Judikatives Unrecht in der Zivilgerichtsbarkeit – Ursachen und Rechtsschutz: Eine rechtssoziologische Evaluationsstudie zur Feststellung der Effektivität des Rechtsschutzes bei hinreichendem Tatverdacht der Rechtsbeugung [2 ed.] 9783428583188, 9783428183180

Gegenstand dieser Evaluationsstudie ist die Rechtswirklichkeit der richterlichen Entscheidungsfindung in ihrer Fehleranf

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Judikatives Unrecht in der Zivilgerichtsbarkeit – Ursachen und Rechtsschutz: Eine rechtssoziologische Evaluationsstudie zur Feststellung der Effektivität des Rechtsschutzes bei hinreichendem Tatverdacht der Rechtsbeugung [2 ed.]
 9783428583188, 9783428183180

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Prof. Dr. Andreas Voßkuhle

Band 97

Judikatives Unrecht in der Zivilgerichtsbarkeit – Ursachen und Rechtsschutz Eine rechtssoziologische Evaluationsstudie zur Feststellung der Effektivität des Rechtsschutzes bei hinreichendem Tatverdacht der Rechtsbeugung 2., aktualisierte Auflage

Von

Achim Schulz-Arenstorff

Duncker & Humblot · Berlin

ACHIM SCHULZ-ARENSTORFF

Judikatives Unrecht in der Zivilgerichtsbarkeit – Ursachen und Rechtsschutz

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Prof. Dr. Andreas Voßkuhle

Band 97

Judikatives Unrecht in der Zivilgerichtsbarkeit – Ursachen und Rechtsschutz Eine rechtssoziologische Evaluationsstudie zur Feststellung der Effektivität des Rechtsschutzes bei hinreichendem Tatverdacht der Rechtsbeugung 2., aktualisierte Auflage

Von Achim Schulz-Arenstorff

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7514 ISBN 978-3-428-18318-0 (Print) ISBN 978-3-428-58318-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort zur 2. Auflage Die Erstauflage dieser Evaluationsstudie wurde 2012 (unter anderem Titel) von der Juristischen Fakultät der Universität Zürich als Dissertation angenommen. Betreut wurde sie von Herrn Prof. Dr. Manfred Rehbinder, UZH Zürich, dem ich dafür nachhaltig zu ganz außerordentlichem Dank verpflichtet bin, und zwar auch dafür, dass er sie in die Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung aufgenommen hat. Die Arbeit bedurfte einer umfassenden Neukonzeption und Überarbeitung, so vor allem infolge der Grundsatzentscheidung des BGH zur Rechtsbeugung 2 StR 479/13, dann aufgrund der Entscheidung des BVerfG JZ 2015, 890 zum Anspruch auf effektive Strafverfolgung Dritter, ferner aufgrund einiger Beschlüsse der Oberlandesgerichte zum Klageerzwingungsantrag und schließlich aufgrund des neueren Schrifttums mit harscher Kritik am derzeitigen Zustand der Judikative. Den Text der Arbeit habe ich zu großen Teilen neu verfasst und erweitert durch die Evaluation des Klageerzwingungsantrags nach § 172 II 1 StPO. Die im Anhang angeführten Fallbeispiele krass fehlerhaften richterlichen Entscheidungsverhaltens sollen die eingangs aufgestellte Hypothese vom höchst defizitären zivilprozessualen Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht zumindest plausibel machen, nachdem sie wissenschaftstheoretisch nicht zu verifizieren ist. Die Untersuchung fällt in das Gebiet der Rechtstatsachenforschung und ist als Gesetzesevaluation konzipiert. Ihr Gegenstand ist der zivilprozessuale „Rechtsschutz gegen den Richter“ nach letztinstanzlichen Fehlurteilen beruhend auf grobem judikativen Unrecht. Ihr Schwerpunkt liegt in der Auseinandersetzung mit der stark erodierten Strafvorschrift des § 339 StGB zur Rechtsbeugung, die maßgeblichen Einfluss auf die Effektivität der Restitutionsklage nach §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO ausübt, wohl wissend, dass es sich beim Vorwurf der Rechtsbeugung um ein beliebtes Begehren von Querulanten handelt. Was die Auslegung des § 581 I ZPO anbelangt, folge ich dabei der von Prof. Dr. Johann Braun entwickelten Wiederaufnahmetheorie, wie sie ausführlich von Braun/Heiß in der Kommentierung zu §§ 578 ff. ZPO im Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 2, 6. Aufl. 2020, erläutert wird. Außerdem befasse ich mich rechtsvergleichend mit der m. E. verbesserungswürdigen Verfahrensfehlerrestitution in der einheitlichen Schweizerischen Zivilprozessordnung. Als Ergebnis der Studie wird ein Vorschlag zur Reform der Strafvorschrift des § 339 StGB unterbreitet und die Einsetzung eine Qualitätsbeauftragten angeregt. München/Berlin im Februar 2021

Achim Schulz-Arenstorff

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

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§ 1 Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1. Eingrenzung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Durchführung der Arbeit als Gesetzesevaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 a) Gegenstand und Ziel der Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 b) Die mittels der Evaluation zu verifizierende Hypothese . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Beschränkung auf den Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht . . . . . . . . . . 23 4. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II. Ziel: Aufdeckung der rechtsstaatlichen Defizite des Rechtsschutzes . . . . . . . . 25 1. Die Untersuchung als interdisziplinäres Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2. Strafrechtswissenschaftliche und kriminologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 27 3. Zur Erosion der Strafrechtsnorm des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 III. Wachsende Bedeutung des Zivilprozessrechts und Entwicklung der außerordentlichen Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Der Funktionswandel des Zivilprozessrechts vom Rechtsdurchsetzungszum Rechtsgewinnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Prozesszweck und materielle Rechtskraft sachlich unrichtiger Urteile . . . . . 31 3. Legitimation der außerordentlichen Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 § 2 Zivilprozessrecht und Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 I. Rechtssoziologische und rechtspsychologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Die Spruchtätigkeit des Richters als soziales Handeln i. S. der Soziologie 35 2. Psychische Einflussfaktoren auf die Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . 36 3. Annäherung der Zivilprozessrechtswissenschaft an die Rechtssoziologie . . 40 II. Zivilprozessrecht und Zivilprozessrechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Der Beitrag der Rechtssoziologie zur Reform des Zivilprozessrechts . . . . . . 41 2. Der Beitrag der Rechtsvergleichung zur Fortentwicklung des Prozessrechts 42 3. Ziele und Instrumente der Rechtsvergleichung in der Schweiz . . . . . . . . . . . 44 § 3 Richtigkeitsgewähr und Fehlentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Rechtskraftdurchbrechung nach der älteren BGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . 46

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Inhaltsverzeichnis II. Das Richtigkeitspostulat im rechtswissenschaftlichen Schrifttum . . . . . . . . . . . 47 1. Die „relative Rechtmäßigkeitsgewähr“ nach Peter Gilles . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Die Rechtskrafttheorie nach Ulfrid Neumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 3. Die Wiederaufnahmetheorie nach Johann Braun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 III. Greifbare Gesetzwidrigkeiten und Rechtsbeugung als Anfechtungsgründe . . . 51 1. Greifbare Gesetzwidrigkeit als richterlicher Kunstfehler . . . . . . . . . . . . . . . . 51 a) Greifbare Gesetzwidrigkeit und objektive Willkür . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 b) Greifbare Gesetzwidrigkeit und Rechtsbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Außerordentliche Anfechtbarkeit letztinstanzlicher Entscheidungen wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 IV. Zur Bedeutung der Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Die Entscheidungsbegründung als Kontrollgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Anforderungen an die Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 b) Der Begründungszwang bezogen auf letztinstanzliche Urteile . . . . . . . . . 57 2. Rechtsmethodik und Entscheidungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

§ 4 Zur Rechtsschutzgewährleistung nach der Zivilprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I. Das Zivilprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch als Auffangrecht . . . . . . . . . . . . 62 2. Anforderungen an die Effektivität des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Die Gestaltung der ZPO unter dem Einfluss des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . 65 III. Exkurs: Rechtshistorischer Rückblick auf die Rechtsschutzgewährleistung unter dem Dogma vom Rechtsschutz durch, aber „nicht gegen den Richter“

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1. Anerkennung ungeschriebener Ausnahmerechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Die These Voßkuhles vom „sekundären Kontrollanspruch“ . . . . . . . . . . . . . 69 3. Die Kontroverse „Anhörungsrüge oder Wiederaufnahmeklage“ . . . . . . . . . . 70 4. Einführung der Anhörungsrüge durch die ZPO-Reform 2002 . . . . . . . . . . . . 71 a) Die Plenarentscheidung des BVerfG vom 30. 04. 03 . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 b) Neufassung des § 321a ZPO durch das Anhörungsrügegesetz . . . . . . . . . 73 c) Wegfall der Ausnahmerechtsbehelfe als nicht geplanter Nebeneffekt? . . 74 § 5 Die gesetzlichen Vorgaben der richterlichen Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . 76 I. Maßgeblichkeit der Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Die Kontroverse Hassemer – Rüthers zur Bedeutung der Gesetzesbindung

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2. Die Diskrepanz zwischen Herstellung und Darstellung der Entscheidung 78 II. Der Rechtsstab als Adressat von Verhaltens- und Sanktionsnormen . . . . . . . . . 80 1. Unterscheidung Verhaltens- und Sanktionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Auf die richterliche Spruchtätigkeit bezogene Verhaltensnormen . . . . . . . . . 81 a) Das Postulat der Gesetzesbindung als sekundäre Verhaltensnorm . . . . . . 82 b) Spezielle Verhaltensnormen bezogen auf die richterliche Spruchtätigkeit

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Inhaltsverzeichnis

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c) Das ungeschriebene Gebot der Unterlassung elementarer Rechtsverstöße 84 III. Abgrenzung der Begriffe Rechtsschutz, Kontrolle und Sanktion . . . . . . . . . . . . 85 IV. Das Entscheidungsverhalten des Richters im Kernbereich seines Wirkens (der Spruchtätigkeit) als Sanktionsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Bedeutung und Funktion der sekundären Sanktionsnormen . . . . . . . . . . . . . 89 2. Sanktionierung der Missachtung des Postulats der Gesetzesbindung? . . . . . 90 3. § 26 DRiG als Sanktionsnorm das sonstige richterliche Verhalten betreffend 91

