. 67 Vgl. ebd., S. vii.

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Gewaltandrohungen und physischer Gewalt durch seine Mitschüler.68 Er wurde ›gekeilt‹ (für das SF von einem anderen Mitglied angeworben), während er auf Anraten seines Vater im jüdischen Box-Club Makkabi lernen sollte, sich gegen Hitlerjungen zur Wehr zu setzten.69 Vom ersten und einzigen gesamtbündischen Reichstreffen des SF im Hochsommer 1934 in der nördlichen Uckermark berichtete Angress: Alle Ortsgruppen waren erschienen, hatten ihre Zelte aufgebaut, und man lernte sich kennen. Eindrucksvoll war am ersten Tag der Einmarsch einer Ortsgruppe – ich glaube, es waren die Breslauer vom Gau Schlesien. Die waren vor dem Reichstreffen irgendwo an der Ostseeküste auf Fahrt gegangen, wurden dort nachts von einer ›Kameradschaft‹ der HJ überfallen und dabei fürchterlich zugerichtet. Bis kurz vorm Eingang zur Koppel sahen wir, wie sie hinkten, ihre Oberkörper nach vorne übergebeugt, lautlos wie verstörte Tiere. Aber dann, als wir eiligst Spalier bildeten, strafften sich ihre Gestalten, sie hörten auf zu hinken, und die Ortgruppe zog singend und mit militärischer Haltung im Lager ein.70

Insbesondere die eingeübte eigene militärische Struktur im SF (so klingt es auch im Zitat an) ließ die gewalttätige und militarisierte Umwelt für die Angegriffenen und Ausgeschlossenen ein Stück weit erträglicher werden. Das durch die Gruppenaktivitäten kommunizierte Selbstbild von kämpferischer und wehrhafter Stärke war hierbei entscheidend. Nicht nur auf der psychischen Ebene, sondern auch physisch konnte durch die Körperpraktiken in deutsch-jüdischen Bünden und Sportverbänden Stärkung erworben werden. Gerade der Fokus auf männliche Körperlichkeit, Kraft und Disziplin konnte stützend für die Bewältigung der propagandistischen Erniedrigungen und gewalttätigen Übergriffe wirken. In den Erinnerungen von Ehemaligen aus dem SF wie Angress, Walter Laqueur (1921– 2018, geb. in Breslau) und Guy Stern (1922, geb. als Günther Stern in Hildesheim) erscheint die deutsch-jüdische Gruppenzugehörigkeit wiederholt als temporär befreiender »Eskapismus« sowie Schutzraum und Stütze in einer bedrohlichen Zeit.71 Dies gilt auch für die weiblichen Mitglieder.72 Wenngleich die Jugendlichen durch ihre Kluft und Symbolik (solange diese noch nicht von der Reichsjugendführung verboten war) weithin erkennbar waren und somit das Ziel von gewalttätigen Übergriffen wurden, schützte sie die Gemeinschaft der Mitver-

68 Vgl. Werner T. Angress: Growing up Jewish in the Nazi Era. School, Emigration, and War, in: Larry Eugene Jones (Hg.): Crossing Boundaries. The Exclusion and Inclusion of Minorities in Germany and the United States, New York 2001, S. 85–103, hier S. 85f; Angress: Jugenderinnerungen (Anm. 1), S. 68ff. 69 Vgl. Angress: Jugenderinnerungen (Anm. 1), S. 99f. 70 Ebd., S. 114. 71 Vgl. ebd., S. 100, 125; Walter Laqueur: Wanderer wider Willen. Erinnerungen, 1921–1951, Berlin 1995, S. 98; Guy Stern: Invisible Ink. A Memoir, Detroit 2020, S. 20. 72 Interviews des Autoras mit L. Noam, 15.–17. 11. 2019.

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folgten wirksam gegen Vereinzelung. Die Freuden der geteilten Erlebnisse in einer Zeit des Ausschlusses aus der Schule, dem Sport und weiteren Freizeitbereichen konnte für die jungen Menschen im Bund den äußeren Druck zeitweise mildern.73 Zu den Mitgliedern des SF, die am Reichstreffen 1934 teilnahmen, gehörte ebenfalls Laqueur.74 Im Alter von 88 Jahren kam er folgendermaßen auf seine Jugend und Mitgliedschaft im Sportbund des RjF zu sprechen: Mit Sicherheit legten sich in diesen Jahren alle ein dickes Fell zu. Ich halte mich nicht für einen traumatisierten Schwächling, vielleicht weil ich so intensiv Sport getrieben habe. Ich boxte unter der Anleitung eines geradezu legendären jüdischen Trainers namens Lachmann. […] Man mag einwenden, dass der Sport allenfalls eine Illusion der Normalität bot. Aber die Psyche stabilisierte er mit Sicherheit, und gab mir das dringend benötigte Selbstvertrauen.75

Auch mit Abstand und in der Erinnerung schwingt hier ein gewisser Stolz auf die deutsch-jüdische Wehrhaftigkeit mit. Die idealisierte Frontgemeinschaft als Versprechen von kämpferischer Gleichheit gewann, wie bei den jüdischen Weltkriegsveteranen, für die jungen jüdischen Bündischen gerade in Zeiten des Angriffs durch die nicht-jüdische Mehrheit an Bedeutung. Das gewaltbezogene und soldatisch aufgeladene Körpertraining erscheint dabei als wirksam schutzbietende Vergemeinschaftungspraxis. Und so erinnerte sich schließlich auch Tom Angress mit 85 Jahren an das starke Gefühl der Zugehörigkeit sowie seine zeitlebens einmalige, bedingungslose Hingabe zur bündischen Gemeinschaft im SF.76

Von jugendlicher Renitenz zum soldatischen Widerstand Nach der Selbstauflösung Ende 1934 änderte sich die Situation der jungen Menschen rapide. Bereits 1934 floh der Gruppenführer von Laqueur, Hans Meidner (1914–2001), nachdem die Gestapo bei ihm einen Revolver und unliebsame Literatur in einer Hausdurchsuchung konfisziert hatte.77 Und spätestens 1935 wurden auch die jüngeren Mitglieder gewahr, dass das nationalsozia73 Vgl. Guy Stern: Überlegungen zum Singen bündischer Lieder in dunkler Zeit, in: Botho Brachmann u. a. (Hg.): Die Kunst des Vernetzens. Festschrift für Wolfgang Hempel, Berlin 2006, S. 375–380, hier S. 376. 74 Interview des Autors mit W. Laqueur, 04. 12. 2017. 75 Walter Laqueur: Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens, Berlin 2009, S. 39. 76 Vgl. Angress: Jugenderinnerungen (Anm. 1), S. 104. 77 Walter Laqueur: The Kaiser’s Spy, Jihad, and the Jewish Nazis (Rezension zu Lionel Gossman: The Passion of Max von Oppenheim. Archaeology and Intrigue in the Middle East from Wilhelm II to Hitler), in: ders.: Optimism in Politics. Reflections on Contemporary History, New Brunswick 2014, S. 167–178, hier S. 177.

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listische ›neue Deutschland‹ keinen Platz für deutsch-patriotische Juden haben würde.78 Stimmen ehemaliger SF-Mitglieder aus privaten Dokumenten lassen die Transformation der Selbstsicht im Kontext von symbolischer Gewalt aufscheinen. So schrieb Otto Hess (1921–1944) unter seinem Fahrtennamen Kraxel aus Wiesbaden 1935 an Angress: lieber töpper! es ist ja nun verflucht lange her, dass ich dir das letzte mal geschrieben habe, damals hatten wir noch lust und zeit uns wegen nichtigkeiten anzustänkern, es war vielleicht ganz schön, kampf (wenn man die bundesstänkereien so bezeichnen kann) macht nämlich stark, etwas, was wir sehr nötig hatten (und noch haben). […] töpper, du bist nicht allein, du wirst nie allein sein; einmal wird etwas kommen, etwas was uns ruft, der grosse apell [sic]. einmal wird es wieder vor uns stehen: das ziel. und die, die dann noch da sind, töpper, die sind aus stahl. warum klagen wir über ein schicksal, das uns auseinanderreisst, ist das nicht gut so?? sind wir so schwach, dass wir bei der ersten probe schon versagen?? hunderte, millionen sind im trommelfeuer stark geworden, unser trommelfeuer ist vielleicht sehnsucht, vielleicht heimweh, vielleicht dauert es länger als vier jahre, aber dann werden graue sturmkolonnen zum letzten angriff gehen, sieg oder tod, und das töpper, kamerad, ist der grosse apell [sic]. klingt vielleicht ein bisschen phantastisch, aber es glauben noch viele andere daran, auch ich dein kamerad kraxel79

Das Dokument gibt Auskunft über die Aufrechterhaltung des Frontgemeinschaftsideals und der bündischen Kampfbereitschaft sowie den Wandel von spielerischen »Bundesstänkereien« (wie den jugendbewegten, inszenierten Überfällen) hin zum Willen, im nächsten Krieg massive Gewalt gegen die Nationalsozialisten anzuwenden, um die eigene deutsche Heimat zurück zu erobern.80 Die zu Stahl gewordenen, grauen Sturmkolonnen im Trommelfeuer weisen deutlich darauf hin, dass Hess den nächsten Kampf im Rückgriff auf den Ersten Weltkrieg imaginierte. Der im SF gepflegte Langemarck-Mythos und Jüngers In Stahlgewittern scheinen hier als Referenzpunkte auf.81 Ein Tagebucheintrag Angress’, unter dem direkten medialen Eindruck der Novemberpogrome und der nachfolgenden Verschleppung vieler ehemaliger Bundesge78 Vgl. Angress: Jugenderinnerungen (Anm. 1), S. 123ff. 79 Otto Hess (Kraxel) an Werner T. Angress (Töpper), o. T. 1935, S. 1–2 (Hervorhebungen und Kleinschreibung im Original; Leo Baeck Institute Archive, Dependance Jüdisches Museum Berlin, Werner Tom Angress Collection, LBI-JMB-2009.1, IV/ 1, 6/ 10). 80 Vgl. John P. Fox: German-and Austrian-Jewish Volunteers in Britain’s Armed Forces, 1939– 1945, in: Leo Baeck Institute Year Book, 1995, Nr. 1, S. 21–50; Guy Stern: In the Service of American Intelligence. German-Jewish Exiles in the War against Hitler, in: Leo Baeck Institute Year Book, 1992, Nr. 1, S. 461–477; ders.: The Jewish Exiles in the Service of US Intelligence. The Post-War Years, in: Leo Baeck Institute Year Book, 1995, Nr. 1, S. 51–62; ausführlich siehe Bruce Henderson: Sons and Soldiers. The Untold Story of the Jews Who Escaped the Nazis and Returned with the U.S. Army to Fight Hitler, New York 2017. 81 Zum Langemarck-Mythos vgl. Brunotte: Eros (Anm. 36), Kap. 6; siehe Ernst Jünger: In Stahlgewittern, Berlin 1922 [1920].

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nossen in das KZ-Buchenwald verfasst, korrespondiert mit diesem Befund. In Gedanken an seine Freunde und während der Fluchtorganisationen zu ihrer Rettung schrieb der 1937 geflohene Jugendliche in den Niederlanden am 21. November 1938: Wir müssen es schaffen. Und dazu brauche ich Kraft. Und Kraft krieg ich durch Haß […]. Liebe ich Deutschland noch? Ja, ja, ja, aber anders, bedingter als vorher. Viele Menschen müssen an die Wand gestellt werden, bevor man mal wieder ein Reich schaffen kann, das Achtung genießt. Ich las heute ein schönes Wort, von wem weiß ich nicht: »Und liebst Du Deutschland? Frage ohne Sinn. Kann ich lieben was ich selber bin?« Ja, ich kann es, nämlich das Deutschland, das in mir ist. Und das wird lange, lange herhalten, ersetzen müssen. Aber es wird es können.82

Wie bei Hess lässt sich bei Angress ebenfalls eine Radikalisierung mit Hang zur verstärkten Gewaltvorstellung auffinden. Er entwickelte Hass auf die nationalsozialistischen Judenfeinde, die er »an die Wand gestellt« sehen wollte und hielt dennoch an seiner ehemaligen Heimat als jüdischer Deutscher fest. Die Vision vom ›neuen Reich‹ blieb dem ehemaligen SF Mitglied auch vier Jahre nach dem Ende des Bundes ebenso erhalten wie seine bündische Bereitschaft zum Kampf für ein anderes und freies Deutschland. Wenn die Geschichte – dem Vorschlag von Iris Därmann und Michael Wildt folgend – nicht in einer Trennung von Gewaltforschung und Widerstandsforschung analysiert wird, also nicht ausschließlich nach der Totalität von Gewalt oder der Vernehmbarkeit von Protest gefragt wird,83 können diese Beharrlichkeit und Renitenz der Ehemaligen aus dem SF als widerständig begriffen werden. »Ohne die Bedeutung erfolgreicher Rebellionen, Revolten oder Revolutionen schmälern zu wollen«, werden hier folglich die »verstreuten, niedrigschwelligen, passivierenden und gescheiterten Widerstandspraktiken« in der Historiographie sichtbar gemacht.84 »Sei bereit!« so lautete der Gruß im Schwarzen Fähnlein in Anlehnung an das Pfadfindermotto »be prepared/ always prepared«.85 Konnte die bündische Gewaltbereitschaft den tatsächlichen militärischen Kampf vorbereiten? Hatte der Bund erfolgreich deutsch-jüdische Wehrhaftigkeit vermittelt? Ja und Nein! Die massivsten Gewalterfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg folgten zwischen 1938 und 1945. Die ehemaligen Mitglieder des SF wurden vielfach von ihnen berührt: Walter Laqueur floh im November 1938 nach Palästina, arbeitete und lebte in Kibbutzim und erlebte dort die Kämpfe im Unabhängigkeitskrieg Israels aktiv 82 »Tagebuch Töpper«, Amsterdam, 21. 11. 1938, in: Werner T. Angress: Generation zwischen Furcht und Hoffnung. Jüdische Jugend im Dritten Reich, Hamburg 1985, S. 110, Dok. 11. 83 Vgl. Iris Därmann, Michael Wildt: Widerständige Praktiken, in: Mittelweg 36, 2021, Nr. 2, S. 3– 19, hier S. 4f. 84 Ebd., S. 4. 85 Das Motto »Sei bereit!« wurde bereits zur Zeit der Kameraden den Scouts entlehnt, vgl. Lippman: Link (Anm. 42), S. 14.

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mit. Lotte Noam floh nach Palästina und machte dort 1948/49 Kriegserfahrungen. Otto Hess floh nach Großbritannien und kehrte als Fallschirmspringer hinter die feindlichen deutschen Linien zur Partisanenunterstützung in das ehemalige Jugoslawien zurück. Er wurde im Herbst 1944 von Wehrmachtsangehörigen getötet. Paul Mayer floh mit Frau und Kind nach Großbritannien; dort diente er fünf Jahre in der British Army. Er kämpfte zwei Jahre in der Fallschirmspringereinheit SOE (Special Operation Executive) und überlebte.86 Werner Angress floh in die USA und wurde als Fallschirmspringer am D-Day 1944 hinter feindlichen Linien abgesetzt. Er geriet früh in Kriegsgefangenschaft, wurde befreit und arbeitete danach als Gefangenen-Verhörer aus der Einheit der sogenannten Ritchie Boys für den Militärgeheimdienst. Mit ihm kämpfte Guy Stern auf Seiten der Alliierten und verhörte für die US-Army deutsche Gefangene auf der Suche nach kriegswichtigen Informationen.87 Die ehemaligen Jugendbewegten kämpften damit für die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus. Ihre lang gehegte Kampfbereitschaft für ein ›neues Deutschland‹ wurde im Zweiten Weltkrieg gewissermaßen unter vertauschten politischen Vorzeichen eingefordert und eingelöst.

Fazit: Sendungsbewusstsein und wehrhafter Habitus Wie bedingten die gewalttätigen Erfahrungen aus der Zeit der Kindheit und Jugend in Deutschland den Erwartungshorizont der jungen jüdischen Erwachsenen? Die jungen jüdischen Deutschen im SF entwickelten sich zwischen der Weimarer Republik und dem frühen Nationalsozialismus unter dem Eindruck unterschiedlicher Formen des Gewalthandelns im 20. Jahrhundert: Von außen prägten jugendliche und erwachsene Gewalttaten ihr Aufwachsen nachhaltig, körperliche Angriffe von Gruppen oder Organisationen wurden von ihnen antizipiert und erlebt. Die öffentliche Kommunikation war zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gewaltgeladen und die deutsch-jüdischen Jugendlichen waren schließlich im Nationalsozialismus direkt und permanent staatlicher Gewaltandrohung ausgesetzt. Motive für die eigene kommunizierte Gewaltbereitschaft im Inneren der Gruppen waren bei den Kameraden der Ehrverlust, oder auch die durchaus begründete Angst vor Pogromen zu Beginn der 1920er Jahre. Vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten war das Motiv für die bündische Förderung jugendlicher Gewaltbereitschaft im Schwarzen Fähnlein 86 Paul Mayer an Ludwig Assenheimer, London, 27. 11. 1997, S. 1 (Privatbesitz L. Wölk). 87 Für die Kriegsteilnahme ausführlich siehe Angress: Jugenderinnerungen (Anm. 1), S. 230– 331; Stern: Ink (Anm. 71), S. 53–92; sowie allgemein Christian Bauer, Rebekka Göpfert: Die Ritchie Boys. Deutsche Emigranten beim US-Geheimdienst, Hamburg 2005.

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ein romantisierender Blick auf den gewaltsamen Kampf zur ›Erneuerung‹ der Gesellschaft. Ahrens situierte dieses symbolische Handeln der bündischen Jugend für die Weimarer Republik wie folgt: »Die bündische ›Wehrhaftigkeit‹ lässt sich als Versuch auffassen, durch die Verbindung von Jugend und Kriegertum einen zukunftsweisenden Habitus zu etablieren. Dieser doppelte Gegenentwurf zu Verfall und Dekadenz musste besonders aussichtsreich für eine Bewältigung der Zeitprobleme erscheinen.«88 Dieser Habitus, der durch ein militarisiertes Selbstverständnis, eine betont soldatische Männlichkeitskonstruktion sowie elitäre Maßstäbe für die Selbsterziehung der Mitglieder gekennzeichnet ist, sollte in gewaltaffinen Selbstentwürfen und der Fahrtenpraxis auch im SF kommuniziert werden.89 Detlev Peukert hatte in seinem breitangelegten Essay über die Weimarer Republik geschrieben: »Aus dem ›Wandervogel‹ wurden die ›Bündischen‹, die die Kriegserfahrung durch eine Steigerung des Nationalismus, durch festere und dem Führerprinzip verpflichtete Organisation und durch eine aus dem Jugendmythos entwickelte diffuse Sendungsideologie verarbeiteten.«90 Diese Einordnung deckt sich mit der eingangs zitierten Beschreibung der »geschichtlichen Sendung« des SF durch sein führendes Mitglied Mayer. Auch in den hier untersuchten zeitgenössischen Schreiben und Schriften sowie in der performativen Selbstdarstellung des SF (beispielsweise sichtbar in der fotografischen Überlieferung von Fahrten 1933/ 34) waren der Erste Weltkrieg und eine romantisierte Kriegserfahrung ständiger Bezugspunkt der deutsch-jüdischen Jugendlichen. Ob als Schablone für den Entwurf eines neuen, soldatischen und bündischen Menschen genutzt oder als letzte Bastion gegen die judenfeindlichen Angriffe durch die nationalsozialistische Umwelt bemüht, die stolze Weltkriegsteilnahme jüdischer Deutscher scheint motivisch wiederholt auf. Das Sendungsbewusstsein und der Habitus der Akteure und Akteurinnen im Schwarzen Fähnlein kreisten um die deutsch-jüdische Wehrhaftigkeit, verstanden als symbolische Gewalt. Allerdings veränderte sich die aktive Bereitschaft zur Gewalt nach dem Frühjahr 1933 vom kommunizierten Angriff auf eine angeblich 88 Ahrens: Jugend (Anm. 3), S. 155f.; zur Weimarer Republik siehe einführend Benjamin Ziemann: Germany after the First World War. A Violent Society? Results and Implications of Recent Research on Weimar Germany, in: Journal of Modern European History, 2002, Nr. 1, S. 80–95; ausführlich Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik, 1918– 1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. 89 Vgl. Mayer: Fähnlein (Anm. 1), o. S. Zur modernen Männlichkeit siehe die Beiträge in Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.): Männlichkeit und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2008; sowie äußerst detailliert, bisweilen assoziativ Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bde. 1 u. 2, Berlin 2020 [1977/ 1978], insb. Kap. 4, S. 764–812; sowie zum elitären Denken und Männerbundkonzept Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur, 1880–1934, Köln 2008. 90 Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987, S. 96; ausführlich siehe Barbara Stambolis: Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach i. Ts. 2003.

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überkommene Ordnung hin zur erzwungenen Verteidigung der eigenen Position. Der Kampf schlug in Notwehr um. Gleichzeitig musste die Wehrhaftigkeit dem passiven Erdulden von Gewalttaten weichen, da das Sichzurwehrsetzen zunehmend mit dem Risiko der Lagerhaft und Lebensgefahr einherging. Laqueurs Eltern, Noams Tanten, Angress Vater und Sterns Familie wurden von den nationalsozialistischen Deutschen erniedrigt, beraubt, in Ghettos oder Vernichtungslager verschleppt und in der Shoah ermordet. Auf dieses Gewaltverbrechen konnten sie die Erfahrungen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre im 20. Jahrhundert nicht vorbereiten. Bis ins hohe Alter blieb daher für einige ein profundes Misstrauen sowie eine besondere Sensibilität und Verletztheit bestehen.91 Der 70-Jährige Tom Angress verlieh dieser Spezifik kurz nach seiner Remigration in die Geburtsstadt 1991 folgendermaßen Ausdruck: Dennoch, ob praktizierender oder nicht praktizierender Jude, ob man sich einer jüdischen Gemeinschaft zugehörig fühlt oder, wie ich, Außenstehender bleibt, man entwickelt, wenn man fast fünf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft als jüdisches Kind in Berlin miterlebt hat und nach fünf Jahrzehnten aus der Emigration dahin zurückkehrt, eine – vielleicht manchmal überbetonte – Sensibilität im Umgang mit deutschen Menschen meiner eigenen Generation. So kam mir schon des öfteren, z. B. in der UBahn, die Frage, ob dieser oder jener große, adrett gekleidete, weißhaarige Herr mir gegenüber nicht vielleicht damals, »irgendwo im Osten…« – und dann sehe ich wieder weg.92

91 Siehe dazu Dan Diner: »Zivilisationsbruch« – oder der Verfall ontologischer Gewissheit, in: Bielefeld (Hg.): Gesellschaft (Anm. 16), S. 458–470. 92 Werner T. Angress: Rückkehr aus der Emigration. Leben in Deutschland, in: Wolfgang Benz (Hg.): Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus. Juden in der Bundesrepublik, Metropol, Berlin 1991, S. 87–97, hier S. 89.

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Erziehungsgewalt als Mittel gegen die »Verwilderung der Jugend«? Diskurse über körperliche Schulstrafen in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik

»In steigendem Maße mehren sich die Klagen über die Verwilderung der Jugend, insbes. auch der Schuljugend, seit dem Weltkriege. Wie diesem die Zukunft unseres Volkes bedrohenden Uebel wirksam entgegenzutreten ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Zu den meist umstrittenen Fragen auf diesem Gebiete gehört die Frage, ob im Bereich der Schulzucht in den öffentlichen Schulen dem Lehrer ein Züchtigungsrecht zustehe.«1 Mit diesen Worten leitete ein Jurist 1929 seinen Aufsatz über ein Gerichtsurteil zum »Lehrerzüchtigungsrecht« ein. Seine Beschreibung ist insofern treffend, als die Frage körperlicher Strafen in Schulen in den 1920er Jahren tatsächlich besonders umstritten war: Forderungen nach ihrer Abschaffung wurden nicht nur von Lehrerverbänden, sondern auch in der Presse und in Landtagen kontrovers diskutiert, wobei es nur in Sachsen 1922 zu einem über längere Zeit bestehenden vollständigen Verbot durch das Kultusministerium kam. Bemerkenswert ist aber vor allem die in diesem Zitat deutlich werdende diskursive Verbindung des Themas mit der Befürchtung einer nicht zuletzt durch den Weltkrieg ausgelösten akuten »Verwilderung« der Jugend. Dass zur Eindämmung dieser als bedrohlich empfundenen Undiszipliniertheit und zumindest potenziell auch der Gewalttätigkeit Jugendlicher die zunehmend kritisch betrachtete körperliche Gewalt in der Schulerziehung doch legitim oder gar notwendig sei, dass also Gewaltbereitschaft durch erzieherische Gegengewalt bekämpft werden müsse, war eine in den kontroversen Debatten um das »Züchtigungsrecht« immer wieder geäußerte Annahme. Bemerkenswerterweise galt dies nicht nur nach dem Ersten, sondern in ähnlicher Form auch nach dem Zweiten Weltkrieg und verstärkt noch einmal Mitte der 1950er Jahre, als die »Halbstarken« starke Bedrohungsgefühle auslösten. Dieses auffällig langlebige Denkmuster und die Konjunkturen, die es zu verschiedenen Zeitpunkten erlebte, sollen in diesem Beitrag näher untersucht 1 [Ernst] Conrad: Schulzucht und Lehrerzüchtigungsrecht, in: Deutsche Juristen-Zeitung, 1927, Jg. 32, Sp. 734–736.

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werden2 Dies erscheint nicht zuletzt deshalb lohnenswert, weil auch andere Deutungen der kriegsbedingt (scheinbar) besonders ›schwierigen‹ Jugend denkbar wären und, wie zu zeigen sein wird, geäußert, wurden. Schließlich ließ sich genauso gut umgekehrt argumentieren, dass das Erleben von Gewalt durch Lehrer gerade erst zu Gewaltbereitschaft führe und deshalb Ursache oder zumindest Verstärkung des Problems sei. Diese Argumentation konnte sich aber bis in die 1950er Jahre im Diskurs nur sehr begrenzt durchsetzen. Erst als im Laufe der 1970er Jahre die Diskussion über jugendliche Gewalt einen erneuten Höhepunkt erlangte, spielte körperliche Erziehungsgewalt keine Rolle mehr.3 Die Vorstellung, dass ›problematische‹ Jugendliche eine ›strenge‹, potenziell auch körperliche Gewalt beinhaltende Erziehung erforderten, war innerhalb kurzer Zeit verschwunden. Dieser Umstand ist angesichts der langen Tradition des Denkmusters durchaus bemerkenswert und wirft die Frage nach den Gründen dieses Wandels auf. Eine mögliche Antwort soll am Ende dieses Beitrags vorgestellt werden. Zunächst aber gilt es, die Konjunkturen, die das Konzept von Erziehungsgewalt als Reaktion auf »verwilderte« Jugendliche in den 1920ern und nach 1945 erlebte, in den längeren Kontext der Debatten um körperliche Schulstrafen einzuordnen.4 2 Die folgenden Überlegungen basieren auf Quellen und Befunden meiner voraussichtlich 2023 unter dem Titel »Körperliche Schulstrafen im Wertewandel« veröffentlichten Dissertation, die die Debatten um körperliche Schulstrafen von circa 1870 bis 1980 auf verschiedenen Ebenen (öffentliche Debatten in Presse und Parlamenten; Fachdiskurse in Pädagogik, Psychologie, Lehrerschaft und Rechtswissenschaft; rechtliche Normen sowie einzelne Fallbeispiele aus der sozialen Praxis) untersucht. 3 Vgl. Dirk Schumann: School Violence and Its Control in Germany and the United States Since the 1950s, in: Wilhelm Heitmeyer, Heinz-Gerhard Haupt, Stefan Malthaner, Andrea Kirschner (Hg.): Control of violence. Historical and international perspectives on violence in modern societies, New York 2011, S. 233–259, hier S. 249–254 sowie Till Kössler: Jenseits von Brutalisierung oder Zivilisierung. Schule und Gewalt in der Bundesrepublik (1970–2000), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2018, Jg. 15, S. 222–279. 4 Im Zuge der in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Aufmerksamkeit für das Thema der Gewalt gegen Kinder sind auch körperliche Strafen und insbesondere das schulische Züchtigungsrecht Gegenstand historischer und pädagogischer Forschung geworden. Mit Fokus auf die Bundesrepublik hat vor allem Dirk Schumann das Thema im Kontext von Modernisierungsund Liberalisierungsprozessen untersucht (Dirk Schumann: Authority in the »Blackboard Jungle«. Parents and Teachers, Experts and the State, and the Modernization of West Germany in the 1950s, in: Bulletin of the German Historical Institute (Washington), 2003, Nr. 33, S. 65– 78; ders.: Legislation and Liberalization. The Debate About Corporal Punishment in Schools in Postwar West Germany, 1945–1975, in: German History, 2007, Jg. 25, S. 192–218; vgl. außerdem Torsten Gass-Bolm: Das Ende der Schulzucht, in: Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 436– 466). Für die Zeit des Kaiserreichs vgl. Sace Elder: A Right to Beat a Child? Corporal Punishment and the Law in Wilhelmine Germany, in: Central European History, 2014, Jg. 47, S. 54–75; dies.: Ein Gerechtes Maß an Schmerz. Körperliche Züchtigung, die Subjektivität von Kindern und die Grenzen vertretbarer Gewalt im Kaiserreich und der Weimarer Republik, in: Stefan Grüner, Markus Raasch (Hg.): Zucht und Ordnung. Gewalt gegen Kinder in historischer

Erziehungsgewalt als Mittel gegen die »Verwilderung der Jugend«?

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Körperliche Schulstrafen im Kontext von Gewalt und Jugend Die Geschichte körperlicher Schulstrafen berührt das Thema dieses Sammelbandes in doppelter Weise: Erstens waren in erzieherischer Absicht zugefügte »Züchtigungen« – meist in Form von Schlägen mit Werkzeugen wie Rute, Stock oder Lederriemen oder auch mit der bloßen Hand – über lange Zeit die wohl im Alltag häufigste und gesellschaftlich am wenigsten hinterfragte Form körperlicher Gewalt, die Kinder und Jugendliche erlebten. Wenn diese Gewalt im Rahmen des Erziehungsauftrags der Schule ausgeübt wurde, war sie zwar gewissermaßen staatlich legitimiert, allerdings war gerade deshalb die Frage nach ihrer Berechtigung und ihren Grenzen in wesentlich stärkerem Maß Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse als dies für den privaten Raum der Familie galt. Die entsprechenden Diskussionen blieben bis um 1900 aber auf verhältnismäßig kleine Zirkel beschränkt. Zwar hatte es zu allen Zeiten deutliche Kritik an körperlichen Strafen und auch Forderungen nach deren Abschaffung in der Schule gegeben, die sich vor allem im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkten. Doch dominierte sowohl in akademischen pädagogischen Debatten als auch in der Lehrerpresse die Sichtweise, dass Körperstrafen ein sinnvolles, in manchen Fällen sogar notwendiges Erziehungsmittel seien, solange sie möglichst selten und innerhalb gewisser Grenzen – also beispielsweise nicht im Affekt oder routinemäßig wegen nichtiger Anlässe – angewendet würden. Einem gewohnheitsmäßigen, brutalen »Prügeln« wurde die reflektiert angewandte »strafende Zucht« gegenübergestellt, die letztlich im Interesse des Kindes selbst liege, indem sie »ihm helf[e] den Eigensinn [zu] brechen« und somit wünschenswerte Erziehungsziele, zu denen insbesondere Gehorsam gezählt wurde, zu erreichen.5 Durch diese Abgrenzung wurden körperliche Strafen in den Kontext von »Liebe« und »Fürsorge« für das Kind gerückt und im Gegensatz zum abgelehnten unreflektierten Schlagen gar nicht als eigentliche Gewalt adressiert (auch wenn ihre körperliche Schmerzhaftigkeit durchaus offen angesprochen wurde). Diese traditionelle Rechtfertigung körperlicher Strafen wurde ab 1900 aber zunehmend infrage gestellt, vor allem durch den Einfluss der Reformpädagogik und durch die zunehmende Rezeption medizinischer und etwas später psychologischer Gegenargumente. In der Weimarer Republik waren nicht nur die etwa aus den Reihen der Arbeiterbewegung, Kinderschutz- und Frauenrechtsorganisationen, von Schulreformern und Vertretern der Psychologie geäußerten ForPerspektive, Berlin 2019, S. 31–79. Eine zeitlich übergreifende Untersuchung körperlicher Schulstrafen liegt bisher aber nur ansatzweise vor (vgl. Stefan Grüner: Gewalt als Erziehungsmittel, Kindesrechte und Kinderschutz. Historische Grundlinien seit der Aufklärung, in: Grüner, Raasch: Zucht, S. 299–319). 5 [Johann] V[alentin] Strebel: Schulstrafen, in: Karl Adolf Schmid (Hg.): Enzyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Gotha 1859–1875, S. 283.

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derungen nach einer Abschaffung in der Öffentlichkeit lauter geworden. Sie waren vor allem in der Mitte der pädagogischen und schulpraktischen Diskussionen angekommen.6 Auch pädagogische Lexika beschrieben Schläge zwar teils noch als in seltenen Ausnahmefällen unvermeidliches Übel, aber nicht mehr als grundsätzlich akzeptables oder sinnvolles Erziehungsmittel.7 In den nun sowohl unter der Lehrerschaft als auch in der Öffentlichkeit kontrovers geführten Diskussionen um eine Abschaffung des Züchtigungsrechts konnten sich nun auch diejenigen, die nicht ganz auf körperliche Strafen verzichten wollten, nicht mehr ohne weiteres auf deren pädagogische Sinnhaftigkeit berufen, sondern mussten besondere Rechtfertigungen finden. Diese Situation nach dem Ersten Weltkrieg, in der körperliche Schulstrafen im öffentlichen Diskurs schwerer zu legitimieren waren, führt zum zweiten Berührungspunkt mit dem Thema Jugend und Gewalt: Schon auf Ebene des individuellen Kindes hatte »auffallende Roheit oder Gewaltthätigkeit« stets als einer der Anlässe gegolten, die eine Züchtigung rechtfertigten oder gar erforderten.8 Nun spielte die im Eingangszitat angesprochene »Verwilderung der Jugend«, womit nicht nur, aber auch erhöhte Gewalttätigkeit gemeint sein konnte, auch eine wichtige Rolle, um das umstritten gewordene schulische Züchtigungsrecht zu verteidigen. Dabei ist der Gebrauch des Begriffs »Jugend« bemerkenswert: Denn eigentlich betrafen körperliche Schulstrafen weniger Jugendliche im engeren Sinn, sondern vor allem Kinder bis ungefähr zum Beginn der Pubertät.9 Dennoch wurde in den Debatten um das schulische Züchtigungsrecht immer wieder ausdrücklich auf das Verhalten nicht mehr schulpflichtiger Jugendlicher Bezug genommen, wie später erläutert wird. Dies verdeutlicht, dass eben nicht nur über eine konkrete Frage der Schulerziehung diskutiert wurde, sondern dass dabei immer auch Generationenkonflikte, Bewertungen und Zuschreibungen an die heranwachsende Generation mitverhandelt wurden. Auf diese können die im

6 Sie wurden nun beispielsweise auch in großen Lehrerzeitschriften geäußert, und der sächsische Lehrerverein unterstützte sogar das dort 1922 per Gesetz erlassene Verbot körperlicher Strafen. Andere Lehrerverbände lehnten zwar ein vollständiges Verbot ab, solange die Unterrichtsbedingungen nicht deutlich verbessert waren, beschrieben aber eine Abschaffung zumindest als wünschenswertes Ziel. 7 Vgl. z. B. Glöckler: Körperliche Züchtigung (pädagogisch), in: Hermann Schwartz (Hg.): Pädagogisches Lexikon, Bielefeld u. a. 1930, Sp. 113–122. 8 Strebel: Schulstrafen (Anm. 5), S. 298. 9 Dass Jugendliche ab einem gewissen Alter (eine genaue Grenze wurde meist nicht definiert) nicht mehr geschlagen werden sollten, war ein auf breite Zustimmung stoßender pädagogischer Grundsatz. Er wurde in der Regel damit begründet, dass das Ehrgefühl mit zunehmendem Alter steige. Vgl. Georg Stengel: Pädagogische Würdigung des Disziplinarmittels der Körperstrafe, in: Allgemeine deutsche Lehrerzeitung, 1898, Jg. 50, S. 95–97, 109–11, 121–122.; Anonym: Plauderei am Schulherde. Vom Züchtigungsrecht, in: Deutsche Schulpraxis, 1907, Jg. 27, S. 297–299, hier S. 298.

Erziehungsgewalt als Mittel gegen die »Verwilderung der Jugend«?

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Folgenden vorgestellten Ausschnitte aus den Debatten um körperliche Strafen ein Schlaglicht werfen.

Die bedrohliche Jugend und der »grausame Hammer Kind«: Debatten der 1920er Jahre Beim Blick auf die Debatten der 1920er Jahre fällt zunächst auf, dass die Diagnose einer durch »sittliche Verwilderung«10 oder durch »Verwirrung der ethischen Begriffe«11 geprägten Jugend nicht nur recht häufig gestellt, sondern zumeist auch als eine allgemein akzeptierte Selbstverständlichkeit angesprochen wurde. Nähere Begründungen oder Beispiele blieben dabei in der Regel aus – und wenn trotzdem auf konkrete Probleme verwiesen wurde, handelte es sich um Phänomene, die eher ältere Jugendliche als Schulkinder betrafen. Beispielsweise nannte ein 1929 im Frankfurter Mittelschullehrer-Verein gehaltener Vortrag als konkrete Beispiele für die »Disziplinlosigkeit der unreifen Jugend« unter anderem den Mord an dem Abiturienten Helmut Daube, bei dem ein Schulkamerad tatverdächtig war, und die »Steglitzer Schülertragödie«, einen Selbstmordpakt zwischen Jugendlichen.12 Beide Fälle hatten große Medienaufmerksamkeit ausgelöst und waren intensiv als Anzeichen einer »Krankheit der Jugend« diskutiert worden13 – und beide hatten mit der Frage des schulischen Züchtigungsrechts wenig zu tun: Alle betroffenen Akteure waren Gymnasiasten und somit kaum von körperlichen Schulstrafen betroffen, denn diese waren an höheren Schulen traditionell sehr stark eingeschränkt und beispielsweise in Preußen seit 1910 nur »in außerordentlichen Fällen« und in den unteren Klassen erlaubt.14 Hier wird deutlich, dass körperliche Strafen weniger als konkrete Lösungsmöglichkeit zur Sanktion bzw. Vorbeugung eines bestimmten Fehlverhaltens, sondern eher in einem abstrakten Sinn als Teil und Symbol einer ›strengen‹ Erziehung in die 10 Regierung Wiesbaden an Preußisches Kultusministerium, 29.05. 1921, in: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW) 405, 12903, Bl. 221. 11 O. Droege: Juristisches zum Züchtigungserlaß, in: Pädagogische Post, 1928, Jg. 7, S. 762–763, Zitat S. 763. 12 K. Gaul: Stellungnahme zu den Bestrebungen, die körperliche Züchtigung vollständig aus der Schule zu entfernen, in: Die Mittelschule 1929, Jg. 43, S. 41–45, Zitat S. 42f. 13 Vgl. Eva Bischoff/Daniel Siemens: Class, Youth, and Sexuality in the Construction of the Lustmörder: The 1928 Murder Trial of Karl Hussmann, in: Richard F. Wetzell (Hg.): Crime and criminal justice in modern Germany, Oxford 2014, S. 207–225, hier S. 211f.; Heidi Sack: Moderne Jugend vor Gericht. Sensationsprozesse, »Sexualtragödien« und die Krise der Jugend in der Weimarer Republik, Bielefeld 2016. 14 Dienstanweisung für die Direktoren und Lehrer an den höheren Lehranstalten für die männliche Jugend, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, 1910, Jg. 52, S. 887–909, Zitat S. 899.

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Debatte eingebracht wurden. Dass es aber einen solchen Zusammenhang zwischen Schulerziehung und problematischem Verhalten auch der älteren Jugend gebe, war für viele Kommentatoren eine feststehende, nicht weiter erklärungsbedürftige Tatsache. So zeigte für einen Autor in einer katholischen Lehrerzeitschrift die »steigende Kriminalität der Jugend […] doch deutlich, welche Folgen die Erschwerung der Anwendung köperlicher Züchtigungen zeitigen«, und für die Bezirksregierung Wiesbaden war gar »der weitere Rückschritt unvermeidlich«, wenn nicht »schnell und scharf – nötigenfalls mit dem Stock – zugegriffen« werde.15 Die hier deutlich werdende Vorstellung, dass eine »scharf[e]«, die Möglichkeit von Körperstrafen beinhaltende Schulerziehung eine alternativlose Reaktion auf die bedrohliche Entwicklung der Jugend sei, findet sich auch in Aussagen, die sich stärker auf die konkrete Unterrichtssituation beziehen: Wenn es beispielsweise in einer konservativen Lehrerzeitschrift hieß: »Auch wir wollen kein zerprügeltes, zerbrochenes Geschlecht großziehen. Aber wir wollen auch nicht der Amboß sein, den der grausame Hammer Kind in wenigen Jahren zerschlägt«,16 erscheinen Lehrer nicht als Gewalt Ausübende, sondern als deren potenzielle Opfer, die ein Mittel der Notwehr brauchen. Konkreter malte sich ein Delegierter des Sächsischen Lehrertags 1926 die Zukunft des Lehrers ohne Züchtigungsrecht aus: »Er wird in der Mitte stehen, die Kinder werden ihn von allen Seiten an dem Rocke ziehen, und er kann nichts machen. Er wird hilflos dastehen.«17 Aussagen wie diese waren in der Lehrerpresse der Zeit recht häufig und legen nahe, dass die Angst vor dem »grausamen Hammer Kind« weniger durch besonders auffällige Gewaltbereitschaft ausgelöst wurde, sondern vor allem dem zeittypischen Gefühl eines Kontroll- und Autoritätsverlustes gegenüber der Jugend entsprang.18

15 Droege: Juristisches (Anm. 10) und Regierung Wiesbaden an Preuß. Kultusministerium (Anm. 9). 16 Zitiert nach: R.: Zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Der Volksschullehrer, 1926, Jg. 20, S. 315. 17 Vorstand des Sächsischen Lehrervereins: Bericht über die 51. Vertreterversammlung vom 29. bis 31. März 1926 in Plauen, Dresden 1926, S. 238. 18 Vgl. zum in der Weimarer Republik weitverbreiteten Wahrnehmung einer zunehmend selbstbewussten jugendlichen Generation als Bedrohung alter Ordnungen und Autoritäten im Sinne einer »Krise der (modernen) Jugend« etwa Sack: Jugend (Anm. 13). Zum Einfluss des Ersten Weltkriegs als Ursache eines Autoritätsverlusts von Schule und Erwachsenen vgl. Andrew Donson: Youth in the fatherless land. War pedagogy, nationalism, and authority in Germany, 1914–1918, Cambridge (Mass.)/London 2010; zum gesteigerten Selbstbewusstsein (bzw. einer potenziell bedrohlich wirkenden scheinbaren Überlegenheit) der jugendlichen Generation in der Zeit der Inflation vgl. Martin H. Geyer: Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914–1924, Göttingen 1998.

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Auch auf der abstrakten Ebene war zwar gelegentlich von »der maßlosen Roheit unserer Jugend« die Rede,19 viel häufiger aber von »Verwilderung« oder auch »Widerspenstigkeit, Auflehnung gegen jede Autorität«20 – obwohl einige der in den obigen Zitaten mit dem Züchtigungsrecht in Verbindung gebrachten Phänomene wie Jugendkriminalität oder Mordfälle durchaus unter dem Aspekt der »Gewalt« hätten angesprochen werden können. Aus Sicht der Verteidiger des Züchtigungsrechts ging es also weniger darum, konkrete Gewalttaten zu bekämpfen, sondern die als bedroht empfundene Autorität der Lehrer und der erwachsenen Generation im Allgemeinen mit der eben nicht als Gewalt, sondern als Erziehungsmittel angesprochenen »Züchtigung« durchzusetzen. Es erstaunt somit auch nicht, dass diejenigen, die körperliche Schulstrafen ablehnten und deren Verbot forderten, auch deutlich seltener von einer besonders problematischen Jugend sprachen. Teils widersprachen sie diesem Narrativ sogar ausdrücklich, wie etwa ein Autor in der Lehrerzeitschrift Pädagogische Warte, der einwandte: »Die Klage, daß die Schuljugend heute besonders verwildert sei, ist eine alte«.21 Wenn sie doch einmal die Diagnose teilten, zogen sie gegenteilige Konsequenzen daraus. So erklärte ein SPD-Abgeordneter bei einer bayerischen Landtagsdebatte zum Züchtigungsrecht 1921: »Man sagt ja, die Jugend sei verroht, aber gerade deshalb müssen wir rohe Mittel einmal ausschalten. Die Nervosität der heutigen Lehrerschaft, besonders derjenigen, die aus dem Felde gekommen ist, macht diese […] vollkommen ungeeignet zur Anwendung dieser Zuchtmittel.«22 Wie diese Aussage belegt, war die Vorstellung, die »Verrohung« der Jugend werde durch eine auf die Möglichkeit körperlicher Gewalt zurückgreifende Erziehung verschlimmert statt bekämpft, in den Debatten der 1920er Jahre durchaus sagbar; sie blieb aber wenig verbreitet und kaum einflussreich. Bemerkenswert und eher eine Ausnahme ist auch, dass hier ein Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung im Krieg und erhöhter eigener Gewaltbereitschaft der Lehrer gezogen wurde. Die Jugendlichen der 1920er Jahre dürften zwar dagegen kaum eigene Fronterfahrungen gemacht haben, aber dennoch waren sie als Kinder zumindest indirekt, etwa durch Erzählungen und die Militarisierung der gesamten Gesellschaft, mit der Brutalität des Kriegs in Kontakt gekommen. Insofern wäre es durchaus denkbar gewesen, auch hier den Gewaltcharakter des 19 So ein Lokalschulinspektor aus dem Bezirk Wiesbaden in seinem Bericht über die Umsetzung eines das Züchtigungsrecht einschränkenden Ministerialerlasses (Kath. Pfarramt Oberlahnstein an Regierung Wiesbaden, 02. 05. 1921, in: HHStAW 405, 12903, Bl. 243). 20 Regierung Wiesbaden an Preuß. Kultusministerium (Anm. 10). 21 Theodor Bohner: Die körperliche Züchtigung und die Schule, in: Pädagogische Warte 1925, Jg. 33, S. 1038–1042, S. 1040. 22 Abg. Käfer (SPD), Bayer. Landtag, 62. Sitzung vom 12. 05. 1921, Stenographischer Bericht, Wahlperiode 1920–24, Bd. 3, S. 67.

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Kriegs für die »Verrohung« der jüngeren Generation verantwortlich zu machen.23 Dies geschah allerdings kaum, vielmehr wurde der Zusammenhang zwischen Krieg und »Verwilderung«, sofern er überhaupt genauer ausgeführt wurde, vor allem in »vaterloser Führung« gesehen24 – auch hier war es also vor allem das Fehlen von Autorität(en), das als problematisch erschien.

Erneute »Verrohung und Verwilderung« nach dem Zweiten Weltkrieg »Durch den Krieg hat eine allgemeine Verrohung und Verwilderung des Rechtsempfindens um sich gegriffen, die besonders unsere Jugend erfaßt hat. Gerade in dieser Zeit dem Lehrer das stärkste Mittel zur Aufrechterhaltung der Zucht zu nehmen, ist mehr als bedenklich für die Schule und das Wohl unserer Kinder.«25 Diese Aussage des Elternbeirats einer hessischen Schule fügt sich sowohl in Bezug auf ihren Inhalt als auch auf die Wortwahl nahtlos in die oben beschriebenen Debatten der 1920er Jahre ein – und doch liegen zwischen beiden zwei Jahrzehnte, und mit »dem Krieg« ist hier nicht der Erste, sondern der Zweite Weltkrieg gemeint. Tatsächlich wiesen die 1920er und die späten 1940er bzw. frühen 1950er Jahre in Bezug auf die Frage des schulischen Züchtigungsrechts viele Parallelen auf: Nachdem während des Nationalsozialismus die kontroversen Debatten um das Thema weitgehend zum Erliegen gekommen waren und es zwar zur Aufhebung des absoluten Verbots in Sachsen, ansonsten aber zu keiner grundlegenden Änderung der Rechtslage gekommen war, knüpften die meisten westdeutschen Bundesländer nach 1945 an die Bestimmungen der Weimarer Republik an. Die nun von den Kultusministerien erlassenen Vorschriften orientierten sich oft an den in Preußen seit 1928 gültigen Einschränkungen und verboten Schläge wegen schlechter Leistungen sowie gegenüber Jungen der ersten beiden Klassen und Mädchen aller Altersgruppen.26 Nur West-Berlin, Hessen

23 So hatte etwa bereits in den 1870er Jahren ein der Arbeiterbewegung nahestehender Gegner körperlicher Schulstrafen die zurückliegenden Kriege und deren Verherrlichung z. B. am Sedanstag als Ursachen für die auch damals diskutierte jugendliche »Roheit, Sitten- und Zuchtlosigkeit« angeführt (Eduard Sack: Gegen die Prügel-Pädagogen, in: Eduard Sack: Schriften, hg. v. Eckhard Glöckner, Vaduz 1980 [1878], S. 87). 24 Wilh[elm] Bonolsen: Wie stellen wir uns zum Züchtigungserlaß des Ministers?, in: Der Volksschullehrer, 1928, Jg. 22, S. 409–441, Zitat S. 409. 25 Elternbeirat Storndorf an Hessisches Kultusministerium, 06. 12. 1949, HHStAW 504, 3384, Bl. 35. 26 Vgl. Jürgen Rohrbach: Die körperliche Züchtigung in der Volksschule. Eine pädagogische und rechtliche Betrachtung, Essen 1962, S. 41ff. Zur Entwicklung in der DDR, in der körperliche Züchtigung von Anfang an verboten war, vgl. Dirk Schumann: Schläge als Strafe? Erzie-

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und zunächst auch Bayern erließen 1946 vollständige Verbote körperlicher Strafen. Das unter Kultusminister Franz Fendt (SPD) zustande gekommene bayerische Verbot wurde allerdings ein Jahr später von seinem Nachfolger Alois Hundhammer (CSU) mithilfe einer Elternbefragung, bei der sich rund 61 % für ein begrenztes Züchtigungsrecht aussprachen, rückgängig gemacht.27 Dieses Beispiel zeigt, wie politisch und gesellschaftlich umstritten die Frage weiterhin war. Doch trotz aller Kontinuitäten und Parallelen war die Situation nach 1945 nicht die gleiche wie nach 1918. Die Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Wunsch, sich von der jüngsten Vergangenheit zu distanzieren, bewirkten auch in der Debatte um körperliche Schulstrafen eine veränderte Perspektive: So identifizierten nun einige Lehrer und Pädagogen Schläge in der Schule als eine der Ursachen einer typisch deutschen »Knechtsgesinnung«, welche die nationalsozialistische Diktatur ermöglicht habe, sodass ihre Abschaffung als wichtiger Schritt zur Demokratisierung galt.28 Vor allem aber nahmen in Reaktion auf die NS-Gräueltaten Menschenwürde und Gewaltfreiheit als Werte einen größeren Stellenwert ein, wenn z. B. das hessische Kultusministerium sein Züchtigungsverbot damit begründete, dass »die Menschenwürde und die Menschenrechte in der Schule gewahrt werden« sollten29 oder wenn in pädagogischen Zeitschriften festgestellt wurde, dass Körperstrafen »angesichts des geistig-sittlichen Ringens der Gegenwart um eine allgemeine Humanisierung des Zusammenlebens der Menschen« keinerlei Daseinsberechtigung mehr hätten.30 Dieser Argumentation konnte auf einer idealistisch-theoretischen Ebene nur schwer widersprochen werden: So bemühten sich beispielsweise auch Eltern oder Lehrer, die eine Rücknahme des hessischen Verbots forderten, stets zu versichern, dass sie »durchaus keiner Erziehung durch Prügel das Wort« reden wollten und das langfristige Ziel einer Abschaffung von Körperstrafen teilten.31 Dass in einigen dieser Äußerungen eben doch eine positivere Bewertung von Körperstrafen als Erziehungsmittel zwischen den Zeilen durchscheint, zeigt nur umso deutlicher,

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hungsmethoden nach 1945 und ihr Einfluss auf die »Friedenskultur« in beiden Deutschlands, in: Jahrbuch für Historische Friedensforschung, 2000, Jg. 9, S. 34–48. Dabei ist zu beachten, dass die Form der Abstimmung (bei der pro schulpflichtigem Kind ein namentlich gekennzeichneter Stimmzettel auszufüllen war) das Ergebnis verzerrt haben dürfte, wenn auch wahrscheinlich nur in Bezug auf seine Deutlichkeit, nicht auf die grundlegende Tendenz. Vgl. Schumann: Authority (Anm. 4), hier S. 73f. Z. B. Oswald Kubiena: Erziehung ohne Stock, in: Die Schulwarte, 1949, Jg. 2, S. 692–693. Hessisches Kultusministerium an Elternbeirat Usingen, 13. 12. 1950, HHStAW 504, 3384, Bl. 72. Stauß: Gedanken zur Frage der körperlichen Züchtigung, in: Die Schulwarte, 1949, Jg. 2, S. 628–631. Resolution der Elternversammlung der Volksschule Volkmarsen am 19. 07. 1950, HHStAW 504, 3384, Bl. 51.

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dass diese Position zwar noch vorhanden war, aber eben nicht mehr offen und uneingeschränkt geäußert werden konnte. Auch die Sensibilität für Gewalt war nach den NS-Gräueltaten gewachsen, sodass sich körperliche Gewalt in der Erziehung nur noch dann rechtfertigen ließ, wenn sie möglichst wenig als solche angesprochen wurde. Dies wird deutlich am Begriff der »Prügelstrafe«, der um 1900 noch von Befürwortern des Züchtigungsrechts genutzt wurde, den die Lehrerschaft nach 1945 von der Lehrerschaft aber vehement als diffamierend und unpassend zurückwies. Die nun stattdessen verstärkt auftauchenden Euphemismen wie »ernste Strafe«, »Erziehung mit körperlichen Mitteln« oder »körperliche Erziehungsmaßregeln« zeigen, dass es nun offensichtlich mehr sprachlichen Aufwand erforderte, die als legitim gesehene Züchtigung von gewaltsamen Prügeln abzugrenzen.32 Wenn es also nun noch problematischer als in den 1920er Jahren war, körperliche Strafen grundsätzlich zu verteidigen, kam der situationsbezogenen Argumentation umso größere Bedeutung zu. Zur Begründung, warum das Züchtigungsrecht zwar an sich nicht wünschenswert, aber in der aktuellen Lage noch unentbehrlich sei, dienten einerseits die schwierigen äußeren Unterrichtsbedingungen der Nachkriegszeit – andererseits eben, wie im obigen Zitat schon angeklungen, die altbekannte Vorstellung, dass angesichts einer »durch den Krieg fast verwilderten Jugend« körperliche Gewalt in der Erziehung nicht ausgeschlossen werden könne.33 Dabei genügte oft der allgemeine Verweis auf »den Krieg« als Ursache der »Verrohung und Verwilderung«, einige Autoren wurden aber auch konkreter. So nannte etwa ein bayerischer Pfarrer das »Fehle[n] der väterlichen Autorität während des Krieges« und die »schädlichen Folgen nazistischer Erziehung« als Ursachen jugendlicher »Disziplinlosigkeit in und außerhalb der Schule.«34 Dass ausgerechnet Disziplinlosigkeit als Folge der NS-Erziehung beschrieben wurde, mag auf den ersten Blick überraschen, war aber gerade aus Lehrersicht insofern plausibel, als die Konkurrenz der HJ tatsächlich oftmals die Autorität von Schule und Elternhaus als Erziehungsinstanzen geschwächt hatte. Gleichzeitig waren solche Deutungsmuster natürlich ein Versuch der Lehrerschaft, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren (und zu exkulpieren)35 – und zeigen, dass ein solcher Abgrenzungsversuch eben 32 In Reihenfolge der Zitate: Hellmuth Mayer: Das Züchtigungsrecht des Lehrers, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 1956, Jg. 71, S. 469–472, S. 471; Oskar Redelberger: Das Züchtigungsrecht des Lehrers, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1952, Jg. 5, S. 1159–1162, S. 1161; G. Steinhauer: Körperstrafe ein Erziehungsmittel? Kritische Betrachtung eines Bundesgerichtsurteils und einer Entschließung, in: Der katholische Erzieher,1957, Jg. 10, S. 254–261, S. 254. 33 Regierung Ansbach an Bayerisches Kultusministerium, 24. 05. 1947, Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BHStA) MK 61940. 34 Kath. Pfarramt Bodenwöhr an Hundhammer, 13. 02. 1947, BayHStA MK 61940. 35 Vgl. Schumann: Legislation (Anm. 4), S. 204f. Zur damals weit verbreiteten Vorstellung vom »Nationalsozialismus als Zerstörer ›echter‹ Autorität« vgl. auch Sonja Levsen: Autorität und

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nicht nur in der oben geschilderten Forderung nach absolutem Gewaltverzicht bestehen konnte, sondern durchaus mit dem Festhalten an körperlichen Schulstrafen vereinbar war. Auffällig ist, dass nicht nur diejenigen Kommentatoren, für die das Problem der Nachkriegsjugend vor allem in »Disziplinlosigkeit« bestand, körperliche Strafen eher als Lösung denn als Verschärfung des Problems ansahen. Auch für einen Juristen, der die »seelische und sittliche Not zumal der oft durch traurige Erlebnisse und böse Beispiele im Glauben an das Gute schwer erschütterten Jugend« hervorhob, stand fest, dass in einem solchen »materiellen und moralischen Trümmerfeld« eine Abschaffung des Züchtigungsrechts »als fehl am Platz erscheinen« müsse.36 Die gegenteilige Konsequenz, dass gerade wegen der »schweren Lage« der »Jugend, die durch Zeitumstände schwer mißbraucht und irregeleitet worden ist«, Gewaltanwendung problematisch sei und »die Erziehungsnotlage und die Verwilderung der Schuljugend ohne Anwendung des Stockes zu beheben« seien, wurde im Zusammenhang mit der Diagnose einer »verwilderten« Jugend dagegen seltener geäußert.37

Angst vor der »Diktatur von Rowdys und Rüpeln« in den 1950er Jahren In den späten 1940er Jahren konkurrierten also zwei mögliche Reaktionen auf die Erfahrungen von Weltkrieg und Nationalsozialismus: Einerseits die absolute Ablehnung von Erziehungsgewalt im Interesse von Menschenwürde und Demokratisierung, andererseits die Vorstellung, dass jugendliche »Verrohung und Verwilderung« unter den erschwerten Nachkriegsbedingungen nicht ohne die Möglichkeit schulischer Körperstrafen zu bekämpfen seien. Das Ideal der Gewaltfreiheit erschien in letzterer Sichtweise auch deshalb relativierbar, weil die traditionelle Abgrenzung, dass Körperstrafen innerhalb eines gewissen Rahmens und in erzieherischer Absicht eben keine ›eigentliche‹ Gewalt darstellten, zwar schwieriger geworden, aber noch möglich war. Dies wird besonders deutlich

Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975, Göttingen 2019, S. 54. 36 Hans-Joachim Knorr: Die körperliche Züchtigung in der Volksschule, ihre rechtliche und pädagogische Bedeutung in der Gegenwart, Diss., Erlangen 1950, S. 74. 37 Regierungspräsidium Koblenz: Abschrift der Verfügung vom 10. 04. 1948, Landeshauptarchiv Koblenz 910, 1218. Die Auffassung der Koblenzer Bezirksregierung, die mit dieser Verordnung körperliche Strafen zwar nicht ganz verbot, aber missbilligte und stark einschränkte, konnte sich bezeichnenderweise innerhalb des neu gegründeten Bundeslands RheinlandPfalz nicht durchsetzen: Auf Landesebene blieben vergleichbare Einschränkungen des Züchtigungsrechts bis in die 1960er Jahre aus.

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daran, dass der Bundesgerichtshof noch 1957 den ernsthaften Gehalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit infrage gestellt sah, wenn man es zur Argumentation gegen Körperstrafen heranzog.38 Das entsprechende Urteil, mit dem das oberste Gericht (entgegen der erheblichen Zweifel, die drei Jahre zuvor ein anderer BGH-Strafsenat angemeldet hatte) die Existenz eines Züchtigungsrechts von Lehrern klar bejahte, verdeutlicht bereits, dass ab Mitte der 1950er Jahre die Verteidiger körperlicher Strafen in den Debatten klar dominant wurden. Dies lässt sich beispielhaft auch an der Tatsache ablesen, dass nun erstmals innerhalb des hessischen Kultusministeriums ernsthaft eine Aufhebung des Züchtigungsverbots in Erwägung gezogen wurde, und dass auch diejenigen Lehrergewerkschaften, die zuvor einem Verbot gegenüber offen gewesen waren, dies nun klar ablehnten.39 Ein wichtiger Grund für diese Verschiebung des Diskurses war das nun stark intensivierte Gefühl der Bedrohung durch »Roheit, Brutalität, Unordnung, Zerstörungswut« der jugendlichen Generation. Mit den zitierten Worten beschrieb der Lehrer Paul Diwo 1956 die laut ihm herrschende »Straßendiktatur der Halbstarken«.40 Diese »Halbstarken«, die jetzt die öffentliche Wahrnehmung der heranwachsenden Generation prägten, zeichneten sich durch eine Vorliebe für Lederjacken, Mopeds, amerikanische Filme und Rock ’n’ Roll sowie durch demonstrativ unhöfliches, provozierendes Verhalten gegenüber Älteren aus. Sie waren zudem verantwortlich für eine 1956/57 ihren Höhepunkt erreichende Welle von Krawallen, bei denen in verschiedenen Städten Jugendliche randalierten, Straßen und Kreuzungen blockierten und sich Schlägereien mit der Polizei lieferten.41 In den Diskussionen über die ›Halbstarken‹ zeigt sich wieder das schon für die 1920er Jahre beobachtete Phänomen, dass das Verhalten älterer, nicht mehr schulpflichtiger Jugendlicher mit der Frage der schulischen Strafen verknüpft

38 BGH, 2. Strafsenat: Urteil vom 23. 10. 1957, in: BGHSt, Bd. 11, S. 241–263, Zitat S. 249. Die Position, dass Schläge in der Schule gegen Artikel 2 des Grundgesetzes verstießen, setzte sich erst im Laufe der 1970er Jahre in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung durch. 39 Zum ersten Aspekt vgl. Sarina Hoff: Vom Ende der »Prügelpädagogen«. Der Weg zur Ächtung von körperlichen Schulstrafen in Hessen und Rheinland-Pfalz 1945–1974, in: Grüner, Raasch: Zucht (Anm. 4), S. 170–193, hier S. 177f. Zum zweiten vgl. die 1957 getroffene Aussage eines Bremer Landesschulrats: »Die Gewerkschaft, die früher gegen die körperliche Züchtigung war, stellt sich jetzt nicht mehr hinter diese Forderung, weil die Situation in der Schule und die Lage der Lehrerschaft sich geändert haben.« (Auszug aus der Niederschrift über die 44. Sitzung des Schulausschusses der Ständigen Konferenz der Kultusminister am 31.01./01. 02. 1957, BayHStA MK 61941). 40 Paul Diwo: Die Diktatur der ›Halbstarken‹, in: Pädagogische Provinz, 1956, Bd. 10, S. 314–318, Zitat S. 314. 41 Vgl. Sebastian Kurme: Halbstarke. Jugendprotest in den 1950er Jahren in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M. 2006, insb. S. 206–224.

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wurde.42 So verwies etwa das Landgericht Braunschweig, das 1957 einen wegen seiner gewaltsamen Strafpraxis angeklagten Lehrer freisprach, als Beleg für die Unverzichtbarkeit des Züchtigungsrechts auf die Jugendkrawalle.43 In dieser Atmosphäre ging, so die Diagnose einer 1956 erschienenen juristischen Dissertation, »[d]ie Volksmeinung […] wohl dahin[…], daß der Lehrer in gewissen Fällen nicht der Waffe der körperlichen Züchtigung beraubt und dadurch der Diktatur von Rowdys und Rüpeln ausgeliefert sein dürfe«.44 Aber körperliche Strafen wurden nicht nur als »Waffe« zur Notwehr gegen »Rowdys« verteidigt, sondern ihnen wurde nun viel offener als im vorigen Jahrzehnt eine echte erzieherische Funktion zugeschrieben. Das Braunschweiger Landgericht etwa konstatierte nicht nur, dass bei Kindern, »denen die väterliche Hand bei der Erziehung gefehlt hat, […] die Gefahr des späteren Abgleitens um so größer« sei, wenn sie »auch in der Schule keine straffe Führung kennenlernen«. Es stellte deshalb sogar die Überlegung in den Raum, ob es bei Verfahren gegen Jugendliche nicht strafmildernd zu berücksichtigen sei, wenn diese »im Schulunterricht keine straffe Erziehung, die erforderlichenfalls auch eine körperliche Züchtigung umfaßt, erfahren dürfen«.45 Etwas weniger offensiv formuliert wurden ähnliche Gedanke nun auch in der Lehrerverbandspresse geäußert: So gab etwa ein Artikel zu bedenken, viele Eltern hätten »ein tiefes Empfinden […], als wäre die Jugend heute zu locker gehalten, und als würde ihr dies nicht zum Segen gereichen. Auch sie wünschen sich an sich keine körperliche Züchtigung aber doch lieber diese als eine Verwahrlosung der Jugend ohne sie.«46 Die hier aufgestellte Alternative von Züchtigungsrecht oder »Verwahrlosung der Jugend« erinnert an die Warnungen der 1920er Jahre vor einem ohne körperliche Strafen »unvermeidlich[en]« Rückschritt. Es könnten noch viele weitere Beispiele angeführt werden, die zeigen, wie viel offensiver nun für das Züchtigungsrecht eingetreten wurde. Doch was genau schien an der Generation der ›Halbstarken‹ so bedrohlich, dass es die Debatte um Körperstrafen so stark beeinflussen konnte? Auf den ersten Blick war es eine (vermeintlich) gesteigerte Gewaltbereitschaft, wenn etwa die Hessische Lehrer42 Jürgen Zinnecker geht auf Grundlage zeitgenössischer Studien davon aus, dass ca. fünf Sechstel der an Krawallen Beteiligten zwischen 16 und 19 Jahre alt waren und dass (auch höhere) Schüler wenn überhaupt höchstens als Zuschauer beteiligt waren. Vgl. Jürgen Zinnecker: »Halbstarke« – die andere Seite der 68er-Generation, in: Ulrich Herrmann (Hg.): Protestierende Jugend. Jugendopposition und politischer Protest in der deutschen Nachkriegsgeschichte, Weinheim 2002, S. 461–485, hier S. 469. 43 LG Braunschweig, Urteil v. 12. 02. 1957, Az. 14 KMS 4/56 [auszugsweise], in: Wirtschaft und Recht (Beilage zur Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung), 1957, Jg. 7, S. 26–28, hier S. 28. 44 Paul Kaiser: Das Züchtigungsrecht des Volksschullehrers, Diss., Tübingen 1956, S. 227. 45 LG Braunschweig, Urteil v. 12. 02. 1957 (Anm. 43), S. 27. 46 L. Auerhahn: Ende der körperlichen Züchtigung in der Schule, in: Bayerische Schule, 1955, Jg. 8, S. 253–255, hier S. 254.

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zeitung erklärte, Lehrer staunten »über Roheitsdelikte Jugendlicher. Sie sind erschüttert darüber, daß selbst schulpflichtige Kinder Raubüberfälle und sogar Mordtaten begehen.«47 Diese Wahrnehmung hatte einen gewissen realen Kern in Form von steigender Jugendkriminalität oder eben den »Halbstarken«-Krawallen – auch wenn deren Dimensionen wohl in Wahrheit weniger bedrohlich waren, als sie die damalige Berichterstattung erscheinen ließ.48 Auch im Schulalltag dürfte das zu den entsprechenden Klagen führende Verhalten auch Gewalt, etwa in Form von Prügeleien mit Mitschülern, umfasst haben, wobei aber sehr fraglich ist, ob diese wirklich in stärkerem Maß als zu anderen Zeiten vorkam. Die durch Anklagen wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts aktenkundig geworden Einzelfälle deuten jedenfalls darauf hin, dass es in den meisten Fällen eben nicht »Rohheit« war, die durch körperliche Strafen geahndet wurde, sondern häufiger Unaufmerksamkeit im Unterricht oder das Missachten von Anweisungen.49 Doch obwohl es zumindest einzelne Indizien gab, die sich als Zeichen einer höheren Gewaltbereitschaft Jugendlicher deuten ließen, und obwohl »Rohheit« und »Brutalität« in der Liste der Klagen über die »Halbstarken« regelmäßig auftauchten, zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass diese aus Sicht der Körperstrafen-Befürworter nicht das hauptsächliche Problem waren. Denn deutlich häufiger als von Gewalt im engeren Sinn war von »Disziplinlosigkeit und Frechheit«, fehlender »Achtung und Ehrfurcht« oder von einem »unglaubliche[n] Autoritätsschwund der Erwachsenen« die Rede.50 Selbst als eine junge Lehrerin die Situation an den Volksschulen mit dem US-amerikanischen Film Saat der Gewalt verglich, der bis hin zur Messerattacke reichende Konflikte zwischen einem Lehrer und Schülerbanden an einer High School schildert, sah sie die Parallelen in der »Ungeformtheit, Eigenwilligkeit und teils erschütternde[n] Achtungslosigkeit des kindlichen Verhaltens gegenüber den Klassenka47 R. Andreas: Ist die Schulzucht mit den heutigen Mitteln wirklich aufrechtzuerhalten?, in: Hessische Lehrerzeitung, 1955, Jg. 8, S. 305–307, hier S. 305. 48 Dies betont Detlef Siegfried: Vom Teenager zur Pop-Revolution. Politisierungstendenzen in der west-deutschen Jugendbewegung 1959 bis 1968, in: Axel Schildt, Detlef Siegfried, Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2003, S. 582–623, S. 583. 49 Beispielsweise enthält eine kriminologische Dissertation aus dem Jahr 1961, die 70 Anklagen wegen Überschreitung des Züchtigungsrechts auswertete, auch einzelne Fälle, bei denen körperliche Gewalt gegen Mitschüler oder in einem Fall das Abfeuern einer Schreckschusspistole im Unterricht zur Bestrafung geführt hatte. Deutlich häufigere Anlässe waren aber Unterrichtsstörungen (allein 20 Fälle), nicht erledigte Hausaufgaben, das Ignorieren von Anweisungen usw. Vgl. Peter Leifert: Das Züchtigungsrecht des Lehrers. Zugleich eine kriminologische Untersuchung, Münster 1961. 50 In Reihenfolge der Zitate: H. Pletz: Zur Frage der körperlichen Züchtigung. Analyse einer Umfrage der Pädagogischen Arbeitsstäte Augsburg, in: Bayerische Schule, 1955, Jg. 8,, S. 394– 397; E. Schwiethal: Ein offenes Wort, in: Hessische Lehrerzeitung, 1955, Jg. 8, S. 374–376; Heinrich Roth: Autoritär oder demokratisch erziehen? Stuttgart 1955, S. 8f.

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meraden und vor allem gegenüber dem Lehrer.« Gemäß der Wortwahl war das Besorgniserregende also nicht etwa eine besondere Intensität oder Häufigkeit körperlicher Übergriffe (wofür zumindest der Film genügend Beispiele geboten hätte), sondern das Missachten von Regeln und Anweisungen und mangelnder Respekt zwar auch gegenüber Mitschülern, bezeichnenderweise aber »vor allem« gegenüber den hierarchisch höhergestellten Lehrern. Gleichzeitig suggerierte der Vergleich mit dem Film, dass diese Phänomene gewissermaßen die Vorstufe oder Ursache der dort gezeigten körperlichen Gewalt seien. Tatsächlich war die Vorstellung, dass problematisches Verhalten Jugendlicher durch fehlende Anerkennung von Autoritäten verursacht sei, weit verbreitet. Dies verdeutlicht beispielhaft ein Bericht der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung von 1956 über einen Vortrag des Kieler Strafrechtsprofessors Hellmuth Mayer, der die Jugendkriminalität darauf zurückführte, dass »die Jugend im allgemeinen nicht schlechter sei« als früher, aber »die Autorität der Erwachsenen herausfordern« wolle – und der zur Abwehr dieses Angriffs auf die Autorität »ein ausreichendes Züchtigungsrecht von Lehrern und Erziehern« forderte.

Bilanz und Ausblick: Gewalt und Autorität Insgesamt gilt also sowohl für die Zeit nach dem Ersten wie für die nach dem Zweiten Weltkrieg, dass das, was an der heranwachsenden Generation als bedrohlich empfunden wurde und vermeintlich nur mit Rückgriff auf Erziehungsgewalt zu bekämpfen sei, nicht in erster Linie eine (vermeintliche oder reale) außergewöhnliche Gewaltbereitschaft war. Auch wenn über »Rohheit« und »Brutalität« geklagt wurde, erschienen diese oft eher als Symptom denn als Kern des Problems – und dieses Kernproblem war die Furcht vor einem Verlust der Kontrolle über die die traditionelle Autoritäten (vermeintlich) infrage stellende Jugend. Hierin könnte auch ein Schlüssel zur Beantwortung der Frage liegen, warum die Mitte der 1950er Jahre noch so wirkmächtige Vorstellung, dass jugendlicher »Verwilderung« ohne körperliche Strafen nicht begegnet werden könne, knapp 20 Jahre später vollständig verschwunden war: Diese wäre dann sowohl in einer verstärkten Sensibilisierung für Gewalt als auch in einem veränderten Verständnis von Autorität zu suchen. Wie geschildert, versuchten die Befürworter körperlicher Strafen zu allen Zeiten, diese sowohl sprachlich als auch durch die Abgrenzung von routinemäßigem »Prügeln« aus dem Kontext der »Gewalt« hinauszurücken. Trotz dieser Kontinuität lässt sich aber in den Debatten zum Thema deutlich beobachten, wie die Definition dessen, was als problematische Gewalt galt, tendenziell immer weiter wurde, und wie der Stellenwert des (von Anfang an geäußerten) Argu-

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ments, Schläge in der Schulerziehung seien schon allein wegen ihres Gewaltcharakters abzulehnen, wuchs. Dies war ein langfristiger Prozess, der allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Abgrenzung vom Nationalsozialismus eine erste Beschleunigung erlebte. Eine zweite, entscheidende Verstärkung dieser Tendenz sollte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre folgen, als zwei Entwicklungen das Reden über Erziehungsgewalt grundlegend veränderten: Zum einen intensivierten sich erneut in der nun verstärkten Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus die Forderungen nach einem absoluten Gewaltverzicht als Erziehungsziel und -mittel – bis hin zu dem von Theodor W. Adorno ausgegebenen Ziel, »daß die Menschen durch das Erziehungssystem zunächst einmal alle mit dem Abscheu vor der physischen Gewalt durchtränkt werden«.51 Gleichzeitig thematisierten nun Kinderärzte, Juristen und Psychologen verstärkt Gewalt in der Familie und stellten dabei die traditionelle Grenzziehung zwischen legitimer Züchtigung und brutalem Prügeln infrage.52 Hinzu kam eine Ausweitung des Gewaltbegriffs, der nun zunehmend auch nicht-körperliche Gewalt umfasste. Wie weit das Gewaltverständnis nun reichen konnte, zeigt beispielhaft ein von Ärzten, Lehrern, Psychologen, Soziologen, Studenten und Eltern besuchtes Seminar der Universität Wien 1977, dessen Teilnehmer als konkrete Formen körperlicher Gewalt an Schulen auch den bis dahin kaum in diesem Zusammenhang gesehenen »allgemeinen schulischen Ordnungsrahmen (etwa stundenlang ruhig sitzen; reglementierte Klo- und Eßpausen usw.)« beschrieben.53 Der Einfluss all dieser Entwicklungen auf die Diskussion um Schulstrafen lässt sich in einem Beispiel zusammenfassen: 1947 hatten bayerische Schulräte die Verwendung des Worts »Prügelstrafe« als »nicht objektiv« kritisiert, denn es »erweckt die Vorstellung von Brutalität, stellt die Sachlage verzerrt dar und wirkt verletzend«.54 Während es hier also den Schulräten noch als »verzerrt« erschien, körperliche Schulstrafen als brutal zu beschreiben, war es 1970 dagegen der bayerische Lehrerverband selbst, der körperliche Strafen als »brachiale Gewalt« bezeichnete, die aus der Schule ausgeschlossen sein sollte.55 Die gestiegene Sensibilisierung für Gewalt war ein Grund, warum um 1970 körperliche Schulstrafen in öffentlichen Debatten nur noch sehr schwer ge51 Theodor W. Adorno, Hellmut Becker: Erziehung zur Entbarbarisierung, in: Gerd Kadelbach (Hg.): Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 1970, S. 126–139, Zitat S. 163. 52 Christopher Neumaier (Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken, Berlin/Boston 2019, S. 409f.) spricht von einer »Entdeckung der Gewalt in der Familie«. Vgl. auch: Grüner: Gewalt (Anm. 4). 53 Protokoll des Seminars zitiert nach Günter Pernhaupt, Hans Czermak: Die gesunde Ohrfeige macht krank. Über die alltägliche Gewalt im Umgang mit Kindern, Wien 1980, S. 73. 54 Regierung Ansbach (Anm. 33). 55 Heinz-Jürgen Ipfling, Friedrich Lehmann: »Strafen in der Schule« (Hg.: Bayerischer Lehrerund Lehrerinnenverband) 1970, BHStAM, BLLV 1435, S. 22.