Teil 2 Durchführung der Evaluation: Feststellung des Befunds und Ermittlung der Interventionswirkungen

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§ 6 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit der Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 I. Klarstellung der zu überprüfenden Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Gegenstand der Evaluationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Zielsetzung der einzelnen Evaluationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 II. Durchführbarkeit der Evaluationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Probleme der methodengerechten Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Schwierigkeiten bei der Hypothesenüberprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3. Einschränkungen bei der Einhaltung der Evaluationsstandards . . . . . . . . . . . 99 a) Fehlen einer verwertbaren Justizstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Selektion bei der Inanspruchnahme der außerordentlichen Rechtsbehelfe 101 III. Feststellung der Gesetzeszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Der Regelungszweck des § 321a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2. Der Regelungszweck der §§ 580 Nr. 5 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Der Regelungszweck des § 172 II 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 § 7 Anspruch und Rechtswirklichkeit der Zivilgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I. Rechtsstaatliche Defizite des zivilprozessualen Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . 105 1. Egon Schneider zur Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit . . . . . 106 2. Schrifttum zur Rechtswirklichkeit der deutschen Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Die Maßnahme der Bundesregierung zur Verbesserung der Qualität der Rechtspflege: Der „Pakt für den Rechtsstaat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Erfassung der gesetzlichen Vorgaben der Rechtsschutzgewährleistung gegen sachlich unrichtige letztinstanzliche Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Beschränkung des Rechtsbehelfs auf die Gehörsverletzung . . . . . . . . . . . . . 109 2. Keine Sanktionierung der Verletzung der sonstigen Verfahrensgrundrechte 110 3. Kein effektiver Rechtsschutz bei Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

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§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 I. Unzulängliche Implementierung des § 321a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 II. Bisherige Ansätze zur Evaluierung des § 321a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Der Erfahrungsbericht Vollkommers aus dem Jahr 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Feststellung der Problematik des Anhörungsrügeverfahrens . . . . . . . . . . . 115 b) Die Schlussfolgerungen Vollkommers aus den Fallanalysen . . . . . . . . . . 116 2. Die massive Kritik Egon Schneiders am Anhörungsrügegesetz . . . . . . . . . . 117 3. Weitere kritische Stimmen zu § 321a ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 III. Vorschläge im Schrifttum zur Rettung der Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Gravenhorst und Bloching/Kettinger: Vorlage an den judex ad quem . . . . . . 120 2. Seer/Thulfaut: Beschwerde zum judex ad quem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 3. Schnabl: Analoge Anwendung des § 42 II ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4. Kritische Würdigung der Regelungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 IV. Ablehnende Haltung der Richter zur Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Die Rechtsprechung zur Garantie des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Abwehrhaltung und Abwehrmechanismen der Richterschaft . . . . . . . . . . . . 126 3. Tauglichkeit der instanzinternen Selbstkontrolle als effektives Kontrollinstrument? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 V. Die Gehörverletzung als Wiederaufnahmegrund gemäß § 579 I Nr. 4 ZPO . . . 128 VI. Anhörungsrüge und Nichtzulassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Das Gesetz vom 07. 07. 11 zur erneuten Änderung des § 522 ZPO . . . . . . . . 130 2. Einschränkung des Anwendungsbereichs der Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . 131 a) Gleichstellung der Zurückweisungen durch Urteil und Beschluss . . . . . . 131 b) Folgen der Änderung des § 522 II ZPO in eine Soll-Vorschrift . . . . . . . . 132 3. Die nicht genutzte Alternativlösung: Reform des § 321a ZPO . . . . . . . . . . . 134 4. Willkürliche Ungleichbehandlung der Beschlusszurückweisungen nach der Höhe des Beschwerdewertes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 VII. Zwischenergebnis bezogen auf die Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 § 9 Evaluation der Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Das Erfordernis der rechtskräftigen Verurteilung des Richters . . . . . . . . . . . . . 137 1. Die Gegenansicht des BGH zur Auslegung des § 581 I ZPO . . . . . . . . . . . . 138 2. Rechtsfortbildung des Wiederaufnahmerechts praeter legem durch die Anerkennung des Rechtsbehelfs nach § 826 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 II. Weitere Zugangsschranken zur Restitutionsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 III. Zwischenergebnis bezogen auf die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO . . . 141 § 10 Evaluation der Vorschriften der §§ 172 I 2 StPO mit 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . 142 I. Zur Seins- und Sanktionsgeltung des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Instrumentelle oder symbolische Geltung des § 339 StGB? . . . . . . . . . . . . . 143 2. Zur Sanktionsgeltung des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Inhaltsverzeichnis

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3. Unzulängliche Konzeption des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Die Rechtsprechung des BGH zum Verbrechen der Rechtsbeugung . . . . . . . . . 146 1. Die ältere BGH-Rechtsprechung zu § 339 (früher 336) StGB . . . . . . . . . . . . 146 a) Faktische Entkriminalisierung des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Zuständigkeit des BGH zur Konkretisierung des Rechtsbeugungstatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Konkretisierung des § 339 StGB durch die Grundsatzentscheidung BGH 2 StR 479/13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Der Sonderfall der Rechtsbeugung des Kollegialgerichts . . . . . . . . . . . . . . . 150 III. Zur Entscheidungspraxis der Oberlandesgerichte im Klageerzwingungsverfahren bei Strafanzeigen gegen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Teil 3 Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung der Evaluationsergebnisse

154

§ 11 Ursachenanalyse und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 I. Ursachen der Rechtsschutzdefizite die Anhörungsrüge betreffend . . . . . . . . . . 155 1. Fehlerhafte Implementierung des § 321a ZPO in das Gesetz . . . . . . . . . . . . 155 2. Fehlen der psychischen Wirksamkeitsfaktoren der Effektivität . . . . . . . . . . . 156 3. Das Versagen der instanzinternen Selbstkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Der „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG im Plenarbeschluss E 107, 395 158 b) Die Anhörungsrüge als Produkt einer Alibi-Gesetzgebung? . . . . . . . . . . . 159 II. Ursachen der Rechtsschutzdefizite die Restitutionsklage betreffend . . . . . . . . . 160 1. Fehlende Effektivität der Restitutionsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Mangelnde Effektivität des Klageerzwingungsantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3. Fehlurteilsforschung nur bezogen auf Strafurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 III. Bewertung der Evaluationsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Zum Befund bezogen auf die Anhörungsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 2. Zum Befund bezogen auf die Restitutionsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Zum Befund bezogen auf den Klageerzwingungsantrag . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4. Zusammenfassende Bewertung der Effektivität des Rechtsschutzes . . . . . . . 165 § 12 Auswertung der Evaluationsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 I. Effektuierung des Rechtsschutzes gegen Gehörsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Einführung der mündlichen Verhandlung in das Anhörungsrügenverfahren 167 2. Verdrängung des § 321a ZPO zugunsten der analogen Anwendung des § 579 I Nr. 4 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 II. Folgen der Wiederaufnahmetheorie Johann Brauns für das zivilprozessuale Wiederaufnahmerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Berichtigung des § 581 I ZPO de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

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Inhaltsverzeichnis 2. Der Weg zum gleichen Ergebnis de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III. Steigerung der Effektivität des Klageerzwingungsantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

§ 13 Kontrolle von Rechtsbeugung, Despotismus und Rechtsmissbrauch . . . . . . . . . . . . . 173 I. Notwendigkeit einer Richterkontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. Die Aufgabe des Richters nach den Vorstellungen von Montesquieu und Svarez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Amtsmissbrauch und Rechtsmissbrauch im Schweizer Recht . . . . . . . . . . . . 176 II. Die Richterkontrolle im Interaktionsfeld von Rechtsstab und Prozesspartei . . . 176 III. Die Kompetenzfrage bei der Wahrnehmung von Kontrollmaßnahmen . . . . . . . 177 IV. Unzulänglichkeiten der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 V. Reform des § 339 StGB als zusätzliche Maßnahme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 § 14 Zur Vereinbarkeit der evaluierten Rechtsnormen mit der Rechtsschutzgarantie des Unionsrechts und der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 I. Die Anforderungen des EU-Rechts an die Effektivität des Rechtsschutzes . . . 181 1. Verpflichtung zur Einführung effektiver Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2. Zum Fairnessgebot des Art. 6 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. Vorabentscheidungsverfahren und Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Zu den Voraussetzungen des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs . . . . . 186 III. Folgen der Verurteilungen durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 IV. Die Rechtsschutzgarantie nach der Schweizer Bundesverfassung . . . . . . . . . . . 189 1. Der Einfluss der EMRK auf die Schweizer Bundesverfassung . . . . . . . . . . . 189 2. Zur „Revision“ i. S. der bundeseinheitlichen schweizerischen ZPO . . . . . . . 190 § 15 Vorschlag zu einer Reform des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 I. Zur Anwendbarkeit der Strafvorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2. Unzulässigkeit einer „authentischen Interpretation“ des Gesetzgebers . . . . . 195 II. Eigener Vorschlag zur Reform des § 339 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Kriminologische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Folgerungen für die Neugestaltung der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 a) Aufspaltung des Tatbestands in zwei eigenständige Delikte . . . . . . . . . . . 198 b) Zur Strafbarkeit der schwerwiegenden Verletzung der Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 III. Folgerungen aus der Berichtigung der §§ 579 Nr. 4, 581 ZPO mit 339 StGB 200 1. Anspruch auf Strafjustizgewähr des Opfers im Falle des Verdachts der Rechtsbeugung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 2. Analoge Anwendbarkeit des § 580 Nr. 5 ZPO auch auf nicht strafbewehrte greifbare Gesetzwidrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3. Drittschützende Wirkung der sekundären Sanktionsnormen . . . . . . . . . . . . . 203

Inhaltsverzeichnis

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§ 16 Empfehlungen an die Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I. Folgerungen für den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1. Vorschlag zur Neugestaltung der Strafvorschrift des § 339 I StGB . . . . . . . . 205 2. Kodifizierung der Gehörverletzung als Wiederaufnahmegrund . . . . . . . . . . . 206 II. Folgerungen für den Schweizer Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 1. Unzulänglichkeit der Ergebnisfehlerrestitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. Empfehlung zum Ausbau der Verfahrensfehlerrestitution . . . . . . . . . . . . . . . 210 III. Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. bezogen auf die Anhörungsrüge: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. bezogen auf die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO: . . . . . . . . . . . . . . . . 212 3. bezogen auf die Artikel 328 I lit. a und 329 II schwZPO: . . . . . . . . . . . . . . . 213 IV. Schlussbemerkungen mit Anregung zur Einsetzung eines Qualitätsbeauftragten 214 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Teil 1 Sed quis custodiet ipsos custodes?

Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation Angeklagt und verurteilt wegen Rechtsbeugung wurden in der Vergangenheit statistisch gesehen fast ausschließlich Richter, die der Strafgerichtsbarkeit angehörten1. Als wäre die Zivilgerichtsbarkeit gar kein tauglicher Ort für das Verbrechen der Rechtsbeugung. Dies obwohl bekanntlich auch zivilgerichtliche Urteile krass fehlerhaft sein können. Erklären lässt sich das damit, dass schon das Erkennen eines in einem Zivilprozess aufgetretenen Tatverdachts der Rechtsbeugung die volle Beherrschung des Zivilprozessrechts und Kenntnis der Abläufe eines Zivilprozesses verlangt, die Staatsanwaltschaft aber, um hier Anklage erheben zu können, mit dieser Materie und Arbeitsweise zu wenig vertraut ist und sich auch nicht als Kontrollorgan der anderen Gerichtbarkeiten verantwortlich fühlt, um sie vor Angriffen gegen die Rechtspflege „von innen“ zu schützen, während sie in Strafsachen ohnehin als Anklagebehörde beteiligt ist. Um eine sachgerechte Bearbeitung der Strafanzeigen gegen Zivilrichter zu gewährleisten und damit kriminologisch gesehen die Entdeckungswahrscheinlichkeit zu steigern, bedarf es daher bei der Staatsanwaltschaft besonders im Zivil(prozess)recht versierte Staatsanwälte, die in der Lage sind, sich auch speziell mit der Beurteilung möglichen strafrechtlich relevanten Entscheidungsverhaltens von Zivilrichtern zu befassen. Jedenfalls besteht kein Grund zur Annahme, das Delikt der Rechtsbeugung sei in der Zivilgerichtsbarkeit eine in keiner Weise beachtenswerte Begleiterscheinung.

1

Siehe dazu die 11 Beispielsfälle aus der BGH-Rechtsprechung unter dem Stichwort „Rechtsbeugung“ bei Wikipedia. Die Anklage betraf ausschließlich Strafrichter mit Ausnahme eines Vormundschaftsrichters und eines Zivilrichters. Letzterer wurde jedoch nicht wegen des Inhalts seiner Entscheidung verurteilt, sondern wegen Nichtanzeige seiner Vorbefassung mit der Sache. Bekannt geworden ist zwar eine Strafanzeige wegen Rechtsbeugung gegen die Richter der Pressekammer des LG Berlin in der Mediensache Künast (LTO vom 09. 10. 19). Doch ist diese Anzeige nach Abänderung der Entscheidung im Anhörungsrügenverfahren offenbar nicht weiterverfolgt worden.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

§ 1 Einführung in die Thematik I. Überblick Zivilprozesse enden in der Regel spätestens mit dem Durchlaufen des Instanzenzugs, den das Rechtsmittelsystem zum Zwecke der Fehlerkontrolle in der Verfahrensordnung vorgesehen hat. Danach verbietet die Rechtskraft – zumindest grundsätzlich – die Frage nach der Richtigkeit der Entscheidung2. Denn unstreitig können aufgrund der richterlichen Autorität auch materiell fehlerhafte Urteile in Rechtskraft erwachsen und damit Verbindlichkeit erlangen, wenn auch nicht sachliche Richtigkeit. Endgültig unanfechtbar sind Gerichtsurteile jedoch erst nach Zurückweisung auch aller noch gegen sie erhobenen außerordentlichen Rechtsbehelfe3, also der Anhörungsrüge, der Verfassungsbeschwerde und der Wiederaufnahmeklage, denen die Eigenschaft verliehen wurde, unter bestimmten Voraussetzungen die Rechtskraft einer Entscheidung zu durchbrechen. Dass diese Rechtsbehelfe zusätzlich zu den Rechtsmitteln von der Verfahrensordnung bereitgestellt werden, ist ebenso notwendig wie gerechtfertigt. Denn in extremen Fällen sachlicher Unrichtigkeit, in denen die Entscheidung auf judikativem Unrecht4 beruht, also auf einer greifbaren Gesetzwidrigkeit, auf krassem Rechtsmissbrauch oder gar Rechtsbeugung, muss einer solchen Entscheidung – so logisch zwingend Ulfrid Neumann – die Verbindlichkeit versagt werden, „soll nicht das Prinzip der Entkoppelung von Verbindlichkeit und Richtigkeit aus der Sicht der von der Entscheidung Betroffenen ad absurdum geführt werden“5.

2

BGH NJW 1985, 2535; Ekkehard Schumann, Fehlurteil und Rechtskraft, FS Bötticher, 1969, S. 289, 303 f., 320. 3 MüKo, ZPO Bd. 2, 6. Aufl. 2020, vor § 578 Rn. 1 ff. und 33 ff.; Zur Herkunft und Funktion der außerordentlichen Rechtsbehelfe O. Jauernig, Außerordentliche Rechtsbehelfe, FS Schumann, 2001, 241; P. Günter, Rechtssicherheit vs. materielle Gerechtigkeit – Außerordentliche Rechtsbehelfe im Zivilprozess, 2006; A. Kettinger, Die Verfahrensgrundrechtsrüge, 2007; H. Roth, Zivilprozessuale Rechtsbehelfe und effektiver Rechtsschutz, JZ 1996, 805; W.R. Schenke, Außerordentliche Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozessrecht, NVwZ 2005, 729; E. Schumann, Die Gegenvorstellung im Zivilprozeß, FS Baumgärtel, 1990, S. 491; Chr. Seidel, Außerordentliche Rechtsbehelfe, 2004. 4 Siehe zur Frage der Staatshaftung wegen judikativen Unrechts und zur Reform des Rechtsbeugungstatbestands Uwe Berlit, Richterhaftung und Rechtsbeugung – für eine Reform der Haftung für judikatives Unrecht, Gedächtnisschrift für Manfred Seebode, 2015, 243 – 267; Christian Kirchberg, Anwaltshaftung, Richterhaftung – was macht den Unterschied aus?, BRAK-Mitteil. 2018, 59; Christina Zantis, Das Richterspruchprivileg in nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht, 2010; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2006, Art. 34 GG, Rn. 52 ff., sowie zur Rechtsfigur der „greifbaren Gesetzwidrigkeit“ (BGHZ 28, 349 ff.) und des „groben prozessualen Unrechts“ als Ausprägung der Willkürrechtsprechung des BVerfG A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 224 ff. 5 Ulfrid Neumann, Wahrheit im Recht. Zur Problematik und Legitimität einer fragwürdigen Denkform, 2004, S. 46.

§ 1 Einführung in die Thematik

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Zur wirkungsvollen Abwehr greifbarer Gesetzwidrigkeiten in letztinstanzlichen Urteilen eignen sich die von der ZPO6 vorgehaltenen außerordentlichen Rechtsbehelfe jedoch nur in eingeschränktem Maße. Denn um mit ihnen die angestrebten Abhilfe- oder Wiederaufnahmeverfahren auszulösen, sind nicht nur erhebliche gesetzliche Zugangsschranken zu überwinden, sondern wie im Fall der Anhörungsrüge des § 321a ZPO auch spezifische Vorbehalte der Richterschaft gegen jene Rechtsbehelfe selbst7. Ob und inwieweit die außerordentlichen Rechtsbehelfe aufgrund dieser Zugangsschranken überhaupt eine effektive Realisierung der mit ihnen verfolgten Gestaltungsrechte der Parteien gewährleisten, soll hier – beschränkt auf die Anhörungsrüge des § 321a ZPO, die Restitutionsklage der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO mit § 339 StGB sowie den Klageerzwingungsantrag des § 172 II 1 StPO als Exponenten – empirisch und zugleich rechtsvergleichend mit dem außerordentlichen Rechtsmittel der „Revision“ nach Art. 328 schwZPO überprüft werden. 1. Eingrenzung der Fragestellung Die Arbeit beschäftigt sich mit der Rechtswirklichkeit der richterlichen Entscheidungsfindung in der Zivilgerichtsbarkeit und deren Fehleranfälligkeit aus rechtssoziologischer Sicht. Dabei konzentriert sie sich auf die Feststellung der Effektivität des Rechtsschutzes, den die außerordentlichen Rechtsbehelfe der ZPO und StPO den Prozessparteien zur Abwehr judikativen Unrechts bieten. Es sind dies die verfahrensrechtliche Vorschrift des § 321a ZPO zur Anhörungsrüge, dann die Vorschriften der §§ 579 I und 580 Nr. 5 ZPO des Wiederaufnahmerechts sowie schließlich die Vorschrift des § 172 II 1 StPO zum Klageerzwingungsverfahren. Dazu soll die Rechtswirklichkeit in den nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren nach Erhebung jener außerordentlichen Rechtsbehelfe beleuchtet werden, soweit diese auf greifbare Gesetzwidrigkeiten der Gerichte bei der Entscheidungsfindung gestützt wurden. Intension dieser Untersuchung ist festzustellen, ob und inwieweit die Ziele, die der Gesetzgeber mit der Implementierung dieser Vorschriften verfolgte, durch deren zweckentsprechende Anwendung seitens der Gerichte erreicht oder infolge nicht sachgerechter Anwendung bzw. mangels Akzeptanz seitens der Richter letztlich verfehlt wurden. Die Untersuchung befasst sich also mit der Effektivität des Rechtsschutzes8 gegen greifbar gesetzwidriges richterliches Entscheidungsverhalten in den nicht mehr 6 Mit „ZPO“ wird hier die deutsche ZPO gekennzeichnet, mit „schwZPO“ die schweizerische. 7 Siehe zu den objektiven und subjektiven Zugangsbarrieren Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, 7. Aufl. 2009, § 8 Rn. 150 ff.; Th. Schafft, Selektion von Rechtsmittelverfahren durch gesetzliche Zugangsbeschränkungen, 2005; Zöller-Vollkommer, ZPO, 30. Aufl. 2016, Einl. Rn. 51. 8 Grundsätzlich zur Effektivität des Rechts: Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl. 1987, S. 194 f.; Rehbinder, Rechtssoziologie (Fn. 7), § 7 Rn. 111 ff.; Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2007, S. 237 ff.; Klaus F. Röhl, Rechtssozio-