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rechtfertigt werden konnten. Sie bedeutete zudem, dass es nicht nur bezüglich der Lösungen, sondern auch bezüglich der Wahrnehmung des Problems wichtige Unterschiede gab, als in der Mitte der 1970er Jahre erneut über eine (vermeintlich) besonders problematische, gewalttätige Schuljugend diskutiert wurde – dieses Mal aber ohne dabei strengere Strafmittel als Reaktion zu erwägen: Während für die älteren Debatten, wie gezeigt, Gewalt an sich nicht als das eigentliche Hauptproblem erschienen war, stand sie nun explizit im Mittelpunkt der Diskussion – und zwar gerade auch die Gewalt zwischen Schülern, die in den vor allem auf Macht- und Autoritätsverhältnisse abzielenden Klagen über »Verwilderung« der 1920er und 1950er Jahre eine untergeordnete Rolle gespielt hatte.56 Die Annahme liegt sogar nahe, dass es gerade die gestiegene Sensibilität für Gewalt war, die die Debatten überhaupt ausgelöst hatte, und weniger eine starke tatsächliche Veränderung des Schülerverhaltens.57 Damit gewann auch das traditionsreiche Argument, dass von Kindern erlebte Gewalt gerade erst Gewalttätigkeit auslöse bzw. verstärke, an Relevanz.58 Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, musste problematischer erscheinen, als eine von der jungen Generation bedrohte Autorität mit Gewaltandrohung zu verteidigen. Dass in den älteren Debatten die Furcht vor Autoritätsverlust eine wichtigere Rolle spielte als die Sorge um jugendliche Gewalttätigkeit, führt zum zweiten entscheidenden Grund für das Verschwinden körperlicher Strafen aus dem Spektrum möglicher Reaktionen auf eine problematische Jugend: In den gesamten Diskussionen um das Züchtigungsrecht seit dem 19. Jahrhundert und noch in den »Halbstarken«-Debatten der 1950er Jahre war die Warnung, Lehrer würden ihre Autorität gegenüber den Schülern einbüßen, wenn ihnen Schläge als letztes Mittel zum Durchsetzen von Anweisungen nicht mehr zur Verfügung standen, das wohl am häufigsten vorgebrachte Argument der Befürworter gewesen. Die Vorstellung, dass Autorität im unbedingten Durchsetzen auch gegen den Willen des Schülers bestehe und somit in letzter Instanz auch auf Zwang beruhen konnte, wurde zwar selten offen formuliert, war aber offenbar bis in die 1960er Jahre hinein weit verbreitet und prägend. Zwar hatte die Kritik an diesem Autoritätsbegriff, die ihm eine »wirkliche[n] Autorität […], die von innen heraus 56 Vgl. Kössler: Brutalisierung (Anm. 3), S. 228. 57 Vgl. Levsen: Autorität (Anm. 35), S. 527. 58 Schon 1869 hatte ein Gegner der Prügelstrafe gewarnt, eine auf Schläge zurückgreifende Schule erziehe »die Jugend durch ihren Vorgang zur Gewaltthätigkeit« (C. Klett: Der Lehrer ohne Stock. Gegen die körperliche Strafe in der Schule, Stuttgart 1869, S. 11). Mit der Rezeption von Psychologie und Psychoanalyse hatte dieses Argument weiteres Gewicht bekommen, und nach 1945 brachte es beispielsweise Heinrich Meng in die Debatte ein, indem er auf ein Freud-Zitat verwies: »›Was man passiv erlebt, ist man bestrebt, aktiv auszuleben.‹ Diese Einsicht erhöht unser Verständnis für [… ] die verrohende Wirkung der Prügelstrafe.« (Heinrich Meng: Zwang und Freiheit in der Erziehung. Erziehen, Strafen, Reifenlassen, Bern 1945, S. 39f.).

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kommen muß«59 gegenüberstellte, eine mindestens bis in die 1920er Jahre zurückreichende Tradition und gewann nach 1945 mit der Abgrenzung von »Untertanengeist« und »Knechtsgesinnung« weiter an Bedeutung. Doch erst im Zuge der von der Kritischen Theorie und »1968« beeinflussten intensiven gesellschaftlichen und pädagogischen Diskussion über »Autorität« der späten 1960er und frühen 1970er Jahre verlor das ältere, nun als »autoritär« zurückgewiesene Begriffsverständnis seine Legitimität.60 Indem die Vorstellung einer auf Macht und Zwang gestützten Autorität von Lehrkräften nicht mehr öffentlich zu vertreten war, konnte sie auch nicht mehr zur Legitimation körperlicher Strafen in der Schule herangezogen werden. Dies dürfte neben eher langfristigen Entwicklungen wie der wachsenden Sensibilisierung für Gewalt die entscheidende Ursache sein, warum sich ausgerechnet um 1970 die Ablehnung körperlicher Schulstrafen endgültig durchsetzen konnte: Ab 1969 erließen innerhalb von zwei Jahren alle Bundesländer Verbote körperlicher Strafen, und im Lauf der 1970er Jahre gab auch die Rechtsprechung die Vorstellung auf, dass Lehrern und Heimerziehern ein Züchtigungsrecht zustehen könne. Anders als die Verbote im Sachsen der 1920er Jahre und in Hessen nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Abschaffung in Öffentlichkeit und Lehrerschaft kaum umstritten (und somit mit etwas Verzögerung auch in der Praxis nachhaltig erfolgreich), da sie auf einem grundlegenden Wandel in den öffentlichen Debatten beruhte. Zwar mag die Vorstellung einer besonders problematischen, gewaltbereiten ›Jugend von heute‹ immer wieder neue Konjunkturen erleben. Doch darauf mit körperlicher Gewalt in der Erziehung zu reagieren, war und ist seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik aus dem Spektrum des öffentlich Sagbaren verschwunden.

59 Abg. Käfer, Bayerischer Landtag (Anm. 22). 60 Zum Verständnis von Autorität in der Kritischen Theorie und zu den Geschlechterdimensionen des Begriffes vgl. Meike Sophia Baader: Autorität, antiautoritäre Kritik und Autorisierung im Spannungsfeld von Politik, Erziehung und Geschlecht, in: Hilge Landweer, Catherine Newmark (Hg.): Wie männlich ist Autorität? Feministische Kritik und Aneignung, Frankfurt a. M. / New York 2018, S. 87–124. Vgl. außerdem Levsen: Autorität (Anm. 35).

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»Keile fehlt euch« – Gewalt im Medienverbund Revolte im Erziehungshaus von Peter Martin Lampel

Der Stoff für das Drama Revolte im Erziehungshaus (1929)1 von Peter Martin Lampel (1894–1965), eines der bekanntesten Bühnenstücke der Weimarer Republik, entstammt handgeschriebenen Lebensläufen sog. männlicher Fürsorgezöglinge, die zu Beginn des Jahres 1928 verfasst wurden, und persönlichen Erfahrungsberichten des Autors als Hospitant in einem sog. Fürsorgeheim im selben Zeitraum. Die Aufführungen ab Dezember 1928 in Berlin lösten eine landesweite Debatte über die Reform des damaligen, schon seit Beginn der 1920er Jahre verstärkt in der Diskussion stehenden Fürsorgewesens aus und machten Lampel, der seit etlichen Jahren als Schriftsteller, Maler und Journalist für verschiedene Zeitungen tätig war, über Nacht berühmt.2 Seit Langem ist sein Name aber nur noch in Fachkreisen bekannt, die sich aus historischer, pädagogischer oder literaturwissenschaftlicher Sicht mit seiner realistischen Erzählprosa oder insbesondere seinen Zeitstücken beschäftigen, in denen es um Jugendprobleme geht.3 Nicht nur das Werk von Lampel wurde vor knapp 100 Jahren sehr kontrovers beurteilt, sondern auch er als Person, weil er politisch nicht eindeutig zu verorten war und ist. Noch heute gilt der Sohn einer protes1 Peter Martin Lampel: Revolte im Erziehungshaus. Schauspiel der Gegenwart in drei Akten, Berlin 1929. 2 Vgl. Martin Lücke: Wechselhafte Geschichte und kohärentes Leben. Autobiografische Texte von Peter Martin Lampel (1894–1965), in: Michael Sauer u. a. (Hg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 8), Göttingen 2014, S. 77–86, hier S. 81. Zur Entwicklung der Fürsorgeerziehung in der Weimarer Republik: Detlev J. K. Peukert: Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge 1878 bis 1932, Köln 1986; Markus Gräser: Der blockierte Wohlfahrtsstaat. Unterschichtsjugend und Jugendfürsorge in der Weimarer Republik, Göttingen 1995; Edward Ross Dickinson: ›Until the stubborn will is broken‹. Crisis and reform in Prussian reformatory education, 1900–34, in: European History Quarterly, 2002, Jg. 32, S. 161–206. 3 Vgl. u. a. Günter Rinke: Sozialer Radikalismus und bündische Utopie. Der Fall Peter Martin Lampel (Hamburger Beiträge zur Germanistik 31), Frankfurt a. M. u. a. 2000 sowie Friedrich Kröhnke: Jungen in schlechter Gesellschaft. Zum Bild des Jugendlichen in deutscher Literatur 1900–1933, Bonn 1981.

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tantischen Pfarrersfamilie, der freiwillig in den Ersten Weltkrieg zog, sich danach einem Freikorps anschloss, an einem Fememord beteiligt war und verschiedene Fächer ohne Abschluss studierte,4 als »Autor zwischen den politischen Extremen«5: Er war dem Militär zugewandt, 1922 und 1933 trat er in die NSDAP ein, ebenso war er SA-Mitglied. Die Nähe zur bündischen Jugend überrascht angesichts seiner Zugehörigkeit zu einem Freikorps nicht, doch lässt sich auch eine Nähe zur politischen Linken konstatieren. Die Parteizugehörigkeit verhinderte allerdings nicht die Aufnahme seiner Bücher und Stücke in nationalsozialistische Verbotslisten. Nachdem er 1935 wegen homosexueller Betätigung zu einer mehrwöchigen Haftstrafe verurteilt worden war, verließ er Deutschland 1936 zunächst in Richtung Schweiz; das Exil führte ihn u. a. auf den Balkan, nach Asien, Ägypten, Australien und schließlich in die USA. 1949 kehrte er nach Hamburg zurück, wo er 1965 starb.6 Ein Jahr zuvor, anlässlich seines 70. Geburtstags, überreichte man dem fast vergessenen Lampel als Mitglied der Akademie der Künste in Hamburg eine Festschrift, in der ihn Weggefährten wie der Berliner Theaterkritiker Herbert Ihrering als »Widerstandskämpfer gegen den Konformismus«7 bezeichneten. Lampels Revolte im Erziehungshaus ist wie eingangs angemerkt ein sehr bedeutendes Theaterstück der Weimarer Republik. Wie in zahlreichen ab etwa 1900 erschienenen Romanen und Dramen – man denke z. B. an Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891) oder Emil Strauß’ Freund Hein (1902) – geht es um das Leiden der Jugend an den staatlichen und familialen Erziehungsinstanzen und damit ihren zumeist männlichen Repräsentanten. Während aber in jenen inzwischen kanonisierten Texten männliche Jugendliche aus dem bürgerlichen Milieu im Mittelpunkt stehen, sind es bei Lampel ausschließlich Jungen aus prekären Verhältnissen, die in der Regel seit frühester Kindheit in und an ihrer Familie leiden, oft auch an Gewalt, der sie dann in der Zwangserziehung im Fürsorgeheim weiter ausgesetzt sind.8 Um diesen Stoff hat sich schnell ein Me4 Vgl. Christoph Hamann: Revolte im Erziehungshaus. Peter Martin Lampel und die Erziehungsanstalt Struveshof, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin, 2013, S. 133–183, hier S. 142. 5 Vgl. Rinke: Radikalismus (Anm. 3), S. 243. Den ausführlichen Lebenslauf, den Lampel 1933 für die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer verfasste, bezeichnet Bialek als »Beichte eines ideologisch Irrenden, der jedoch die Richtigkeit seiner früheren politischen Entscheidungen nicht in Frage stellen will.« S. Edward Bialek: »Ein Nationalsozialist des Herzens«. Peter Martin Lampels Aufstieg und Fall im Dritten Reich in Selbstzeugnissen und Dokumenten, in: Włodzimierz Bialik, Czesław Karolak, Maria Wojtczak (Hg.): Ungeduld der Erkenntnis – Eine klischeewidrige Festschrift für Hubert Orłowski, Frankfurt a. M. 2014, S. 21–30. 6 Vgl. Hamann: Revolte (Anm. 4), S. 143f. 7 Herbert Ihering: Widerstandskämpfer gegen den Konformismus, in: Rolf Italiaander (Hg.): Peter Martin Lampel. Mit Bibliographie und Foto, Hamburg 1964, S. 6–8, hier S. 6. 8 Ein recht unbekannter Roman, der von einer Clique jugendlicher Obdachloser in Berlin Anfang 1930 erzählt, die entweder Waise sind, die Familie verließen oder aus der Fürsorge flohen

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dienverbund entwickelt, der im Hinblick auf die fachwissenschaftliche Rezeption bis in die Gegenwart reicht. Ein erster größerer Hotspot eines Medienverbunds entstand in den Jahren 1928 bis 1930, als die Lebensläufe zunächst in Buchform veröffentlicht, später dramatisiert und auf die Bühne gebracht wurden, was viel Aufsehen erregte und auch zur Produktion eines Stummfilms führte. Ein weiterer Hotspot ist in den 1970er-Jahren zu verzeichnen, denn mehrere Theater brachten das Stück auf die Bühne und das ZDF produzierte ein Fernsehspiel. Zur Beschreibung des Medienverbunds wird auf Schmidts Medienkompaktmodell zurückgegriffen, das u. a. die vier interagierenden Handlungsbereiche Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung unterscheidet.9 Unter Verarbeitung versteht Schmidt »alle Prozesse, in denen Medienangebote zum Gegenstand neuer Medienangebote gemacht werden«,10 wozu sowohl die vielfältigen Formen der Medienkritik (Rezensionen, Empfehlungen etc.) gehören als auch alle Formen des sogenannten Medienwechsels bzw. der »intermedialen Transposition«11, so ein inzwischen gängigerer Terminus. Der Schwerpunkt liegt im Folgenden auf einem Vergleich der intermedialen Transpositionen, soweit diese noch zugänglich sind, verbunden mit der Frage, ob und inwiefern diese jeweils die unterschiedlichen Dimensionen von Gewalt thematisieren. Zurückgegriffen wird dabei auf die Überlegungen von Baader, die das sog. Rad der Gewalt nach Maschersky-Schneider u. a. erweitert, indem sie der physischen, psychischen, sozialen, ökonomischen und sexuellen Gewalt u. a. verbale Gewalt nach Butler hinzufügt, die allesamt Macht und Kontrolle bedeuten.12

Von Lebensläufen und Erfahrungsberichten zum Buch Jungen in Not (1928) Im Februar und März 1928 verfassten 36 männliche Heranwachsende aus der Berliner Landeserziehungsanstalt Struveshof auf Initiative von Lampel, der sich hier ab Januar 1928 einige Wochen als Hospitant aufhielt, handschriftlich Le-

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und ihren Lebensunterhalt mit kleinen Diebstählen, Gelegenheitsjobs sowie Prostitution bestreiten, ist Ernst Haffners Buch: Blutsbrüder. Ein Berliner Cliquenroman. Frankfurt a. M. u. a. 2013 [1932 u. d. T.: Jugend auf der Landstraße Berlin, Berlin]. Vgl. Siegried J. Schmidt: Der Medienkompaktbegriff, in: Stefan Münker, Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium? Frankfurt a. M. 2008, S. 144–157. Ebd., S. 148. Werner Wolf: Das Feld der Intermedialität im Überblick, in: Klaus Maiwald (Hg.): Intermedialität. Formen – Diskurse – Didaktik, Baltmannsweiler 2019, S. 23–48, hier S. 31. Meike Sophia Baader: History and gender matters. Erziehung – Gewalt – Sexualität in der Moderne in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Claudia Mahs, Barbara Rendtorff, Thomas Viola Rieske (Hg.): Erziehung, Gewalt, Sexualität. Zum Verhältnis von Geschlecht und Gewalt in Erziehung und Bildung, Opladen u. a. 2016, S. 13–36, hier S. 29f.

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bensläufe, Berichte und einige andere Texte, die Geschichte schreiben sollten.13 Mit der quellenkritischen Edition dieses Materials von Martin Lücke und seinem Team14 liegt erstmals die personelle Identität der Jungen vor, sodass diese als autobiografische Autoren15 greifbar sind, wie auch deren ursprüngliche Schreibweise. Es wurden außerdem fehlende Textstellen in der Transposition von Lampel rekonstruiert wie auch Überarbeitungen sichtbar gemacht.16 Eine Antwort auf die Frage, weshalb Lampel sich in diese Erziehungsanstalt begab, die damals als reformpädagogische und damit fortschrittliche Institution in der Fürsorgeerziehung galt,17 findet sich in der unveröffentlichten Autobiografie aus dem Jahre 1935. Hier heißt es, er gehörte damals »zu den Menschen, die in Not« waren, weshalb er sich zu den »Bekümmertsten unter ihnen« begeben wollte, mit denen er »immer wieder« gesprochen habe.18 Eine Rolle dürfte aber auch gespielt haben, dass Lampel als Journalist und aufmerksamer Beobachter seiner Zeit 1927 die fünfteilige Reportage kannte, die ein Kollege geschrieben hatte, der als Zögling getarnt in Struveshof war; zudem wurde in jener Zeit immer wieder über Kriminalfälle berichtet, in die Jungen aus Heimen verwickelt waren.19 Die Texte der Jungen geben mit ihren stilistischen und orthografischen Fehlern zu erkennen, dass es sich um ungeübte Schreiber handelt. Sie folgen aber in 13 Der genaue Schreibanlass ist unklar. Es ist anzunehmen, dass den Jungen gesagt wurde, die Texte würden in der hauseigenen Zeitschrift Der Sämann erscheinen, denn sieben erschienen in der Osterausgabe 1928, die Lampel redigierte, wie er in Jungen in Not schreibt. Vgl. Peter Martin Lampel (Hg.): Jungen in Not. Berichte von Fürsorgezöglingen, Berlin 1928, S. 31. Vgl. zum ungeklärten Schreibanlass Nora Bischoff, Martin Lücke: »Da sehen Sie schon, daß es mit der Großen Freiheit nicht weit her ist« – Das Berliner Landerziehungsheim Struveshof in den 1920er-Jahren aus der Perspektive der Zöglinge, in: Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) (Hg.): Erziehen und Bilden. Der Bildungsstandort Struveshof 1917–2017, Ludwigsfelde 2017, S. 35–57, hier S. 45. 14 Werkstatt Alltagsgeschichte (Hg.): »Du Mörder meiner Jugend«. Edition von Aufsätzen männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik, Münster 2011. 15 Zur Diskussion der Gattungsfrage, ob Selbstzeugnis oder Ego-Dokument, vgl. Nora Bischoff, Martin Lücke: Die Aufsätze der Jungen aus Struveshof: Selbstzeugnisse, Ego-Dokumente und das Problem der Authentizität, in: Werkstatt Alltagsgeschichte: Mörder (Anm. 14), S. 20–31. Unabhängig davon sind autobiografische wie auch biografische Texte bekanntermaßen immer Konstruktionen von Wirklichkeit. 16 Vgl. Martin Lücke: Aufsätze männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik. Eine Einführung, in: Werkstatt Alltagsgeschichte: Mörder (Anm. 14), S. 11–16, hier S. 14. 17 Vgl. Werkstatt Alltagsgeschichte: Mörder (Anm. 14), S. 34ff. und Hamann: Revolte (Anm. 4), S. 152ff. Zur Semantik der Bilder von Struveshof (Fotos, Postkarten etc.) vgl. Christoph Hamann: Jungen in Not? Zur Visualisierung der Fürsorgeerziehung vor 1933. Das Beispiel Struveshof, in: Barbara Stambolis, Markus Köster (Hg.): Jugend im Fokus von Film und Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 12), Göttingen 2016, S. 115–139. 18 Jutta Blank: Peter Martin Lampel. Eine literaturhistorische Biographie 1894–1933 (schriftliche Hausarbeit), Bochum 1987, S. 49. 19 Vgl. Bischoff, Lücke: Freiheit (Anm. 13), S. 44.

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vielen Fällen einer spezifischen formalen Struktur, wie es den Schreibkonventionen des Lebenslaufs entspricht. Darüber hinaus lässt der Textinhalt vermuten, dass es drei Schreibaufträge gegeben haben könnte: »Schildere deinen Lebenslauf! Schildere ein Erlebnis aus deinem Leben! Erzähle etwas aus deiner Zeit in Struveshof bzw. in anderen Anstalten!«20 Das Sachregister der kritischen Edition vermittelt einen Eindruck der vielfältigen Themen und Aspekte, über die die Jungen sich äußerten. Unter dem Eintrag Gewalt finden sich überwiegend Stichworte wie Ohrfeige, Schläge oder Stockhiebe, die auf physische Gewalt schließen lassen, aber auch auf vergewaltigen wird verwiesen, wobei es sich um Sodomie handelt, die zwei Jungen miterleben mussten. Betrachtet man zunächst nur jene Äußerungen, die sich auf die Familie beziehen, so ist festzustellen, dass die Jungen oft früh Waise oder Halbwaise wurden, manchmal ihre Kindheit schon als Säugling in Waisenheimen oder Pflegefamilien verbrachten. Schwierige finanzielle Situationen von Müttern trieben sie bisweilen in die Kriminalität, sie schwänzten die Schule, landeten in Fürsorgeanstalten. Schläge – bevorzugt mit Hand oder Gegenständen an den Kopf, vor der sie alle Angst hatten und deshalb vereinzelt erst gar nicht nach Hause gingen – teilten Väter, Mütter und Stiefmütter gleichermaßen aus. Hatte das Jugendamt einen Vormund eingesetzt, untersagte dieser gern ein Treffen am Wochenende mit Geschwistern (soziale Gewalt). Ein Junge beklagt sich über diesen Vormund wegen sexuellen Missbrauchs seiner Schwester,21 ein anderer berichtet, im Kinderalter von der Tochter der Pflegefamilie sexuell missbraucht worden zu sein.22 Die oft unzureichenden schulischen Abschlüsse sowie die allgemeine wirtschaftliche Lage ließen in vielen Fällen eine Lehre nicht zu, die Jungen gingen deshalb auf Wanderschaft oder verdingten sich wochenweise, z. B. auf Bauernhöfen, wo sie sich ausgebeutet (ökonomische Gewalt) und missachtet fühlten, weil man sie »wie ein Stück Vie [sic]«23 (verbale Gewalt) anredete. Dass sie in solchen Fällen schnell die Lust an der Arbeit verloren, verwundert nicht. In der Familie wie auch in der Ersatzfamilie und im Erwerbsleben erlebten die Jungen alle Formen von Gewalt, an erster Stelle die physische. Psychische Gewalt in Form emotionaler Schädigung und Verletzung widerfuhr allen, da es ihnen an Liebe, Geborgenheit und Halt mangelte. Die Berichte, die sich auf den Alltag in Struveshof beziehen, konzentrieren sich auf die Schilderung physischer Gewalt, gleichwohl kommen auch die anderen Formen vor. Zu vermuten ist, dass die Jungen sich zum Teil nicht trauten, ihre Erfahrungen ehrlich zu schildern, da sie über eine mögliche Veröffentlichung 20 21 22 23

Werkstatt Alltagsgeschichte: Mörder (Anm. 14), S. 44. Vgl. ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 114. Ebd., S. 76.

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ihrer Aufzeichnungen Bescheid wussten. Durchweg positiv äußert sich ein 15Jähriger: Sie seien nicht von der Außenwelt durch Mauern abgesperrt, sondern »ganz frei«, jeder gehöre einer Familie an, neben Schulunterricht gebe es Werkunterricht, die »Schlafsäle [seien] hell und geräumig«, über das Essen können man nicht klagen etc.24 Darauf nimmt ein 16-Jähriger direkt Bezug, der diesem Bericht entschieden widerspricht und mit den Sätzen schließt: »Das war bloß eine kleine aber gerechte und wahrheits gemäße gegenüber stellungen aber ich neme es den Jungen nicht übel, denn er hat angst das er nicht entlassen werden kann. Davor fürchte ich mich nicht.«25 Andere beschweren sich ebenfalls über schlechte und nicht ausreichende Nahrung, über einen Erzieher, der die Jungen in der Küche mit Wanne und Holzscheiten bewirft, wenn sie sich unterhalten, oder über den Hausvater, der ohrfeigt, wenn er Jungen beim Rauchen ertappt.26 Zwei Jungen schildern zudem sexuelle Gewalt untereinander. Der 16jährige Paul Gröber schreibt: »In den Schlafsälen tut sich Abends allerlei auf, denn _: manche :_ Jungen gehen in ein anderes Bett und dann geht die Knutscherei los und betasten sich gegenseitig rauchen Ziggaretten das soll nun eine erhohlung sein.«27 Noch deutlicher schildert ein 19-Jähriger, wie die abendliche Sexualität von Prostitutionsritualen bestimmt war.28 Der Bericht eines anderen 19-Jährigen gewährt darüber hinaus auf der Basis persönlicher Erfahrungen Einblicke in die Praktiken der Anstalt Rastenburg in Ostpreußen, die unter den Jugendlichen bekannt für ihre brutalen Praktiken war, deshalb sehr gefürchtet und wo, im Unterschied zu Struveshof, auch eine Revolte ausbrach. Martin Borowski schreibt: »Wenn die Erziehungsmaß regeln nicht mehr reichen von den Erziehern so bringen sie die Jungens in die Burg. Die Parole da drinnen ist: ›Kostentziehung, Zelle und Schläge.‹ Jungens die da getürmt sind haben den Hausvater gebeten, und sind auf den Knien gefallen um blos nicht in der Burg z[u] kommen. Aber gerade denn haben sie noch Schläge zubekommen und sind wieder zurück geJagd worden. Ein Erzieher der aus der Burg für Gemeingefährlich entglassen wurde kam bei uns in der Anstalt um dort sein Spiel fortzutreiben. Schwer-kranke Jungens wurden bei 23 Grad Kälte hinaus geschickt zum Arbeiten. Die Jungens machten / dann aus Verzweifelung hungerkuren um blos nachs Krankenhaus zu kommen. Viele Jungens nehmen sich dann aus verzweifelung das Leben z. B. Pulsaderdurchbeißen, Löffelschlucken. Es sind einmal 5 Jungens aus der Anstalt ent-wichen, und haben in den Umliegende Dorfe einen Einbruch verübt um blos ins Gefängnis zu kommen sondern jedoch nicht ins Gefängnis kamen sondern in der Burg. Sie haben es sogar gewagt ein hohen Schnee im hemde zu flüchten.«29 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 276ff. Ebd., S. 282ff. Vgl. ebd., S. 286. Ebd., S. 288. Vgl. ebd., S. 304ff. und Bischoff, Lücke: Freiheit (Anm. 13), S. 51. Werkstatt Alltagsgeschichte: Mörder (Anm. 14), S. 380.

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Abb. 1: Zeichnung von Lampel aus Jungen in Abb. 2: Cover Jungen in Not, Ausgabe 1929 Not, Ausgabe 1928

Noch im selben Jahr publizierte Lampel einen Teil dieser Texte unter dem Titel Jungen in Not (1928).30 Die Einleitung beginnt unter der Überschrift Klipp und klar mit der Feststellung, dass die »bürgerliche Fürsorge […] einer umwälzenden und schleunigsten Veränderung«31 bedürfe. Dem schließt sich die gekürzte, kommentierte sowie sprachlich geglättete Wiedergabe der beiden o.g. widersprüchlichen Berichte von Paul Gröber und Martin Borowski an. Unter der Überschrift Beobachtungen eines Hospitanten folgen auf 35 Seiten Texte von Lampel, in denen er seine persönlichen Erfahrungen mit den Jungen als »Onkel Peter« schildert und die Erziehungseinstellungen sowie -methoden des Personals anprangert. Deutlich wird in diesem Kontext sein Verständnis für die Zöglinge und bedingt für deren Ausübung von Gewalt, wenn er z. B. schreibt, »die Atmosphäre eines vergitterten Hauses« werde immer »voll maßlosen Gereiztseins« 30 Lampel: Jungen (Anm. 13). Die Erstauflage erschien im Berliner Spaeth Verlag 1928 (240 Seiten). Ein Jahr später, also 1929, erschien das Buch im Berliner Verlag Kiepenheuer (208 Seiten), aus dem im Folgenden zitiert wird. Im Vergleich mit der Erstausgabe fehlen die sieben Reproduktionen nach Bildern und Zeichnungen des Herausgebers sowie drei Texte am Ende: Ein Bericht eines 16-Jährigen von seiner Ankunft in der Anstalt Berlinchen und wie es dort zur Revolte kam sowie die »Rede eines sechszehnjährigen Arbeiterjungen, wie er sie gedacht hat, anläßlich einer Matinee in der Piscatorbühne zu halten«, der im Waisenhaus und Erziehungsanstalten aufwuchs. 31 Ebd., S. 9.

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sein,32 während in den Akten der Jungen von »Verdorbenheit« und »Veranlagung« die Rede ist.33 Offen spricht er auch Themen wie Sexualität, brutale Gewalt der Jungen untereinander und die Prügelstrafe in Heimen an. Zur Wiedergabe der Texte der Jungen heißt es: »Ich will ungestutzte Reportage bringen […]. Ich erkläre nachdrücklich und wahrheitsgemäß, daß ich nicht versucht habe, Stil oder Auffassung der Jungen […] zu korrigieren oder überhaupt, etwa moralisierend, zu beeinflussen. Ich habe mich lediglich darauf beschränkt, der Übersichtlichkeit halber die Sätze einzurücken und eine meist nicht diskutable Orthographie zu berücksichtigen, auf jeden Fall peinlich bedacht, nicht bloß die Form, sondern auch vielmehr die Auffassung des jungen Menschen zu erhalten.«34

Der Vergleich der publizierten Texte mit der kritischen Edition zeigt, dass Lampel sich an das beschriebene Vorgehen hielt. Mit einer Ausnahme übernahm er auch alle Lebensläufe der Jungen; außen vor blieb jener, der drastisch auf Sodomie, Onanie, Missbrauch etc. in einer Anstalt eingeht.35 Gleichwohl flossen Ausführungen über Sodomie in das Kapitel über Die geschlechtliche Not ein. Eine nachvollziehbare Auswahl traf er bei den Texten, die in der kritischen Edition unter Struveshof, Erlebnisberichte, Reflexionen etc. subsummiert werden. Festzuhalten ist somit, dass Lampel, der sich als Anwalt der Jungen aus Fürsorgeheimen verstand und ihnen mit der Publikation eine eigene Stimme gab, die Öffentlichkeit über alle Formen von Gewalt informierte, denen diese Jungen in der Familie und der Anstalt ausgesetzt (gewesen) waren. Ebenso deutlich kommt aber auch jene Gewalt zum Ausdruck, die die Jungen selbst ausübten und die Lampel überwiegend auf persönliche Gewalterfahrungen zurückführt. Das mediale Echo auf das Buch Jungen in Not war sehr heterogen. Während z. B. das Landesjugendamt die Jungen in Fürsorgeheimen pathologisierte, indem sie diese als schwachsinnig, psychopathisch und schwer erziehbare Elemente bezeichnete,36 kritisierte Kurt Tucholsky das Buch, weil Lampel auf die Namensnennung von Erziehern und Hausvätern verzichtet hatte, ebenso lehnte er den Abdruck von Portraits der Jungen ab.37 Gleichwohl erschütterten ihn wie auch Erich Mühsam die Berichte zutiefst.38

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Ebd., S. 20. Ebd., S. 34. Ebd., S. 57. Werkstatt Alltagsgeschichte: Mörder (Anm. 14), S. 242ff. Vgl. Bischoff, Lücke: Freiheit (Anm. 13), S. 53. Vgl. Blank: Lampel (Anm. 18), S. 53. Vgl. Hamann: Revolte (Anm. 4), S. 140.

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Revolte im Erziehungshaus – Drama (1928), Aufführung (1928) und ein verschollener Stummfilm (1929/30) Das Drama Revolte im Erziehungshaus39 entstand eher zufällig. Im Juni 1928 musste die Piscator-Bühne am Nollendorfplatz aus finanziellen Gründen schließen, doch eine Gruppe junger Schauspieler*innen um Fritz Genschow40 wollte unbedingt weiterarbeiten, und zwar mit einem Stück von Lampel. Dieser machte daraufhin den Vorschlag, auf der Basis von Jungen in Not ein Stück zu schreiben, das nach drei Wochen fertig war.41 Wie in all seinen bisherigen Stücken arbeitete er mit starken Oppositionen, alle wichtigen Personen werden zu Beginn des 1. Aktes eingeführt. Auf der einen Seite steht das Heimpersonal mit dem Direktor (evangelischer Pfarrer), dem Hausvater und dessen Tochter Viktoria (Köchin in der Anstalt) sowie einem Erzieher, der die Jungen pathologisiert; auf der anderen Seite der Hospitant, von dessen neuen Erziehungsmethoden das Heimpersonal nichts hält und von dem man als ehemaligem Offizier anderes erwartet hatte. Nur vier Jungen haben einen Namen: Fritz, der Neue, der schon vier Jahre in verschiedenen Anstalten verbracht hat, der sich dem Heimpersonal widersetzt und später die Revolte anführt; Kurt (genannt Katze), der für den Hausvater spitzelt und mit Viktoria Sex hat; Erwin ist der Jüngste und das von vielen begehrte Sexualobjekt; Karl passt sich den Hierarchien an und versucht vergeblich zu fliehen. Damit treten, was die Jungen betrifft, aus der Publikation bekannte Charaktere auf, gleichwohl gab es in Struveshof keinen Aufstand. Die drei Akte behandeln einen Zeitraum von nur ca. 24 Stunden, was eine immense Konzentration der Handlung bedeutet. In den Dialogen, die der Hospitant mit dem Erzieher, Hausvater und dem Direktor bzw. Pfarrer führt, prallen die divergierenden Erziehungsvorstellungen aufeinander. Die Gewalt, die den Jungen in der Vergangenheit widerfahren ist und auch im Heim zum Alltag gehört, kommt in einzelnen Szenen zum Ausdruck, aber auch in den Erzählungen der Jungen beim abendlichen Zusammensein mit dem Hospitanten. So erfährt dieser und damit auch das Publikum u. a., dass sie Waisen sind oder Alkoholiker zum Vater haben, die sie »im Suff« totgeschlagen hätten, wären sie bei ihm geblieben; im Heim auf Rügen wurden die kleinen Jungen »vor den Pflug gespannt«; weil Erwin Bettnässer war, nahm der Erzieher 39 Lampel: Revolte (Anm. 1). Bevor es bei Kiepenheuer herauskam, wurde es als Ms. vom Berliner Verlag Bühnenvertrieb Die Schmiede 1929 vervielfältigt. 40 Zu Genschows Film- und Theaterschaffen vgl. u. a. Petra Anders: Medienkonvergenz im frühen Werk von Fritz Genschow und Renee Stobrava, in: Petra Josting, Marlene Illies, Matthias Preis, Annemarie Weber (Hg.): Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1933 (Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3), Stuttgart 2020, S. 137–158. 41 Vgl. Blank: Lampel (Anm. 18), S. 55.

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sein Gesicht und rieb es »über die eisernen Spiralen« des Bettes; Fritz hatte einen Erzieher, bei dem die Jungen, nachdem er sie geschlagen hatte, christliche Lieder singen mussten und anschließend noch »zwei Stunden in der kalten Stube stehen, im Hemde«; ein anderer Junge wurde von seinem Erzieher so stark geohrfeigt, dass ihm das Trommelfell zerplatzte und er nun halb taub ist. »Wenn wir alles auspacken, was wir wissen, Onkel«, ruft ein Junge in diese Erzählungen hinein, »kannst Du dicke Bücher ’von schreiben.«42 Fritz macht außerdem darauf aufmerksam, dass man sie irgendwann »ohne einen Pfennig in der Tasche« entlässt, sie draußen »verraten und verkooft« sind, »ins Ungewisse« gehen.43 Thematisiert wird aber auch die Gewalttätigkeit der Jungen untereinander. So schlägt Karl brutal Kurt zusammen, als dieser zu fliehen versucht,44 dem Hospitanten zerschneidet er die Schuhe. Unter einigen Jungen droht eine Messerstecherei45 und insbesondere die sexuelle Gewalt gegenüber Erwin nimm viel Raum ein, der sich zunächst dem Hospitanten anvertraut und später vom Hausvater mit Prügel dafür bestraft wird, dass er den Jungen, die ausreißen wollten, den Weg nach Berlin verriet.46 Deutlicher konnte der Missbrauch von Autoritäten nicht geschildert werden. Die Situation im Heim spitzt sich im 2. Akt zu, als die Jungen bei großer Hitze draußen schwere Arbeiten erledigen müssen, der Erzieher einem Jungen, der sich beschwerte, den Spaten auf den nackten Fuß schmeißt und der Hausvater wie üblich nur roh reagiert: »Wird schon nicht gleich gestorben sein. – Haltet die Schnauze. […] Halt deine Fresse.«47 Da an diesem Abend wieder einmal das Essen ungenießbar ist und zudem der angekündigte Kinobesuch untersagt wird, beginnen die Jungen sich zu wehren. Sie plündern die Räucherkammer und Fritz ruft, dem Hausvater zugewandt, die Revolte aus, »mit dem Ziel, daß wir endlich unser Recht bekommen« und »nicht mehr arbeiten, bevor nicht der alleroberste Direktor aus Berlin gekommen ist und diese Schweinewirtschaft angesehen hat.«48 Ein Ausschuss, den die rebellierenden Jungen gebildet haben, bekommt im 3. Akt noch die Möglichkeit, dem Pfarrer/Direktor und Hausvater die Klagen bzw. Missstände vorzutragen: keine Sprechstunden, kein Einhalten der Zusagen bezüglich der Entlassungen, kein Urlaub für Besuche, keine Lehrstellen, zu wenig Schule, nur reaktionäre und militaristische Romane, aus denen vorgelesen wird, wenig Kleidung, nicht einmal Schuhe, ein Essen für Tiere, den ganzen Tag

42 43 44 45 46 47 48

Lampel: Revolte (Anm. 1), S. 33–37. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 38f. Vgl. ebd., S. 46–48 und 54f. Vgl. ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 91.

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schwere Arbeit.49 Und auf die Abende bezogen sagt Fritz: »Aber dann geht der Tanz ja erst richtig los in dieser christlichen Anstalt, in der jeder jeden bestänkert: wo die Erzieher untereinander hetzen und die Jungen aufeinander hetzen – und der Herr Direktor ist der liebe Gott in der Ferne.«50 Das Stück endet damit, dass das beabsichtigte Verbrennen der Personalakten vereitelt wird, die aus Berlin herbeigerufene Polizeiaufgebot jene Jungen festnimmt, die der Pfarrer als Rädelsführer auf eine Liste gesetzt hat, die Anstalt auf behördlichen Beschluss aufgelöst werden soll und der Hospitant verspricht, die Zustände öffentlich zu machen. Das letzte Wort hat er: »Radikal: schmeißt eure Vorstellung von Menschenliebe über Bord – und sucht die Schuld bei euch selber!«51 Mit dieser Dramatisierung, die von einer authentischen Jugend- wie auch Obrigkeitssprache gekennzeichnet ist, beschrieb Lampel alle Dimensionen von Gewalt, von denen ihm die Jungen berichtet hatten und die er zum Teil als Hospitant selbst erlebte. Kann man Jungen in Not als Dokumentation bezeichnen, so ist das Drama dem Genre Zeitstücke zuzuordnen, die in der Weimarer Republik entstanden.52 In kritisch-dokumentarischer Absicht wollten ihre Autor*innen gesellschaftliche Missstände aufdecken, diese zur Diskussion stellen und Veränderungen anstoßen, so wie es Lampel auch mit seinem Schlusssatz des Stückes beabsichtigte. Die Uraufführung am 02. 12. 1928 unter der Regie von Hans Deppe in Berlin, gespielt von der Gruppe junger Schauspieler, war ein großer Erfolg; Fritz Genschow spielte Fritz. Sehr wahrscheinlich hat das Publikum mehrheitlich Verständnis und Mitleid für die Jungen im Heim aufgebracht, auch für ihre Revolte. Das Stück wurde in der Folge insgesamt an die 500 Mal in vielen anderen Städten Deutschlands aufgeführt, aber auch in der Schweiz, Österreich, in der Tschechoslowakei, Paris, London und in der Sowjetunion. Mehrheitlich in linken und liberalen Kreisen äußerte man sich anerkennend und euphorisch – so z. B. die bei der Premiere anwesenden Schriftsteller Ernst Toller und Carl Zuckmayer –, konservative und kirchliche Kreise lehnten es entschieden ab.53 Die Pädagogin und Politikerin Anna Siemsen kritisierte die Politik, am Geld zu sparen; so wie gutes Essen, anständige Kleidung und eine freundliche Wohnung in Erziehungsheimen selbstverständlich sein müssten – was leider

49 50 51 52

Vgl. ebd., S. 107–111. Ebd., S. 111. Ebd., S. 131. Vgl. Anne Stürzer: Dramatikerinnen und Zeitstücke. Ein vergessenes Kapitel der Theatergeschichte von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit (Ergebnisse der Frauenforschung 30), Stuttgart 1993, S. 15. 53 Vgl. Hamann: Revolte (Anm. 4), S. 141 und Rinke: Radikalismus (Anm. 3), S. 149ff.

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nicht der Fall sei –, stünden auch Jugendlichen in Heimen Sportplätze, Bühnen, Kinos und Bücher zu.54 Die Vermarktung von Stoffen im Medienverbund war schon in der Weimarer Republik üblich, und so verwundert es nicht, dass Lampels Drama 1929 unter der Regie von Georg Asagaroff verfilmt wurde. Dreimal wurde jedoch ein generelles Aufführungsverbot erteilt, der vierte Zensurentscheid vom 11. 12. 1929 beinhaltete lediglich ein Jugendverbot, sodass die Uraufführung des Stummfilms im Januar 1930 in Berlin endlich stattfinden konnte. Ein Drittel des Films hatte man allerdings geschnitten, viele Szenen waren ergänzt und verändert worden, um die Zulassung zu bekommen.55 Darüber hinaus waren im Drehbuch gegenüber der Dramenfassung Veränderungen vorgenommen worden, die u. a. darin bestanden, dass die Handlung mit einer Vorgeschichte über das Leben von Fritz einsetzt. Da der Film als verschollen gilt – lediglich 30 Standbilder sind erhalten –56 muss die Frage nach der Gewaltdarstellung, die den Zensoren wahrscheinlich im Hinblick auf das Heimpersonal gegenüber zu drastisch war, unbeantwortet bleiben. Im ersten, dreizehnseitigen Bescheid der Film-Oberprüfstelle vom 03. 08. 1929 geht es primär darum, das Erziehungspersonal in Schutz zu nehmen, und zwar vor Jungen »mit angeborenen Fehlern«; der Film zeige »ein verzerrtes Bild einer Zwangserziehungsanstalt, wie sie vor 60 oder 70 Jahren bestanden habe«, ein solches Heim »sei heute in Deutschland undenkbar.«57 Weiter heißt es, »mit besonderer Gehässigkeit seien die Erziehercharaktere geschildert« und »die letzten Scenen [sic] seien ein Anschauungsbild für eine Rebellion,«58 vor der man sich natürlich fürchtete. Mit dem Erfolg der Bühnenfassung konnte der Film vermutlich nicht zuletzt aufgrund der erzwungenen Überarbeitungen nicht mithalten. Gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde er wie auch das Drama verboten.

54 Vgl. Anna Siemsen: Jungen in Not, in: Fackelreiter vom Februar 1929; zit. in Italiaander: Lampel (Anm. 7), S. 12. 55 Zentrale Angaben zum Film, insbesondere alle zeitgenössischen Rezensionen, finden sich in Gero Gandert: Der Film der Weimarer Republik. Ein Handbuch der zeitgenössischen Kritik, Berlin u. a. 1993, S. 534–546. Vgl. auch Günther Dahlke, Karl Günther (Hg.): Deutsche Spielfilme von den Anfängen bis 1933. Ein Filmführer, Berlin 1988, S. 212–213. 56 Vgl. den Wikipedia-Eintrag zum Film, verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Revolte _im_Erziehungshaus_(Film) [17. 02. 2023]. Einige Bilder sind zu sehen unter https:// www.filmportal.de/node/44385/gallery [15. 02. 2023]. 57 Zensurbescheid der Film-Oberprüfstelle vom 03. 08. 1929, S. 3, verfügbar unter: https:// www.filmportal.de/film/revolte-im-erziehungshaus_0d52b541434c4a39a7bfcc8eb83320dc [17. 02. 2023]. 58 Zensurbescheid vom 03. 08. 1929, S. 4f., verfügbar unter: https://www.filmportal.de/film/re volte-im-erziehungshaus_0d52b541434c4a39a7bfcc8eb83320dc [17. 02. 2023].

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Revolte im Erziehungshaus – Theateraufführungen in den 1970ern und das ZDF-Fernsehspiel (1976) Die Aufführungen des Stückes nach 1945 sind über eine Archivliste des Kiepenheuer Verlags nachgewiesen.59 Danach war die erste Bühne, die das Stück ab 16. 09. 1964 inszenierte, die Landesbühne Rhein-Main in Frankfurt (Theater am Turm). Eine Aufführung in der DDR gab es ab 15. 04. 1966 bis Ende desselben Jahres im Berliner Theater der Freundschaft, das später in Theater an der Parkaue – Junges Staatstheater Berlin umbenannt wurde. Zehn weitere Theater brachten das Stück von 1970 bis 1979 auf die Bühne (Cuxhaven, Frankfurt a. M., Dortmund, Freiburg i. Br., Hamburg, Paderborn, Basel, Karlsruhe, Tübingen und Kaiserslautern), in Bielefeld fand 1984 die letzte vom Verlag nachgewiesene Aufführung statt. Dieses große Interesse an dem Stoff in den 1970er-Jahren ist zurückzuführen auf die sog. Heimkampagne, die im Zuge der Studierendenbewegung ab 1965 einsetzte. Kritisiert wurden u. a. das strenge Reglement, schlechte Unterkunft und unzureichende Ausbildungsmöglichkeiten, bei den Mädchen auch sexuelle Übergriffe.60 Ulrike Meinhof war eine der ersten Journalist*innen, die recherchierte, anschließend in Artikeln und Radiosendungen auf die Situation von Heimkindern aufmerksam machte und das Drehbuch für das Fernsehspiel Bambule (1970) schrieb, das die Situation adoleszenter Mädchen in einem West-Berliner Heim schildert.61 Wie Lampel griff sie somit auf Recherchen und persönliche Erfahrungen zurück. Ob sie sein Stück kannte, ist unbekannt, aber offensichtlich erinnerten sich angesichts der Heimkampagne Akteur*innen im Theater dieses Stückes. Da Berlin neben Frankfurt am Main ein Schwerpunkt der Anklagen und Auseinandersetzungen war und Frankfurter Studierende Heimbewohner in Staffelberg unterstützten, verwundert es nicht, dass die Städtischen Bühnen Frankfurt Revolte im Erziehungsheim 1973 inszenierten. Das Stück beeindruckte so sehr, dass es 1974 zum Theatertreffen in Berlin eingeladen wurde.62

59 Die Liste wurde mir auf Nachfrage vom Verlag Kiepenheuer übermittelt; sie enthält die Namen der einzelnen Theater, die das Stück aufführten, sowie den Aufführungszeitraum. Der Verlag brachte ein Reprint der Ausgabe von 1929 heraus. Eine weitere Ausgabe erschien 1954 in Emsdetten (Westf.) im Lechte Verlag. 60 Vgl. den Wikipedia-Eintrag »Heimkampagne«, verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/wi ki/Heimkampagne [17. 02. 2023]. 61 Ulrike Meinhof: Bambule. Fürsorge – Sorge für wen? Nachwort Klaus Wagenbach, Berlin 1971. Die Ausstrahlung wurde 1970 abgesetzt, weil Meinhof an der Befreiung Andreas Baaders beteiligt war; erst 1994 wurde das Fernsehspiel in der ARD gezeigt. 62 Lt. Liste des Kiepenheuer Verlags wurde der Vertrag für die Zeit vom 11.10. 1973 bis 30. 06. 1975 abgeschlossen. Vgl. auch Berliner Theatertreffen 1974, verfügbar unter: https://sn-herne.de/48 52/ [17. 02.2023].

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Peter Löscher, der Regisseur der Frankfurter Aufführung, überarbeitete Lampels Drama u. a. zusammen mit Peter Brosch, der selbst Heimbewohner in Staffelberg gewesen war und mit Dokumenten belegte, dass sich seit den 1920erJahren die Verhältnisse nicht grundlegend verändert hatten. Angeführt werden eine Heim-Hausordnung von 1969, die zehn Gebote in Staffelbergform sowie Forderungen, die zeigen, wie gegen Recht verstoßen wurde (z. B. Prügelstrafen und Isolation).63 Um einen möglichst realistischen Eindruck von den Heimverhältnissen zu vermitteln, ließ Löscher sein Ensemble ein Heim in der Nähe von Marburg an der Lahn besuchen, wo auch Einzelgespräche mit den Jungen möglich waren.64 Im Hinblick auf die schriftliche Bühnenfassung entschieden sich er und sein Team, grundlegende Veränderungen vorzunehmen, beispielsweise anstelle von drei Akten 24 kurze, filmschnittähnliche Szenen. Außerdem entwickelten die Schauspieler*innen die Dialoge zunächst frei und passten sie anschließend Lampels Sprache an. Grundlegend war das Bemühen, »die Historizität des Stücks nicht zu beschädigen«, um ein Nachdenken darüber anzuregen, »was sich zwischen 1928 und heute verändert hat.«65 Das Heimpersonal ist wie bei Lampel heuchlerisch, reaktionär und – denkt man an den Erzieher – brutal, streckenweise sogar sadistisch. Ein weiterer Unterschied zur Vorlage bestand in der Rolle des Hospitanten, der sich als Repräsentant der Adenauer-Ära beim Ausbruch der Revolte auf die Seite des Heimpersonals schlägt.66 Das Stück zeigte Jugendliche kaserniert im Heim, mit wenig Aussicht auf Resozialisierung und einer »ausgeprägten Hackordnung mit dem Recht des Stärkeren, in der Folge weit verbreitetes Spitzeltum und Aggressivität.«67 Unter der Regie von Hans Quest produzierte das ZDF das Fernsehspiel Revolte im Erziehungshaus,68 das am 21. 04. 1975 ausgestrahlt wurde und die Relevanz des Themas in der Bundesrepublik jener Jahre unterstreicht. Damit liegt eine weitere intermediale Transposition vor, die auf die Darstellung von Gewalt hin untersucht werden kann. Das Drehbuch entspricht weitgehend dem Dramentext Lampels, nur punktuell wurden einzelne Sätze aus den Dialogen gestrichen. Die Struktur von drei Akten behielt man bei, ebenso die Räumlichkeiten und Regieanweisungen in puncto Kleidung, Mimik, Gestik etc.69 Insofern und insbe-

63 Peter Brosch: Nur historisch? Lampels Stück und die gegenwärtigen Verhältnisse, in: Schauspiel Frankfurt, 1973, Heft 13, S. [1]-[3]. 64 Vgl. die verschiedenen Berichte in: Schauspiel Frankfurt, 1973, Heft 13, S. [22]f. 65 Horst Laube, Peter Löscher: Zur Bearbeitung von Lampels »Revolte«, in: Schauspiel Frankfurt, 1973, Heft 13, S. [21]. 66 Vgl. Berliner Theatertreffen 1974 (Anm. 62). 67 Vgl. ebd. 68 Revolte im Erziehungshaus. Fernsehspiel, Regie: Hans Quest, ZDF 1975, 90 Minuten. 69 So fehlen im Fernsehspiel, verglichen mit der Dramenvorlage, z. B. auf den ersten drei Seiten lediglich zwei Äußerungen des Hausmeisters: »Es werden fast nur noch erblich belastete und

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sondere aufgrund der nahezu identischen sprachlichen Ausgestaltung finden sich auch im Fernsehspiel alle Formen von Gewalt, wie bereits im Kontext des Dramas aufgezeigt. Verstärkt werden die physische und auch verbale Gewalt in diesem Medium gegenüber der Printversion durch die visuelle und auditive Ebene. Ein Beispiel ist die Szene, in der Kurt brutal Karl anschreit und schlägt: Langsam bewegt er sich auf ihn zu, schmeißt ihn auf den Boden, tritt mit dem Fuß in seinen Rücken, schlägt dann mit der Faust in den Körper und versucht mit beiden Händen, Karl die Kehle zuzudrücken, der laut jammert. Die Kamera geht dabei von der Halbtotalen in die Nahaufnahme über, zoomt aus der Vogelperspektive immer weiter auf das am Boden liegende Opfer. Der laut eingreifende Hospitant vermag ihn kaum aufzuhalten, erst der herbeieilende, brüllende Hausvater setzt der Schlägerei ein Ende; dennoch versetzt Kurt heimtückisch Karl erneut einen Hieb mit dem Fuß, bevor er ihn anschließend in die Zelle bringt.70 Sehr eindringlich sind ebenso jene Szenen, in denen das Heimpersonal Gewalt ausübt. Bevor z. B. Erwin am Ende des 1. Aktes vom Hausvater verprügelt wird, ohrfeigt dieser den Jungen, schubst ihn zunächst brüllend durch den Raum, sodann in Richtung eines Tisches, über den er seinen Körper legen muss, bevor ihn die Peitschenhiebe treffen. Inzwischen ist die Kamera in die Großaufnahme gegangen, zeigt nur Erwins schmerzverzerrtes Gesicht, der nicht schreit, um möglichst wenig Schwäche zu zeigen.71 Gegenüber der Bühnenaufführung sind es im Film bzw. Fernsehen insbesondere die Kameraperspektiven und Kameraeinstellungen, die Sachverhalte, Emotionen etc. unterstreichen und damit intensive Wirkungen auf die Rezipient*innen ausüben. Insgesamt zeigt die historisierende TV-Inszenierung sehr eindringlich die Dominanz von physischer und verbaler Gewalt der Unterdrücker wie der Unterdrückten und wie in der Vorlage evoziert das Geschehen bei den Zuschauer*innen Verständnis und Mitleid für die meisten Jungen, während das im Hinblick auf den gewalttätigen Spitzel Kurt anders aussehen dürfte. Psychische Gewalt wie das Einsperren der Jungen in der Zelle, soziale Gewalt in Form der Reglementierung von verwandtschaftlichen Kontakten, ökonomische Gewalt durch den Zwang zur Arbeit wie auch sexuelle Gewalt kommen im Fernsehspiel ebenfalls zur Sprache. Letztere richtet sich zum einen auf Erwin, der regelmäßig missbraucht wird; zum anderen besteht sie zwischen Viktoria und einigen Jungen, denen sie sexuelle Kontakte nach Belieben gewährt. Die Bewertung der unterschiedlichen Gewaltformen wird in den einzelnen intermedialen Transpositionen nicht verändert.

Psychopaten eingeliefert« sowie bezogen auf den Erzieher »Im Kriegerverein.« S. Lampel: Revolte (Anm. 1), S. 9. 70 Revolte, Fernsehspiel (Anm. 68), 24:40–25:30. 71 Ebd., 34:55–35:55.

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Die öffentlichen Diskussionen über Heimerziehung seit Ende der 1960erJahre in der BRD, flankiert von medialen Inszenierungen in den 1970ern, führten zu Gesetzesreformen in den Jahren 1990/91 und damit zu Verbesserungen. Gleichwohl ist die Umsetzung nach wie vor nicht vollständig gelungen. So werden Kinder und Jugendliche nicht immer an allen sie betreffenden Entscheidungen beteiligt, unabhängige Beschwerdemöglichkeiten sind noch unzureichend. Erst 2010 fanden die Forderungen ehemaliger Heimkinder (auch der DDR), denen bis in die 1980er-Jahre Unrecht und Leid zugefügt worden war, Gehör auf Wiedergutmachung.72

Zur Aktualität der Revolte im Erziehungshaus Man könnte meinen, Lampels Stoff bzw. die Selbstzeugnisse der Jungen aus Struveshof seien mittlerweile nur noch historisch von Bedeutung. Doch dem ist nicht so und dass sie noch nicht in Vergessenheit gerieten, zeigt neben den genannten fachwissenschaftlichen Beiträgen der vergangenen Jahre die Potsdamer Ausstellung Geschichte der Kindheit im Heim (2017/18),73 die vom Kaiserreich bis in die Gegenwart reicht. In diesem Kontext produzierte Franziska Schubert 2017 Hörspielszenen im Umfang von knapp acht Minuten zu Lampels Revolte im Erziehungshaus.74 Im Hinblick auf die Frage der Aktualität machte die Ausstellung darauf aufmerksam, dass unbegleitete minderjährige Geflüchtete die Heimkinder von heute sind. Andere Stimmen, die die Aktualität betonen, kommen aus Hamburg. Im Rahmen eines dreisemestrigen Projektstudiums, das den Titel Uni in gesellschaftlicher Verantwortung trägt, haben Studierende im Wintersemester 2021/22 ihre Kommiliton*innen eingeladen, sich den historischen und aktuellen Konflikten um die (geschlossene) Heimerziehung zuzuwenden, Lampels Drama zu aktualisieren und anschließend aufzuführen. Im Video wie auch auf der Homepage heißt es u. a.: »In Heimen der Fürsorgeerziehung wurden seit jeher arme und Arbeiterkinder und -jugendliche untergebracht. Meist wurde mit besonderer Härte versucht, sie an die bürgerliche Ordnung anzupassen […]. Auch heute noch werden Kids aus (besonders) prekären Lagen in (geschlossener) Heimerziehung, die sich häufig durch gängelnde Stufen- und Phasenmodelle sowie eine zunehmende Psychiatrisierung auszeichnet, untergebracht. […] Das Theaterstück soll ins Verhältnis zu den aktuellen Kämpfen um die Abschaffung (geschlossener) Heimerziehung und für demokratische Alternativen

72 Manfred Kappeler, Sabine Hering: Eine Einführung zur Geschichte der Kindheit und Jugend im Heim, Potsdam 2017, S. 31f. 73 Ebd. 74 Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=yp-LckRrC_Q [23. 02. 2023].

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gestellt und mit aktuellen Sequenzen ergänzt werden. Dafür wird die Kooperation mit von Heimerziehung Betroffenen bzw. jungen Erwachsenen/ Careleavern gesucht.«75

Lampels Revolte im Erziehungshaus ist somit noch heute von Bedeutung, denn Jugendliche aus der Jugendhilfe haben es in Deutschland auch gegenwärtig meistens noch schwerer, sich beruflich wie privat in die Gesellschaft zu integrieren als diejenigen, die kontinuierlich und verlässlich familiale Unterstützung erfahren haben. Eine wichtige Rolle könnte Lampels Stück zudem in Übersetzung in vielen anderen Ländern spielen, in denen die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Heimen noch immer mit diversen Formen von Gewalt einhergeht.

75 Video und Text verfügbar unter: https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/56366 [23. 02. 2023].

Katharina Lenski

Erziehung. Gewalt. Eine Jugend in der DDR

Einleitung Als Matthias Schmidt im Sommer 2021 mit dreiundsechzig Jahren einem Herzinfarkt erlag, hatte er jahrzehntelang darum gekämpft, nicht als kriminell Vorbestrafter zu gelten.1 Als Opfer politischer DDR-Verfolgung erkannten ihn die Rehabilitierungsbehörden erst an, nachdem er sich durch zahlreiche Beschwerdeinstanzen gekämpft hatte. Doch genau für die Zeit seines Lebens scheiterte die Rehabilitierung, in der er am meisten schutzbedürftig gewesen war. Im Alter von elf Jahren war er in ein Spezialheim der Jugendhilfe in Thüringen eingewiesen worden, wo er gefängnisähnliche Verhältnisse und tagtägliche physische wie psychische Gewalt erlebt hatte. Die Vorwürfe der Kriminalität, die ihn bis ans Grab verfolgten, blieben unbewiesen. In der Rückschau erscheinen sie banal, doch dienten sie als Argument seiner Stigmatisierung: Er habe die Schule seit dem zehnten Lebensjahr unregelmäßig besucht und Kleindiebstähle begangen.2 Mit seiner Flucht in die Bundesrepublik und dem Abschluss einer Fachschulausbildung hatte er das Stigma zunächst abstreifen können. Nach 1989 aktualisierten die Verantwortlichen in den Rehabilitierungsbehörden die Ver1 Der Name wurde anonymisiert. Matthias Schmidt habe ich ca. 2008 während meiner Arbeit im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« in Jena kennengelernt und ihn damals angesichts der komplexen Problematik an eine Beratungsstelle vermittelt. In den Folgejahren traf ich ihn hin und wieder mehr zufällig. Anfang 2020 bat er mich darum, ein wissenschaftliches Gutachten zu seinem Leidensweg zu erarbeiten, wozu er mir umfangreiche Kopien seiner Privatsammlung übergab. In diesem Zusammenhang besuchte ich ihn in seinem Zuhause. Hinzu kamen eigene Recherchen in Archiven und Sammlungen. Ich danke sehr herzlich Till Kössler und Dirk Schumann für die wertschätzende Zusammenarbeit und für die anregenden Nachfragen und Vorschläge bei der Textüberarbeitung. 2 Schulbummelei und Kleindiebstähle werden in der Literatur als stereotype Vorwürfe angegeben, die bei Beschwerden der Eltern meist zurückgezogen wurden. Vgl. mit einem weiteren Beispiel Christian Sachse: Der letzte Schliff. Jugendhilfe der DDR im Dienst der Disziplinierung von Kindern und Jugendlichen (1945–1989), Schwerin 2010, S. 158.

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folgungserfahrung allerdings, obwohl sie beauftragt waren, das Erlittene auszugleichen. Man argumentierte, es könne nicht bewiesen werden, dass der Betroffene tatsächlich unschuldig in das Spezialheim eingewiesen worden sei. Obwohl sie damit die unbewiesenen Vorurteile aus der DDR bekräftigten, und obwohl die Sachlage an der Verhältnismäßigkeit der Heimeinweisung zweifeln ließ, hatte sein Widerspruch keinen Erfolg. Offenbar bestand ein Konsens über Ziele und Inhalte von »Erziehung« zwischen den Verantwortlichen vor 1989 und den urteilenden Richtern nach 1989 sowie Konsens über die Legitimität und Sinnhaftigkeit der Sanktionierung abweichenden Verhaltens von Kindern und Jugendlichen. Dass diese Erziehung im Kern auf ein breites Spektrum von Gewalt gegen sie aufgebaut und mit Gewalt durchgesetzt wurde, stand nicht zur Debatte. Doch das war die verschwiegene Kehrseite der laut propagierten Erziehung zum »sozialistischen Menschen« gewesen.3 Offenbar war die gewaltsame Verhaltenslenkung von Kindern und Jugendlichen im Schriftgut so verschlüsselt und in der öffentlichen Debatte so weit akzeptiert, dass die Gewalt »normalisiert« und verdeckt wurde, was sie verschwinden ließ. Diese Normalisierungen wurden einerseits durch beglaubigende Sinnhorizonte möglich. Das Erziehungsideal des »sozialistischen Menschen« bot diesen Horizont. Die Moral und damit die Handlungssamples der Erzieher boten die Brücke zu den situativen wie strukturellen und miteinander verflochtenen Gewaltformen.4 Die sichtbare wie die weniger sichtbare, strukturelle Gewalt wurde durch das Handeln der Beteiligten aktualisiert und normalisiert.5 Für diese Normalisierungen mussten logische Fehler wie auch moralische Widersprüche überbrückt werden, um Professionalität und Sachbezogenheit zu demonstrieren. Denn wie war es erklärbar, die Heranwachsenden von ihren Eltern zu trennen, wenn unbewiesene Vorwürfe im Raum standen? Wie war es für aufgeklärt Denkende zu erklären, wenn die Zukunft des Kindes als »asozial« und »kriminell« bereits vorgezeichnet zu sein schien? Als Brücken dienten die Gesetze und Durchführungsbestimmungen, die allgemein genug waren, um ein breites Spektrum an möglichen Verhaltensweisen zu erfassen. Allerdings brauchten diese ein Feld, in dem ihre Realisierung vor3 Vgl. Verena Zimmermann: Den neuen Menschen schaffen. Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945–1990), Köln u. a. 2004. 4 Es wird das Eigensinn-Konzept nach Alf Lüdtke mitgedacht. Dazu zentral: Alf Lüdtke: EigenSinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 10–12, S. 375–382; ders.: Geschichte und »Eigensinn«, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139–153. Vgl. zur sozialistischen Moral auch Ute Frevert: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt a. M. 2017, hier S. 81. 5 Mary Fulbrook: Introduction, in: dies. (Hg.): Power and Society in the GDR, 1961–1979. The »Normalisation of Rule«? New York/Oxford 2009, S. 1–30.

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gegeben war. Dieses Feld fand sich im Schrifttum der Behörden und ganz besonders in den Karteikarten, die, mit Merkmalsmustern versehen, ganze Gruppen von Verdächtigen zu identifizieren imstande waren. Die Karteikarten schufen Kontinuitäten, indem dort Feindbilder und Handlungsanweisungen fixiert wurden, auf neue Karteikarten übertragen und weitergegeben wurden. In ihnen repräsentierten sich die Vorurteile und Ordnungsmuster der Behördenmitarbeiter. In den Karteikarten verfestigten sich stigmatisierende Informationen über die Betroffenen. Diese Daten liefen in den Abteilungen des Innenministeriums und der Staatssicherheit zusammen, wurden abgeglichen und aktualisiert. Um Plausibilität zu erreichen, mussten die Vorwürfe gegen die Delinquenten in Sprachsymbole gekleidet werden, die nur die argumentativ notwendige Konkretion aufwiesen, doch ausreichend abstrakt blieben. Das trifft auf die Zuschreibung von angeblicher Asozialität und scheinbarem Rowdytum zu. Mit diesen Sprachsymbolen waren Samples ritualähnlicher Ausgrenzungsmuster verbunden. Polizei und Fürsorge, Jugendamt, Schule und Heimerziehung konzentrierten sich nicht auf die Problemlagen der Betroffenen, sondern auf ausgrenzende Disziplinierungen. »Asozialität« war unscharf genug, um antisoziales Verhalten zu insinuieren, was keines konkreten Beweises bedurfte. Eine Widerlegung der Anschuldigungen war angesichts der begrifflichen Unschärfe nicht möglich. Dabei scheint sich die These zu bestätigen, dass sich zahlreiche Beteiligte durch die mit den Weltkriegen und im Nationalsozialismus erfahrene und ausgeübte Gewalt befugt sahen, gewalttätig gegen Schwächere vorzugehen. Man hatte gelernt, wie mit angeblichen Feinden der Volksgemeinschaft umzugehen war. Vieles davon übertrug sich auf die sozialistische Gesellschaft.6 Die ausgrenzenden Ordnungsvorstellungen reichten bis in die betroffenen Familien und zeigen sich bis heute in brüchigen oder zerstörten Sozialbeziehungen. Alf Lüdtke hat unter Bezug auf Dipesh Chakrabarty darauf verwiesen, dass die westlichen Begriffe zugleich unverzichtbar wie unzureichend (auch) zur Analyse der Gesellschaften kommunistischen Typs sind.7 Daran anschließend vertrete ich die These, dass sich mit dem sozialistischen Erziehungsideal ein Stigmatisierungsprozess gegen scheinbar auffällige Kinder und Jugendliche verband, in dem aufeinander bezogene und verflochtene Makro- und Mikroformen von Gewalt wirkten, welche die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen zunehmend be6 Vgl. Alf Lüdtke, Michael Wildt: Einleitung, in: dies. (Hg.): Staats-Gewalt. Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008, S. 7–38, hier S. 25. Am konkreten Beispiel vgl. Alf Lüdtke: Der 17. Juni 1953 in Erfurt. Ausnahmezustand und staatliche Gewaltrituale, in: ebd., S. 241–273. 7 Alf Lüdtke: Practices of Survival – Ways of Appropriating ›the Rules‹. Reconsidering Approaches to the History of the GDR, in: Mary Fulbrook (Hg.): Power and Society in the GDR, S. 181–193, hier S. 187.

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grenzten, verengten und ihr Entwicklungspotential durch rigide Körper-, Zeitund Raumregimes reduzierten. Um sich dem zu nähern, folgt einem kursorischen, nicht vollständigen Forschungsüberblick zur Gewalt, die hier in einem strukturelle Aspekte explizit einschließenden Sinn verstanden wird, die Erörterung des Kernvorwurfs der »Asozialität«. Im zweiten Schritt wird der zu Beginn umrissene Fall aufgefächert. In das Zentrum der Betrachtung gelangt dabei neben direkten physischen und psychischen Formen der Gewalt gegen Matthias Schmidt die indirekte, langfristig orientierte und damit als strukturell zu bezeichnende Gewalt, die sich in den Karteien und Behördendokumentationen spiegelt, und damit die Verflechtung von Mikro- und Makrogewalt. Die Beschreibung dieser Gewaltform bildet den dritten Abschnitt des Textes.

Forschungen zu Gewalt und »Asozialität« Der Begriff der »strukturellen Gewalt« von Johan Galtung eröffnete einen Horizont, der von einer allzu großen Verengung der Debatte auf physische Gewalt wegführt und den Begriff u. a. auf die psychische Dimension, auf manifeste und latente Gewaltformen ausweitet.8 Im Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was potentiell hätte sein können, wirkt sich Gewalt aus. Sie verursacht es, wenn Menschen trotz bestehender Möglichkeiten, dies zu verhindern, sterben, verletzt werden oder sich nicht ihrem Potential entsprechend entfalten können. Wenn Möglichkeiten von Institutionen, so Galtung, von Menschen zweckentfremdet genutzt werden, um die Chancen anderer zu beschneiden, so handelt es sich ebenso um Gewalt. Für die kommunistische Gesellschaft erwähnte er das Fehlen öffentlicher und systematischer Kritik, wodurch zweckentfremdende Machtzugriffe beispielsweise durch die Mitarbeiter der Staats-Sicherheit auf die Jugendpolitik erfolgten.9 8 Zur Diskussion um den Gewaltbegriff und insbesondere den der strukturellen Gewalt: Dirk Schumann: Johan Galtung: Violence, Peace, and Peace Research, in: Uffa Jensen, Habbo Knoch, Daniel Morat, Miriam Rürup (Hg.): Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen, Göttingen 2011, S. 317–325. Vgl. die Beiträge in Mittelweg 36, 2017, Nr. 26, S. 3. Galtung wurde u. a. vorgeworfen, die Frage nach den Handelnden zu vernachlässigen, denn Strukturen würden nie an sich, sondern vermittelt durch die Beteiligten wirken. Doch die Interdependenz zwischen Strukturen, Inhalten und Personen sowie die Unterscheidung von zeitlichen und räumlichen Qualitäten sind aus meiner Sicht die Voraussetzung für die Analyse von Gewalt. 9 Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975, S. 7–31, hier S. 9–15. Im zugrunde liegenden Artikel: Violence, Peace and Peace Research, in: Journal of Peace Research, 1969, Nr. 6, S. 167–191, hier S. 167–173, verweist er mit: »As a point of departure, let us say that violence is present when human beings are being influenced

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Als zentrale Frage im Kontext struktureller wie auch personaler Gewalt stellt sich deshalb für die DDR die nach den Geheimhaltungskulturen. Geheimnisträger, Geheimgruppen, Geheimdokumente und geheime Entscheidungen waren allgegenwärtig und dienten als Begründung, wenn Sachfragen nicht dem Gegenstand entsprechend gelöst wurden.10 Die Geheimhaltung umfasste ebenso die Sprechverbote, die Betroffene während der Heimaufenthalte befolgen und bei der Entlassung unterschreiben und einhalten mussten. Auf die Geheimhaltung konnten sich auch die Erzieher und Polizisten beziehen, wenn sie wegen gewalttätiger Zugriffe um Erklärungen gebeten wurden. Diese Formen von Gewalt implizieren sowohl bewusst kalkuliertes Schweigen wie verhinderte oder unterlassene Reflexionschancen. Geheimhaltung spielt sich somit parallel und verbindend im Zirkel der physischen und psychischen, der manifesten und latenten Gewaltformen ab. Diese umfassen ein Spektrum von situativer, körperverletzender Gewalt bis hin zu langfristigen Prozessen und Strukturen von Zwang und Ausgrenzung im privaten oder institutionellen, gesellschaftlichen und politischen Bereich. Die Gewalthandelnden in der DDR »normalisierten« ihre Zugriffe mittels der sozialistischen Rhetorik von Ordnung, Sicherheit und Erziehung, wie Mary Fulbrook es genannt hat.11 Sie verstanden sich als die Erbauer der besseren Gesellschaft im Vergleich zum kapitalistischen Westen oder knüpften nach 1945 unter veränderten Vorzeichen an gewohntes Handeln an.12 Während die AufbauGeneration der DDR diese vielfach als Land des Aufstiegs erfahren hatte, schloss sich für deren Kinder der Raum, dessen Grenzen sich, wenn auch unsichtbarer, durch die Köpfe, Körper und Beziehungen zogen.13 Das zeigt sich am Stigma der

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so that their actual somatic and mental realizations are below their potential realizations« (ebd., S. 167) auf sechs Dimensionen der Gewalt, die zunächst in strukturelle und personale Gewalt zu unterscheiden ist, wobei beide in physische, psychische, objektlose und objektbezogene Gewalt zu differenzieren sind. Weitere Dimensionen bilden intendierte und nicht intendierte sowie manifeste und latente Gewaltformen. Vgl. dazu am Beispiel der DDR-Universitäten Katharina Lenski: Geheime Kommunikationsräume? Die Staatssicherheit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Frankfurt a. M. u. a. 2017, bes. S. 359–364, 513–525. Fulbrook: Introduction (Anm. 5), S. 1–30. Instruktiv zum Begriff der Erziehung in der DDR als Nachfolger der »Besserung« im Kaiserreich und Symbol für kollektives demütigendes Handeln Ute Frevert: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt a. M. 2017, S. 59. Dort wird allerdings der die Betroffenen fixierende Aspekt nicht weiterverfolgt. Ich argumentiere beim Problem der Grenzen aus der Perspektive sozial konstruierter Räume. Vgl. zum sozial konstruierten Raum Lenski: Kommunikationsräume (Anm. 10), S. 35–42. Zu inneren Grenzen Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln u. a. 1999, S. 13–44; ders.: Diktatur der Grenze(n). Die eingemauerte Gesellschaft und ihre Feinde, in: Hans-Hermann Hertle, Konrad Hugo Jarausch, Christoph Klessman (Hg.): Mauerbau und Mauerfall. Ursachen – Verlauf – Auswirkungen, Berlin 2002, S. 203–213.