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren, soweit die daraus resultierende Entscheidung noch mit außerordentlichen Rechtsbehelfen angreifbar sein sollte, die zu diesem Zweck von der Zivilprozessordnung vorgehalten werden. Sie ist somit gerichtet auf die Feststellung des Vorliegens bzw. Nichtvorliegens der für die Effektivität des Rechtsschutzes maßgeblichen Wirksamkeitsfaktoren. Dies jedoch beschränkt auf die wenigen Abhilfe- und Wiederaufnahmeverfahren, die in der Prozessordnung für den Fall vorgesehen sind, dass ein an sich bereits rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren aufgrund eines entscheidungserheblichen Verstoßes gegen ein Verfahrensgrundrecht vom Ausgangsgericht (dem judex a quo) wiederaufzunehmen oder fortzusetzen ist. Gegenstand der Studie ist daher nicht die Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit der letztinstanzlichen Entscheidung unter rein dogmatischen Gesichtspunkten, sondern das nach Ansicht des Betroffenen für die Entscheidung ausschlaggebende, greifbar gesetzwidrige Entscheidungsverhalten des Richters bei dessen Spruchtätigkeit. Sie beschäftigt sich also nicht mit der Fehlerhaftigkeit solcher Entscheidungen als solche, sondern mit dem richterlichen Entscheidungsverhalten als Gegenstand der Rechtssoziologie9, wobei auch wesentliche Erkenntnisse der Rechtspsychologie nicht unerwähnt bleiben können. Damit beschränkt sie sich in Anwendung der sozialwissenschaftlichen Methoden zum einen auf die Beobachtung der Vorgänge bei der instanzinternen Selbstkontrolle der Richter nach § 321a ZPO im Falle des Vorwurfs entscheidungserheblicher Gehörsverletzung und zum anderen auf die Feststellung des staatsanwaltlichen Entscheidungsverhaltens nach Eingang von Strafanzeigen gegen Richter wegen Rechtsbeugung10 sowie schließlich auf die Beschreibung der Reaktion der Oberlandesgerichte auf den danach meist nötigen Klageerzwingungsantrag nach § 172 II 1 StPO11. Denn angesichts der höchst reservierten Haltung der Staatsanwaltschaft gegenüber derartigen Strafanzeigen erweist sich das Klageerzwingungsverfahren bei Erhebung der Restitutionsklage nach §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO mit § 339 StGB regelmäßig als zusätzliche, im Zweifel nicht zu überwindende Zugangshürde. logie-online, in Vorber.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 38; Hubert Rottleuthner, Effektivität von Recht. Der Beitrag der Rechtssoziologie, in: G. Wagner (Hrsg.), Kraft Gesetz, 2010, S. 13; Rehbinder/Schelsky (Hrsg.), Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3, 1973. 9 Rottleuthner, Richterliches Handeln – Zur Kritik der juristischen Dogmatik, 1973; Büllesbach, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011. 10 Zur Verfolgungspraxis der Staatsanwaltschaften bei Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung siehe Heinz Giehring, Die Belange der Opfer vorsätzlichen groben Justizunrechts und die Definition und Verfolgung von Rechtsbeugung, FS Wolter 2013, 699, 725 ff. 11 Tamina Preuß, Das Klageerzwingungsverfahren: Ein Überblick über prüfungsrelevante Fragen, JA 2016, 762 – 776. Ein solches Klageerzwingungsverfahren ist in der schweizerischen StPO nicht vorgesehen. Lediglich können die Parteien die Einstellungsverfügung bei der Beschwerdeinstanz anfechten. Im Übrigen kommt nur die Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens in Betracht.

§ 1 Einführung in die Thematik

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Das Klageerzwingungsverfahren durchbricht zwar nicht das staatsanwaltliche Anklagemonopol nach § 152 I StPO, sondern berechtigt das angebliche Opfer einer Straftat lediglich dazu, vom Oberlandesgericht eine Kontrolle dessen Ausübung durch die Staatsanwaltschaft zu verlangen12. Nachdem der Anzeigenerstatter mit seiner Strafanzeige gegen den Richter wegen Rechtsbeugung dessen Bestrafung jedoch in erster Linie deswegen anstrebt, weil er damit die Tatbestandsvoraussetzungen des § 581 I 1. Alt. ZPO verwirklichen will, um dadurch in die Lage versetzt zu werden, das Wiederaufnahmeverfahren nach § 580 Nr. 5 ZPO zu beantragen, kommt in diesem Zusammenhang dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 II 1 StPO faktisch die Bedeutung eines (weiteren) außerordentlichen Rechtsbehelfs zu, der als vorgeschalteter Rechtsbehelf regelmäßig erst ergriffen werden muss, um überhaupt die Restitutionsklage zulässigerweise erheben zu können. Nur wenn der Anzeigenerstatter beide Verfahren erfolgreich durchlaufen hat, kann er sein eigentliches Ziel erreichen, die Wiedergutmachung des ihm angeblich widerfahrenen judikativen Unrechts. 2. Durchführung der Arbeit als Gesetzesevaluation Die Arbeit ist als Gesetzesevaluation konzipiert. Eine Evaluation als Forschungsmethode zum Zwecke der rückblickenden Wirkungskontrolle hat üblicherweise einen Auftraggeber. Mangels eines solchen musste für diese Untersuchung ein (sinnvoller) Auftrag unterstellt und einschließlich des mit ihr verfolgten Ziels selbst formuliert werden. In dessen Rahmen wird beiläufig auch rechtsvergleichend zu der Frage Stellung genommen, ob und inwieweit die Vorschriften der Art. 328 f. der neuen am 01. 01. 2011 in Kraft getretenen schweizerischen ZPO zur „Revision“ rechtskräftiger zivilgerichtlicher Entscheide dem Standard der EMRK entsprechen. Den Schwerpunkt der Studie bildet die Darstellung der Ursachen und Folgen der schleichenden „Entkriminalisierung“ des Verbrechens der Rechtsbeugung, die faktisch zu einer weitgehenden Eliminierung der Restitutionsklage nach §§ 580 Nr. 5 ZPO als außerordentlicher Rechtsbehelf führte. a) Gegenstand und Ziel der Evaluation Die Evaluation ist gerichtet auf die Feststellung der Auswirkungen von Eingriffen des Gesetzgebers und der Gerichte auf die Rechtswirklichkeit und fällt somit in das Gebiet der Wirkungsforschung13. Es lag daher nahe, sie als Gesetzesevaluation 12

KK-StPO/Moldenhauer, 17. Aufl. 2013, § 172 Rn. 1. Rottleuthner, Wirkungsforschung im Bereich des Verfahrensrechts, in: Hof/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht I, 1999, S. 43; Klaus F. Röhl, Abfall aus der Rechtswirkungsforschung: zur Verselbständigung der Evaluationsforschung und ihrer neuen Konkurrenz, rsozblog.de am 18. 03. und 27. 03. 17; ders.,Vortrag am 31. 03. 17 im Wissenschaftszentrum Berlin: Stand und Perspektiven der Rechtswirkungsforschung in der Rechtssoziologie; Wrase/Scheiwe, Rechtswirkungsforschung revisited, ZfRS 2018, 1 – 19. 13

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

durchzuführen. Durch eine Evaluation auf dem Gebiet des Rechts soll herausgefunden werden, ob sich aufgrund einer „(Programm-)Intervention“ der Legislative etwa in Form einer gesetzlichen Neuregelung im Vergleich zwischen dem Rechtszustand vor und nach dieser Intervention eine ihrer Konzeption und Zielsetzung entsprechende Veränderung ergeben hat. Mit einer solchen wird also bezweckt, Erkenntnisse über die Zielerreichung und Nützlichkeit der Neuregelung zu gewinnen, d. h., mit ihr soll überprüft werden, ob die ursprünglich angestrebte Veränderung der Wirklichkeit tatsächlich eingetreten ist und der getroffenen Maßnahme als Folge zugerechnet werden kann. Eine Evaluation als Produkt der angewandten Sozialforschung ist somit „ein Instrument zur empirischen Generierung von Wissen, das mit einer Bewertung verknüpft wird, um zielgerichtete Entscheidungen zu treffen“ 14. Die Studie befasst sich im Wesentlichen mit zwei getrennt zu beurteilenden „Interventionen“ in die Verfahrenswirklichkeit des zivilprozessualen Rechtsschutzes. Nur bei einer von ihnen, der Einführung der Anhörungsrüge in die ZPO im Zuge der ZPO-Reform 2002, handelt es sich um eine Neuregelung des Gesetzgebers. Die andere ist Folge des gegenteiligen Vorgangs, nämlich der weitgehenden Erosion einer Vorschrift, die sich zwar nach wie vor als normativ verbindlich im Strafgesetzbuch befindet, seit geraumer Zeit aber infolge nachhaltiger Nichtanwendung – bezogen auf zivilgerichtliche Fehlentscheidungen – ihre instrumentelle Bedeutung weitgehend eingebüßt hat, was sich maßgeblich auch auf die Restitutionsklage nach §§ 580 Nr. 5 ZPO auswirkte. Gemeint ist die Strafvorschrift des § 339 StGB, die jahrzehntelang durch die Strafsenate des BGH eine „Auslegung“ erfuhr, die ihre Verhaltens- und Sanktionsgeltung derart schmälerte, dass sie faktisch zu einer Rechtsnorm mit nur noch symbolischer Wirkung erodierte. Als Intervention im Sinne der Evaluationsforschung gilt auch eine grundlegende Neuinterpretation einer bestehenden Gesetzesvorschrift durch ein Grundsatzurteil eines obersten Fachgerichts, sollte diesem Urteil (und dessen Gründen) die gleiche Wirkung zukommen wie der „Bindungswirkung“ der Entscheidungen des BVerfG gemäß § 31 I BVerfGG. Schließlich führt zur Veränderung der Rechtswirklichkeit nicht schon der Gesetzgebungsakt als solcher, sondern erst die Rechtsprechung der Gerichte in Anwendung