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so genannten Asozialität. Seit 1961, dem Jahr des Mauerbaus, gab die DDRFührung den Behörden mit dem Asozialen-Begriff ein rigoroses Mittel an die Hand, Unliebsame zu kriminalisieren. Dabei standen nicht nur Vorbilder aus der deutschen Vergangenheit, sondern auch aus der Sowjetunion Pate.14 »Asozialität« war kein Begriff mit eindeutiger Funktion. Diese Unschärfe nutzten die Behörden als politisches Instrument gegen die damit Definierten.15 Dabei zeigt sich das Weiterwirken von alltäglichen Praktiken der NS-Zeit unter der dünnen Decke des so genannten Neuanfangs.16 Die Verschärfungen sprechen ihre eigene Sprache. Hatte man sich bis 1961 in der DDR noch an der Gesetzgebung der Weimarer Republik orientiert, dienten kurz nach dem Mauerbau die Verordnung über die Aufenthaltsbeschränkung und seit 1968 der Paragraph 249 des Strafgesetzbuchs der Sanktionierung abweichender Arbeits- und Lebensweisen.17 Mit der Metapher der »Asozialität« wurden Tramps und Hippies, Wohngemeinschaften und nichtstaatliche Lesekreise, doch auch Kinder vermeintlich auffälliger Eltern kriminalisiert.18 Den Eltern wurde unterstellt, ihre Kinder nicht zu »sozialistischen Menschen« zu erziehen, weshalb diese in Heimen separiert wurden.19 Die Heime waren vielfach von physischer, psychischer 14 Friedrich-Christian Schroeder: Das Strafrecht des realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR, Opladen 1983, S. 33–40; Sven Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten« im Strafrecht der DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln u. a. 2005, S. 262–301, hier S. 265, S. 703–704; Johannes Raschka: Mobilisierung zur Arbeit. Die Verfolgung von »Parasiten« und »Asozialen« in der Sowjetunion und in der DDR 1954–1977, in: ZfG. 2005, Jg. 53, S. 323–344. Vgl. Joachim Windmüller: Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren… – »Asoziale« in der DDR, Frankfurt a. M. 2006, S. 125–126. 15 Zum Verständnis der Staatssicherheit von Asozialität s. Siegfried Suckut: (Hg.) Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur »politisch-operativen Arbeit«, Berlin 2001, S. 57f. 16 Zu »Asozialen« im Nationalsozialismus grundlegend: Wolfgang Ayaß: »Asoziale« im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995 resümierte S. 210–216 zur ausbleibenden »Wiedergutmachung« in Ost wie West. Zur Aberkennung des Status’ eines »würdigen« Opfers in der DDR am Beispiel von Karl B.: Susanne zur Nieden: Unwürdige Opfer. Die Aberkennung von NSVerfolgten in Berlin 1945 bis 1949, Berlin 2003, S. 155–161. 17 Schroeder: Strafrecht (Anm. 14), S. 40–47. Vgl. Zimmermann: Menschen (Anm. 3). S. 180– 186; Korzilius: Strafrecht (Anm. 14), Kap. IV. 18 Dorothee Wierling hat in: »Negative Erscheinungen« – Zu einigen Sprach- und Argumentationsmustern in der Auseinandersetzung mit der Jugendsubkultur in der DDR der 60er Jahre, in: Werkstatt Geschichte, 1993, Nr. 5. 29–37 die Sprach- und Argumentationsmuster des ZK-Plenums von 1965, das der Verrechtlichung 1968 vorausging, im Anschluss an Lüdtke als konservativ-nationalistischen Diskurs charakterisiert, in dem es um die Herstellung von »Ordnung« auch im Sinne von repressiver Bekämpfung eigen-sinniger Körperlichkeiten ging. 19 Zum Zusammenhang von sozialistischem Menschenbild, Heimen und Jugendwerkhöfen: Zimmermann: Menschen (Anm. 3). S. 1–-26. Zum Heimsystem für 1945–1952: Methner 2014. Zum Heimsystem für die Zeit bis 1989: Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer (Hg.): Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR – Expertisen, Berlin 2012. Anke Dreier, Karsten Laudien: Einführung: Heimerziehung in der DDR, Schwerin 2012; dazu mit einigen Fallbeispielen Angelika Censebrunn-Benz: Stiefkinder der Republik. Das Heim-

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und verbaler Gewalt durch die Erzieher und unter den Heranwachsenden geprägt. Ein rigide oktroyiertes Zeitregime, Besuchs- und Ausgangsverbote, der Entzug von Essen, Wärme, Schlaf und Rückzugsräumen und die Unterbindung bzw. Zerstörung von sozialen Bindungen wurden durch stetige körperliche Schikanen ergänzt. Unter dem Etikett der Erziehung zum sozialistischen Menschen nahm körperlich schwere Arbeit einen großen Teil der Zeit ein; der Schulbesuch war reduziert und mit ideologischen Inhalten gefüllt.20 In der Literatur wird meist nur die einzelne betroffene Person oder aber die anonyme Gruppe thematisiert, was allerdings spiegelbildlich das Muster einer individualisierenden Schuldzuschreibung und damit Trugschlüsse repliziert. Heimeinweisungen fungierten als Disziplinierungsinstrument gegen Eltern wie Heranwachsende gleichermaßen. Heimentlassene mussten sich genauso wie Sträflinge verpflichten, bestimmte Personen, Gruppen und Orte zu meiden, so dass Beziehungen, wenn nicht zerstört, so doch blockiert wurden. Und die Betroffenen mussten über das Erlebte und die Verpflichtungen schweigen: ein Schweigen, das Vertrauen störte und brüchig bleiben ließ.21 Nach 1989 kam es nicht zur kritischen Revision des Stereotyps der Asozialität, wie es vielfach versagte Rehabilitierungsbemühungen von Betroffenen demonstrieren.22 Dies scheint eine Parallele zur ausgebliebenen NS-Aufarbeitung zu system der DDR und die Folgen, mit einem Vorwort von Wolfgang Thierse, Freiburg im Breisgau 2022. Zu Spezialheimen grundlegend und mit Fallbeispielen: Sachse: Schliff (Anm. 2) und ders.: Ziel Umerziehung. Spezialheime der DDR-Jugendhilfe 1945–1989 in Sachsen, Schwerin 2013. 20 Vgl. zu den DDR-Spezialheimen und die Gewalt durch die Erzieher und unter den Kindern Sachse: Schliff (Anm. 2), S. 205–208. 21 In dem Buch Jenaer Zentrum für empirische Sozial- & Kulturforschung e.V. (Hg.): Strukturen und Prozesse in den Spezialheimen der DDR in Thüringen. Forschungsbericht für das Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit in Thüringen, Erfurt 2012, S. 79f. und 87 sowie im Anhang wird das Schweigen als Bewältigungsstrategie interpretiert, jedoch wird nicht auf die Sanktionen eingegangen, die jene vor 1989 zu erwarten hatten, die über ihr Schicksal sprachen. 22 Dorothee Wierling: Die Jugend als innerer Feind. Konflikte in der Erziehungsdiktatur der sechziger Jahre, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 404–425; dies.: Der Staat, die Jugend und der Westen, in: Alf Lüdtke, Peter Becker (Hg.): Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag. Berlin, S. 223–240; Korzilius: Strafrecht (Anm. 14), S. 675–695. Zu versagten NS-Rehabilitierungen in der DDR: Christoph Hölscher: NS-Verfolgte im »antifaschistischen Staat«. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung, Berlin 2002, S. 71–91, S. 114–161; Constantin Goschler: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2008, S. 79; Katharina Lenski: Sinti in der DDR. Zwischen alten Zuschreibungen und neuen Ängsten, in: Einsicht 2019. Bulletin des Fritz-Bauer-Instituts, S. 24–33, verfügbar unter: https://www.fri tz-bauer-institut.de/en/publikation/einsicht-2019 [23. 02. 2023]. Zur Bundesrepublik Goschler: Schuld, S. 79–81; Christa Paul: Frühe Weichenstellungen. Zum Ausschluss »asozialer« Häftlinge von Ansprüchen auf besondere Unterstützungsleistungen und auf Entschädigung,

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sein, in deren Schatten sich die Renaissance der »Asozialität« nicht auf die DDR beschränkte.23

Direkte Gewalt: Das Beispiel von Matthias Schmidt Das Beispiel von Matthias Schmidt (1958–2021) demonstriert die Fortschreibung des Vorwurfs der »Asozialität« von 1969 bis 2021 und seines über zwanzig Jahre dauernden Kampfes um Rehabilitierung nach dem Ende der DDR. Matthias Schmidt war der Sohn eines 1923 geborenen Klempners, der 1941 als Zivilarbeiter von Kroatien nach Deutschland gekommen war. Der Vater habe zunächst in Mannheim, Ludwigshafen und später mit kurzer Unterbrechung bis zum 17. Juni 1953 im Jenaer Zeiss-Werk gearbeitet.24 In der Literatur wird berichtet, dass die meist sehr jungen Zivilarbeiter überwiegend durch Druck und falsche Versprechungen nach Deutschland geworben worden waren und unter menschenunwürdigen Bedingungen als weitgehend Rechtlose arbeiten mussten.25 Im International Tracing Archiv Bad Arolsen finden sich zwei Einträge in: Fritz Bauer Institut (Hg.): Opfer als Akteure, Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 2008, S. 67–86; Christian Proske: Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Neuausgabe Hamburg 2021. 23 Vgl. zur defizitären Aufarbeitung Sven Korzilius: Arbeitsethik, Sozialdisziplinierung und Strafrecht in der SBZ und in der DDR – Kontinuität oder Diskontinuität?, in: Anne Allex, Dietrich Kalken (Hg.): ausgesteuert – ausgegrenzt … angeblich asozial, Ulm 2009, S. 209–222. Rechtsvorschriften und Verordnungen zu Asozialität u. ä. fanden sich in den weiteren sozialistischen Ländern: Friedrich-Christian Schroeder: Verschärfung der »Parasitenbekämpfung« in der DDR – Vergleich zu den übrigen sozialistischen Staaten, DA 1976, S. 834–836 und ders.: Strafrecht (Anm. 14), S. 33–40. Die westlichen Staaten sahen sich erst spät zur Revision veranlasst, wie das Beispiel der Bundesrepublik zeigt. Seit 1968 wurden dort durch zivilgesellschaftliche Proteste und kritische Öffentlichkeiten die Arbeitshausunterbringung und 1974 deren sozialgesetzliche Fundierung abgeschafft. Vgl. Sven Korzilius: Asozialität mit Tradition. Die Entstehung und Entwicklung des § 249 StGB der DDR, in: Horch und Guck, 2008, Nr. 2, S. 17–18. Es dauerte es bis 2020, dass die im Nationalsozialismus als »asozial« Verfolgten vom Bundestag als NS-Opfer anerkannt wurden, verfügbar unter: https://www.b undestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw07-de-ns-verfolgte-680750 [20. 05. 2023]. 24 BStU MfS BV Gera AUV 84/53. 25 Die Zahl der kroatischen Zivilarbeiter, schlecht von Zwangsarbeitern zu unterscheiden, lag am Ende des Zweiten Weltkriegs bei rund 200.000. Christian Schölzel: Of Silence and Remebrance. Forced Labour and the NDH, and the History of their Remembrance, in: Alexander von Plato, Almut Leh and Christoph Thonfeld (Hg.): Hitler’s Slaves. Life Stories of Forced Labourers in Nazi-Occupied Europe, New York u. a. 2010, S. 151–165, hier S. 154. Vgl. Marc Spoerer: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart, München 2001; Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999. In Jena arbeiteten sie in 158 Betrieben und Privathaushalten. Vgl. Evelyn Halm, Margitta Ballhorn (Hg.): Ausländische Zivilarbeiter in Jena 1940–1945, Jena 1995, S. 33.

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über den Vater. Danach hatte er vom 05. 01. 1943 bis zum 08. 02. 1944 beim Jenaer Zeiss-Werk und anschließend bis zum 15. 01. 1946 als Wagenführer in der Jenaer Elektrizitätswerke AG gearbeitet.26 Eine Anerkennung des Vaters als NS-Verfolgter wurde bislang nicht festgestellt. Am 17. Juni 1953 beteiligte dieser sich an den Unruhen des Volksaufstandes in Jena und wurde wegen Aufruhrs als »Rädelsführer« bis zum 14. 05. 1956 inhaftiert.27 Da er 1941 angeblich freiwillig nach Deutschland gekommen war, stilisierte ihn die Anklage zum »Faschisten«, »Rädelsführer« und somit »Rowdy«, was die Verurteilung nach § 115 StGB nach sich zog.28 Nach seiner Haftentlassung musste er statt im militärisch relevanten Zeiss-Betrieb auf eine schlechter bezahlte Arbeit in den Verkehrsbetrieben der Stadt wechseln. Dort war eine Werksfürsorgerin beauftragt, die familiären Verhältnisse zu dokumentieren. Zwei Jahre nach der Haftentlassung des Vaters wurde Matthias Schmidt 1958 als sechstes der sieben Kinder geboren und wuchs in Jena auf. Noch vor der Schuleinführung wurde er, wie er erinnerte, vom Schwager sexuell missbraucht. In der Folge litt er unter psychischen Problemen, was in der Schule nicht erkannt wurde. Die sporadischen Disziplinprobleme wie auch »Schulbummelei« wurden ihm individuell angelastet.29 Seine als Ort der Geborgenheit erinnerte Kernfamilie schilderte er als nie vollständig, da die älteren Brüder spätestens im elften Lebensjahr in Heime verschwanden.30 In seinem elften Lebensjahr fand er sich kurz vor Weihnachten selbst im Spezialkinderheim wieder. Erst während der von ihm angestrengten Rehabilitierung im Jahr 2011 erfuhr er von dem Jugendhilfebeschluss der Stadt Jena, der seine Einweisung begründet hatte. Im Spezialheim erlebte er brutale Gewalt von Erziehern wie Kindern.31 Essens- und Schlafentzug mit nächtlichem Stehen in der 26 Namenlisten der Firma Carl Zeiss Jena, Kreisarchiv Jena, Signatur-Nr. 10005209; Namenlisten verschiedener Firmen in Jena, Kreisarchiv Jena, Signatur-Nr. 10005339, verfügbar unter https://collections.arolsen-archives.org/de/document/71000724 [21. 03. 2023]. Seinen Vertrag habe er am 08. 02. 1944 abgeleistet. Zum 01. 01. 1946 waren in der Stadt 13.239 ehemalige Zivilund Zwangsarbeiter:innen gemeldet, was etwa 17 % der Gesamtbevölkerung entsprach, unter ihnen 872 Kroaten; vgl. Halm, Ballhorn: Zivilarbeiter (Anm. 25), S. 10: Übersicht der in Jena beschäftigten Ausländer (Faksimile aus Stadtarchiv Jena, MS 93, Bl. 5). 27 Zum 17. Juni 1953 in Jena vgl. Katharina Lenski: Siebzehnter Juni 1953, in: Rüdiger Stutz u. a. (Hg.): Jena. Lexikon zur Stadtgeschichte, Berching 2018, S. 577ff. 28 Zur Suspendierung der Normalität im Ausnahmezustand: Lüdtke: Erfurt (Anm. 6), S. 241– 273. 29 Seit 1968 der Paragraph 249 gegen »asoziales Verhalten« installiert worden war, galt »Arbeitsbummelei« als Marker für »Asozialität«; vgl. Beauftragter: Aufarbeitung (Anm. 19), S. 67f. 30 Erinnerungen Angelika B. vom September 2009. 31 Es handelte sich um das Spezialkinderheim in Altengottern. Vgl. dazu der Betroffene unter dem Pseudonym Marco Stritzinger: Im Zweifel für den »Unrechtsstaat«. Ein Beispiel von politischer Verfolgung in der DDR und die Probleme der Rehabilitierung, in: Gerbergasse, 2015, Nr. 18, Heft 1, S. 32–36. Zum inneren Gewaltregime in den Spezialkinderheimen bes.

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Kälte, kaltem Duschen auch im Winter als Disziplinarmaßnahme, Fesselungen an Heizkörper, »Kopfnüsse«, Schläge, Tritte und Prügel besonders auf die Weichteile bis hin zu sexualisierter Gewalt rahmten seinen Alltag. Selbst auf der Toilette bot sich keine Möglichkeit des Rückzugs. Im Zentrum standen schwere körperliche Arbeit und reduzierter Schulunterricht. Häufiges Urlaubs- und Besuchs- sowie permanentes Sprechverbot gehörten zur Disziplinierungsstrategie.32 Sprach ein Kind im Heimgebäude, auf dem Gelände oder während der Mahlzeiten, führte das dazu, dass es stehend warten musste, bis die übrigen Kinder gegessen hatten, um den Speisesaal hungrig zu verlassen. Er berichtete auch, dass eine verschwundene Frucht auf dem Tortenstück eines Erziehers zu stundenlangem Strammstehen der gesamten Gruppe geführt hatte.33 Die Zensur der Kontakte wurde exzessiv betrieben. Die Mutter wunderte sich, leere Briefumschläge vom Sohn zu erhalten. Die Erzieher hatten die Schreiben des Sohnes entnommen und leere Briefe verschickt. Selbst zu Weihnachten milderte sich die Gewalt nicht. Das Geschenk der Mutter, ein Spielzeugauto westlicher Herkunft, zertrat der Erzieher vor seinen Augen ohne ein Wort der Erklärung.34 Anstatt der sonst üblichen zwei Jahre blieb er bis zu seinem 14. Lebensjahr im Heim. Nach nur vier Monaten wurde er wiederum eingewiesen, diesmal in das Spezialheim in Bad Blankenburg in Thüringen, da er davon gesprochen hatte, die DDR verlassen zu wollen. Von dort durfte der Sechzehnjährige nicht ins Elternhaus zurückkehren. Vielmehr musste er in einem Internat leben und sich wöchentlich bei der Abteilung Inneres melden, wo ihm beständig mit der Einweisung in den berüchtigten geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, der als »Kinderknast« bekannt war, gedroht wurde.35 Als Auslöser dafür konnte der Versuch gelten, seine Familie zu besuchen. Obwohl nie als solcher aktenkundig geworden, erfasste ihn die Abteilung Inneres der Stadt Jena (MdI) vorfristig als kriminell gefährdet. Seit September 1974 musste er sich dort vier Jahre lang

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Sachse: Ziel (Anm. 19), S. 86–91. Vgl. u. a. Wolfgang Benz: Gewalt gegen Kinder. Jugendhilfe und Heimerziehung in der DDR, in: Deutschland Archiv, 11. 04. 2014, verfügbar unter: http:// www.bpb.de\182642 [20. 05. 2023]. Zu weiteren Erfahrungen u. a. Jenaer Zentrum: Strukturen (Anm. 21), S. 78f., 90–93 u. ebd. Anhang. Zeugenaussage Peter H. vom 17. 04. 2014. Sachverhalt zur politischen Verfolgung 2011, Bl. 2– 7. Stritzinger: Zweifel (Anm. 31), S. 32. Sachverhalt zur politischen Verfolgung (Anm. 32), Bl. 6. Die Drohung, nach Torgau eingewiesen werden zu können, wurde allgemein als Druckmittel benutzt. Zentral zu Torgau: Zimmermann: Menschen (Anm. 3). S. 373–409. Die wöchentlichen Kontrollrapporte wurden an anderer Stelle als Polizeiaufsicht charakterisiert und korrespondieren mit der Verurteilung des Vaters nach § 115 Abs. 2 StGB: »[…] auch kann auf Zulässigkeit von Polizei-Aufsicht erkannt werden«; vgl. Ministerium der Justiz der DDR (Hg.): Strafgesetzbuch der DDR und andere Strafgesetze, erweiterte Textausgabe mit Anmerkungen und Sachregister, Berlin 1956, S. 41f.

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wöchentlich zu festen Zeiten melden.36 Obwohl er nicht, wie gefordert, bei der Übergabe an die Abteilung Inneres volljährig und kriminell auffällig gewesen war, dehnte die Abteilung Inneres ihren Kompetenzrahmen aus. Mit seinem Ausreisewunsch galt er als politisch unzuverlässig, ergo »kriminell gefährdet«.37 Als er 1976 als nun Volljähriger von der Abteilung Inneres der Stadt Jena auch offiziell als »kriminell gefährdeter Bürger« erfasst wurde, schwebte über ihm permanent das Damoklesschwert der Inhaftierung.38 Matthias Schmidt berichtete, durch die wöchentlichen Kontrollrapporte stetig eingeschüchtert, verunsichert und verängstigt worden zu sein. Regelmäßig musste er über sämtliche ihn betreffenden Angelegenheiten berichten und den Zugriff auf die Privat- und Intimsphäre erdulden, so dass er sich unter Totalobservation fühlte. So schilderte er, bei einem der Termine habe ein Mitarbeiter des MdI ihm vorgeworfen, in der vorhergehenden Nacht nicht im Lehrlingswohnheim übernachtet zu haben. Im Heim selbst herrschte Besuchsverbot.39 Während der zeitgleichen Lehre in einem Fleischbetrieb demütigten ihn die Arbeitskollegen, und Vorgesetzte beauftragten ihn mit körperlichen Schwerstarbeiten, die seine Gesundheit bis ins spätere Leben beeinträchtigten. Im letzten Halbjahr der Lehre kürzte der Betrieb ihm das Lehrlingsentgelt ohne Begründung auf ein Taschengeld, so dass er kaum für seinen Unterhalt sorgen konnte. Nach dem Lehrabschluss 1976 erhielt er dort trotz Mangels keinen Arbeitsvertrag und arbeitete deshalb bis zu seiner Flucht in Anlernberufen.40 Im August des Jahres 1978 flüchtete der Zwanzigjährige über das Minenfeld der Grenze bei Eisfeld in Thüringen nach Rottenbach in Bayern. In der Bundesrepublik schien er sich zunächst zu konsolidieren, wurde jedoch 1980 bei einer Reise in die DDR verhaftet und wegen der Flucht zur Haft verurteilt. Im 36 Sachverhalt zur politischen Verfolgung (Anm. 32) und Anweisung Nr. 62/74 des MdI und Chefs der DVP über die Durchführung der Wiedereingliederung und die Erziehung kriminell gefährdeter Bürger vom 19. 12. 1974. Vgl. Schroeder: Strafrecht (Anm. 14), S. 166–168. Diese »Betreuung« war von der Abteilung Jugendhilfe allerdings erst dann an die Abteilung Inneres abzugeben, wenn die Jugendlichen die Volljährigkeit erreicht hatten und die Kriminalitätsprognose negativ ausfiel. Insbesondere widersprach die Auflage der Anweisung des Ministers des Innern von 1974. Vgl. Anweisung Nr. 62/74, Bl. 10, ebd. Punkt 27: Volljährige unter Kontrolle der Abteilung Inneres. 37 Vgl. Anweisung 62/74 (Anm. 36). 38 Rat der Stadt Inneres/Bereich Inneres vom 25. 02. 1976: Bestätigung zur Erfassung von kriminell gefährdeten Bürgern in der Stadt Jena. Vgl. Anweisung Nr. 62/74. Dies geschah in Abstimmung der Abteilung Inneres der Stadt Jena, die zugleich Schaltstelle zur Staatssicherheit war, und in Absprache mit der Jenaer Kriminalpolizei sowie der Jenaer Staatssicherheit und der seit 1966 bestehenden ständigen Kommission 15/66. 39 Dazu und zum Folgenden: Rat der Stadt [Jena]/ Bereich Inneres 25. 02. 1976. Bestätigung zur Erfassung von kriminell gefährdeten Bürgern in der Stadt Jena. Vgl. auch Stritzinger: Zweifel (Anm. 31), S. 34 und Schmidt: Sachverhalt (Anm. 32), Bl. 8. 40 Das verstieß gegen §141 des DDR-Arbeitsgesetzbuches, vgl. Reinhard Kobert (Bearb.): Arbeitsgesetzbuch und andere Rechtsvorschriften. Berlin ³1983, S. 44f.

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Dezember 1981 wurde er in die Bunderepublik freigekauft.41 Dort gelang es ihm, einen Abschluss zum Wirtschaftskaufmann zu erreichen. Er wurde zwar 1982 und 1993 für die Strafhaft und 2011 für die Zeit im Spezialheim Bad Blankenburg rehabilitiert. Für die erduldeten Repressionen zwischen dem elften und vierzehnten Lebensjahr sahen die Behörden jedoch keinen Anlass zur Rehabilitierung, da er kriminell auffällig geworden sei. Damit wiederholten sie die unbewiesenen Behauptungen des erwähnten Jugendhilfebeschlusses, obwohl der Strafregisterauszug seine Unschuld vor dem Gesetz bezeugt hatte.42 Die beschriebenen Erfahrungen offenbaren ein breites Spektrum von Gewalt, angefangen bei der Versagung grundlegender körperlicher und emotionaler Bedürfnisse mit permanenter Angst über die Abwertung und Beschneidung von Entwicklungs- und Bildungschancen, der Zerstörung sozialer Bindungen bis hin zu langfristigen, systematischen Blockaden. Sprechverbot, Meldepflichten, Observationen der Privatsphäre, Beschränkungen des Aufenthaltes und der Sozialkontakte waren Instrumente, die angesichts der Geheimhaltungen für die Allgemeinheit unsichtbar blieben, doch den Betroffenen drastisch beschränkten. Im Schatten des Sprechverbotes verblieben auch die permanente Unsicherheit und Angst, die Demütigungen und Übergriffe. Mit Erziehung wurde die Platzierung des Jugendlichen an untergeordneten Orten codiert. Erziehung bedeutete, ihn dort zu fixieren und ihm die sozialen, materiellen und kulturellen Ressourcen zu verwehren. Erziehung zielte so nicht darauf, Heranwachsende so zu fördern, dass sie wie propagiert zu allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten heranwuchsen, sondern wurde zum Aktionsraum der Feindbildgesellschaft, in der sich sowohl physische und psychische, insbesondere die nicht sichtbare, doch manifeste, direkte wie indirekte Gewalt gegen Schwächere ausbreiten und verschärfen konnte.

Die Verschränkung von Mikro- und Makrogewalt durch die Behördenkarteien Unvollständig oder ungerechtfertigten, beständigen Zugriff auf Heranwachsende als »Erziehung« zu legitimieren war eine Funktion der Behördenkarteien. Sie bilden das zentrale Element der institutionellen Verflechtungen und zeitlicher Kontinuitätslinien. In den Karteien fanden sich stigmatisierende Sprachsymbole wie »asozial« oder »Rowdy«, was auf das entsprechende Handlungssample der Behördenmitarbeiter hindeutet. 41 Stritzinger: Zweifel (Anm. 31), S. 34. 42 Ebd.

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Fast parallel zur Haftentlassung des Vaters war der ältere Bruder von Matthias Schmidt mit acht Jahren 1956 in das Spezialkinderheim nach Hohenleuben verbracht worden, da er vom Vater nicht zum »sozialistischen Menschen« erzogen werden könne. Die Polizei bezog ihre Informationen über den Vater aus Handakten und wohl auch der Überwachungskartei gegen Staatenlose.43 Observation, Kontrolle und Heimerziehung drohten als »wirksame Erziehung«44 und »Jugendschutz« auch den Geschwistern. Die Familienmitglieder wurden von Polizei und Stasi sowie deren »Partnern des politisch-operativen Zusammenwirkens« als Vorbestrafte, Staatenlose, als Rowdies und gefährdete Jugendliche definiert.45 Die Kinder der in den Polizeikarteien über »Rowdies« verzeichneten Eltern wurden seit 1960 landesweit in so genannten Jugendschutzkarteien zu »Rowdytum und Bandenunwesen« registriert.46 Dort sammelten die Behörden parallel die aus Spezialheimen und Jugendwerkhöfen Entlassenen, auch wenn sie nicht straffällig geworden waren. Die jeweiligen Abschnittsbevollmächtigten der Polizei (ABV) lieferten monatlich Berichte über diese Jugendlichen und Kinder.47 Die Aktualisierungen schickten die Arbeitsgebiete I der Kriminalpolizei (Stasi-Abteilung der Polizei) und VII (Jugendüberwachung) regelmäßig an die Stasi. Deren »Nichtstrukturelle Arbeitsgruppe Jugend« wertete die Jugendschutzkarteien aus, fügte eigene Informationen hinzu, erstellte monatliche Jugendanalysen und verfügte in Zusammenarbeit mit den staatlichen Arbeitsgruppen »Jugendfragen« weitere Repressionen.48 »Erziehung« als Einschränkung ziviler Rechte verschärfte sich mit der Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961, der die Verordnung über die 43 Seit spätestens 1953 galt er als staatenlos. Das hieß für die gesamte Familie permanente Aufenthalts- und Rechtsunsicherheit. Zur Staatenlosigkeit Dieter Gosewinkel: Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016. 44 BArch, DR 2/D1101: Auswertung Jugendschutzkartei 28. 07. 1960, zit. n. Zimmermann: Menschen (Anm. 3), S. 201. 45 Ein Bruder hatte versucht, aus der DDR zu fliehen und wurde inhaftiert. Anschließend erhielt er mit dem Ersatzausweis PM12 eine Aufenthaltsbeschränkung auf die Stadt Gera und durfte die Familie in Jena nicht besuchen. Auch der zweite Bruder wurde 1966 für zwei Jahre in ein Kinderheim eingewiesen. Vgl. Sachverhalt zur politischen Verfolgung (Anm. 32). Als Partner des politisch-operativen Zusammenwirkens zählten neben den oben genannten Kriminalabteilungen die Polizei-Abteilung Pass- und Meldewesen und der für das Wohngebiet zuständige Abschnittsbevollmächtigte der Polizei, das Jugendamt, die Fürsorgerinnen und die Schulen. 46 ThStA Rud BDVP Gera 21.1/0203, Bl. 29: VPKA Jena/Kripo 23. 05. 1968. Die Diskussion um das »Rowdytum« mündete 1968 als § 215 im Strafgesetzbuch; Zimmermann: Menschen (Anm. 3). S. 79–88, 159–165; ThStA Rud BDVP Gera 21/0190, Bl. 210: BDVP/Chef Oberst VP: Anw. an Leiter VPKA Jena 01. 04. 1960. 47 ThStA Rud BDVP Gera, 21/0190, Bl. 215. 48 BStU MfS JHS 21785 (= VVS MfS 160-149/68), Bl. 248–250. Ausführlicher zu diesen Arbeitsgruppen Lenski: Kommunikationsräume (Anm. 10), S. 76–77, 142.

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Aufenthaltsbeschränkung folgte. Diese diente als multiples Instrument gegen normabweichende Personen, um sie an Orte und Arbeitsplätze zu binden, sie zu jeder Tages- und Nachtzeit kontrollieren und sanktionieren zu können.49 Die Diskussion um den angeblichen Kriminalitäts-Anstieg unter der Jugend erreichte mit dem 11. Plenum des SED-Zentralkomitees 1965 und der Dienstanweisung 11/66 von Staatssicherheitsminister Mielke ihren Höhepunkt.50 Um die Heranwachsenden wurde das Netz von Verordnungen weitergeknüpft, mit dem sie kriminalpräventiv sanktioniert werden konnten.51 Die Schulen nahmen in diesem Ensemble eine zentrale Rolle ein und sollten abweichende Kinder karteimäßig erfassen.52 Mit dem Jugendgesetz von 1964 und dem 1965 verabschiedeten Bildungs- und Familiengesetz waren Schulen und Elternbeiräte befugt, Familien politisch-ideologisch zu beurteilen.53 Die Direktoren und Parteisekretäre der Schulen sollten regelmäßig auffällige Kinder auch unterhalb der Strafrechtsschwelle melden.54 Am Beispiel der »kriminellen Gefährdung« lässt sich eine zunehmende Abstraktion und damit Unschärfe der Begriffe beobachten, die es zuließ, den gewaltförmigen Handlungsrahmen weiter zu weiten. In der Instruktion 13/66 verfügte der Leiter der Hauptabteilung Kriminalpolizei, eine spezielle Kartei gegen vorgeblich kriminell gefährdete Kinder und Jugendliche auf Grundlage der oben genannten Karteien zu schaffen.55 Im gleichen Jahr bildeten sich die

49 Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung vom 24. 08. 1961 in: GBl. II, Nr. 55/1961, 343; BArch DO 1/17287, unpag. 50 Wierling: Erscheinungen (Anm. 18), S. 27–37 hat auf die ausgrenzenden Sprachmuster insbesondere im Kontext des XI. ZK-Plenums und deren Folgen verwiesen. 51 Beauftragter: Aufarbeitung (Anm. 19), S. 273. Auch wenn einige der Marginalisierten hin und wieder in den Kirchen offenere Räume fanden, institutionalisierte sich die Gewalt weiter in der Gesellschaft. Zu dieser Funktion der Offenen Arbeit: Marc-Dietrich Ohse: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest, Eigensinn (DDR 1961–1974), Berlin 2003, S. 223, 271– 274; Katharina Lenski: Sozialistisches Menschenbild und Individualität. Die »Offene Arbeit« – ein Ort der Freiheit? Entstehung, Konzepte und soziale Praxis alternativer Jugendkultur im Staatssozialismus (1961–1989), in: Deutschland Archiv vom 15. 03. 2017, verfügbar unter: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/242954/sozialistisches-men schenbild-und-individualitaet-die-offene-arbeit-ein-ort-der-freiheit [22. 06. 2023]. Zur Institutionalisierung der Gewalt: Sachse: Schliff (Anm. 2), S. 50f: Die steigende Disziplinierung zeigte sich auch in der Erhöhung der Heimplätze. 52 So bei Sachse: Schliff (Anm. 2), S. 139: Der Direktor einer Zehnklassen-Schule in Demmin führte 1986 eine regelmäßig aktualisierte Liste »gefährdeter« Schüler. Die Karteierfassung wurde je nach Schule unterschiedlich praktiziert. 53 Ohse: Jugend (Anm. 51), S. 120f.; Sachse: Schliff (Anm. 2), S. 137–138. 54 ThStA Rud BDVP Gera 21/0190, Bl. 232. 55 BArch DO 1/63392, zit. n. Angela Kowalczy: »Auch Dich werden wir in den Griff bekommen…«. Im Netz der Jugendhilfeeinrichtungen. Berlin u. a. 2002, S. XXXI.

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Kommissionen 15/66, die darauf zielten, erfasste Kinder und Jugendliche in geschlossene Einrichtungen einzuweisen.56 Mit dem Generalverdacht und der daraus folgenden Gleichsetzung von Kriminalität mit Jugend hantierte der weitere Ausbau des institutionellen Zusammenwirkens.57 (Geheim-) Polizei, Staatsanwaltschaft, Schulen, Fürsorge und Jugendhilfe beriefen sich in ihrem Zusammenwirken auf die 1968 angepasste Verordnung über die Aufenthaltsbeschränkung58, auf die Direktive 4/68 gegen die »Jugendkriminalität«59 des Polizeiministers und auf die Verordnung über die »Erziehung kriminell gefährdeter Bürger« des MdI, die 1974 aktualisiert wurde.60 Seit Beginn der 1970er Jahre wurden die Karteien zunehmend zentralisiert.61 Im beschriebenen Fall zeigt sich die durch die Karteikarten produzierte Kontinuität der Feindzuschreibungen. Matthias Schmidt wurde seit seiner Schuleinführung 1965 mit nur sieben Jahren erfasst. Von diesem Zeitpunkt datierte die Akte des Jugendamtes, wobei konsequenterweise schon 1962 eine Akte hätte angelegt werden müssen, als der damals Vierjährige sexuell missbraucht worden war. Im Jahr 1969 veranlasste die Schule auf der Grundlage der Verordnung zur Erziehung kriminell gefährdeter Bürger von 1968 einen Jugendhilfebeschluss der Stadt Jena gegen ihn.62 Der Beschluss selbst blieb geheim, er erfuhr von diesem erst 2011 in der Beschwerdeinstanz seines Rehabilitierungsverfahrens. Diese

56 Vgl. für Matthias Schmidt: Rat der Stadt [Jena]/ Bereich Inneres 25. 02. 1976: Bestätigung zur Erfassung von kriminell gefährdeten Bürgern in der Stadt Jena, Bl. 2. Nach der Direktive 03/67 des Ministers des Innern sollten die örtlichen Polizeiämter mittels dieser Karteien selbst solche Heranwachsende erfassen, die nach Meinung der Polizisten als kriminalitätsgefährdet einzustufen waren, und diese an die Stasi weiter melden, BStU MfS JHS 21785, Bl. 249. 57 Vgl. Beauftragter: Aufarbeitung (Anm. 19), S. 260. 58 Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung vom 24. 08. 1961 in der Fassung vom 12. 01. 1968. 59 Direktive Nr. 4/68 des MdI und Chefs der DVP über Aufgaben und Maßnahmen zur systematischen Bekämpfung der Jugendkriminalität vom 01. 07. 1968, in: BStU MfS BdL/Dok., Nr. 010246. 60 Verordnung über die Aufgaben der örtlichen Räte und der Betriebe bei der Erziehung kriminell gefährdeter Bürger vom 15. 08. 1968, in: GBl. II, Nr. 93/1968, S. 751. Dazu gehörte auch das Gesetz zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten – OWG – vom 12. 01. 1968, in: GBl. I, 1968, S. 101. Vgl. Schroeder: Strafrecht (Anm. 14), S. 166–168. 61 Beauftragter: Aufarbeitung (Anm. 19), S. 48: Plath & Reuter 1972, S. 286: Erfassung aller »Rowdygruppen« Jugendlicher und junger Erwachsener bis 25 Jahre bei den Bezirken. Die Forschung hat hierzu Nachholbedarf. 62 Verordnung über die Aufgaben der örtlichen Räte und der Betriebe bei der Erziehung kriminell gefährdeter Bürger vom 15. 08. 1968, in: GBl. II, Nr. 93/1968, S. 751. Er wurde aufgrund des Beschlusses des Rates der Stadt Jena – Jugendhilfeausschuss – vom 15. 10. 1969 (Beschluss-Reg. Nr. 58/1969) in das Spezialheim eingewiesen. Für das Jugendamt zeichnete der Referatsleiter der städtischen Jugendhilfe, für die Arbeitsstelle der Eltern die Werksfürsorgerin verantwortlich; eidesstattliche Erklärung der Mutter vom 30. 11. 2003.

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Geheimhaltung verweist auf die Rechtsstaatswidrigkeit und damit auf den strukturellen Aspekt der ausgeübten Gewalt, was kein Einzelfall war.63 Auf Grundlage der genannten Verordnung von 1968, der erwähnten Karteien und unbewiesener Verleumdungen beschloss der Jugendhilfeausschuss die Heimeinweisung. Der Vorwurf der »Asozialität« überbrückte die Leerstelle der fehlenden Plausibilität. Die Familie war im Wohngebiet und von Lehrer:innen als »asozial« denunziert worden.64 Den Eltern wurde in Schule und Betrieb während öffentlicher Scherbengerichte unterstellt, das »politisch erzieherische Moment« nicht zu nutzen.65 Zwei ältere Brüder seien im Heim gewesen, der Vater im Gefängnis: eine Kontinuität, mit der die Heimeinweisung des dritten Bruders selbstverständlich schien.66 Der Beschluss blieb entsprechend unkonkret und führte zur Begründung abstrakte, doch nicht widerlegbare Behauptungen an.67 Die zum Teil erfundenen Vorwürfe wurden durch die Karteien und die Aktenführung auf Dauer gestellt und erhielten somit das Gewicht unbestreitbarer Evidenz.68 Die Jugendschutzkarteien dienten somit als Instrument stigmatisierender Feindzuschreibungen mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche aus dem familiären Schutz in geschlossenen Einrichtungen zu disziplinieren, sie waren Ausgangs-

63 Vgl. Beauftragter: Aufarbeitung (Anm. 19), S. 48–49. 64 Eidesstattliche Erklärungen von Monika H. vom 16. 09. 2016 und von Frank-Jürgen S. vom 26. 01. 2011. 65 Eidesstattliche Erklärung der Mutter vom 30. 11. 2003. 66 Nach Rechtslage der DDR sollten Maßnahmen der Jugendhilfe nur greifen, wenn eine Erziehung bei den Eltern auch »mit gesellschaftlicher Unterstützung« nicht gesichert war (§ 50 Abs. 1 Satz 1 StGB/DDR). Dem Erhalt und der Förderung der Familie galt zumindest offiziell Vorrang vor der Heimerziehung; vgl. Beauftragter: Aufarbeitung (Anm. 19), S. 47–49. 67 Wenn eine Heimeinweisung auch plausibel gewesen wäre, so war damit noch nicht die in ein Spezialheim begründet. Diese verstieß gegen die geltende Rechtsvorschrift des § 23 der Verordnung über die Aufgaben und Arbeitsweise der Organe der Jugendhilfe. So hat das Landgericht Berlin am 21. 02. 2018 zum Aktenzeichen (551 Rh) 152 Js 308/17 Reha (301/17, [302–305/17]) entschieden: »Eine Straffälligkeit oder Gemeingefährlichkeit stellte neben der Schwererziehbarkeit keine Voraussetzung für die Unterbringung in einem Spezialheim dar«; vgl. Verordnung über Aufgaben und Arbeitsweise der […] Jugendhilfe, GBl. II Nr. 34/1966, S. 215–226, hier § 23 (f). 68 Das Thüringer Oberlandesgericht hat dazu am 02. 05. 2011 festgestellt, dass die Unterbringung im Spezialkinderheim Altengottern als Freiheitsentzug zu werten ist. Diese basierte nur auf dem Jugendhilfe- und nicht auf richterlichem Beschluss, war demnach rechtsstaatswidrig. Für eine strafrechtliche Rehabilitierung musste hier allerdings zusätzlich eine politische Verfolgung, sonstige sachfremde Zweckrichtung oder grobe Unverhältnismäßigkeit belegbar sein. Zu dieser Auffassung sah sich das Gericht nicht in der Lage und argumentierte, die Einweisung hätte dem Kindeswohl gedient. Es übernahm damit das Narrativ der Täter. Vgl. dagegen die Betonung der besonders gewalttätigen und entwicklungshemmenden Rolle der Spezialheime bei Dreier, Laudien: Einführung (Anm. 19), hier bes. S. 88–98. Vgl. Sachse: Ziel (Anm. 19), S. 86–87.

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punkt einer Spirale von Deplatzierungen, von versagten Chancen und blockierten Ressourcen.

Fazit »Jugend« wurde spätestens in den 1960er Jahren der DDR zum Code potentieller Kriminalität, was die DDR-Institutionen als Argument für generalpräventive Strukturen und gewalttätige Handlungsmuster nutzten. Dies begrenzte und blockierte umgekehrt die Entfaltung der Heranwachsenden. Die Erziehenden fanden einen Handlungsraum vor, in dem sie die ihnen Anvertrauten ungestraft und abseits humanitärer Standards physisch und psychisch demütigen konnten. Die Karteikarten und das darauffolgende Schriftgut dienten als Brücke zwischen Behörden und (Geheim-) Polizei, zwischen geheimen und öffentlichen Intentionen und Zielen. Mikro- und Makrogewalt verflochten sich innerhalb und zwischen den Behörden und Institutionen durch die Karteien: Dort schrieben Polizei, Stasi, Jugendämter und weitere Erziehungsträger Feindbilder fest, die sich in den Figuren des Rowdies und Asozialen verdichteten und auf Dauer stellten. Diese Sprachsymbole beinhalteten Handlungssamples, in denen sich Vorbilder aus der Vergangenheit mit dem Ziel des sozialistischen Menschen mischten. Bereits seit 1953 hatte die Polizei Karteien angelegt, in denen sie so genannte Rowdies erfasste. Seit 1960 flossen die gleichen Informationen in Jugendschutzkarteien, seit 1966 sowohl bei der Polizei wie der Abteilung Inneres in Karteien über gefährdete Kinder und Jugendliche. Gespeist wurden die Karteien u. a. aus Informationen vom Abschnittsbevollmächtigten der Polizei, von der Jugendfürsorge und den Schulen. Während diese Ebenen relativ sichtbar waren, begann nun der geheim gehaltene Teil. Die zuständigen Abteilungen der Kriminalpolizei leiteten die Karteien an die Stasi weiter, welche sich mit Jugendhilfe, Polizei und anderen Erziehungsträgern über das weitere Vorgehen absprach, so dass sich Gewaltstrukturen mit personalen Aspekten verflochten. »Erziehung« symbolisierte somit nicht die Entfaltung der Jugend, sondern bezeichnete für viele Heranwachsende einen Prozess der fortschreitenden Stigmatisierung, Kriminalisierung und Ausgrenzung. Eine zentrale Grundlage dieser Entwicklung bildete das Argument der Asozialität, das seine Ursprünge in der Zeit des Kaiserreichs hatte und die Weimarer Republik und die NS-Zeit, in der es allgegenwärtig war, überdauerte. Es spannte ein unsichtbares Band zwischen allen Hierarchiestufen der Beteiligten in Polizei und Justiz, Gesundheitswesen und Wohlfahrt, Verwaltung und Schulen; zwischen Fürsorgerinnen, Kollegen und Nachbarn. Mit dem Kampf gegen die als »asozial« von der Gesellschaft Auszugrenzenden verbanden sich Gewaltpraktiken der Beteiligten, die es mit der

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Definition der »Asozialität« nicht allzu genau nahmen. »Arbeitsscheu« und »Unmoral« sollten präventiv verhindert werden, konnten sich somit in harmlosen Verhaltensabweichungen zeigen, waren manchmal überhaupt unsichtbar und wurden erst durch die bürokratischen Definitionen erzeugt. Mit Vorbeugung legitimierte man die Separierung der Kinder von den Eltern und gab der Gewalt das Gesicht sozialer Hilfen, die aber tatsächlich der gewaltsamen und gewalttätigen Formierung des »neuen Menschen« dienten. Ein weiteres Sprachritual zeigt sich in der Rede über »Schulbummelei«, die als Vorfeld der »Arbeitsbummelei« gedeutet wurde. Auch Letztere stellte eine die Gewalt legitimierende Sprachtradition des Nationalsozialismus dar und kontrastierte den vermeintlich deutschen Qualitätsarbeiter mit angeblich Asozialen, die der Gemeinschaft durch fehlende Identifikation mit der sozialistischen Lebensweise schadeten.69 Die Sprachbrücke zu stalinistischen Gesellschaften zeigte sich im Verweis auf »Arbeitsscheu« bzw. dem Sozialismus fremden Verhaltensweisen. Geheimhaltung und strukturelle Gewalt bedingten einander. Schweigegebote und Sprechverbote lassen sich sowohl in den Behörden als auch bei den Betroffenen finden. Die Geheimhaltung diente der langfristigen Verschleierung und Legitimierung des Gewalthandelns gegen die Jugendlichen. Nach 1989 haben die Rehabilitierungsbehörden diese Probleme nicht nur individualisiert, sondern von den Betroffenen gefordert, die Unschuld zu beweisen, was jedoch unmöglich ist. Mehr noch, die repressive Deutung der Behörden hat sich mit diesem Ansinnen über 1989 hinaus verlängert. Damit verdeck(t)en auch noch bundesdeutsche Ämter die vielfältige Gewalt gegen »auffällige« Jugendliche in der DDR und den bis heute andauernden Vertrauensbruch gegenüber den damals Schutzbedürftigen und bis heute Traumatisierten.

69 Zur Identifizierung als Qualitätsarbeiter vornehmlich in der DDR vgl. Alf Lüdtke: »Helden der Arbeit« – Mühen beim Arbeiten. Zur missmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, in: Kaelble u. a (Hg.): Sozialgeschichte (Anm. 22), S. 188–213 und Marc Buggeln, Michael Wildt: »Deutsche Qualitätsarbeit«. Mitmachen und Eigensinn im Nationalsozialismus. Interview […] mit Alf Lüdtke, Göttingen, 19. 02. 2014, in: dies. (Hg.): Arbeit im Nationalsozialismus, Göttingen 2014, S. 373–401. Zu den Kontinuitäten vgl. Johannes Raschka: Soziale Einordnung durch Rechtsetzung? Die Verfolgung von »Arbeitsscheuen« in der Sowjetunion und der DDR, in: Karl Eimermacher, Astrid Volpert (Hg.): Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche nach 1945, München 2006, S. 747–777, hier S. 773f.; Korzilius: Arbeitsethik (Anm. 23); S. 209–222.

Christian Sachse

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Der Aufsatz wendet sich einem besonderen Themenbereich zu, der in der DDRForschung nur selten zusammenfassend behandelt wird: der staatlich sanktionierten Gewalt im sozialistischen Gesellschaftssystem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Gewalt, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt waren. Einen inhaltlichen Einblick in den Forschungsstand bietet der Sammelband »Disziplinieren und Strafen. Dimensionen politischer Repression in der DDR.«1 Er enthält Beiträge aus einer Veranstaltung des Projektverbundes »Landschaften der Verfolgung«, an dem u. a. Juristen der Europa-Universität Viadrina, Historiker der Humboldt-Universität Berlin, mehrere Gedenkstätten und das Menschenrechtszentrum Cottbus sowie die Berliner Charité beteiligt sind. Das Projekt wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. In Aufarbeitung und Wissenschaft wurden bisher einzelne Aspekte oder Institutionen der innergesellschaftlichen Gewalt untersucht, das Projekt »Landschaften der Verfolgung« strebt demgegenüber eine Zusammenschau an, die den systematischen Charakter der Gewaltanwendung hervortreten lässt. In den folgenden Ausführungen wird dieser Ansatz aufgegriffen. Dabei geht es weniger um konkrete Einrichtungen als um Dimensionen von Gewalt. In einem einleitenden Abschnitt werden die ideologisch-legitimatorischen Grundanschauungen des Marxismus-Leninismus auf ihr Gewaltverständnis hin untersucht. Dies ist ein für kommunistisch orientierte Gesellschaften notwendiger Schritt, denn sowohl in der Gesellschaftskonzeption als auch den alltäglichen politischen Entscheidungen bezogen sich die Entscheidungsträger immer wieder auf die »Klassiker des Marxismus-Leninismus«. Das daraus erwachsene starre Regelsystem, genannt »Weltanschauung«, folgte völlig anderen Wirkmechanismen als das plural angelegte Wertesystem des Westens. In einem zweiten Abschnitt wird dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden marxistischen Gewaltverständnis ein Verständnis entgegengesetzt, mit dem sich der illegitime Cha1 Jörg Baberowski, Jörg Kindler, Stephan Donth (Hg.): Disziplinieren und Strafen. Dimensionen politischer Repression in der DDR, Berlin 2021.

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Christian Sachse

rakter innenpolitischer Gewalt in den sozialistischen Gesellschaften sichtbar machen lässt. Genutzt wird der aus der Friedens- und Konfliktforschung stammende Gewaltbegriff Johan Galtungs, der – hier zunächst stark vereinfacht gesagt – von den Wirkungen von Gewalt auf die Betroffenen ausgeht. Die von Galtung entwickelten beiden Grundverständnisse von Gewalt – direkt oder strukturell – werden in den nachfolgenden Abschnitten auf die sozialistische Gesellschaft der DDR angewandt. Anhand eines internen Planes des ZK der SED von 1968 werden die praktischen Umsetzungen im Bereich der militärischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen illustriert. In einem letzten Abschnitt wird kurz auf das Strafsystem eingegangen, ohne das kein repressives System auskommt. Zum Schluss werden die Folgen dieses Systems angedeutet, die Psychotherapeuten, Psychologen, Mediziner und Sozialarbeiter bis heute beschäftigen.2

Gewalt als Movens der Geschichte bei Marx, Engels und Lenin Jede Gesellschaft muss irgendwann ein prinzipielles Verhältnis zur zwischenmenschlichen Gewalt finden. Nach Ansicht der »Klassiker« des Marxismus-Leninismus waren die gesamte Geschichte und vor allem der Kapitalismus auf dem Fundament der physischen Gewalt aufgebaut. Gewalt betrachteten sie daher nicht als zu überwindenden »Naturzustand« des Menschen, wie seit der Aufklärung üblich, oder wenigstens als unvermeidliche anthropologische Konstante, sondern als grundlegendes Konstruktionselement jeder Gesellschaft, das der Weiterentwicklung der Gesellschaft dient.3 In diesem Sinne ist auch der Slogan von Marx zu verstehen, Revolutionen seien »die Lokomotiven der Geschichte«.4 Aus dieser Grundannahme resultierten alle späteren gesellschaftspolitischen Strategien des Marxismus, die den von Marx postulierten »allgemeinen Entwicklungsgesetzen« der Menschheit zu folgen meinten: Zunächst einmal musste die Gewalt in die richtigen Hände gelangen, in die Hände der arbeitenden Klasse. Das konnte, wie Marx immer wieder betonte, nur durch einen gewaltsamen Umsturz erreicht werden. Es folgte eine Übergangszeit, in der die Arbeiterklasse »sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die

2 An dieser Stelle der Hinweis: Ich benutze im Regelfall das generische Maskulinum. 3 Vgl. dazu weiterführend: Christian Sachse: Sozialistische Wehrerziehung in der DDR und die kommunistische Tradition, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, 1996, Nr. 2, S. 3. 4 Karl Marx: »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850«, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 7, Berlin 1960, S. 9–107.

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alten Produktionsverhältnisse aufhebt.«5 Das war die Übergangsgesellschaft zum Kommunismus, der Sozialismus.6 Diese Übergangsgesellschaft sollte durch zentralistische Strukturen bestimmt sein, die einem absolutistischen Herrscher zur Ehre gereicht hätten: Zentralisation des Finanzwesens, des Transportwesens, Abschaffung des Erbrechts, Verstaatlichung der Industrie. Hinzu kamen ein allgemeiner Arbeitszwang sowie die öffentliche Erziehung der Kinder. Die Intensität des Umbaus des Kapitalismus beschrieb Marx mit starken Formulierungen. Diese Pläne ließen sich nur umsetzen »vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse«.7 Dieses Programm sollte dazu dienen, die »Klassenunterschiede« zum Verschwinden zu bringen, um schließlich in eine – nicht näher bestimmte – freie Assoziation zu münden, in der »die öffentliche Gewalt den politischen Charakter« verlöre.8 Bis zu diesem Zeitpunkt war auch die Nachfolgegesellschaft des Kapitalismus von physischer Gewalt durchzogen. Dieses Theorem wurde später unter dem Begriff der »Diktatur des Proletariats« zusammengefasst. Marx hat diesen Begriff wohl geprägt, aber nicht als zentrale Begrifflichkeit benutzt.9 Lenin wird später in seiner Schrift »Staat und Revolution« diese Diktatur um das Element der »Arbeiter-und-Soldaten-Räte« ergänzen.10 Damit stellten die Auffassungen von Marx und Engels, wie sie 1848 im kommunistischen Manifest zusammengefasst waren, einen dezidierten Gegenentwurf zur fast zeitgleich entstandenen Paulskirchenverfassung mit ihrer ausgearbeiteten Gewaltenteilung und den Prinzipien von »checks and balances« dar.11 Ein Jahrhundert später werden die DDR und die BRD sich im geteilten Deutschland auf diese gegensätzlichen gesellschaftspolitischen Ansätze berufen. Innenpolitische Gewalt war jedoch nicht nur ein Ergebnis der gesellschaftspolitischen Grundannahmen des Marxismus über die »Diktatur des Proletariats«. Der Verzicht auf Mechanismen zur Konfliktregulierung in den sozialistischen Gesellschaften wie unabhängige Rechtsprechung und freie Presse sowie eine parlamentarische Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols führten 5 Ich folge hier den Schlussthesen des Kommunistischen Manifestes; Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: Digitale Bibliothek, Bd. 2: Philosophie, S. 50054. 6 Bei Marx ist eine solche Abfolge von Formationen nicht so eindeutig abzulesen. 7 Marx, Engels: Manifest (Anm. 5), S. 50052. 8 Ebd. S. 50053. 9 Sven Kellerhoff: Marx schmähte Kesselflicker und Bettler als »Lumpenproletariat«, verfügbar unter: https://www.welt.de/geschichte/article175963906/Marxismus-Marx-schmaehte-Kessel flicker-und-Bettler-als-Lumpenproletariat.html [20. 06. 2023]. 10 Vladimir Il′icˇ Lenin: Staat und Revolution. Die Lehre d. Marxismus vom Staat und den Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Belp-Bern 1918. 11 Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1948, verfügbar unter: https://www.verfas sungen.de/de06-66/verfassung48-i.htm [20. 06. 2023].

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zwangsläufig zu Surrogaten der Konfliktbewältigung. Diese Aufgabe übernahmen eine allmächtige Geheimpolizei, politisch gelenkte Justiz, die Steuerung des öffentlichen Lebens durch streng hierarchisch strukturierte Massenorganisationen und ein hoch ideologisiertes Bildungswesen.12 Der 1952 begonnene »Aufbau des Sozialismus« wurde folgerichtig begleitet von einer Übertragung militärischer Prinzipien, Denkweisen und Umgangsformen auf die Zivilgesellschaft, die ich Seubert folgend als »Militarisierung« verstehen will.13 Im Verlauf dieser Übertragung wurden diese Prinzipien zwar in gewissem Maße zivilen Bedürfnissen angepasst, jedoch blieben in und nach der Anpassungsleistung Herkunft und militärisches Vorbild erkennbar. Die sich herausformenden Strukturen werden deshalb von mir als »militäraffin« bezeichnet. Es entstand eine Fülle von paramilitärischen Organisationen sowie eine Überbetonung militärischer Institutionen und Werte. Kritische westliche Beobachter und die unabhängige Friedensbewegung sprachen von einem »militarisierten Sozialismus« in der DDR. Der Legitimation innenpolitischer Gewalt diente neben den oben geschilderten geschichtsphilosophischen Ansichten auch ein außenpolitisches Feindbild. Das Feindbild »imperialistische BRD« diente dazu, eine Art Belagerungsmentalität zu erzeugen, mittels derer außergewöhnliche Einschränkungen von Rechten, die Verfolgung von der Kollaboration mit dem Feind verdächtigten Personengruppen und staatliche Forderungen an die Leistungsbereitschaft der Bürger begründet werden konnten. Dies geschah dadurch, dass dem »Imperialismus als dem höchsten Stadium des Kapitalismus« eine »wesensmäßige Aggressivität« zugeschrieben wurde, der nur durch höchste Rüstungs-, Arbeits- und Verteidigungsanstrengungen zu begegnen sei.14 Zusammenfassend kann man sagen: Das Verhältnis der sozialistischen Gesellschaften zur Gewalt war ein zweifaches. Zum einen betrachteten sie Marx folgend die Gewalt als konstituierendes Element der sozialistischen Gesellschaftsordnung, zum anderen musste die weitgehende Abwesenheit von konfliktregulierenden Institutionen zu gewalttätigen »Ersatzlösungen« führen. Beide Faktoren beförderten die Übernahme militärischer Strukturen, Denkweisen und Umgangsformen in die Zivilgesellschaft. Politische Gefangene, Geheimpolizei, Streikverbot und Pressezensur waren also keine Entgleisungen des Systems, sondern dessen notwendige Folge. Der militarisierte Sozialismus wiederum be12 Ich folge hier meinem Lehrer Wolfgang Ullmann, der diese These bereits in den 1970er Jahren in seinen Vorlesungen vortrug. Ob er sie schriftlich niedergelegt hat, ist mir nicht bekannt. 13 Christian Sachse: Aktive Jugend – wohlerzogen und diszipliniert. Wehrerziehung in der DDR als Sozialisations- und Herrschaftsinstrument (1960–1973), Münster 2000, S. 211ff. Vgl. auch: Heribert Seubert: Zum Legitimitätsverfall des militarisierten Sozialismus in der DDR, Münster 1995. 14 Alwin Loose, Lothar Glaß: Wehrmoral und Soldatenethos im Sozialismus, Berlin 1975, S. 26.

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durfte eines außenpolitischen Feindbildes, um mit einer »Wagenburgmentalität« einen permanenten Ausnahmezustand rechtfertigen zu können. Deutlich sollte an dieser Schilderung werden, welch hohes Maß an Gewalt die sozialistische Gesellschaft durchzog, einerseits um den »Umbau« der alten, kapitalistischen Gesellschaft durchzusetzen, andererseits die neu entstandenen Machtverhältnisse stabil zu halten.

Zum Begriff und Phänomen der Gewalt in sozialistischen Gesellschaften Um die Funktion der Gewalt in den sozialistischen Gesellschaften zu verstehen, ist ein differenzierterer Gewaltbegriff nötig, als ihn Marx, Engels und Lenin verwendet haben. Wenn die »Klassiker« von Gewalt15 sprachen, meinten sie meist die unmittelbare, organisierte physische Gewalt, die als Instrument der »Reaktion« eine zerstörerische Wirkung entfalte, in den Händen der aktuell »fortschrittlichen Klasse« aber ein Motor der Geschichte sei.16 Der Gedanke, dass die Anwendung des Rechts die Anwendung der Gewalt überflüssig machen könnte, ist dem Marxismus fremd, denn das Recht wird ja als Funktion der Klassenherrschaft begriffen. Ein kritischer Gewaltbegriff wird die marxistische Sichtweise dieser allgemeinen geschichtsphilosophischen Erwägungen um den Blick auf die Wirkungen auf den einzelnen Menschen, das Individuum, erweitern. Hier bietet sich der Gewaltbegriff Johan Galtungs an, der die zerstörerische Wirkung von Gewalt auf den Menschen zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung macht. Der Gewaltbegriff Galtungs hat bereits vor vielen Jahren Eingang in das allgemeine politische Bewusstsein gefunden. Seitdem sind unterschiedliche Deutungen in großer Zahl publiziert worden. Bereits Galtung ist nicht auf ein eindeutiges Konzept festzulegen. Insofern sind einige Sätze nötig, auf welche Aspekte des Gewaltbegriffs Galtungs sich die folgenden Ausführungen beziehen. Bezug genommen wird auf einen Aufsatz Galtungs aus dem Jahr 1990.17 In erster Näherung kann man sagen, dass für Galtung dann Gewalt im Spiel ist, wenn aus einem kommunikativen Akt der eine Teilnehmer dauerhaft einen größeren 15 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass Marx den Begriff »Gewalt« vielfach im Sinne des 19. Jahrhunderts gebraucht, etwa mit dem Sinn »Regierung« oder »Herrschaft«. Dies betrifft vor allem die »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«. Dieser Gebrauch wird hier nicht herangezogen. 16 Marx, Engels: Manifest (Anm. 5), S. 50053. 17 Johan Galtung: Cultural Violence, in: Journal of Peace Research, 1990, Nr. 27, S. 291–305. Der Aufsatz lag dem Autor in einer Übersetzung aus dem Englischen durch Imke Risopp, Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, vor.

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Gewinn zieht als der andere. Diese Verhältnisbestimmung allein ist aber nicht hinreichend, denn dann wäre so gut wie jeder kommunikative Akt der Gewalt verdächtig. So müssen – weiter nach Galtung – Bereiche benannt werden, auf die der Begriff sinnvoll anwendbar ist. Er sieht diese Bereiche in der »vermeidbaren Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse«. Dazu bietet er einen offenen Katalog an. Gewalt richtet sich danach gegen die menschlichen Bedürfnisse nach Überleben, Wohlbefinden, Identität und Freiheit.18 In diesem Aufsatz von 1990 unterscheidet Galtung wohl erstmals zwischen drei Typen der Gewalt. Er ordnet den beiden Gewalttypen »direkte Gewalt« und »strukturelle Gewalt« die »kulturelle Gewalt« zu. Das bekannte »teuflische Dreieck der Gewalt« (Galtung) als Weiterentwicklung des »Schichtenmodells« wird zwar bereits eingeführt, aber inhaltlich nur ansatzweise ausgedeutet. Eindeutige Definitionen der Gewalttypen lassen sich aus Galtungs Aufsatz nicht ableiten. Es handelt sich – wie aus dem Aufsatz hervorgeht – nicht um analytische, sondern um hermeneutische Begriffe, die helfen sollen, die verwirrende Vielfalt »vermeidbarer Beeinträchtigungen« für die Betrachtung zu ordnen. Im Zentrum der Betrachtung stehen nicht die Gewaltbegriffe, sondern deren Wirkungen. Insofern werden auch hier keine Definitionen versucht. Negativ lässt sich feststellen, dass das oft verwendete Verständnis der direkten Gewalt als persönlich ausgeübte physische Gewalt nicht angemessen ist. Dies belegt ein Blick in die untenstehende Tabelle, Spalte vier, Identität. Strukturelle Gewalt scheint dagegen angemessen als über bürokratische Apparate oder Institutionen erzeugte Beeinträchtigung verstanden werden zu können. Aus den beiden erstgenannten Formen, der direkten und strukturellen Gewalt, lässt sich eine Matrix bilden, die zur Analyse des gesellschaftlichen Systems der DDR gut geeignet ist und zudem die Einordnung der speziellen Repressionssysteme wie Spezialkinderheime, Jugendwerkhöfe, Arbeitslager in das Gesamtsystem ermöglicht. Sicher ist Galtungs Systematik nicht unumstritten. Sie ist im streng wissenschaftlichen Sinne auch nicht operationalisierbar. Als hermeneutische und analytische Hilfestellung ist sie aber durchaus zu verwenden. Da der verwendete Aufsatz Galtungs heute nicht leicht zugänglich ist, findet sich im Folgenden eine Abschrift der von ihm entwickelten Matrix.19 Auch wenn an

18 Ein Vergleich mit den menschlichen Grundbedürfnissen nach Maslow zeigt einige Ähnlichkeiten. Es ist aber deutlich, dass Galtung aus der Perspektive der Friedens- und Konfliktforschung argumentiert. 19 Siehe auch die Abschrift, verfügbar unter: https://www.dadalos-d.org/frieden/grundkurs_2/ typologie.htm [12. 07. 2023].

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dieser Stelle nicht alle Begriffe erläutert werden können, wird die Bandbreite an Gewaltformen doch sehr deutlich, die Bedeutung auch für die DDR erlangen.20 Bedürfnis Direkte Gewalt

Überleben Töten

Wohlbefinden Verletzung Belagerung Sanktionen Elend

Strukturelle Gewalt

Ausbeutung A22 Ausbeutung B

Kulturelle Gewalt

Legitimiert die o.g. Gewalttypen

Identität Entsozialisation, Resozialisation21, Bürger zweiter Klasse

Freiheit Repression, Haft, Vertreibung/Ausweisung

Penetration23, Segmentierung24

Marginalisierung, Fragmentierung25

In diese Matrix lassen sich nun bestimmte Gewaltphänomene eintragen, wie sie speziell für Jugendliche beiderlei Geschlechts in der DDR erfahrbar wurden. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede, vor allem im militärischen Bereich, können hier nicht behandelt werden. Sie changierten zwischen Rollenzuweisungen als »Helferin, Frau und Mutter« und Anpassung an das männliche Ideal des »Helden in der Schlacht«. Bedürfnis Direkte Gewalt

Überleben Grenzregime, Waffengebrauch bei Streiks und Aufständen, Folter, Zwangsarbeit

Wohlbefinden Körperliche Verletzungen, psychischer Druck, Misshandlung von Demonstranten, bei Verhören

Identität Umerziehung, Brechung des Willens, militärischer Drill

Freiheit Spezialkinderheime, Jugendwerkhöfe, Arbeitslager, Aufenthaltsbeschränkung, Arrest z. B. in Dunkelzellen

20 Eine fehlerhafte Abschrift findet sich in: Sabine Kaldun: Gewalt in der Stadt. Lösungsansätze zur kommunalen Kriminalitätsprophylaxe, Hamburg 2000, S. 11. 21 Unter Entsozialisation/Resozialisation versteht Galtung den organisierten Verlust der eigenen Kultur (z. B. Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Religion). 22 Ausbeutung A und B werden bei Galtung nur unzureichend definiert; hier ist Platz für Phantasie. 23 Penetration ist mit Galtung als organisiertes Eindringen in das Bewusstsein mit ideologischen Versatzstücken zu verstehen. 24 Segmentierung fasst Galtung als gesellschaftlich organisierte Einschränkung der Wahrnehmung auf. Dies geschieht z. B. wenn die Kenntnisnahme von Büchern mit bestimmten Inhalten verboten wird. 25 Als Fragmentierung könnte man in etwa »Ghettoisierung« einer Menschengruppe bezeichnen.

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(Fortsetzung) Bedürfnis Strukturelle Gewalt

Kulturelle Gewalt

Überleben Wohlbefinden Identität Freiheit MassenorganiIdeologische Politische Jus- DisziplinieÜberformung, sationen, Koltiz, Schießaus- rung, organilektiverziehung, Diskriminiebildung in der sierte Fremdrung, militäraf- Verfolgung und Schule, militä- bestimmung fine Umgangs- Ausgrenzung rische Ordvon Jugendkulformen und nungsdienste turen sowie alSprache und -umgangsternativer Leformen, Fahbensweisen, nenappelle, »Omnipräsenz« marxistisch-leninistischer Weltanschauung in Bildung und Erziehung

Sicher wird man die Zuordnungen auch anders vornehmen können, doch ermöglichen sie einen ersten Überblick über die Vielfalt von Gewalt im Bereich von Jugend und Erziehung.

Strukturelle Gewalt als Grunderfahrung Auch in den westlichen Demokratien gehört ein gewisses Maß an struktureller Gewalt zu den menschlichen Grunderfahrungen. Ein Jugendlicher, der zum ersten Mal mit einem Jobcenter in Berührung kommt, kann die dortige Vorgehensweise durchaus als strukturelle Gewalt und Beeinträchtigung seiner Bedürfnisse auf Identität erleben. Anders als im »demokratischen Sozialismus« – so die Selbstbezeichnung der DDR in ihrer Verfassung – ist allerdings die strukturelle Gewalt im Westen durch die Mechanismen der Gewaltenteilung gebrochen, durch das Gebot der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt sowie im Idealfall von Presse und Rechtsprechung im Rahmen gehalten. Das sozialistische Gesellschaftsmodell bestand dagegen aus zentralisierten Bürokratien (Apparaten), die jeweils eigene Kompetenzen und Fähigkeiten zur Gewaltausübung besaßen, u. a. eigene Sanktionsmöglichkeiten und geheime Berichtswesen. Da es weder Verwaltungsgerichte noch ein Verfassungsgericht gab, verfügten diese Verwaltungen über fast unbeschränkte Handlungsmöglichkeiten. Diese Apparate waren regional und fachlich in einheitliche Unterordnungsstrukturen gegliedert, so dass mehrere »Pyramiden« nebeneinander bestanden: Ausgehend vom Zentralkomitee der SED über die zentralen Verwaltungen und Leitungen der Bezirke, dann Kreise, dann Kommunen, dann Betriebe oder Schulen bis in den Alltag hinein bestimmten unter anderem die SED als herrschende Partei, die allgemeinen Verwaltungen, die Massenorganisationen sowie die Funktionseinheiten der Staatssicherheit das Leben der

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Menschen. Bestimmend für die Jugend waren die Apparate der Volksbildung, der Jugendorganisationen und der vormilitärischen Ausbildung. Jeder der oben nur exemplarisch genannten Apparate war als in sich vollständig funktionierende Einheit in den pyramidalen Staatsaufbau eingeordnet und verfügte auf jeder Verwaltungsebene über eine Repräsentanz. An verschiedenen Knotenpunkten (Kommune, Kreis, Bezirk) waren die Apparate wiederum horizontal unter Führung der SED vernetzt. Daraus entstand – ohne dass hier genauer darauf eingegangen werden kann – das DDR-typische Phänomen der mehrfachen Unterstellung.26 Der zuständige Funktionär für das Gesundheitswesen im Rat des Kreises beispielsweise hatte so faktisch drei Vorgesetzte, denen er direkt unterstellt war: 1. regional dem Vorsitzenden des Rates des Kreises, 2. im Apparat des Gesundheitswesens dem zuständigen Funktionär im Rat des Bezirkes, 3. zudem war er der »führenden Rolle« der SED verpflichtet, die ebenfalls mit den Mechanismen von Befehl und Gehorsam agierte. Leider sind die Wirkungen dieses Herrschaftsmodells bisher in ihrer Komplexität nicht umfassend untersucht worden. Hier dürften die Ursachen dafür zu finden sein, dass eine innovationsfeindliche, in starre Plankoordinaten eingespannte Gesellschaft bis auf wenige Turbulenzen über vierzig Jahre hinweg existieren konnte. Keine eigenständige Funktion hatten in diesem System demokratische Institute wie der Staatsrat (eine Art kollektiver Ministerpräsident), die Volkskammer (Pendant zum Bundestag) die Ministerien und Verwaltungseinheiten. Sie hatten lediglich vorgegebene Pläne zu erfüllen und mit einem Schein der Mitbestimmung zu versehen. Zu den weniger deutlichen, aber dominanten Äußerungen der strukturellen Gewalt zu zählen ist die Verpflichtung aller Bürger zu sogenannten »gesellschaftlichen Tätigkeiten«. Diese bildeten die unabdingbare Grundlage für die berufliche Karriere bereits bei Kindern und später bei Jugendlichen und Erwachsenen. In jeder Bewerbung auf einen Job oder eine berufliche Bildungsmaßnahme bildeten die »gesellschaftlichen Tätigkeiten« eine eigens zu bewertende Kategorie, die oftmals als gewichtiger bemessen wurde als fachliche Kenntnisse. Diese unbezahlten »Ehrenämter« in Schulklassen, Arbeitskollektiven, Hausgemeinschaften, Stadtteilen dienten der Mikrosteuerung der Gesellschaft. Wohin man in der DDR auch kam, immer war ein Funktionär vor Ort, der nicht einmal unbedingt der SED angehören oder für die Stasi arbeiten musste. Allein im staatlichen Bereich meldete das Statistische Taschenbuch von 1987 17,2 Millionen DDR-Bürger in gesellschaftlichen Funktionen, d. h. von den ca. 16 Millionen Staatsbürgern hatte – unabhängig vom Alter – jeder mindestens ein Ehrenamt auszuüben. Nicht mitgerechnet sind dabei die Funktionen in den 26 Ein Schaubild findet ist verfügbar unter: https://www.kas.de/c/document_library/get_file? uuid=7e39aee7-37fb-8691-f02c-e5562aa9441d&groupId=252038 [28. 06. 2023].

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Massenorganisationen (GST, DFD, DSF, FDJ, Pionierorganisation, Volkssolidarität und Blockparteien). Nicht eingerechnet sind die 90.000 Inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit, die für ihre Tätigkeit wohl Anerkennung und Geschenke, nicht aber eine Vergütung erhielten. Nicht mitgerechnet sind auch die eher staatsfernen Funktionäre wie Kleintierzüchter, Briefmarkensammler etc.27 Doch auch letztere hatten ein Mindestmaß an ideologischen Vorgaben zu erfüllen. Im Bereich der Kinder und Jugendlichen kam die Beanspruchung mit gesellschaftlichen Funktionen zusätzlich im Rahmen der Kollektiverziehung zur Wirkung. Die Kollektive waren identisch mit den Schulklassen. In ihnen wurden nach den Vorgaben des Lehrpersonals sogenannte »Aktive« eingerichtet, bestehend aus dem Vorsitzenden, einem Stellvertreter, einem Beauftragten für Agitation und Propaganda, einem Kulturobmann und einem Kassierer (die Bezeichnungen waren durchweg männlich). In den Ausbildungen und Studiengängen waren die Kollektive ähnlich strukturiert. Über diesen Weg wurde die strukturelle Gewalt in verschiedenen Intensitäten bis in den Alltag von Kindern und Jugendlichen getragen. In den Sozialwissenschaften wird heute daher im Blick auf die DDR von einer »durchherrschten Gesellschaft« gesprochen.28 Es entstand das Phänomen, dass über diese Ämterfülle so gut wie jeder DDRBürger an irgendeiner Stelle nicht nur Betroffener, sondern auch Teilhaber struktureller Gewalt war, d. h. jedem Funktionär wurde ein definierter Anteil an der verfügbaren strukturellen Gewalt übertragen, wobei diese Übertragung jederzeit widerrufen werden konnte. Das oftmals gezeichnete Bild, dass Staatssicherheit und SED als Herrscher der restlichen Bevölkerung gegenüberstanden, also eine Art Zwei-Klassen-System herrschte (nach Galtung: topdogs und underdogs), ist insofern nicht korrekt. So gut wie alle DDR-Bürger hatten Erfahrungen sowohl im Beherrscht-Werden wie im Herrschen. Selbst Insassen von Spezialheimen oder politische Gefangene wurden nach Möglichkeit in dieses Funktionärs-System eingebunden. Diese »moderne« Form einer totalitären Diktatur, deren Perfektion und Durchgestaltung auch für Hannah Arendt erst in Ansätzen erkennbar war, entwickelte sich seit Mitte der 1960er Jahre.29

27 Vgl. Statistisches Taschenbuch der DDR 1987, hg. von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Berlin 1987, S. 21f. 28 Jürgen Kocka: Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kälble u. a. (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547–553. 29 Siehe Hannah Arendt: Totale Herrschaft (Kap.), in: dies.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München u. a. 1986, S. 627ff.

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Spezielle Institutionen der direkten Gewalt Die beschriebenen Institutionen struktureller Gewalt reichten über vier Jahrzehnte hinweg aus, um das Überdauern des politischen Systems zu sichern. Deutlich wird allerdings an den Aufständen im Ostblock, beginnend in der DDR am 17. Juni 1953 und endend mit den Revolutionen von 1989, dass die osteuropäischen Regime auch permanent der direkten Gewalt als »Reserve« bedurften. Das von Marx diagnostizierte Fundament der direkten, physischen Gewalt zur Aufrechterhaltung der innenpolitischen Macht hatte also paradoxerweise Gültigkeit ausgerechnet für diejenige Gesellschaft, die angetreten war, dieses Fundament zu verlassen. Im Sinne Galtungs verstehe ich im Folgenden unter direkter Gewalt nicht nur den begrenzten Akt physischer Gewaltausübung zwischen zwei Menschen, sondern auch die Institution, die diese Gewaltform dauerhaft ermöglicht. Der direkten Gewalt ist daher nicht nur der Soldat an der innerdeutschen Grenze, sondern auch die dazugehörigen Grenztruppen einschließlich des Schießbefehls zuzuordnen. Im Falle politisch motivierter Gewalt ist also immer nach den dazugehörigen Institutionen zu fragen. Dies entspricht auch der Intention Galtungs, die Drohung mit direkter Gewalt systematisch der direkten Gewalt zuzuordnen. Die wichtigsten Institutionen, mittels derer direkte Gewalt ausgeübt wurde, sollen im Folgenden aus Platzgründen nur tabellarisch benannt werden. Sie überschneiden sich naturgemäß an einigen Stellen mit den oben genannten Institutionen der strukturellen Gewalt. Institution Nationale Volksarmee

Form Innenpolitische Repression, keine Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung, Androhung von ca. 20 Monaten Haft bei Verweigerung, »Ersatzdienst« als Wehrdienst ohne Ausbildung an der Waffe

Grenztruppen Kampfgruppen der Arbeiterklasse

Bewaffnete Grenzsicherung mit Tötungsauftrag Regionale, bewaffnete Repression mit militärischem Auftrag

Spezialheime

Spezialkinderheime, Sonderheime, Jugendwerkhöfe, Geschlossener Jugendwerkhof Torgau, weitere Sondereinrichtungen mit dem Ziel der Umerziehung Örtliche Gewaltanwendung mit polizeiähnlicher Befugnis

Ordnungsgruppen der FDJ

Kasernierte Volkspolizei Regionale Repressionen z. B. bei Demonstrationen, Streiks oder Krawallen Sondereinheiten der Bewachungsaufgaben, militärische Sicherung der Gebäude Staatssicherheit und Anlagen (mit Tötungsauftrag)

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(Fortsetzung) Institution Staatssicherheit Haftanstalten

Form Geheimpolizeiliche und staatsanwaltliche sowie polizeiliche Befugnisse (Verhaftungen, Erpressungen, Tötungen, Entführungen, Zersetzung) Anstalten der Staatssicherheit, Polizei, Justiz, des Innenministeriums als Gefängnisse, Zuchthäuser, Arbeitslager, Arbeitserziehungslager, Arbeitskommandos, venerologische Stationen30, Jugendhäuser – alle mit dem Auftrag der Umerziehung

Einige Formen direkter Gewalt (einschließlich Drohung) waren absichtsvoll im Alltag gegenwärtig (Polizei, Ordnungsgruppen) oder wurden an staatlichen Feiertagen bei überdimensionierten Manövern nachdrücklich präsentiert (Kampfgruppen, Grenztruppen, Armee). Andere Formen wurden mit einem »Schleier des Geheimnisses« umgeben, waren aber gerade dadurch im Bewusstsein (Staatssicherheit, Umerziehungsheime, Arbeitslager, Gefängnisse).

Militäraffine Strukturen und Inhalte als Sozialisationsinstanzen Folgt man Galtung, dann ist die kulturelle Gewalt als überwältigender, aber vorwiegend geistiger Vorgang anzusehen. Dieses Verständnis muss für die »moderne Diktatur« der DDR um einen Aspekt ergänzt werden. Marx und späteren sowjetischen Pädagogen folgend, verstand man in der DDR die Herausbildung von Einstellungen, Wertebewusstsein, Wissen und praktischen Fähigkeiten nicht als kognitiven Prozess. Vielmehr – so die These – würden junge Menschen durch die sie umgebende Lebenswirklichkeit geprägt. Die Erwartung der SED-Führung richtete sich also in den 1950er Jahren darauf, dass die entstehende sozialistische Gesellschaft mit einem gewissen Automatismus »sozialistische Persönlichkeiten« hervorbringen würde. Für Fehlangepasste oder Widerständige würden einige wenige Anstalten der Disziplinierung ausreichen. Es erwies sich jedoch, dass die pluralen und auf Selbstbestimmung drängenden Lebensformen Jugendlicher, die sich in jeder Gesellschaft spontan entwickeln, durch die Schule und die Massenorganisationen nicht in zureichendem Maß zurückgedrängt und vereinheitlicht werden konnten.31 Eine besondere Rolle spielten hierbei die auch im Westen zeitweise als bedrohlich empfundenen Ju30 Siehe hierzu: Florian Steger, Maximilian Schochow: Traumatisierung durch politisierte Medizin. Geschlossene Venerologische Stationen in der DDR, Berlin 2015. 31 Christian Sachse: Die Jugendpolitik der SED Anfang der sechziger Jahre. Zur historischen Einordnung der Jugendkommuniqués, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat an der FU Berlin, 2006, Nr. 19, S. 27.

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gendmusikkulturen. In den 1960er Jahren vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig durchgeführte Befragungen von Jugendlichen klangen aus dem Blickwinkel der herrschenden Parteielite beunruhigend.32 Nur ein geringer Teil der Jugendlichen wollte sich zu den kommunistischen Idealen bekennen. Die SED-Führung sah die Notwendigkeit, lenkend einzugreifen. Etwa seit 1964 übernahm die Volksbildung sowohl in der Schule als auch der Freizeitgestaltung die Funktion einer Sozialisationsinstanz mit stufenweisen, entwicklungspsychologisch orientierten Programmen. Bereits die Kindergärten – in angepassten Entwicklungsanforderungen sogar die Kinderkrippen – waren in dieses System des »Einheitlichen sozialistischen Bildungssystems« integriert, so dass aufwachsende Kinder möglichst vom 3. Lebensjahr an die ideologischen Inhalte und rigorosen Disziplinvorstellungen ausgeliefert waren.33 Die einzelnen Ziele und Methoden der Sozialisation in die »sozialistische Persönlichkeit« sind im Gesetz über das einheitliche Bildungssystem von 1965 und den dazugehörigen Grundsatzmaterialien aufgeführt.34 Sie spiegeln sich auch im unten vorgestellten System der Wehrerziehung. Als zusätzliche Sozialisationsinstanz wurde das »Gesamtgesellschaftliche System der sozialistischen Wehrerziehung« eingerichtet, in dem die Schüler und Jugendlichen unter militärischen Gehorsamsansprüchen für eine gewisse Zeit staatlicher Beeinflussung ohne jede Möglichkeit des Ausweichens oder Verweigerns ausgeliefert waren. Das System wurde nicht zufällig 1968 installiert, dem Jahr des Einmarsches der Sowjetunion in die abtrünnige Tschechoslowakei. Die Wehrerziehung von Kindern und Jugendlichen in der DDR ist zu verstehen – erstens als umfassende Demonstration des Staates, direkte Gewalt ausüben zu können; – zweitens als Instrument, bestimmte Formen der direkten Gewalt wie Drill und psychischen Druck unmittelbar erfahrbar zu machen und damit präventiv von der sozialistischen Norm abweichendes Verhalten zu unterdrücken;

32 Klaus Frey: Information über neue Ergebnisse in der Jugendforschung [für die Kommission Jugend und Sport der SED-Bezirksleitung Potsdam] vom 06. 01. 1971, in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), SED-Bezirksleitung Potsdam. 33 Christian Sachse: Die planmäßige Produktion von Gehorsam im Sozialismus. Techniken der Disziplinerziehung, in: Jörg Baberowski u. a. (Hg.): Disziplinieren und Strafen, Berlin 2021, S. 94–112, hier S. 94. 34 Vgl. dazu die detaillierten Schilderungen im Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. 02. 1965, in: Gesetzblatt der DDR I, 1965, Nr. 6, S. 83ff. Zur »Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit« gibt es eine Reihe an Untersuchungen ; vgl. allgemeine zur Bildungsgeschichte der DDR: Themenschwerpunkt »(Post)Sozialistische Bildung – Narrative, Bilder, Mythen«, in: Zeitschrift für Pädagogik, 2023, Beiheft 69, hg. von Meike Sophia Baader, Marcelo Caruso, Sabine Reh.