14 Reinhard Stockmann, Wissenschaftsbasierte Evaluationen, in: Stockmann/Meyer, Evaluation – Eine Einführung, 2010, 2.2, S. 64 ff.; Thomas Widmer, Evaluation: Woher, wohin und wozu?, SZK 2016, 8 – 14. Nach der Definition des Schweizerischen Bundesamts für Justiz sollen Evaluationen dazu beitragen, die Erarbeitung neuer Maßnahmen (Gesetze, Verordnungen) auf sichereren Grundlagen abzustützen, deren Vollzug besser auf die Ziele auszurichten und generell die Transparenz staatlichen Handelns zu verbessern. In der Schweiz wurde eine Evaluationspflicht hinsichtlich aller Maßnahmen des Bundes sogar in der Verfassung verankert. Art. 170 BV lautet: „Die Bundesversammlung sorgt dafür, dass die Maßnahmen des Bundes auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.“ Kritisch zur Evaluation von Rechtsnormen, weil diese „zumeist keine Maßnahmen“ darstellen und „nicht grundsätzlich oder auch nur primär die Lösung eines Problems“ bezwecken, Marcel A. Niggli, Evaluationen und die Schwierigkeiten damit, SZK 2011, 12. Evaluationen werden aber auch nur zu Kontrollzwecken durchgeführt, siehe Stockmann, a. a. O., 2.2.3.

§ 1 Einführung in die Thematik

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der jeweiligen Norm15. Insofern bewirkte die (ältere) Rechtsprechung des BGH zur Rechtsbeugung eine derart weitgehende Erosion des § 339 StGB (früher 336 StGB), dass der Restitutionsklage der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO mit 339 StGB als außerordentlicher Rechtsbehelf faktisch jegliche Anwendungsmöglichkeit entzogen wurde. An dieser Tatsache hat sich bisher auch nach der begrüßenswerten Neuinterpretation des § 339 StGB durch die Entscheidung BGH 2 StR 479/13 nichts geändert. Damit bestätigte sich die Prognose von Prof. Braun in dessen Rezension der Erstauflage dieser Dissertation, wonach man „wie schon in der Vergangenheit weder auf den Gesetzgeber noch auf die Zivilgerichte allzu große Hoffnungen“ auf Veränderung setzen sollte, die „allein vom BVerfG oder den Europäischen Gerichten zu erwarten“ wären16. b) Die mittels der Evaluation zu verifizierende Hypothese Unter Hinzunahme der strafprozessualen Vorschrift des § 172 II 1 StPO bei Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung werden somit drei Gesetzesevaluationen durchgeführt, alle jedoch mit der gleichen Zielsetzung, nämlich festzustellen, ob und inwieweit sich die genannten Vorschriften den Vorstellungen des Gesetzgebers bei deren Implementierung entsprechend bewährt oder sich als missglückt erwiesen haben. Damit versteht sich die Untersuchung als Beitrag der empirischen Rechtssoziologie zur Erforschung der Faktizität des Rechtsschutzes gegen materiell rechtskräftige, aber sachlich unrichtige Urteile bei Geltendmachung der von der ZPO hierzu als ultima ratio bereitgestellten außerordentlichen Rechtsbehelfe. Ihr liegt die Hypothese zugrunde, dass das Ziel, das der Gesetzgeber mit der Einführung jener außerordentlichen Rechtsbehelfe anstrebte, nämlich im Falle judikativen Unrechts in gewissem Umfang auch „Rechtsschutz gegen den Richter“17 zu bieten, sowohl aufgrund diverser Mängel bei der Implementierung jener Vorschriften als auch aufgrund Fehlens wesentlicher psychischer Voraussetzungen für deren „freiwillige“ Befolgung seitens der Richterschaft18 in der Verfahrenswirklichkeit nahezu gänzlich verfehlt wurde. Diese Hypothese zu verifizieren, zumindest aber zu illustrieren, ist Ziel der vorliegenden Studie. Die Feststellung der Effektivität des Rechts, dessen Seinsgeltung, bildet seit Theodor Geiger den zentralen Forschungsgegenstand der Rechts-

15 Siehe zur Implementation von Gerichtsentscheidungen die Untersuchung von Gawron/ Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, 2007, Kapitel I, S. 15 – 35. 16 ZZP 2014, 507 – 511. 17 In den BVerfGE 15, 275, 280 und 22, 106, 110 wurde noch an der Ansicht festgehalten, Art. 19 IV GG gewähre nur „Rechtsschutz durch, aber nicht gegen den Richter“. Dazu der Exkurs unter § 4 III. mit Hinweis auf die Dissertation von Andreas Voßkuhle mit dem Titel „Rechtsschutz gegen den Richter“. 18 Dazu Rehbinder (Fn. 7), § 7 III; Raiser (Fn. 8), 14. Abschnitt, III 3.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

soziologie19. Als deren Kernbereich dient die Effektivitätsforschung dem Gesetzgeber vor allem zur Nachkontrolle neu eingeführter Gesetze. Ihr sowie der Implementations- und Evaluationsforschung bot sich daher die Anhörungsrüge, aber auch die Restitutionsklage nach den schon älteren Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO gerade unter diesem Aspekt zwingend als Untersuchungsobjekt an. Ausgehend davon, dass sowohl die Einführung der Anhörungsrüge im Zuge der ZPO-Reform 2002 als auch die Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB als „(Programm-)Interventionen“ der Legislative und Judikative in die Verfahrenswirklichkeit i. S. der Evaluationsforschung zu verstehen und als solche auf ihre Wirkungen hin zu untersuchen sind, folgt danach als erste Aktion der Evaluationsdurchführung die Feststellung des Befunds, also die Beschreibung der Auswirkungen jener Interventionen auf die Verfahrenswirklichkeit letztinstanzlicher Zivilgerichtsverfahren. d. h., es wird hier in Anlehnung an die Methoden der Implementations- und Effektivitätsforschung untersucht, ob diese „Interventionen“ in das Zivilprozessrecht die mit ihnen verfolgten Ziele erreicht bzw. verfehlt haben und eine effektive Kontrolle der richterlichen Spruchtätigkeit in letztinstanzlichen Verfahren mittels der als Exponenten ausgewählten außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 321a und 580 Nr. 5 ZPO sowie des § 172 II 1 StPO überhaupt stattfindet. Das schließt die Frage ein, ob diese Normen auch ihrem Zweck entsprechend, unter den gesetzten Bedingungen wirksamen Rechtsschutz gegen rechtskräftige Urteile zu gewährleisten, gesetzgebungstechnisch angemessen in die ZPO implementiert wurden. Die Tatsache, dass diese Implementierung weitgehend misslungen ist, haben u. a. bereits sowohl Braun, Sangmeister, E. Schneider und Zuck bezogen auf die Vorschrift des § 321a ZPO20 als auch Bemmann/Seebode/Spendel sowie Fischer bezogen auf die Vorschrift des 339 StGB deutlich gemacht21. Wie zu zeigen sein wird, blieb in beiden Fällen auch die Akzeptanz dieser Normen seitens des Rechtsstabs aus. „Lebendes Recht“ i. S. Eugen Ehrlichs wurde in keinem dieser Fälle zur Geltung gebracht.

19 Effektivität bedeutet Gewährleistung lückenlosen und wirksamen Rechtsschutzes. Nach Rottleuthner (Fn. 8), S. 21 ff., sollte unter Effektivität verstanden werden, „dass die Ziele des Gesetzgebers tatsächlich erreicht werden“, und zwar „vermittelt durch deren Befolgung“. Siehe auch K.-D. Opp, Wann befolgt man Gesetze? Entwicklung und Probleme einer Theorie, in: G. Wagner, Kraft Gesetz, 2010, S. 35 – 65. 20 MüKo-Braun/Heiß (Fn. 3), § 579 Rn. 3, 23 ff.; Braun, Die Korrektur der Gehörsverletzungen, JR 2005, 1; Sangmeister, Rechtsbehelfe gegen „unanfechtbare“ Entscheidungen, FS Korn 2005, S. 657; ders., NJW 2007, 2363; Schneider, Die Gehörsrüge des § 321a ZPO, MDR 2006, 968; ders., Die Gehörsrüge – eine legislative Missgeburt, FS Madert 2006, 187; Zuck, NJW 2008, 479, AnwBl 2008, 168. 21 Bemmann/Seebode/Spendel, Rechtsbeugung – Vorschlag einer notwendigen Gesetzesreform, ZRP 1997, 307; MüKo (Fn. 3) § 580 Rn. 15, 37 und § 581 Rn. 1 ff., 7, 11 ff.; Thomas Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 339 Rn. 4.

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3. Beschränkung auf den Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht Wann judikatives Unrecht vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Einmal abgesehen davon, dass es schon problematisch ist, im Recht „richtig“ von „falsch“ zu unterscheiden22, lassen sich grundsätzlich anfechtbare richterliche Entscheidungen in der Zivilgerichtsbarkeit nach ihrer Qualität – dem Grad ihrer Richtigkeit bzw. Fehlerhaftigkeit – pauschal in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe bilden die Entscheidungen, die aufgrund vollständiger Aufklärung des Sachverhalts unter Wahrung der Gesetzesbindung und Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der juristischen Methodenlehre auch im Instanzenzug als jedenfalls noch vertretbar aufrechtzuerhalten wären. Das methodische Vorgehen hat diese Entscheidungen begründbar und damit nachvollziehbar gemacht. Die Prozessparteien können erkennen, dass sie nicht auf sachwidrigen Kriterien beruhen und sie somit faktisch akzeptieren23. Das vom Gericht ausgesprochene vertretbare Ergebnis kann dann auch insoweit als „richtig“ gelten, als es Allgemeingültigkeit beansprucht24. In die zweite Gruppe gehören die Entscheidungen, die wegen Verletzung sog. einfachen Rechts in zweiter Instanz als fehlerhaft aufgehoben oder abgeändert werden sollten, gegen die aber mangels Verletzung „spezifischen“ Verfassungsrechts25 keine Verfassungsbeschwerde statthaft wäre. Das sind diejenigen Entscheidungen, die auf der Fehleranfälligkeit der Subsumtion beruhen, also auf einem fehlerhaften Abgleich zwischen dem konkreten Geschehen und den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen. Zu ihnen sind sogar die unvertretbaren Entscheidungen zu rechnen, soweit bei ihnen die Beurteilungsprärogative der Fachgerichte noch nicht willkürlich überschritten wurde. Denn nach BGH, Beschl. vom 14. 09. 17 – 4 StR 274/16, reicht eine unrichtige Rechtsanwendung für die Annahme einer Rechtsbeugung selbst dann nicht aus, wenn sich die getroffene Entscheidung als unvertretbar darstellt26. Erst wenn die Entscheidung „ohne jeden sachlichen Gehalt“ und

22 Dazu Lukas Beck, Gesetzesauslegung aus methodentheoretischer Sicht, JA 2018, 330, 335; Thomas Fischer, Kolumne „Fischer im Recht / Rechtsbeugung I-IV“, ZEIT-ONLINE vom 23. 08. und 13. 09. 16. 23 Dazu Christoph Conrad Henke, Legitimität und richterliche Entscheidung, ZIS 2015, 110 – 118. 24 Georg Bitter/Tilman Rauhut, Grundzüge zivilrechtlicher Methodik – Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung, JuS 2009, 289 – 298. 25 Zur Abgrenzung des einfachen Rechts vom Verfassungsrecht Herbert Roth, Prozessmaximen, Prozessgrundrechte und die Konstitutionalisierung des Zivilprozessrechts, ZZP 2018, 3 – 24, II 2. 26 Dazu Matthias Jahn in JuS 2017, 1227. Nach Thomas Fischer (Fn. 21) begeht ein Richter Rechtsbeugung, wenn er in einer konkreten Rechtssache mindestens bedingt vorsätzlich eine unvertretbare Entscheidung trifft und dabei Regeln verletzt, die nach seiner Kenntnis für die Entscheidung von elementarer Bedeutung sind.

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„daher unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr verständlich“ ergangen sein sollte27, ist eine andere Betrachtung angebracht28. Und in die dritte Gruppe, um die es hier geht, fallen die Entscheidungen, die darüber hinaus unter keinem denkbaren Aspekt noch als vertretbar anerkannt werden können und daher als judikatives Unrecht zu qualifizieren sind, weil sie rein willkürlich in totaler Ignoranz der Gesetzesbindung in der eindeutigen Absicht der Ergänzung und Korrektur des Gesetzgebers im Wege unzulässiger richterlicher Rechtsfortbildung erlassen wurden und damit den hinreichenden Tatverdacht der Rechtsbeugung begründet haben. Dazu zählen auch die auf methodischer Beliebigkeit beruhenden, rein ergebnisorientierten Rechtsanwendungen, die nach Würdinger zu einer „Entdogmatisierung“ in der Gerichtspraxis geführt haben29, ferner diejenigen Entscheidungen, die bewusst auf in keiner Weise einschlägige höchstrichterliche Urteile gestützt wurden30, sowie solche, mit denen der Richter contra legem gar ein Fanal setzen wollte31. Zu klären gilt, ob und wie dieses Verhalten zu bestrafen ist. 4. Gang der Untersuchung Die Arbeit umfasst 3 Teile mit insgesamt 16 Kapiteln entsprechend dem üblichen Aufbau einer Evaluation in die Planungs-, Durchführungs- und Verwertungsphase. Der erste Teil enthält zur Einführung in die Thematik auch Ausführungen zum Zweck des Zivilprozesses, zum Richtigkeitspostulat und zur Legitimation der außerordentlichen Rechtsbehelfe und wird fortgesetzt mit der Erläuterung der Evaluationskonzeption und der Beschreibung der Evaluationsgegenstände, die es zu untersuchen und zu bewerten gilt. Im zweiten Teil, der Durchführungsphase, werden zunächst die gesetzlichen Vorgaben des primären Rechtsschutzes genannt, die das Soll der Rechtsschutzgewährleistung gegen sachlich unrichtige letztinstanzliche Urteile ausmachen, um daran später die Verfahrenswirklichkeit messen zu können. Dabei wird zum Zwecke rechtsvergleichender Feststellungen zwischen dem deutschen und dem schweizerischen zivilprozessualen Wiederaufnahmerecht auch auf 27

BVerfG NJW 2016, 861, 863. Zur Unterscheidung von vertretbaren zu unvertretbaren Rechtsansichten siehe Alexander Weiss, Was macht Rechtsauffassungen vertretbar?, JuS 2016, 489 – 494. 29 Markus Würdinger, Das Ziel der Gesetzesauslegung – ein juristischer Klassiker und Kernstreit der Methodenlehre, JuS 2016, 1, 2, sowie ders. zur Gefahr von „ergebnisorientierten Kunstgriffen“ AcP 207 (2006) 946, 977. Dazu insbesondere bereits Wilhelm Scheuerle, Finale Subsumtionen – Studien über Tricks und Schleichwege in der Rechtsanwendung, AcP 176 (1967), 305 – 349. Zu den Grenzen der Rechtsfortbildung siehe Thomas M. J. Möllers, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2019, § 13. 30 Zum Richterrecht als Rechtsquelle und zur Rechtsprechungsauslegung Thomas Lundmark/Sebastian Herrmann, Auslegung von Rechtsprechung, NJW 2020, 28. Dazu die Beispiele 2 und 3 im Anhang. 31 Dazu Uwe Scheffler, Gedanken zur Rechtsbeugung, NStZ 1996, 68, mit zahlreichen Beispielen. 28

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die Rechtsschutzgarantie des europäischen Zivilprozessrechts eingegangen und dessen Einfluss auf die deutsche und schweizerische ZPO. Anschließend werden die Verhaltens- und Sanktionsnormen, die das richterliche Verhalten bei der Entscheidungsfindung bestimmen, daraufhin überprüft, inwieweit sie durch sekundäre Sanktionsnormen ergänzt werden, die die Prozessparteien in die Lage versetzen sollen, im Ausnahmefall auch „Rechtsschutz gegen den Richter“ einzufordern. Ausgehend davon, dass sowohl die Einführung der Anhörungsrüge im Zuge der ZPO-Reform 2002 als auch die Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB als „(Programm-)Interventionen“ der Legislative und Judikative in die Verfahrenswirklichkeit i. S. der Evaluationsforschung zu verstehen und als solche auf ihre Wirkungen hin zu untersuchen sind, folgt danach als erste Aktion der Evaluationsdurchführung die Feststellung des Befunds, also die Beschreibung der Auswirkungen jener Interventionen auf die Verfahrenswirklichkeit letztinstanzlicher Zivilgerichtsverfahren. d. h., es wird hier in Anlehnung an die Methoden der Implementations- und Effektivitätsforschung untersucht, ob diese „Interventionen“ in das Zivilprozessrecht die mit ihnen verfolgten Ziele erreicht bzw. verfehlt haben und eine effektive Kontrolle der richterlichen Spruchtätigkeit in letztinstanzlichen Verfahren mittels der als Exponenten ausgewählten außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 321a, 580 Nr. 5 ZPO und § 172 II 1 StPO überhaupt stattfindet. Im dritten Teil wird dann als zweite Aktion der Evaluationsdurchführung im Wege der Dokumentations- bzw. Rechtsprechungsanalyse von der deskriptiven Feststellung des sozialen Befunds zur erklärenden Ursachenforschung übergegangen, wodurch aufgezeigt werden soll, wieweit bei der Anwendung dieser Rechtsbehelfe die Zielvorstellungen des Gesetzgebers und die festgestellte Verfahrenswirklichkeit auseinanderfallen und daher einer Anpassung bedürfen. Im letzten Abschnitt kommt es schließlich zur Auswertung der Evaluationsergebnisse, die in den Bereich der soziologischen Jurisprudenz fällt. Darin wird der Versuch unternommen, die erlangten Erkenntnisse für den deutschen und Schweizer Gesetzgeber nutzbar zu machen. Erörtert werden die unterschiedlichen Wiederaufnahmekonzeptionen der Ergebnis- und Verfahrensfehlerrestitution sowie die Frage der Sanktionierung der Verletzung des Begründungszwangs. Abschließend wird als Resultat der Evaluation ein (neuer) Vorschlag zu einer Reform des § 339 StGB unterbreitet werden. Die Studie endet mit einer thesenförmigen Zusammenfassung und einem Anhang.