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– drittens als Einweisung in den Umgang mit direkter Gewalt (Töten, Verletzen), aber auch mit Getötet-Werden, und Verletzt-Werden. Mit der Einweisung in den Vorgang des Tötens und die Gehorsamsansprüche sich Töten zu lassen ist die existenzielle Erfahrung verbunden, dass es eine Instanz gibt, die apodiktisch über »mein Weiterleben oder Sterben« entscheiden kann. Diese Erfahrung der existenziellen Abhängigkeit wird auch dann wirksam, wenn Schießen und Sturmangriffe lediglich »geübt« werden.35 In pointierter Kurzfassung kann man den Methodenkatalog der Wehrerziehung als das Gegenteil des Beutelsbacher Konsenses verstehen, also als Strategie der dauerhaften Überwältigung. Wie die Ergebnisse der militärischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen im Einzelnen auch ausgefallen sein mögen, sie vermittelten die Erfahrung des Ausgeliefertseins an eine »allmächtige« Instanz, die auch in »Friedenszeiten« über die nötigen Mittel der Disziplinierung verfügte. Damit ist die jugendpolitische Seite einer totalitären Diktatur charakterisiert.

Praktische Umsetzung Die Systematik, mit der das Programm der Sozialisation in militärische Inhalte und Strukturen aufgebaut war, lässt sich einem Beschluss des Sekretariates des ZK der SED vom 19. Juni 1968 zum Aufbau des »gesamtgesellschaftlichen Systems der Sozialistischen Wehrerziehung« entnehmen.36 Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass es weitere Beschlüsse zur Integration wehrpolitischer Inhalte in den gesamten Lehrstoff der Schulen gab. Die Massenorganisationen entwickelten eigene Programme, teils in Konkurrenz, teils in Ergänzung des oben angeführten Beschlusses. Kultur- und Freizeitenrichtungen (Kino) führten passende Veranstaltungsreihen durch. Die Massenmedien (Print, Fernsehen, Radio) veröffentlichten wehrpolitische Inhalte nach vorgegebenen Plänen. Zusätzlich wurden in den Kreisen und Kommunen Kommissionen gebildet, welche die Aktivitäten zu koordinieren hatten. Die folgende Abbildung zeigt ausschließlich diejenigen Institutionen, die in den Kommissionen für sozialistische Wehrerziehung zusammengefasst waren und in direkten Kontakt mit Kindern und Jugendlichen standen. Das Schaubild gibt den Stand von etwa 1980 wieder.37 35 Sachse: Produktion (Anm. 33). 36 Protokoll Nr. 57 der Sitzung des Sekretariates des ZK der SED vom 19. 06. 1968; TOP 4: Die Aufgaben der sozialistischen Wehrerziehung; Bundesarchiv, SAPMO DY 30 J IV 2/3–1418 und DY 30 J IV 2/3 A-1599. 37 Dazu ausführlich: Christian Sachse: Der gesellschaftsgestalterische Anspruch der SED-Führung in den sechziger Jahren, in: Sachse: Jugend (Anm. 13), S. 109ff.

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Strukturschema Kommissionen für sozialistische Wehrerziehung in der DDR um 1980. © C. Sachse

Das Programm, das nach dem oben genannten Beschluss eingerichtet wurde, begann in der vorschulischen Erziehung, also im Kindergarten.38 Die Kinder sollten »zwischen guten und bösen Soldaten« unterscheiden lernen, mit militärischem Spielzeug beeinflusst werden und »Liebe zur NVA« entwickeln. Dazu gab es eine Reihe von Lerneinheiten, die in sich noch einmal vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr differenziert waren. In den unteren Schulklassen wurden die Inhalte erweitert um »Fragen der Verteidigung« und »Pflege der revolutionären Kampftraditionen«. Als praktische Betätigung kamen wehrsportliche Spiele und Wettkämpfe hinzu. Ab Ende der 1960er Jahre wurde dazu das jährlich stattfindende »Manöver Schneeflocke« eingeführt, bei dem die Unterstufe vollständig und verpflichtend in ein gemeinsames Manöver mit der Volksarmee einbezogen wurde. Es wurde sorgfältig darauf geachtet, dass spielerische und abenteuerliche Elemente die Attraktivität erhöhten. In der Oberstufe einschließlich Erweiterter Oberschule (Gymnasium), Studium und Berufsausbildung kamen Wehrlager, Wehrunterricht und Schießwettbewerbe hinzu. Im Unterricht (Geschichte, Staatsbürgerkunde, Literatur, aber auch Physik und Mathematik) kamen verstärkt Fragen der militärpolitischen und patriotischen Erziehung zum Tragen. Wöchentliche Fahnenappelle, militärische Meldungen zum Unterrichtsbeginn und Uniformierung zu politischen Anlässen gehörten für Schüler zum Pflichtenkatalog. Die patriotische Erziehung schloss eine regelmäßige Aktualisierung 38 Der Beschluss ist abgedruckt in: Sachse: Jugend (Anm. 13), S. 158.

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des Feindbildes »imperialistische BRD« ein. In den Sportunterricht wurden ebenfalls militärische Inhalte einbezogen, z. B. Marschieren und Handgranatenweitwurf.39 Zentrale Veranstaltung waren – ebenfalls als Teil des Unterrichtes verpflichtend – die Hans-Beimler-Wettkämpfe. Zusätzlich war ein Schießwettbewerb um die »Goldene Fahrkarte« zu absolvieren. Etwa mit Beginn der 8. Klasse begannen Werber der Nationalen Volksarmee, nach vorgegebenen Plankennziffern männliche Schüler für einen dreijährigen Dienst oder als Berufssoldat bei der Nationalen Volksarmee zu verpflichten. Das MfS führte eigene, verdeckte Werbeaktionen durch. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Kinder und Jugendliche über die militärische Sozialisation zeitlich und räumlich umfassend mit struktureller Gewalt konfrontiert waren. Ein Sozialisationsziel wurde wahrscheinlich erreicht: Militärische Formen und die Ubiquität derartiger Anforderungen wurden als so »normal« empfunden, dass sie nicht mehr wahrgenommen wurden. Es ist zu vermuten, dass dieser im Alltag erfahrbare hohe Grad an struktureller und direkter Gewalt einen hohen Konformitätsdruck ausstrahlte, zu dem auch ein differenziertes Straf- und Sanktionssystem beitrug, welches zum Abschluss in einigen Punkten skizziert werden soll.

Strafen, Disziplinierungen, Diskriminierungen Unangepasstes, unbotmäßiges, vor allem aber widerständiges Verhalten von Kindern und Jugendlichen wurde bestraft. Dabei ist mitunter eine Rigorosität erkennbar, die an die bürgerliche autoritäre Erziehung des späten 19. Jahrhunderts erinnert. So wurde in den offiziellen Vorlesungen zur allgemeinen Pädagogik 1971 der Grundsatz vertreten: »Das Kind muß spüren: ein Widerspruch ist zwecklos und wird nicht geduldet.«40 Erkennbar ist im Umgang mit jungen Menschen in der DDR eine sich steigernde »Straflogik«, eine Klimax, die sich an der politischen Bedeutung des devianten Verhaltens bemaß. Ein allgemeingültiges, schriftlich formuliertes »Strafsystem« wurde bisher nicht gefunden, dürfte auch nicht erstellt worden sein. Vergleicht man aber die Kataloge empfohlener Strafen in Schulen, Kinderheimen, Lagern und Gefängnissen, dann lassen sich einige Regeln finden. Selbstverständlich ist zu berücksichtigen, dass es »hinter« dem offiziellen 39 Genutzt wurden sowohl sogenannte »Eierhandgranaten«, also metallummantelte Kugeln, als auch Stabhandgranaten. 40 Helmut Stolz, Albrecht Herrmann, Werner Müller: Beiträge zur Theorie der sozialistischen Erziehung. Vorlesungen für Lehrerstudenten, Berlin 1971, S. 294.

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Strafsystem in der Regel ein inoffizielles gab. In der Praxis mischten sich beide Systeme. Körperstrafen waren – wie im Westen immer wieder bewundernd festgestellt wurde – in der DDR seit Ende der 1940er Jahre verboten, im inoffiziellen Strafsystem der repressiven Anstalten (nicht in Schulen, selten in Kindergärten) aber weithin üblich. In den Umerziehungsheimen (Spezialkinderheime, Sonderheime, Jugendwerkhöfe) und Strafvollzugseinrichtungen für Jugendliche (Jugendhäuser) wurden Strafen angewandt, die weit in den Bereich der direkten Gewalt hineinragten und heute als Folter gelten.41 Zu nennen sind etwa militärische Ordnungsübungen bis zur körperlichen Überforderung, stundenlanges Stillstehen, offensichtlich sinnlose Schwerstarbeiten wie das Tragen von Lasten zwischen zwei Orten42, der Entzug von Nahrung sowie demütigende Arbeiten wie die Reinigung eines Flures mit einer Zahnbürste. Ergänzt wurde das Strafsystem durch die Methoden der »Selbsterziehung«.43 Zu diesem Zweck wurden innerhalb der Heim- oder Häftlingsgruppen einzelne Mitglieder mit Vollmachten ausgestattet, etwa Vergünstigungen zu entziehen oder Strafen zu verwirklichen. Da die »Erziehungsarbeit« dieser Funktionäre oft nicht kontrolliert wurde, entstanden in den Gruppen Gefolgschaften sklavischen Charakters. Die »Erziehungsmaßnahmen« dieser Funktionäre folgten oftmals dem Vorbild der inoffiziellen Strafsysteme oder gingen in Gewaltexzessen weit darüber hinaus. Im Bereich der »Selbsterziehung« wurde also weitgehend direkte Gewalt im Sinne physischer, persönlicher Misshandlungen genutzt. Besonders deutlich mit Gewalt verbunden war – jenseits des Strafsystems – die Methodik des »Eingangsschocks«. Es handelte sich dabei um einen bewusst brutal gestalteten Aufnahmeritus in die Spezial- und Durchgangsheime, mit denen (in der Fachsprache der DDR-Heimpädagogik) bei den Aufzunehmenden die »Erziehungsbereitschaft« hergestellt werden sollte, d. h. sein Wille zum Aufbegehren sollte von Anfang an gebrochen werden. Folgende Elemente sind aus unterschiedlichen Heimen durch unabhängige Zeugenaussagen belegt. Danach wurden Kinder und Jugendliche bei der Ankunft nackt ausgezogen (auch Mädchen im Beisein männlichen Personals) und mit kaltem Wasser abgespritzt, mit einem Desinfektionspulver überschüttet, stun41 Ebd. 42 Derartige Arbeiten werden oft falsch bewertet. Hier ging es um bedingungslosen Gehorsam. Dieser ließ sich am effektivsten anerziehen, wenn eine offensichtlich sinnlose Arbeit verrichtet werden musste. 43 Zu dieser »doppelten Erziehung« siehe Meike Sophia Baader, Sandra Koch, Friedrike Kroschel: Kinder und Jugendliche als Erziehende. Umkämpfte Kindheit und Jugend in Bildungsmedien der DDR, in: Meike Sophia Baader, Alfons Kenkmann (Hg.): Jugend im Kalten Krieg. Zwischen Vereinnahmung, Interessenvertretung und Eigensinn (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 16|2020/21), Göttingen 2021, S. 159–178.

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denlang im Stillgestanden in Gänge gestellt, mit defekter und demütigender Kleidung ausgestattet sowie tagelang (einschließlich der Nacht) in Einzelarrest in Kellerräumen festgehalten. Dieser so organisierte »Eingangsschock« wurde mitunter noch überboten durch eine gewaltsame »rituelle Begrüßung« durch die Gruppe, in der sich das »Kollektiv« den neuen Insassen untertan machte. Diese Art der Begrüßung wurde von vielen Erziehern geduldet, da sie die erwünschte »Einordnung in das Kollektiv« beförderte. Zu diesen Methoden der Selbsterziehung gehörte auch die öffentliche Demütigung. Nach den Anweisungen Makarenkos wurden die Delinquenten vom Kollektiv, dem sie angehörten, unter Druck gesetzt oder ausgegrenzt, bis sie bestimmte Änderungen in ihrem Verhalten gelobten. Für diese Strategie hatte Makarenko diffizile Anweisungen ausgearbeitet, die unter dem Titel »Kritik und Selbstkritik« auch in den Parteien angewandt wurden. Sowohl Verfahren als auch Ergebnis waren für die Betroffenen überaus demütigend und daher gerade bei Kindern und Jugendlichen effizient.44 Eine der nachhaltigsten Sanktionen gegen Fehlverhalten, aber auch unerwünschte Lebensentwürfe bestand im Entzug von Bildungsmöglichkeiten, die im Sinne Galtungs als strukturelle Gewalt, teils auch als direkte Gewalt, gefasst werden können. Betroffen waren hier insbesondere Menschen und Gruppen mit von der SED abweichenden Überzeugungen und Verhaltensweisen wie praktizierende Christen, Pazifisten (z. B. Vater verweigerte den Wehrdienst, Kind verweigerte die militärische Ausbildung) sowie alternative Lebensentwürfe (Jugendmusik, Lebensstil). Auch die Verweigerung der Mitgliedschaft in Massenorganisationen wie der FDJ oder den Jungen Pionieren sowie der Auswanderungswunsch der Eltern (Westen, aber auch andere Länder) zogen Sanktionen nach sich. Den Kindern wurde der Zugang zur Erweiterten Oberschule (Gymnasium), das Studium und oft auch zu Handwerksberufen abgeschnitten. Diese Form der Ausgrenzung sollte potenziell illoyale Personen und Milieus so nachhaltig in ihrer Lebensentfaltung behindern, dass ihre politische Wirksamkeit auf Dauer unterbunden wurde. Dieses Phänomen habe ich als »bildungspolitischen Riegel« bezeichnet.45

44 Sachse: Produktion (Anm. 33), S. 94. 45 Christian Sachse, Karsten Laudien: Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der DDR, in: Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR. Expertisen, hg. vom Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer, Berlin 2012, S. 257.

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Fazit Das System der strukturellen, wie auch der direkten Gewalt in der DDR war hocheffizient. Nicht umsonst konnte das Regime trotz verfallender Wirtschaft, innovationsfeindlichem Bildungssystem, erbärmlichem Konsumniveau und weiteren schlechten Parametern in unmittelbarer Nachbarschaft zur reichen Bundesrepublik ihre Existenz behaupten. Man kann vermuten, dass die durch Gewalt geprägten und Gewalt legitimierenden Sozialisationsprogramme längerfristige, vermutlich sogar intergenerationell wirkende Spuren in den ostdeutschen Bundesländern und den osteuropäischen Gesellschaften hinterlassen haben. Die hohe Affinität der Ostdeutschen zu autoritären Strukturen, das ausgeprägte Freund-Feind-Schema in politischen Bezügen, die Herabwürdigung demokratischer Institute und die Akzeptanz für einen Aggressor wie Russland lassen jedenfalls die Vermutung zu. Weitergehend sollten die südosteuropäischen und osteuropäischen Kriege möglicherweise stärker auf der Folie dieser Sozialisationsprogramme gesehen werden. Die bewaffneten Auseinandersetzungen innerhalb des der ehemaligen jugoslawischen Föderation in den 1990er Jahren eskalierten deshalb erstaunlich schnell, weil faktisch jeder Bürger in seiner Jugend eine militärische Ausbildung erhalten hatte. Ähnliche Effekte sind in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – einschließlich Ukraine – zu vermuten. Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass damit möglicherweise einige Aspekte der aktuellen Kriegsführung, nicht aber die politischen Beweggründe des Putin-Systems erklären lassen. Damit ist freilich der Aussagehorizont dieses Aufsatzes überschritten. Es bleibt die Aufgabe der Jugendsozialarbeit, die langfristigen, über intergenerationelle Effekte vermittelten Wirkungen auf die Jugend und das gesamte politische Klima aufzulösen zu helfen. Nur so werden sich in Osteuropa stabile Demokratien entwickeln lassen, die nicht permanent in Gefahr sind, in autoritäre Systeme abzudriften.

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Jugendlichkeit und jugendliche Gewaltdiskurse in den 1960er und 1970er Jahren. Italienische Besonderheiten und ihre Folgen

Einleitung Die Erforschung politischer Gewaltphänomene in den 1960er und 1970er Jahren nimmt seit zwanzig Jahren immer mehr Raum in der historiographischen Debatte über die Geschichte Italiens seit 1945 ein.1 Diese Phänomene wurden aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht: Im Mittelpunkt standen spezifische Zeitabschnitte2 und geografische Kontexte,3 die Repertoires und die Entwicklung einzelner klandestiner Organisationen,4 die politischen Kulturen5 und diskursiven Strukturen, die die Praktiken der politischen Gewalt legitimierten,6 die Reaktion der Parteien, der Zivilgesellschaft und der Institutionen7 sowie die 1 Zur Entwicklung der Debatte in den 1990er Jahren vgl. Barbara Armani: Italia anni settanta: movimenti, violenza politica e lotta armata tra memoria e rappresentazione storiografica, in: Storica, 2005, Bd. XI, Heft 32, S. 41–82. 2 Vgl. z. B. Guido Panvini: Ordine nero, guerriglia rossa. La violenza politica nell’Italia degli anni Sessanta e Settanta. 1965–1975, Rom 2009; Silvia Casilio: Il cielo è caduto sulla terra. Politica e violenza politica nell’estrema sinistra in Italia (1974–1978), Rom 2007. 3 Vgl. z. B. Davide Serafino: La lotta armata a Genova. Dal Gruppo XII Ottobre alle Brigate Rosse (1969–1981), Pisa 2013; Andrea Saccoman: Le Brigate rosse a Milano: dalle origini della lotta armata alla fine della colonna »Walter Alasia«, Milano 2013. 4 Vgl. z. B. Marco Clementi: Storia delle Brigate rosse, Roma 2007; Elisa Santelena, Marco Clementi, Paolo Persichetti: Brigate rosse. Dalle fabbriche alla »campagna di primavera«, Rom 2017; Andrea Tanturli: Prima linea. L’altra lotta armata (1974–1981), Rom 2018. 5 Guido Panvini: Cattolici e violenza politica. L’altro album di famiglia del terrorismo italiano, Venedig 2014. Zum Rechtsterrorismus vgl. Anna Cento Bull: Italian neofascism. The strategy of tension and the politics of nonreconciliation, New York 2007; Mirco Dondi: L’eco del boato. Storia della strategia della tensione 1965–1974, Roma 22015. 6 Barbara Armani: La retorica della violenza nella stampa della sinistra radicale (1967–77), in: Simone Neri Serneri (Hg.): Verso la lotta armata. La politica della violenza nella sinistra radicale degli anni settanta, Bologna 2012, S. 231–263; Isabelle Sommier: La legittimazione della violenza. Ideologie e tattiche della sinistra extraparlamentare, in: ebd., S. 265–281; Gabriele Donato: »La lotta è armata«. Sinistra rivoluzionaria e violenza politica in Italia (1969– 1972), Rom 2014. 7 Johannes Hürter, Gian Enrico Rusconi: Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969–1982, München 2010; Tobias Hof: Staat und

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Phänomene der Terrorismusbekämpfung.8 Allgemeiner haben Historiker*innen und Publizist*innen über die (vermutete) »Anomalie« des italienischen Falls diskutiert,9 der im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern, die zur selben Zeit Wellen politischer Gewalt und des Terrorismus erlebten (wie Frankreich und die Bundesrepublik), besondere Merkmale aufweist. Denn Italien sticht sowohl bei der Häufigkeit als auch bei der Intensität der Vorkommen hervor. Die Schätzungen belaufen sich auf bis zu 15.000 Vorfälle politischer Gewalt verschiedener Art, die zwischen 1969 und 1982 zu 364 Toten und Hunderten von Verletzten führten (zum Vergleich: die RAF in der Bundesrepublik forderte bis 1992 64 Opfer).10 Qualitativ gesehen gab es eine große Vielfalt der Gewaltphänomene von Straßenschlachten bis zu Sprengstoffanschlägen, von politischen Morden bis zu Brandanschlägen und die Gleichzeitigkeit bewaffneter Gruppen und radikaler Bewegungen von links und von rechts. Diese Besonderheiten bilden das Leitmotiv der Diskussion um die anni di piombo (bleierne Zeit). Es handelte sich also um einen äußerst dynamischen und fruchtbaren Forschungszweig, der jedoch noch Forschungslücken aufweist. Ein Desiderat ist die präzise Rekonstruktion der Jugendgewalt und ihrer Motive. Obwohl sich einige allgemeine Darstellungen zu den 1970er Jahren mit diesem Thema befasst haben, Terrorismus in Italien 1969–1982, Berlin 2011; Riccardo Brizzi u. a.: L’Italia del terrorismo. Partiti, istituzioni e società, Roma 2021. 8 Laura Di Fabio: Due democrazie, una sorveglianza comune. Italia e Repubblica Federale Tedesca nella lotta al terrorismo interno e internazionale, Firenze 2018. 9 Einige der hitzigsten Debatten betraf die Verwendung der Kategorie »Bürgerkrieg« zur Beschreibung der Gewaltphänomene in dieser Zeit – teilweise in Verbindung mit Adjektiven, die seine besondere Natur definieren sollten, wie »simulierter«, »potenzieller« oder »schleichender Bürgerkrieg« oder »Bürgerkrieg niedriger Intensität«. – Ein weiterer Aspekt, dem besonderes Interesse entgegengebracht wurde, ist der Zusammenhang zwischen der Entwicklung sozialer Bewegungen und der Eskalation der Gewalt. Manche Forscher*innen stellten die These einer Kontinuitätsbeziehung zwischen Protestbewegungen und der Ausbreitung politischer Gewalt auf. Andere stellten beide Phänomene einander gegenüber, indem sie die Eskalation auf die Krise der Massenmobilisierungen zurückführten. Ein anderer, gut ausgetretener Pfad betrifft die Rolle, die der rechte Terrorismus (beginnend mit dem Attentat auf der Piazza Fontana im Dezember 1969) und ihre Unterstützung durch subversive Netzwerke innerhalb der Institutionen bei der Radikalisierung der linken Bewegungen spielten. Diese und viele andere Aspekte wurden aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht, wobei unterschiedliche Zeiträume, politische Milieus und geografische Kontexte berücksichtigt wurden. Vgl. Armani: Italia (Anm. 1); dies.: La produzione storiografica, giornalistica e memoriale sugli anni di piombo, in: Marc Lazar, Marie-Anne Matard-Bonucci (Hg.): Il libro degli anni di piombo. Storia e memoria del terrorismo italiano, Milano 2010, S. 207–221; Giovanni Mario Ceci: Il terrorismo italiano: storia di un dibattito, Bologna 2013; Guido Panvini: Terrorismi, stragi e violenza politica nell’Italia degli anni Settanta e Ottanta, verfügbar unter: Novecento.org. 10 Zu den statistischen Angaben Donatella Della Porta, Maurizio Rossi: Cifre crudeli: bilancio dei terrorismi italiani, Bologna 1984.

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fehlt es an Recherchen, die sich speziell mit politisch motivierter Gewalt in den Jugendkulturen befassen. Und dies, obwohl der »Einbruch der Jugend«11 in die öffentliche Szene, ihre politische Mobilisierung und Partizipation eines der Merkmale der 1960er und 1970er Jahre war.12 Nach einer Phase der scheinbaren Ruhe in den Jahren des Wiederaufbaus dominierte die junge Generation seit Mitte der 1960er Jahre die öffentliche und politische Wahrnehmung für mehr als ein Jahrzehnt. Viele junge Menschen drängten mit politischen und kulturellen Provokationen auf radikalen sozialen Wandel, teilweise auf eine revolutionäre Umwälzung. Zur Mobilisierung der jüngeren Generationen gehörten auch unterschiedliche Gewaltphänomene. Seit dem Ende der 68er-Bewegung zeichnete sich der Jugendaktivismus sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken durch eine Radikalisierung des Protest- und Mobilisierungsrepertoires auf verschiedenen Ebenen aus. Dieser Beitrag zielt darauf ab, einen Überblick zur Geschichte der Jugendgewalt in Italien in den 1960er und 1970er Jahren zu geben.13 Ein Fokus liegt auf den Schulen und ihrem politischen Umfeld. Hier wurden nämlich ab der ersten Hälfte der 1970er Jahre Zusammenstöße zwischen jungen Menschen aus gegensätzlichen politischen Milieus oft zu einer Routine, die zur Alltagserfahrung vieler Schüler*innen gehörte. Dies ist für das Verständnis der Gewaltphänomene in Italien von großer Bedeutung. Junge Menschen spielten bei den sozialen Konflikten dieser Zeit eine zentrale Rolle. Sie stellten die überwiegende Mehrheit der Mitglieder in außerparlamentarischen Gruppen, sowohl der Rechten als auch der Linken, die die Hauptträger der gewalttätigen Praktiken waren. Auch die Mehrheit der Mitglieder in den Dutzenden von klandestinen Organisationen, die den Weg des bewaffneten Kampfes wählten, war noch jung.14 Die Aufmerksamkeit, die in der bisherigen Forschung der Beziehung zwischen Ideologie und Gewaltausübung gewidmet wurde, hat den Generationsaspekt teilweise überschattet, obwohl er ein ertragreiches Forschungsfeld darstellt. Wir wollen somit neue Forschungsfragen aufwerfen und so die historiographische Debatte zu den 1970er Jahren bereichern.

11 Marco De Nicolò (Hg.): Dalla trincea alla piazza. L’irruzione dei giovani nel Novecento, Roma 2011, insb. Emilio Gentile: Le giovani generazioni nella storia dell’Europa del Novecento, S. 15–23; Francesco Perfetti: Il mito del giovanilismo nel Novecento italiano, ebd., S. 25–36. 12 Panvini: Ordine (Anm. 2); Vladimiro Satta: I nemici della Repubblica. Storia degli anni di piombo, Milano 2016. 13 Der Aufsatz basiert auf Quellen aus der laufenden Dissertation von Giorgio Del Vecchio, die an der Universität Trier von Christian Jansen betreut und 2023 abgeschlossen wird. 14 66,4 % der Personen, die wegen Taten im Zusammenhang mit dem Phänomen des linksradikalen bewaffneten Kampfes in Italien angeklagt wurden, waren unter dreißig Jahre alt. 38,4 % waren unter 25, 6 % sogar unter 20. Vgl. Maria Rita Prette (Hg.): La mappa perduta, Rom 1994. Nach italienischer Definition ist man bis 30 Jahre giovane ( jung).

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Abschließend noch eine methodologische Klarstellung. Wir konzentrieren uns auf Praktiken und Diskurse der Gewalt, die dem Repertoire sozialer Bewegungen zuzuschreiben sind. Dies schließt die Phänomene klandestiner Gewalt aus, den rechten Terrorismus und den linken bewaffneten Kampf.15 Diese Phänomene unterscheiden sich stark von den sozialen Bewegungen, so dass deren Einbeziehung andere Analyseebenen erfordern würde.16

Jugendmobilisierung und Jugendgewalt in den Boom-Jahren Jugendgewalt ist sicherlich keine Besonderheit der 1960er und 1970er Jahre. Der »Einbruch der Jugend« in Politik und Kultur hatte sich bereits seit der Jahrhundertwende in aufeinanderfolgenden Wellen manifestiert, die oft eng mit 15 Wir übernehmen die Definition klandestiner politischer Gewalt von der Soziologin Donatella Della Porta: »the extreme violence of groups that organize underground for the explicit purpose of engaging in the most radical forms of collective action« (Clandestine Political Violence, Cambridge 2013, S. 7). Diese Definition ist zwar auslegungsfähig (wann ist Gewalt extrem, wann kollektives Handeln radikal?), aber sie eignet sich gut für die Geschichtsschreibung, um ihre Erscheinungsformen in einem bestimmten historischen Kontext zu definieren. Im Italien der späten 1960er und frühen 1970er Jahre war klandestine Gewalt von großer quantitativer und qualitativer Bedeutung und manifestierte sich in den Aktivitäten von Hunderten von Gruppen, Netzwerken und Organisationen sowohl des linken als auch des rechten politischen Spektrums, die Tausende von Anschlägen verschiedener Art verübt haben, z. B. politische Morde, Sprengstoffanschläge, Sabotage und Entführungen. Es ist üblich, diese Phänomene als »Terrorismus« zu bezeichnen. Wir verwenden diesen Begriff nicht als allgemeinen Oberbegriff, da er, wie ebenfalls Della Porta bemerkt, zu starken interpretativen und bewertenden Verzerrungen ausgesetzt ist, die oft politischer Natur sind. »Terrorismus« ist vielmehr eine der möglichen Formen, die klandestine Gewalt annehmen kann und die in Italien von rechtsautoritären Organisationen und Netzwerken ausgeübt wurde, deren Ziel es war, eine autoritäre Wende und das Ende der demokratischen Ordnung im Lande zu provozieren. 16 Aus historischer Sicht ist die Beziehung zwischen den sozialen Bewegungen und dem klandestinen bewaffneten Kampf (Gruppen, deren Repertoire in erster Linie aus Praktiken klandestiner Gewalt besteht) komplex und vielschichtig. Zum einen unterscheidet sich die Bewegungsgewalt von der klandestinen Gewalt, da sie nicht von abgegrenzten illegalen Gruppen ausgeübt wird, die sich im Verborgenen organisieren und operieren, sondern von legalen und öffentlich bekannten Organisationen. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Phänomene, die als solche untersucht werden müssen, ohne vereinfachende Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen der Radikalisierung der Praktiken des Massenprotests und dem Aufkommen extremer Formen klandestiner Gewalt herzustellen. Das bedeutet nicht, dass das Repertoire sozialer Bewegungen nicht auch Praktiken extremer Gewalt gegen Menschen bis hin zur Verletzung und Ermordung und den Einsatz von Schusswaffen umfassen kann. Darüber hinaus haben Menschen, die sich für den klandestinen Aktivismus entscheiden, oft bereits Erfahrungen mit dem Aktivismus in einer Bewegung gemacht. Oft hatten in Italien und anderswo klandestine Gruppen und Bewegungsorganisationen gemeinsame Sprachen, politische Kulturen und Wertehorizonte, aus denen sie jedoch völlig unterschiedliche Repertoires des sozialen Konflikts ableiten.

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Praktiken, Kulturen und Mythologien der Gewalt verwoben waren. Die irredentistischen und interventionistischen Bewegungen, die für den Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg im Jahr 1915 ausschlaggebend waren, hatten eine starke generationelle Prägung. Junge Menschen, in Italien wie in Europa, sahen in Krieg und Gewalt eine aufregende kollektive Erfahrung, die die pazifizierten Gesellschaften der Belle Epoque in ihren Grundfesten erschüttern und neue Perspektiven für die Weltgeschichte eröffnen sollten. Der Mythos der Jugendlichkeit und die Mobilisierung der jüngeren Generationen (vor allem im squadrismo17) waren zentral für den Faschismus. Unter dem faschistischen Regime (1922–1945) war Jugendkult Staatsräson. Die Parteihymne hieß Giovinezza (Jugend) und wurde bei allen offiziellen Veranstaltungen nach der Nationalhymne gesungen. Sie war bei dem ausgeprägten Hang des faschistischen Regimes zu Inszenierungen also omnipräsent. Auch die Partisan*innen, die zwischen 1943 und 1945 in der Resistenza gegen das faschistische Regime und die nationalsozialistischen Besatzungstruppen in einem komplexen Konflikt kämpften, der zugleich Befreiungskampf, Bürgerkrieg und Revolution war, waren überwiegend jung und in der Erinnerungskultur sind sie mit jugendlicher Dynamik und Aufbruchstimmung konnotiert. Seit den Jahren des Wiederaufbaus wurden in Italien Modernisierungsprozesse von epochalem Ausmaß in Gang gesetzt, die verschiedene gesellschaftliche Bereiche betrafen.18 Das Gewicht des industriellen und tertiären Sektors nahm im Rahmen einer tiefgreifenden Reorganisation des Produktionssystems im fordistischen Sinne zu. Es gab einen enormen Anstieg des BIP, der durch den Export angetrieben wurde, so dass die Periode des höchsten Wachstums zwischen 1958 und 1963 sofort als Wirtschaftswunder bezeichnet wurde. Auf demografischer Ebene gab es nicht nur einen Bevölkerungszuwachs, sondern massive Migrationsströme vom Land in die Städte. Auf der Ebene des Konsums und des Alltagslebens stiegen Wohlstand und Freizeit; neue langlebige Konsumgüter wie Waschmaschinen, Kühlschränke, TV-Geräte, Vespas und sogar Autos wurden für viele erschwinglich. Diese Modernisierungsprozesse haben die strukturellen Ungleichgewichte im Lande nicht beseitigt, sondern eher vertieft. Wirtschaftliches und industrielles Wachstum basierten auf niedrigen Löhnen und der 17 Squadrismo war die Bewegung der Squadre d’azione (Einsatzgruppen), der faschistischen Milizen, die außerhalb der Autorität des italienischen Staates organisiert waren. Vgl. Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde: Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002. 18 Zu den kulturellen und sozioökonmischen Transformationen der 1950er und 1960er Jahre vgl. Carmelo Adagio (Hg.): Il lungo decennio. l’Italia prima del’68, Verona 1999; Diego Giachetti: Anni Sessanta comincia la danza. Giovani, capelloni, studenti ed estremisti negli anni della contestazione, Pisa 2002; Guido Crainz: Il paese mancato. Dal miracolo economico agli anni Ottanta, Rom 2003; ders.: Storia del miracolo italiano, Rom 2005.

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reichlichen Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte sowie auf der Abwanderung überschüssiger Arbeitskräfte ins Ausland. Die traditionellen Einkommensunterschiede zwischen dem Norden, wo sich die Industrie konzentrierte, und dem überwiegend landwirtschaftlich geprägten Süden blieben bestehen. Auf der kulturellen Ebene wurden Öffnung und Säkularisierung der Gesellschaft durch das Fortbestehen traditioneller und konservativer Wertehorizonte und Mentalitäten behindert. Schließlich gab es eine gewisse Kontinuität sowohl der Normen als auch der Beamten in der öffentlichen Verwaltung, der Strafverfolgung und der Justiz mit dem faschistischen Regime. Die Alterskohorten, die zwischen den Jahren des Zweiten Weltkriegs und den Jahren des Wiederaufbaus geboren wurden, befanden sich inmitten dieser widersprüchlichen Modernisierungsprozesse. Seit Ende der 1950er Jahre entstand parallel zur Konsumgesellschaft, wie in vielen anderen Ländern, eine Jugendkultur, deren konstitutive Praktiken aus der globalen Zirkulation von Moden und kulturellen Vorbildern entstanden, die oft aus den angelsächsischen Ländern und besonders den USA kamen. Bis in das starke kommunistisch-sozialistische Milieu hinein waren Italien und besonders die junge Generation der Nachkriegszeit von der US-Kultur geprägt. Juke-Boxes in Bars und die Zirkulation der Rock-Musik, neue Frisuren und Kleidungsstile wie Bluejeans oder Minirock, die Entstehung neuer, globaler Vorbilder und Rollenklischees, die weibliche wie männliche Stars verkörperten (von Elvis Presley über Marlon Brando oder James Dean bis zu Marilyn Monroe) veränderten die Art und Weise, wie Jugendlichen miteinander interagierten und ihre Freizeit verbrachten einschneidend.19 Es handelte sich oft um Praktiken, die auf Lebensstile und Verhaltensmodelle verwiesen (etwa in Filmen wie Rebel without a cause), die in weiten Teilen der italienischen Gesellschaft und insbesondere in den älteren Generationen als gefährlich für die gesellschaftliche Entwicklung eingestuft wurden. Die Lebenswelt der Jugendlichen, vor allem in den Großstädten, war daher widersprüchlich: Emanzipatorische Verhaltensweisen und neue politische Ideen, mehr Freizeit und mehr Freiheit, abends auszugehen, das Übertreten von Normen koexistierten mit alten Tabus, patriarchalischen Traditionen, kirchlichen Bindungen und der Anpassung an neue sprachliche und kulturelle Codes.20 Diese latenten Spannungen im Jugendmilieu brachen bereits Anfang der 1960er Jahre bei zwei Gelegenheiten auf. Im Juli 1960 protestierten auffallend viele Jugendliche in vielen Teilen Italiens (Genua, Rom, Reggio Emilia, Palermo 19 Attilio Mangano: Capelloni e cinesi. I giovani negli anni sessanta, in: Carmelo Adagio, Rocco Cerrato, Simona Urso (Hg.): Il lungo decennio. L’Italia prima del 68, Verona 1999, S. 37–50. 20 Zur veränderten Zusammensetzung der Arbeiterklasse Fabrizio Billi: Dal Miracolo economico all’autunno caldo. Operai e operaisti negli anni Sessanta, in: Adagio: Decennio (Anm. 18), S. 137–172; Stefano Musso: Storia del lavoro in Italia dall’Unità a oggi, Venedig 2 2002; Andrea Sangiovanni: Tute blu. La parabola operaia nell’Italia repubblicana, Rom 2006.

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und Licata auf Sizilien) gegen die Bildung einer Rechtsregierung, die im Parlament vom MSI, dem Nachfolger der faschistischen Partei, unterstützt wurde.21 Bei den Demonstrationen kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei, bei denen junge Demonstrant*innen, vor allem in Rom und Genua, die führende Rolle spielten. Die harte Reaktion der Polizei forderte Todesopfer in Reggio Emilia und Sizilien. Im Juli 1962 kam es in Turin zu Unruhen, als die FIAT-Arbeiter*innen für einen Tarifvertrag streikten. Zwischen dem 6. und 9. Juli kam es im Zentrum von Turin und insbesondere auf der Piazza Statuto zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen FIAT-Arbeiter*innen und der Polizei. Auch hier waren junge Arbeiter*innen führend und massiv beteiligt, die in den vergangenen Jahren massenhaft von FIAT eingestellt worden waren, um die Produktionsprozesse zu modernisieren. Oft gehörten die in dieser Phase angestellten Beschäftigten zu den jüngeren Alterskohorten, die wegen der konsequenteren Durchsetzung der Schulpflichte und dem Ausbau des Bildungswesens seit 1945 ein höheres Bildungsniveau als ihre älteren Kolleg*innen hatten und die Unruhe und den rebellischen Geist der Jugendmilieus in die Arbeitswelt brachten. Außerdem waren sie oft aus bäuerlichen Milieus (meist des Südens) und erst vor kurzem in die Industriestädte (meist des Nordens) zugewandert. Sie hatten daher wenig bis gar keine Erfahrung mit den intensiven Rhythmen des Fließbandes, mit den hierarchischen Verhältnissen der tayloristischen Arbeitsorganisation und, generell, mit industriellen Arbeitskontexten.22 Obwohl es sich um zwei sehr unterschiedliche Ereignisse handelte, brachten die Zusammenstöße von 1960 und 1962 miteinander verknüpfte Aspekte ans Licht. Zunächst einmal eine allgemeine Unzufriedenheit und Unruhe der jüngeren Generation, deren Proteste sich sowohl gegen die politische Klasse als auch gegen die Arbeitsbedingungen richteten. Dieser Jugendprotest hatte sich auf besonders gewalttätige Weise manifestiert, und die jungen Demonstrant*innen hatten eine bis dahin nie dagewesene Bereitschaft gezeigt, sich gewaltsam den Ordnungskräften zu widersetzen. Die gewaltsamen Proteste und die Teilnahme der jungen Generationen fanden in den Medien ein breites Echo und wurden überwiegend als Ausdruck der Jugendrebellion interpretiert. In beiden Fällen gab es Vorbehalte und wenig Bereitschaft, die gewalttätigen Aktionen als politisch zu lesen. Es wurden unpolitische, kriminelle Bezeichnungen wie »Rowdys« und »Teddy-Boys« ver21 In diesem politischen Aufwind wollte der MSI seinen nächsten Parteitag ausgerechnet in Genua inszenieren, eine Stadt, die eine lebendige antifaschistische Tradition hatte und eine Hochburg der Resistenza gewesen war. 22 Mangano: Capelloni (Anm. 19); Diego Giachetti: Ribellismo giovanile e manifestazioni di protesta nell’Italia degli anni Sessanta, in: Christoph Cornelißen u. a. (Hg.): Il decennio rosso. Contestazione sociale e conflitto politico in germania e in Italia negli anni Sessanta e Settanta, Bologna 2012, S. 51–70.

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wendet und der Kleidung und den Friseuren der beteiligten Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Im Juli 1960 war vielfach die Rede von »Jugendlichen mit gestreiften T-Shirts«, da viele jüngere Demonstrant*innen – vor allem Gymnasiast*innen und Student*innen – dieses Kleidungsstück trugen, das damals Mode war. In Turin war 1962 die Rede von »Hemdärmeligen«, da viele wegen der Krawalle Angeklagte bei den Gerichtsverfahren ohne Anzug und mit modischen Frisuren erschienen. Diese Art von Urteilen war in der konservativen Presse weit verbreitet, die die Proteste als Folge der kulturellen Degeneration sahen, die durch die Moderne hervorgerufen wurde, und der mangelnden Disziplin, die zu kriminellem Verhalten bei den jüngeren Generationen führe. Solche Interpretationen verbreiteten sich jedoch auch in der Linken. Die gewalttätigen Proteste der Arbeiter in Turin bezeichnete das kommunistische Zentralorgan l’Unità als »Rowdytum und Provokation«, die Demonstrant*innen als »wilde Jugendliche«, »unkontrollierte und frustrierte Elemente« und »kleine Gruppen von Unverantwortlichen«. Selbst die linksradikale Theoriezeitschrift des Operaismo Quaderni Rossi beurteilte die Zusammenstöße als »schmutzige Entartung« einer Arbeiterdemonstration und suggerierte, dass Provokateur*innen verantwortlich waren.

Sessantotto: Gewalt und Jugendkulturen während der Protestjahre Auf dem Höhepunkt des Wirtschaftswunders zeigten die jungen Leute in Italien also Anzeichen von Unruhe und der Bereitschaft zu Protest und Radikalisierung ihres Repertoires. Der Ort, an dem sich diese Jugendkulturen am meisten politisierten und strukturierten, waren die Universitäten, an denen die Studierendenzahlen seit den 1960er Jahren, als der Zugang zum Studium liberalisiert wurde, massiv stiegen. Die Rezeption von Impulsen aus dem Ausland, insbesondere aus den Vereinigten Staaten (Proteste gegen den Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegung, Feminismus, politisierte kulturelle Strömungen wie die Beat-Kultur oder Hippies) trug dazu bei, das Potenzial für eine Protestbewegung zu schaffen, die die gesellschaftliche Ordnung insgesamt in Frage stellte. Dies geschah ab November 1967, als sich eine Welle von Besetzungen rasch in ganz Italien ausbreitete, die im folgenden Jahr, wie in vielen anderen europäischen Ländern, zur 68er-Bewegung wurde.23 Die Studentenbewegung wurde in 23 Zur 68er-Bewegung in Italien vgl. u. a.: Attilio Mangano: Le culture del sessantotto: gli anni sessanta, le riviste, il movimento, Pistoia 1989; Diego Giachetti: Oltre il Sessantotto. Prima, durante e dopo il Movimento, Pisa 1998; ders.: Anni (Anm. 18); ders.: Un sessantotto e tre conflitti. Generazione, genere, classe, Pisa 2008; Marcello Flores, Alberto De Bernardi: Il Sessantotto, Bologna 22003; Marica Tolomelli, Jan Kurz: Gli studenti. Tra azione e mobilitazione, in: Adagio: Decennio (Anm. 18), S. 51–72; Marica Tolomelli: »Repressiv getrennt« oder

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Italien von einer Streikbewegung ungeahnten Ausmaßes überlagert, an der sich Millionen Arbeiter*innen beteiligten und die im Herbst 1969, dem so genannten »heißen Herbst«, ihren Höhepunkt erreichte. Sie konnte erhebliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen durchsetzen. Ihr Aktivismus und die Radikalität ihrer Forderungen erregten die Aufmerksamkeit der besser organisierten Ränder der Studentenbewegung, die in vielen Fällen erfolgreich versuchten, mit der Arbeiter*innenbewegung in Kontakt zu treten.24 Für die Entwicklung der Jugendgewalt bedeuteten die Protestjahre 1967–1969 in Italien einen Wendepunkt. Wenn auch in geringerem Maße als in anderen Ländern, eskalierten die Demonstrationen der Studierenden häufig in Zusammenstößen mit der Polizei; Gewalt wurde zu einem Element, das viele junge Menschen als festen Bestandteil des Protestrepertoires zu betrachten begannen. Außerhalb der Betriebe mündeten die Proteste seltener in Straßenschlachten. Innerhalb der Betriebe zeigten hingegen junge Arbeiter*innen, die eine Hauptrolle während der Proteste spielten, eine gewisse Bereitschaft, sich an gewaltsamen Praktiken zu beteiligen, die die etablierten Machtverhältnisse angriffen und untergraben sollten. Dies geschah insbesondere im Rahmen von Protestzügen, die innerhalb der Betriebe inszeniert wurden und deren Ziel oft die Büros der Verwaltung und des Managements waren. Diese Demonstrationen zielten nicht zuletzt auf die Aneignung der Fabriken durch die Belegschaften und mündeten regelmäßig in Inszenierungen performativ-symbolischer Gewaltpraktiken, die sich systematisch gegen alles richteten, was als Zeichen der etablierten Hierarchien und Routinen auf dem Arbeitsplatz wahrgenommen wurde.25 Die Büroräume wurden verwüstet, die als privilegiert angesehenen Angestellten wurden mit physischer Gewalt gezwungen, ihre Arbeitsplätze zu verlassen und die Arbeitgeber gedemütigt. Die damalige Presse überliefert hierfür zwei episodenhafte Beispiele, die sich in der lombardischen Hauptstadt abgespielt haben:

»organisch verbündet«. Studenten und Arbeiter 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, Wiesbaden 2001. 24 Marco Scavino, Diego Giachetti: La Fiat in mano agli operai: l’autunno caldo del 1969, Pisa 1999; Andrea Bellini: Le relazioni industriali in Italia dopo l’autunno caldo tra cambiamenti epocali e occasioni mancate, in: Quaderni di Rassegna Sindacale, 2010, Nr. 11, S. 83–95; Diego Giachetti: L’autunno caldo, Rom 2013; Alberto Pantaloni: 1969. L’assemblea operai studenti. Una storia dell’autunno caldo, Roma 2020; Giuseppe Maione: L’autunno operaio, Castel San Pietro Romano (RM) 2019; Ada Becchi u. a.: L’autunno caldo. Cinquant’anni dopo, Rom 2019. 25 Gabriele Polo: I Tamburi di Mirafiori: testimonianze operaie attorno all’autunno caldo alla Fiat, Turin 1989; Ilaria Favretto: Rough music and factory protest in post-1945 Italy, in: Past & Present, 2015, Bd. 228, S. 207–247; Ilaria Favretto, Marco Fincardi: Carnivalesque and Charivari Repertoires in 1960s and 1970s Italian Protest, in: Ilaria Favretto, Xabier Itcaina (Hg.): Protest, popular culture and tradition in modern and contemporary Western Europe, London 2017, S. 149–184.

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»Die Arbeiter bleiben wie auf einen geheimnisvollen Befehl hin stehen, niemand weiß, was passieren wird, aber auf den Gesichtern liest man einen gemeinsamen Wunsch nach Gewalt, und einer ruft: ›Holt den Personalchef herunter!‹ Auf Befehl seiner Vorgesetzten findet er sich damit ab, herunterzukommen, er ist auf das Schlimmste vorbereitet – und es passiert ihm. Sie sagen ihm, er muss neben einer Drehbank stillstehen und dann gehen sie an ihm vorbei und wiederholen einer nach dem anderen ›Du Sch… kerl‹. So stehen die Arbeiter auf, sie beginnen, die Vorarbeiter zu jagen, dann umzingeln sie das Gebäude der Angestellten und zwingen sie mit Tritten und Stößen, hinunterzugehen und durch das Spalier der Streikenden zu gehen, die schreien, Münzen werfen, pfeifen, während der Personalchef durch ein Meer von Menschen marschieren muss, die drohen ihn aufzuhängen.«26

Diese Zitate beschreiben Episoden kollektiver Gewalt, die sich gegen spezifische Akteure wandten, die die Macht in den Betrieben ausübten (Vorarbeiter oder Personalchef) oder bessere Arbeitsbedingungen im Vergleich zu den ungelernten Arbeiter*innen genossen (die Angestellten). Es sei hervorgehoben, dass es sich in den beiden Fällen um die symbolische Umkehrung der etablierten Hierarchien am Arbeitsplatz drehte; durch Zwangs-, aber vor allem durch Demütigungs- und Bedrohungsakte vollzogen die Streikenden nicht nur einen Racheakt, sondern inszenierten auch eine »Machtübernahme« seitens der Belegschaften und materialisierten alternative Machtverhältnisse. Der Publizist Giorgio Bocca begründete damals solche Gewaltausbrüche psychologisch: Schuld an ihnen sei die sogenannte »neurotische Fabrik«27 gewesen und hinzu seien die Schwierigkeiten der neuen Arbeiterklasse gekommen, sich an die fordistischen harten Produktionsrhythmen und Arbeitsbedingungen zu gewöhnen. Die Entfremdung und die fehlende Identifikation mit der Fabrikarbeit war ein zentrales Kennzeichen der Arbeiterkämpfe der 1960er Jahre, die sich von den bisher bekannten Kampfformen unterschieden. Ein extremer Ausdruck dieser Entwicklung waren Sabotagen, die vor allem während des heißen Herbstes in den Turiner FIAT-Betrieben und in anderen Großbetrieben – wie Pirelli in 26 Mit diesen Worten beschrieb Giorgio Bocca, ein bekannter Journalist und politischer Beobachter, eine derartige Episode, zit. nach Francescopaolo Palaia: La Cgil e il Pci fra violenza terroristica e radicalità sociale (1969–1982), Ph. D. Università Sapienza 2017. Übers. der Autoren. Originalzitat: »Gli operai si fermano come per un ordine arcano, nessuno sa bene cosa sta per succedere ma sui visi si legge una voglia comune di violenza, ed ecco passare la voce: ›venga giù il direttore del personale‹. Per ordini superiori il nostro si rassegna a scendere, preparato al peggio e gli succede. Gli dicono di star fermo, accanto ad un tornio, e poi, gli sfilano davanti e gli ripetono l’uno dopo l’altro ›faccia di m..‹ […] gli operai si sollevano, incominciano a inseguire i capireparto, poi circondano il palazzo degli impiegati e con calci e spinte li costringono a scendere e a passare tra i cordoni di scioperanti che urlano, lanciano monetine, fischiano, mentre il direttore del personale viene fatto marciare in mezzo a un mare di gente con minacce di impiccagione.« 27 Zit. in Crainz: Paese (Anm. 18).

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Mailand – inszeniert wurden. Sie hatten zwar große Resonanz in der Öffentlichkeit, blieben aber quantitativ ein begrenztes Phänomen und waren oft die Reaktion auf konkrete Entscheidungen der Betriebsleitung. Qualitativ waren sie relevant, weil sie die Verbreitung eines tiefen Entfremdungsgefühls ebenso signalisierten wie die fehlende Identifikation mit den Arbeitsprozessen einerseits und den materiellen Artefakten der Fabrikarbeit andererseits.28 Gleichzeitig ist zu bemerken, dass sich in der inszenierten Gewalt des Protestjahrs 1969 Aspekte der neuen Industriegesellschaft – wie die Entfremdung der Arbeitserfahrung – mit Elementen der Bauernkultur verflochten, die den Sozialisationshintergrund weiter Teile der Arbeiterklasse bildete. Diese Art von Performanzen hatte oft eine karnevaleske Dimension. Hier bezog sich die Verhöhnung der Machthabenden auf die industriellen Beziehungen, aber wie im Karneval wurde mithilfe symbolischer Repräsentationen die Umkehr etablierter Machtverhältnisse inszeniert. Bezeichnend ist hierfür die Verwendung von Artefakten wie Puppen oder die Benutzung symbolischer Tiere wie Kaninchen oder Esel, die unmittelbar auf bäuerlichen Alltag und bäuerliche Kultur verweisen.29 Die Spannungen der Protestjahre wurden am 12. Dezember 1969 verschärft, als eine Bombe in einer Bank in Mailand an der Piazza Fontana explodierte. 17 Menschen starben und 85 wurden verletzt. Der anonyme Bombenanschlag war von klandestinen neofaschistischen Gruppen verübt worden, deren Aktionen von demokratiefeindlichen Netzwerken innerhalb der Institutionen (Ministerien, Militär, Polizei) geduldet oder sogar unterstützt wurden.30 Die Schuld für das Massaker sollte der Linken (insbesondere anarchistischen Gruppen) in die Schuhe geschoben werden, um so eine autoritäre Wende im Land zu rechtfertigen. Das Massaker auf der Piazza Fontana wirkte wie ein Katalysator und Beschleuniger der bereits begonnenen Prozesse. Es verschärfte die Spannungen im Land und erhöhte die Gefahr eines möglichen Staatsstreichs, was in der Linken die Anwendung gewaltsamer Methoden weiter rechtfertigte. Seit 1969 wurde die Gewalt immer weniger dem Zufall überlassen und immer mehr organisiert. Besonders deutlich wurde dies in den Bewegungsorganisationen der revolutionären Linken, die während oder unmittelbar nach den Jahren des Protests entstanden, wie Potere Operaio und Lotta Continua, zu denen hauptsächlich junge Aktivist*innen gehörten. Innerhalb dieser Gruppen bildeten sich interne servizi d’ordine (Ordnungsdienste), die sich aus Aktivist*innen zusammensetzten, die Gewalt organisieren, planen und ausüben sollten. Die Ordnungsdienste waren sowohl bei Straßenschlachten mit der Polizei als auch 28 Siehe dazu Sangiovanni: Tute (Anm. 20). 29 Vgl. Favretto, Fincardi: Repertoires (Anm. 25). 30 Vgl. Bull: Neofascism (Anm. 5); Davide Conti: L’Italia di Piazza Fontana. Alle origini della crisi repubblicana, Turin 2020.

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bei Straßenkämpfen mit rechten Aktivisten besonders aktiv und spezialisierten sich zunehmend, indem sie bestimmte Kenntnisse und Techniken der Gewalt entwickelten. Ähnliche Netzwerke bildeten sich, wenn auch in geringerem Ausmaß, auf der Rechten, wo ebenfalls außerparlamentarische Gruppen entstanden waren. Besonders aktiv wurden die Volontari Nazionali, der Ordnungsdienst des MSI, der junge Parteiaktivisten versammelte, um Kundgebungen und öffentliche Demonstrationen physisch gegen die Polizei und linke Exponent*innen zu verteidigen.31

Jugendgewalt in den Schulen: Praktiken und Diskurse Für die Entwicklung spezifischer Jugendgewalt waren Anfang der 1970er Jahre die Schulen – sowohl Gymnasien (licei) als auch Real- und Hauptschulen (istituti tecnici e professionali) – die zentralen Orte. Mobilisierungen von Schüler*innen hatte es schon während der Protestjahre und hier im Zuge der Bewegung an den Universitäten gegeben. Während die studentischen Proteste schon 1969 allmählich nachließen, nahm der Aktivismus an den Sekundarschulen in den frühen 1970er-Jahren zu und erreichten 1971 seinen Gipfel.32 Das schulische Milieu bildete in diesen Jahren einen wichtigen Referenzpunkt, sowohl für die revolutionäre Linke, als auch für die radikale Rechte. Auf die Schülerschaft übten die linksrevolutionären Praktiken und Diskurse eine besondere Anziehungskraft aus. Daher gelang es der revolutionären Linken in vielen Schulen, vor allem in großen Industrie- und in Universitätsstädten, die Hegemonie der historischen Linksorganisationen (die Kommunistische und die Sozialistische Partei Italiens, abgekürzt PCI bzw. PSI) anzufechten und mancherorts abzulösen. Schulen boten ein viel günstigeres Umfeld als Fabriken, wo die linksrevolutionären Gruppen und ihre Ordnungsdienste nach dem Ende der Protestbewegungen von 1968– 1969 stets große Schwierigkeiten hatten, Fuß zu fassen. Gleichzeitig waren die Schulen soziale Orte, wo auch die rechtsautoritären Formationen und insbesondere die Jugendverbände des MSI Fuß fassen konnten. Schulen waren das traditionelle Rekrutierungsbecken rechtsautoritärer Organisationen, eine Verwurzelung, die die klare, linke Konnotation der Proteste 1968–1969 in Frage gestellt hatte.33 Bedeutsam war die Gründung des Fronte della Gioventù34 (Ju-

31 Vgl. Panvini: Ordine (Anm. 2). 32 Vgl. Sidney G. Tarrow: Democrazia e disordine. Movimenti di protesta e politica in Italia 1965–75, Rom 1990, S. 64 Fig. 5. 33 Vgl. dazu Panvini: Ordine (Anm. 2); Donato: Lotta (Anm. 6). 34 Der Fronte della Gioventù wurde 1971 als Dachverband gegründet, um die zahlreichen Jugendorganisationen des MSI zu bündeln, zu kontrollieren und zu koordinieren. In dieser

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gendfront), der das bis dahin fragmentierte Spektrum der MSI-Jugendverbände vereinte und das Eindringen in die Schulen ins Zentrum seiner Tätigkeit stellte. Daraus ergab sich eine Atmosphäre konstanter Spannung, zu der die spezifische, materielle Struktur der Schulen entscheidend beitrug. In diesem Sinne saßen frühzeitig politisierte Jungen und Mädchen, die zu entgegensetzten politischen Milieus gehörten, täglich stundenlang in denselben Gebäuden und manchmal auch nebeneinander im selben Klassenzimmer. Das Ergebnis war die Konsolidierung von Gewalt als routinierte Komponente des Schulalltags: Gezielte Aggressionen gegen Einzelpersonen, kollektive Zusammenstöße bei Flugblattaktionen vor den Schultoren und die Praktiken des Prangers, bei denen Schüler*innen gezwungen wurden, sich in demütigenden Posen in den Schulräumen zu bewegen – etwa mit einem Schild um den Hals, auf dem »Ich bin ein Faschist und ich platziere Bomben« stand. Die Routinisierung der Gewalt zwischen politischen Gegner*innen an Schulen wird durch Dossiers und Berichte belegt, die sowohl von linken als auch von rechten Verbänden und Organisationen zusammengestellt und veröffentlicht wurden und Hunderte von Gewaltepisoden auflisten. Die meisten Vorfälle fanden innerhalb der Schulen statt, und zu Zusammenstößen kam es, vor allem in den Großstädten, fast täglich. Dies waren die Episoden, die in einem chronologischen Dossier über die Gewalt allein für den 5. Februar 1971 in Rom an verschiedenen Gymnasien berichtet wurden (in Anführungszeichen die Namen der Einrichtungen): »Am ›Mamiani‹ wird ein 19-jähriger Junge […] von einem faschistischen Schläger erstochen […]. Die Schläger greifen zwei ehemalige Schüler des ›Dante‹ an […]. Am ›Tacito‹ greifen die Faschisten einen Schüler an.«35 Der gewalttätige Aktivismus fiel oft auf die rechten Schüler selbst zurück. Für sie, die in der Minderheit waren, wurde das tägliche Leben oft extrem schwierig, da sie das Ziel ständiger gewalttätiger Repressalien und Beschimpfungen waren; viele mussten die Schule wechseln. So äußerte sich ein rechtsgerichteter Schüler aus Mailand in einem Interview: »Um jeden Tag zur Schule zu gehen, müssen wir wirklich unseren ganzen Mut zusammennehmen. Ständig werden wir bedroht, mit anonymen Anrufen belästigt, in und um die Schule herum von Gruppen von ›denen‹ verfolgt und kontrolliert und ständig beleidigt.«36 Organisation machte die derzeitige italienische Ministerpräsidentin ihre ersten politischen Erfahrungen – allerdings erst in den 1990er Jahren. 35 Rapporto sulla violenza fascista, Rom 1971, S. 189–190 (Übers. Giorgio Del Vecchio), Originalzitat: »Al ›Mamiani‹ un ragazzo di 19 anni […] viene accoltellato da un teppista fascista […]. I teppisti aggrediscono due ex studenti del ›Dante‹ […]. Al ›Tacito‹ i fascisti aggrediscono uno studente.« 36 Zit. nach Panvini: Ordine (Anm. 2), S. 161 (Übers. Giorgio del Vecchio), Originalzitat: »Ma per andare a scuola ogni giorno dobbiamo veramente fare appello a tutto il nostro coraggio. Sempre minacciati, perseguitati dalle telefonate anonime, sempre seguiti e controllati, all’interno e nei pressi della scuola, da gruppi dei ›loro‹ continuamente insultati.«

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Es kam außerdem in diesen Jahren wiederholt zu Interventionen von externen Einsatzgruppen von älteren Aktivisten, die nicht zur Schülerschaft gehörten, aber die Schüler bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit politischen Gegner*innen unterstützten. Dies geschah vor allem im Falle rechter Aggressionen, da die rechten Schüler in der Regel eindeutig in der Minderheit waren und Unterstützung von außen benötigten. Ältere Mitglieder des MSI und seiner Jugendverbände (wie Giovane Italia [Junges Italien] oder der Fronte della Gioventù) organisierten regelmäßig vor allem in Mailand und Rom Angriffe gegen linke Schüler*innen, oft mit der Verwendung von Eisenstangen, Messern oder Molotow-Cocktails. Auch linksrevolutionäre Gruppen, wie Lotta Continua, stellten manchmal Notfallkommandos bereit, die linke Schüler*innen im Falle von Aggressionen anrufen konnten.37 Gleichzeitig etablierten sich »schulinterne« Ordnungsdienste, die von der Schülerschaft organisiert wurden: »Ich glaube, im Jahr darauf, 1970, gab es schon diesen Ordnungsdienst, der darin bestand, dass wir um sechs Uhr da waren, schrecklich früh, und wir patrouillierten mit Eisenstangen das ganze Gebiet um die Schule herum, um sicherzugehen, dass es keine Faschisten gab, und wir waren da, um den Eingang zu bewachen, damit alle Schüler ruhig hineingehen konnten; dann betraten wir auch den Klassenraum, und zwar, weil wir im Ordnungsdienst waren, zur zweiten Stunde!«38 Die Bedeutung der Schulen und der Wechselwirkung zwischen Jugendgewalt und Ordnungsdiensten wurde in diesen Jahren von Lotta Continua und Potere Operaio thematisiert. In einem politisch-programmatischen Text von 1971 über die Kämpfe in den Schulen widmete Lotta Continua einen ganzen Abschnitt »Anmerkungen zum Ordnungsdienst«, die »der Ordnungsdienst Mailands zur Diskussion allen anderen Ortsgruppen« vorschlug. Die Anmerkung betonte die Wichtigkeit, feste schulinterne Strukturen zu etablieren, die sich spezifisch mit der Organisation der Gewalt beschäftigen. Lotta Continua dramatisierte die Darstellung und behauptete, dass solche Ordnungsdienste sogar für das »Überleben« der Schülerbewegung nötig seien, die durch »faschistische Angriffe« gefährdet würde: »In Schulen wird es immer schwieriger, einen harten Streikposten oder einen Protestzug zu organisieren, ohne dass die Polizei versucht, dies zu verhindern. Faschistische Angriffe auf einzelne Genossen oder vor Schulen 37 Vgl. ebd. 38 Zit. nach Raimondo Catanzaro, Luigi Manconi: Storie di lotta armata, Bologna 1995, S. 327– 328 (Übers. Giorgio Del Vecchio): Originalzitat: »Probabilmente penso l’anno dopo, ’70, già c’era questo servizio d’ordine che consisteva nel fatto che ci si trovava alle sei, ad orari terribili, e pattugliavamo con sbarre di ferro tutta la zona intorno alla scuola per vedere che non ci fossero i fascisti, e stavamo lì a presidiare l’entrata, perché tutti gli studenti entrassero tranquillamente; poi entravamo in classe anche noi, e chiaramente, per il fatto di essere del servizio d’ordine, alla seconda ora!«

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werden immer häufiger. Den Ordnungsdienst, stabil und gewissenhaft, in jeder Schule zu organisieren, ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Überleben der Bewegung.«39 Die Organisation und formale Strukturierung der Gewaltausübung und der Ordnungsdienste waren aus dieser Perspektive von zentraler Bedeutung: »Wie organisiert man den Ordnungsdienst? Nirgends ist Spontaneität so falsch wie in diesem Bereich. Die Formalisierung der Verantwortung innerhalb des Ordnungsdienstes, der von der politischen Organisation der Schüler anerkannt und nur ihr gegenüber für seine Arbeit verantwortlich ist, die Stabilisierung der organisierten Gruppen und die Forderung nach einem Höchstmaß an Bewusstsein und Disziplin, die Gewöhnung an Vertraulichkeit und Geheimhaltung (in ihren heutigen Begriffen), die physische und militärische Reifung, sind die vorrangigen Etappen dieser Tätigkeit und eine Ausbildung für künftige Aufgaben im Klassenkampf.«40 Vor dem Hintergrund dieser Routinisierung der Gewalt gab es zwischen der neofaschistischen Rechten und der revolutionären Linken sehr unterschiedliche Auffassungen zur Gewaltanwendung an Schulen. Auf der rechten Seite gab es, nicht nur in Bezug auf die Zusammenstöße mit linken Schüler*innen, sondern ganz allgemein, eine Tendenz, die eigene Ausübung von Gewalt als rein reaktives und defensives Mittel zu legitimieren. Auch in Anbetracht der überwältigenden zahlenmäßigen Überlegenheit linker Jugendlicher in den Schulen, stellten die Rechten die gewaltsame Auseinandersetzung mit den Anhängern der Linken als das einzige verfügbare Mittel dar, um ihre politische Überlebensfähigkeit zu sichern. Auf allgemeiner Ebene wurde die Idee der künftigen nationalen Revolution als ein im Wesentlichen gewaltfreier Prozess verherrlicht, in dem nur zur Selbstverteidigung auf Gewalt zurückgegriffen worden sei, während die »subversiven Kräfte« (also die politische Linke) aktiv Gewalt ausgeübt habe. Derartige Argumentationsmuster lassen sich in den wichtigsten theoretisch-programmatischen Dokumenten von Avanguardia Nazionale und Ordine Nuovo nachwei39 Lotta Continua: Per il movimento degli studenti medi, 1971, Fondo Bruno Piotti, fald. 5, fasc. 1, Archivio dei Movimenti, Genua (Übers. der Autoren), Originalzitat: »Nelle scuole, è sempre più difficile fare un picchetto duro o un corteo senza che la polizia tenti di impedirlo. Le aggressioni fasciste davanti alle scuole o ai singoli compagni si fanno più frequenti. Organizzare in ogni scuola, in modo stabile e puntuale il servizio d’ordine è innanzitutto una condizione indispensabile per la sopravvivenza del. movimento.« 40 Ebd. (Übers. der Autoren), Originalzitat: »Come organizzare il servizio d’ordine? Mai come in questo campo lo spontaneismo non paga. La formalizzazione dei responsabili del servizio d’ordine riconosciuti dall’organizzazione politica degli studenti e che solo ad essa rispondono del proprio operato, la stabilizzazione di nuclei organizzati, e la rischiesta del massimo di consapevolezza e disciplina, la consuetudine alla riservatezza e alla clandestinità (nei suoi termini attuali), la maturazione fisica e militare, sono le tappe prioritarie di questo lavoro e una scuola di formazione per i compiti futuri della guerra di classe.«

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sen. Im einzigen programmatischen Text von Avanguardia Nazionale hieß es beispielsweise: »Weit davon entfernt, auf Gewalt zurückzugreifen, außer zur Selbstverteidigung, muss die Europäische Revolution die Ordnung und Rechtmäßigkeit bewahren, zu deren Aufrechterhaltung die Plutokraten nicht fähig sind.«41 Diese Prinzipien wurden gleichzeitig auch in Mobilisierungsdokumenten wie Flugblättern und Pamphleten verbreitet, die gezielt in den Schulen verteilt wurden, wo Gewalt zwischen rechtsautoritären und linksrevolutionären Militanten zur alltäglichen Routine geworden war. So kommentierte Ordine Nuovo einen Zusammenstoß mit politischen Gegnern in einer Schule in Rom: »Schon wieder!!! Die hiesigen ›Genösschen‹, unfähig, irgendein überzeugendes Argument für die Schüler zu finden, die es mittlerweile leid sind, ihr übliches leeres Geschwätz zu hören, haben beschlossen, die übliche schmutzige antifaschistische Fassade abzustauben, um ein paar Dummköpfe zu bezirzen. NARREN!! Erst provozieren sie und greifen zu 30 unsere vereinzelten Kameraden an, sie spielen sich auf und geben sich als große Revolutionäre, dann prügeln sie ihnen die Scheiße aus dem Leib, und fangen an, sich über die faschistische Gewalt zu beschweren und zu klagen, sie die ›Lämmer‹, die Venturini und Annarumma [ein rechter Aktivist und ein Polizist, die infolge von Zusammenstößen mit linksrevolutionären Aktivisten starben] ermordeten.«42 Ähnlich klang ein Flugblatt des Fronte della Gioventù: »Die Organisationen der Linken verschanzen sich […] in ihrer Auseinandersetzung mit antikommunistischen Schülern hinter Gewalt und des Machtmissbrauchs. Das Scheitern ihrer demagogischen Politik in den Schulen ist der Ursprung aller Schlägereien, die an verschiedenen Gymnasien in Rom stattgefunden haben. […] Das Verprügeln von antikommunistischen Schülern geht weiter, sie werden angegriffen, wenn sie isoliert sind, und zwar von organisierten Schlägertrupps, die erst dann den Mut haben, wenn 20 von ihnen gegen einen stehen, die Befehle von Botteghe Oscure [Parteizentrale des PCI] auszuführen. […] Diese Geschehnisse sind jetzt an der Tagesordnung, aber die tapferen Aktivisten des PCI und ihre Verbündeten 41 Avanguardia Nazionale: La lotta politica di Avanguardia Nazionale, Rom 1972 (Übers. der Autoren), Originalzitat: »Lungi dal ricorrere alla violenza, salvo che per legittima difesa, la Rivoluzione Europea deve salvaguardare l’ordine e la legalita che i plutocrati sono incapaci di mantenere.« 42 Flugblatt von Ordine Nuovo 1971, Fondo Cesaretti, fasc.1, IRSIFAR (Übers. der Autoren), Originalzitat: »Ci risiamo!!! I ›compagnucci nostrani‹, non riuscendo più a trovare alcun argomento convincente, per gli studenti che ormai si sono stancati di stentire e loro solite chiacchiere vuote, hanno deciso di rispolverare il solito squalido fronte antifascista, sempre buono per incantare un po di fessi. BUFFONI! Prima provocano e aggrediscono in trenta contro uno i nostri camerati isolati, fanno i forti e si danno arie da grandi rivoluzionari, poi le buscano di santa ragione e allora cominciano a lamentarsi e a recriminare contro la violenza fascista, loro gli ›agnellini‹ che hanno assasinato Venturini e Annarumma.«

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müssen vorsichtig sein, sie dürfen nicht die Tatsache ausnutzen, dass wir es nie akzeptiert haben, auf das gleiche Niveau von Gewalt und Provokation herabzusteigen wie sie. Wenn die Schulbehörden nicht eingreifen, wenn die Polizeikräfte die persönliche Sicherheit der Anhänger der antikommunistischen Vereinigungen nicht schützen, wird der Fronte della Gioventù entschlossen und massiv eingreifen, um das Recht auf Studium und die Freiheit, die eigenen Ideen zu manifestieren, zu schützen.«43 Das Flugblatt verweist hauptsächlich auf zwei wichtige Elemente. Einerseits auf die Wahrnehmung der Kommunistischen Partei (PCI) und der außerparlamentarischen Organisationen als Einheitsfront, obwohl diese äußerst brüchig geworden war und allenfalls auf dem Feld des Antifaschismus fortbestand. Andererseits auf die Logik der Gewalt als Ermächtigung, das heißt »die – jenseits der staatlich zugelassenen Möglichkeiten – gewaltsame bzw. unter Androhung von Gewalt erfolgende Bestrafung, Erzwingung oder Verhinderung eines abgelehnten bzw. erwünschten Handelns Anderer durch nicht-staatliche bzw. private Akteure.«44 In diesem Sinne nahm der rechtsautoritäre Gewaltdiskurs die »demokratischen« staatlichen Strukturen als unfähig wahr, subversiven Kräften Einhalt zu gebieten und die physische Sicherheit und die politischen Rechte rechter Aktivist*innen zu verteidigen, so dass sich diese selbst wehren müssten. Im linksrevolutionären Milieu spielte diese viktimistische Rhetorik bei der Legitimierung der Gewaltausübung eine geringere Rolle. Rechte Gewalt wurde von linken Verbänden, Gruppen und Bewegungsorganisationen öffentlich angeprangert, oft durch die Veröffentlichung sehr gut dokumentierter Dossiers. Allerdings bedeutete die hohe gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimität antifaschistischer Gewalt ein symbolisches Terrain für den linksrevolutionären Gewaltdiskurs, das weit über eine rein defensive Logik hinausging. Sie standen als Antifaschist*innen in der nationalen Tradition der Resistenza, des Widerstands 43 Flugblatt der Fronte della Gioventù, o. D. [1971], Fondo Lipparini-Raspini; Fasc. 195, IRSIFAR (Übers. der Autoren), Originalzitat: »Le organizzazioni di sinistra […] si sono trincerati dietro un clima di violenza e prevaricazione nei confronti degli studenti anticomunisti. Il fallimento della loro politica demagogica nella scuola è la matrice di tutte le azioni di teppistiche che si sono verificate nei vari licei di Roma. […] continuano i pestaggi degli studenti anticomunisti, aggrediti quando si trovano isolati, da squadre organizzate di picchiatori che soltanto quando si trovano in 20 contro uno hanno il coraggio di eseguire gli ordine delle Botteghe Oscure. […] Ormai questi episodi sono all’ordine del giorno, ma stiano attenti i prodi attivisti del PCI e i suoi collegati, non si facciano forti del fatto che noi non abbiamo mai accettato di scendere sul loro piano di violenza e prevacariazioni. Se le autorità scolastiche non interverranno, se le Forze dell’Ordine non tuteleranno la sicurezza personale degli aderenti alle associazioni anticomuniste, il Fronte della Gioventù interverrà decisamente e pesantemente per salvaguardare il diritto allo studio e la libertà di manifestare le proprie idee.« 44 Thomas Schmidt-Lux: Vigilantismus als politische Gewalt. Eine Typologie, in: BEHEMOTH – A Journal on Civilisation, 2013, Jg. 6, Heft 1, S. 98–117, Zitat S. 102.