II. Ziel: Aufdeckung der rechtsstaatlichen Defizite des Rechtsschutzes Als Evaluationsstudie ist diese Arbeit dem interdisziplinären Bereich zwischen Rechtsdogmatik und Soziologie zuzuordnen, wobei zutreffen mag, was Noll festgestellt hat, dass es sich bei der Jurisprudenz (unter Einbeziehung der Gesetzge-

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bungslehre) ohnehin um eine per se interdisziplinäre Wissenschaft handelt32. Jedenfalls fällt die Studie in das Gebiet der empirischen Rechtssoziologie oder Rechtstatsachenforschung, und zwar konkret in deren Teilbereiche Effektivitäts- und Evaluationsforschung. Aufgabe dieser Bereiche ist ja gerade die auch hier angestrebte Feststellung, ob und inwieweit der Gesetzgeber die Ziele, die er mit der Einführung einer Rechtsnorm verfolgte, auch tatsächlich erreicht hat. Außerdem können die dort gewonnenen Erkenntnisse zur Effektuierung des Rechts genutzt werden, nämlich insofern, als mit ihnen die beim Vollzug der Gesetze aufgetretenen Störungen aufgedeckt und Möglichkeiten aufgezeigt werden können, wie diese zu vermeiden oder zu beseitigen sind. Ihnen sollte im vorliegenden Zusammenhang daher nicht nur der Status bloßer Hilfswissenschaften der Jurisprudenz zugewiesen werden33. 1. Die Untersuchung als interdisziplinäres Projekt Demnach wird hier die Verfahrenswirklichkeit des abgekürzt so bezeichneten „Rechtsschutzes gegen den Richter“ am Beispiel der Anhörungsrüge, der Restitutionsklage und des Klageerzwingungsantrags in der Absicht beschrieben, etwaige rechtsstaatliche Defizite dieses Rechtsschutzes aufzudecken und deren Ursachen zu ermitteln. Als auf die Seinsgeltung des Rechts ausgerichtete Erfahrungswissenschaft geht es der Rechtssoziologie zuerst allein um die Beschreibung und Analyse der sozialen Wirklichkeit des Rechts. Deshalb soll hier auch nicht die rechtspolitische Problematik des Sinns und Zwecks der Wertentscheidung behandelt werden, die das BVerfG mit jenem Dogma vom Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber auch gegen diesen, getroffen hat. Vielmehr gilt es vorerst nur zu schildern, wie diese Doktrin als Zwischenstufe im Verlauf der rechtshistorischen Entwicklung der ZPO bis zur Einführung der Anhörungsrüge und bis zum Plenarbeschluss des BVerfG vom 30. 04. 03 (E 107, 395) dessen Rechtsprechung zur Rechtsschutzgarantie maßgeblich bestimmt hat, um sich dann als nicht mehr durchgehend haltbar zu erweisen. Somit kann hier auch dahingestellt bleiben, ob speziell die Vorschrift des § 339 StGB als Verhaltens- und Sanktionsnorm etwa aufgrund berechtigter Zweifel an ihrer Ver32 Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 68; Hilgendorf, Bedingungen gelingender Interdisziplinarität – am Beispiel der Rechtswissenschaft, JZ 2010, 913, 921; Julika Rosenstock, Versuch über Sein und Sollen der Rechtsforschung – Bestandsaufnahme eines interdisziplinären Forschungsfeldes, in: Boulanger/Rosenstock/Singelnstein (Hrsg.), Rechtssoziologie und interdisziplinäre Rechtsforschung, 2019. 33 Rehbinder (Fn. 7), Rn. 6. Die Rechtssoziologie verfolgt ein eigenes Erkenntnisziel, indem sie der Aufgabe nachgeht „zu überprüfen, ob bestimmte Feststellungen über die faktische Existenz sowie die Entstehung und Wirkung von Recht in der Gesellschaft der Wirklichkeit entsprechen oder nicht“, womit sie über die wissenschaftliche Wahrheit rechtssoziologischer Hypothesen entscheidet. Schon A. Heldrich wies darauf hin, dass auch darauf zu achten sei, der Rechtssoziologie nicht nur die Rolle einer Service-Wissenschaft zuzuweisen (AcP 1986, S. 74, 109). Eine Rechtstatsachenforschung nach dem Motto „Schmücke Dein Heim“, wie in machen Schriften anzutreffen, sei ohne besonderen Nutzen.

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fassungsmäßigkeit überhaupt noch als für den Rechtsstab rechtsdogmatisch verbindlich zu gelten hat34. Vielmehr ist lediglich die Faktizität jener Norm zu erforschen,35 also zu klären, ob und inwieweit diese noch als Bestimmungsgrund richterlicher Verhaltensweisen und sozialer Verhaltensmuster überhaupt auf den Rechtsstab tatsächlich Einfluss ausübt und damit Wirksamkeit entfaltet. 2. Strafrechtswissenschaftliche und kriminologische Aspekte Soweit es hier rechtssoziologisch auf die Seinsgeltung des § 339 StGB ankommt, ergeben sich auch strafrechtswissenschaftliche und kriminologische Aspekte. Problematisch erscheint zunächst die (zu) hohe Strafandrohung mit der Nebenfolge des Amtsverlusts gemäß § 45 StGB. Grundsätzlich mag zutreffen, dass die Höhe der angedrohten Sanktion positiv deren Wirksamkeit beeinflusst. Allerdings sind Sanktionen nicht per se wirksam. Vielmehr kommt es bei ihnen auf diverse Randbedingungen an. Eine überzogene Strafandrohung kann auch kontraproduktiv wirken, wenn der Rechtsstab die Sanktion für unverhältnismäßig hält und deshalb keinen Gebrauch von ihr macht36. Denn damit würde der mit ihr verfolgte Zweck verfehlt37. Als wirksam kann eine Sanktion nur gelten, wenn sie als taugliches Mittel dazu geeignet ist, ihren Zweck zu erfüllen. Dies gilt exemplarisch für die Vorschrift des § 339 StGB. Hinzu kommt, dass es darauf bezogen auch an der Bereitschaft und Autorität des Rechtsstabs fehlt, der Norm durch Anwendung in der Rechtspraxis zur Wirksamkeit zu verhelfen. Außerdem ist von einem nicht unerheblichen Dunkelfeld bei der Rechtsbeugung auszugehen, an dessen Erhellung seitens der Strafverfolgungsbehörden offenbar kein Interesse besteht. Das wiederum beeinträchtigt die Entdeckungs- und Sanktionierungsrate und damit die Sanktionserwartung bei den Richtern als den Normadressaten.

34 Der Rechtsstab befasst sich bestimmungsgemäß mit der Aufstellung, Anwendung und Durchsetzung von Rechtsnormen. Den Sammelbegriff hat Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., S. 17) für den Sanktions- oder Erzwingungsapparat der Justiz in die Rechtssoziologie eingeführt. Rechtsstab a potiori ist der Richter. Er fungiert für den Fall, dass er einer Norm durch Anwendung Geltung verleihen will, als „Umschaltstation von der soziologischen in die juristische Geltung“ jener Norm (Rehbinder). 35 Rehbinder (Fn. 7) Rn. 1 und 45 – 47. 36 Röhl, Rechtssoziologische Befunde zum Versagen von Gesetzen, in: Hof/Lübbe-Wolff, Wirkungsforschung zum Recht I, 1999, S. 413, 431. 37 Dazu Noll, Gesetzgebungslehre 1973, S. 147; Rehbinder (Fn. 7), Rn. 125. Entfällt dieser Zweck, so entfällt auch die Norm selbst. Dies sagt auch der kirchenrechtliche Grundsatz Cessante ratione legis, cessat lex ipsa, vgl. Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl. 2010, Rn. 955.

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3. Zur Erosion der Strafrechtsnorm des § 339 StGB Hohe Dunkelziffern sind ein entscheidender Indikator für die fehlende Anerkennung von Rechtsnormen38. Das durch § 339 StGB geschützte Rechtsgut ist nach der Rechtsprechung des BGH vorrangig die innerstaatliche Rechtspflege in Form der staatlichen wie vom Staat anerkannten richtigen und unparteiischen Rechtsprechung39, „die auch vor ihren eigenen berufenen Vertretern, also vor einem Angriff ,von innen‘ zu schützen ist“40. Diese soll bewahrt werden vor missbräuchlichen Eingriffen gerade derjenigen Personen, deren ureigene Pflicht es ist, die Einhaltung und Geltung des Rechts zu gewährleisten. So wichtig die Vorschrift von ihrer ratio her für die Integrität der Rechtspflege ist, so wenig genießt sie Beachtung in der Praxis der Strafjustiz. Auffällig ist jedenfalls die statistisch außerordentlich geringe Zahl an Verurteilungen wegen Rechtsbeugung41. Doch schon Spendel hatte vor dem Trugschluss gewarnt, daraus ergäbe sich, das Delikt werde ob der abschreckenden Wirkung dessen hoher Strafandrohung gar nicht mehr begangen. Dies wäre „eine schon nicht mehr fromme Selbsttäuschung“42. Zurückzuführen war das Ausbleiben an Verurteilungen lange Zeit auf die extrem restriktive Auslegung des § 339 StGB durch den BGH in Anwendung der sog. Schweretheorie43, wonach sich der Amtsträger „bewusst und in schwerwiegender Weise vom Gesetz entfernt“ haben musste, 38 D. Locke, Normenerosion als Akzeptanzproblem – der Abschied vom „homo legalis“?, in: Frommel/Gessner (Hrsg.), Normenerosion, 1996, 57. Die Ansicht, dass ein sehr niedriger Befolgungsgrad faktisch zur Nichtgeltung der betreffenden Norm führt, wurde lediglich von Kuhlen bezweifelt: Normative Konsequenzen selektiver Strafverfolgung, in: Lüderssen (Hrsg.), Abweichendes Verhalten IV, 1980, 26, 31 f. 39 Nach BGHSt 40, 272 und 41, 247, 248 ist der Individualrechtschutz gegen die wohl h. A., wonach § 339 StGB gleichrangig auch Individualrechtsgüter schützt, nur Rechtsreflex. Nach BGHSt 43, 183, 191 wird das Allgemeingut der innerstaatlichen Rechtspflege allerdings wie ein Individualrechtsgut (Menschenrecht) behandelt. Siehe zum Meinungsstreit Roland Kern, Die Rechtsbeugung durch Verletzung formellen Rechts, 2010, § 3 IV 4 b. 40 LK-Spendel, § 339 Rn. 7; LK-Hilgendorf, StGB, 13. Aufl. 2019, § 339 Rn. 8; Fischer, StGB (Fn. 21), § 339 Rn. 2. Abwegig ist daher die Ansicht, § 339 StGB diene dem Schutz der richterlichen Überzeugung oder gar dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit. 41 Bekannt wurden zwar einige Fälle, in denen Anklage wegen Rechtsbeugung erhoben wurde, siehe BGHSt 42, 343 mit Bespr. Sowada in GA 1998, 177, BGH 47, 105 [Schill] sowie OLG Naumburg NJW 2008, 3585 [Görgülü] sowie Fn. 1. In keinem dieser Fälle kam es jedoch zur Verurteilung. Unberücksichtigt bleiben hier die Anklagen nach Wechsel des Regimes (siehe dazu Arnd Koch, Zur Auslegung des Rechtsbeugungstatbestands nach Systemwechseln, ZIS 2011, 470. 42 In der 11. Aufl. des LK, § 339 Rn 3, nunmehr LK-Hilgendorf (Fn. 41), zu § 339 Rn. 3. Die These hat Schloderer, Rechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat, 1993, S. 612 f., bestätigt. Es bestehe in der Tat „eine starke Vermutung dafür, dass es ein gewisses Dunkelfeld von Rechtsbeugungen“ gäbe. Nur seien „die Chancen dafür, dass sich diese Vermutung mit den herkömmlichen Mitteln der Dunkelfeldforschung verifizieren ließe, …“ sehr gering zu veranschlagen. Insbesondere fehle es für eine klare Beurteilung am Material zum inneren Tatbestand. Daher sei „über eine mehr oder weniger starke Vermutung für ein gewisses Dunkelfeld nicht hinauszukommen“. Dazu auch Dallmeyer, GA 2004, 540. 43 BGHSt 32, 357, 363 f.; 40, 283; Fischer, StGB (Fn. 21), § 339 Rn. 9 und 14.