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und des Bürgerkriegs von 1943–45, und konnten an die Straßenkämpfe erinnern, die während des Aufstiegs des Faschismus in den frühen 1920er-Jahren stattgefunden hatten. Dieses Erbe wurde in den Jahren der Proteste und in der Zeit unmittelbar danach, als der Aktivismus der radikalen Rechten an Intensität zunahm, vielfach adressiert. Aber auch hier, wie beim rechten Gewaltdiskurs, gab es Bezüge zu einem vigilantistischen Diskurs, etwa im zentralen Begriff des »militanten Antifaschismus«, das heißt im alltäglichen Kampf gegen den rechten Aktivismus »von unten« und »auf den Straßen«, durch selbstorganisierte Praktiken. Dieser Diskurs wurde, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten, von allen Komponenten des zersplitterten Spektrums der revolutionären Linken aufgegriffen. Die Flugblätter, die politischen Dokumente und die Pamphlete der linksrevolutionären Gruppen wiederholten mit sehr ähnlichen Worten, dass es notwendig sei, dem Faschismus durch die direkte Aktion der Massen etwas entgegenzusetzen. Außerdem war im linksrevolutionären Milieu die Wahrnehmung verbreitet, dass die staatlichen Sicherheitsapparate die rechtsautoritäre Gewalt weitgehend tolerierten oder sogar unterstützten. Auch aus diesen Gründen wurde oft die antifaschistische Thematik verallgemeinert und zielte diskursiv weit über die konkreten Konflikte mit dem rechtsautoritären Aktivismus hinaus. So kommentierte beispielsweise Lotta Continua in einem Flugblatt: »Unser Antifaschismus ist dies: In den Fabriken, in den Schulen, in den Stadtvierteln, überall, wo es Proletarier gibt, dürfen wir die Faschisten nicht agieren lassen, müssen dafür sorgen, dass die Bosse, die Ausbeuter, die Streikbrecher, die Faschisten verschwinden und in die Kanalisation zurückkehren. Wir müssen sie identifizieren und sie öffentlich aburteilen: Die Proletarier haben die Kraft und den Willen dazu, sie werden es beweisen.«45 Diese Hervorhebung der direkten Aktion wurde durch Kritik am institutionellen Antifaschismus konterkariert. Den parlamentarischen, antifaschistischen Parteien wurde vorgeworfen, einerseits unwirksamen Fassaden-Antifaschismus zu praktizieren und andererseits den Antifaschismus als Vorwand zu benutzen, um die revolutionären Bewegungen zu unterdrücken aufgrund der These, dass Links- und Rechtsextremismus eine vergleichbare Gefahr für die demokratische Ordnung darstellten. Die vigilantische Konzeption wurde oft diskursiv mit der Perspektive verbunden, die Gewalt aktiv zu organisieren. So nutzte Potere Operaio den Konflikt mit den rechtsautoritären Aktivist*innen aus, um die Notwendigkeit der Orga45 Flugblatt von Lotta Continua, 1971, Fondo Cesaretti, fasc.1, Irsifar (Übers. der Autoren), Originalzitat: »IL NOSTRO ANTIFASCISMO È QUESTO: Nelle fabbriche nelle scuole, nei quartieri, dovunque ci siano dei proletari non dobbiano permettere ai fascisti di agire, dobbiamo fare in modo che i padroni, gli sfruttatori, i crumiri, i fascisti stessi spariscano e tornino nelle fogne. Dabbiamo individuarli e processarli pubblicanente: i proletari hanno la forza e la volontà di farlo, lo dimostreranno.«

Jugendlichkeit und jugendliche Gewaltdiskurse in den 1960er und 1970er Jahren

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nisation der Gewalt hervorzuheben. Wie im rechtsextremen, erschienen auch in der linksrevolutionären Gewaltkultur die Schulen als Orte, wo dies besonders dringend war. Dies belegt ein Flugblatt der Römer Ortsgruppe von Potere Operaio: »Genossen, die Schule in der Krise ist direkte Repression als politische Kontrolle über die Schülermassen, ist einfach der soziale Ort, an dem sie ausgebildet werden, um ausgebeutet zu werden und den Bossen zu dienen. Heute gibt es keinen Kampf der Schüler, der nicht mit der Polizei zusammenstößt, der sie nicht mit der Gewalt der Faschisten konfrontiert. Das Problem besteht also darin, uns an diesen Konfrontationsebenen zu messen, sie zu akzeptieren, unsere eigenen Wege und Zeiten aufzuzwingen. Die Selbstverteidigungsteams in den Schulen engmaschig zu organisieren, so dass sie ein politischer Bezugsrahmen für alle Genossen sind. Sie innerhalb klar definierter Bereiche zu koordinieren. Faschisten, reaktionäre Lehrer, Spione und Provokateure markieren. Lasst uns mit dem Aufbau unserer militärischen Organisation verhindern, dass diese elenden Gestalten gegen die Interessen der Arbeiterklasse leben und operieren.«46

Fazit Abschließend einige Schlussfolgerungen über die Beziehung zwischen Jugendkultur und politisch motivierter Gewalt in Italien in den 1970er Jahren: Es handelte sich um einen langfristigen Prozess, der seinen Ursprung in den 1960er Jahren hatte, in den Jahren des Wirtschaftswunders und der stürmischen und widersprüchlichen Modernisierung, die das Gesicht des Landes veränderten. In diesem Kontext entstand eine kollektive Identität junger Menschen, die nicht zuletzt auf der Transnationalisierung von Konsummustern, kulturellen Produkten, Filmen und Musik beruhte. In Italien manifestierte sich dieser Prozess der kollektiven Identifikation auch in Episoden kollektiver Gewalt, in denen die Jugend dominierte, etwa bei den Zusammenstößen 1960 gegen den Rechtsruck 46 Flugblatt von Potere Operaio 1971, Fondo Francesco Arturo Saponaro; 8.3. Movimento studentesco, docc. 5, 1970–1971 dic., Archivio della Fondazione Lelio e Isli Basso, Rom (Übers. der Autoren), Originalzitat: »Compagni, la scuola nella crisi è direttamente repressione come controllo politico sulle masse studentesche, è semplicemente il luogo sociale in cui si addestra allo sfruttamento ed a servire i padroni. Oggi non esiste lotta di studenti che non si vada a scontrare con la polizia, che non affronti la violenza dei fascisti. Il problema è allora misurarsi su questi livelli dello scontro, accettarli, imporre noi i modi e i tempi: Organizzare in modo capillare le squadre di difesa nelle scuole, che siano punto di riferimento politico complessivo per tutti i compagni. Coordinarle razionalmente all’interno di zone ben determinate. Schedare i fascisti, i professori reazionari, spie e provocatori. Impediamo, con la costruzione della nostra organizzazione militare, a questi squallidi figuri, di vivere e di operare contro gli interessi della classe operaia.«

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der Regierung Tambroni und bei den Protesten der FIAT-Arbeiter*innen 1962 in Turin. Diese Episoden waren unerwartet und die öffentliche Meinung tat sich schwer, sie politisch zu erklären, und interprtierte sie stattdessen als Teil eines kriminellen Phänomens, das auch auf die neue Jugendkultur zurückzuführen sei, die sich seit den 1950er Jahren ausgebreitet hatte. Aus Sicht der historischen Forschung waren sie Symptome eines Erwachens, das sich einige Jahre später in einer breiten und vielfältigen Protestbewegung niederschlug, die zwischen 1968 und 1969 die italienische Gesellschaft sehr grundsätzlich in Frage stellte. Epizentren der Bewegung waren zwei symbolische Orte der Formierung und späteren Politisierung der Jugendkulturen, nämlich die Universitäten und die Fabriken. Die Bewegung wurde oft von Praktiken kollektiver Gewalt begleitet, sowohl auf der Straße als auch in den Fabriken und Universitäten, aber Gewalt spielte im italienischen »68« (Sessantotto) eine geringere Rolle als in anderen westeuropäischen Ländern, wie Frankreich oder Westdeutschland. Sie hinterließen jedoch ein dichtes Netz von Bewegungsorganisationen an beiden Enden des politischen Spektrums, an denen sich vor allem junge Menschen beteiligten und deren Ziel es war, die bestehende politische und sozioökonomische Ordnung zu überwinden. Ein zweiter Punkt, der sich aus unserem Beitrag ergibt, betrifft die Jahre nach den Protesten. In den 1970er Jahren waren in Italien die Sekundarschulen einer der sozialen Orte, an denen Jugendgewalt am sichtbarsten war. Dies war eine Folge der starken Politisierung und der starken Durchdringung und Verwurzelung, die sowohl den Organisationen der revolutionären Linken als auch, wenn auch in geringerem Maße, der autoritären Rechten an den Sekundarschulen gelungen ist. Für beide Milieus bildeten die Schulen die wichtigsten Rekrutierungsorte und sie nutzten sie für die politische Sozialisierung der jüngeren Generationen. Gewalt spielte in diesen Prozessen eine zentrale Rolle. Junge Menschen, die gegensätzlichen politischen Orientierungen angehörten, fanden sich täglich Seite an Seite wieder, in einem Klima großer ideologischer Gegensätze und großer Spannungen, die nicht zuletzt durch die neofaschistischen Anschläge verursacht wurden, die seit 1969 zu mehreren Massakern führten. Gewalt zwischen linken und rechten Schüler*innen wurde zu einem alltäglichen Bestandteil des Schullebens. Die Organisationen ihrerseits organisierten die Gewalt an den Schulen immer professioneller. Entscheidend waren dabei die Ordnungsdienste der revolutionären Linken, die sich speziell mit der Organisation und Ausübung von Gewalt befassten. Die Bedeutung, die die Gewalt an Schulen hatte, zeigt sich in den Diskursen, mit denen die Bewegungsorganisationen beider Milieus das Thema aufgriffen und versuchten, ihre Gewaltausübung politisch zu legitimieren. Zugleich ergeben sich weitere Forschungsfragen. Eine der wichtigsten ist die Analyse der Beziehung zwischen Jugendkultur und politischer Gewalt über ihre ideologische Dimension hinaus. Die Gewalt in den Schulen wurde zwar in den

Jugendlichkeit und jugendliche Gewaltdiskurse in den 1960er und 1970er Jahren

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1960er und 1970er Jahren durch die Verwendung ideologischer Strukturen legitimiert, aber darin erschöpfte sich ihre Bedeutung nicht. Daraus ergeben sich neue Fragen: Welche Funktionen hat die Ausübung von Gewalt übernommen, als sie für viele junge Menschen zu einer fast täglichen Erfahrung wurde? Wie wirkte sie sich auf die Bildung von kollektiven und individuellen Identitäten aus? Gab es dabei ähnliche Verläufe im rechtsautoritären und linksrevolutionären Milieu? Wie wurde das Thema im Privaten, von einzelnen Aktivist*innen verarbeitet?

Weitere Beiträge

Hajo Frölich

»Raus wollte ich u. einen möglichst ›männlichen‹ Beruf wollte ich auch«. Karl Fischer und der deutsche Kolonialismus in China

Einleitung Karl Fischer (1881–1941) gilt als Begründer des Wandervogels in seiner institutionalisierten Form. Im November 1901 rief der junge Student im heimischen Steglitz, damals eine aufstrebende Landgemeinde vor den Toren Berlins, den »Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten« ins Leben. Dessen Wurzeln reichten zurück in die 1890er Jahre. Bald begann eine Kaskade von Spaltungen und Neugründungen. 1914 sollen alle Gruppierungen zusammen ungefähr 35.000 Mitglieder gehabt haben. Wie Antje Harms unlängst gezeigt hat, lassen sich diese Wandervogel-Gruppen innerhalb der Jugendbewegung in erster Linie der politisch rechten, völkischen Richtung zuordnen.1 Während der Wandervogel also wuchs, hatte Karl Fischer, der 1912 durch Hans Blüher zum Gründervater stilisiert werden sollte, Steglitz und Deutschland längst verlassen.2 Bereits 1906 war er nach China aufgebrochen. Und genau hier endete dann auch das Interesse seiner Biographen. Was der oft als autokratisch und unbelehrbar Beschriebene in Ostasien getan hatte, damit beschäftigte sich niemand näher.3 Fischer war vor allem von Interesse für die Geschichte des Wandervogels, und der Wandervogel war eine deutsche Geschichte. Oder etwa nicht?

1 Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt u. a. 2021, S. 51–58. 2 Hans Blüher: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, Berlin-Tempelhof 1912. 3 Gerhard Ziemer, Hans Wolf: Wandervogel und Freideutsche Jugend, Bad Godesberg 1961; Arnold Stenzel: Fischer, Karl, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5: Falck – Fyner, Berlin 1961, S. 196–197; Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013, S. 70–74; Alice E. Freedman: Der Wandervogel. Its History and Influence (MA thesis, University of Southern California), Los Angeles 1932.

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Die Ausstellung Gut einhundert Jahre später – und genau einhundert Jahre nach dem formalen Ende deutscher Kolonialherrschaft – beschloss das Abgeordnetenhaus von Berlin 2019 eine umfassende Auseinandersetzung mit der Rolle, die die Stadt hierbei gespielt hatte und empfahl unter anderem eine »museale Aufarbeitung der lokalen Kolonialgeschichte auf Bezirksebene«.4 Daraus entstand, finanziert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa, neben vielem anderen die Ausstellung »Spuren des Kolonialismus. Der private Nachlass des Wandervogels Karl Fischer«, die dann ab Oktober 2022 im Archiv der deutschen Jugendbewegung zu Gast war. Initiiert wurde die Ausstellung von Christiana Brennecke, beim Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf in Berlin zuständig für die Regionalgeschichte. Ursprünglich hatte Brennecke eine Vielzahl kolonialer Spuren in diesem südwestlichen Bezirk der Hauptstadt präsentieren wollen. Als aufgrund der CoronaPandemie der Zugang zu Archiven stark eingeschränkt wurde, rückten jedoch die Bestände des eigenen Bezirksarchivs in den Mittelpunkt. Dazu gehört auch das Wandervogel-Archiv, dessen größter Bestand wiederum der Nachlass von Karl Fischer ist. Ein substantieller Teil davon, unter anderem mehr als 450 Fotografien, aber auch Zeitungen und Korrespondenz, stammten augenscheinlich aus Ostasien, waren aber bisher weder im Detail erschlossen noch genutzt worden. Brennecke und das Bezirksamt beauftragten das Historische Forschungsinstitut Facts & Files mit der neuen Erschließung, Digitalisierung und Analyse dieses Materials.5 Und so gelangte der Nachlass in den Untertitel der Ausstellung und Fischers koloniale Karriere in ihren Mittelpunkt. Dass die Ausstellung anschließend auf Burg Ludwigstein zu sehen war, war für die Macherinnen und Macher eine schöne Bestätigung.6 Dass das Archiv der deutschen Jugendbewegung sich dafür interessiert, überrascht nicht: Blättert man im Jahrbuch von 2005, stellt man fest, dass unter dem Titel »Des Kaisers neue Völker« schon damals »Jugend, Jugendbewegung und Kolonialismus« Thema einer eigenen Archivausstellung, einer Tagung und eben des Jahrbuchs waren. Karl Fischer war eine von zwei Tafeln der Ausstellung zu »Erfahrungen jugendbewegter Persönlich-

4 Abgeordnetenhaus von Berlin (18. Wahlperiode): Berlin übernimmt Verantwortung für seine koloniale Vergangenheit. Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis90/Die Grünen (Drucksache 18/1788), Berlin 26. 03. 2019, S. 4. 5 Bei Facts & Files Historisches Forschungsinstitut Berlin waren daran Frank Drauschke, Eva Voßhans, Kati Zimmer sowie der Autor beteiligt. 6 Christiana Brennecke und Hajo Frölich (Kuratoren), Kimiko Suda (Interventionen und Beratung), Frank Drauschke, Katja Kaiser, Mirja Memmen, Stefan Zollhauser (Recherchen und wissenschaftliche Mitarbeit), Oraide Bäß, Claudia Wagner, Gabriel Kujawa (Gestaltung und Produktion).

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keiten in den Kolonien« gewidmet.7 17 Jahre später konnte diese eine Tafel zu einer ganzen Ausstellung ausgeweitet werden, die zeigt, dass Fischers Leben in China wenig mit Jugendbewegung zu tun hatte, aber viel mit den beruflichen Möglichkeiten, die die Kolonialpolitik eröffnete, und mit Fischers Hang zum Paternalismus.

Was Karl Fischer in China machte Der ursprünglich breiteren Intention folgend, beschäftigte sich die Ausstellung auch mit den Biographien zweier Migranten, mit Straßennamen, Firmen und wissenschaftlichen Einrichtungen. Im Mittelpunkt standen aber die Lebensstationen Karl Fischers in Steglitz, Qingdao (Tsingtau)8 und Shanghai, im japanischen Bando und schließlich wieder in Steglitz (das kurz darauf nach Berlin eingemeindet wurde). Zu jeder Station gehörten mehrere Tafeln, die unter anderem eine zeitgenössische geographische Darstellung des jeweiligen Ortes sowie Texte zu seiner Geschichte im kolonialen Kontext und zu Fischers Arbeit und Leben dort präsentierten. Zentrale Elemente waren Reproduktionen der neu erschlossenen Fotografien, Postkarten, Briefe und Publikationen aus dem Nachlass sowie aus anderen Archiven, insbesondere aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. Hinzu kamen einige Dokumente, Notizhefte, Fotografien und Publikationen im Original. Im Folgenden soll nicht die gesamte Ausstellung wiedergegeben werden. Sie kontextualisiert Fischers Leben in China und Japan ausführlich und liegt bereits komplett als Buch vor.9 Auch ihre besonderen Herausforderungen sind bereits andernorts thematisiert worden.10 Hier werden stattdessen dicht am Material einzelne Aspekte herausgegriffen, wobei der Schwerpunkt auf Fischers journalistischer Tätigkeit in Shanghai liegt, die auch in den Quellen am besten dokumentiert ist.

7 Susanne Rappe-Weber: Zwischen Kilimandscharo und Tsingtau. Dokumentation einer Ausstellung zu Jugendbewegung und Kolonialismus in Deutschland, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2005, NF 2/2005, S. 148–175. 8 Chinesische Ortsnamen, die in den Quellen genannt werden, werden hier und im Folgenden in der heute üblichen Transkription in Hanyu Pinyin wiedergegeben. Bei jeder Ersterwähnung folgt in Klammern die zur Entstehungszeit im Deutschen gebräuchliche Schreibweise. 9 Christiana Brennecke (Hg.): Spuren des Kolonialismus. Der private Nachlass des Wandervogels Karl Fischer, Berlin 2021. 10 Hajo Frölich, Kimiko Suda: Wie umgehen mit Karl Fischers privatem Nachlass aus der Kolonialzeit? Herausforderungen einer interdisziplinären Ausstellungspraxis, in: Berliner China-Hefte, 2022, Jg. 54, S. 158–173.

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Vorgeschichte in Steglitz Karl Fischer, so zumindest schilderte es der damals 41-Jährige in seiner fragmentarischen Autobiographie aus dem Jahr 1922, hatte schon früh den Drang verspürt, aus Deutschland wegzugehen, fremde Kulturen kennen und fremde Sprachen sprechen zu lernen. Als Gymnasiast habe er alles Geld, das er mit Stenographie-Stunden verdiente, für die Erste Deutsche Kolonialausstellung, die von Mai bis Oktober 1896 im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park stattfand, und für Bücher über Völkerkunde ausgegeben. Doch er erkannte, so beschreibt er es im Rückblick: »Leider war Völkerkunde kein Beruf für einen Vermögenslosen. Aber raus wollte ich u. einen möglichst ›männlichen‹ Beruf wollte ich auch. Ja ich fürchtete, ich würde mit Wissenschaft allein, so sehr sie mich reizte u. selbst mit event. Aussicht auf Forschungsreisen nicht zufrieden sein. Da packte mich sehr der Gedanke, Seeoffizier zu werden.«11 Auch für seine Hinwendung speziell zu China lieferte Fischer eine eingängige Erklärung, die seine pädagogische Neigung, Wanderlust und Neigung zu Fremdsprachen auf eine einzige Person zurückführen. Diese prägende Figur war der Diplomat Hermann Hoffmann (1875–1955).12 Bei ihm erlernte Fischer bereits als Schüler Stenographie. Vor allem unternahm Hoffmann mit seinen Schülern ausgedehnte Wanderungen. Für Fischer wurde er auch beruflich zum Vorbild: »Hoffmanns Beispiel zeigte einen Weg, eine berufliche Möglichkeit, von der ich noch gar nicht gewußt hatte. Er war Jurist, wollte aber nicht eigentlich Jurist werden, sondern Dolmetscher, und zwar für die Türkei, lernte Türkisch u. Arabisch. Da bot sich eine Karriere, die schon praktisch den Vorteil hatte, mit verhältnismäßigen geringen Mitteln eine sonst unerschwingliche, ›höhere‹ Laufbahn zu ermöglichen […]. Sie vereinte: Wissenschaft u. Leben, Möglichkeit, in die Welt zu gehen u. doch wirtschaftliche Möglichkeit, sogar Beamtensicherheit, Beobachten, Lernen, Studieren, Aufnehmen u. doch auch tätig sein […].«13 In der Rückschau auf seine durch den Ersten Weltkrieg abgebrochene, koloniale Karriere in China führt Fischer den Entschluss zu selbiger bis auf das Jahr 1898, das Gründungsjahr der Kolonie Qingdao, zurück – und auf seine enge Nachahmung des Vorbilds Hoffmann: »Also: Dolmetscher, […] event. sogar deut. Gesandtschaft. Aber welches Land? Nur der Orient kam praktisch in Frage, für mein Bedürfnis dazu mir solches Land u. Volk mit möglichst eigenem bodenständigem, nicht europäisch ›verseuchtem‹ Leben [zu wählen]. […] Ent11 Archiv des Fachbereichs Kultur beim Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf, Wandervogelarchiv, Nachlass Karl Fischer (fortan: BASZ-AKult, WVA), Mappe 113: Karl Fischer: Autobiographie (Manuskript) 1922, S. 13f. 12 Gerhard Ille: Steglitzer Wandervogelführer. Lebenswege und Lebensziele, in: ders., Günter Köhler (Hg.): Der Wandervogel, Berlin 1987, S. 99–127, hier S. 99–103. 13 Fischer: Autobiographie (Anm. 11), S. 16.

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schied mich dann für China. Als ich dann 98/99 noch hörte, man könnte als Einj[ähriger] kostenlos nach Tsingtau u. mit nicht mehr als gewöhnlichen Kosten dort dienen, beschloß ich nirgends anders als dort zu dienen.«14 Im Ergebnis studierte Fischer, auch hierin Hoffmann folgend, Jura, wofür er sich 1901 an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin immatrikulierte.15 Außerdem lernte er parallel Chinesisch am Seminar für Orientalische Sprachen (SOS) in der Dorotheenstraße. Der Unterricht umfasste laut Fischer zweimal täglich 90 Minuten.16 Das SOS war 1887 gegründet worden, um für das expandierende deutsche Kolonialreich geeignetes Personal – Dolmetscher wie andere Beamte – in den jeweiligen Landessprachen und darüber hinaus in Landeskunde und praktischem Verwaltungswissen auszubilden. Die Finanzierung übernahmen das Auswärtige Amt sowie das Reichskolonialamt.17 Einer von Fischers Lehrern am SOS war vermutlich der Chinesisch-Lektor Xue Shen (Hsüeh-shen, 1853–?), der auf Vermittlung des deutschen Gesandten Max von Brandt bereits 1890 von Tianjin aus an das SOS gekommen war. Xue, der zuvor ChinesischLehrer der amerikanischen Wesleyan Mission gewesen war, kam mit seiner Ehefrau und seinem zwölfjährigen Sohn nach Berlin.18 Dieser Sohn, Karl Xue, wurde 1898 der erste chinesische Student der Berliner Universität, wo er bis Anfang 1900 Jura studierte. Später kehrte er wie sein betagter Vater nach China zurück.19 In Halle an der Saale, wo Fischer sein Jura-Studium im Herbst 1904 fortsetzte, gab es keine vergleichbare Möglichkeit, weiter Chinesisch zu lernen.20 Im Herbst 1906 begann Fischer, noch ehe er sein Examen in Jura abgelegt hatte (was er auch nie nachholen sollte), den Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger beim III. Seebataillon in Wilhelmshaven. Von hier wurde er nach wenigen Monaten in die Kolonie Jiaozhou versetzt, die auch der Standort des deutschen Ostasiengeschwaders war.

14 Ebd., S. 17. 15 BASZ-AKult, WVA, Mappe 108: Persönliche Dokumente Karl Fischers, Dokument 9. 16 Fischer: Autobiographie (Anm. 11), S. 20. Françoise Kreissler: L’action culturelle allemande en Chine. De la fin du XIX. siècle à la Seconde guerre mondiale, Paris 1989, S. 207, Fn. 8. In seiner Autobiographie spricht Fischer selbst nur vom »Privat-Seminar«, aber Françoise Kreisslers Angabe, dass es sich dabei um das SOS gehandelt haben muss, ist plausibel. 17 Holger Stoecker: Das Seminar für Orientalische Sprachen, in: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin, Berlin 2002, S. 115–121. Zum Chinesischunterricht am SOS bis zur Zeit von Fischers Immatrikulation, siehe Mechthild Leutner: Kolonialpolitik und Wissensproduktion. Carl Arendt (1838–1902) und die Entwicklung der Chinawissenschaft, Berlin u. a. 2016, S. 517–562. 18 Ebd., S. 543f. 19 Du Weihua: 1898–1918 nian Deguo Bolin daxue Zhongguo liuxuesheng yanjiu (Research to the Chinese students in the University of Berlin from 1898–1918), in: Journal of Jiangsu Normal University (Philosophy and Social Sciences Edition), 2013, Nr. 39, S. 1–5, hier S. 2. 20 Ziemer, Wolf: Wandervogel (Anm. 11), S. 121.

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Qingdao Nach dem Abbruch seines Studiums verbrachte Fischer von 1907 bis 1920 mehr als sieben Jahre in China und fünf Jahre in Kriegsgefangenschaft in Japan. Dabei bewegte er sich in ganz unterschiedlichen kolonialen Kontexten. In China war es zunächst die deutsche »Musterkolonie« in Jiaozhou (Kiautschou), die ihm als Soldaten der Marine den Eintritt in das koloniale Leben ermöglichte – und mehr noch vielleicht die Flucht aus dem Steglitzer Leben, vor der Enge der wachsenden Stadt (ein lebensreformerisches Leitmotiv), vor dem Führungsstreit innerhalb des Wandervogels, vor dem ungeliebten Jura-Studium und vor der finanziell prekären Lage des Studenten, dessen Vater 1906 gestorben war. Im Anschluss an seine Militärzeit war Fischer von Juni 1908 bis April 1910 in der deutschen Kolonie als kaufmännischer Beamter tätig.21 Ende 1909 gründete er nebenbei eine Abendschule für Chinesen, die Deutsch lernen wollten. Im April 1910 – hier endet seine Autobiographie – ging Fischer nach Shanghai. Mit seiner Entscheidung war Fischer durchaus kein Einzelfall im Deutschen Reich, das unter Wilhelm II. die Seestreitkräfte massiv ausbaute und auch gesellschaftlich aufwertete. Das 1898 begonnene Flottenbauprogramm des Großadmirals Alfred von Tirpitz (1849–1930) führte allerdings dazu, dass Einsätze in außereuropäischen Gewässern gerade seltener wurden und die Offiziere und Mannschaften vor allem in Kiel und Wilhelmshaven stationiert wurden.22 In dieser Lage bot die vom Reichsmarineamt verwaltete Kolonie – eigentlich ein auf 99 Jahre verpachtetes Gebiet – jungen, vorwiegend ledigen Männern wie Karl Fischer eine günstige Gelegenheit, aus Deutschland und Europa herauszukommen. Auch dass Fischer im Anschluss an seinen einjährigen Militärdienst nicht gleich nach Deutschland zurückkehrte, sondern sich in Qingdao eine Anstellung suchte und später nach Shanghai wechselte, war keine Ausnahme.23 Nach Fischers Soldatendasein – über das wir abgesehen von Fotografien wie der eines »Kompagnieausflug à la ›Wandervogel‹« (Abb. 1) beinahe nichts erfahren, weder aus dem Nachlass noch aus den Akten des Bundesarchiv Militärarchiv – wechselte er zur ebenfalls fest in die koloniale Verwaltung eingebundenen Shantung Bergbau-Gesellschaft.24 Diese Tätigkeit, so schildert Fischer 21 Hongkong Daily Press (Hg.): Directory and Chronicle for China, Japan, Corea, Indo-China, Straits Settlements, Malay States, Siam, Netherlands India, Borneo, the Philippines, Hong Kong 1913, S. 744. 22 Cord Eberspächer: Die deutsche Yangtse-Patrouille. Deutsche Kanonenbootpolitik in China im Zeitalter des Imperialismus 1900–1914, Bochum 2004, S. 160. 23 Ebd., S. 160f. 24 Mechthild Leutner, Klaus Mühlhahn (Hg.): »Musterkolonie Kiautschou«. Die Expansion des Deutschen Reiches in China. Deutsch-chinesische Beziehungen 1897 bis 1914. Eine Quellensammlung, Berlin 1997, Kap. 7.

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es in seiner Autobiographie, erweiterte seinen Aktionsradius und damit auch seinen Horizont. Nun bewegte er sich vor allem in der deutschen »Einflusssphäre« im Hinterland der Kolonie, wo die Aktiengesellschaft, sein Arbeitgeber, verschiedene Kohlelagerstätten ausbeuten wollte. Fischers Tätigkeit erforderte zahlreiche Reisen und brachte Kontakte zu Chinesinnen und Chinesen verschiedener sozialer Schichten mit sich. Fotografien im Nachlass zeigen ihn insbesondere in Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, an deren Küste die Kolonie lag (Abb. 2). Aus Jinan auch erreichte die verblüfften Wandervögel in Steglitz das als exotisch wahrgenommene Foto ihres Ehemaligen in einer Sänfte, vor einem Torbogen inmitten von Chinesen.25 Mit seinem Weggang nach Shanghai schließlich wechselte Fischer hinüber in die »semikoloniale« Welt der ungleich größeren Hafenstadt mit ihren unterschiedlichen Konzessionen und vor allem dem sich selbst verwaltenden, tendenziell britisch dominierten »International Settlement«. Beruflich sollten sich die folgenden vier Jahre als Höhepunkt im Leben Karl Fischers erweisen.

Abb. 1: »Kompagnieausflug à la ›Wandervogel‹« schrieb Karl Fischer auf die Rückseite dieser Fotografie aus der Kolonie Jiaozhou; S/W-Fotografie, ca. 1907, unbekannter Fotograf, BASZAKult, WVA, Fotosammlung 44, Tüte 7, Nr. 21.

25 Ille, Köhler (Hg.): Wandervogel (Anm. 12), S. 105.

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Abb. 2: »In gutem Einvernehmen« lautet Karl Fischers rückwärtiger Kommentar zu diesem Foto, das ihn gemeinsam mit einem namentlich nicht genannten Chinesen im »Garten der Harmonie« in Jinan zeigt; S/W-Fotografie, ca. 1909, unbekannter Fotograf, BASZ-AKult, WVA, Fotosammlung 44, Tüte 8, Nr. 6.

Shanghai Im April 1910 wurde Karl Fischer Redakteur beim »Ostasiatischen Lloyd«, der ersten deutschsprachigen Zeitung Chinas, die 1886 gegründet worden war und unter der Leitung von Carl Fink (1861–1943)26 stand. Im Sommer dann wurde er parallel verantwortlicher Redakteur der von Fink neu gegründeten, chinesisch-sprachigen Zeitschrift »Hsieh-Ho-Pao« (Xiehebao, »Harmonie-Zeitung«).27 Diese Position behielt er bis Anfang 1913. Zur Redaktion gehörten 26 »Carl Fink und der Ostasiatische Lloyd«, in: Arnold Wright: Twentieth century impressions of Hongkong, Shanghai, and other treaty ports of China. Their history, people, commerce, industries, and resources, London 1908, S. 360f. 27 Françoise Kreissler übersetzt den Titel als »Zeitschrift für gegenseitige Verständigung« (»Journal pour l’entente mutuelle«), siehe Kreissler: L’action (Anm. 16), S. 140. Zur Ge-

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ausweislich einer Fotografie (Abb. 3) und weniger Hinweise in den Quellen sechs Chinesen, darunter – Shanghai war die Pressestadt in China – gewiss erfahrenere Journalisten als Fischer und vor allem gute Übersetzer, denn Fischer selbst wird auch kein ausreichend gutes, geschriebenes Chinesisch beherrscht haben.28 Von den sechs Männern ist bislang jedoch nur Fang Shuyao namentlich bekannt. Ihn hatte Fischer zuerst an der erwähnten Abendschule unterrichtet. Fang, der aus einem Dorf in Shandong stammte, folgte Fischer als Bediensteter, aber auch als Berater und Übersetzer nach Shanghai. Drei kurze, auf Deutsch verfasste Briefe zeigen den vermutlich etwa zehn Jahre jüngeren Fang als stets um das Wohlergehen seines Lehrers und Arbeitgebers Besorgten, gleichwohl selbstbewussten jungen Mann. Sein Brief vom 18. Februar 1918 an den in Japan kriegsgefangenen Fischer zeigt, dass Fang, der inzwischen geheiratet und eine neue Anstellung gefunden hatte, darauf hoffte, gemeinsam mit seinem ehemaligen Vorgesetzten nach Deutschland gehen zu können.29 Was aus kolonialrevisionistischer Perspektive bald als passive »Anhänglichkeit« kolonisierter Menschen an ihre deutschen Herren erschien,30 war gewiss nicht nur bei Fang Shuyao ein kalkuliertes Ergreifen neuer Karrierechancen in »Übersee« – so betrachtet ähnelten Fang und Fischer einander sogar. Die »Harmonie-Zeitung« selbst erschien anfangs alle zwei Wochen. Sie war von deutschen Wirtschaftskreisen und speziell dem Hamburger Ostasiatischen Verein in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt initiiert worden, um für ein positiveres Image des Deutschen Reichs in China zu sorgen. Ein Viertel der Kosten trug der Ostasiatische Verein und deutsche Anzeigenkunden verpflichteten sich ebenfalls zur Finanzierung. Das Unterfangen war Teil der 1905 begonnenen, deutschen »Kulturoffensive«, die unter anderem durch die Gründung mehrerer deutscher Schulen und Hochschulen die noch immer deutliche Vormachtstellung des British Empire, Japans und zunehmend auch der USA bekämpfen und die Absatzmöglichkeiten für deutsche Produkte auf dem chinesischen Markt verbessern sollte.31 Anfang 1911 soll die »Harmonie-Zeitung«

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schichte des »Ostasiatischen Lloyd« siehe ausführlich Niu Haikun: »Dewen xinbao« yanjiu 1886–1917 (Forschungen zum »Ostasiatischen Lloyd«, 1886–1917), Shanghai 2012. BASZ-AKult, WVA, Fotosammlung 45, Foto 3; Barbara Mittler: A newspaper for China? Power, identity, and change in Shanghai’s news media, 1872–1912, Cambridge, MA 2004. BASZ-AKult, WVA, Mappe 112, Briefe 10, 11, 12. Winfried Speitkamp: Die Jugendarbeit der deutschen Kolonialbewegung in der Zwischenkriegszeit, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2005, NF 2/2005, S. 69–83, hier S. 71. Bernd Eberstein: Der Ostasiatische Verein, 1900–2000, Hamburg 2000, S. 55; Mechthild Leutner, Andreas Steen (Hg.): Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927. Vom Kolonialismus zur »Gleichberechtigung«. Eine Quellensammlung, Berlin 2006, S. 349; Jürgen Kloosterhuis: »Friedliche Imperialisten«. Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kulturpolitik, 1906–1918, Band 1, Frankfurt a. M. u. a. 1994, S. 173–178. Siehe auch Politisches Archiv

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Abb. 3: Die Redaktion der »Hsieh-Ho-Pao« in Shanghai; S/W-Fotografie nach 1910, Fotostudio Ah Fong, BASZ-AKult, WVA, Fotosammlung 45, Nr. 3.

bereits rund 1.600 Abonnenten gehabt haben, in erster Linie chinesische Ministerien, Provinzgouverneure, Beamte und Gelehrte.32 Inhaltlich hat sich bislang nur der chinesische Historiker Zhang Shiwei ausführlich mit der »HarmonieZeitung« beschäftigt (die eine gute Quelle für weitere Forschungsthemen wäre). Zhang sieht die Zeitschrift in erster Linie als Propaganda-Organ deutscher Interessen in China, was angesichts ihrer Entstehungsgeschichte vollkommen plausibel ist.33 Auch aus Fischers Hausmitteilung anlässlich seines Abschieds Anfang 1913 wird deutlich, dass die »Harmonie-Zeitung« und ihr Steglitzer Chefredakteur mit dem Sendungsbewusstsein einer um Weltgeltung bemühten Kolonialmacht einer spezifisch deutschen, bodenständigen Kulturmission das Wort redeten, vor der die Menschen in China nur mehr als begriffsstutzige des Auswärtigen Amtes (PA AA) RZ 201/18067: Auswärtiges Amt – Abteilung IA, Die Chinesische Presse, Bd. 8, 01.04.–31. 08. 1910. 32 Kreissler: L’action (Anm. 16), S. 140. 33 Zhang Shiwei, Wang Fengpeng: Tan Deguo »Xiehebao« yu Zhongguo dui De xuan zhan (Eine Studie zur »Harmonie-Zeitung« und der Kriegserklärung Chinas an Deutschland), in: Journal of Chongqing Three Gorges University, 2018, Nr. 34, S. 93–99; Zhang Shiwei: Tan Deguo zai Hua »Xiehebao« yu di yi ci shijie dazhan (Eine Studie zur deutschen »Harmonie-Zeitung« in China und dem Ersten Weltkrieg), in: Journal of Linyi University, 2016, Nr. 38, S. 61–67.

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Schüler erscheinen konnten: »Seit ihrer ersten Ausgabe ist es der Wunsch dieser Zeitung, China zu retten. […] Wir wollen, dass die Chinesen, ehe sie sich geistigen Dingen verschreiben, sich zuerst dem Materiellen widmen. Wenn man keine Güter verschwendet, so wird das Volk wohlhabend; erst wenn das Volk wohlhabend ist, kann man über Finanzverwaltung räsonieren. Wenn man eine Straße ebnet, so fließt der Verkehr; erst wenn der Verkehr fließt, kann man über Politik diskutieren. […] Möge diese Zeitung dazu beitragen, dass in ihren Lesern allmählich das wissenschaftlich-materialistische Denken reift, denn der ganze Wunsch dieser Zeitung ist es, dass China glücklich sein möge.«34 Dafür müsse die chinesische Gesellschaft aufhören – wie sie es gewohnt sei –, nur leere Reden über Reformen und abstrakte, »extreme« Ideen zu schwingen und stattdessen zu konkreten, »materiellen« Taten schreiten.35 Denn schließlich, so schrieb Fischer seiner Leserschaft zum Abschied ins Stammbuch, gehe »die Zivilisation aller westlichen Staaten ursprünglich auf materielle Grundlage zurück – und nicht auf die verwelkte Oberflächlichkeit von Euch Chinesen, die nichts Reelles bewirkt.«36 Die »Harmonie-Zeitung« widmete sich in ihren Artikeln, darunter viele Übersetzungen aus der deutschen Presse, neben dem politischen und wirtschaftlichen Weltgeschehen (aus deutscher Perspektive) auch neuen Entwicklungen in Wissenschaft und Technik sowie Episoden aus der deutschen Geschichte. Damit setzte sie sich zumindest in den Augen Karl Fischers positiv und konkret konstruktiv – eine der liebsten Vokabeln Fischers scheint »materiell« oder »Materie« (wuzhi) gewesen zu sein – von der Konkurrenz ab: »Deshalb gibt es in China zwar viele Zeitungen, doch außer Politik steht in ihnen nichts Wichtiges […], alles, wovon sie berichten und was sie kommentieren, sind der Aufstieg und Fall von Regierungsmitgliedern, die Diskussionen der Politiker und obendrein Raub, Vergewaltigung, Betrug und Mord. Lässt sich so etwa der Wunsch nach Fortschritt zur Rettung der Menschheit, nach Frieden und Wohlstand der Nation verwirklichen?«37 Der von Fischer geleitete Gegenentwurf sollte gerade Chinas Fortschritt, Frieden und Wohlstand befördern, wozu Nachrichten und Hintergrundberichte aus und über Deutschland (und, implizit, deutsche Exportgüter) einen wichtigen Beitrag leisten könnten. So zumindest hatte es schon das Editorial zur ersten Ausgabe im Oktober 1910 formuliert. Da aber die wenigsten Chinesen Deutsch lesen könnten, wolle man nun in chinesischer Sprache die Ansichten und Erkenntnisse aus Deutschland in China verbreiten, um durch »Vernunft und 34 Zitiert nach Zhang Shiwei: Tan Deguo »Xiehebao« zai Hua xuanchuan celüe (The Propaganda Tactics of German Newspaper Concorde in China), in: Journal of Linyi University, 2012, Nr. 34, S. 115–118. Übersetzung Hajo Frölich. 35 Ebd., S. 115. 36 Zitiert nach: Ebd., S. 115. 37 Zitiert nach: Ebd.

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Aufrichtigkeit« zum gegenseitigen Verständnis beider Länder beitragen.38 Die Historikerin Françoise Kreissler, die sich am intensivsten mit Fischers Wirken in Shanghai befasst hat, beurteilt dieses auch wegen seiner fehlenden journalistischen Erfahrung kritisch und hält es obendrein für weitgehend wirkungslos, was auch dem Start der »Harmonie-Zeitung« nur ein Jahr vor der Revolution von 1911 geschuldet gewesen sei.39 Doch Fischer sah sich wohl auch nicht in erster Linie als Journalisten, sondern eher als Lehrer. Als solcher hatte er in einem Beitrag für eine der ersten Ausgaben der deutschsprachigen »Ostasiatischen Lehrerzeitung«, die ab 1910 ebenfalls in Shanghai erschien, noch einen etwas weniger paternalistischen Ton angeschlagen – zumindest gegenüber den Chinesinnen und Chinesen. Fischer stellte die Frage »Was fehlt unserer Kulturpolitik in China?« Seine Antwort: Die in China lebenden Deutschen sprächen zu wenig Deutsch mit ihren chinesischen Angestellten. Einzig in Jiaozhou habe sich eine gewisse »Deutschheit« inzwischen etablieren können. Andernorts müssten vor allem die Kaufleute aufhören, aus reiner Bequemlichkeit Englisch mit den Menschen Chinas zu sprechen.40 Wie Fischers Engagement für die deutsche Sprache, vor allem aber seine Propaganda für deutsche Ansichten und Produkte durch die »Harmonie-Zeitung«, in China aufgenommen wurde, ist schwer zu beurteilen. Ein Anzeichen für eine durchaus positive Wahrnehmung ist, dass der deutsche Chefredakteur 1912 eingeladen wurde, neben einigen anderen, durchaus berühmten, um die interkulturelle Verständigung zwischen China und dem Ausland bemühten Persönlichkeiten ein Vorwort zu einem Buch über den Konfuzianismus zu verfassen.41 Autor des Buches war der Philosoph Chen Huanzhang (1880[?]–1933). Chen hatte 1904 als einer der letzten klassischen Gelehrten Chinas die höchste kaiserliche Prüfung bestanden. 1911 wurde er an der Columbia University in New York mit einer Arbeit über »The Economic Principles Of Confucius And His School« promoviert. Nach China zurückgekehrt, gründete Chen 1912 in Shanghai zusammen mit seinem Lehrer Kang Youwei (1858–1927) die »Konfuzius-Gesellschaft« (Kong jiao hui) mit dem Ziel, den Konfuzianismus zu einer institutionalisierten Religion der neuen Republik China zu transformieren.42 Diesem Zweck sollte auch das Buch dienen, zu dem Fischer sein Vorwort beisteuerte. Er nutzte die wenigen Zeilen, um einerseits der konfuzianischen 38 Xiehebao (Harmonie-Zeitung), 06. 10. 1910, S. 2. 39 Kreissler: L’action (Anm. 16), S. 140f., 154 Fn. 38. 40 Karl Fischer: Was fehlt an unserer Kulturpolitik in China?, in: Ostasiatische Lehrerzeitung. Organ zur Förderung des deutschen Unterrichts in Tsingtau (Dewen xuebao), 1910, Nr. 1, S. 33–36, hier S. 35. 41 Chen Huanzhang: Kong jiao lun (Die Lehre des Konfuzianismus), Shanghai 1912. 42 Yong Chen: Confucianism as Religion. Controversies and Consequences, Leiden 2013, S. 45– 58.

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Tradition und deren Weltgeltung seine Referenz zu erweisen, und andererseits Chen als modernen Übersetzer alter ethischer Prinzipien zu preisen: »Das Werk des Konfuzius versammelt die größten Meilensteine des Heiligen. Die Prinzipien des Konfuzianismus […] entfalten ihre Wirkung auch in Zukunft. Sie sind tief in die Herzen der Chinesen eingedrungen. Sie entfalten ihre Wirkung in der Welt. […] Konfuzius ward lange vor unserer Zeit geboren. Doch die zahlreichen Ziele, die er für China und für die Welt aufgestellt hat, sind weder erreicht worden, noch sind sie immer hinlänglich klar zu erkennen. Uns Heutigen fällt es schwer, sie im Detail zu erforschen. Hier nun eilt uns Doktor Chen Huanzhang mit seinem Beitrag zu Hilfe. Er verkündet die ›Konfuzianische Religion‹. Dies begrüßen wir außerordentlich.«43

Was China mit Karl Fischer machte Liest man das letzte und die anderen obigen Zitate im Zusammenhang, so gewinnt man den Eindruck, dass Karl Fischers von vielen Zeitgenossen attestierter Hang zur Belehrung anderer, zum Doktrinären und zu Vorstellungen von kultureller Eindeutigkeit und Essentialismus in Ostasien zumindest nicht abgenommen hat. Auch Richard Kunze, ehemalige Kollege und nun Korrespondent für die Köllnische Zeitung in Nordchina, sendete an Fischer im April 1915 einen sehr freundlichen Rückblick auf dessen »Kulturarbeit« bei der »Harmonie-Zeitung« und lobte Fischers angeblich spezifisch deutsches Interesse an anderen Völkern, dem die »Ignoranz« der Engländer gegenüberstehe.44 Und Fischer selbst zitierte in einer undatierten Weihnachtskarte aus China den antisemitischen, völkischen Autor Julius Langbehn (1851–1907), wenn er schreibt: »Ich finde bei der hiesigen Bevölkerung immer ein gewisses Etwas, was mich an die Holländer erinnert. Wenn ich mal wieder nach hause [sic] komme, muß ich mal nach Holland, das ›letzte Land in Europa, das noch wie China, eine eigene Kultur hat‹. (ich weiß nicht mehr genau, wo ich das gelesen habe, ich glaube in ›Rembrandt als Erzieher‹).«45

Im Sommer 1914 meldete sich Fischer aufgrund des Mobilmachungsbefehls zur Verteidigung Jiaozhous. Nach der Einnahme der Kolonie durch japanische Truppen im November geriet er in Kriegsgefangenschaft und wurde nach Japan

43 Fei Xili (Karl Fischer), Xu (Vorwort), in: Chen: Kong jiao lun (Anm. 41), S. 6. Übersetzung Hajo Frölich. 44 BASZ-AKult, WVA, Mappe 108, Briefe 64 und 66. 45 BASZ-AKult, WVA, Fotosammlung 44, Tüte 9, Nr. 38.

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verlegt. Dort war er zunächst Insasse des Kriegsgefangenenlagers Matsuyama und später des Lagers Bando, von wo aus er 1920 nach Berlin repatriiert wurde.46 Die eingangs erwähnte Tagung auf Burg Ludwigstein hatte im Herbst 2005 ihr Augenmerk explizit darauf gerichtet, wie »junge Generationen im Deutschland des 20. Jahrhunderts und speziell die jugendbewegten Angehörigen dieser Altersgruppen den Kolonialismus erlebt haben«.47 Damit ging es also weniger um eine Geschichte von Jugendlichen oder »Jugendbewegten« (wie Karl Fischer) als kolonialen Akteuren, sondern eher um eine Geschichte der Rezeption und des kolonialen Diskurses in Deutschland, mithin der historischen und auch gegenwärtigen Wirkungen des Kolonialismus in der Metropole. Dass es solche Wirkungen überhaupt gegeben hatte, war damals auch in der Geschichtswissenschaft und erst recht im öffentlichen Diskurs durchaus noch nicht common sense. Insofern war es bemerkenswert, wenn Susanne Rappe-Weber damals über die Ausstellung formulierte, diese habe »vielfältige Verbindungen zwischen der Jugend und den realen, verlorenen oder imaginierten Kolonien« gezeigt.48 Seither hat sich die Forschung auch zur Geschichte von Jugendbewegung und Jugend überhaupt zunehmend transnationalen und globalhistorischen Fragen zugewandt.49 Wenn heute auch kleinere Geschichtsmuseen wie die der Berliner Bezirke »lokale Kolonialgeschichte« dokumentieren, erforschen und ausstellen, dann ist das auch das Ergebnis eines postcolonial turn, der in 1980er Jahren in Teilen der Geisteswissenschaften begann und mittlerweile, verstärkt durch zivilgesellschaftliche Initiativen, so stark ausgegriffen hat, dass Sebastian Conrad – der zu dieser Entwicklung selbst wesentlich beigetragen hat50 – mit hübscher Ironie von einer »Kolonisierung« der Historiographie zum (langen) 19. Jahrhundert spricht.51 Die Auswertung des Nachlasses und die daraus hervorgegangene Ausstellung haben deutlich gemacht, dass Fischers Lebensweg gut dazu geeignet ist, unterschiedliche Facetten des deutschen Kolonialismus und seiner Bedeutung für die deutsche Gesellschaft exemplarisch zu verdeutlichen. Interessant an Karl Fischer 46 Brennecke (Hg.): Spuren (Anm. 9), S. 42–48. 47 Jürgen Reulecke: »Des Kaisers neue Völker«. Zu diesem Band und seinem Schwerpunktthema, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2005, NF 2/2005, S. 12–18. 48 Rappe-Weber: Kilimandscharo (Anm. 7). 49 Elija Horn: Indien als Erzieher. Orientalismus in der deutschen Reformpädagogik und Jugendbewegung 1918–1933, Bad Heilbrunn 2018; Richard Ivan Jobs, David M. Pomfret (Hg.): Transnational histories of youth in the twentieth century, Basingstoke 2015; Mischa Honeck: Our frontier is the world. The Boy Scouts in the age of American ascendancy, Ithaca 2018. 50 Stellvertretend genannt sei Sebastian Conrad, Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M 2002. 51 Sebastian Conrad: Colonizing the Nineteenth Century. Implications of a Paradigm Shift, in: Central European History, 2018, Nr. 51, S. 674–678.

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ist, dass er – anders etwa als die von Elija Horn untersuchten, von Indien nur aus der Ferne begeisterten Reformpädagogen52 – als Soldat, Bergbau-Beamter, Lehrer und Journalist in unterschiedlichen Bereichen des kolonialen Projekts selbst vor Ort aktiv war. Sein Beispiel zeigt dadurch auch, dass sich »der« Kolonialismus eben nicht auf die wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonien – oder, im Falle Chinas, auch des »informal empire« – begrenzen lässt, sondern ebenso militärische, pädagogische, religiöse und publizistische oder kulturelle Auswirkungen hatte, und zwar sowohl auf die Kolonisierten als auch auf die Kolonisierenden.53 Fischer selbst schildert sich als jungen, nach Orientierung suchenden Mann, den Wander- und Abenteuerlust, finanzielle Zwänge und die familiäre Situation schließlich dazu bringen, sein sprichwörtliches Glück in einer deutschen Kolonie zu suchen. Begünstigt durch seine pädagogischen Neigungen entwickelt (oder verstärkt) Fischer in China ein für das »kolonialistische Denken« (Jürgen Osterhammel) charakteristisches Sendungsbewusstsein. Am deutlichsten artikuliert sich dieses, als er an der offensiven deutschen »Kulturarbeit« mitwirkt und als Chefredakteur von seiner Mission überzeugt ist, die junge Republik China auf den richtigen Weg bringen zu müssen und zu können.54 Dass er sich und ganz Deutschland dabei, wie auch in seinen Überlegungen zum deutschen Sprachunterricht, vor allem in Konkurrenz zum British Empire sieht, verdeutlicht zugleich die wechselseitige Beobachtung und Beeinflussung unterschiedlicher Kolonialmächte, welche die Forschung in jüngster Zeit vermehrt betont.55 Gleichzeitig aber erlaubt das Beispiel Karl Fischer auch einen differenzierten Blick auf individuelle Motivationen und Haltungen innerhalb des deutschen Kolonialismus. Dass Fischer zunächst in Berlin Chinesisch-Unterricht nahm, sich auch in China umfassend für Kultur und Geschichte des Landes interessierte (wovon seine hier nicht thematisierte Lektüre zeugt) und schließlich in der Kriegsgefangenschaft auch die japanische Sprache zu lernen begann, entspricht jedenfalls nicht dem populären Bild des tumben Kolonialherren mit der Peitsche in der Hand. Ein Nachteil der Fokussierung auf den Nachlass als Quellenbasis ist, dass chinesische Perspektiven in der Ausstellung eindeutig unterrepräsentiert sind. Das Team hat sich bemüht, dies durch Hervorhebung der wenigen im Nachlass überlieferten chinesischen Stimmen auszugleichen. Für eine wirkliche Erforschung chinesischer Quellen wären jedoch deutlich mehr Zeit – also Geld – und vermutlich auch eine Forschungsreise nach China notwendig gewesen. Charakteristisch für den deutschen Kolonialismus als Möglichkeitsraum und Ort der Erfahrung eigener Bedeutsamkeit – zumindest für Menschen aus der 52 Horn: Indien (Anm. 49), S. 258. 53 Zu den Begriffen »Semikolonialismus« und »informal empire«, siehe Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001, S. 17, 25f. 54 Ebd., S. 115f. 55 Conrad: Colonizing (Anm. 51), S. 677.

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Metropole wie Fischer – ist die Tatsache, dass es nach Fischers Rückkehr nach Deutschland, die just mit dem Ende des formalen deutschen Kolonialismus zusammenfiel, eher still um den Mann wurde, der in Steglitz Wandervogelgründer und in China Chefredakteur gewesen war.56 Dieser Eindruck verweist bereits auf die Phantomschmerzen und Nachwehen des deutschen »Kolonialismus ohne Kolonien«57 nach dem Jahr 1919 – und damit auf die langfristigen Folgen des Kolonialismus insgesamt, die bis in unsere Gegenwart fortwirken.

56 Ille, Köhler (Hg.): Wandervogel (Anm. 12), S. 109. 57 Birthe Kundrus (Hg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt a. M. u. a. 2003; Wolfe W. Schmokel: Dream of Empire. German Colonialism, 1919– 1945, New Haven 1964.

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Haltgebende Gemeinschaften auf unsicherem Grund. Jüdische Jugendbewegungen im Schatten der Shoah 1945–1948

Über- und Weiterleben nach der Shoah Angehörige jüdischer Jugendbewegungen spielten im Zusammenhang mit der europaweiten jüdischen Selbstorganisation in den Jahren nach 1945 eine ausgesprochen zentrale Rolle. Mit ihrem Überlebensmut, vielleicht auch dem Mut Verzweifelter, denen es nach dem Überleben um das Weiterleben ging, und ihrem »Lebenshunger«1 setzte eine bewegte jüdische Jugend damals hoffnungsvolle zukunftsweisende Zeichen. Mehrheitlich gehören sie ihren Geburtsjahrgängen entsprechend zu den »young survivors«,2 den jüdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die vor dem NS-Unrechtsregime geflohen, die untergetaucht waren oder in Lagern überlebt hatten und deren Zukunft 1945 vollkommen ungewiss war. Sie übernahmen erzieherische und soziale Aufgaben. Aus ihrer Zugehörigkeit zu jüdischen Jugendbewegungen erwuchs ihnen eine Stärke, die sie befähigte, Verantwortung für sich und andere zu tragen. Sie wussten um die Bedeutung von Gemeinschaften Gleichaltriger. Oft bildeten ihre eigenen Gruppenerfahrungen ein Fundament für tragfähige Überlebensstrategien, von denen sie Manches an Jüngere weitergeben konnten. Nicht zuletzt nahmen sie sich der »child survivors« an,3 der zumeist elternlosen jüdischen Kinder, die ein ähnliches 1 Atina Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland, Göttingen 2012, S. 50; vgl. dies.: Trauma, Memory, and Motherhood: Germans and Jewish Displaced Persons in Post-Nazi Germany, 1945–1949, in: Richard Bessel, Dirk Schumann (Hg.): Life after Death. Approaches to a Cultural and Social History of Europe During the 1940s and 1950s, Cambridge 2003, S. 93–128 sowie Richard Bessel, Dirk Schumann: Violence, Normality, and the Construction of Postwar Europe, ebd., S. 1–14. 2 Avinoam J. Patt: Finding Home and Homeland. Jewish Youth and Zionism in the Aftermath of the Holocaust, Detroit 2009, S. 68–103. 3 Vgl. Wiebke Hiemesch: Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück. (Über-)Lebenserinnerungen, Köln u. a. 2017, bes. S. 81–92; dies.: Brüchige Kindheitserinnerungen. Erzählte und erlebte Um_Brüche in den Erinnerungen von Child-Survivors nationalsozialistischer Verfolgung, in: Claudia Dreke, Beatrice Hungerland (Hg.): Kindheit in gesellschaftlichen Umbrüchen, Weinheim 2022, S. 104–120 sowie Barbara Stambolis: »Child Survivors« und was ihnen

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Schicksal hatten wie die oft nur um wenige Jahre Älteren, die sich um sie kümmerten. Worauf gründete sich die Stärke der jugendbewegten Akteur*innen nach extremen Gewalt- und Verlusterfahrungen, oft über einen längeren Zeitraum von etlichen Jahren hinweg? Mit dieser komplexen Frage richtet sich der Blick auf Faktoren, die zum Überleben beitrugen, Ressourcen wie beispielsweise haltgebende Umgebungen und Menschen, die sie unterstützten?4 Wie wurden sie damals gesehen, von alliierten Beobachter*innen beispielsweise? Sie waren wohl auch oft angsterfüllt, unsicher, und das aus guten Gründen. In welchen Quellen finden sich Anhaltspunkte dafür, dass sie Angst hatten, zweifelten und fürchteten, den Mut zu verlieren? Entstanden in ihren bilanzierenden Rückblicken aus späterer Sicht Lebenserzählungen, in denen Hoffnung und Mut einen größeren Stellenwert einnahmen als Unsicherheit und Angst? Mit anderen Worten: Wie verschränken sich acht Jahrzehnte nach der Shoah Erinnerungen Überlebender an traumatische Gewalterfahrungen, ihre rückblickenden deutenden Erzählungen und sich herausbildende Narrative gegen Ende jeglicher authentischer Zeitzeugenschaft?

Ein Blick in das Ausstellungsprojekt »Unser Mut« In der Ausstellung des jüdischen Museums Frankfurt 2021/22 mit dem Titel »Unser Mut« und der aus dieser hervorgegangenen Publikation finden jüdische Jugendbewegungen wiederholt Beachtung. Einige Fotos im Katalog zeigen zionistische Jugendgruppen im Jahre 1946.5 Es wurde auf die Initiative zur Gründung einer Zeitschrift durch eine zionistische Jugendorganisation im Jahre 1945 (»Der Funke«) in der amerikanischen Besatzungszone6 sowie die führende Rolle von »überlebenden Angehörigen der zionistischen Jugendbewegungen« in DPHalt gab oder: »Geschichte(n) von Liebe und Finsternis«, in: Alexander Denzler, Andreas Hartmann, Kathrin Kiefer, Markus Raasch (Hg.): Familie und Krieg. Erfahrung, Fürsorge und Leitbilder von der Antike bis in die Gegenwart, Frankfurt a. M. u. a. 2023, S. 363–381. 4 Möglicherweise ließen sich Anregungen aus der Agency-Forschung aufgreifen; für diesen Hinweis danke ich Meike Baader. Vgl. Florian Eßer, Meike S. Baader, Tanja Betz, Beatrice Hungerland (Hg.): Reconceptionalising Agency and Childhood. New Perspectives in Childhood Studies, London 2016; siehe auch die Konferenz: Children’s Experiences of Conflict in the 20th Century – Agency, Survival, Memory and Representation, in: H-Soz-Kult, 04. 10. 2022, verfügbar unter: www.hsozkult.de/event/id/event-130090 [11. 02. 2023]. 5 Kata Bohus, Atina Grossmann, Werner Hanak, Mirjam Wenzel (Hg.): Unser Mut. Juden in Europa 1945–1948, Berlin, Boston 2020 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt vom 24. 03. 2021–18. 01. 2022), S. 110: eine zum Appell »in Reih und Glied« angetretene Dror-Gruppe im niederschlesischen Reichenbach (Rychbach) im Jahre 1946; S. 327: eine zionistische Jugendgruppe 1946 in Frankfurt-Zeilsheim. 6 Bohus u. a. (Hg.): Mut (Anm. 5), S. 202.

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Lagern, beispielsweise in Buchenwald hingewiesen.7 Genannt wird ferner ein Beispiel für die Halt und Orientierung gebende Mitgliedschaft in der zionistisch sozialistischen Gruppierung Haschomer Hazair,8 deren Anfänge auf das Jahr 1913 und den Ersten Weltkrieg zurückgehen und deren Leitsatz »Freunde, seid stark! Seid stark und mutig!«9 lautete und übrigens noch lautet.10 Insbesondere Avinoam Patt weist auf die »therapeutische« Bedeutung von Ersatzfamilien in Gruppen und deren Vertrauen auf die Realisierbarkeit zionistischer Orientierungen hin.11 Gänzlich unbearbeitet ist dieses weite Feld nicht,12 wie nicht zuletzt Forschungen Atina Grossmanns13 und weitere Studien belegen.14 Gleichwohl ist ein vertiefender Blick auf jugendbündische Gruppierungen in den Jahren unmittelbar nach 1945 lohnend. Die oben aufgeworfenen Fragen wurden bislang kaum in den Blick genommen und in aktuellen Forschungen zu jüdischen Jugendbewegungen stehen zudem die Jahre unmittelbar nach 1945 nicht im Mittelpunkt des Interesses.15 Kennzeichnend für die Zeitspanne zwischen Kriegs7 Avinoam Patt: Unser Mut. Die Bedeutung des Zionismus für die Überlebenden des Holocaust, in: Bohus u. a. (Hg.): Mut (Anm. 5), S. 292–309, S. 296f., S. 302. 8 Bohus u. a. (Hg.): Mut (Anm. 5), S. 56f. 9 Dan Michael Fischman: »Chawerim Chasak!« Eine museale Annäherung an eine 100-jährige Wirkungsgeschichte des Haschomer Hatzair in Wien, Masterarbeit, Wien 2013, verfügbar unter: https://utheses.univie.ac.at/detail/26493# [10. 08. 2023], S. 59–65. 10 Beobachtungen zum Selbstverständnis von Hashomer Hazair heute: Micha Brumlik: Haschomer Hatzair – reloaded?, in: Zentralrat der Juden in Deutschland (Hg.): Die jüdische Jugendbewegung. Eine Geschichte von Aufbruch und Erneuerung, Berlin, Leipzig 2021, S. 304–312. Die weltweite Organisation ist aktuell modern, offen, säkular, »nicht mehr im engeren Sinne zionistisch« (S. 311). Vgl. auch mit autobiografischen Bezügen in einer VaterSohn-Perspektive: Micha Brumlik: »Wer je die flamme umschritt …«. Die jüdische Jugendbewegung Deutschlands und ihr Fortleben in der Nachkriegszeit, in: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015, S. 47–60. 11 Patt: Mut (Anm. 7), bes. S. 305f. 12 Vgl. Hans-Peter Föhrding, Heinz Verfürth: Als die Juden nach Deutschland flohen. Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte, Köln 2017. Von »Gedächtnisloch« (S. 303) ist also nicht zu sprechen. 13 Vgl. Grossmann: Juden (Anm. 1). 14 Auf eine Reihe von Veröffentlichungen des »Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert« ist an dieser Stelle hinzuweisen, von denen einige im Folgenden genannt werden. Auf Unterschiede in der britischen und amerikanische DPPolitik macht Leonard Dinnerstein aufmerksam: Britische und amerikanische DP-Politik, in: Fritz Bauer Institut (Hg.): Überlebt und unterwegs. Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland, New York 1997, S. 109–118, hier S. 118: »Die Engländer wollten die Juden aus Palästina fernhalten, die Amerikaner sie nach Palästina bringen.« In den USA spielte die jüdische Bevölkerung als Wählergruppe eine weit größere Rolle als in Großbritannien. Vgl. auch Naomi Lassar (hg. im Auftrag des Jüdischen Museums Wien): Sei stark und mutig! Jüdische Jugendbewegungen, Wien 2001. Die unmittelbare Nachkriegszeit 1945 bis 1948 wird hier allerdings nur am Rande gestreift. 15 Vgl. Ulrike Pilarczyk, Ofer Ashkenazi, Arne Homann (Hg.): Hachschara und Jugend-Alija. Wege jüdischer Jugend nach Palästina 1918–1941, Gifhorn 2020; Lieven Wölk: Der deutsch-

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ende und 1948 war nicht zuletzt, dass europaweit Millionen Menschen unterwegs waren, »displaced«, auf der Flucht und der Suche nach Überlebensmöglichkeiten. Sie bewegten sich auf unsicherem Grund, in rechtlichen Grauzonen, ohne Gewissheiten, jedoch mit Hoffnungen auf eine wie und wo auch immer im Einzelnen denkbare Zukunftsperspektiven.

Jüdische DPs 1945–48: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Die Zahl jüdischer DPs in Lagern unmittelbar bei Kriegsende anzugeben, dürfte schwierig sein, da sie erst ab Sommer des Jahres 1945 als ›besondere‹ Gruppe beachtet wurden. Wie viele jüdische Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Europa nach Kriegsende 1945 noch am Leben waren, ist wohl nur annäherungsweise festzustellen. Im Frühjahr 1945 dürfte es etwa 100.000 jüdische DPs gegeben haben, 1946 kamen vor allem polnisch-jüdische Flüchtlinge hinzu, 1947 und 1948 weitere, vor allem aus Rumänien, der Tschechoslowakei und aus Ungarn. Mehrheitlich waren die etwa 250.000 Jüdinnen und Juden aus Osteuropa in den DP-Camps damals zwischen 18 und 45 Jahren alt.16 Der Psychiater Paul Friedman (1899–1972) nahm 1949 an, rund 10 Prozent von etwa 1,7 Millionen jüdischen Kindern und Jugendlichen hätten überlebt.17 Die irische Schriftstellerin und Friedensaktivistin Dorothy Macardle (1889–1958) gab in ihrem auf umfangreichen Recherchen aufbauenden Buch »Children of Europe« zu bedenken: »There are, in many parts of the world, Jewish children who were rescued and who took non-Jewish names, and there must be numbers who have not since registered as Jews.«18 jüdische Jugendbund »Schwarzes Fähnlein« und seine wechselvolle Geschichte im 20. Jahrhundert – Jugendbewegung, Erinnerungsnetzwerke und Historisierung (Dissertationsprojekt), verfügbar unter: https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/dt ge-20jhd/forschung/laufende-forschungsprojekte/der-deutsch-juedische-jugendbund-schw arzes-faehnlein-und-seine-wechselvolle-geschichte-im-20-jahrhundert-jugendbewegung-eri nnerungsnetzwerke-und-historisierung-unter-besonderer-beruecksichtigung-von-privatennachlaessen-und-neuen-quellen [11. 02. 2023]. Siehe auch den Beitrag in diesem Band. 16 Jacqueline Giere: Einleitung, in: Fritz-Bauer-Institut (Hg.): Persons (Anm. 14), S. 13–25, hier S. 17. 17 Paul Friedman: The road back for the D.P.’s, in: Commentary, 1948, 6, S. 502–510. Ders.: Some Aspects of Concentration Camp Psychology, in: American Journal of Psychiatry, 1949, 105, S. 601–605 (deutsch übersetzt von E. Verspohl: Aspekte einer Konzentrationslager-Psychologie, in: Psyche, 1990, 44, 1, S. 164–172, hier S. 165, FN 1. 18 Dorothy Macardle: Children of Europe. A Study of the Children of Liberated Countries: Their War-Time Experiences, their Reactions, and their Needs, with a Note on Germany, London 1951 S. 108. Sie ging von zwei Millionen jüdischen Kindern aus, die gestorben waren (S. 290) und wies vor allem auf die psychischen Folgen hin, die diese Minderjährigen belasteten. Sie schrieb: »These children had nobody to rejoice in their survival and no home to which to go.« (S. 114).

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Die Überlebenswege Jugendbewegter, über die etwas bekannt ist, weisen über geografische und nationale Grenzen hinweg auf Migrationswege innerhalb Europas und darüber hinaus hin. Der Fluchtweg des 1924 in Essen geborenen Max (Mordechai) Schanzer (später Netzer) beispielsweise begann 1938, führte über mehrere Stationen in Polen nach Sibirien, 1946 wieder nach Polen, und – nunmehr 22-jährig – ins DP-Lager Bergen-Belsen in Niedersachsen (das mit mehr als 10.000 Bewohnern größte in der britischen Zone19). 1948 kam er in ein TransitLager in Bocholt im Westmünsterland20 und schließlich gelangte er nach zehnjähriger Odyssee über Marseille mit dem Schiff nach Palästina/Israel.21 Jahrelange Erfahrungen existenzieller Bedrohung lagen hinter jungen Jüdinnen und Juden, die die NS-Schreckensherrschaft überlebt hatten. Die Trennung und der Verlust von Familienangehörigen überschattete ihr Leben. Sie gehörten nach Kriegsende 1945 zwar zu den »Befreiten«, sie blieben jedoch zumeist auch weiterhin über Jahre hinweg »unbehaust«, ihr Leben war mit häufigem Ortswechsel verbunden. Sie waren für kurze Zeit in einem Lager oder Heim unterbracht, bevor sie wieder in eine ihnen fremde Umgebung kamen und erneut ihnen unbekannte Menschen trafen, die in ihnen nicht vertrauten Sprachen ihr weiteres Schicksal beeinflussten. Ihrer psychischen Verfassung konnten Helfer*innen – nach heutigen Erkenntnissen der Trauma-Forschung – kaum angemessen gerecht werden.22 Dennoch wurde ihnen Hilfe zuteil, sie fanden zumindest vorübergehend Zuflucht in schützend wirkenden Umgebungen mit ihnen zugewandten Menschen. Eine Perspektive eröffnete sich für sie vor allem in der Aussicht, Deutschland zu verlassen.

Ein Heim in Hamburg-Blankenese Eines der Heime für jüdische Waisenkinder, in denen Mitglieder jüdischer Jugendorganisationen als Betreuer*innen tätig waren, öffnete 1946 in Hamburg in einer Villa seine Türen, die vor 1933 der Bankiersfamilie Warburg gehört hatte. Nach Kriegsende beschlossen Erik Warburg (1900–1990), der in die USA geflo19 Thomas Rahe, Katja Seybold: Die Gründung des Staates Israel und die Auswanderung aus dem jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen, in: Nurinst, 2018, 9, S. 105–118. 20 Marcus Velke: »…endlich den Staub Deutschlands von ihren Füßen abschütteln« Das Palestine Transit Camp im DP-Lager Bocholt 1946–1948, in: Nurinst, 2018, 9, S. 89–104. 21 Siehe Details zu Fotos im United States Holocaust Memorial Museum Washington, DC, Nr. 15834–36, 15839–41. Weitere Fotografien, die Jugendliche und junge Erwachsene in DPLagern zeigen finden sich unter: https://www.spiegel.de/geschichte/israels-staatsgruendung -die-hilfe-der-holocaust-ueberlebenden-a-1207248.html [11. 02. 2023]. 22 Vgl. Barbara Stambolis, Ulrich Lamparter (Hg.): Folgen sequenzieller Traumatisierung. Zeitgeschichtliche und psychotherapeutische Reflexionen zum Werk von Hans Keilson, Gießen 2021.

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hen war und kurzzeitig nach Hamburg zurückkehrte, zusammen mit seinem nach Schweden emigrierten Onkel Fritz (1879–1964), das enteignete und nun wieder in den Warburg-Besitz zurückgegebene Anwesen dem American Joint Distribution Committee für die Unterbringung und Betreuung von Displaced Persons zur Verfügung zu stellen. Fritz und dessen Tochter Eva hatten sich bereits seit Ende der 1930er Jahre von Schweden aus für die Rettung jüdischer Kinder und Heranwachsender engagiert. Erics Schwestern, ebenfalls emigriert, waren an jüdischen Kindertransporten nach Großbritannien und an Initiativen beteiligt, um junge Jüdinnen und Juden auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten.23 Anfang Januar 1946 kamen Kinder aus dem in unmittelbarer Nähe des früheren Konzentrationslagers befindlichen DP-Lager Bergen-Belsen in das bis 1948 existierende Warburg’sche Heim.24 Eine zweite Gruppe bestand aus Jugendlichen, die – irgendwo in Deutschland unterwegs – von Mitgliedern jüdischer Hilfsgruppen in Obhut genommen worden waren, in Blankenese für einige Zeit mehr oder weniger zu einer Gruppe zusammenwuchsen und im Frühjahr 1947 nach Palästina einwanderten. 1947 kamen Kindergruppen im Alter von sechs bis dreizehn Jahren, die zionistischen Jugendorganisationen angehört und vorher in verschiedenen Lagern in der amerikanischen Besatzungszone gelebt hatten.25 Auch für sie war Palästina das Ziel. Bereits in den Kriegsjahren und unmittelbar nach 1945 entwickelte die kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstandene, sozialistisch zionistisch ausgerichtete Gruppe Hashomer (= »Der Wächter«) eine starke Anziehungskraft. Es handelte sich um einen hierarchisch gegliederten Pfadfinderbund. Im Mittelpunkt des Gruppenlebens standen zum einen das Erlernen des Hebräischen, die Beschäftigung mit jüdischen Traditionen und zionistischen Zielen, zum anderen spezifisch pfadfinderisch ausgerichtete, straff organisierte Aktivitäten. Aus dem Rückblick schilderte die in Galizien geborene Sara Laub-Kligler, die in ihrer Geburtsheimat dem Haschomer Hazair beitrat,26 Stationen ihrer Wan23 Clemens Maier-Wolthausen: Zuflucht im Norden. Die schwedischen Juden und die Flüchtlinge 1933–1941, Göttingen 2018, bes. S. 171–177. Vgl. Ron Chernow: The Warburgs. The 20th Century Odyssey of a Remarcable Family, New York 1993; Frank Bajohr: »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945 (1987), Hamburg 21998. 24 Im Jahr 1948 beschloss die Familie Warburg, das Areal für andere soziale Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Mit Unterstützung von Erik Warburg wurde 1950 der gemeinnützige Verein »Elsa Brändström Haus im Deutschen Roten Kreuz e. V.« gegründet. 25 1996 erschien auf Hebräisch ein Buch, das sich Erinnerungen dieser Kinder und ihrer Betreuer widmete. 2005 traf auf Einladung des 2003 gegründeten Vereins zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese eine Reihe von ihnen in Hamburg zusammen. Vgl. Kirschen auf der Elbe. Erinnerungen an das jüdische Kinderheim Blankenese 1946–1948, hg. vom Verein zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese, Hamburg 22010. 26 https://www.ynetnews.com/articles/0,7340,L-3375881,00.html; https://www.ynetnews.com/a rticles/0,7340,L-3378942,00.html [11. 02. 2023]; https://www.ynetnews.com/articles/0,7340, L-3378942,00.html [11. 02. 2023].

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derungen mit unbegleiteten jüdischen Kindern. Sie fanden zunächst in Schwebda bei Eschwege27 in der amerikanischen Zone »in einem Jugendheim« Aufnahme. Sie habe dort sogar ein Sommerlager organisieren können. Ihr Lebensgefährte (Avraham Laub) sei dann mit den älteren Kindern nach Palästina aufgebrochen, sie habe sich auf den Weg in die britische Zone, nach Hamburg begeben. Mit den ihr anvertrauten fünfzehn Kindern aus Russland habe sie in Blankenese unter ihr kaum mehr vorstellbaren »menschlichen Bedingungen« aufatmen können: »Die Lebensbedingungen in Blankenese erlaubten den Kindern, sich zu erholen, gesund zu werden und zu lernen. Die Leiterinnen und die Betreuer verhielten sich den Kindern gegenüber sehr mütterlich und versuchten alles Menschenmögliche, damit sie die schweren Traumata, die wir alle durchgemacht hatten, überwinden konnten.«28 Bevor Sara Laub-Kligler und ihre Kindergruppe tatsächlich 1948 nach Israel ausreisen konnten, mussten sie im DP-Camp in Bergen-Belsen Station machen, wo sie »im Erwachsenen-Kibbuz des Haschomer Hazair lebten«.29 Für Chana Dichter, die mit ihrem Mann 1947 und 1948 in dem Heim in Blankenese unterrichtete, und die auch für die Betreuer*innen-Ausbildung zuständig war, erschien es selbstverständlich, dass ihre größeren Schüler*innen zionistischen Jugendorganisationen angehörten.30 Ebenso selbstverständlich war es, die ihnen anvertrauten Kinder mit dem »›Erbe Israels‹« bekannt zu machen. Zu Festtagen studierten sie Lieder und Theaterstücke ein, in denen »die Tapferkeit und die Opferbereitschaft betont« wurden, »die das Volk und den Glauben zusammenhielten«, so Chana Dichter.31 Aufführungen boten die Möglichkeit, an jüdische Heroen im Kampf gegen die Römer, Juda Makkabi oder Simon (Schimon) bar Kochba beispielsweise zu erinnern.32 Diese antiken Kämpfer hatten auch diversen jüdischen Sportvereinen ihre Namen gegeben, sie symbolisierten ein kämpferisches Jüdischsein und waren für Juden und Jüdinnen offen, wenngleich ihre antiken Ikonen männlich waren. Das Leben in Blankenese stand ganz im Zeichen zionistisch-jugendbewegten Aufbruchs in ein Palästina, in dem »Jugend« gleichbedeutend mit »Zukunft« zu 27 Vgl. Jim Tobias: »Wajt hert zich noch di zise kinderisze Gezangen«. Die jüdischen Kinderheime Lindenfels und Schwebda Castle, in: Nurinst, 2016, 6, S. 43–58. 28 Kirschen auf der Elbe (Anm. 25), S. 124f. 29 Ebd., S. 126. 30 Ebd., S. 100. 31 Ebd., S. 102. 32 Der 1898 gegründete jüdische Turnverein »Bar Kochba«, dem weitere jüdische Sportvereine im Kaiserreich, aber auch in Österreich-Ungarn folgten, hielt Angebote für männliche und weibliche Erwachsene und auch für Jugendliche bereit. Benannt nach dem gleichnamigen antiken Aufstandshelden gegen die römische Herrschaft in Judäa, trug er zur Verbreitung eines körperbewussten sportlichen jüdischen Selbstbewusstseins bei, das in der jüdischen Jugend breiten Widerhall fand.

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sein schien. Als die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 29. November 1947 entschied, dass spätestens im August 1948 das britische Mandat über Palästina enden und zwei unabhängige Staaten, ein arabischer und ein jüdischer, ausgerufen werden sollten, kamen Erwachsene, Jugendliche und Kinder in Blankenese zu einem »feierlichen Morgenappell« zusammen und hissten die blau-weiße Fahne Palästina-Israels. Die Zeremonie wurde mit dem Singen der zionistischen Hymne »Hatikwa« (»Hoffnung«), der späteren israelischen Nationalhymne, beschlossen.33 Die zeitweise Leiterin des Heimes in Blankenese, Reuma Schwarz (geb. 1925), die spätere Frau des israelischen Staatspräsidenten Ezer Weizmann (1924–2005), erinnerte sich daran, dass die Kinder auch auf dem Weg nach Palästina 1947 oder 1948 den Jugendgruppen zugehörig blieben, in denen sie ihre Zeit im Heim verbracht hatten. So seien die Mitglieder von Haschomer Hazair »alle in dessen Kibbuzim« gekommen, und die meisten seien auch dort geblieben.34 Die Gruppe, die sie Anfang Mai 1948 selbst auf einem Schiff begleitete, sei nach der Ankunft in Haifa in das Jugenddorf Hadassim gebracht worden, Ben Schemen habe damals gerade evakuiert werden müssen.35

Zionistische Jugend in Strüth Sich mit jüdischen Jugendbewegungen in den Jahren zwischen 1945 und 1948 zu befassen, bedeutet also, von Flucht- und Überlebenswegen zu sprechen, von Zufluchtsorten, die sich als Experimentierfelder und Bewährungsproben für jugendbewegte Gemeinschaftspraktiken und Erziehungsideale erwiesen. Eine solche vorübergehende Unterkunft fanden jüdische Heranwachsende nicht nur in Hamburg, sondern beispielsweise auch im Zeitraum von 1946 bis 1948 in der ehemaligen Lungenheilanstalt Strüth im mittelfränkischen Ansbach. Es war das erste jüdische DP-Kinderlager in der amerikanischen Zone.36 Hier wurden mehr als 300 zumeist ungarisch-jüdische Waisenkinder untergebracht, die sich auf ein 33 Kirschen auf der Elbe (Anm. 25), S. 106. Text und Vertonung stammen aus dem 19. Jahrhundert. 34 Ebd., S. 77. 35 Ebd. 36 Jim G. Tobias, Nicola Schlichting: Heimat auf Zeit. Jüdische Kinder in Rosenheim 1946–47, Nürnberg 2006, S. 38f. Weitere Lager entstanden u. a. in Pürten, Aschau, Indersdorf, Prien, Bayerisch Gmain und Rosenheim, ebd. S. 42f. Kinder ohne Angehörige, etwa 6.000, kamen um die Wende 1946/47 wohl mehrheitlich in jugendbewegten Gruppen in die amerikanische Zone, so Tobias in: Heimat auf Zeit S. 43, unter Berufung auf Yehuda Bauer: Out of Ashes. The Impact of American Jews on Post-Holocaust European Jewry, Oxford 1989, S. 214. Vgl. S. 48: in Rosenheim waren im Herbst 1946 Dror, Ichud, Nocham, Gordonia, Misrachi, Haschomer Hazair und weitere Gruppierungen registriert.

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Leben in einem Kibbuz vorbereiten sollten, weil es keine Familien gab, in die sie zurückkehren konnten.37 In einem Film »Die vergessenen Kinder von Strüth« kommen einstige Jugendliche aus zionistischen Gruppierungen zu Wort, die sich an ihre damalige Arbeit mit jüdischen Waisen erinnerten.38 Gad (Günther) Willmann (Haschomer Hazair)39 berichtete, er habe etwa 80 Kinder aus Ungarn nach Strüth begleitet und dort betreut. Die Kinder waren in Gruppen aufgeteilt, sie traten auch bei sportlichen Wettkämpfen jugendbündisch organisiert, d. h. etwa nach Zugehörigkeit zu Hashomer oder einer anderen zionistischen Gruppierung gegeneinander an. Einer der damals sehr jungen Bewohner von Strüth, Shlomo Arad, erinnerte sich an Verständigungsprobleme, den Hebräisch-Unterricht für die Heranwachsenden, die kaum eine Schule besucht hatten. Die Texte der hebräischen Lieder habe er erst allmählich verstanden. Im Rückblick meinte Shlomo Arad im Film, Strüth sei die unbeschwerteste Zeit seines Lebens gewesen. Anders als im Film äußerte er sich im Interview: »Die Erziehung war schon so, dass du stolz auf deine zionistische Jugendgruppe bist, vielleicht war das eine Art Gehirnwäsche.«40 Das eine, der Stolz, musste das andere, die strikte Erziehung im Sinne zionistisch-jugendbewegter Vorstellungen – hier sehr pointiert formuliert – nicht ausschließen. In dem bereits erwähnten Film, in dem einstige Kinder aus Strüth zu Wort kommen, antwortete ein Befragter darauf, wie er seinen Aufenthalt dort in Erinnerung habe, dies sei die schönste Zeit seines Lebens gewesen. Andere, die mittlerweile viele Jahrzehnte in Kibbuzim gelebt hatten, teilten mit, sie hätten in den Siedlungen in Israel ein Zuhause gefunden und fügten hinzu: welche Alternative habe es denn auch für sie gegeben. In Berichten der Vereinten Nationen über die DP-Camps, z. B. in Rosenheim, wurden die Initiativen, jüdische Jugendliche in Gruppen zusammenzufassen, insgesamt positiv gewertet. Beobachter begrüßten Fürsorgemaßnahmen für »unaccompanied children«, vor allem, wenn die Ausreise der Minderjährigen dann auch gelang. Ein Berichterstatter etwa gab im April 1946 seiner Erleichterung darüber Ausdruck, dass jüdische Kinder aus der amerikanischen und der britischen Zone, darunter etliche aus dem Kinderheim in Blankenese, zudem

37 Die vergessenen Kinder von Strüth, Film von Jim Tobias, um 2001, verfügbar unter: https:// vimeo.com/58708724. Siehe auch: http://www.nurinst.org/die-vergessenen-kinder-von-stru eth-ein-juedisches-waisenhaus-in-franken/ [11. 02. 2003]. 38 Tobias, Schlichting: Heimat (Anm. 36), S. 37, Anm. 97. Unter ihnen: Alti Gadisch (Dror Habonin). 39 Ebd. 40 Jim Tobias: Hoffnungsträger für Erez Israel. Die Jugend und der Zionismus in den Displaced Persons Camps 1945–1948, in: Sabine Hering, Harald Lordick, Gerd Stecklina (Hg.): Jüdische Jugendbewegung und soziale Praxis, Frankfurt a. M. 2017, S. 339–352, hier S. 349.

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weitere aus Österreich, zumeist in Begleitung, über Marseille nach Palästina gereist waren.41

Jahrelange Ungewissheit und psychische Belastungen Die Überlebenswege der Betreuer*innen, manche – wie bereits angesprochen – kaum älter als die jüdischen Waisenkinder, ähnelten in mancherlei Hinsicht denen ihrer Schützlinge. Zu den Zeiten existenzieller Bedrohung vor 1945 kamen Belastungen in den Jahren danach hinzu, die seelisch kräftezehrend und dazu angetan waren, ihnen den Überlebensmut zu nehmen. Die Lektüre auszugsweise veröffentlichter Tagebucheintragungen von Kibbuz-Mitgliedern aus BergenBelsen auf dem Weg nach Palästina aus dem Jahre 1946 gewährt einen Einblick in die Gefühlswelt und das fragile innere Gleichgewicht bewegter zionistischer Jugendlicher und junger Erwachsener. Die Einträge sprechen von Stolz und Mut, Zuversicht und dem Glauben an einen neuen Anfang, aber auch von Angst, Zweifeln, Krisen und Zerreißproben für den Zusammenhalt als Gruppe. Die Hoffnung darauf, im Kibbuz eine »ersatz family« zu finden, war groß,42 aber auch Enttäuschungen zeichneten sich ab. Alliierte Beobachter*innen kritisierten vor allem das Regiment, das zionistische Jugendgruppen in den DP-Lagern führten, die Art und Weise, wie diese Gehorsam einforderten. Sie hätten Druck auf traumatisierte Minderjährige ausgeübt, welche einerseits teilnahmslos, wie versteinert, erschienen, andererseits leicht »in Rage« gerieten.43 Es war von Strenge und Zwang in den Gruppen die Rede. In den Camps marschierten Jugendliche in Uniform in Reih und Glied und träten zum Appell an;44 einige Jugendgruppenführer neigten, so zeitnahe Berichte, zu militantem Auftreten.45 Für alliierte Kontrolleure waren dies zweifellos besorgniserregende Provokationen, denn sie hatten im besetzten Deutschland ein Auge auf jegliche Formen militärisch anmutenden Auftretens, von wem und wo auch immer. Sie schritten ein, wenn sie glaubten, in Jugendgruppen ein Weiterleben von Praktiken der HJ zu beobachten, richteten ihr Augenmerk auf Inhalte von Lieder- und Lesebüchern und kontrollierten Fürsorgeeinrichtungen, 41 Displaced Persons Operation Report of Central Headquarters for Germany, April 1946, S. 35, verfügbar unter: https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=wu.89048886923&view=1up&seq =9&q1=youth [11. 02. 2023]. 42 Meyer Levin (Hg.): Kibbutz Buchenwald. Selections from the Kibbutz Diary, Tel Aviv 1946, S. 8, 16, 83, 95. 43 Tobias, Schlichting: Heimat (Anm. 36), S. 53f. 44 Grossmann: Juden (Anm. 1), S. 246, 332. Vgl. auch Heinrich Ehlers, Talma Segal, Arie Talmi, (Hg.): Haschomer Hazair. Ein Nest verwundeter Kinderseelen, Wien 2006, S. 38, 41. 45 Grossmann: Juden (Anm. 1), S. 260, 318.

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in denen Heranwachsende mit Freiheitsentzug und Isolation drakonisch bestraft wurden. Sie wurden zudem initiativ, indem sie Debattierclubs einrichteten, Jugendliche und Erzieher*innen einluden, sich mit »westlichen«, zivilen Traditionen vertraut zu machen.46

Härte und Disziplin – Traditionslinien Fotografien aus Lagern belegen den hier angesprochenen jugendbündischen Habitus.47 Die Fotos zeigen vor allem, wie die Jugendgruppen gesehen werden wollten: mutig und stark auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft!48 Sie knüpften damit an Haltungen und das Auftreten jugendbewegter Gruppierungen, deutscher wie deutsch-jüdischer, in den 1920er Jahren an.49 Abhärtung und Selbstdisziplin in der Gemeinschaft stellten zweifellos eine Brücke zum Leben in Palästina dar. Eine »starke« Jugend war die Hoffnung des neuen Staates. Um sie wurde deshalb intensiv geworben, beispielsweise von David Ben Gurion (1886– 1973) bei seinen Besuchen in DP-Camps, u. a. in Bergen-Belsen, FrankfurtZeilsheim oder Landsberg.50 Mitglieder jüdischer Jugendbewegungen galten als willensstark und wurden deshalb z. B. auch in DP-Camps auf der Insel Zypern von der Hagana, der jüdischen Miliz im britischen Mandatsgebiet in Palästina, rekrutiert.51 Es handelte sich um Internierungslager, die auf britisches Betreiben 46 Vgl. Barbara Stambolis: Besatzer als Erzieher? Britische Jugendarbeit in Westfalen, in: Ulrike Gilhaus, Andreas Neuwöhner (Hg.): Briten in Westfalen. Beziehungen und Begegnungen 1845–2017, Paderborn 2017, S. 91–106. Siehe auch den Beitrag über Jugendhöfe in diesem Band. 47 https://www.spiegel.de/geschichte/israels-staatsgruendung-die-hilfe-der-holocaust-ueberle benden-a-1207248.html [11. 02. 2023]. Diese Fotos dienen dem Journalisten Hans-Peter Föhrding als Beleg für Drill und Gehorsam in der zionistischen Jugend um 1948 in Israel. Siehe auch Anm. 12. 48 So stellten sich Jugendliche auch in privaten Alben vor 1933, auf Hachschara, dar. Vgl. Pilarczyk u. a. (Hg.): Hachschara (Anm. 15). Zu geschlechterspezifischen Aspekten: Ulrike Mietzner: Mädchen in der jüdischen Jugendbewegung, in: Ulrike Pilarczyk: Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel, Göttingen 2009, S. 84–99. 49 Vgl. Barbara Stambolis: Youth and Youth Movements: Relations, Challenges, Developments, in: Nadine Rossol, Benjamin Ziemann (Hg.), The Oxford Handbook of the Weimar Republic, Oxford 2022, S. 587–606; dt. Darmstadt 2021: Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, darin: Jugend und Jugendbewegungen. Erfahrungen und Deutungen, S. 677–696. Vgl. auch: Barbara Stambolis: Jüdische Jugendbewegungen, in: Handbuch der Religionen (HdR), 67. Ergänzungslieferung 2021 (März), S. 1–21. 50 Vgl. Jim G. Tobias: Zeilsheim. Eine jüdische Stadt in Frankfurt, Nürnberg 2011, S. 10. 51 Yad Vashem: Cyprus Detention Camps: https://www.yadvashem.org/odot_pdf/microsoft% 20word%20-%20727.pdf; Patt: Finding Home and Homeland (Anm. 2), S. 253f. Die jungen Zionisten waren nicht zuletzt für die im Mai 1948 gegründete israelische Armee unverzichtbar, vgl. Grossmann: Juden (Anm. 1), S. 400.

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für mehr als 50.000 jüdische Displaced Persons eingerichtet worden waren. Sie existierten in den Jahren von 1946 bis 1949.52 Ein Sturm der Entrüstung erhob sich 1948, als jüdische DPs nach einer Odyssee auf dem Weg nach Palästina/Israel auf überfüllten, seeuntüchtigen Schiffen vor der Küste von Haifa von der britischen Mandatsmacht aufgehalten und auf Zypern hinter Stacheldraht in besagten Lagern festgehalten wurden.53 Der Künstler Naftali Bezem (1924–2018)54 engagierte sich 1948 mit einem Workshop auf Zypern für die jüdische Jugend, deren Lage er zu erleichtern versuchte.55 Er entwarf in dieser Zeit in Palästina/ Israel auch Plakate für Hashomer Hazair,56 dem er selbst angehörte.57

Prägungen und Erinnerungen Das gesamte jugendbewegte Erfahrungs-Spektrum war allerdings wesentlich breiter als den bisherigen Ausführungen zufolge vermutet werden könnte. In Heimen und Camps waren ausdrücklich weitere Gruppierungen registriert, in Rosenheim 1946 etwa Dror oder Gordonia. Die Anfänge des zionistischen Jugendbundes »Dror« (= »Freiheit«) liegen im Jahre 1915 in Polen, es handelte sich um eine Abspaltung der zionistischen Jugend »Zeire Zion«, deren Mitglieder sich 1913 mehrheitlich mit »Haschomer« zu »Haschomer Hatzair« zusammenschlossen. Die Gründung von Gordonia, ebenfalls zionistisch, und ebenfalls mit polnischen Wurzeln, geht auf das Jahr 1925 zurück. Jugendbewegt geprägt waren zudem auch Jüdinnen und Juden, deren Bünde sich bereits vor 1945 aufgelöst hatten und für die ihre Verbundenheit mit den einstigen Freunden auch weiterhin bedeutsam blieb. Deshalb sei kurz die Entstehung und Entwicklung jüdisch-jugendbewegter Gruppierungen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg oder in den folgenden Jahren angesprochen. Sie ist zum einen als Antwort auf schmerzliche Ausgrenzungserfahrungen, in der Schule, im Freundeskreis und in weiteren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verstehen. Zum anderen ist die Gründung jüdischer Jugendbewegungen mit der Anziehungskraft der Vision einer jüdischen Heimstatt verbunden, die mit dem Schlagwort »Zionismus« umrissen werden kann. Namentlich genannt seien der »Wanderbund Blau52 Grossmann: Juden (Anm. 1), S. 400. 53 Vgl. Yitzhak Teutsch: The Cyprus Detention Camps. The Essential Research Guide, Newcastle upon Tyne 2019. 54 Grossmann: Juden (Anm. 1), S. 400. 55 https://archives.jdc.org/cultivating-artists-on-cyprus-the-rutenberg-seminar/; https://archiv es.jdc.org/project/cyprus-detention-camps/. Via Cyprus: Naftali Bezem’s Art Workshop for Shoah Refugees: https://www.youtube.com/watch?v=Ml85DAH3Q7w [11. 02. 2023]. 56 https://www.palestineposterproject.org/poster/hashomer-hatzair-in-eretz-israel (1946 und 1948) [11. 02. 2023]. 57 Matthias Kohn: Naftali Bezem, Bern 1998, S. 16.

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Weiß« (1912, zionistisch) und die »Kameraden. Deutsch-jüdischer Wanderbund« (1916, nicht zionistisch).58 Manche Gruppierungen waren mehr, andere weniger an Selbstbestimmung orientiert, sondern ausgesprochen hierarchisch gegliedert. So fand sich in den Reihen der »Kameraden« Mitte der 1920er Jahre eine kleine, etwa 150 Personen umfassende Gruppe zusammen, die sich Anlehnung an Aufständische in den frühneuzeitlichen Bauernkriegen »Schwarzer Haufen« nannte und damit die eigensinnig rebellische Haltung ihrer Mitglieder betonte.59 1926 ist auch das Gründungsjahr von »Kadima«, einer pfadfinderisch erzieherisch tätigen Gruppierung mit zionistischer Orientierung. Einige prominente Mitglieder dieser und weiterer Bünde, denen die Flucht aus Deutschland gelang, leiteten aus ihren Prägungen gegen Kriegsende und in den Jahren unmittelbar nach 1945 sinnstiftende Lebensaufgaben ab. So machte es sich Paul Yogi Mayer (1912–2011) (»Kameraden« und dann »Schwarzes Fähnlein«) zur Aufgabe, jüdischen Waisen, die im Sommer 1945 nach England kamen, als sozialer Vater ein Gefühl für Stärke, Selbstbewusstsein und Halt in einer Gemeinschaft zu vermitteln. Er glaube an »soziale Gruppenarbeit«, betonte er einmal (Primerose Club).60 Manche, die in der Zwischenkriegszeit deutsch-jüdischen Gruppen angehört hatten und vor ihrer Flucht aus Deutschland eine Zeitlang in einer HachscharaStätte in Vorbereitung der Alija, der Einwanderung nach Palästina gelebt hatten, standen nach 1945 weiterhin in Verbindung. Und dies, obwohl sie weit voneinander entfernt ein neues Leben begonnen hatten, in den USA, Australien oder Afrika. Sie reflektierten brieflich miteinander darüber, welche Bedeutung die jugendbündische Prägung für sie gehabt haben könnte und weiter haben werde.61 58 Vgl. Knut Bergbauer: »Wider die Rote Assimilation«. Die Auseinandersetzungen über Sozialismus, Kommunismus und Zionismus in der jüdischen Jugendbewegung Deutschlands, in: Meike Sophia Baader, Alfons Kenkmann (Hg.): Jugend im Kalten Krieg (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 16|2020/21), Göttingen 2021, S. 217–233. 59 Die meisten Mitglieder der »Kameraden« (1932 etwa 1.500 Mitglieder) schlossen sich ab 1932 dem neuen Bund der »Werkleute« an, für die nach 1933 die Vorbereitung zur Auswanderung nach Palästina im Vordergrund stand. Vgl. Knut Bergbauer: Die »Möwe« ist eine andere Art »Wandervogel«. Zur Geschichte des Deutsch-Jüdischen Wanderbundes »Kameraden«, in: Zentralrat (Hg.): Jugendbewegung (Anm. 10), S. 69–81. 60 Martin Gilbert: Sie waren die Boys. Die Geschichte von 732 jungen Holocaust-Überlebenden, Berlin 2007, S. 425, siehe auch S. 362, 436f. Der Gruppenzusammenhalt war für viele dauerhaft. Die Mitglieder halfen sich, besuchten diejenigen, die zeitweise in psychiatrischer Behandlung waren und leisteten sich gegenseitig seelischen Beistand. Vgl. Lothar Bembenek: Werner T. Angress, Paul Yogi Mayer und Guy Stern, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt, Göttingen 2013, S. 69–88. Vgl. ferner: Lieven Wölk: Schwarzes Fähnlein, Mädelschaft – Weibliche Stimmen in einem deutschgesinnten jüdischen Jugendbund, in: Zentralrat der Juden in Deutschland (Hg.): Die jüdische Jugendbewegung (Anm. 10), S. 148– 175. 61 Jüdisches Auswanderungslehrgut (Gross-Breesen, Silesia) Collection, 1935–2005, Leo Baeck Institute, AR 3686, Series I: Rundbriefe, 1938–2003, Series II: Other Materials, Undated, 1935–

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Als Ressource, d. h. als seelisch stärkende Kraft betrachteten manche ihre Fähigkeit, auch unter existenziellen Extrembedingungen, außer Selbstdisziplin und harter Arbeit, den Sinn für Natur, Musik und für romantisch gefärbte Melancholie bewahrt zu haben. Einige dieser Jugendbewegten kehrten als Soldaten mit der britischen oder amerikanischen Armee 1945 nach Deutschland zurück; sie waren als Experten gefragt, weil sie sich auskannten. Der spätere Journalist Ernst Cramer (1913– 2010) beispielsweise, als Gymnasiast bayerischer Landesleiter des zionistischen »Bundes Deutsch-Jüdischer Jugend« (1933 gegr.), der 1945 mit der US-Armee nach Bayern kam, gehört dazu (er blieb in Deutschland, beriet u. a. die IsraelKontakte Axel Springers und war zeitweise Vorstandsvorsitzender der AxelSpringer-Stiftung.) Cramer und sein Freund, der Historiker Werner Angress (1920–2010),62 ehemals »Schwarzes Fähnlein«, korrespondierten mit ihrem einstigen »Lehrer« und »Trainer« in Vorbereitung ihrer Flucht aus Deutschland, dem Pädagogen und Psychologen Curt Bondy (1894–1972). Letzterer, der Mitglied der »Freideutschen Jugend« gewesen war sich und nach Jahren im Ausland 1948 für eine Professur in seiner Hamburger Geburtsheimat entschied,63 formulierte seine Antwort auf die Frage nach jugendbündischen Prägungen aus der Rückschau allgemein und vorsichtig. Seine Erfahrung zeige, dass die »Stärke persönlicher Bindungen« und/oder »weltanschaulicher Halt« nicht ohne Auswirkungen auf das weitere Leben der von »Schicksalsschlägen« erschütterten Angehörigen diskriminierter und verfolgter Minderheiten blieben.64 Auch der Zukunftsforscher Robert Jungk (1913–1994, eigentlich Robert Baum) reflektierte seine prägende Wirkung jugendbewegter Bindungen. Das Fahrtenleben im »deutsch-jüdischen Wanderbund Kameraden« habe ihn gut auf Herausforderungen seines lebenslangen Unterwegsseins vorbereitet, so Jungk.65 Gegenüber den sich nach Kriegsende bildenden Älterenkreisen deutscher Jugendbewegter blieben vormalige Angehörige deutsch-jüdischer Jugendgruppen mehrheitlich

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2005, verfügbar unter: http://findingaids.cjh.org/?pID=475516#serI: jdischesausb002f014 [11. 02. 2023]. Angress war einer der in den USA in Camp Richie ausgebildeten Soldaten, die bei Kriegsende nach Deutschland kamen und die als Richie-Boys in die Geschichte eingingen. Vgl. Lieven Wölk: Werner Tom Angress und die »Generation zwischen Furcht und Hoffnung«. Jugendbewegte Gemeinschaften, in: Zentralrat (Hg.): Jugendbewegung (Anm. 10), S. 176–194. Vgl. Barbara Stambolis: Curt Bondy – Jugendpsychologie und Jugendsozialarbeit in Hamburg vor 1933 und nach 1945, in: dies. (Hg.): Flucht und Rückkehr. Deutsch-jüdische Lebenswege nach 1933, Gießen 2020, S. 173–194; dies.: Das Auswanderergut Groß-Breesen in Schlesien. Ein Beispiel für Antworten junger jüdischer Deutscher auf kulturelle Apartheid infolge rassistisch antisemitischer Ausgrenzung, in: Thalloris, 2018, 2, S. 39–52. Curt Bondy: Versagungstoleranz und Versagungssituation, in: Helmut Paul, Hans-Joachim Herberg (Hg.): Psychische Spätschäden nach politischer Verfolgung, Basel (1963), 2. erw. und neu bearb. Aufl. 1967, S. 1–13, hier S. 4. Vgl. Stambolis: Jugendpsychologie (Anm. 63), S. 173–194.

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auf Distanz.66 Einige zeigten sich enttäuscht, unter ihnen der Religionswissenschaftler und Preußenspezialist Hans-Joachim Schoeps (1909–1980), der dem deutschnationalen »Vortrupp« angehört hatte.67

Zur Bedeutung von Gemeinschaften auf der Suche nach Halt und Orientierung Auf der Suche nach Orientierung war nach Kriegsende 1945 für jüdische Heranwachsende in Europa die Wahrscheinlichkeit, mit zionistisch sozialistischen Jugendbünden in Kontakt zu kommen, ausgesprochen groß.68 Auch außerhalb von Lagern und Heimen, in Wien beispielsweise, gingen deren Mitglieder auf Jugendliche zu, sie initiierten Wohltätigkeitsveranstaltungen, organisierten Elternabende und bauten Netzwerke auf.69 Ähnliche Aktivitäten lassen sich auch in Brüssel nachweisen.70 Was machte die Stärke straff organisierter zionistischer Jugendgruppierungen unmittelbar nach Kriegsende aus? Abschließend seien einige Teilantworten zur Diskussion gestellt, in die Überlegungen des in Essen geborenen Pädagogen Jizchak Schwersenz (1915–2005) mit eingehen sollen. Er hatte zunächst dem religiös-orthodoxen (zionistischen) Jugendbund »Esra« (1919–1933) angehört und sich als Dreizehnjähriger 1926 für den jüdischen Pfadfinderbund »Kadima« entschieden. In der Schweiz betreute er 1947 jüdische Jugendliche aus BergenBelsen,71 von denen wohl einige für den Beitritt zu zionistischen Bünden gewonnen werden konnten.72 Schwersenz schrieb bilanzierend aus späterer Sicht,

66 Vgl. ebd. 67 Vgl. Julius Schoeps: »Die Vergangenheit ist tot, die Gegenwart ist unbarmherzig.« Wie HansJoachim Schoeps sich im Herbst 1946 die Rückkehr aus dem schwedischen Exil in seine einstige Heimatstadt Berlin vorstellte, in: Stambolis (Hg.): Flucht (Anm. 63), S. 47–64. Vgl. Micha Brumlik: Preußisch, konservativ, jüdisch. Hans-Joachim Schoeps’ Leben und Werk, Köln 2019. 68 Erst Ende der 1950er und 1960er Jahre eröffneten sich neue Möglichkeiten für eine um vieles jüngere Altersgruppe. Jugendliche konnten sich in der »Zionistische Jugend in Deutschland e. V.« (ZJD), 1959/60 gegründet, organisieren. Zum Einfluss zionistischer Bildungsvorstellungen in DP-Camps vgl. Matthias Springborn: Jüdische Kinder- und Jugendbildung in Deutschland seit 1945. Schulungskontexte und Wissensbestände im Wandel, Berlin 2022. 69 Vgl. Fischman: Annäherung (Anm. 9). 70 Janiv Stamberger: Zionist Pioneers at the Shores of the Scheldt, the Hashomer Hatzair Youth Movement in Antwerp, 1924–1946, in: Les Cahiers de la Mémoire Contemporaine [Online], 2014, Nr. 11, verfügbar unter: https://journals.openedition.org/cmc/367 [11. 02. 2023]. 71 Jizchak Schwersenz: Die versteckte Gruppe. Ein jüdischer Lehrer erinnert sich an Deutschland, 4. überarb. Aufl., Berlin 2000, S. 173f., 176. Er habe mit Jugendlichen in der Schweiz u. a. ein Theaterstück einstudiert, das den Titel »Aus der Dunkelheit zum Großen Licht« trug. 72 Ebd., S. 174.

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die Gruppen hätten den Jugendlichen »Halt und Vertrauen« vermittelt und »eine Gemeinschaft« geboten, »einen aufbauenden und richtungweisenden Weg« zu zeigen vermocht und »eine Antwort auf Fragen der Zeit zu geben« gewusst.73 Ihre Formen des Gemeinschaftslebens hätten »wie eine feste Klammer« gewirkt, welche »die Mitglieder schützend umschloss. Die gemeinschaftlichen Rituale ( jugendbewegte und religiös jüdische, B. S.) boten Raum für alle verdrängten und von der Außenwelt missachteten Gefühle, die sich gerade bei den Jugendlichen einer verfolgten Gemeinschaft mit großer Dynamik« aufstauten.74 Soweit diese retrospektive Insidersicht aus den 1980er Jahren. Ich möchte es so formulieren: Zwischen Kriegsende und ersten Nachkriegsjahren gab es für jugendbewegt-zionistische Aktivist*innen insofern einen Anschluss, weil sie über Organisationsstrukturen verfügten, an die sie anknüpfen konnten. Ihre Erfahrungen in der Illegalität und ihre guten zionistischen Vernetzungen bildeten die Grundlage für ihre von ihnen selbst betonte Handlungsstärke. Diese zeigte sich in den vielerorts kurzzeitig oder über mehrere Jahre »funktionierenden« Lager-Kibbuzim und Kindergruppen. Ihre Formen selbstverwalteter Gemeinschaften orientierten sich an hierarchisch strukturierten Erziehungsgemeinschaften, die an Selbsterziehungsideale anknüpften, aber auch stark in der Pfadfindertradition verankert waren. Die Betonung der Erziehungsaufgaben bzw. Erziehungsgemeinschaft sicherte ihnen die breite Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen. In bilanzierenden Lebenserzählungen klingt an, dass die Gruppen ein Gefühl der Anerkennung, Stabilität und des Aufgehobenseins vermittelten.75 Auf diese Weise konnten sie, entwurzelt, heimatlos, wie sie waren, »mutig« ihren Ängsten entgegentreten. Über letztere schrieb der deutsch-jüdische Psychiater Arnold Merzbach (1896–1952) 1945 treffend, sie seien ja »von beiden Zeithorizonten genährt« worden, »von der Vergangenheit und der Zukunft.«76 Über die psychische Verfassung der nach Palästina eingewanderten Minderjährigen machten sich auch schon vor 1945 Sozialarbeiter und Psychiater Gedanken. Diese Jugendlichen wurden für besonders willensstark gehalten,77 was sich indes nicht so bewahrheitete, wie vermutet und gehofft wurde. Eine nicht unerhebliche Zahl wurde als psychotisch eingestuft und psychiatrisch behandelt, wobei die ärztliche Versorgung ausge73 Ebd., S. 36. 74 Ebd., S. 40. 75 In der Rückschau heißt es etwa in Haschomer Hazair-Erinnerungen, »die Zeit in der Jugendbewegung sei die glücklichste ihres Lebens gewesen. … wie anhaltend diese Ära … nachwirkt, dass uns allen ein Gefühl des Glücks und der Erfüllung im Leben gemeinsam ist.« Ehlers, Segal, Talmi: Nest (Anm. 44), Einleitung, S. 10. 76 Zit. in deutscher Übersetzung aus: Rakefet Zalashik: Das unselige Erbe. Die Geschichte der Psychiatrie in Palästina und Israel (hebräisch 2008), Frankfurt a. M. 2012, S. 99. 77 Ebd., S. 102.

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sprochen prekär war. 1945 machte Arnold Merzbach, über die Niederlande nach Israel ausgewandert, in einer Studie, die auf Hebräisch veröffentlicht wurde, auf ihre Angstzustände, Bettnässen, Alpträume u. a. mehr aufmerksam. Die Lebenswege einstiger »child survivors«, deren Erfahrungen und rückblickende Erzählungen hier ausschnitthaft in den Blick genommen wurden, waren geprägt von der menschenverachtenden nationalsozialistischen Politik, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg begann und in den Jahren 1939 bis 1945 ihren grauenvollen, bis heute kaum vorstellbaren Höhepunkt erreichte. Die meisten »child survivors« haben über viele Jahre das Erlebte verdrängt und beschwiegen. Sie wollten ihre Kinder und Enkel nicht belasten. Im Alter nach ihrer Kindheit befragt, sagten viele Betroffene, das ausgelieferte »Kind von einst« mit seinen Ängsten, seiner Verlassenheit und Hilflosigkeit melde sich ungefragt und komme sie nachts im Traum z. B. besuchen. Und nicht genug, dass traumatische Ereignisse sich bei den Betroffenen in Flashbacks, Alpträumen und anderen Symptomen gleichsam zu wiederholen pflegen. Auch ihre Kinder, die nach dem Krieg geboren wurden, sind von den Kindheitserfahrungen ihrer Eltern betroffen.78 Einem Narrativ, das unter dem Stichwort »Unser Mut« zusammengefasst werden kann, liegen also vielschichtige Aspekte zugrunde. Auf die erkenntnisleitende Frage, was diesen Kindern und Jugendlichen, die oft die einzigen Überlebenden ihrer Familien waren, Halt und Orientierung gab, versucht dieser Beitrag eine Teilantwort zu geben: Manche dieser jungen Holocaustüberlebenden fanden Unterstützung in einer Gruppe, die sie als Familienersatz empfanden.

78 Vgl. Ilany Kogan: Die Durchlässigkeit der Grenzen in Holocaust-Überlebenden und ihren Nachkommen, in: Hartmut Radebold, Werner Bohleber, Jürgen Zinnecker (Hg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen, Weinheim, München 2008, S. 119– 127.

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Jugendhöfe in der Britischen Besatzungszone – Orte zivilgesellschaftlich-demokratischen Lernens

Die Ausgangslage: britische Erziehungspläne für die deutsche Jugend Bereits in den Kriegsjahren hatte es in Großbritannien intensive Debatten darüber gegeben, wie nach dem Ende des NS-Unrechtsregimes und des Zweiten Weltkriegs mit jungen Deutschen umzugehen sei. Von letzteren hänge, so eine verbreitete britische Einschätzung, maßgeblich mit die Etablierung ziviler und demokratischer Denk- und Lebensformen und ein friedliches, auf gegenseitige Achtung gegründetes europäisches Miteinander ab. Dabei waren britischen Deutschlandkennern nicht nur die Hitlerjugend (HJ) und der Bund Deutscher Mädel (BDM) ein Begriff, sondern sie hatten auch ein durchaus fundiertes Wissen über die deutsche Geschichte sowie jugendkulturelle Strömungen der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Expertisen lieferten zudem deutsche Emigrant*innen, die sich mit britischen Spezialisten über weit in die deutsche Geschichte zurückreichende Traditionen von Drill- und Gehorsamserziehung austauschten.1 Der Blick der britischen Akteure richtete sich besonders auf »Drill, Marschieren« sowie ein Weiterleben aller »verwerflichen Praktiken der HJ«, mit deren Hilfe bis Kriegsende der »Kampfgeist« der Jugend geschult worden war.2 Die britischen Experten stimmten weitgehend darin überein, dass die HJ- und BDM- oder auch – etwas weiter gefasst – die deutsche Kriegsjugendgeneration des Zweiten Weltkriegs, in den 1920er und frühen 1930er Jahren geboren, stark indoktriniert sei; die wenigen, die sich von der HJ distanzierten, seien wohl 1 Vgl. Barbara Stambolis: Besatzer als Erzieher? Britische Jugendarbeit in Westfalen, in: Ulrike Gilhaus, Andreas Neuwöhner (Hg.): Briten in Westfalen. Beziehungen und Begegnungen 1845–2017, Paderborn 2017, S. 91–106; dies: Die Praxis britischer Jugendarbeit in Westfalen: Erziehung durch Begegnung, in: Peter E. Fäßler, Andreas Neuwöhner, Florian Staffel (Hg.): Briten in Westfalen. Besatzer, Verbündete, Freunde? 1945–2017, Paderborn 2019, S. 167–198. 2 Bistumsarchiv Münster, Generalvikariat, Akte Hauptdezernat 089/17 (Jugendseelsorge); Plan for the Resumption of German Youth Activities, 14. 09. 1945.

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mehrheitlich in einer spezifisch deutschen Weise romantisch, autoritären Vorstellungen verhaftet und ohne konkrete politische Ziele. Sie entschieden sich im Sommer 1946 für eine Jugendamnestie in der Britischen Zone ab dem Geburtsjahrgang 1919, wenngleich dies keineswegs unumstritten war.3 Aus späterer wissenschaftlicher Sicht wäre eine Differenzierung sinnvoll gewesen, besonders mi Blick auf die Flakhelfer*innenjahrgänge, geboren in den Jahren 1926 bis 1930;4 dass dies damals nicht geschah, ist wohl dem situationsbedingt pragmatischen britischen Vorgehen geschuldet. Das besondere Augenmerk der Briten galt zum einen fanatischen Nationalsozialisten in den Reihen der »rising Generation« in Deutschland, zum anderen den zumeist in der Arbeiterklasse verwurzelten »oppositional elements« unter den Minderjährigen in der Masse der »nazifizierten Kinder«.5 Von beiden Gruppen gehe eine Gefahr aus: erstere, die »young Nazis«, seien gewohnt, uneingeschränkt Befehlen zu folgen, letztere, d. h. die Minderheit Unangepasster, werde sich »discipline and reglementation« widersetzen und ebenfalls für Unruhe sorgen.6 Weitgehende Einigkeit herrschte auch darüber, dass es sich um Hilfe zur Selbsthilfe handeln solle. Der Grundsatz lautete: »We … will … assist you to help yourselves, but never forget, it is you who must do the job of re-making yourselves, to become welcome members of the brotherhood of man and of the community of nations.«7 In Vlotho entstand der erste und einer der bedeutendsten Jugendhöfe in der Britischen Zone, deren Mitarbeiter sich dem Ziel widmeten, die in Gründung befindlichen deutschen Jugendgruppen zu unterstützen, Jugendleiter*innenschulungen durchzuführen und Jugendbegegnungen mit dem europäischen Ausland zu fördern. 3 Siehe: Zonenbeirat. Zonal Advisory Council 1948. Protokolle und Anlagen 1.–11. Sitzung 1946/ 47, bearbeitet von Gabriele Stüber, Erster Halbbd. Düsseldorf 1994. 4 Vgl. Barbara Stambolis: Flakhelfer, Schüler- und Kindersoldaten. Eine Altersgruppe im Rückblick auf ihre Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und nach Kriegsende, in: Andreas H. Apelt, Ekkehart Rudolph (Hg.): Hitlers letzte Armee. Kinder und Jugendliche im Kriegseinsatz, Halle (Saale) 2015, S. 12–32. 5 Ulrich Reusch: Die Londoner Institutionen der britischen Deutschlandpolitik 1943–1948. Eine behördengeschichtliche Untersuchung, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, 1980, 100. Jg., S. 318–443; Reiner Pommerin: Demokraten und Pazifisten oder Rowdies und Rebellen? Die Einschätzung der »Edelweiß-Piraten« im britischen Außenministerium 1944/45, in: Geschichte im Westen, 1987, 2, S. 135–144, bes. S. 138–140. 6 Pommerin: Demokraten (Anm. 5), S. 140. Vgl. allgemein Sonja Levsen: Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975, Göttingen 2019, bes. S. 41–65. 7 Ray Perraudin: Recollections of a British University Officer in Germany 1945–50, in: Manfred Heinemann (Hg): Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Westdeutschland 1945–1952, Teil 1: Die Britische Zone, Hildesheim 1990, S. 145–151, hier S. 150.

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Zur Vorgeschichte des Jugendhofes Vlotho In Vlotho, einer an der Weser im östlichen Westfalen im Kreis Herford gelegenen Kleinstadt, bot sich ein nach Kriegsende kaum genutztes Bauernhaus an, ein intaktes, geräumiges Gebäude in einer ländlichen Umgebung abseits der kriegszerstörten Städte also, um mit der in Umrissen skizzierten Jugendarbeit zu beginnen. Ungenutzt war der Hof deshalb, weil sich dort in den Jahren von 1938 bis 1945 eine Schulungsstätte der Hitlerjugend befunden hatte, die mit dem Ende des NS-Regimes und des Krieges von seinen Betreibern aufgegeben worden war. Das Gebäude, ein großes niederdeutsches Fachwerkhaus Wohn- und Wirtschaftsgebäude unter einem Dach, war ursprünglich 1819 an einem anderen Platz in Vlotho, auf dem Stiftsberg, errichtet worden. Als dort im Zuge der Vorbereitungen auf den Zweiten Weltkrieg Kasernen entstanden, wurde der Hof abund etwa 16 Kilometer entfernt auf dem Burg- bzw. Amthausberg als HJ-Schulungsstätte, wohl teilweise den neuen Bedürfnissen angepasst, neu aufgebaut. In der Diele wurden auf Kacheln am Kamin das Wiederaufstellungsdatum, Runen und Hakenkreuze angebracht. Sie sind dort heute noch zu sehen. Unmittelbar über dem Dielentor fanden und finden sich noch zwei Inschriften, eine, die auf die Erbauung im Jahre 1819 hinweist, die andere lautet: »Dieses Bauernhaus vom Stiftberge in Herford wurde im Jahre 1936/37 hier als Heim für die Jugend wieder errichtet.«8 Im Oktober des Jahres 1938 hatte die »Weihe« dieses HJ-Heimes, der »HJ-Bannführerschule Herzog Widukind«, in Anwesenheit des Gauführers von Westfalen stattgefunden. Die Bürger von Stadt und Amt Vlotho waren aufgefordert worden, aus diesem festlichen Anlass ihre Häuser zu beflaggen.9 Die regionale gleichgeschaltete Presse feierte das Ereignis und gab der Hoffnung Ausdruck, dass in diesem »Hause, das aus der Heimaterde« erwachsen sei, eine »Pflegestätte nationalsozialistischen Geistes erstehen« möge.10 Die Namensgebung war insofern Programm, als Westfalen in der NS-Zeit als »Wittekindsland« galt: Alfred Rosenberg hatte den Kampf des Sachsenherzogs Widukind mit Karl dem Großen als »Titanenkampf« beschrieben, in dem der Heldenhaftigkeit des Sachsenführers die Sympathie galt, obwohl Karl sich keineswegs nur als »Sachsenschlächter« bezeichnen ließ, hatte er doch im Frühmittelalter Reichsgeschichte geschrieben. Mit dem ideologisch vereinnahmten Hermannsdenkmal und den Externsteinen bei Detmold, sowie nicht zuletzt der

8 David Gropp (LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen) sei herzlich für die Hinweise gedankt. 9 Angela Kahre: Die HJ-Bannführerschule »Herzog Widukind« 1938–1945 in Vlotho, in: Jugendhof Vlotho (Hg.): Fahne flattert stolz im Wind, wo wir Kameraden sind. Die HJ-Bannführerschule »Herzog Widukind« in Vlotho, 1938–1945, Münster 1996, S. 8–42, hier S. 8. 10 Herforder Kreisblatt vom 17. 10. 1938, zit. bei Kahre: Bannführerschule (Anm. 9), S. 13.

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Wewelsburg, die Heinrich Himmler zum Kultort der SS ausbauen ließ,11 war Westfalen zweifellos gegen Kriegsende 1945 eine Region, in der die nationalsozialistischen Herrschaftsjahre tiefe Spuren hinterlassen hatten.12 An ihren Aufenthalt in der »HJ-Bannführerschule Herzog Widukind« erinnerten sich Zeitzeugen im Rückblick Jahrzehnte später. Sie berichteten von diversen sportlichen Wettkämpfen, nächtlichen Geländespielen, Marschübungen, Fahnenappellen, Pararaden, Exerzier- und Schießübungen; es habe ein strenges Regiment geherrscht und kaum Zeit gegeben innezuhalten. Einer der Befragten gab wörtlich an, am Appellplatz sei morgens früh bereits »die Fahne hochgezogen« worden, »und dann wurde noch ein Spruch hinterhergedonnert, und dann musste man strammstehen, und dann gab es den Tagesbefehl, und dann durften wir abtreten in Gruppen …«13 Bereits der morgendliche Appell begann mit einem »Fahnenlied«. Die Berichte bestätigen die damals übliche Drill- und Gehorsamserziehung. Sie machen zudem deutlich, dass das »Dritte Reich« nicht nur erkämpft, sondern buchstäblich auch »ersungen« wurde und zwar bis in die Kriegsjahre hinein, wenngleich die vormilitärische Ausbildung nach 1939 stark in den Vordergrund trat.14

Briten und Deutsche in Vlotho nach 1945 Obwohl Großbritannien den Herausforderungen von »Reeducation« oder »Educational Reconstruction« keineswegs ahnungslos entgegensah, hatten die meisten der mit der Lösung dieser Probleme »vor Ort« befassten britischen »Akteure« in der Regel kaum Zeit gehabt, sich auf ihre Aufgaben vorzubereiten.15 Als beispielsweise Kenneth Walsh unmittelbar nach Kriegsende im Auftrag der Erziehungsabteilung der Britischen Militärverwaltung in Bünde eine Rundreise durch Westfalen unternahm, um sich ein Bild von der Lage zu machen, empfand

11 Vgl. Martin Langebach, Michael Sturm (Hg.): Erinnerungsorte der extremen Rechten, Wiesbaden 2014. 12 Barbara Stambolis: Religiöse Festkultur. Tradition und Neuformierung katholischer Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 2000, S. 241f., 251; vgl. auch Wulff E. Brebeck, Barbara Stambolis (Hg.): Erinnerungsarbeit kontra Verklärung der NS-Zeit. Vom Umgang mit Tatorten, Gedenkorten und Kultorten, München 2008. 13 Kahre: Bannführerschule (Anm. 9), S. 22f. 14 Ebd., S. 26, 28f. sowie Barbara Stambolis: ›Die Reihen … fest geschlossen in hohem Glaubensmut‹. Zur Rolle von Kirchenliedern unter den Bedingungen des Dritten Reiches und im Zweiten Weltkrieg, in: Barbara Stambolis, Jürgen Reulecke (Hg.): Lieder im Generationengedächtnis des 20. Jahrhunderts, Essen 2007, S. 243–257. 15 Als Angehörige der Militärregierung hatten diese Offiziersränge inne, »aber im Grunde die Funktion von Zivilangestellten«; vgl. Waldemar Krönig, Klaus-Dieter Müller: NachkriegsSemester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, Stuttgart 1990, S. 91, Anm. 56.

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er diese als Sprung ins kalte Wasser.16 Seinen Eindruck teilte etwa auch Nigel R. Spicer (*1925), gegen Kriegsende 20 Jahre alt und Captain in der Royal Horse Artillery, der, zur Militärregierung in Westfalen abgeordnet, Kontrolloffizier der Education Branch und »verantwortlich für die Ausbildung einer neuen Jugendführerschicht« wurde.17 Sein neues Wirkungsfeld wurde der auf britische Initiative hin 1946 gegründete Jugendhof Vlotho,18 der erste und einer der bedeutendsten Jugendhöfe als Austausch- und Begegnungsstätte.19 Spicer erinnerte sich, er habe nach Ende des Krieges »sehr stark das Bedürfnis« gehabt, »etwas Positives zu tun, um zu verhindern, dass ein solcher Krieg sich noch einmal ereignen konnte und dazu beizutragen, dass sich junge Deutsche wieder in ein friedliches Europa eingliedern konnten … Mein Hauptziel war es, ›Fenster zu öffnen‹ und Jugendleiter in den Jugendhof zu bringen, nicht nur aus England, sondern vor allem aus den besetzten Ländern, so dass offene Diskussionen auf der Grundlage unmittelbarer Erfahrungen stattfinden konnten.« Er wusste sich einig mit dem britisch-jüdischen Verleger, Schriftsteller und Humanisten Victor Gollancz (1893–1967), der u. a. mit seinem 1947 erscheinenden Buch »In Darkest Germany«20 Aufsehen erregte, und der vehement dafür plädierte, der deutschen Jugend zu helfen anstatt sie nur zu bestrafen. Am Ende des dunklen Tunnels, in dem sich Deutschland befinde, so Gollancz, müsse für die junge Generation ein Hoffnungsschimmer (»a glimmer of the sun«) sichtbar werden, denn die deutsche Jugend müsse zu Selbstachtung zurückfinden, um den demokratischen Selbstfindungsprozess in die eigenen Hände nehmen zu können.21 Gollancz rief zu Spenden auf und gründete 1948 die Victor-Gollancz-

16 Kenneth Walsh, während des Krieges Deutschlehrer in Bristol, kannte sich nicht zuletzt in der deutschen Geschichte der Zwischenkriegszeit aus und hatte sich in Bletchley Park engagiert, dem Landsitz nordwestlich von London, wo sich das britische Militär mit der Entzifferung des deutschen Nachrichtenwesens beschäftigte; er war nach eigenen Angaben für Aufgaben in Deutschland vorgeschlagen worden. Vgl. Ken Walsh: The Revival of Youth Work, in: Arthur Hearnden (Hg.): The British in Germany. Educational Reconstruction after 1945, London 1978, S. 224–230. 17 Vgl. Nigel R. Spicer: Erinnerungen an die Zeit vor 50 Jahren, in: Hilmar Peter (Hg.): Bildung – Entfaltung des ganzen Menschen. Jugendhof Vlotho 1946–1996, Münster 1996, S. 48–53. 18 Zusammenfassend Klaus-Peter Lorenz: »Unsere Aufgabe in dieser Zeit«. Erziehung zur Demokratie auf dem Jugendhof Vlotho nach 1945, in: Paul Ciupke, Bernd Faulenbach, FranzJosef Jelich, Norbert Reichling (Hg.): Erwachsenenbildung und politische Kultur in Nordrhein-Westfalen. Themen – Institutionen – Entwicklungen seit 1945, Essen 2003, S. 93–104. 19 Vgl. Lothar Albertin: Jugendarbeit 1945. Neuanfänge der Kommunen, Kirchen und politischen Parteien in Ostwestfalen-Lippe, Weinheim 1992; Friedhelm Boll: Auf der Suche nach Demokratie. Britische und deutsche Jugendinitiativen in Niedersachsen nach 1945, Bonn 1995. 20 Victor Gollancz: In Darkest Germany, London 1947, S. 16f. 21 Landesarchiv, vormals Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HSTAD), RWN 95-2, Nachlass Amelunxen, Bl. 164 R., zit. bei Peter Respondek: Besatzung, Entnazifizierung, Wiederaufbau. Die

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Stiftung, die u. a. Jugendheime finanziell unterstützte und Ausbildungsstipendien für Sozialarbeiter vergab.22 Spicer bat Gollancz sogar persönlich intensiv darum, die britische Jugendarbeit im Jugendhof Vlotho zu unterstützen.23 Spicer erklärte wörtlich im Oktober 1946: »I may be recalled to the Army any day now … and nobody knows at the Jugendhof. … Anyway, by the time you make this story known, … I shall either be still here, or I shall be in India. But one thing I beg of you: To make this story known. …I know I am an idealist, but I also know that in this case my stars are not unattainable, but they will be unless this story of the Jugendhof is published. And also with my hopes are connected the hopes of the German Youth – and they will also collapse. And therefore, whether I am still here or not, please publish the story somehow, so that at any rate my successor will not be confronted with all the difficulties and narrow-mindedness that I have to deal with.«24

Was waren aus Spicers Sicht die Chancen und Probleme seiner Arbeit in Vlotho? In Deutschland hätten Jugendorganisationen bereits vor 1933 eine große Bedeutung gehabt, wobei die Pfadfinder eine untergeordnete Rolle gespielt hätten. Die britische Jugendpolitik müsse diesen spezifischen, nach wie vor geltenden Bedürfnissen Rechnung tragen: »First, because the very nature of the Germans, at present, still demands youth organisations; the instinct of the German Youth to belong to a youth group is stronger than in any other nation.« Gerne blickten die Deutschen in die Zeit vor 1933 zurück und wollten an diese Zeit anknüpfen: »The Germans are a very romantic race and love their tradition, and as Mil Gov did not allow them to look back at the splendid time they had in the HJ, they did not go forward, but want back a stage further and dug up the remains oft he old pre-33 organisations and started folk-dancing again, seriously thinking that this is the way they were teaching the youth the new democratic policy.« In den Kursen säßen sie oft »in romantic candle light, listening to Wagnerian music, and to Goethe.« Zu bedenken sei, dass ein deutscher Jugendlicher angesichts der materiell prekären Lebensumstände nur wenig Zeit habe, etwas für seine Seele zu tun (»to think of imUniversität Münster 1945–1952. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-britischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Bildungssektor, Münster 1995, S. 103. 22 Karl-Heinz Grohall: Gollancz, Victor – Gründer der Victor-Gollancz-Stiftung, in: Hugo Maier (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg 1998, S. 210f. Vgl. Walter Thorun: Jugendhilfe und Sozialarbeit im lebensgeschichtlichen Rückblick, Hamburg 2006, S. 68–70. 23 Quelle im Modern Records Centre, University of Warwick Library, Coventry, CV4 7AL, United Kingdom MSS.157/3/GE/1/10/1-12 long report and plea for increased support for Jugendhof Vlotho by Capt N.R. Spicer (8–9); siehe auch ebd.: Lt.-Col. A. Andrews, Education Branch, CCG: summary of discussion with Victor Gollancz, 14 October 1946, memoranda of achievements of CCG Youth Section (10–12). 24 Hier und im Folgenden: Modern Records Centre, University of Warwick Library, Coventry, CV4 7AL, United Kingdom MSS.157/3/GE/1/10/1-12 long report and plea for increased support for Jugendhof Vlotho by Capt N. R. Spicer, S. 1–9.

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proving his soul«). Zwar befinde sich die Arbeit des Jugendhofs Vlotho »still in its infancy«, bei allen Schwierigkeiten bestehe hier jedoch eine einzigartige Chance, junge Deutsche zu inspirieren (»giving them inspiration«).

Wie sein geradezu leidenschaftlicher Brief und sein Bericht auf Gollancz gewirkt haben, ist nicht überliefert, zumindest aber ist bekannt, dass letzterer den Jugendhof Vlotho 1946 besuchte.25 Ab Dezember 1946 fanden dort in vierteljährlichem Rhythmus Konferenzen aller Youth Control Officers in der Britischen Zone statt. Mit Nigel R. Spicer und dem deutschen Leiter des Jugendhofs, Klaus von Bismarck (1912–1997),26 kamen hier wohl als »historischer Glücksfall« zwei engagierte Praktiker zusammen, zwischen denen die Chemie stimmte, die motivierend für andere wirkten und die mit den Grund für eine Teamatmosphäre legten, in der sich Mitarbeiter*innen und Kursteilnehmer*innen ernst genommen fühlten und sich für unbequeme Fragen an die jüngste deutsche Vergangenheit öffnen konnten. Manche Jugendoffiziere entsprachen dem Bild einer lässig unkomplizierten, zivil sportlichen jungen Generation, wie Fotos mit Nigel Spicer in Vlotho zeigen. Klaus von Bismarck hingegen, ein Urgroßneffe Otto von Bismarcks (1815–1898), blickte auf eine Offizierskarriere während des Zweiten Weltkriegs zurück, galt den Briten gleichwohl als unbescholten. Er übernahm, obwohl in Jugendfragen unerfahren, die Leitung des Jugendhofs Vlotho in den Jahren 1945 bis 1949.27 Frauen waren in Vlotho für einzelne Kurse verantwortlich, nahmen Sekretariatsaufgaben wahr und kamen, um ein Bild der Jugendhofarbeit zu gewinnen; leitende Positionen nahmen sie nicht ein. An Anregungen interessiert war beispielsweise die spätere Familienrichterin Alice Rée (1921–2018), die sich erinnerte, bei einem Besuch in Vlotho habe ihre lebenslange Freundschaft mit dem Ehepaar von Bismarck begonnen.28 Zentrales Anliegen war das Training von Jugendleiter*innen, die in der Lage sein sollten, mit Überzeugung zivilgesellschaftlich demokratische Werte an deutsche Jugendliche zu vermitteln. Sie sollten auf ihre Aufgaben in einer Atmosphäre vorbereitet werden, für die aus britischer Sicht die Debattenkultur von Clubs Pate stand. Deutsche Mitarbeiter der ersten Stunde bezogen sich dagegen 25 Klaus von Bismarck: Aufbruch aus Pommern. Erinnerungen und Perspektiven, München 1992, S. 188. 26 Ebd., S. 65–70. 27 Es folgte eine Karriere im Sozialamt der Evangelischen Kirche und beim Westdeutschen Rundfunk, vgl. Birgit Bernand: Klaus von Bismarck. WDR-Intendant, Präsident des GoetheInstituts (1912–1997), verfügbar unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlich keiten/klaus-von-bismarck-/DE-2086/lido/57c583816b8971.70468958 [10. 02. 2023]. Zum Personal in Vlotho vgl. auch: Klaus-Peter Lorenz: Die Demokraten-Macher. Politische Bildner im Nachkriegsdeutschland. Das Beispiel Jugendhof Vlotho 1946–1949, Essen 2004. 28 Erinnerungen von Dr. Alice Haidinger, geb. Rée, verfügbar unter: https://www.rak-vbisma rck.de/erinnerungen-an-ruth-alice-von-dr-alice-haidinger/ [10. 02. 2023].

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Abb. 1: Zweiter von links Nigel R. Spicer, vierter von links Klaus von Bismarck, ca. 1947 in Vlotho; Foto: Spicer: Erinnerungen (Anm. 17), S. 22.

auf Vorstellungen, die an Vorbilder jugendbewegter Vergemeinschaftungen der 1920er Jahre anknüpften. Zu den Angeboten in Vlotho zählten sowohl Kurse, die der Wissensvermittlung, staatsbürgerlicher Bildung und dem Einüben angemessenen Diskussionsverhaltens dienten als auch »musische« Veranstaltungen, bei denen gemeinsam gesungen und getanzt wurde, nicht selten im Kreis im Freien und um ein offenes Feuer versammelt. An den Kursen nahmen junge Männer und Frauen teil, die Leitung des Jugendhofs Vlotho jedoch war männlich dominiert.29 29 Zu britischen und amerikanischen Programmen, die sich speziell an junge Frauen richteten, vgl. Pia Grundhöfer: »Ausländerinnen reichen die Hand« – britische und amerikanische Frauenpolitik in Deutschland im Rahmen der demokratischen Re-education nach 1945, Trier 1995; Hermann-Josef Rupieper: Bringing Democracy to the Frauleins. Frauen als Zielgruppe der amerikanischen Demokratisierungspolitik in Deutschland 1945–52, in: Geschichte und Gesellschaft, 1991, 17, 1, S. 61–91. Im Rahmen von Jugendaustauschprogrammen reisten auch Mädchenklassen oder Jugendgruppen aus Deutschland, beispielsweise der sozialistischen

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Abb. 2: Unten rechts Nigel R. Spicer, unten links Klaus von Bismarck, oben Marte, Sekretärin und Alice Rée, 1946 in Vlotho; Foto: Spicer: Erinnerungen (Anm. 17), S. 36.

Auf jeden Fall reisten auch junge Frauen nach Großbritannien, um sich dort mit westlich-demokratischen Verhältnissen vertraut zu machen. Bis 1948 dürften unter Mitwirkung des Jugendhofs Vlotho etwa 300 deutsche Jugendleiter*innen in Großbritannien gewesen sein und hatten dort teilweise nachhaltig wirkende Eindrücke gesammelt. Eine Teilnehmerin aus Bielefeld schrieb z. B. über ihren vierwöchigen Aufenthalt in Lancashire, »der Blick über die geographischen Grenzen« gehe ja vor allem mit einem »Blick über die unserer bisherigen Erziehung und Anschauung« einher.30 In England erschien ihr »die Pflege der individuellen Eigenart und der persönlichen Selbständigkeit auf der einen Seite und die Erziehung zu verantwortungsvollen Bürgern auf der anderen Seite« ebenso bemerkenswert wie der »freie Willen« und das »spielende Lernen« in den pädagogischen Einrichtungen, mit denen sie in Kontakt kam.31 In Jugendclubs hielt sie die Toleranz des Umgangs miteinander für »ganz erstaunlich«. Irritiert

Falken, in denen Mädchen und Jungen organisiert waren, nach Großbritannien. Vgl. Barbara Stambolis: Besatzer als Erzieher? Britische Jugendarbeit in Westfalen, in: Ulrike Gilhaus, Andreas Neuwöhner (Hg.): Briten in Westfalen. Beziehungen und Begegnungen 1945–2017, Paderborn 2017, S. 91–106, hier S. 96f. 30 Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Bestand 510, 40, Manuskript Christa Springe, S. 1f. 31 Ebd., S. 3.

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hingegen war sie von einer ungewohnten »Unkompliziertheit« und Ungezwungenheit; »jede unnötige Titulatur« werde als »geschmacklos« empfunden.32 Erst aus der Rückschau und vor dem Hintergrund von Jahrzehnten recht selbstverständlicher deutsch-britischer und britisch-deutscher Beziehungen fanden »Erziehende« und »Erzogene« von einst noch einmal zu teilweise recht klaren Einschätzungen, die gelungene Entwicklungen nicht in Frage stellen, aber das oft anstrengende Miteinander deutlich werden lassen. Aus der zeitlichen Distanz war es wohl manchen in den 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre geborenen Deutschen möglich, ihr erst langsam einsetzendes Verständnis für ein »Lernen durch Begegnung« in Worte zu fassen, denn die NS-Erziehung zu »Opferbereitschaft« und »Gefolgschaftstreue« hatte sich mit der Jugendamnestie, die, wie erwähnt, ab Geburtsjahrgang 1919 galt, keineswegs erledigt.33 Nachdenklich erinnerte sich Klaus von Bismarck, bei seiner ersten Auslandsreise 1946/47 zu einer Konferenz nach Liverpool sei er »unbefangen angesprochen« worden, dennoch sei ihm bewusst gewesen, dass es »noch ein langer Weg« sein werde: »Obwohl ich keine braunen Flecken auf der Weste hatte, war mir nicht wohl dabei gewesen, dass man mich als sympathische Ausnahme angenommen hatte.« Er habe im Lager Eselheide zwischen Paderborn und Bielefeld Kontakt zu einigen von den Briten »internierten höheren HJ-Führern« gehabt, deren ideologische Indoktrinierung ebenso deutlich spürbar gewesen sei wie ihre soldatische »disziplinierte Kameradschaftlichkeit«; er sei »ja selbst aus dieser Welt« gekommen.34 Ein 1928 geborener Teilnehmer der ersten Kurse in Vlotho, Heinrich Schürmann, erinnerte sich, er sei aus der Gefangenschaft gekommen, habe sich der »Sozialistischen Jugend« zugewandt und sei so auch nach Vlotho gekommen. Schürmann wörtlich: »Ich war sehr überrascht. Zuerst traf ich auf einen Engländer. Bickford Smith, ein Jugendoffizier, der ein gutes Deutsch sprach. Und dann saßen wir da und haben miteinander gesprochen; menschlich sehr nett. Er befragte mich ganz genau, und dann erklärte er, dass er uns einfach Unterstützung geben wolle. … Für uns Jugendliche aus Vlotho war der Jugendhof einfach nicht mehr wegzudenken. Das war auch der Ort, an dem es immer Licht gab, wo es warm war. Die acht Tage, die man sich hier aufhielt, gab es auch etwas zu essen, was sonst gar nicht selbstverständlich war. … Dahin gehen, satt werden, in warmen Räumen sein, keine Stromsperren; da war der Jugendhof ein Stück Hoffnung. Zumindest für die Menschen, die merkten, ob eine Welt heil oder kaputt ist. Und dann darf man einen nicht vergessen, Nigel Spicer, den Mann, der Bickford Smith ablöste. Ein Prachtkerl. Er war ein englischer Offizier, so alt wie wir … der konnte so herzlich über Dinge lachen; über die hätte er eigentlich nicht lachen dürfen. Wenn einer 32 Ebd., S. 3–5. 33 Siehe Anm. 4. 34 Bismarck: Aufbruch (Anm. 25), S. 190f., 183, 196.

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der Jugendlichen von Nigel R. Spicer sprach, dann war es in dem Moment niemandem bewusst, dass er der Repräsentant der Siegermacht England war, sondern das war eigentlich immer einer von uns. Er war nicht in Uniform, sondern lief hier mit seinen Manchesterhosen über das Gelände und konnte Witze erzählen. … Er hat uns mit seiner Art, glaube ich, weit schneller geholfen, das Neue, den demokratischen Aufbau zu verstehen und zu begreifen.«35

Über eine spezifisch britische humorvolle Ironie verfügte wohl ausdrücklich Nigel Spicer, wie am Beispiel der soeben zitierten Szene anklingt, mit dem er Jugendhofbesucher in Vlotho überraschte. Er sprach 1996 offen über seine skeptisch ambivalenten Eindrücke von einst in Westfalen: »Anfangs war ich oft unangenehm berührt über die Zahl der Leute, die in den Jugendhof kamen und erklärten, dass sie niemals Mitglieder der HJ, des BDM oder der NSDAP gewesen waren. Als ich daraufhin ein großes Hitlerbild fand, hängte ich es hinter meinen Schreibtisch … mit der Bildunterschrift: Ich war auch nie in der Partei. Danach verschwanden bei den meisten, die es gesehen hatten, gewöhnlich solche Hemmungen. Dabei war es mir wichtig, dass wir frühere HJ-Führer und BDM-Führerinnen ermutigten, zu unseren Seminaren zu kommen, und wir hatten einmal sogar ein Seminar mit einer Mehrzahl früherer Nazi-Jugendführer (einige von ihnen sehr hochrangige aus Internierungslagern) im Jahre 1948 … Meiner Meinung nach war dies einer der wichtigsten Kurse … Jeder sprach offen, ohne Angst vor Folgen darüber, was sie als gut und was sie als schlecht an den Methoden und der Weltanschauung der HJ fanden, und am Ende hatten wir alle ein besseres Verständnis untereinander als ›Menschen‹.«36

Bei allem Ernst der Herausforderungen witzig wirken nicht zuletzt manche Beiträge über britisch-deutschen Beziehungsgeschichten in der mehrfach genannten »British Zone Review«. Daran, Westfalen zu »besuchen«, habe die Mehrheit der Briten nach 1945 nicht im Traum gedacht, so ein »Beobachter«: »Westphalia was not in normal times a center of attraction for the British visitor to Germany. … I doubt if it was ever included in a Cook’s tour.«37 Ein Kreisoffizier, der seinen Alltag in essayistischer Form vorstellte, war sich sicher, dass es aussichtslos sei, Deutschen Cricket beizubringen, und beklagte, dass Deutsche in Unterredungen notorisch zu lange redeten. In Veranstaltungen erlebe er oft, dass die deutschen Jugendlichen steif wirkten und lange brauchten, bis sie auftauten.38 In einem anderen Zusammenhang hieß es, Deutsche neigten zum Selbstmitleid, seien oft wenig schuldeinsichtig, aber es gebe auch Manches zu bewundern, die Ordentlichkeit und Sauberkeit (»cleanliness and neatness«) und die Schönheit des deutschen Waldes, allerdings mit einer Einschränkung: »The magic of the German forest can be very beautiful. But I shall leave Sonnwendfeuer 35 36 37 38

Schürmann in: Peter: Bildung (Anm. 17), S. 23, 27. Spicer: Erinnerungen (Anm. 17), S. 51f. British Zone Review, 17. 08. 1946, S. 14. British Zone Review, 30. 12. 1947, S. 3.

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and its origin and come to more modern times.«39 Hinter diesen, wie soeben zitiert, hin und wieder lockeren Tönen konnte es keinen Zweifel daran geben, dass die Folgelasten aus Nationalsozialismus und Krieg erst in einem mehrere Generationen umfassenden Lernprozess zu überwinden waren.40

Barsbüttel und weitere Jugendhöfe Vlotho war nicht der einzige Ort, an dem nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur Jugendliche und junge Erwachsene mit zivilgesellschaftlichem westlichem Denken und Handeln in Berührung kamen. Es folgten im Mai 1947 der Jugendhof Barsbüttel bei Hamburg, ebenfalls 1947 der Jugendhof Steinbach in der Eifel und 1952 – also nicht mehr in der von den Alliierten unmittelbar beeinflussten Jugendpolitik – der Jugendhof Steinkimmen bei Oldenburg. Walter Thorun (1921–2010), langjährig in Hamburg in der Jugendarbeit tätig, nennt ferner die Jugendhöfe Rheinland bei Königswinter und Scheersberg in Schleswig-Holstein.41 Die Bezeichnung »Jugendhof« sei, so der Pädagoge HeinzHermann Schepp, der Steinkimmen in den Anfängen geleitet hatte, also Insider war, folgendermaßen zu erklären: Es handele sich um Jugendheime, die auf dem Lande gelegen seien, in denen Jugendgruppen den unterschiedlichsten Aktivitäten nachgingen. In der Jugendbewegung sei diese Vorstellung gängig gewesen.42 Auch einige Heime der Fürsorgeerziehung und Jugendstrafanstalten, in denen Heranwachsende unter erzieherischer Aufsicht lebten, trugen in der Zwischenkriegszeit die Bezeichnung »Jugendhof«.43 Der Jugendoffizier Colonel Allen Andrews fügte einem vertraulichen Brief an Victor Gollancz vom Oktober 1946 das Protokoll einer Besprechung der beiden mit einer Liste all der Handlungsfelder an, auf denen Brit*innen in der Jugendarbeit tätig waren, darunter »Kindergardens«, »Approved Schools«, Special Schools, »Guardianship Courts« und »Juvenile Courts«, was wohl mit »Jugendgerichten« zu übersetzen ist. Die Sorge, deutsche Jugendliche könnten infolge zerrütteter Familienverhältnisse »verwahrlosen« und kriminell werden, bildete eine maßgebliche Hintergrundfolie für 39 40 41 42

British Zone Review, 28. 06. 1947, S. 3. Vgl. Albertin: Jugendarbeit (Anm. 19). Thorun: Jugendhilfe (Anm. 22), S. 48. Arbeitsgemeinschaften, das Singen in kleinen Gruppen im Kreis u. a. mehr gehörten zu jugendbündischen Vergemeinschaftungs- und Stilformen, die bereits in den 1920er Jahren in die Jugendfürsorge und Erwachsenenbildung Eingang fanden und – nicht zuletzt durch die Mitwirkung einstiger Jugendbewegter – auch nach 1945 in die Jugendarbeit Eingang fanden; vgl. Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2014. 43 Heinz-Hermann Schepp: Offene Jugendarbeit, Jugendhöfe und Jugendgruppenleiterschulen in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim 1997, S. 13f.

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jugenderzieherische Initiativen. Ein vertiefender Blick in unterschiedliche Wahrnehmungsweisen von Gefährdungen weiblicher und männlicher Heranwachsender wäre zweifellos ebenso interessant wie die Frage nach erzieherischen Konzepten und Praktiken in der britischen, amerikanischen und französischen Zone.44 Erzieherisch – politisch und sozialpädagogisch – im weiteren Sinne sollten die Jugendhöfe in der Britischen Zone zweifellos wirken. Auch in Barsbüttel hieß es programmatisch, die Jugend suche »neue Lebenswerte und Lebensformen und ehrliche Jugendgemeinschaft« und solle dabei unterstützt werden, nicht zuletzt durch die Ausbildung von geeigneten Jugendleitern, die den damit verbundenen Herausforderungen gewachsen seien.45 Die Zielsetzung mag insgesamt gesehen eine ähnliche wie in Vlotho gewesen sein, allerdings unterschieden sich der Ort und die Anfänge der Arbeit dort nicht unerheblich von den Gegebenheiten in Vlotho. Das Anwesen in Barsbüttel hatte der Sohn eines Hamburger Industriellen zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut. In der NS-Zeit war dort eine Gauleiterschule untergebracht, 1945 diente es kurzzeitig als Kinderheim und wurde dann ab 1947 mit Unterstützung der Landesjugendämter Hamburgs, SchleswigHolsteins und Niedersachsens (Hannover) eine jugendpflegerische Einrichtung.46 Dort fand für einige Jahre vor allem der Musikpädagoge Fritz Jöde (1887– 1970) eine Wirkungsstätte, dessen Einfluss auf das Angebot des Jugendhofs Barsbüttel einer eigenen Untersuchung bedürfte.47

44 Summary of Discussions between Victor Gollancz and Lt. Col. A. Andrews, Education Branch, 14. Oct. 46. Modern Records Centre, University of Warwick Library, Coventry, CV4 7AL, United Kingdom MSS.157.3.GE.1.10.11i-ii, S. 2. Vgl. Martin Kalb: Coming of Age: Constructing and Controlling Youth in Munich, 1945–1973, New York 2016; Heike Paul, Katharina Gerund (Hg.): Die amerikanische Reeducation-Politik nach 1945. Interdisziplinäre Perspektiven auf »America’s Germany«, Bielefeld 2015; Jacqueline Plum: Französische Kulturpolitik in Deutschland 1945–1955. Jugendpolitik und internationale Begegnungen als Impulse für Demokratisierung und Verständigung, Wiesbaden 2007; Sabine Hering, Eva Gehltomholt: Das verwahrloste Mädchen. Diagnostik und Fürsorge in der Jugendhilfe zwischen Kriegsende und Reform (1945–1965), Berlin 2006; Alfons Kenkmann: Jugendliche »Arbeitsbummelanten« und die Akteure der sozialen Kontrolle gegen Ende des »Dritten Reichs« und während der Besatzungszeit, in: Burkhard Dietz, Ute Lange, Manfred Wahle (Hg.): Jugend zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, Bochum 1996, S. 273–287; Walter Rosenwald, Bernd Theis: Enttäuschung und Zuversicht. Zur Geschichte der Jugendarbeit in Hessen 1945–1955, München 1984. 45 Aus der Festrede zur feierlichen Eröffnung des Jugendhofes Barsbüttel, gehalten am 18. 05. 1947, zit. bei Schepp: Jugendarbeit (Anm. 43), S. 21. 46 Zu Details vgl. Carsten Walczok: Der Jugendhof in Barsbüttel. Ein Haus mit wechselvoller Geschichte, in: Jahrbuch für den Kreis Stormarn, 2003, 20, S. 27–50, bes. S. 37–43. Herbert Giffei, Gertrud Seydelmann, Rudolf Sieverts (Hg.): Der Jugendhof Barsbüttel 1947–1958, Hamburg 1959. 47 Vgl. »Archiv der Jugendmusikbewegung«, Bestand A 228 im AdJb.

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Die politisch-ideologischen Haltungen deutscher Jugendlicher waren für die britischen Erzieher*innen manchmal nur schwer einzuschätzen. Es galt, alles Militärische zu vermeiden, in Jugendgruppen dürften deshalb grundsätzlich keine Uniformen getragen und keine Tüchtigkeitsabzeichen verteilt werden.48 Eine »Ausbildungsschule« für künftige Jugendleiter*innen sei »eine Aufgabe höchster Dringlichkeit« und von deutscher Seite sei die Mitwirkung verpflichtend. Ein Problem bestand etwa in der Beurteilung von Jugendgruppen, die ansatzweise uniformiert erschienen, ein keineswegs sicheres Zeichen für das Nachwirken nationalsozialistischer Stilformen allerdings, denn auch die Pfadfinder z. B. trugen eine Kluft und standen in einer – wenngleich britisch-kolonialen – militärischen Tradition. Bedenken gegenüber deutschen Pfadfindertraditionen hatten die Briten bereits 1945 gegenüber dem Jugendamt in Hannover geäußert. Jeder Versuch, mit solchen Gründungen zu beginnen, könne nur in kleinem Maßstab erfolgen: »Die möglichen Führer müssen vorbereitet werden, um Unterricht über die Ideale und Praxis der Pfadfinder zu erhalten. Dieser Unterricht müsste in Zusammenarbeit mit der Internationalen Pfadfinderbewegung organisiert werden.«49 In diesem Zusammenhang kam einem »ScoutCongress« in Barsbüttel im Mai 1948 eine wichtige Rolle zu. Vertreter der Britischen Militärregierung und des internationalen Scout-Verbandes beschlossen bei dieser Zusammenkunft in Absprache mit deutschen Teilnehmern, Pfadfindergruppierungen wieder zuzulassen. Sie gaben zu verstehen, dass sie die Entwicklung kontrollieren bzw. unbedingt kritisch begleiten würden.50 Außer Vlotho, Barsbüttel bei Hamburg und Steinbach im Kreis Euskirchen entstanden weitere Einrichtungen mit anderen Bezeichnungen und vergleichbaren Profilen im britischen Einflussbereich, beispielsweise die »Jugendgruppenleiterschule Bündheim« bei Bad Harzburg oder das »Haus am Ruppenhorn – Jugendleiterschule in Berlin«.51

48 Schreiben Education Branch vom April 1948 an das Jugendamt Hamburg, Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb), A 204 Nr. 73. 49 Schreiben der Militärregierung an das Landesjugendamt Hannover vom 14. 11. 1945, AdJb, A 204 Nr. 73. 50 AdJb, A 204 Nr. 73: Abschrift des Berichts über den »Scout Congress« im Jugendhof Barsbüttel vom 4. bis 6. Mai 1948. Weiteres Material zu Barsbüttel: Staatsarchiv Hamburg: 135-1 VI_1598 Jugendhof Barsbüttel, 1950–1958), 622-1/235_69 Album Jugendhof Barsbüttel anlässlich der Eröffnungsfeier am 18. 05. 1947, 1947.05.18, 731-8_A 862 Jugendhof Barsbüttel (Zeitungsausschnittsammlung). 51 Schepp: Jugendarbeit (Anm. 43), S. 20, 26.

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Abb. 3: Gesprächsrunde in Barsbüttel, Foto: AdJb A 204 Nr. 73.

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Abb. 4: Colonel Allen Andrews in Barsbüttel, Foto: AdJb A 204 Nr. 73.

Abb. 5: Seminarwoche Barsbüttel, Januar 1949, Foto: AdJb A 228 Nr. 5259.

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Abb. 6: Seminarteilnehmer Barsbüttel, Januar 1949, Foto: AdJb A 228, Nr. 5260.

Abb. 7: Oberregierungsrat Hans Alfken52 spricht 1948 in Barsbüttel, Foto: AdJb A 204 Nr. 73.

52 Der Reformpädagoge Hans Alfken (1899–1994) war leitender Beamter im niedersächsischen Kultusministerium unter Adolf Grimme (1889–1963). Vgl. Hartmut Alphei: Wiederaufbau

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Nach der Aufhebung des Besatzungsstatus Mitte der 1950er Jahre nahm die Jugendhofgeschichte eine wechselvolle Entwicklung, die nicht mehr Gegenstand dieses Beitrags ist. Die Arbeit in Vlotho veränderte sich mit den sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen erfolgreich weiter. An Anfänge und Vorgeschichte erinnerte hier 1996 eine Ausstellung. Nachdem Barsbüttel 1958 seine Pforten geschlossen hatte, hielt ein Freundeskreis in einer Denkschrift bilanzierend fest, »das Haus Barsbüttel« habe mehr als eine Schulungs-, sondern ausdrücklich eine Begegnungsstätte sein wollen; es sei auch um »emotionale Erlebnisse« gegangen, »die zu einem großen Teil durch den Raum, durch die Geselligkeit, durch Musik und Kunst« entstünden.53 Helmut Schelsky, der im Zusammenhang mit seinen jugendsoziologischen Studien in Kontakt mit dem Jugendhof Barsbüttel gekommen war, sprach von einer »kultivierten« gastlichen Atmosphäre, die sich als fruchtbar erwiesen habe.54 Und Curt Bondy (1894– 1972), der, in Hamburg aufgewachsen, aufgrund seines jüdischen Familienhintergrunds ausgegrenzt und verfolgt, nach 1945 als Professur für Psychologie und Sozialpädagogik an der Universität Hamburg tätig war und sich besonders dem Leben Jugendlicher unter prekären Bedingungen widmete, sprach von Barsbüttel ausgesprochen positiv. Es gebe dort eine »Arbeits- und Lebensform«, die »keinesfalls anderswohin übertragen werden« könne und meinte damit eine besondere Atmosphäre der Offenheit und des gegenseitigen Respekts.55 Der Frage nach mehr oder weniger erfolgreichen, unter schwierigen Ausgangsbedingungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sich entwickelnden Orten zivilgesellschaftlich-demokratischen Lernens in den von den Westalliierten beeinflussten Teilregionen Deutschlands vertiefend nachzugehen, erscheint aus folgenden Gründen vielversprechend: Vergleichend ließen sich so Entwicklungen unter britischem, amerikanischen und französischen Einfluss genauer und Neuordnung der Lehrerbildung in Niedersachsen nach 1945. Ein Brückenschlag zurück in die Weimarer Republik, getragen von Menschen aus der Jugendbewegung der 1920er Jahre, in: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015, S. 327–342, hier S. 338; Levsen: Autorität (Anm. 6), S. 54f. 53 Giffei, Seydelmann, Sieverts (Hg.): Jugendhof (Anm. 46), S. 16; Thorun: Jugendhilfe (Anm. 22), S. 161–165. Die 1956/57 anstehende notwendige Grundrenovierung des Jugendhofs Barsbüttel erwies sich für die Träger, d. h. die Stadtstaaten Hamburg und Bremen sowie die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein als nicht finanzierbar. Außerdem erschien eine Neuorientierung in Arbeitsweise und Inhalten angebracht. 1958 wurde das »VictorGollancz-Haus« in Reinbek Fortbildungs- und Begegnungszentrum der Hansestadt Hamburg. Es handelt sich um eine 1900 erbaute Villa, die 2006 verkauft wurde und seitdem nur noch privat genutzt wird. 54 Giffei, Seydelmann, Sieverts (Hg.): Jugendhof (Anm. 46), S. 16, 28. 55 Ebd., S. 21. Zu Bondy vgl. Barbara Stambolis: Curt Bondy – Jugendpsychologie und Jugendsozialarbeit in Hamburg vor 1933 und nach 1945, in: dies. (Hg.): Flucht und Rückkehr. Deutsch-jüdische Lebenswege nach 1933, Gießen 2020, S. 173–194.

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untersuchen als dies bislang der Fall war. Nicht hinreichend beantwortet ist zudem die Frage danach, inwieweit sich Angebote für weibliche und männliche Jugendliche und junge Erwachsene unterschieden. Und nicht zuletzt ließen sich wohl anhand aufwändiger Netzwerk-Rekonstruktionen aufschlussreiche personelle und ideelle Kontinuitätslinien in der Jugendarbeit seit den 1920er Jahren bis in bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte ziehen. Es dürften sich Einblicke in jugendbewegte Vernetzungen ergeben und Verbindungen in die Jugendmusikbewegung ergeben.

Werkstatt

Aaron Glöggler

Selbstverständnis und Selbstdarstellung der vegetarischen Bewegung in Deutschland, 1918–1933. Eine Analyse anhand ausgewählter Zeitschriften und Flugblätter*

Das Thema Ernährung rückt in unserer Zeit immer mehr in den Fokus der Gesellschaft. Viele Menschen ernähren sich bewusster, haben sich eine gesündere, aber auch nachhaltigere Ernährungsweise zum Ziel gesetzt. Hand in Hand mit einer solchen Ernährung geht für viele Menschen eine fleischlose bzw. manchmal sogar gänzlich pflanzliche Ernährungsweise – also vegetarische oder vegane Essgewohnheiten. Zahlen aus dem Jahr 2019 belegen diese Entwicklung: Etwa zehn Prozent der Menschen in Deutschland ernährten sich vegetarisch und etwa zwei Prozent vegan.1 Laut der Tierschutzorganisation PETA gibt es zahlreiche Gründe für eine solche Ernährungsweise. Diese reichen von Umweltproblemen, effizienterer Essensproduktion und gesundheitlichen Aspekten bis hin zu moralischen Gründen.2 Diese Zugänge zu einer pflanzlicheren Ernährung unterscheiden sich kaum von denen vor über 100 Jahren. Als Teilgruppierung der Lebensreformbewegung bildete sich im späten 19. Jahrhundert die Vegetarismusbewegung heraus, die sich zunehmend in Vereinen organisierte. Diese Vereine veröffentlichten in regelmäßigen Abständen Zeitschriften, in denen sie sich zu verschiedenen Themen der Bewegung äußerten. Hervorzuheben ist hierbei die Vegetarische Warte, die vom Deutschen Vegetarierbund herausgegeben wurde. Sie war vom Umfang her das größte Zeitungsorgan. Darüber hinaus gab es kleinere, meist regionale Zeitschriften, z. B. in Sachsen den Vegetarierboten, der vom Sächsischen Vegetarierverband publiziert wurde. Aus der Analyse verschiedener Zeitschriften, die unterschiedliche Akteure und Vereine der Bewegung publizierten, ergeben sich drei Themenschwerpunkte. * Der vorliegende Beitrag basiert auf meiner Staatsexamensarbeit zur Vegetarismusbewegung (1900–1918) aus dem Jahr 2021. 1 ProVeg: Vegan–Trend: Zahlen und Fakten zum Veggie–Markt, verfügbar unter: https://proveg. com/de/pflanzlicher-lebensstil/vegan-trend-zahlen-und-fakten-zum-veggie-markt/ [01. 04. 2023]. 2 PETA Deutschland e.V.: Einfach. Bewusst. Leben, 18. 03. 2016, verfügbar unter: https://www.yo utube.com/watch?v=qxrmosy1jCY [01. 04. 2023].

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In der Frühphase der Herausbildung der Vegetarismusbewegung stand vor allem der gesundheitliche Ansatz im Vordergrund. Anhänger des Vegetarismus sahen im Fleischkonsum ein großes Gesundheitsrisiko. Die Enthaltsamkeit vom Fleisch könne demnach nicht nur Krankheiten verhindern, sondern sie gar heilen.3 Bis zum Ersten Weltkrieg setzten sich zahlreiche Artikel mit dieser Thematik auseinander. Im Laufe der Zeit, vor allem beginnend seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, gewannen jedoch andere Ansätze an Bedeutung. Ein solcher Ansatz war der ökonomische oder volkswirtschaftliche. Die Publikationen der Kriegsjahre lassen eine klare Schwerpunktverschiebung hin zu diesem Zugang erkennen. Die Vegetarier*innen sahen sich als Retter gegen die Kriegssorgen Deutschlands. Die Mangelwirtschaft der Kriegszeit hatte aus ihrer Sicht einen Grund: den Fleischkonsum. Die Verfütterung von Getreide und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen an Tiere sei unwirtschaftlich, es würden dabei große Mengen an Nahrung für den Menschen verschwendet.4 Präzise rechneten sie vor, wie groß dieser Verlust sei. So erläuterte ein Artikel aus dem Jahr 1915, dass man im Vergleich zum direkten Konsum des Getreides die fünffache Menge des Getreides brauche, um Schweinefleisch zu erzeugen. Weitere Artikel schlagen in dieselbe Kerbe und tragen vergleichbare Zahlen vor.5 Die Vegetarier*innen präsentierten folglich den Vegetarismus als Lösung, der für die deutschen Kriegsanstrengungen unumgänglich sei. Nach der Kriegsniederlage verlor dieser Ansatz an Bedeutung. Vegetarische Zeitschriften brachten kaum noch auf diesen Schwerpunkt fokussierte Texte. Den beiden Zugängen »gesundheitlich« und »volkswirtschaftlich« ist ihre pragmatische Ausrichtung gemeinsam. Vor dem Krieg sahen sich die Vegetarier*innen v. a. als gesundheitliche Experten, die versprachen Krankheiten mithilfe der vegetarischen Ernährung zu heilen und ihnen vorzubeugen. Sie griffen damit die negativen Auswirkungen der Industrialisierung auf, wie überfüllte Großstädte mit engen Wohnungen und schlechter Hygiene, die eine Distanzierung von Mensch und Natur mit sich brachte. Mit einer Rückkehr zur vegetarischen 3 Zahlreiche Artikel in vegetarischen Zeitschriften setzen sich mit dieser These auseinander, u. a. Gustav Steiner: Ueber Heilung, in: Vegetarische Warte (künftig abgekürzt VW), 1920, Jg. 53, S.137–139; Gustav Riedlin: Regenerationskuren zu Hause, in: VW, 1922, Jg. 55, S. 95; A. Nordwall: Die Sektion eines Vegetarier*innenleichnams, in: VW, 1922, Jg. 55, S. 145; Otto Buchinger: Geistesarbeiter und Fleischnahrung, in: VW, 1923, Jg. 56, S. 1; Schwake: Des Menschen Heil – letzte Konsequenzen, in: VW, 1926, Jg. 59, S. 47 ; o. A.: Krankenkost – ein Heilfaktor, in: VG, 1926, Jg. 59, S. 110; A. Lange: Anregungsrausch und Enthaltsamkeitserscheinungen, in: VG, 1928, Jg. 61, S. 12. 4 Vgl. u. a.: Walter Hammer: Wie schädigt der Krieg uns Vegetarier?, in: VW, 1915, Jg. 48, S. 48; Friedrich Gutmann: Der mahnende Indianerhäuptling, in: ebd., S. 62f.; R. Br.: Zeit–und Streitfragen, in: Vegetarier-Bote, 1917, Nr. 8, S. 31. 5 Vgl. u. a. o. A.: Zur Kriegsbrotfrage, in: VW, 1915, Jg. 48, S. 144 und Lothar Meyer: Grundsätzliches zur Frage der viehlosen Landwirtschaft, in: VW, 1917, Jg. 50, S. 13.

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Ernährung könne diese Distanz überbrückt werden und eine krankheitsbefreite Gesellschaft entstehen. Im Krieg sahen sich die Vegetarier*innen, wie erläutert, vor allem als Ökonomen, die die Kriegsernährung sicherstellen würden. Trotz dieser – aus Sicht der Vegetarier*innen – auf der Hand liegenden Lösungen fanden sie wenig Gehör. Sie blieben gesamtgesellschaftlich eine kleine Gruppe mit wenigen Mitgliedern. Nach dem Krieg rückte ein ethischer Ansatz in den Vordergrund, der auch von religiösen Vorstellungen geprägt war. Zwar war er auch in den Jahren zuvor wiederkehrend in Publikationen zu finden; schließlich glaubten viele Akteure der Bewegung, dass das Töten von Tieren moralisch falsch sei, doch überwogen damals die beiden zuvor beschriebenen Ansätze. Die Annahme liegt nahe, dass die Vegetarier*innen sich bezüglich ihrer bisherigen Leistungen und Ideen zunehmend ignoriert und übergangen fühlten. Daher wandten sie sich in der Folge einem ethischen Ansatz zu. In den Artikeln der Nachkriegszeit fällt auf, dass darin häufiger als zuvor Nicht-Vegetarier*innen verunglimpft und verurteilt werden. Argumente, um Andersdenkende zu überzeugen, findet man hingegen kaum. Man kann daher durchaus von einer Radikalisierung der Gedanken sprechen. Die Ideenwelt der Vegetarier*innen trennte sich zunehmend von der Mehrheit der Gesellschaft. Stattdessen intensivierten sich interne Debatten um das Verständnis des Vegetarismus. Eine zentrale Frage bestand darin zu klären, was Vegetarier*innen essen dürfen. Reichte es, dem Fleisch zu entsagen oder musste man auch Milch, Eier und Honig vom Teller verbannen? Das zweite Thema betraf die Selbstbenennung. War jemand, der aus gesundheitlichen Gründen fleischlos lebte, in demselben Sinne Vegetarier*in wie ein ethisch motivierter Anhänger? Darüber hinaus finden sich zahlreiche Herleitungen aus der Bibel, um zu zeigen, dass bereits dort der Fleischkonsum verurteilt wurde. Diese ideologische Aufladung der Ernährung lässt sich als Reaktion auf das fehlende Aufgreifen der vegetarischen Ideen in der Mehrheitsgesellschaft lesen. Bereits vor 1933 verstärkten sich in vielen Vegetarismus-Zeitschriften nationalsozialistische Positionen. Einige Artikel verbreiteten die These, dass »die Juden« der Grund des Fleischkonsums seien. So wurde die Behauptung aufgestellt, dass durch den Einfluss »der Juden« viele Menschen nicht erkennen würden, »daß das Wesentliche […] im Tiere und im Menschen dasselbe ist«.6 »Die Juden« würden also »die Christen« zum Fleischkonsum verleiten. Diese Ansichten gipfelten im Januar 1933 in Artikeln in verschiedenen Zeitschriften, die sich äußerst

6 O. A.: Arthur Schopenhauer. Pressschrift über die Grundlage der Moral, in: VW, 1931, Jg. 64, S. 122f.

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positiv über die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler äußerten.7 Sie sahen in Hitler einen Vertreter der vegetarischen Bewegung, in den sie die Hoffnung setzten, Ziele der Bewegung umzusetzen.

7 Kurz angemerkt werden soll aber, dass sich die Forschung recht einig ist, dass Hitler kein Vegetarier war.

Florian Metzger

Kolonial und Rechtsradikal. Wilhelm Arning und die Schüler der Deutschen Kolonialschule am Ende der Weimarer Republik

»Als ich einmal in Gegenwart eines sehr gut deutsch gewordenen Nachkommen eines bei uns seit 100 Jahren heimisch gewordenen portugiesischen Adelsgeschlechtes davon sprach, daß die Portugiesen in Afrika nicht den blonden Europäern gleichgeachtet, sondern als ›Wilde von Europa‹ (waschensi wa uleia) bezeichnet würden, schnappte er hörbar ein, und wurde traurig; er tröstete sich aber sofort, als ich ihm sagte, daß er trotz seines fremd klingenden Namens als altadeliger Lusitanier unzweifelhaft deutschen Stammes sei.«1 Diese kuriose Anekdote über die germanische Herkunft des portugiesischen Adels findet sich in einer Vorlesung über »Rasse und Kultur«, gehalten im Wintersemester 1929/30 an der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen. Der Dozent war Wilhelm Arning, ein promovierter Augenarzt, ehemaliger Sanitätsoffizier der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika und seit Januar 1928 Direktor der Kolonialschule.2 Seine Anekdote ordnet sich ein in eine seitenlange, chronologisch nur grob geordnete Liste aus römisch-deutschen Kaisern, italienischen Päpsten und englischen Rittern, die vor allem eines zeigen sollte: »Fast alle Spitzenleistungen, die wir bei den anderen finden, sind nachweislich auf Menschen nordischen und nun mehr germanischen Blutes zurückzuführen.«3 Die Passage zeugt von der Lehrtätigkeit eines Mannes, der im Deutschen Kaiserreich sozialisiert, im Kolonialdienst geprägt und in der Weimarer Republik mit der Ausbildung junger Menschen betraut wurde.4 Arning war der zweite Direktor der Kolonialschule, einer seit 1898 bestehenden Lehranstalt, die sich auf die Ausbildung von Siedlern und Landwirten für die Tropen und Subtropen 1 Wilhelm Arning: Vorlesungsaufzeichnungen »Rasse und Kultur« (Wintersemester 1929/30), in: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB), Cod. Ms. W. Arning 8:1, S. 241. 2 Karsten Linne: Von Witzenhausen in die Welt. Ausbildung und Arbeit von Tropenlandwirten 1898 bis 1971, Göttingen 2017, S. 120f.; Bernhard Mann, Biographisches Handbuch für das preussische Abgeordnetenhaus 1867–1918, Düsseldorf 1988, S. 38f. 3 Arning: Rasse (Anm. 1), S. 237. 4 Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 121.

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spezialisiert hatte – ursprünglich zur Erschließung der deutschen Kolonien, nach dem verlorenen Weltkrieg zur »Stärkung unserer Volkssplitter« im Ausland.5 Arning stand in dieser Hinsicht für Kontinuität,6 neu war aber die rassentheoretische Ausrichtung seiner Vorlesungen.7 Gleichzeitig fiel sein Direktorat (1928– 1934) mit den letzten Jahren der Weimarer Republik und dem Aufstieg des Nationalsozialismus zusammen.8 Wie in anderen Städten kam es auch in Witzenhausen zu einer Zunahme der politischen Gewalt in Form von Zusammenstößen zwischen Anhängern der KPD und der NSDAP/SA, die vor allem für das Jahr 1932 gut dokumentiert sind.9 Das Besondere an der Konstellation vor Ort waren die Kolonialschüler, die offenbar einen großen Anteil der lokalen SA-Leute stellten: Ein Beispiel für diese Verbindung war der Überfall auf den jüdischen Jugendbund Brith Ha’olim im August 1931, für den sich später 13 junge Männer vor Gericht verantworten mussten – zehn von ihnen waren Kolonialschüler, und die meisten zugleich Mitglieder der NSDAP/SA.10 Das sozialdemokratische »Kasseler Volksblatt«, das den Prozess von Anfang an beobachtete, äußerte daher schon früh den Verdacht, dass es sich bei dieser staatlich subventionierten Privatschule in Wirklichkeit um eine »Nazizelle«,11 und bei den angeklagten Schülern um ein »rechtes Produkt HitlerischRöhmischer Jugenderziehung!« handeln müsse.12 Wie ist dieses zeitgenössische Urteil einzuordnen? Gab es einen Zusammenhang zwischen der Lehre Wilhelm Arnings und der Gewalt seiner Schüler? In der regionalgeschichtlichen Forschung fallen die Einschätzungen sehr unterschiedlich aus: Für Herbert Reyer stand 1983 fest, dass der »nationalistische Geist« der Kolonialschule den »idealen Nährboden« für die Entstehung einer SAAbteilung aus den Reihen der Kolonialschüler und den Aufstieg der NSDAP in 5 E. A. Fabarius, Die Bedeutung der Deutschen Kolonialschule als Hochschule für das Deutschtum im Auslande, in: Der Deutsche Kulturpionier (DKP), 1921, Nr. 21, H. 1, S. 1–14, hier S. 12; vgl. Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 25ff. und S. 121ff. 6 Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 123. 7 Lehrbetrieb, in: DKP, 1929, Nr. 29, S. 9; vgl. Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 131ff. und S. 233. 8 Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 121. 9 Herbert Reyer: Vom »Entscheidungsjahr« 1932 bis zu den Anfängen der nationalsozialistischen Herrschaft in Witzenhausen 1933/34, in: Artur Künzel (Hg.): Witzenhausen und Umgebung. Beiträge zur Geschichte und Naturkunde, Witzenhausen 1983, S. 77–130, hier S. 90–100; vgl. Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 1918–1933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001, S. 306–329. 10 Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 174; vgl. Werner Troßbach: Der Überfall auf den Brith Ha’olim / Jungjüdischer Wanderbund in Wendershausen am 4./5. August 1931, in: Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 11|2015), Göttingen 2015, S. 227–251. 11 Der Nazi-Ueberfall in Wendershausen, in: Kasseler Volksblatt, 1931, in: Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStM), 274 Kassel, Nr. 957/4, Bl. 1097. 12 Provinz und Nachbargebiet. Die Nazirohheit in Wendershausen, in: Kasseler Volksblatt, 1932, in: HStM, 274 Kassel, Nr. 957/4, Bl. 1144.

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Witzenhausen bot.13 Eckhard Baum sah dagegen keinen Zusammenhang zwischen der Radikalisierung der Schülerschaft und dem »konservativen Kurs« Wilhelm Arnings am Ende der Weimarer Republik, und verwies vor allem auf die programmatischen Differenzen, die zwischen der kolonialrevisionistischen, auf überseeische Gebiete gerichteten Zielsetzung der Kolonialschule und den nationalsozialistischen Expansionsplänen in Europa bestanden.14 Werner Troßbach wiederum kam in seinem Beitrag zum »Überfall auf den Brith Ha’olim« (2015) zu der Auffassung, dass Wilhelm Arning »von seiner Gesinnung her« als Teil der »Gewaltgemeinschaft« zu begreifen sei, da er den antisemitischen Angriff seiner Schüler massiv verharmloste und auch selbst antisemitische und rassistische Positionen vertrat.15 Bei aller Plausibilität dieser Argumente ist festzuhalten, dass über den eigentlichen Unterricht an der Kolonialschule – also die Vermittlung von Informationen, Werten und Weltanschauungen – immer noch wenig bekannt ist. Karsten Linne hat zuletzt eine sehr umfassende Monographie zu der »Ausbildung und Arbeit von Tropenlandwirten 1898 bis 1971« (2017) vorgelegt, in der er die Geschichte der Schule, den Alltag der Schüler und die Lebenswege der Absolventen thematisiert. Linne kann dabei zum einen feststellen, dass die Kolonialschule ein »Haus der Regeln« war,16 in dem alle Lebensbereiche durch strikte Haus- und Verhaltensordnungen strukturiert wurden;17 und er kann zum anderen den »Eigen-Sinn« der Schüler aufzeigen,18 die diese Regeln immer wieder brachen.19 In dieser Darstellung spielt der Unterricht an sich aber keine wesentliche Rolle, auch wenn Linne grundlegende Informationen über die allgemeinen Ausbildungsziele,20 die Dozenten und Semesterpläne zusammenstellt.21 Die Frage nach den Lehrinhalten bleibt damit offen.22 Meine Arbeit setzt an diesem Punkt an und stellt die Vorlesungen Wilhelm Arnings in den letzten Jahren der Weimarer Republik in den Mittelpunkt, um einen ersten Einblick in den Unterricht der Kolonialschule zu gewinnen. Als Quellenbasis dient Arnings Nachlass in der Niedersächsischen Staats- und 13 Reyer: »Entscheidungsjahr« (Anm. 9), S. 103f. 14 Eckhard Baum: Daheim und überm Meer. Von der Deutschen Kolonialschule zum Deutschen Institut für Tropische und Subtropische Landwirtschaft in Witzenhausen, Witzenhausen 1997, S. 113. 15 Troßbach: Überfall (Anm. 10), S. 248 in Anlehnung an Winfried Speitkamp (Hg.): Gewaltgemeinschaften. Von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert, Göttingen 2013. 16 Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 40. 17 Ebd., S. 125ff. 18 Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 510 in Anlehnung an Alf Lüdtke: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. 19 Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 146–152. 20 Ebd., S. 121–125. 21 Ebd., S. 131–136. 22 Ebd., S. 507.

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Universitätsbibliothek in Göttingen: Darin enthalten sind insgesamt 14 Manuskripte, angefertigt zwischen 1928 und 1934, die seinen Lehrveranstaltungen zu Kolonialgeschichte und Kolonialpolitik, Kolonialwirtschaft und Rassenkunde zugeordnet werden können.23 Der Umfang variiert erheblich, manche Manuskripte bestehen nur aus wenigen Dutzend, andere wiederum aus bis zu 445 hand- und maschinenschriftlichen Seiten. Charakteristisch sind vor allem die häufigen Streichungen und Ergänzungen, Anmerkungen und Hervorhebungen, die von einer mehrmaligen Nutzung und ständigen Überarbeitung zeugen. Zwischen den ausformulierten Texten finden sich auch immer wieder textvorbereitende Materialien, z. B. Exzerpte, Zeitungsausschnitte, Tabellen und Notizen. Was Arning tatsächlich im Hörsaal gelesen haben mag, ist daher nicht immer leicht zu rekonstruieren; gut nachzuvollziehen ist dagegen die Arbeit, die nötig war, um eine Vorlesung zu produzieren. Durch regelmäßige Vermerke (»bis hierher 5/5 33«24) lassen sich die jeweiligen Abschnitte einer Sitzung zuordnen bzw. per Umkehrschluss auch als vorbereitet, aber ungelesen klassifizieren. Die Vorlesungsmanuskripte repräsentieren nicht unbedingt das, was die Schüler aus dem Hörsaal mitgenommen haben, sondern in erster Linie das, was Arning ihnen beibringen wollte. In dieser Hinsicht ist die exemplarische Analyse von drei aufeinander folgenden Unterrichtseinheiten im Wintersemester 1929/30 (»Rasse und Kultur«), im Sommersemester 1930 und im Wintersemester 1930/31 ( jeweils »Allgemeine Kolonialpolitik«) aber aufschlussreich: Auf jeden Fall eröffnen sie einen Blick auf die Evolution des Menschen,25 die europäische Geschichte von der Urzeit bis in die Gegenwart,26 die indische Unabhängigkeitsbewegung,27 die Migrationspolitik der Vereinigten Staaten,28 die Außenpolitik des faschistischen Italien29 und die ersten Wahlerfolge der NSDAP,30 kurz: die Welt der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, gespiegelt in den Erklärungen eines deutschnationalen Kolonialpolitikers und vermittelt an junge Menschen, die aus der ganzen Republik nach Witzenhausen kamen.31 Der Unterricht an der Deutschen Kolonialschule war ausgesprochen breit angelegt und sah keine vertiefende Behandlung einzelner Themen und auch

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Lehrbetrieb (Anm. 7), S. 9. Arning: Rasse (Anm. 1), S. 56. Ebd., S. 81–124. Ebd., S. 154–272. Wilhelm Arning: Vorlesungsaufzeichnungen »Allgemeine Kolonialpolitik« (Wintersemester 1930/31), in: SUB, Cod. Ms. W. Arning 7:6, S. 166, (künftig: Kolonialpolitik II (Anm. 27)). Ebd., S. 108ff. Wilhelm Arning: Vorlesungsaufzeichnungen »Allgemeine Kolonialpolitik« (Sommersemester 1930), in: SUB, Cod. Ms. W. Arning 7:5, S. 68–82, (künftig: Kolonialpolitik I (Anm. 29)). Arning: Kolonialpolitik II (Anm. 27), o. pag. [25. 10. 1930]. Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 145.

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keine Diskussionen in Form eines Seminars vor.32 Dementsprechend waren auch Arnings Ausführungen eher oberflächlich und sollten sicher kein wissenschaftliches Fachwissen, sondern einen allgemeinbildenden Überblick der politischen Verhältnisse vermitteln. Die Perspektive war dabei bemerkenswert global, auch wenn der Bezug zu den tatsächlichen oder vermeintlichen Problemen des Deutschen Reiches stets deutlich wurde: So nahm Arning etwa den Einfluss der Vereinigten Staaten auf die Republik Haiti als Beispiel für die »Oberherrschaft der Amerikaner« in der Karibik, und zog eine Parallele zu Seymour Parker Gilbert, dem amerikanischen Beauftragten für die Abwicklung der deutschen Reparationen nach dem Ersten Weltkrieg.33 Überhaupt machte Arning seine weltanschaulichen und politischen Überzeugungen sehr deutlich: Die Weltgeschichte lehrte er als eine Geschichte andauernder Rassenkämpfe und führte praktisch alle »Kulturtaten« der Antike auf das biologische Potential der »nordischen Rasse« zurück.34 Die gewaltsame Revision des Versailler Vertrages stand für ihn außer Frage,35 den »Endkampf um die Grossräume der Erde« hielt er für unvermeidlich,36 und die Suche nach einem »Lebensraum der Zukunft« hatte für ihn oberste Priorität, begründet in der Übervölkerung des Deutschen Reichs.37 Der Fluchtpunkt seiner Geopolitik war immer Afrika, das er als »ausschliessliches Kolonialland« Europas betrachtete.38 Diese Gedanken waren keineswegs originell, sondern stellten im Wesentlichen eine Kombination aus den populären Rassentheorien Hans F. K. Günthers39 und den geopolitischen Konzepten Karl Haushofers dar.40 Allerdings zeigt sich hier, dass die Vorlesungen in Witzenhausen durchaus auf der Höhe der Zeit waren – jedenfalls was die revisionistischen und rassenhygienischen Diskurse der Weimarer Republik angingen.41 Charakteristisch war nicht so sehr der nostalgische 32 Ebd., S. 130ff. 33 Arning: Kolonialpolitik II (Anm. 27), S. 107; vgl. Egbert Klautke: Unbegrenzte Möglichkeiten. »Amerikanisierung« in Deutschland und Frankreich (1900–1933), Wiesbaden 2003, S. 164. 34 Arning: Rasse (Anm. 1), S. 166; vgl. Ingo Wiwjorra: »Ex oriente lux« – »Ex septentrione lux«. Über den Widerstreit zweier Identitätsmythen, in: Achim Leube (Hg.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933–1945, Heidelberg 2002, S. 73–106. 35 Arning: Kolonialpolitik II (Anm. 27), S. 55. 36 Ebd., S. 105. 37 Arning: Kolonialpolitik I (Anm. 29), S. 109; vgl. Ulrike Jureit: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012, S. 250–286. 38 Arning: Kolonialpolitik II (Anm. 27), S 169. 39 Arning: Rasse (Anm. 1), S. 150; vgl. Thomas Etzemüller: Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen. Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt, Bielefeld 2015, S. 140ff.; vgl. auch Stefan Breuer: Die Nordische Bewegung in der Weimarer Republik, Wiesbaden 2018. 40 Arning: Kolonialpolitik I (Anm. 29), S. 107; vgl. Jureit: Ordnen (Anm. 37), S. 250ff. 41 Arning; Rasse (Anm. 1), S. 273–346; vgl. Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 275ff.

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Bezug auf die verlorenen Kolonien, sondern vielmehr der Blick in eine bedrohliche Zukunft.42 Unter diesem Gesichtspunkt diskutierte Arning aktuelle Deutungsangebote und Lösungsvorschläge, wobei die Spanne von Aristide Briands »L’organisation d’un régime d’union fédérale européenne« (1930)43 über Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« (1918)44 bis hin zu Richard Walther Darrés »Neuadel aus Blut und Boden« (1930) reichte.45 Insgesamt vermittelte Wilhelm Arning zweifellos ein geschlossen rechtsradikales Weltbild. Aber erklärt das auch die Gewalt seiner Schüler? In der jüngeren Gewaltforschung ist diese Herleitung umstritten: »Ideen töten nicht, und sie erklären nichts, sie sind nichts weiter als eine Legitimation der Gewalt«, so etwa Jörg Baberowski.46 Dagegen hat Winfried Speitkamp eingewendet, dass die Ideologie einer Tätergruppe durchaus auch handlungsleitend sein kann, wenn es um die Auswahl der Menschen geht, die zum Ziel der Gewalt gemacht werden.47 Allerdings blieb Arning in dieser Hinsicht vage: Er schwor seine Schüler auf den »Endkampf um die Grossräume der Erde« ein,48 nicht auf den Kampf um den öffentlichen Raum der Republik;49 er erklärte ihnen ausführlich die Überlegenheit der »nordischen Rasse«,50 forderte sie aber nie zur Gewalt gegen andere Menschen auf. Hier ist also keine direkte Verbindung zu sehen, auch wenn sich die SA-Männer unter seinen Hörern sicherlich bestätigt fühlen durften, als er den ersten größeren Erfolg der NSDAP bei einer Reichstagswahl (1930) als Votum der deutschen »Jugend« begrüßte, »die nicht für sich und ihr[e] Kindeskinder nichts tun will als nur Frondienst dem Feinde [zu] leisten.«51 Die Beziehung zwischen den Vorlesungen Wilhelm Arnings und den Handlungen seiner Schüler geht nicht in einem einfachen Kausalzusammenhang auf. In Kombination mit den Schülerakten dieser Zeit ergibt sich eher das Bild einer 42 Arning: Kolonialpolitik II (Anm. 27), S. 159–169. 43 Ebd., S. 29; vgl. Thorsten Eitz: Europapolitik in der Weimarer Republik, in: Thorsten Eitz, Isabelle Engelhardt (Hg.): Diskursgeschichte der Weimarer Republik, Hildesheim 2015, S. 326–363. 44 Arning: Rasse (Anm. 1), S. 148; vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 487f. 45 Arning: Rasse (Anm. 1), S. 279; vgl. Horst Gies: Richard Walther Darré. Der »Reichsbauernführer«, die nationalsozialistische »Blut und Boden«-Ideologie und Hitlers Machteroberung, Köln 2019, S. 214ff. 46 Jörg Baberowski: Räume der Gewalt, Frankfurt a. M. 2015, S. 178. 47 Winfried Speitkamp: Gewaltgemeinschaften in der Geschichte. Eine Einleitung, in: Winfried Speitkamp (Hg.): Gewaltgemeinschaften in der Geschichte. Entstehung, Kohäsionskraft und Zerfall, Göttingen 2017, S. 11–39, hier S. 16f. 48 Arning: Kolonialpolitik I (Anm. 29), S. 109. 49 Vgl. Schumann: Gewalt (Anm. 9), S. 359. 50 Arning: Rasse (Anm. 1), S. 158ff. 51 Arning: Kolonialpolitik II (Anm. 27), o. pag. [25. 10. 1930]; vgl. Herbert: Geschichte (Anm. 41), S. 285.

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Schulgemeinschaft, in der verschiedene Positionen der radikalen Rechten vermittelt und mobilisiert, aber auch Raum für jeweils eigene Interpretationen und Schlussfolgerungen geboten wurden. Dass die Grundhaltung dabei oft wichtiger war als eine formale Parteimitgliedschaft, zeigt der Brief eines Schülers, der Anfang 1930 mit der Verbreitung von NS-Plakaten aufgefallen war, und auf Druck des liberalen Regierungspräsidenten Ferdinand Friedensburg von der Kolonialschule gehen sollte: »Der Direktor war sehr liebenswürdig, ebenso die Dozenten, die alle, auch der Direktor, Nazis sind; alle sagten mir ihre Unterstützung zu.«52 Dieses komplizenhafte Verhältnis zwischen Schulleitung und Schülerschaft, das zumindest in der Wahrnehmung einiger Schüler bestand, mag auch die Bereitschaft zur Gewalt begünstigt haben und wäre insofern als »imaginierte Gewaltgemeinschaft«53 aufzufassen. Zu bemerken sind allerdings auch die Episoden, in denen sich die Schülerschaft nicht hinreichend unterstützt sah: So kam es etwa nach dem Ausschluss eines Schülers, der auf offener Straße eine jüdische Frau beleidigt hatte, zu einem Streik der Schülerschaft im März 1932.54 Zwar finden sich in Arnings Vorlesungen durchaus auch antisemitische Ressentiments,55 allerdings scheint ihn die vulgäre Art des betreffenden Schülers, der seiner Meinung nach »wegen eines derartigen Verhaltens einer Frau [!] gegenüber […] Prügel verdient hätte«, ehrlich empört zu haben.56 Die Schülerschaft war ihrerseits nicht gewillt, selbst diese Grenzen zu akzeptieren, und verweigerte aus Solidarität mit dem ausgeschlossenen Nationalsozialisten die Arbeit. Unterstützung erhielt sie dabei von Roland Freisler, zu diesem Zeitpunkt Stadtverordneter der NSDAP in Kassel, sowie von der NS-Zeitung »Hessische Volkswacht«.57 In diesem Kontext erscheint Arning nicht als Autorität, die einen besonderen Einfluss auf das Denken und Handeln seiner Schüler hat, sondern als ratloser Akteur, der von dem zunehmenden Selbstbewusstsein und der Agitation der Nationalsozialisten überfordert war. In einem Schreiben an Ministerialdirektor Bruno Dammann, der ein Förderer der Schule im Reichsministerium des Inneren war,58 beklagte er die aufgeheizte politische Stimmung und den ungewollten Bruch mit der Schülerschaft: »Ich bemühe mich dauernd, allen Dingen die po52 Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 170; Zitat ebd. 53 Speitkamp: Gewaltgemeinschaften (Anm. 47), S. 27; vgl. ebd., S. 33. 54 Vorstand der Deutschen Studentenschaft der Kolonialhochschule an Wilhelm Arning, 18. 03. 1932, in: Archiv des Deutschen Instituts für Tropische und Subtropische Landwirtschaft (DITSL), Schülerakte (SchA) Friedrich Sorge; vgl. Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 168. 55 Arning: Rasse (Anm. 1), S. 211; vgl. ebd., S. 305ff. 56 Gedächtnisprotokoll Wilhelm Arning, Witzenhausen 15. 03. 1932, in: DITSL, SchA Sorge. 57 Wilhelm Arning an Ministerialdirektor Dammann, 21. 03. 1932, in: ebd. 58 Linne: Witzenhausen (Anm. 2), S. 171.

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litische Spitze zu nehmen; aber wenn die in den Anlagen behandelte Sache […] nicht gehemmt würde, dann könnte die Lage wohl bald so sein, dass Herr Dr. Freisler mit den Nationalsozialisten der Anstalt hier die Direktion führte. Nach Lage der Dinge aber glaubte ich nicht alles durchgehen lassen zu dürfen; man hätte wohl noch nachdrücklicher vorgehen können, als der Streik gemacht wurde, und Stimmen im Dozentenkollegium rieten mir dazu. Mir war es aber so schon genug, und die Vorfälle gehen mir innerlich näher, als ich äusserlich zeige. Gerade beim 4. Semester waren viele nette Leute, die ich gern hatte, und die ich jetzt entsprechend der Sachlage behandeln muß.«59 Bei allen Gemeinsamkeiten waren die Beziehungen zwischen Wilhelm Arning und den Schülern der Kolonialschule durchaus wechselhaft, zugleich wird hier auch die emotionale Dimension der Schulgemeinschaft sichtbar. Insgesamt zeigen sich in Witzenhausen die Verbindungen, Diskurse und Konflikte eines rechtsradikalen Milieus, das zwar von Arning geprägt wurde, aber auch eine eigene Dynamik entwickelte.60

59 Arning an Dammann (Anm. 57). 60 Vgl. Herbert: Geschichte (Anm. 41), S. 270f.

Max-Ferdinand Zeterberg

Pädagogische Diskurse im evangelischen Pfadfinden 1962–1976

Die 1960er- und 1970er-Jahre des 20. Jahrhunderts prägen die (west)deutschen Jugendverbände bis heute. Auf inhaltlicher Ebene verdeutlichen zwei Daten den Wandel, den die Jugendverbände in diesem Zeitraum durchlaufen haben: zum einen die Erklärung von St. Martin im Jahr 1962, mit der der Deutsche Bundesjugendring den Prozess der »Vergesellschaftung«1 abschloss und zum anderen die Zuwendung zu einer gesellschaftskritischen Jugendarbeit unter dem Eindruck der Protestbewegungen um 1968.2 In der Pfadfinder*innenbewegung drückten sich diese Neuausrichtungen auch in organisatorischen Veränderungen aus: Vom Bund Deutscher Pfadfinder spalteten sich im Laufe der 1960er-Jahre die Gruppen ab, die die »Liberalisierung«3 nicht mittragen wollten. 1971 zerbrach der Verband an der Frage der Politisierung endgültig.4 Etwas später, zum 1. Januar 1973, fusionierten die drei Verbände der evangelischen Pfadfinder*innen – der Bund Christlicher Pfadfinderinnen, der Evangelische Mädchenpfadfinderbund und die Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands (CPD) – zum Verband Christlicher Pfadfinde-

1 Richard Münchmeier: Die Vergesellschaftung von Wertgemeinschaften. Zum Wandel der Jugendverbände in der Nachkriegs-Bundesrepublik, in: Thomas Rauschenbach, Christoph Sachße, Thomas Olk (Hg.): Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen. Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch, Frankfurt a. M. 1995, S. 203. 2 Roland Gröschel, Marie-Theres Pütz-Böckem: Gesellschaftliches Engagement und politische Interessenvertretung – Jugendverbände in der Verantwortung. 50 Jahre Deutscher Bundesjugendring, Berlin 2003, S. 297. 3 Eckart Conze: »Pädagogisierung« als Liberalisierung. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit (1945–1970), in: ders., Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Wiesbaden 2012, S. 80. 4 Herbert Swoboda: Pfadfinder und bündische Jugend / Bund Deutscher Pfadfinder/innen, in: Diethelm Damm, Jörg Eigenbrodt, Benno Hafeneger (Hg.): Jugendverbände in der BRD, Neuwied 1990, S. 83.

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rinnen und Pfadfinder (VCP).5 Von diesem spaltete sich wiederum 1976 eine neugegründete CPD ab.6 Diese Veränderungen in den Jugendverbänden fanden nicht im luftleeren Raum statt. Zu derselben Zeit erlebte die Bundesrepublik Deutschland – ähnlich wie die meisten anderen westlichen Gesellschaften – einen kulturellen Wandel, der sich in der Veränderung der gesellschaftlichen Wertmaßstäbe im Sinne einer Liberalisierung sowie einer Politisierung und Polarisierung ausdrückte.7 Dieser Wandel wurde durch die Studentenbewegung »in ihrer Hochphase 1967/68 dynamisiert und intensiviert«8 und veränderte die bundesrepublikanische Gesellschaft nachhaltig.9 Neben diesen allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen wirkte zudem die Erziehungswissenschaft auf die Jugendverbände ein. Ab 1963, beginnend mit dem Artikel »Die Misere der geplanten Jugendlichkeit« von Hermann Giesecke, kritisierten Wissenschaftler*innen die Praxis und die Selbstverständnisse der Jugendverbände.10 Insbesondere die sogenannten »Theorien der Jugendarbeit« stellten neue Ansprüche an die Jugendverbände.11 Ausgehend von dem skizzierten Kontext untersuche ich in meiner Dissertation, ob – und wenn ja: wie – die evangelischen Pfadfinder*innen ihre Jugendarbeit neu konzeptualisierten. Zu diesem Zweck rekonstruiere ich die pädagogischen Diskurse in CPD und VCP. Die evangelischen Pfadfinderverbände als ein »Diskursfeld«12 zu begreifen – also als einen sozialen Raum, in welchem verschiedene Diskurse um die Deutungshoheit über Kinder- und Jugendarbeit miteinander konkurrieren –, ermöglicht es mir, die »sozialen Mechanismen und Regeln der Produktion und Strukturierung von Wissensordnungen zu unter-

5 Simon Musekamp: Zusammenschluss mit den evangelischen Pfadfinderinnen, in: Ulrich Bauer, Jobst Besser, Hartmut Keyler, Albrecht Sudermann (Hg.): Kreuz und Lilie. Christliche Pfadfinder in Deutschland von 1909 bis 1972, Berlin 2013, S. 148ff. 6 Ebd., S. 159. 7 Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 842; HansUlrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S. 277; Axel Schildt, Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 245ff. 8 Eckart Conze: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 354. 9 Martin Klimke: West Germany, in: ders., Joachim Scharloth (Hg.): 1968 in Europe, New York 2008, S. 102. 10 Martin Faltermaier: Das kritische Gegenüber. Versuch zu einer Theorie der Jugendarbeit, in: ders. (Hg.): Nachdenken über Jugendarbeit. Zwischen den fünfziger und achtziger Jahren; eine kommentierte Dokumentation mit Beiträgen aus der Zeitschrift »deutsche jugend«, München 1983, S. 129. 11 Werner Thole, Jens Pothmann, Werner Lindner: Die Kinder- und Jugendarbeit. Einführung in ein Arbeitsfeld der sozialpädagogischen Bildung, Weinheim, Basel 22022, S. 68. 12 Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 32011, S. 234.

Pädagogische Diskurse im evangelischen Pfadfinden 1962–1976

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suchen«13 und zu fragen, »wie und warum sich solche Diskurse im historischen Prozess verändern«.14 Dabei beschränke ich mich auf diejenigen Diskurse, die in dem Sinne pädagogisches Wissen konstruieren, als dass sie »das erziehungspraktische Handeln erzieherischer Akteure einerseits anleiten, mit denen die Akteure andererseits ihre Praxis reflektieren können.«15 Der Untersuchungszeitraum wird durch den Beschluss der neuen Grundsätze im Jahr 1962 und der Neugründung der CPD im Jahr 1976 eingegrenzt.16 Die evangelischen Pfadfinder*innen bieten sich insofern für diese Analyse an, da ihre Verbände bekanntermaßen Anfang der 1970er-Jahre einen tiefgreifenden Wandel durchmachten, der sich nicht nur in der Bildung eines neuen Verbandes, sondern auch in einem neuen Selbstverständnis ausdrückte.17 Da sich CPD/VCP so stark gewandelt haben, ist davon auszugehen, dass die verschiedenen pädagogischen Diskurse deutlich erkennbar sind. Die Analyse wird hauptsächlich auf Basis der im VCP-Bundesarchiv überlieferten schriftlichen Dokumente der Verbände durchgeführt. Das genutzte Material umfasst die Bundesordnungen, Stellungnahmen der Bundesführungen und -leitungen, Protokolle der verschiedenen Gremien, Dokumentationen von Kongressen und Tagungen sowie die zahlreichen Zeitschriften und Rundschreiben der Verbände. Zusätzlich zur Analyse der Dokumente interviewe ich damals beteiligte Pfadfinder*innen, um die subjektiven Deutungen und Erfahrung der damaligen Akteure in die Analyse miteinbeziehen zu können.18 Insofern ergänzen sie auch die überlieferten Quellen und ermöglichen es, die Diskursanalyse in Form einer »multiperspektivischen Gesamtdarstellung«19 durchführen zu können. Als ein erstes Zwischenergebnis dieser Diskursanalyse wurde beim Workshop zur Jugendbewegungsforschung 2022 der pädagogische Diskurs präsentiert, der ab 1962 in der CPD dominant war. Dazu lässt sich folgende These zur MetaNarration formulieren: Die CPD bereitet Jungen und junge Männer auf eine aktive Rolle in der Gesellschaft vor. Diese Eigenbeschreibung wurde erstmalig in den »Grundsätzen« von 1962 offiziell formuliert: »Wir bejahen die demokrati13 Reiner Keller: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Wiesbaden 42011, S. 83. 14 Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 22018, S. 21. 15 Klaus-Peter Horn: Wissensformen, Theorie-Praxis-Verhältnis und das erziehungswissenschaftliche Studium, in: Der Pädagogische Blick, 1999, Nr. 4, S. 217. 16 Albrecht Sudermann: Konsolidierung und Umbrüche: 1961–1969, in: Bauer u. a.: Kreuz (Anm. 5), S. 124ff.; Musekamp: Zusammenschluss (Anm. 5), S. 159. 17 Ebd., S. 157ff. 18 Alessandro Portelli: What Makes Oral History Different?, in: Robert Perks, Alistair Thomson (Hg.): The Oral History Reader, Abingdon ³2016, S. S. 52. 19 Dorothee Wierling: Oral History, in: Michael Maurer (Hg.): Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 147.

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Max-Ferdinand Zeterberg

sche Ordnung in Staat und Gesellschaft und sind deshalb zur Mitgestaltung und Mitverantwortung in Parteien, Berufsverbänden und anderen Organisationen bereit.«20 Die CPD sah sich dabei in der Funktion eines Übungsfelds: »In der Gemeinsamkeit des Bundes üben und helfen wir uns, diese Aufgaben einzeln und miteinander wahrzunehmen und uns auf sie vorzubereiten.«21 Diese positive Ausrichtung auf die bundesrepublikanische Gesellschaft und der sich daraus ergebende Auftrag, junge Männer zu einer aktiven Mitgestaltung der Bundesrepublik zu befähigen, durchzog die Debatten in der CPD der nächsten Jahre.22 Erst 1967, als sich die CPD-Führung im evangelischen Studienzentrum Josefstal der Kritik von Wissenschaftlern stellte, wurde dieser Diskurs in Frage gestellt und verlor in den Folgejahren seine innerverbandliche Dominanz.23 Mit meiner Dissertation wird erstmals dieser Teil der Geschichte der evangelischen Pfadfinder*innen quellenkritisch untersucht. Aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive zeigt meine Arbeit, wie sich pädagogische Diskurse in den Jahren um 1968 entwickelt haben. Dies erweitert den Blick auf den Zusammenhang von Protestbewegungen und Pädagogik – bisher wurden in der Forschungsliteratur die Jugendverbände diesbezüglich kaum beachtet.24 Darüber hinaus wird beispielhaft die Rezeption erziehungswissenschaftlichen Wissens rekonstruiert, also wie und unter welchen Einflüssen Pädagogiken entstehen konnten, die »die Praxis anleitenden Erziehungsvorstellungen«25 konstruieren und legitimieren.

20 VCP-Bundesarchiv (VCP-BA), 2859, Grundsätze der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands, [1]. 21 Ebd. 22 Etwa in Bezug auf das Meißner-Jubiläum 1963 (VCP-BA, Zeitschriftenbestand, FührerRundbrief Nr. 53, Kassel, [3]), beim Bundesführertreffen 1963 (VCP-BA, 3026, Dokumentation Bundesführertreffen 1963) und der Einführung der Rover-Stufe (VCP-BA, 831, Bundesordnung 1966, S. 25). 23 Auf neuem Pfad, 1967, Heft 04/05, S. 25. 24 Siehe etwa Werner Thole, Leonie Wagner, Dirk Stederoth (Hg.): ›Der lange Sommer der Revolte‹. Soziale Arbeit und Pädagogik in den frühen 1970er Jahren, Wiesbaden 2020. 25 Horn: Wissensformen (Anm. 15), S. 218.

Rezensionen

Wolfgang Braungart

Walter Sauer (Hg.): Kunst und Künstler im Umfeld der Jugendbewegung, Bd. 1, mit Beiträgen von Michael Engelhardt, Paul-Thomas Hinkel, Jürgen Reulecke, Walter Sauer, Barbara Stambolis, Baunach: Spurbuchverlag 2022, 331 S., ISBN 978-3-88778-627-4, 39,80 € Soziale Bewegungen sind immer auch ästhetische Bewegungen. Individuelle Zugehörigkeit und soziale Zusammengehörigkeit müssen sich nach innen und nach außen ausdrücken, vollziehen und zeigen. Sie müssen ›aisthetisch‹, also für die Sinne erfahrbar werden: in Kleidung, Sprache, Symbolen, Gruppen-Praktiken, Ritualen. Das ist in der Jugendbewegung grundsätzlich nicht anders als z. B. in der Arbeiterbewegung oder in der Vereinskultur des 19. Jahrhunderts. Die Künste im engeren Sinn können direkt teilhaben und mitwirken an dieser also umfassender zu begreifenden Ästhetik sozialer Bewegungen; sie können sich womöglich direkt als soziale Gebrauchskunst verstehen. Sie können soziale Bewegungen aber auch flankieren, kommentieren und von ihnen auf verschiedenste Weise in Anspruch genommen werden. Dann ist das »Wohlgefallen«, das man an solcher Kunst empfinden kann, alles andere als »interesselos« (Kant). Insofern ist das Anliegen des von Walter Sauer herausgegebenen Bandes grundsätzlich nachvollziehbar. Kunst und Jugendbewegung: Das ist ein großes und wichtiges Thema. Wenn Kunst solche soziale Gebrauchskunst sein will, wird niemand vor allem ästhetische Qualität erwarten (so schwer die zu bestimmen ist). Man wird sie in diesem Band auch nur sehr begrenzt finden. Aber nun, wo es also offenkundig um »interessiertes Wohlgefallen« geht (so der Titel eines wichtigen Buches von Julia Schöll zur Ästhetik um 1800), wird die Sache gleich mehr als schwierig. ›Interessiert‹ inwiefern? ›Interessiert‹ an was? Ich will nicht darum herumreden: offenbar auch an hübschen (und nicht selten nackten) Knaben. Wer sich mit der Lebensreformbewegung um und nach 1900 befasst, die für die Jugendbewegung unstrittig große Bedeutung hatte, hat unweigerlich die Ikonen vor Augen, wie sie ›Meister Fidus‹ (Hugo Höppener) zuhauf produziert hat. (Barbara Stambolis widmet ihm im vorliegenden Band einen kundigen, knappen Überblicksartikel.) Lange haben wir – ich schließe mich hier völlig ein – in ironischer Distanz die vielen nackten Jungens und manchmal auch Mädels ein wenig schulterzuckend hingenommen, einig im ästhetischen Urteil (Was für ein furchtbarer Kitsch!), haben vielleicht auch auf den breiteren ästhetischen Diskurs um 1900 hingewiesen, vielleicht und schon etwas kritischer

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Wolfgang Braungart

auf die Antikerezeption bei Ludwig von Hofmann, die Überlagerungen und Verschmelzungen mit einer völkischen Ästhetik (belegen ließe sich das auch am vorliegenden Band). Aber das waren eben historische Phänomene und nur als solche wichtig. So wollte ich es sehen, so haben es in der Forschung viele gesehen. So einfach geht es nicht mehr, seit sich die Ausmaße, die sexualisierte Gewalt in Institutionen ganz offensichtlich annehmen konnte, immer deutlicher abzeichnen. Auch die Jugendbewegungsforschung wird sich mehr und mehr darüber klar, dass danach gefragt werden muss. Was könnten Spuren sexualisierter Gewalt in Texten sein? Wie sollten, ja müssen (auto-)biographische Zeugnisse der Jugendbewegung auch gelesen werden? Die hermeneutische Kunst des Zwischenden-Zeilen-Lesens ist auf neue Weise herausgefordert. Aber es geht nicht nur um Texte, auch um Bilder! Bei etlichen dieser Bilder muss man freilich gar nicht zwischen den Zeilen bzw. »zwischen den Bildern lesen«. Man müsste sie, wenn sie nicht als Kunst deklariert wären (und auch als solche sind sie nicht selten richtig schlecht!), Posing-Bilder nennen1. Und es schließen sich Fragen an: Wie sind Bilder wie die von Oskar Just, Sepp Bestler, Borris Goetz oder Otto Lohmüller in diesem Band mit der Bildwelt der ›Pädo-Szene‹ verbunden und auf was verweisen sie womöglich? Harmlos ist da gar nichts, und ästhetische Distanzierung allein genügt nicht. Der Band stellt eine Forschungsaufgabe, die er selbst gar nicht im Sinn hatte. Man muss sie anpacken.

1 Vgl. etwa mit Bezug auf Fotografien die Internetseite »Jugendschutz«, verfügbar unter https:// www.jugendschutz.net/mediathek/artikel/uebersichtskarten-typische-merkmale-der-erschei nungsformen-von-posendarstellungen [22. 06. 2023].

Susanne Rappe-Weber

Christoph Wagner: Lichtwärts! Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel – die ersten Ökos im Südwesten (1880–1940), Ubstadt-Weiher: Verlag Regionalkultur 2022, 280 S., viele Abb., ISBN: 978-3-95505-359-8, 34,80 € Die Erforschung der Lebensreformbewegungen ist längst kein Nischenthema mehr, sondern für das politische Verständnis der Gegenwart von unmittelbarer Bedeutung. Das bezeugt das Vorwort des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, Winfried Kretschmann, zu diesem Band. Er verbindet Wagners historische Befunde mit der besonderen Geschichte der Grünen »im Südwesten«, die bereits 1980 in den Stuttgarter Landtag einzogen. Mit der politischen Arbeit sei der Aufbau von bürgerschaftlichen Projekten im Bereich von Verkehr, Wohnen, Naturschutz usw. einhergegangen. Die besondere Mobilisierbarkeit in dieser Region habe etwas mit der spezifischen, von der Lebensreform geprägten Vorgeschichte zu tun, sei also eigentliche »Heimatgeschichte«, darin eingeschlossen durchaus auch die in manchen der lebensreformerischen Kreise kursierenden völkischen Ideologien. Wagner folgt in seiner Gliederung den bekannten Themen und gesellschaftlichen Verknüpfungen der Lebensreform. Ein Kapitel zur Jugendbewegung steht neben den Aspekten Siedeln, Wohnen, Körper, Naturschutz, Schule, Esoterik und Exotik, die als einzelne Beiträge konzipiert und lesbar sind. Insofern unterliegt dem Band kein argumentativer Faden, sondern er bietet eher Anschauungsmaterial für die Grundthese vom »anderen Südwesten«. Das allgemeine Bedürfnis nach Erneuerung, das sich um die Jahrhundertwende immer mehr Gehör verschaffte, wird anhand regionaler Beispiele belegt: vom Mannheimer Wandervogel bis zum Auftreten des Jesus-Plagiators Louis Haeusser im großstädtischen Zentrum der Lebensreform Stuttgart, von der medialen Verbreitung der Licht-Metapher bis zu Hermann Hesse. Dabei legt Wagner immer wieder Wert darauf, auch an die Minderheit der demokratisch, republikanisch und nicht-völkisch Gesonnenen in diesem Spektrum zu erinnern. Am Beispiel von Gusto Gräser (1879–1958), der 1907 in Stuttgart auftauchte, und dem aus Württemberg stammenden Louis »Lou« Haeusser (1881–1927) zeichnet Wagner das Phänomen der Wanderprediger der Lebensreform nach. Fast prototypisch konnte man Männer wie diese und auch ihre Anhänger*innen an den langen Haaren, den »Eigen-Gewändern« und Sandalen erkennen. Sie predigten

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Susanne Rappe-Weber

die Umkehr vom bisherigen Leben und zeigten mit ihrer teils vagabundierenden Lebensweise schon einmal eine mögliche Alternative auf. Dabei waren sie allerdings selbst meist auf Unterstützung und Hilfen angewiesen. Interessant sind die vielen Beispiele auch weniger bekannter, regionaler Heilsverkünder, die mit ihren Ansprachen und Pamphleten, meist in religiöser oder dezidiert christlicher Perspektive, ein erlösungsbedürftiges Publikum ansprachen. Als Siedlungsprojekte der Lebensreform werden die frühe, aber kurzlebige Gründung von Georg Sinner auf dem Hofgut Rheinburg, die Künstlerkolonie »Runheim« im Kochertal (Willo Rall), das »Haus am Grünen Weg« in Urach (Karl Raichle) sowie der Vogelhof (Friedrich Schöll) und der Schurrenhof auf der Schwäbischen Alb vorgestellt. Dabei kommen nicht nur die Leistungen der männlichen Gründer oder »Chef-Ideologen« zur Sprache. Vielmehr bilden die Zusammensetzung der Gemeinschaften, die praktischen Grundlagen sowie die Verbindungen untereinander bzw. zur Umgebung das eigentliche Thema. Die regionalen Jugendbewegungen porträtiert Wagner in den Spielarten des bürgerlichen Wandervogels und der in der Naturfreunde-Jugend organisierten Arbeiterjugend. Zwar wiesen deren Praxisformen auf Fahrt und daheim, wie sie sich in zeitgenössischen Quellen und Erinnerungsliteratur darstellen, manche Übereinstimmungen auf. Doch die prekären Lebensverhältnisse der proletarischen Jugend ließen eine auf dem Generationenkonflikt fußende, romantische Jugendkultur dort nicht zur Entfaltung kommen. Mit ihren eigenen Wanderherbergen boten die auf Ertüchtigung und Abstinenz bedachten Naturfreunde an vielen Orten einladende Möglichkeiten zur Erholung für wandernde Arbeiter*innen. Weiter geht es mit den Widersprüchlichkeiten im Natur- und Heimatschutz südwestdeutscher Spielart, dargestellt an einem Fall in Laufenburg am Rhein. Dort konkurrierte um 1900 ein Naturdenkmal, die Stromschnellen des Rheins, mit den Planungen für einen Staudamm zur Nutzung der Wasserkraft. Bürgerlich getragener Widerstand organisierte sich, doch 1910 begannen die Sprengungen, beklagt von vielen der frühen Lebensreformer in der Region. Eine Fülle teils beeindruckender, teils kurioser Beispiele breitet Wagner für den »natürlichen Dreiklang« von Naturheilkunde, Vegetarismus und Alkoholabstinenz aus. Ein 1848er Revolutionär, ein Bauerndichter, eine Kochbuchautorin – auf vielen Wegen kamen Reformimpulse zu den Menschen im Land. Während die Fleischabstinenz nur von Wenigen praktiziert wurde, kann den Alkoholgegnern, die sich besonders an die Jugend wandten und mit der Jugendbewegung kooperierten, mehr Breitenwirkung attestiert werden. Vegetarische Ernährung und Alkoholabstinenz wurden Grundlage für die praktische Arbeit in den Sanatorien ebenso wie in der therapeutischen Naturheilkunde und auf dem Gebiet der Leibesertüchtigung. Zur Abrundung dienten Empfehlungen die Kleidung betreffend. Eine umfassende, theoretisch begründete Reform lieferte etwa der populäre Mediziner Gustav Jäger (Hohenheim/ Stuttgart), genannt

Lichtwärts! Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel

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»Woll-Jäger«, der eine neue »Normalkleidung« ausschließlich aus Wolle, von der Unter- über die Nachtwäsche bis zur (männlichen) Oberbekleidung, empfahl und selbst vertrieb. Ein weiterer Zweig der Lebensreform betraf das Bauen und Wohnen: Während die Gartenstadt-Idee eher von der Oberschicht aufgegriffen wurde, betrieben Heimstätten und Genossenschaften für die Arbeiter eigene Programme. Eindrucksvoll sind Wagners Funde auf dem Gebiet der »utopischalternativen Architektur« (Rundhaus, Kleinsiedlungshaus), aber auch zu den esoterischen spiritistischen Zirkeln. Während die meisten Kapitel Kontinuitäten und Anpassungen an die NS-Zeit zeigen, steht die Reformschule der Anna Essinger in Herrlingen für die krasse Überwältigung durch die Nationalsozialisten. Der Schulgründerin gelang es, mit etwa 60 Kindern nach England zu emigrieren und dort neu anzufangen. In Herrlingen selbst bestand noch bis 1939 ein »Jüdisches Landschulheim«, geführt von einem Lehrer-Ehepaar, das schließlich noch die Flucht nach Palästina antreten konnte. Zum Schluss folgt Wagner seinen Protagonist*innen, die sich nach einem Leben außerhalb des deutschen Südwestens sehnten und ihre reformerischen Hoffnungen auf exotische Paradiese wie Samoa, Paraguay, das Hochland von Kenia oder Mexiko setzten. Die Verquickung solcher Ausstiegsversuche mit dem realen kolonialen Imperialismus jener Zeit wirkt von heute aus fast grotesk. Zeitgenössisch aber war es den deutschen Bürgerkindern sehr ernst mit ihrer Suche nach alternativen Lebensformen, wie das Beispiel des Stuttgarter Ehepaars Ludwig und Lisbeth Ankenbrand zeigt, die sich 1912 zu Fuß auf eine Weltreise begaben, bis Ceylon kamen, aber zwischen 1914 und 1919 in einem australischen Internierungslager verharren mussten. Der zugehörige Nachlass der Ankenbrands hat kürzlich seinen Weg in das Ludwigsteiner Archiv und bereits zu wissenschaftlicher Nachfrage gefunden. Christoph Wagners Buch ist durchgehend gut erzählt und üppig bebildert. Plausible Einordnungen und konkrete Beispiele vermitteln ein sympathisches Bild der südwestdeutschen »alternativen Szene« um 1900, ohne die ideologischen Verirrungen und die begrenzte Reichweite mancher Unternehmung aus dem Auge zu verlieren. Ein besonderes Verdienst liegt in der Dokumentation proletarischer und nicht-völkischer Beispiele.

Felix Ruppert

Franziska Meier: Ein »bündischer Kulturmarkt« entsteht. Die deutsche Jugendbewegung und Jugendmusikbewegung als Katalysator für den Aufbau von Kulturmarktunternehmen 1918–1933, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 319 S., ISBN 978-3-515-13304-3, 58,– € Die wissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen bürgerlichen Jugendbewegung erfreut sich in den letzten Jahren erhöhter Aufmerksamkeit, gerade auch im Bereich der Qualifikationsarbeiten junger Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen. Das sollte nicht zuletzt auch mit dem Workshop »Jugendbewegungsforschung« zusammenhängen, der seit 2013 jährlich auf Burg Ludwigstein stattfindet und jungen Wissenschaftler*innen in Qualifikationsphasen die Möglichkeit des interdisziplinären Austauschs an einem jugendbewegt-historischen und für die Forschung signifikanten Ort bietet. Mit der vorliegenden Publikation der Historikerin Franziska Meier findet eine weitere Studie einer engagierten Workshop-Teilnehmerin ihren Abschluss. In ihrer im Promotionskolleg »Kunst, Kultur und Märkte. Geschichte der europäischen Kulturwirtschaft vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart« am Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften der Universität Heidelberg entstandenen Dissertation beschäftigt sich Meier mit der Entstehung eines »bündischen Kulturmarktes«. Ihr Untersuchungsgegenstand ist das »Verlagswesen der Jugend(musik-)bewegung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs«, genauer die »jugendbewegten (Musik-)Verlage Der Weiße Ritter (später Ludwig Voggenreiter Verlag), Julius Zwißler (später Georg Kallmeyer Verlag), Bärenreiter und Das junge Volk (später Günther Wolff Verlag) zwischen 1918 und 1933« (S. 10). Die »bündische Jugend« fasst Meier als »Subkultur« auf, die, trotz der bereits großen und durch Abspaltungen, Neugründungen und Zusammenschlüsse weiterwachsenden Diversität der Bünde im Untersuchungszeitraum, über eine »ähnliche ästhetische Empfindung (Literatur, Kunst, Kleidung, Musik) und eine ähnliche Einstellung zu gesellschaftlichen und politischen Themen […] ein Gemeinschaftsgefühl erreichen« (S. 12) konnte. Betrachte man einen »Kulturmarkt«, so seien neben den monetären Werten »vielmehr emotionale, kommunikative, politische und soziale Werte« (S. 47) von Belang, weshalb Meier die klassische Perspektive der Wirtschaftswissenschaften auf ökonomisches Kapital produktiv mit Pierre Bourdieus Unterscheidung der Kapitalsorten erweitert. Diese Aspekte wirkten sich etwa auch auf das Handeln der Verleger aus, die nicht

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Felix Ruppert

immer nur wirtschaftlich-rationelle Entscheidungen getroffen haben, um so »der Sache« dienlich sein zu können. Das waren sie, indem sie ein Angebot schufen, dass die durch die »bündische Subkultur« erst hervorgerufene Nachfrage bedienen konnte. Diese Nachfrage hing eng mit den oben genannten »ästhetischen Empfindungen« und deren Befriedigung zusammen, die zum Teil in den »Alltagspraktiken der Jugendbewegten«, dem »Singen, Wandern, Lagern« (S. 59–69), Ausdruck fanden. Die hierdurch entstandenen Nischen suchten die vier untersuchten Verlage abzudecken, wobei sie nicht nur unternehmerisches Geschick bewiesen, sondern auch von den Wechselwirkungen ihres jugendbewegten Habitus und der Fokussierung auf die bündische Szene profitieren konnten. Der größere Teil der Analyse befasst sich mit dem Verlag Der Weiße Ritter/ Ludwig Voggenreiter Verlag (S. 89–183), was Meier mit der besonderen Quellensituation begründet. Das Firmenarchiv des noch heute bestehenden Verlags ermöglicht eine lückenlose Nachverfolgung der Publikationen, Korrespondenzen und Unterlagen des Verlags, ein »besonderer Schatz« (S. 21) für diese Forschung. Die Archivalien bieten tiefe Einblicke in die persönlichen Motivationen der Verleger, die Verhandlungsstrategien mit allen an einer Publikation beteiligten Parteien und die Verlagsarbeit im Allgemeinen. Aufgrund eines Kriegsschadens 1945 überliefert das Firmenarchiv des ebenfalls noch heute bestehenden Verlags Bärenreiter lediglich Quellen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind. Vom Verlag Das junge Volk/Günther Wolff Verlag, der im Nationalsozialismus aufgrund der Beibehaltung seiner bündischen Ausrichtung unter großen Repressalien litt und bereits 1938 geschlossen wurde sowie von Julius Zwißler/Georg Kallmeyer Verlag, der bis 2008 bestand, existieren keine Archive. Auch die Bestände des Archivs der deutschen Jugendbewegung, vor allem die Sammlung zur Jugendmusikbewegung (AdJb A 228), boten eine wichtige Quellengrundlage für Meiers Studie. So sei die bisher publizierte Forschungsliteratur zur Jugendmusikbewegung unzureichend und eher ideologisch motiviert; zudem seien die Verlage bislang in der Jugendbewegungsforschung nicht weiter beachtet worden. In der Analyse der Verlage legt Meier entsprechend ihrem Forschungskonzept großen Wert auf die Protagonist*innen, ihre sozialen Netzwerke und Verbindungen mit der Jugend- und der Jugendmusikbewegung. Der 1919 von Franz Ludwig Habbel (*1894, bereits 1922 schied er wieder aus dem Geschäft aus) und Ludwig Voggenreiter (*1898) gegründete Verlag Der Weiße Ritter/Ludwig Voggenreiter Verlag war neben Das junge Volk/Günther Wolff Verlag (gegründet von Günther Wolff, *1901) der wichtigste jugendbewegte Verlag in der Weimarer Zeit. Beide Jungunternehmer, Habbel und Voggenreiter. waren zuvor aktive Pfadfinder und kamen im Ersten Weltkrieg auch mit dem »Feldwandervogel« in Berührung. Die 1918 von Habbel gegründete Zeitschrift »Der Aufbau« beschäftigte sich umfassend mit der von beiden unterstützten Reform des Deutschen

Ein »bündischer Kulturmarkt« entsteht

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Pfadfinderbundes. Hieraus entstand ein Jahr später der gemeinsame Verlag. Die Reformierungsbestrebung führte letztlich zur Gründung der Neupfadfinder, dessen Bundeszeitschrift Der weiße Ritter, als Fortsetzung der Zeitschrift Der Aufbau, wurde. Neben den eigens produzierten Schriften wurden auch einige der entstehenden Buchreihen auf den »bündischen Markt« zugeschnitten. Aus dem Quellenmaterial arbeitet Meier nachvollziehbar heraus, dass der Verlag vorwiegend für die Verbreitung der Reformbestreben sowie der Ideen des neuen Bundes gegründet wurde, während wirtschaftlicher Gewinn – zumindest zu Beginn – hintangestellt wurde. Verlagsentscheidungen sowie Werbung standen häufig in Verbindung mit dem jugendbewegten, überbündischen Netzwerk. In der Beschreibung des Verlagsprofils (Kap. 3.3.1) fällt der Fokus wie zu erwarten auf die »jugendbewegten« Publikationen, wohingegen ein tieferer Vergleich mit dem übrigen Verlagsprogramm, möglicherweise unter Berücksichtigung von Absatzzahlen, fehlt. Insofern bleibt die Erklärung für den Verlagsfokus »Bündische Subkultur« blass. Ob der Verzicht auf wirtschaftliche Grunddaten mit der unzureichenden Quellenlage zu erklären ist, wird nicht weiter erläutert. Die anderen Verlage ähneln dem Voggenreiter Verlag in den Punkten Sozialisation der Akteur*innen, Gründungsmotivation, Adressat*innen und Unternehmensstrategien (S. 184–256). Ihre Gründer (Kallmeyer, *1875, bleibt die Ausnahme) stammten aus der Jugendbewegung und verfügten daher über eine gute Vernetzung. Sowohl Julius Zwißler/Georg Kallmeyer als auch Bärenreiter spezialisierten dabei ihr Sortiment allerdings auf die Nachfrage aus der Jugendmusikbewegung. Diese war der Jugendbewegung entwachsen und suchte, das dort eher beiläufig-laienhaft praktizierte Singen und Instrumentalspiel pädagogisch auszubauen. Kallmeyer und Bärenreiter wurden zu den Verlagen der Jugendmusikbewegung, wobei die Hauptakteure jeweils mit einem Verlag zusammen arbeiteten: Fritz Jöde mit Kallmeyer, Walther Hensel mit Bärenreiter. Entsprechend unterschieden sich diese Verlagsprogramme von denen Voggenreiters und Wolffs. Hier ging es vorwiegend um Liederbücher und Zeitschriften zur Lied- und Volksliedpflege, wie etwa die »Finkensteiner Blätter« (Bärenreiter) oder »Die Laute« (Kallmeyer).1 Meier zeigt die Wechselwirkung zwischen den Verlagen Kallmeyer und Vötterle (Bärenreiter) und der Bewegung: die Akteure der Jugendmusikbewegung fanden in den Verlagen gute Strukturen und günstige Konditionen vor, während die Verlage hinsichtlich Programmgestaltung und Absatz von der wachsenden und bestens vernetzten Bewegung profitierten, insbesondere seit die Bewegung an Schulen und Fortbildungsstätten Fuß fasste (S. 257–284). Mit ihrer Studie legt Meier eine quellengesättigte Argumentation 1 Zur Jugendmusikbewegung vgl. die von Ute Brüdermann und Amrei Flechsig gestaltete Website des AdJbs, verfügbar unter: https://www.adjb-jugendmusikbewegung.de/hauptphase [20. 04. 2023].

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dafür vor, Marktphänomene stärker im Kontext ihrer kulturellen und zeitlichen Rahmenbedingungen zu betrachten. Nur so wird deutlich, dass neben monetären Werten auch andere Tauschwerte auf einem Markt von Bedeutung sein können, die durch das Gemeinschaftsgefühl innerhalb einer Subkultur auf den Markt einwirken. Gerade in Anbetracht der multiplen (Finanz-) Krisen der 1920er Jahre war eine Unternehmensgründung keine leichte Aufgabe. Der sich dennoch einstellende Erfolg der Verlage – das wird in der Analyse der »Bewältigungsstrategien finanzieller Herausforderungen« deutlich (S. 290) – ist ohne die Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Verlagen und Jugend(musik)bewegung kaum zu erklären. Das Verlagswesen der »bündischen Subkultur« zu untersuchen, füllt eine bislang bestehende Lücke in der Jugendbewegungsforschung, in der wirtschaftliche Perspektiven generell unterbelichtet sind. Kritisch anzumerken ist, dass die Erwartung, in dieser Wirtschaftsstudie würden insbesondere Zahlen ausgewertet, nicht erfüllt wird. Das tut dem Grundargument keinen Abbruch, hätte dieses aber unterstützen können. Mit der Bezeichnung als »bündische Subkultur« reiht sich Meier sich in eine jüngere Entwicklung ein, die die bündische Jugend als eine »Szene« (Ahrens 2015) neben anderen versteht und somit der fortlaufenden »Entzauberung« des Phänomens Jugendbewegung produktiv zuarbeitet.

Bernd Wedemeyer-Kolwe

Ulrich Linse: Völkisch – Nationalsozialistisch – Rechtsradikal. Weltanschauung und Lebenswelt einer Jugendbewegten. Eine deutsche Biographie im 20. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin: Peter Lang 2022, 1045 S., ISBN 978-3-631-87482-0, 129,90 €

Ulrich Linse, bis zu seiner Emeritierung Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München, ist der wohl bedeutendste Historiker für die Geschichte der alternativen sozialen Bewegungen vom Deutschen Reich bis zur Bundesrepublik. Seit mehr als 50 Jahren publiziert er zu Jugendbewegung, Lebensreform und völkischer Bewegung. Seine über ein Dutzend Monografien gehören – trotz ihres Alters – immer noch zu den grundsätzlichen Standardwerken in der Geschichtswissenschaft, um die niemand herumkommt, der zum Thema forscht. Und irgendwelche »Ablaufdaten« seiner Bücher sind – im Gegensatz zu vielen anderen, auch neueren Publikationen in der Forschung – nach wie vor nicht zu erkennen. Dass dies so ist, hat damit zu tun, dass Ulrich Linse eine ausgesprochene Leidenschaft für seinen Beruf hat, dass er Themen spürt, die in der Luft liegen und ihnen in vielen Fällen als einer der ersten nachgeht, dass er akribisch forscht, recherchiert und ermittelt und bei der Suche nach Quellen nie aufgibt. Ulrich Linse hat während seines gesamten Arbeitslebens mit der ihm eigenen Empathie zahlreiche Zeitzeugen der Alternativszene aufgespürt und befragt, er hat etliche (ihrer) Nachlässe gesichert, für die Erhaltung wichtiger Quellen gesorgt und Spezialsammlungen aufgebaut. In einer Zeit, in der historische Themen wie Lebensreform und Jugendbewegung als Außenseiterforschung galten und keine akademischen Meriten erbringen konnten, hat er sich trotz universitärer Widerstände und Ablehnung nie in seinem Forschungsinteresse beirren lassen. Zum Glück: Einen großen Teil seiner Sammlung, die einzigartige historische Zeugnisse enthält, hat er mittlerweile dem Archiv der deutschen Jugendbewegung übergeben. Die Quintessenz seiner Eigen- und Leidenschaften als Forscher, Autor und Bildungsvermittler hat Ulrich Linse nun in einem Mammutwerk gebündelt. Es ist zugleich Forschungspanorama und lokale Biografie. Und auch in diesem Werk befasst sich Ulrich Linse neben anderen Themen, die ihn immer wieder beschäftigt haben, mit der zentralen biografischen Frage nach den Einflüssen, Motivationen, Begründungen und Erklärungen von Lebenswegen; und in dieser

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Bernd Wedemeyer-Kolwe

Biografie vor allem mit der (im Grunde nie völlig zu klärenden) Frage, wann, wo, warum und vor welchem Hintergrund eine im liberal-aufklärerischen Familienumfeld aufgewachsene und geerdete Person die fatale Abzweigung in die völkisch-rechtsradikale Sackgasse genommen hat, wenn es auch genauso gut hätte anders laufen können. Das über 1000-seitige Werk des gebürtigen Ulmers Ulrich Linse befasst sich mit der Biografie der Ulmer jugendbewegten, lebensreformerischen Lehrerin Hildegard Marianne Friese (1901–1978), die, so eine von dem Autor 1994 interviewte Zeitzeugin, »ein unglückliches Schicksal hatte« (S. 23); eine Bemerkung, die auf den durch die völkisch-rechtsradikalen Abwege der Protagonistin ins Abseits geratenen Lebensweg hinweisen sollte, der sie von beruflicher, sozialer und gesellschaftlicher Anerkennung ausschloss. Hildegard Friese war »keine wichtige historische Frauengestalt«, keine »große Persönlichkeit oder ein bedeutender Charakter« (S. 23), obwohl sie sich selbst für bedeutsam hielt: Ihre beiden völkischen »Leuchttürme« waren (für sie) die Bewahrung des Werkes des völkischen Dichters Georg Stammler sowie die Adoption einer Tochter des ehemaligen NS-Kreisleiters des polnischen Ortes Wielun im damaligen SS-Gau »Wartheland«, Sigrun von Schlichting, die in den rechtsradikalen Kreisen der Bundesrepublik Deutschland als völkisch-esoterische »Lichtgestalt« des Armanen-Ordens zu zweifelhaftem »Ruhm« kommen sollte. Obwohl die BDMFührerin und NS-Funktionärin im besetzten Polen, Hildegard Friese, eine uneinsichtige »Überzeugungstäterin« war, wie Ulrich Linse glasklar belegt und formuliert, weist er auf der anderen Seite aber auf die in Quellen und Zeitzeugenaussagen überlieferten, durchaus liebenswerten, anderen Seiten ihrer Persönlichkeit hin: die liebevolle, selbstlose und hilfsbereite Tochter, Freundin und Lehrerin. Es ist auch diese janusköpfige Seite ihrer Biografie, die Ulrich Linse immer wieder dazu anregt, die oben genannten Forschungsfragen zu stellen. Ulrich Linse legt die Biografie von Hildegard Friese, die jahrzehntelang ein kleines, lokal agierendes Mitglied in dem (auch für die Fachwelt) unübersichtlichen jugendbewegten Geflecht aus Bünden, Gruppen und Organisationen gewesen war, als roten Faden in der Entwicklungsgeschichte eines engmaschigen größeren Personen- und Bundnetzwerks an. Das erlaubt ihm immer wieder detaillierte und kenntnisreiche Exkurse in das jeweilige (lokale) jugendbewegte, völkisch-esoterische und lebensreformerische Zeitgeschehen, in das er seine Protagonistin einbettet. So entsteht nicht nur eine lokale Biografie, sondern eine umfassende Geschichte der Lebensreform- und Jugendbewegung, die enzyklopädischen Charakter hat. Und dadurch kann Ulrich Linse auch auf die möglichen Abzweigungsalternativen hinweisen, die seine Protagonistin eben nicht gewählt hat: die ausgeschlagene Wahl, der demokratisch-reformerischen Tradition ihrer Familie zu folgen, die Chance, über ihre geografische Dissertation zu einer Umweltschutzvorreiterin des Biosphärenreservats Schwäbische Alb zu werden,

Völkisch – Nationalsozialistisch – Rechtsradikal

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die Möglichkeit, sich den Ideen und Bünden um die Ulmer Geschwister Scholl anzunähern oder die Alternative, über ihre Beschäftigung mit Albert Schweitzer einen humanitären Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Ulrich Linse zeigt die ausgeschlagenen Möglichkeiten im Leben von Hildegard Friese auf und muss konstatieren, dass auch sie letztendlich ein »Opfer obskurer Bauern-Ideologie« geworden ist (S. 23). Ulrich Linse wäre nicht Ulrich Linse, wenn er seine Quellen und Recherchen inklusive Personenregister nicht ausgiebig auf 100 Seiten dokumentieren würde, und er verweist auch damit etliche jüngere forschungsflachere Arbeiten auf die Plätze. Die Durchmusterung selbst des Anhangs ist anregend: Auf der einen Seite stößt man immer wieder auf Quellenkomplexe und Archive, die bei der eigenen Forschung hilfreich sein könnten und an die man selbst noch nicht gedacht hatte, auf der anderen Seite hat der Verfasser auch – in pädagogischer Absicht? – diejenigen (öffentlichen) Archive aufgelistet, die ihm auf seine Anfragen nicht geantwortet haben; ein kaum nachvollziehbarer und nicht zu rechtfertigender Umstand, auf den man – in den letzten Jahren leider immer häufiger – bei Archivanfragen auch selbst schon stoßen musste. Angesichts einer derartigen leidenschaftlichen Forschungsfreudigkeit zögert der Rezensent, das zweibändige Werk von Ulrich Linse als »opus magnum« bzw. als »Alterswerk« zu bezeichnen; Begriffe, in denen immer etwas Abgeschlossenes, ja Endgültiges nachschwingt. Die Vorstellung, dass der 1939 geborene Ulrich Linse die Fachwelt auch weiterhin mit funkelnden Texten bereichert, erscheint angesichts dieser Veröffentlichung alles andere als abwegig.

Justus H. Ulbricht

Eva Locher: Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Frankfurt a. M.: Campus 2021, 426 S., ISBN 978-3-593-51342-3, 45,– € Stefan Rindlisbacher: Lebensreform in der Schweiz (1850–1950). Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen, Berlin: Peter Lang Verlag 2022, 493 S., ISBN 978-3-631-868294, 87,50 € »…nicht jede Person, die auf Fleisch verzichtet[e], nackt badet[e] oder im Grünen wohnt[e], lässt sich zwangsläufig als Lebensreformer oder Lebensreformerin deklarieren.« (Stefan Rindlisbacher)

Erstaunlich eigentlich: Obwohl die Schweiz nicht allzu weit von Deutschland entfernt liegt und zudem mehrheitlich deutschsprachig ist, und obwohl man in den Forschungen zur Lebensreformbewegung seit langem weiß, dass diese transnational vernetzt war und vielfach internationalistisch dachte, hat man die schweizerischen Filiationen der Lebensreform, der »alternativen« Ernährungs-, Körperkultur- und Siedlungsbewegung seit 1900 über Jahrzehnte wenig systematisch beforscht. International berühmt waren und wurden zwar der Monte Veritá bei Ascona, Persönlichkeiten wie der Naturarzt Arnold Rikkli oder der jugendbewegt geprägte Körperkultur-»Apostel« Werner Zimmermann. Und ein Bircher-Müsli knuspert(e) so mancher, der, selbstreformerisch gestimmt, ein gesünderes Leben führen wollte und meinte, damit zugleich einer umfassenden Gesellschaftsreform zuzuarbeiten. Auch pilgerten zahlreiche Angehörige der europäischen Mittelschichten, darunter viele Künstler*innen und wenige radikale »Aussteiger*innen«, in die hoch entwickelte Sanatorien-, Naturbad- und Reformhaus-Landschaft der Schweiz – die Lebensreform-Forschung außerhalb des kleinen Landes reagierte darauf jedoch kaum, zumal man lange der Meinung war, diese bildungsbürgerliche Reformbewegung sei eine »typisch deutsche« Angelegenheit, die zwar internationale Impulse aufgenommen, diese jedoch nur in deutschen Landen zur vollen Entfaltung einer umfassenden Reformbewegung gebracht hätte.

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Ein Forschungsprojekt am Departement für Zeitgeschichte der Universität Fribourg, hat – gefördert 2014 bis 2018 vom Schweizerischen Nationalfonds – solche Aufmerksamkeits- und Forschungslücken nun versucht zu schließen – und aus diesem Kontext stammen beide hier vorzustellenden Arbeiten. Diesen gemeinsam ist allerdings nicht allein die universitäre und forschungspraktische Herkunft, sondern ebenso die beeindruckende Kenntnis der Forschungslandschaft »Lebensreform« sowie das hohe theoretische Niveau, mit dem beide Autor*innen ihrem spezifischen Gegenstand argumentativ und analytisch zu Leibe rücken. Ansätze der Kulturraumforschung, der Analyse von sozialen Milieus, medienhistorische Kenntnisse und Analyse-Tools zum Verständnis der Buch- und Zeitschriftenlandschaft in und um lebensreformerisch agierende Persönlichkeiten, Vereine, Gruppierungen und Organisationen werden fruchtbar gemacht, um die lebensreformerischen Binnenmilieus ebenso zu verstehen wie das gesamtgesellschaftliche Umfeld. Vor allem aber geht es beiden Forscher*innen darum, die Transferbeziehungen zwischen einzelnen lebensreformerischen Fraktionen und deren institutioneller Verfasstheit ebenso zu erfassen wie die Diffusion lebensreformerischer Ideen und Praxen in die umgebende Gesellschaft. Zudem wird deutlich gemacht, dass große gesellschaftliche Wandlungsprozesse organisatorische Reflexe und politisch-ideologische Reflexionen in der lebensreformerischen »Subkultur« erzeugen. Die Lebensreform-Bewegungen selbst erfreuten sich bisweilen ihrer spürbaren Breitenwirkung im »normalen« Umfeld, waren jedoch immer auch gezwungen, sich Vereinnahmungen und Verflachungen, Tendenzen des WellnessKonsums, also eines marktwirtschaftlichen Zugriffs auf ihre geistigen und praktischen »Alternativen«, zu entziehen, diese kritisch zu reflektieren und die »wahre Lehre« vor den – in ihren Augen – »falschen« Popularisierungen in der Mehrheitsgesellschaft zu bewahren. Mit dem Blick auf das »Zeitalter der Extreme« gilt es außerdem festzuhalten, dass sich die schweizerische Lebensreform in viel geringerem Maße als die deutsche mit der Geschichte des politischen Missbrauchs bestimmter lebensreformerischer Ideen und Praxen auseinander zu setzen hatte. Zwar schauen beide Autor*innen auch darauf, wie sich Gedanken der Lebensreform-Bewegung ihres Landes mit Politikoptionen der politischen »Rechten« verbunden haben (ebenso wie übrigens auch mit der »Linken«), doch generiert diese intellektuelle Liaison in der Schweiz bedeutend weniger Dramatik und Katastrophen als im deutschen Fall. Dass jedoch auch die schweizerische Lebensreform, trotz aller inter- und transnationaler Verflechtungen, eine nationale Grundtönung behielt und daher Wert darauf legt, »typisch schweizerisch« zu sein, wird an vielen Stellen der akribischen Binnenanalyse beider Autor*innen deutlich.

Natürlich, nackt, gesund / Lebensreform in der Schweiz (1850–1950)

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Was sich ab 1850 und bis in die Nachkriegszeit in der Schweiz als Lebensreform entwickelte wird in Vielem nach 1945 weitergedacht – zumal zahlreiche Protagonisten, Institutionen und Förderer der Bewegung einen politischen wie moralischen Bruch des eigenen Gesellschaftssystems wie in Deutschland nicht kennen. Allerdings teilt die kleine Schweiz einen makrosozialen Prozess der »Verwestlichung« von Lebensstilen, tritt – mal freiwillig, manchmal zufällig – in Kontakt mit der sich ab den 1960er Jahren entfaltenden »Alternativ-Bewegung« und der Popkultur. Hier werden dann auch generationsspezifische Differenzen der lebensreformerischen Ideen und Praxen deutlich, die das Kernmilieu der Lebensreform immer wieder dazu bringen, zu diskutieren oder gar zu definieren, wer ein »wahrer Lebensreformer« ist. Es wirkt auf den ersten Blick paradox, aber je mehr sich bestimmte Ernährungs-, Kleidungs-, Konsum- und andere alltagspraktische Gewohnheiten (nicht zuletzt in der Kindererziehung und der eigenen Sexualität) in Teilen der Mehrheitsgesellschaft durchsetzen, umso deutlicher schrumpft quantitativ das Kernsegment der Bewegung, nehmen die Mitgliederzahlen der Vereine und Verbände ab und die Austritte zu. Die für das lebensreformerische Feld selbst konstitutive Aufmerksamkeit für das eigene Wohlergehen, den eigenen Körper, für die individuelle Selbstbestimmung und Selbstentfaltung sorgt à la longue dafür, dass das lebensreformerische Milieu ausdünnt. Genau das aber lässt eine Ausgangsfrage bereits der historischen Lebensreformbewegungen wieder virulent werden: Wie ist die eigene Selbstreform in der Gemeinschaft Gleichgesinnter zum Wohle der gesamten Gesellschaft in der Alltagspraxis umsetz- und lebbar? Stefan Rindlisbacher entfaltet in fünf großen Kapiteln das Kernmilieu und die grundlegenden Praxen sowie die bestimmenden Diskurse der Naturheilbewegung, der Ernährungsreform, der Jugendbewegung, der Selbstreform- und Reformpädagogik und schließlich den politischen Charakter der Lebensreform insgesamt von 1850 bis 1950 in der Schweiz. Viele der dort verhandelten Ideen, Weltbilder und Reformpraxen kommen einem aus deutscher Perspektive bekannt vor, gewinnen ihre Spezifik jedoch in der Perspektive des Forschers und seiner Fragestellungen. Zudem fehlt in der Schweiz ein wesentlicher Punkt: Die deutschen Fraktionen der Reformbewegungen entfalten sich in einem rasant entwickelten Industriestaat, der konfessionell, politisch, sozial und konfessionell zwar ein Flickenteppich blieb, zugleich auf dem Weg zur eigenen Nationalstaatlichkeit war. Dies sorgte im späteren Deutschen Reich für andere (selbst-)legitimatorische Prozesse einer sozialen Bewegung als im Schweizer Fall.

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Konzepte der Biopolitik, der Eugenik, neue freiraumorientierte Bewegungen wie der Wandervogel und die Körperkultur sind auch im deutschsprachigen Ausland bekannt. Doch was genau in der Schweiz »los war«, ist hier erstmals in umfassender Gründlichkeit aufbereitet. Den »neuen Menschen« wollte man »oh Täler weit, oh Höhen« auch in der Schweiz erschaffen, sei es in nacktkultureller Praxis oder in den reformpädagogisch inspirierten Erziehungsanstalten. Das präzise Wissen darum aber liefert uns erst der Autor auf denkbar breitem Quell(en)grund. Dass etwa die neue Nacktheit oder ein anderer Umgang mit Sexualität mit traditionellen Vorstellungen und eingeübten Habitusformen des Bürgertums zu vermitteln waren, wird am Schweizer Beispiel deutlich gemacht und pointiert. Die neureligiöse Aufladung nahezu aller lebensreformerischen Praxis und des ideellen Kosmos’ der Anhänger wird vom Autor klar angezeigt, doch eben hier könnte man künftig umfassendere Forschungen erwarten. Als auch politische Bewegung wird die Freiland-Freigeld-Theorie und deren Praxis vorgeführt und schließlich gar ein Blick auf die Vernetzung der schweizerischen Lebensreformbewegung mit den kolonialen Ausgriffen Europas auf andere Teile der Welt in Beziehung gesetzt. Eva Lochers Arbeit, der Rindlisbacher eingestandener Maßen viel verdankt – beide kooperierten eng im Entstehungsprozess ihrer Dissertationen –, handelt von der Lebensreform ihres Landes nach 1945 und nimmt daher genauer in den Blick, wann und auf welche Weise alltagskulturelle und kulturkritische Ideen aus dem Kernbereich der Lebensreformbewegung in andere soziale Milieus der diese umgebenden Gesellschaft eindringen. Locher konzentriert sich auf die Ernährungsreform, Naturheilkunde und Freikörperkultur. Die Rekonstruktion der Transferbeziehungen zwischen traditioneller Reformbewegung, dem langsam entstehenden »alternativen« Milieu und jugend- wie popkulturellen Visionen und Lebenspraxen wird im Fortgang durch die drei Kernfraktionen der Lebensreform immer wieder fruchtbar gemacht. Dabei beeindruckt die Kombination faktenbasierter, quellenkenntnisreicher Einblicke in die Welt der Bewegung mit basalen, theoretischen klar fundierten Einsichten in den bewegungsinternen wie gesamtgesellschaftlichen Wertewandel der Schweizer Nachkriegsgesellschaft. Genauer beleuchtet werden die personellen und organisatorischen Verflechtungen zwischen der Antikriegs-, der Anti-Atomkraft- sowie der anwachsenden Ökologieund Umweltbewegung. Auch hier gilt: Je populärer und akzeptierter bestimmte Diskurse, Denk- und Lebensformen, die ursprünglich aus dem Kernbereich der Lebensreform stammen, in der umgebenden Gesellschaft werden, umso wichtiger wird die Grenzziehung und die Binnendistinktion der Bewegten und deren Bewunderer.

Natürlich, nackt, gesund / Lebensreform in der Schweiz (1850–1950)

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Sowohl bei Rindlisbacher als auch bei Locher wird deutlich, wie eine Kultur der Außenseiter, wie das Binnenmilieu der Lebensreform, zur Herausforderung für eine ganze Gesellschaft, zum Ärgernis und Stolperstein werden kann – und wie die Lebensreform zum Innovationsgenerator einer etablierten, modernen – den kapitalistischen Nützlichkeitserwägungen, ökonomischen Konzepten und dominant bürgerlichen Ordnungsvorstellungen unterworfenen – Gesellschaft werden konnte. – So treibt unsere, nunmehr »post«- oder »spät«-modern verstandene, Gesellschaft seit Ende des 19. Jahrhunderts ihr Gegenbild immer hervor. Wer von beiden wem dabei sukzessive ähnlicher wird (oder gar werden sollte), ist als zivilgesellschaftlicher, politischer Prozess immer wieder auszuhandeln – und wurde bei Rindlisbacher und Locher am Schweizer Beispiel anschaulich, wofür nicht zuletzt deren, trotz aller Theoriegesättigtheit, gut lesbarer Sprachstil sorgt.

Gudrun Fiedler

Marcel Glaser: Peter Koller (1907–1996). Stadtplaner in Diktatur und Demokratie. Eine Biografie (Stadt – Zeit – Geschichte 7), Göttingen: Wallstein 2021, 474 S., 42 sw Abb., ISBN 978-3-8353-5238-4, 29,90 €

Der in Wien geborene Architekt Peter Koller ist bekannt als Stadtplaner für die 1938 als »Stadt des KdF-Wagens« gegründete heutige Stadt Wolfsburg, an deren Entwicklung er im Auftrag der Gesellschaft zur Vorbereitung des deutschen Volkswagens als Chef des Stadtbaubüros unter dem Generalbauinspektor für Berlin, Albert Speer, 1938 bis 1942 und dann wieder als Stadtbaurat ab 1955 maßgeblich beteiligt war. In Kollers Zeit als Professor für Städtebau an der TU Berlin (1960–1972) fiel sein viel beachtetes Gutachten zur Sanierung des Berliner Stadtteils Wedding. Wenig bekannt ist, wie sehr der Architekt in seiner Jugend- und Studentenzeit in den 1920er Jahren geprägt wurde durch seine engen Beziehungen zu völkischen Gruppen, namentlich zu einem Thule-Kreis, einer Ortsgruppe des Deutschen Schulvereins und zu den am rechten Rand der Bündischen Jugend stehenden Adler und Falken, Ortsgruppe Wien. Während seines Studiums an der Technischen Hochschule Wien gehörte er, so Glaser, zusammen mit anderen bündischen Jugendlichen zum engen Kreis um den österreichischen Nationalökonomen, Soziologen und Philosophen Othmar Spann, den Wegbereiter des Austrofaschismus (Deutsche Hochschulgilde Thule zu Wien). Bei seinem Studienaufenthalt an der TH Berlin-Charlottenburg 1929/30 lernte er Albert Speer kennen, den Assistenten des Reformarchitekten Heinrich Tessenow (»Gartenstadt Hellerau« als Gegenmodell zu städtischen Großsiedlungen). Die Studentenkreise um Spann und Tessenow bildeten, darauf weist Glaser hin, lebenslange, sich gegenseitig unterstützende Netzwerke, denen sich im Nationalsozialismus durch die Aufrüstung der Wehrmacht und in der Bundesrepublik im Rahmen des Wiederaufbaus enorme Beschäftigungsmöglichkeiten boten. Innerlich blieb Koller der autoritären Staatslehre Spanns und den Vorstellungen der Bündischen Jugend von einer ständisch gegliederten volksdeutschen Gesellschaft als Alternative zur demokratischen Weimarer Republik und dem damit verbundenen Elitegedanken bis an sein Lebensende verbunden. Den frühen Eintritt des Architekten in die NSDAP führt Glaser auf das großdeutschnationale Elternhaus und auf die bei seinen Großeltern in Kärnten erlebten

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Nationalitätenkonflikte im »Grenzland Kärnten« zurück, vor allem aber auf seine Mitgliedschaft in völkisch-nationalistischen Gruppen der Jugendbewegung. Koller wurde am 1. Januar 1931 in die NSDAP aufgenommen mit der Mitgliedsnummer 394.167. Im Vordergrund der vorliegenden Arbeit steht der Stadtplaner und Netzwerker Peter Koller, der sich in der NS-Diktatur und in der bundesrepublikanischen Demokratie im heutigen Wolfsburg beruflich sehr erfolgreich positionieren konnte. Marcel Glaser hat den umfangreichen Nachlass von Peter Koller im Wolfsburger Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (40 lfm) und die dort überlieferten Quellen des Stadtbaubüros für die »Stadt des KDF-Wagens« ausgewertet. Anhand von Dokumenten aus zahlreichen weiteren Archiven und Informationen aus gedruckten Quellen rekonstruiert er in der vorliegenden Arbeit den Lebenslauf des Stadtplaners, vergleicht seine Aussagen aus der Erlebniszeit mit dessen nach 1945 einsetzenden biografischen Erzählungen, zieht Vergleiche zu anderen Stadt- und Raumplanern und ordnet Kollers Leben und Arbeiten in die jeweiligen Zeiten ein. Glaser geht nicht nur auf die Eigenperspektive Kollers ein. Er verdeutlicht auch die mit den Brüchen des 20. Jahrhunderts einhergehende Fragmentierung seines Lebenslaufs anhand zeitgenössischer Dokumente, so die Phase des jungen, an seinem Enthusiasmus gescheiterten Architekten und dann die Zeit des erfolgreichen NS-Karrieristen mit Planungsaufträgen für die Volkswagenstadt Wolfsburg sowie für die bedeutenderen Gauhauptstädte Linz (»Jugendstadt des Führers«, S. 204), Graz und Innsbruck. Seine Nachkriegskarriere begann bescheiden. Nach der Rückkehr aus der sowjetischen Gefangenschaft 1945 arbeitete der NS-belastete Architekt zunächst nur als Angestellter in einem Architekturbüro, machte sich nach seinem Wiedereintritt in die katholische Kirche 1947 mit dem Bau des ersten katholischen Gotteshauses in Wolfsburg einen Namen, avancierte 1955 zum Stadtbaurat der »Wirtschaftswunderstadt« Wolfsburg und bekleidete ab 1960 die Professur für Städtebau an der TU Berlin. Der sich seit den 1960er Jahren demokratisierenden bundesrepublikanischen Gesellschaft stand Koller nach seiner Emeritierung und dem Rückzug auf einen Bauernhof im heimischen Kärnten distanziert gegenüber. Dass er auch heute noch als der Erbauer Wolfsburgs gilt und in der Volkswagenstadt verehrt wird, beruht nicht zuletzt auf Kollers aktiver Erinnerungsarbeit. Er stellte seit den 1970er Jahren in Manuskripten, die er in Fachkreisen zirkulieren ließ, aber auch in Veröffentlichungen sein berufliches Leben als kontinuierliche »Aufstiegs- und Entwicklungsgeschichte« (S. 12) dar und untermauerte dies als Zeitzeuge zur Unterstützung architekturgeschichtlicher Arbeiten sowie in Interviews offensiv. Dabei deutete er, so Glaser, seinen beruflichen Lebensweg außerordentlich erfolgreich um, indem er einen Widerspruch zwischen seinen eigenen städtebaulichen Vorstellungen und dem Nationalso-

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zialismus konstruierte, dessen Ideologie er nicht geteilt haben wollte. Die frühen, in den späten 1940er und in den 1950er Jahren verfassten Texte ordnet Glaser hingegen in den Zusammenhang der Selbstfindung nach dem Zusammenbruch seiner Ideale ein, als Koller versuchte, sich an die neue demokratische Ordnung zu gewöhnen. In den Texten bekennt Koller »als reuiger Sünder« (S. 52) seinen Antisemitismus und bezeichnet die frühe Hinwendung zum Nationalsozialismus als Fehler, den er zu dieser Zeit noch auf Einflüsse der völkisch-nationalistischen Jugendbewegung zurückführte. Dem Dörnbergbund als Erinnerungsbund der Adler und Falken stand er in den 1950er Jahren distanziert gegenüber. Diese »ganze nationale Haltung« schien ihm »völlig veraltet, überholt und eigentlich absurd« (S. 320). Die Gründung der Stadt des KdF-Wagens und des Volkswagenwerks bezeichnete er als rein technische, durch den Nationalsozialismus, insbesondere durch Hitler und Speer, korrumpierte Vorhaben (S. 12). Als Protegé von Albert Speer nahm Koller die von Adolf Hitler und Albert Speer eher locker formulierten Rahmenbedingungen für seine Bauaufträge widerspruchslos hin und nutzte seinen selbstständigen Spielraum. Eine irgendwie geartete Störung des Planungsprozesses durch Speer in Wolfsburg ließ sich nicht nachweisen. Bei der Stadtkrone brachte er seine eigenen Vorstellungen von der städtebaulichen Umsetzung des vollständigen nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs ein. Eigene planerische Akzente hat Koller (nur) mit der beliebten Wohnsiedlung Steimkerberg gesetzt. Glaser bezeichnet den Architekten in dieser Zeit als enthemmten Nationalsozialisten, bei dem sich Ideologie und eigene Neigung gegenseitig mobilisierten (»Planungsrausch«, S. 247) und der sich bewusst in der Nähe von NS-Größen aufhielt. Er arbeitete dabei gerne mit Raumplanern und Architekten seiner Generation zusammen, darunter viele aus Kreisen der bündischen Jugendbewegung. Hier gab es, so der Autor mit Verweis auf entsprechende Forschungsergebnisse (»Denkkollektiv«, S. 406), eine gemeinsame Grundlage des Denkens über eine ständisch aufgebaute Stadt, die mit ihrer klaren Ordnung helfen sollte, die krisenhafte Entwicklung moderner Gesellschaften mit ihrem individualisierten Lebensstil zu überwinden (»Social Engineering«, S. 1). Koller gehörte zu der jüngeren Architektengeneration der um 1900 Geborenen, die sich von älteren Stadtplanern absetzte und deren Ästhetizismus ablehnte. Diese Gruppe sah die Stadt nicht als Ansammlung von Architekturgebäuden. Die Jüngeren beachteten die soziologischen und wirtschaftswissenschaftlichen Aspekte eines reibungslos funktionierenden Gemeinwesens, in dem das Zusammenleben tenchnokratisch und autoritär streng geregelt werden sollte. Konservativ in seiner Architektur (Planung Wolfsburgs als Gartenstadt) beruhte Kollers innovative stadtplanerische Vorstellung darauf, dass er sich früher als andere bei der Planung auf die Erhebung von statistischem Datenmaterial als Ausgangspunkt für die notwendige Anzahl u. a. von »Versorgungs-, Handwerks-, Bildungs- und Gemein-

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schaftseinrichtungen« (S. 172) bezog und mit dieser »analytischen Durchdringung des Raumes« (S. 351) Stadtplanung wissenschaftlich zu legitimieren suchte. Koller hatte, so weist Glaser plausibel nach, großes Interesse daran, diese erprobte Methode auch für Stadtneugründungen in den eroberten und annektierten Gebieten Ostmitteleuropa (Westpreußen und Warthegau) anzuwenden. Der Verfasser verweist darauf, dass hier neben den rein stadtplanerischen Herausforderungen auch eine in der Bündischen Jugend geformte Vorstellung von der »kolonisatorische(n) Aufgabe« der »Deutschen« im »Osten« (S. 144) eine Rolle spielte. Glaser kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass Peter Koller sowohl nach 1938 als auch nach 1955 keinen kohärenten Generalbebauungsplan für die Volkswagenstadt vorgelegt hat. Sein Erfolg im NS und in der Bundesrepublik bestand darin, dass er sich zu einem »Vermittler und Manager« (S. 172) und gewieften Netzwerker entwickelt hatte, der die eigentliche Arbeit seinen Mitarbeitern bzw. beauftragten Architekten überließ oder auf andere Experten (Statistiker und Raumplaner) zurückgriff, wobei er zumindest im Stadtbaubüro die Ergebnisse streng kontrollierte. Kollers Ruhm als Wolfsburger Stadtbaurat mehrte die von ihm auf den Weg gebrachte moderne Architektur, so u. a. das von Alvar Aalto 1958/1962 gebaute Kulturzentrum (heute Alvar-Aalto-Kulturhaus, Wolfsburger Kirchenbauten Aaltos 1968/1969). Nicht nur als Leiter des Stadtbaubüros in Wolfsburg, sondern bei all seinen Projekten im NS war der Stadtplaner gezwungen, seine Ziele in einer Gemengelage unterschiedlicher konkurrierender Instanzen und lokaler Parteigrößen umzusetzen. Diese in der NS-Zeit erprobte Fähigkeit half ihm auch in der pluralistischen Demokratie der BRD, widerstreitende Interessen »auszutarieren und zu koordinieren« (S. 410). Damit war er sehr erfolgreich und fand breite Resonanz in der frühen Bundesrepublik. Zu Hilfe kam ihm, dass er in der Wolfsburger Stadtverwaltung in eine Gruppe ebenfalls autoritär agierender Verwaltungsbeamter eingebunden war, die einsam und ohne Bürgerbeteiligung in paternalistischer Art und Weise Entscheidungen traf, und es verstand, sich u. a. in der Presse als bürgernah zu inszenieren. Hinzu kam, dass er meinungsstark von seinem nationalsozialistischen Engagement und seiner Nähe zu NS-Größen ablenken konnte. Kollers Narrativ eines durchweg ideologieskeptischen und den Nationalsozialisten gegenüber unabhängigen Stadtplaners wurde umso plausibler, je besser sich Wolfsburg im Windschatten des weltumspannenden Erfolgs des Autokonzerns am Mittellandkanal eigenständig entwickelte. Seine Mitgliedschaft in völkischen Gruppen deutete er seit den 1970er Jahren, dem Zeitgeist durchaus entsprechend, als Widerstand gegen den Nationalsozialismus um. Marcel Glaser ist ohne Vorbehalte zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass es bestürzend ist, dass bei dem Katholiken Koller die Opfer des NS nicht vorkommen und dass

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er die für das Werk arbeitenden und die u. a. im Außenlager des KZs Neuengamme auf dem Laagberg untergebrachten Zwangsarbeiter in seinen Erinnerungen nicht einmal erwähnt. Bezeichnend für einen Mann seiner Generation ist es, dass Koller den Alltag seiner vielköpfigen Familie und die zahlreichen Umzüge seiner Ehefrau überließ, ohne sie je zu thematisieren. Die vorliegende Studie zeichnet auf einer breiten und gut recherchierten Quellen- und Literaturbasis Koller plausibel als repräsentativen Typ der zwischen 1900 und 1910 geborenen Architekten und Stadtplaner, die nicht mehr zum Krieg eingezogen wurden und den Krieg sowie die allgemeine soziale, ökonomische und politische Verunsicherung der Nachkriegszeit bewusst erlebten, in Österreich verschärft durch den Zusammenbruch des jahrhundertealten habsburgischen Vielvölkerstaats.1 Marcel Glaser hat die große Schwierigkeit gemeistert, die nicht unmittelbar einsichtigen zeitgenössischen Architekturzeichnungen und Stadtpläne sowie Fachdebatten zu historisieren und einzuordnen. Als Ergebnis stellt er fest, dass diese Berufsgruppe in der als »Durchlauferhitzer fungierende[n] NS-Diktatur« (S. 2) in einflussreiche Positionen gelangte und dabei grundlegende Erfahrungen im Umgang mit unübersichtlichen, krisenhaften Situationen und knappen Ressourcen machen konnte, die in der Wiederaufbaugesellschaft der frühen Bundesrepublik sehr nützlich waren. Koller selbst bahnte als Planer der erfolgreich neugegründeten Stadt Wolfsburg den Weg für eine Betrachtung der Stadt als (technokratische) Funktionseinheit und hat damit zur modernen Disziplin der Stadtplanung beigetragen, was ihm 1960 den Ruf an die TU Berlin einbrachte. Die Arbeit zeigt, wie alte, seit dem Studium in der Weimarer Republik gepflegte Netzwerke von Fachleuten, die sich als Funktionselite verstanden, auch in der jungen Bundesrepublik weiter bestanden und Einfluss ausübten. Dieses Fazit lässt sich auch auf etliche andere Berufsgruppen ausdehnen, so beispielsweise auf die der Techniker und Ingenieure, soweit sie nicht zur ersten Reihe prominenter Nationalsozialisten zählten, sondern »nur«, wie Peter Koller, im Entnazifizierungsverfahren als Mitläufer eingestuft wurden (Kategorie IV).2 Die interessante und lesenswerte, aber leider ohne Register veröffentlichte Arbeit ist auch für Kreise der Jugendbewegungsforschung zu empfehlen, die sich nicht unbedingt mit Stadtplanung befassen. Koller hatte keine bedeutende Position innerhalb der Jugendbewegung inne und wird bisher im Gegensatz zu seinem Kommilitonen an der TH Berlin-Charlottenburg, Erich Kulke, auch nicht als solcher erinnert. Sein Beispiel zeigt jedoch, dass es sich lohnt, die Biografien 1 Die männliche Form wurde von der Rezensentin bewusst gewählt, da es sich hier schließlich um Männer gehandelt hat. 2 Aus journalistischer Sicht: Nina Grunenberg: Die Wundertäter. Netzwerke der deutschen Wirtschaft 1942 bis 1966, München 2006; auch Eugen Kogon: Die Stunde der Ingenieure. Technische Intelligenz und Politik, Düsseldorf 1976.

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von Mitgliedern der Jugendbewegung auch aus anderen Perspektiven zu betrachten. Zu fragen wäre etwa: Wie und in welchen Berufsgruppen agierten jugendbewegte Netzwerke und wie wirkte sich dies auf die jeweilige Fachlichkeit aus? Beruhte die Wirkungsmächtigkeit jugendbewegter Netzwerke in der Bundesrepublik ebenso wie bei Koller auf geschickten, den jeweiligen bundesrepublikanischen Narrativen angepassten Erzählungen? Koller selbst hat nach 1945 immer wieder auf seine jugendliche Prägung durch die bündische Jugend hingewiesen und seit den 1970er Jahren damit seine scheinbare Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus begründet, blieb aber Zeit seines Lebens in autoritären, aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stammenden Denkmustern verhaftet, so das Fazit der vorliegenden Studie. Bedenkenswert und auch bei anderen Lebenswegen zu überprüfen, ist der Vorschlag des Autors, das Verhalten des Architekten in der Bundesrepublik als Anpassung zu bezeichnen, nicht als Lernprozess. Koller selbst hat offensichtlich über sein Leben in zwei so unterschiedlichen Systemen nicht kritisch reflektiert. Er sah sich am Ende seines Lebens bruchlos und ohne Einschränkung als Gestalter Wolfsburgs und entsprechend als »wichtige Person der Stadtgeschichte« (S. 19).

Hans-Ulrich Thamer

Oliver Werner: Wissenschaft »in jedem Gewand«? Von der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung« zur »Akademie für Raumforschung und Landesplanung« 1935 bis 1955, Göttingen: Wallstein Verlag 2022, 284 S., ISBN 978-3-8353-5173-8, 30,– € Am 27. Oktober 1960 trafen sich in Hannover Raumwissenschaftler, Landesplaner, Staatsbeamte und Vertreter der Politik, um das »25jährige Bestehen der Raumforschung in Deutschland« zu feiern. Der neu ernannte Vizepräsident der »Akademie für Raumforschung und Landesplanung«, Heinrich Hunke, bis 1945 Generalsekretär der »Reicharbeitsgemeinschaft für Raumforschung«, bezeichnete die »Akademie«, die nach 1945 im neuen Gewand wiederbelebt wurde, als »Rechtsnachfolgerin« der »Reichsarbeitsgemeinschaft« (RAG) und sah deren Auftrag darin, den »mit Erfolg beschrittenen Weg den jeweiligen Zeitverhältnissen entsprechend fortzuführen, um auf diese Weise zu einer sinnvollen Gestaltung des Lebensraumes nach Kräften beizutragen« (S. 37). In seiner Eröffnungsrede begrüßte Hunke, seit 1923 NSDAP-Mitglied und bis 1945 Gauwirtschaftsberater der NSDAP, ganz besonders das wieder rehabilitierte Akademiemitglied Prof. Dr. Konrad Meyer, den »ersten Obmann der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung«; aber damit auch den einstigen nationalsozialistischen Multifunktionär und wichtigsten Planer von Heinrich Himmlers verbrecherischem »Generalplan Ost«, was 1960 freilich keine Erwähnung fand. Dementsprechend nahm auch niemand an der personellen und teilweise auch begrifflichkonzeptionellen Kontinuität der Akademie Anstoß; auch nicht der niedersächsische Innenminister Otto Bennemann, einst Mitglied der sozialistischen Widerstandsbewegung des »Internationalen Sozialistischen Kampfbundes«, der nun in seiner Begrüßungsrede die »Reichsarbeitsgemeinschaft« nachträglich zum Träger einer »freien Wissenschaft« in einem »diktatorischen« Regime erhob (S. 38). Diese starken Kontinuitätslinien und auch das vielzitierte »kollektive Beschweigen« (Lübbe), das für große Teile der einstigen nationalsozialistischen Funktionseliten der Staatsdiener und Richter, der »Wirtschaftsführer« und Unternehmer, der Offiziere und eben auch der Wissenschaftler bzw. Ärzte bis in die 1960er Jahre und teilweise darüber hinaus galt, sind ein zentrales Thema der Untersuchung von Oliver Werner, die im Auftrag der heutigen »Akademie für Raumentwicklung« entstand. Sie gehört in den größeren Zusammenhang der aktuellen »Behördenforschung«, mit der eine Reihe von Ministerien und Ämter

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die Geschichte ihrer Vorläufer und das Verhalten von deren Schlüsselfiguren von Historiker-Kommissionen wissenschaftlich erforschen lassen. Auch wenn diese umfangreichen Untersuchungen bisweilen als »Zertifizierungsunternehmen Zeitgeschichtsforschung« (Bajohr) kritisch beäugt werden, haben sie inzwischen methodische Standards in Sachen Vergangenheitspolitik gesetzt. Sie haben der historischen Forschung und dem öffentlichen Geschichtsbewusstsein fruchtbare Erkenntnisse geliefert und vor allem zu einer größeren Differenzierung und Historisierung bei der historischen Urteilsbildung über das Verhalten der Funktionseliten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis in die frühe Bundesrepublik beigetragen. Werner richtet den Blick jedoch nicht nur auf Personen und ihre Netzwerke, wie das vielfach in ähnlichen Studien geschieht, sondern auch auf »die institutionellen Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens« und auf »die inhaltliche Entwicklung der Raumplanung vom Nationalsozialismus bis zur frühen Bundesrepublik« (S. 15). Aus der Frage nach Kontinuitäten und »Übergängen« ergibt sich zugleich die zeitliche Begrenzung der Untersuchung: von der »Reichsarbeitsgemeinschaft« 1935 bis zum Jahr 1955, als sich die »Akademie« organisatorisch verfestigte und ihre Forschungsarbeiten sowie deren Finanzierung feste Konturen bekamen. Damit fokussiert der Vf. seinen Blick zunächst auf das Personal der RAGH, das er – in Übernahme aktueller, auf die Gemeinsamkeit der »Identität« und der »Erfahrung« ausgerichteter Begrifflichkeiten – einer »Generation von 1953« (S. 18) zuordnet. Das sind diejenigen Forscher, die insgesamt zwischen 1881 und 1913 geboren sind und deren Kerngruppe zwischen 1892 und 1902 geboren wurde. Sie konnten sich in der NS-Zeit als eine »Planungselite« mit großen »Gestaltungsmöglichkeiten« (S. 18) verstehen. Die veränderten institutionellen und politischen Rahmenbedingungen, mit denen auch das Verhältnis von Wissenschaft und Politik zueinander sich veränderte und neue Formen der Konfliktführung bzw. des geregelten Aushandelns von Interessen ermöglichten, stellten die 1953er dann in der frühen Bundesrepublik vor »hohe Lern- und Anpassungsforderungen« (S. 19). Diese werden im dritten Kapitel der Studie – einem besonders ertragreichen Kapitel – in einer Diskursanalyse auf die Frage nach Kontinuität und Anpassung der Begrifflichkeit und Forschungskonzepte untersucht. Dass die 36 Wissenschaftler und zwei Wissenschaftlerinnen, die zur »Generation 1953« der Raumforscher gehörten und im Frühjahr 1953 zu den ersten Mitgliedern der neuen »Akademie« berufen wurden, zu zwei Drittel ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, kann angesichts der jüngsten Forschungen zum öffentlichen Leben in der NS-Zeit kaum noch überraschen: Das entsprach dem Durchschnitt, wobei Oliver Werner mit guten Gründen darauf hinweist, dass die formale NS-Mitgliedschaft noch nicht viel über die Motive und politischen

Wissenschaft »in jedem Gewand«?

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Orientierungen und das Handeln der einzelnen Mitglieder aussagt, auch wenn zumeist die Erwartung einer Karriereförderung hinter dem Parteieintritt stand (S. 53). Wichtiger ist die gründliche Untersuchung der Forschungsinhalte, die sich aus den zahlreichen Publikationen der Raumforscher ergeben. Zu ihnen zählten Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, vor allem der Geographie, der Wirtschaftswissenschaften, der Agrarwissenschaft sowie – weniger stark vertreten – der Soziologie. Ihre ideengeschichtlichen Traditionslinien und Deutungsmuster, deren teilweise von völkischen Ideologien geprägter Ansatz meist schon aus der vornationalsozialistischen Zeit stammte, begründeten auch die Netzwerke und den »generationellen Stil« (U. Herbert) der Forscher. Er ebnete ihren Weg in die NS-Zeit und zu ihrer Bereitschaft, sich dem NS-Regime mitsamt der damit verbundenen Phänomene der Ideologisierung und Biologisierung sozialer Vorgänge und Strukturen dienstbar zu machen. Unter den Bedingungen einer Konsensdiktatur verbanden sich nun in der NS-Zeit die »Realisierungswünsche« der Wissenschaftler mit einer verlockenden »Realisierungsmöglichkeit« (S. 18). Die große Beständigkeit nicht nur der personellen Strukturen und Netzwerke sowie die oft nur oberflächliche Anpassung bzw. Umformung der überkommenen Begrifflichkeit und Denkstile, prägte dann auch das Denken und Verhalten der Raumforscher in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zwar passte man sich den veränderten politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen an, sprach aber nicht über die eigene Mitverantwortung an »diesem Ausnahmezustand« (S. 207). Überdies leugnete man als probate Strategie der Selbstentnazifizierung die Rolle der eigenen Wissenschaft als Teil des Nationalsozialismus und seiner Politik. Die Raumforschung, so tönte es nach 1945 immer wieder, habe »mit dem Nationalsozialismus« nichts zu tun. Angesichts dieses Befundes stellt sich auch für die dargestellte wissenschaftliche Disziplin die Frage (die sich auch für andere Felder gesellschaftlicher Aktivitäten stellt), wie sich trotz dieser Belastungen die Integration in eine demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik und deren Stabilisierung vollzog. Der Vf. sieht vor allem die mit einer deutlichen Verzögerung erfolgten institutionellen Neuansätze in der Organisation der Forschung und die sich damit notwendigerweise ergebenden veränderten Verhaltensformen bzw. Denkstile als wichtige Voraussetzungen der Lern- und Anpassungsprozesse, wobei das »kollektive Schweigen, inhaltliche Umdeutungen und umfassende Selbstfreisprechung« den institutionell geschützten Raum für diese Anpassungen boten (S. 210). Dass eine methodische Offenheit der Raumforscher in dem ersten Jahrzehnt, das in der Studie vorbildlich untersucht wird, noch nicht erkennbar war, muss Werner allerdings einschränkend feststellen. Ob diese unverzichtbare Voraussetzung freier Wissenschaft sich in der »Generation 1953« irgendwann, zu

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Hans-Ulrich Thamer

einem späteren Zeitpunkt und vielleicht erst nach einem Generationswechsel einstellte, wird vom Vf. leider nicht mehr behandelt. Das wäre allerdings eine wichtige Bestätigung seiner These eines, wenn auch mit Verzögerung erfolgten, Lern- und Anpassungsprozesses.

Sylvia Wehren

Deutsche Freischar e. V. – Bund der Wandervögel und Pfadfinder (Hg.): »Wir sind wie der Wind der über Landstraßen geht …«. Die Deutsche Freischar in Bremerhaven und umzu, 1945–1970, Berlin: Verlag der Jugendbewegung 2022, 521 S., ISBN 978-3-88258-812-5, 24,80 € Die Geschichten von Jugend(en) in der Nachkriegszeit sind bereits vielfach beforscht und beschrieben. Die vorliegende Publikation ordnet sich ein in die Reihe der Arbeiten zur Selbstdeutung und Selbsthistorisierung jener Zeit, wie sie auch für die Aufarbeitung der deutschen Jugendbewegung(en) typisch sind. Sie beschäftigt sich intensiv mit der Neugründung freier Jugendgruppen in Bremerhaven und Umland nach dem Zweiten Weltkrieg und verfolgt deren Entwicklung bis in die 1970er Jahre. Erarbeitet wurde sie von ehemaligen Freischarler*innen in intensiven Prozessen der Rekonstruktion eigener Geschichte. Sie basiert auf vielfältigem Quellenmaterial, vorwiegend auf (auto-)biographischen Zeugnissen, die teilweise eigens für die Publikation entstanden sind (z. B. Gedächtnisprotokolle). Zwar ist über die Verortung im norddeutschen Raum ein starker regionaler Fokus gesetzt, doch können die Ereignisse und Entwicklungen als Teil einer deutsch-deutschen Gesamtgeschichte verstanden werden. Die Publikation ist in einen geschichtlichen Hauptteil, der sich in sechs Kapitel gliedert und zahlreiche Quellen enthält, sowie einen weiteren umfangreichen Material- und Dokumentenanhang unterteilt. Beidem vorangestellt ist ein Geleitwort von Jürgen Reulecke, der entlang des Wandels der inhaltlichen und emotionalen Bezüge von Liedgut die historischen Phasen der deutschen Jugendbewegung zusammenfassend charakterisiert. Nach einer knappen Einleitung bietet das erste Kapitel des Hauptteils »Zur Geschichte und Entwicklung Bremerhavens« (Fred Riefsdahl) den historischen Kontext zur Historiographie Bremerhavens ab dem 19. Jahrhundert. Im Zentrum der Ausführungen des Kapitels stehen die wirtschaftlichen, bevölkerungsbezogenen und kulturellen Entwicklungen der Stadt, intensiver wurde u. a. zu den geschichtlichen Entwicklungen der »Stadtbremerischen Häfen« gearbeitet. Im zweiten Kapitel »Die Freischar in Bremerhaven und umzu 1945 bis 1953« (Liane Bartel, geb. Bartram) werden die Anfänge der Entstehung und die ersten Entwicklungen der Freischaren in Bremerhaven und Umland bis in die 1950er Jahre thematisiert. Die Ausführungen fußen auf Tagebucheinträgen, Fahrtenberichten, Zeitschriftenauszügen und anderen Dokumenten, die teilweise voll-

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Sylvia Wehren

ständig im Text abgedruckt sind. Beschrieben werden vor allem die zeitlichen Abläufe der Gruppenfindungen wie auch die personellen Entwicklungen; ausführlich wird das gesellschaftliche Freischarleben dokumentiert. Da dieses Kapitel – als einziges – aus weiblicher Perspektive konzipiert wurde, werden hier in besonderem Maße die Geschlechterverhältnisse reflektiert. Es zeigt sich deutlich zeigt, dass in der Entwicklung der Freischargruppierungen auch frauendiskriminierende und patriarchale Tendenzen Wirkung hatten. Das dritte Kapitel, »Der Ernst-Buske-Ring bis 1956 und seine Vorgeschichte« (Werner Heinen), versucht die Gesamtheit der jugendbewegten Bundesstrukturen und deren politische und gesellschaftliche Ausrichtungen zu fassen sowie den Ernst-Buske-Ring innerhalb dessen zu verorten. Dabei werden vor allem die organisationalen Prozesse des Ringes beschrieben. Besonderes Augenmerk liegt auf der Entstehung der institutionellen Bedingungen in den Besatzungszonen; gleichzeitig werden die strukturellen Einrichtungen der neugegründeten Bundesrepublik in Zusammenhang mit der Freischarbewegung gebracht. Auch in diesem Kapitel werden das Gruppenleben, die Fahrten sowie die Verbindungen und Entwicklungen zwischen den Gruppen ausführlich thematisiert. Das vierte Kapitel, »Entwicklungen innerhalb des Ernst-Buske-Ringes und der Freischar 1956 bis 1965« (Heinz Brandt, Hans Neumann und Walter Kleinschmidt), beschäftigt sich mit der nachfolgenden Zeit. Die Inhalte basieren wieder auf (auto-)biographischen Materialien, u. a. auf dem Tagebuch und den Fotoalben von Heinz Brand. Weitere Quellen und Fotoalben stützen jedoch die Rekonstruktionen. Später werden die zunächst chronologischen Beschreibungen auch durch eine »etwas andere Sicht« (S. 185) eines anderen Autors ergänzt. Dies ist spannend, weil auch hier Erinnerungen, schriftliche sowie bildliche (auto-) biographische Quellen zugrunde gelegt sind, der ergänzende Text selbst jedoch noch stärker als persönlicher Bericht abgefasst ist, was die geschichtlichen Perspektiven weiter vervielfältigt. Ein weiteres Unterkapitel schließlich beschäftigt sich mit der Horte Wehrfüchse in den Jahren 1957 bis 1963; auch dies schafft weitere Tiefendimensionen in der Rekonstruktion der Geschichte der Freischargruppen. Das fünfte Kapitel, »Deutsche Freischar in Bremerhaven 1958–1969« (Fred Riefsdahl), und das sechste, »Gründung und Entwicklung der Cuxhavener Gruppen von 1949–1957« (Eckhard Bietz), rekonstruieren ebenfalls aus den jeweiligen persönlichen Sichtweisen die Ereignisse. Auch hier stehen, wie in den vorangegangenen Kapiteln vor allem die Aspekte des Fahrten- und Wanderlebens, die Gruppenorte und Gruppenaktivitäten im Vordergrund. Der Anhang enthält weitere, ergänzende Quellenmaterialien, u. a. Fahrtenberichte zu Fahrten im In- und Ausland, die teilweise in der Retrospektive verfasst wurden. Unter anderem stammen sie von Walter Bergmann, Werner Heinen und Uwe Laudi. Diese Dokumente sind u. a. deshalb spannend, weil sie

»Wir sind wie der Wind der über Landstraßen geht …«

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weitere, intensive Einblicke in die Perspektiven anderer Mitglieder auf das Fahrten- und Gemeinschaftsleben der Jugendgruppen ermöglichen und weil sie gleichzeitig auch auf die Entwicklungen und den gesellschaftlichen Status der Jugendgruppen reflektieren. Auch wurden persönliche Berichte, eine Auswahl von Zeitschriften, Mitgliedsaufstellungen, Rundbriefe und andere Dokumente aus dem Vereinsleben im Anhang abgedruckt. Getragen wird die Publikation von einer sehr materialreichen Erinnerungsarbeit, deren Zustandekommen und deren Fortgänge in Teilen ebenfalls dokumentiert wurden. Die Texte sind stark quellenbasiert, die Materialien aufschlussreich arrangiert. Es handelt sich zwar um keine wissenschaftliche Publikation, als Erinnerungschronik jedoch versammelt sie reichhaltige Informationen, persönliche Perspektiven und vielseitige Eindrücke vom gesellschaftlichen und kulturellen Leben und der Entwicklung der Jugendgruppen. Des Öfteren fehlt zwar eine ›ordnende Hand‹, die die einzelnen Informationen stärker zusammenhängend und verdichtet präsentiert, deutlich werden jedoch die dynamischen und fluiden Gruppenstrukturen, die Ver- und Entkollektivierungsprozesse und die verschiedenen Aufmerksamkeiten im Gruppenleben. Gelungen sind auch die individuellen Versuche der Verknüpfung der Gruppen und ihrer Entwicklungen zu den entstehenden staatlichen Institutionen. Auffällig und interessant sind zudem die hohe Bedeutsamkeit von Wasser und Küste, Musik und Gesang sowie im weiteren die verschiedenen Aspekte von persönlichen und strukturellen Konflikten, die die Entwicklungen der Gruppen vorantreibt. Eine dezidierte Beschreibung dieser Konflikte und, damit verbunden eine stete Aufmerksamkeit auf Macht- und Ungleichheitsstrukturen, fehlt jedoch. Infolgedessen gibt es auch keinen intensiveren Fokus auf gewaltvolle und diskriminierende Prozesse innerhalb der Freischarbewegung. Vielmehr stehen die Beschreibungen des Schönen und Erfüllenden der damaligen Zeit im Mittelpunkt. Einzig im Kapitel mit weiblicher Autor*innenschaft (Kap. 2) werden geschlechtliche Ausschluss- und Benachteiligungsprozesse thematisiert. Die Publikation bietet daher zwar vielfältige Einblicke in die regionalen Gruppenarrangements um Bremerhaven entlang von Selbsthistorisierungsbewegungen; weiterführende Analysen müssten jedoch von kritisch wissenschaftlicher Arbeit unternommen werden. Dazu bietet die Publikation reichhaltig Material. Aufschlussreich sind im Weiteren die generationalen Bezüge; die Autor*innen reflektieren selbstständig auf die Eigenarten von Jugend zu dieser Zeit und die Schwierigkeiten und Problemfelder, die sich durch Erwachsenwerden und Erwachsenenleben für die Gruppenaktivitäten ergaben. Kleinere Verweise finden sich auch zur Jugendburg Ludwigstein, größer ausgearbeitet ist die Bedeutung von Wasser und Wasserreisen. Insgesamt liegt ein liebevoll gestaltetes und gelungenes Erinnerungsprojekt vor.

Rückblicke

Susanne Rappe-Weber

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2022

Im Mittelpunkt des Jahres stand das 100-jährige Jubiläum des Archivs, das im Sommer gefeiert wurde. Die Vorbereitungen dafür, an denen neben den Hauptamtlichen viele Ehrenamtliche beteiligt waren, prägten die erste Jahreshälfte. Dazu zählte die Initiative »Archivstipendium« des Workshops Jugendbewegungsforschung, die zahlreiche jüngere Forscher*innen in den Lesesaal brachte. Diese entwickelten im Anschluss an ihren Archivaufenthalt eine Ausstellung sowie Beiträge für das Archivjahrbuch. Mit der Gestaltung eines Schwerpunktthemas »100 Jahre AdJb« innerhalb des Magazins »Archivnachrichten aus Hessen« gelang es, zum Jubiläum ein thematisch passendes, bildreiches Magazin zu präsentieren. Einen eigenen Akzent stellte die Renovierung und Einweihung der Kleinorgel im Meißnersaal der Burg Ludwigstein dar – aus den Forschungen des DFG-Projektes zur Jugendmusikbewegung heraus, für die Öffentlichkeit und die Attraktivität der Jugendburg, finanziell und organisatorisch unterstützt von der Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung. Bei der Jubiläumsfeier selbst wurde, neben der Würdigung des Erreichten, die Zukunftsfähigkeit des AdJbs in den Mittelpunkt gestellt. Zur Sprache kam in einer Podiumsdiskussion mit Eckart Conze, Carola Dietze, Sandra Funck und Klaus Schäfers v. a. das dauerhafte Potential der vielseitigen Archivquellen. Fragen der räumlichen Ausstattung sowohl hinsichtlich der Magazinflächen als auch zur besseren Präsentation von Objekten spielten ebenfalls eine Rolle – ein Thema, das bereits im Frühjahr und dann noch einmal im Oktober als gemeinsames Anliegen aller Burggremien diskutiert wurde. Während sich für die Unterbringung des Archivgutes in zusätzlichen Magazinräumen bereits Lösungen abzeichnen, stoßen weitergehende Pläne (»Youth Lab«, Musealisierung) auf zunehmend schwieriger werdende gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen. Im Übrigen wurde während des Jahres gemeinsam mit den anderen Bereichen der Burg wieder ein normaler Archivbetrieb realisiert, wobei die Besuchs- und Nutzungszahlen im Vergleich zu den Vor-Corona-Werten etwas zurückfielen. Zugleich waren die personellen Kapazitäten im Zusammenhang mit der Neubesetzung der Stellvertretungsstelle begrenzter als zuvor, sodass die Wieder-

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Susanne Rappe-Weber

aufnahme aller gewohnten Veranstaltungsformen wie »Workshop Jugendbewegungsforschung«, »Archivtagung«, »Tag des offenen Archivs« und »Tag des offenen Denkmals« eine wahrnehmbare Anstrengung darstellte.

Archivstatistik 2022 Auskünfte

2018 289

2019 261

2020 214

2021 156*

2022 191

Benutzer*innen Benutzertage

103 217

60 230

65 177

45 101

52 121

Besucher*innen Besuchergruppen Seminarteilnehmerde Seminargruppen

933 17 181 16

554 19 105 6

100 4 20 2

230 17 37 5

465 25 121 6

Scanaufträge

2487

3001

5460

5075

12.452

* Seit 2021 werden hier nur noch archivfachliche Auskünfte erfasst, Auskünfte zur Überlieferungsbildung (Vor- und Nachlass-Beratung z. B.) und einfache Beratungen zur Archivnutzung hingegen nicht.

Personal Zum 28. Februar 2022 ist Diplom-Archivarin Elke Hack ausgeschieden und in Pension gegangen. Als Nachfolger konnte Diplom-Archivar Mario Aschoff M. A. gewonnen werden, der seinen Dienst am 1. August antrat. Archivleiterin Dr. Susanne Rappe-Weber und B.A./ FAMI Birgit Richter versahen ihr Amt wie gehabt. Die Stelle im Bundesfreiwilligendienst wurde zum 1. Dezember mit Galina Schacke besetzt. Bis zum Jahresende wurden die beiden Musikwissenschaftlerinnen, Dr. Amrei Flechsig (Hannover) und Dr. Ute Brüdermann (Bückeburg), jeweils mit einer halben Stelle weiterbeschäftigt. Die langjährige wissenschaftliche Hilfskraft Frauke Schneemann M. A. hat zum 30.09. ihre Mitarbeit abgeschlossen. Neu gewonnen wurde aus Göttingen Julia Bartels B. A. im Rahmen eines Projektes zu sexualisierter Gewalt.

Ehrenamtliche, Werkverträge, Praktikum – Ehrenamtlich: Johan P. Lutz Kettenring (Pfadfindergeschichte), Michael Kubacki und Sandra Funck (Workshop Jugendbewegungsforschung)

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2022

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– Werkvertrag Anne Hildebrand, Witzenhausen: Erschließung von Tonträgern der Jugendmusikbewegung (01.01.–31.12.) – Werkvertrag Frauke Schneemann, Göttingen: Erschließung von Pfadfinderunterlagen der Sammlung ZAP (01.02.–30.09.) – Werkvertrag Angelika Klassen, Marburg: Erschließung von Fotografien der djo-Deutsche Jugend in Europa (01.04.–30.08.) – Werkvertrag Julia Bartels, Göttingen: Erschließung des Nachlasses von Alexej Stachowitsch (15.05.–31.07.) – Praktikum Jens Kleinert, Göttingen: Erschließung kleinerer musikbezogener Nachlässe (14.02.–11.03.) – Praktikum Marius Nagel, Marburg: Erschließung kleinerer Nachlässe (21.02.– 08.04.) – Praktikum Judith Windel, Göttingen: Erschließung von Nachlässen und Materialsammlungen (04.04.–31.05.)

Erschließung und Katalogisierung Diplom-Archivar Mario Aschoff hat als erstes Projekt die Erschließung des Familienarchivs »Paasche« gewählt, ein vom Umfang her kleiner Bestand, der aber wegen der vermischten Provenienzen und der hohen Nachfrage besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Eine wissenschaftliche Hilfskraft, Frau Klassen, hat im Staatsarchiv Marburg die Fotografien im Bestand der »Deutschen Jugend des Ostens« thematisch geordnet und pauschal erfasst worden. Die Summe der durch das DFG-Projekt in den AdJb-OPAC übertragenen Bücher beträgt 8.343 Stück. Die Bibliothek ist damit deutlich gewachsen, von rd. 31.000 Einheiten auf nun fast 40.000 Einheiten. Im Programm der Bundessicherungsdigitalisierung befand sich der Nachlass von Werner Kindt (N 14).

Zugänge Insgesamt wurden Erwerbungen in 29 Einzelfällen getätigt, darunter die Abholung von Vorlässen bei den Forschern Prof. Dr. Peter Dudek, Prof. Dr. Ulrich Linse sowie Prof. Dr. Günter Behrmann. Prof. Dr. Ulrich Herrmann überbrachte seine Materialsammlung zu Siegfried Bernfeld selbst. Von Klaus Nippert aus Karlsruhe kam der Nachlass seines jugendbewegten Vaters, Hermann Nippert. Hinsichtlich seines großen Umfangs und der komplexen Biografie stellt der Nachlass des Pädagogen, Jugendbund-Gründers und sexueller Gewalt Beschuldigten Alexej Stachowitsch (1918–2013) eine besondere Herausforderung dar,

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Susanne Rappe-Weber

den die Erben, der Jugendbund Phoenix e. V., dem AdJb mit dem ausdrücklichen Wunsch nach Aufarbeitung übergeben haben. Besondere Bedeutung kam den Übernahmeverhandlungen mit dem Katholischen Pfadfinderbund St. Georg zu. Einem Besuch am derzeitigen Standort in Neuss-Holzheim folgte ein Gegenbesuch der DPSG-Verantwortlichen auf Burg Ludwigstein. Avisiert ist die Übergabe von ca. 250–300 lfd Meter Unterlagen als Depositum.

Ausstellung Anstelle eine eigenen Produktion wurde die Ausstellung »Spuren des Kolonialismus. Der private Nachlass des Wandervogels Karl Fischer« vom Kulturamt des Bezirks Steglitz-Zehlendorf in Berlin übernommen. Über die Bereiche Mission, Wissenschaft, Wirtschaft, Militär und Vereinswesen stellt die Ausstellung koloniale Aspekte in der Gesellschaft des Kaiserreichs vor und bringt sich damit in den Diskurs um das postkoloniale Erbe in Deutschland ein. Dass der Nachlass einer Zentralfigur der Wandervogelbewegung dafür reichlich Material bereithält, ist kein Zufall, sondern zeigt die Verflechtungen zwischen Kolonialismus und Jugendbewegung exemplarisch auf. Neben Plakaten und Fotoinstallationen waren auch Archivoriginale aus Steglitz und aus dem AdJb zu sehen. Zusätzlich gezeigt wurde die Poster-Ausstellung »Junge Forschung zur Jugendbewegung«.

Archivführungen, Seminare, Präsentationen, Tagungen Digital Das AdJb beteiligte sich am vorwiegend digital begangenen Tag des Offenen Archivs mit einem Video über ein ungewöhnliches Sammlungsobjekt, eine »Kokosnuss-Spießlaute«. Damit wurden das bundesweite Motto »Fakten Geschichten Kurioses« und der AdJb-Schwerpunkt »Jugendbewegung und Musik« gleichermaßen aufgegriffen; verfügbar unter https://www.youtube.com/watch? v=6WMlUsxJi7A. Auch zum Tag des offenen Denkmals kam ein neues Video zum Einsatz, das die ehrenamtliche »Jugendbauhütte« thematisierte. Neue Posts auf der Plattform »archive2121«, verfügbar unter: https://archive 2121.hypotheses.org/, adressieren vor allem junge Klimaaktivist*innen, für die das AdJb gemeinsam mit dem Archiv der Arbeiterjugendbewegung Informationen zur Archivierung bereitstellt.

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2022

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Vor Ort Der Workshop Jugendbewegungsforschung fand wieder als Wochenendveranstaltung auf Burg Ludwigstein statt und erreichte mit 16 Teilnehmer*innen den gewohnten Zuspruch (29.04.–01.05.). Publiziert wurde dazu ein Bericht auf HSozKult; verfügbar unter https://www.hsozkult.de/searching/id/fdkn-130330. Die Feier des 100-jährigen Archivjubiläums fand am 09. 07. 2022 statt. Zur Archivtagung »Jugend – Gewalt im 20. Jahrhundert. Erleben, Erörtern, Erinnern«, veranstaltet zusammen mit dem AdJb für den wissenschaftlichen Beirat von Meike S. Baader, Till Kössler und Dirk Schumann kamen am Wochenende 21.–23. 10. 2022 rund 70 Teilnehmende.

Veröffentlichungen und Vorträge Themenschwerpunkt »100 Jahre Archiv der deutschen Jugendbewegung« mit Beiträgen von Sandra Lüpkes, Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber sowie Amrei Flechsig und Ute Brüdermann, in: Archivnachrichten aus Hessen, 22/1, 2022 Jugend ohne Sinn? Eine Spurensuche zu Sinnfragen der jungen Generation 1945– 1949, hg. von Wolfgang Braungart mit Gabriele Guerra und Justus Ulbricht (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 17|2022), Göttingen 2022, 428 S. Freischaltung des Themenportals zur Jugendmusikbewegung; verfügbar unter https://www.adjb-jugendmusikbewegung.de/ Susanne Rappe-Weber Veröffentlichungen – Bewegt und beständig. Was es braucht, um das einhundert Jahre alte Archiv einer sozialen Bewegung zukunftsfest zu machen, in: Hessische Archivnachrichten, Nr. 22/1, 2022, S. 8–12 – Wandervogels Abschied, in: Fidus-Bilder. Postkarten und Drucke, hg. von Edi Goetschel und Regula Schenkel, Zürich: Montsalvat Verlag 2022, S. 79–86 – Neue Töne im Meißnersaal. Die Restaurierung der Orgel im Meißnersaal steht vor dem Abschluss, in: Ludwigsteiner Blätter, Nr. 294, 2022, S. 16–18 – Tagungsbericht zu: Jugend – Gewalt im 20. Jahrhundert Erleben, Erörtern, Erinnern, in: Ludwigsteiner Blätter, Nr. 296, 2022, S. 30–32 – Hellmuth Behrendes (1901–1994) – Freund und Förderer der Burg Ludwigstein und des Archivs der deutschen Jugendbewegung, in: Ludwigsteiner Blätter, Nr. 296, 2022, S. 20–21

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Susanne Rappe-Weber

– Rezension zu: Li Gerhalter: Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800, , in: Jugend ohne Sinn? (Archivjahrbuch), S. 375–378 Vorträge – Karlsruher Tagung für Archivpädagogik mit einem Beitrag zu »Lebenslinien junger Menschen. Biografische Zugänge zur Geschichte«, Landesarchiv Baden-Württemberg (04.03.) – Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendlichen als Aufgabe für die Jugendburg, Geschichtsverein Witzenhausen (22.03.) – Sammlungsstrategien in Archiven sozialer Bewegungen, Workshop Jugendbewegung (29.04.) – Gustav Wyneken, Werkstatt Pädagogikunterricht Ostwestfalen-Lippe (WUPO) zum Thema »Reformpädagogik als Thema des Pädagogikunterricht«, Universität Paderborn (10.06.) – Arbeitskreis Missbrauchsforschung in der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn (07./08.07.) – Eröffnung des Archivs des Landeswohlfahrtsverbands Hessen in Kassel (22.09.) – Liederbücher international nach 1945, Woodcraft Folk Symposium: Span the World with Friendship«, Institute of Education, UCL London (digital, 10.10.) – 100 Jahre Archiv der deutschen Jugendbewegung. Eine Feier für die VJL?, Novembergespräche der Vereinigung Jugendburg Ludwigstein (05.11.)

Ute Brüdermann Veröffentlichungen – Selbstvergewisserung durch Archivierung. DFG-Projekt zur Jugendmusikbewegung, in: Hessische Archivnachrichten, Nr. 22/1, 2022, S. 17–21

Amrei Flechsig Lehrveranstaltung – Zwischen musikalischer Erneuerung und NS-Ideologie: Die Jugendmusikbewegung, Musikwissenschaftliches Seminar an der Georg-August-Universität Göttingen, Wintersemester 2022/23 Vortrag – »›Unverzichtbar für alle, die sich mit Musikgeschichte zwischen 1900 und heute befassen‹: Aufarbeitung von Archivbeständen zur Jugendmusikbewe-

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2022

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gung« bei der Jahrestagung 2022 der Gesellschaft für Musikforschung in Berlin (28.09.–01. 10. 2022) Veröffentlichung – Selbstvergewisserung durch Archivierung. DFG-Projekt zur Jugendmusikbewegung, in: Hessische Archivnachrichten, Nr. 22/1, 2022, S. 17–21

Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2022 sowie Nachträge

1.

Jörg Albrecht: Vom »Kohlrabi-Apostel« zum »Bionade-Biedermeier«. Zur kulturellen Dynamik alternativer Ernährung in Deutschland, Baden-Baden: Tectum 2022 2. Rebecca Bamberger: Nazis’ Cultural Codes in the Weimar Republic. Decoding the German Youth Newspaper »Der Zwiespruch« 1928–1933, Masterarbeit: Universität Upspsala 2022 3. Arvid von Bassi: Karl Dietrich Erdmann. Historiker, Wissenschaftsorganisator, Politiker, Berlin u. a.: De Gruyter Oldenbourg 2022 4. Deutsche Freischar e. V. (Hg.): Die Deutsche Freischar in Bremerhaven und umzu 1945–1970, Berlin: Verlag der Jugendbewegung 2022 5. Helmut Donat: Hans Paasche. Ein Leben für die Zukunft, Bremen: Donat 2022 6. Freunde und Förderer der Pfadfinderinnen und Pfadfinder im Saarland e. V.: Gedenkfeier für die ermordeten oder vertriebenen jüdischen Pfadfinderinnen und Pfadfinder im Pfadfinderbund Makkabi Hazair, St. Ingbert 2022 7. Manfred Gailus: Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reichen, Freiburg u. a.: Herder 2021 8. Marcel Glaser: Peter Koller (1907–1996). Stadtplaner in Diktatur und Demokratie. Eine Biografie, Göttingen: Wallstein 2022 9. Edi Goetschel, Regula Schenkel (Hg.): Fidus-Bilder. Postkarten und Drucke, Zürich: Monsalvat 2020 10. Thomas Großbölting: Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, Freiburg u. a.: Herder 2022 11. Walther Kindt: Erinnerungspolitische Verfälschungen in einem Buch über die Jugendbewegung. Eine frappierende wissenschaftslogische Fallanalyse, Berlin: Peter Lang 2022

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Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2022 sowie Nachträge

12. Heinz-Hermann Krüger, Cathleen Grunert, Katja Ludwig (Hg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, 2 Bde., 3. Aufl. Wiesbaden: Springer VS 2022 13. Ulrich Linse: Völkisch, nationalsozialistisch, rechtsradikal. Weltanschauung und Lebenswelt einer Jugendbewegten. Eine deutsche Biographie im 20. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin u. a.: Peter Lang 2022 14. Eva Locher: Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Frankfurt: Campus 2021 15. Franziska Meier: Ein »bündischer Kulturmarkt« entsteht. Die deutsche Jugendbewegung und Jugendmusikbewegung als Katalysator für den Aufbau von Kulturmarktunternehmen 1918–1933 (Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte 10), Heidelberg: Franz Steiner 2021 16. Claudia Parhammer: Schönheit, Kraft und Jugend. Bilder des Männlichen im Kontext der Lebensreformbewegungen (1890–1930), Baden-Baden: Tectum 2022 17. Stefan Rindlisbacher: Lebensreform in der Schweiz (1850–1950). Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen, Berlin: Peter Lang 2022 18. Walter Sauer (Hg.): Kunst und Künstler im Umfeld der Jugendbewegung, Baunach: Spurbuchverlag 2022 19. Fritz Schmidt (Hg.): Jungenschaft tief im Süden. Schwäbische Jungenschaft, Peter Rohland und Jungenschaft Göppingen, Jungenschaft Schwabmünchen/Bobingen (Edition Mindener Kreis), Nürnberg 2022 20. Wolfgang Schöllkopf (Hg.): Zweitausend Tage Dachau. Berichte und Tagebücher des Häftlings Nr. 16921 Karl Adolf Groß, Schwäbisch Hall: Molino 2020 21. Lu Seegers (Hg.): 1968. Gesellschaftliche Nachwirkungen auf dem Lande, Göttingen: Wallstein 2020 22. Spuren des Kolonialismus. Der private Nachlass des Wandervogels Karl Fischer, Berlin: Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf, Fachbereich Kultur 2021 23. Christoph Wagner (Hg.): Lichtwärts. Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel die ersten Ökos im Südwesten (1880–1940), Ubstadt-Weiher: Verlag Regionalkultur 2022 24. Oliver Werner: Wissenschaft »in jedem Gewand«? Von der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung« zur »Akademie für Raumforschung und Landesplanung« 1935 bis 1955, Göttingen: Wallstein 2022 25. Sigrid Wirth, Dieter Kirsch: Der Lautenist Walter Gerwig, Emmendingen: Deutsche Lautengesellschaft 2022 26. Alexander Zinn: Von »Staatsfeinden« zu »Überbleibseln der kapitalistischen Ordnung«. Homosexuelle in Sachsen 1933–1968, Göttingen: V&R unipress 2021

Wissenschaftliche Archivnutzung 2022

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.

Camille Auboin, Strasbourg (Frankreich): Hans Paasche (1881–1920) – Kolonialismus und Lebensreform Julia Bartels, Göttingen: Zum Leben Alexej Stachowitschs / Sexualisierte Gewalt in der Jugendbewegung Elisa Sophia Braun, Berlin: Landwirtschaftliche Architekturen Sabine Eckelmann, Diera-Zehren: Reisen an die Zonengrenze Robert Eikmeyer, Pforzheim: Lebensreformbewegung – eine Ausstellung Annegret Fischer, Harrislee: Lieder der deutschen Jugendmusikbewegung Amrei Flechsig, Hannover: Studien zur Jugendmusikbewegung Anna Fricke, Düsseldorf: Ausstellung »Neue Gemeinschaften« Laura Füger, Berlin: Lagerwelten als Räume rechtsextremer Vergemeinschaftung und Vergeschlechtlichung Lisa Gersdorf, Jena: Jugendbewegung und Internationale Beziehungen Christoph Goldstein, Landshut: August Halms Violinübung Tanya Harrod, London (Großbritannien): Rolf Gardiner im 20. Jahrhundert Sabine Haustein, Duisburg: Hans Grohmann – 100 Jahre Duisburger Künstlerbund Heinrich Kaulen, Berlin: Walter Benjamin – Edition der Jugendschriften 1908–1915 Lisa Koch, Einbeck: Christentum und Gesellschaft in ausgewählten Publikationen der Neuwerkbewegung Wolfgang Laschka, Groß-Umstadt: Deutscher Republikanischer Pfadfinderbund, Rote Pfadfinder und Schwarze Schar James Lauren, Knoxville (USA): Bündische Jugend Katharina Lenski, Jena: Die Quellen der Lebensreform Christian Loos, Münster: Völkischer Nationalismus in der Jugendbewegung Volker Mergenthaler, Marburg: Walter Benjamin – Edition der Jugendschriften 1908–1915 Sabine von Mering, Waltham (USA): Helmut Hirsch

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Wissenschaftliche Archivnutzung 2022

22. Florian Metzger, Kassel: Kolonialschule und Jugendbewegung in Witzenhausen (ca. 1920–1940) 23. Johann Nicolai, Berlin: Der Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer (1920–1945) 24. Rainer Orth, Frankfurt a. M.: Biografie Edmund Heines 25. Spyros Petritakis, Berlin: Karl Wilhelm Diefenbach und Konstantinos Parthenis 26. Brigitte Pfeil, Kassel: Kristina Pfeiffer-Raimund 27. Christian Philipp, Göttingen: Die »Kausch-Affäre« am Grotefend-Gymnasium Hannoversch Münden 28. Luzie Rohr, Mainz: Der Wandervogel Wiesbaden 29. Felix Ruppert, Marburg: Europäische Ethnologie und Jugendbewegung 30. Alina Schubert, Hasbergen: Bündische Kinder- und Jugendliteratur auf dem nationalsozialistischen Buchmarkt 31. Hanna Schwager, Witzenhausen: Artamanen – Geschichte, Kontinuitäten, Geschlechterbilder 32. Eike Andreas Seidel, Buchholz: Bündische Jugend im Widerstand 33. Joachim Treviranus, Celle: Die Celler Musikantengilde und Stadtkantorei 34. Sylvia Wehren, Leipzig: Kinder- und Jugendtagebücher 1830–1930 35. Sigrid Wirth, Wolfenbüttel: Der Lautenist Walter Gerwig (1899–1966) 36. Lieven Wölk, Berlin: Der deutsch-jüdische Jugendbund »Schwarzes Fähnlein« und seine Geschichte im 20. Jahrhundert

Anhang

Autorinnen und Autoren

Meike Sophia Baader, Prof. für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hildesheim; Veröffentlichungen zur Kindheitsgeschichte, zu Erziehung im Kontext von 1968, zur Geschichte der Frauenbewegungen und zu sexualisierter Gewalt in pädagogischen Kontexten Wolfgang Braungart, Prof. i. R. Dr., 1996–2022 Prof. für neuere deutsche Literatur und allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld; Publikationen u. a. zur Kunstpädagogik, zur literarischen Utopie, zur Ritualtheorie, zu Stefan George und seinem Kreis, zu Literatur und Religion sowie zur Zeit um 1900 Jens Elberfeld, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter am Arbeitsbereich Historische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Veröffentlichungen zur Geschichte der Therapeutisierung, zur Geschichte kindlicher Sexualität, und zur Zeitgeschichte des Selbst. Gudrun Fiedler, Dr. phil., Studium der Geschichte und Germanistik, Archivdirektorin, 2006–2023 Leiterin des NLA-Staatsarchivs Stade; Arbeitsgebiete: Geschichte Niedersachsens (nach 1945), Niedersächsische Wirtschaftsgeschichte, Geschichte der Jugendbewegung Hajo Frölich, Dr. phil., Sinologe und Historiker; Provenienzforscher, Kurator und Projektleitung Archiv; Veröffentlichungen zur chinesischen Bildungs-, Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in ihren globalen Bezügen Aaron Glöggler, Studium der Geschichte und Anglistik in Leipzig, seit 2023 Lehrer für Geschichte und Englisch am Georgius-Agricola-Gymnasium Chemnitz

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Autorinnen und Autoren

Sarina Hoff, Historikerin und Gymnasiallehrerin; Arbeiten zur Geschichte körperlicher Schulstrafen (Dissertationsprojekt) und zu Mainz und Neustadt a. d. Weinstr. in der späten Weimarer Republik Mischa Honeck, Prof. für die Geschichte Großbritanniens und Nordamerikas an der Universität Kassel; Veröffentlichungen zur Geschichte der Antisklavereibewegung, zur US-amerikanischen Pfadfinderei und zur Kulturgeschichte der Verjüngung in den USA Christian Jansen, Studium der Geschichte und Mathematik in Heidelberg, Tätigkeit in einem Druckereikollektiv, 1985–2013 wiss. Mitarbeiter u. befristeter Professor in Heidelberg, Bochum, Konstanz, Berlin und Münster, 2013–2022 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Trier, seitdem Rentner und freiberuflicher Historiker; Publikationen verfügbar unter https://www.uni-trier.de /index.php?id=50400 Petra Josting, Prof. Dr. phil. habil., Germanistin an der Universität Bielefeld mit den Schwerpunkten Kinder- und Jugendliteraturforschung sowie Literatur- und Mediendidaktik Till Kössler, Prof. für Historische Erziehungswissenschaft an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg; Veröffentlichungen zur Geschichte des Kommunismus, zur spanischen Zeitgeschichte, zur Geschichte von Gewalt und zur Geschichte der Kindheit und Erziehung in der Zeitgeschichte Katharina Lenski, Dr. phil. Historikerin, Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin, vor 1989 wegen ihres pazifistischens Engagements vom Medizinstudium exmatrikuliert, später in der Kirche von Unten in Berlin aktiv, Beteiligung am Aufbau des Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« in Jena, Leitung dort bis 2011; Arbeitsschwerpunkt: Habilitation zur »Asozialität« im 19. und 20. Jahrhundert Florian Metzger, B. A., Studium der Geschichte an der Universität Leipzig, Masterkandidat an der Universität Göttingen; Studienschwerpunkte: Kulturund Geschlechtergeschichte der Antike, deutsche Kolonialgeschichte, Jugendkulturen und Gewalt Susanne Rappe-Weber, Dr. phil., Historikerin und Archivarin, 1993–1997 wiss. Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2002 Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung; Veröffentlichungen zu Archivthemen und zur historischen Jugendforschung

Autorinnen und Autoren

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Felix Ruppert, M. A., Europäischer Ethnologe, wiss. Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg; Forschungsinteressen: historische wie gegenwärtige soziale Bewegungen, Protest- und (politische) Jugendkulturen. Dissertationsprojekt zu Praktiken und Kulturen des hackens Christian Sachse, Dr. phil., Theologe und Politikwissenschaftler, wiss. Berater der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG); Veröffentlichungen vorwiegend zur Heimerziehung und politischen Haft in der DDR Dirk Schumann, Prof. für Neuere und Neueste Geschichte an der Georg-AugustUniversität Göttingen; Veröffentlichungen zur Geschichte des Wirtschaftsbürgertums, zur Weimarer Republik und zur Gewalt von und gegen Jugendliche nach 1945 Barbara Stambolis, Prof. Dr., Prof. für Neuere und Neueste Geschichte; Veröffentlichungen und Studien u. a. zu Jugend- und Generationengeschichte im 20. Jahrhundert sowie Jugendbewegungen, Details siehe: www.barbara-stambo lis.de Hans-Ulrich Thamer, Studium der Fächer Geschichte, Klassische Philologie und Politikwissenschaft, em. Prof. für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster; Forschungsschwerpunkte: Französische Revolution, Geschichte des Nationalsozialismus und des europäischen Faschismus, Politische Rituale und symbolische Kommunikation in der Moderne, Kulturgeschichte von Museen und Ausstellungen Justus H. Ulbricht, Dr. phil., Historiker, Germanist und Pädagoge, seit 2020 Freier Wissenschaftler; Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums seit 1800, zur Klassik- und Nietzsche-Rezeption, zur Religionsgeschichte der Moderne, zur Jugendbewegung, zu Aspekten der deutschen Erinnerungskultur und zur Kulturgeschichte Mitteldeutschlands Giorgio Del Vecchio M. A., Historiker, Promovierender an der Universität Trier; Veröffentlichungen zu politischer Gewalt, Terrorismus und sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren in Italien Bernd Wedemeyer-Kolwe, apl. Prof., Dr. phil., Dr., Volkskundler und Sporthistoriker, seit 2011 wiss. Leiter des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte in Hannover (NISH); Arbeitsschwerpunkte: Sportgeschichte, Lebensreform, völkische Bewegung und Okkultismus

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Autorinnen und Autoren

Sylvia Wehren, Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin, seit 2016 wiss. Mitarbeiterin an der Stiftung Universität Hildesheim; Arbeitsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, erziehungswissenschaftliche Körperforschung, historische Jugend- und Tagebuchforschung und Medienbildungsforschung Lieven Wölk, M. A., Studium Jüdische Studien und Geschichte (Potsdam) und Moderne Europäische Geschichte (Berlin), Promotion zur Gesamtgeschichte des deutsch-jüdischen Jugendbundes Schwarzes Fähnlein; Veröffentlichungen zu Akteurinnen im Schwarzen Fähnlein sowie zu den ehemaligen Mitgliedern Werner Tom Angress und Walter Laqueur Max-Ferdinand Zeterberg, M. A., Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften, Promotion in den Erziehungswissenschaften (Universität Kassel), wiss. Mitarbeiter an der SUB Göttingen und am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Göttingen; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Digital Humanities, Geschichte von Jugendverbänden, Geschichte sozialer Bewegungen