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sowie auf die Beschränkung des subjektiven Tatbestands auf den direkten Vorsatz. Wie noch zu zeigen sein wird, hat inzwischen der BGH die Vorschrift in der Grundsatzentscheidung BGH 2 StR 479/13, NJW 2014, 1192, für die Strafverfolgungsbehörden vertretbar konkretisiert44. Zu einer Richteranklage auf dieser Basis ist es jedoch seitdem noch nicht gekommen. Diese Rechtsprechung hat dazu geführt, dass ein Richter eine Strafverfolgung wegen Rechtsbeugung grundsätzlich nicht zu befürchten braucht, weshalb sein Entscheidungsverhalten auch von keiner Sanktionserwartung beeinflusst wird. Der BGH lege „Maßstäbe für die subjektiven Voraussetzungen an, die es einem Richter … nahezu unmöglich machen, den Tatbestand der Rechtsbeugung zu erfüllen“45. Allerdings kann daraus auch nicht umgekehrt gefolgert werden, die Bestrafung einiger weniger unter den Richtern wegen Rechtsbeugung sei folgerichtig als willkürlich zu betrachten und müsse deshalb überhaupt entfallen. Sollte sich die Staatsanwaltschaft zu ihrer Rechtfertigung auf diese Überlegung stützen, worauf einiges hinweist, würde sie sich insoweit nicht mehr an Gesetz und Recht gebunden fühlen, sondern nur noch an ihre eigene Strafverfolgungspraxis. Das aber widerspräche nicht nur dem Vorrang des Gesetzes, sondern auch dem Grundsatz, dass es keine Gleichheit im Unrecht gibt46.

III. Wachsende Bedeutung des Zivilprozessrechts und Entwicklung der außerordentlichen Rechtsbehelfe Zur Einführung in die Thematik bedarf es auch einiger Hinweise auf die wachsende Bedeutung des Zivilprozessrechts und auf das Verhältnis der Zivilprozessrechtswissenschaft zu den Sozialwissenschaften. Zwangsläufig berührt das Thema sowohl die generelle Problematik der legitimen Gültigkeit der sachlich unrichtigen Entscheidung als auch das spezifisch zivilprozessuale Problem der Durchbrechung der materiellen Rechtskraft unrichtiger Urteile und verlangt daher auch ein Eingehen auf die grundsätzliche Frage nach dem Zweck des Zivilprozesses und auf die Richtigkeitsgewähr richterlicher Entscheidungen.

44 Fischer, StGB (Fn. 21), zu § 339 Rn. 16. Dazu schon Lehmann, Der Rechtsbeugungsvorsatz nach den neueren Entscheidungen des BGH, NStZ 2006, 127, 131; LK-Hilgendorf (Fn. 40), Rn. 86 – 92. 45 Vgl. H. C. Schaefer (Generalstaatsanwalt a.D.), Überzogenes Richterprivileg, NJW 2002, 734, 735. 46 Siehe dazu Kuhlen (Fn. 38), S. 38 f.

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1. Der Funktionswandel des Zivilprozessrechts vom Rechtsdurchsetzungs- zum Rechtsgewinnungsrecht Die erste einheitliche deutsche CPO, die im Jahre 1879 als Teil der Reichsjustizgesetze in Kraft trat, war beeinflusst vom französischen Code de procédure civile von 1806 und enthielt Anregungen aus dem österreichischen und italienischen Prozess. Sie rezipierte somit nicht rein nationales, sondern gemeineuropäisches Recht47. Vorläufer der CPO beim Übergang vom Zeitalter des Absolutismus zur Aufklärung waren die preußischen Prozesskodifikationen des Corpus Juris Fridericianum von 1781 und der Allgemeinen Gerichtsordnung von 1793/94, die schon unter dem Einfluss Montesquieus sukzessive die gemeinrechtlichen Institutionen verdrängt hatten48. Die besondere Leistung der deutschen Jurisprudenz bestand dann nach Ansicht Carneluttis darin, das Zivilprozessrecht zu einer eigenständigen Rechtsmaterie und den Prozess selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung erhoben zu haben49. Denn ursprünglich war dieses Recht bloßer Annex des materiellen Rechts und bestand lediglich aus einer unsystematischen Ansammlung formell-technischer Regelungen, deren Handhabung weitgehend den Parteien überlassen blieb, während sich das Gericht auf die Entscheidungsfindung beschränkte50. Dem lag noch die Vorstellung einer materiellen Rechtsordnung aus inhaltlich feststehenden Normen zugrunde, denen nach einer etwaig erforderlichen Auslegung mittels eines logisch-deduktiven Subsumtionsschlusses für jeden Einzelfall das richtige Ergebnis entnommen werden könne. Die Autorität und Legitimation der richterlichen Entscheidung als Akt der „rechtsprechenden Gewalt“ (Art. 92 GG) wurde somit allein aus dem materiellen Recht hergeleitet, von dem angenommen wurde, dass es die richterliche Entscheidung vollständig determinierte. Dementsprechend war das richterliche Erkenntnisverfahren darauf angelegt, für den Konfliktfall die möglichst einzig gerechte und rechtmäßige, also „richtige“ Entscheidung zu finden51. Als „richtig“ galt diese dann, wenn der Richter auf den wahren historischen Sachverhalt das materielle Recht gemäß seiner Funktion als „la bouche

47 Rolf Stürner, Das deutsche Zivilprozessrecht und seine Ausstrahlung auf andere Rechtsordnungen, in: Grunsky/Stürner (Hrsg.), Wege zu einem europäischen Zivilprozessrecht, 1992, S. 11. 48 Siehe zur Entstehungsgeschichte der ZPO Martin Ahrens, Prozesszweck und einheitlicher Zivilprozess – Einhundert Jahre legislative Reform des deutschen Zivilverfahrensrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Verabschiedung der Reichszivilprozessordnung, 2007, S. 83 ff.; Knut W. Nörr, Naturrecht und Zivilprozeß, Studien zur Geschichte des deutschen Zivilprozeßrechts während der Naturrechtsperiode bis zum beginnenden 19. Jahrhundert, 1976; Stephan Hocks, Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang. Zur Publizität der Entscheidungsgründe im Ancien Régime und im frühen 19 Jahrhundert, 2002. 49 Carnelutti, ZZP 64 (1950), S. 32, 39. 50 Vgl. Stürner (Fn. 48), S. 12; Ahrens (Fn. 49), S. 101 ff. 51 Gilles, Verfahrensfunktionen und Legitimationsprobleme richterlicher Entscheidungen im Zivilprozess, FS Schiedermair, 1976, S. 183, 189; Zöller-Vollkommer (Fn. 7), Einl. Rn. 50.

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qui prononce les paroles de la loi“ (Montesqieu) fehlerfrei angewandt hatte52, und als unrichtig bzw. gesetzwidrig sah man sie an, wenn ihm bei der Subsumtion ein Fehler i. S. des § 550 ZPO unterlaufen war. Zugeschrieben wurde dies im letzteren Fall nicht einer Mehrdeutigkeit des Rechts, sondern seiner mangelnden Fähigkeit zur Erkenntnis des wirklichen Rechts. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich dann das Zivilprozessrecht von einer nur untergeordneten Rechtsmaterie und einem bloß formellen Rechtsdurchsetzungsrecht zu einer eigenständigen rechtswissenschaftlichen Disziplin und damit, wie Gilles dies ausdrückte, zu einem materiellen Rechtsgewinnungsrecht, das seitdem als eine dem materiellen Recht ebenbürtige, wenn nicht gar höherrangige Materie gilt. Auf diese Weise wurde das „Verfahren“ selbst und die es tragenden Rechtsregeln an Stelle des materiellen Rechts zur eigentlichen Legitimationsgrundlage des Richterspruchs53. Vor allem gewann dadurch das Prozessrecht einen „funktionalen Eigenwert“54 und wurde deutlich aufgewertet zu einem der angeblich „wichtigsten Zweige des Rechts“ überhaupt55. Zugleich bildete sich damit die Zivilprozessrechtswissenschaft zu einem interdisziplinär ausgerichteten Teilbereich der Jurisprudenz, dessen Aufgabe sich auch auf die Beschäftigung mit rechtspolitischen Fragestellungen erstreckte, so vor allem auf die Verwirklichung der Chancengleichheit vor Gericht und die Beschleunigung des Prozesses sowie nicht zuletzt auf die Anhebung der Effektivität des Rechtsschutzes. 2. Prozesszweck und materielle Rechtskraft sachlich unrichtiger Urteile Der für die Vorläufer der CPO und deren Schöpfer maßgebliche Prozesszweck fand erstmals im „Vorbericht“ des Corpus Juris Fridericianum Erwähnung56, der von

52 Nach Louis Frédéric Muskens, Gesetzesbindung und Willensfreiheit des Richters, RphZ 2017, 285 – 310, beruht die klassische Gewaltenlehre, wonach die Judikative strikt an die Gesetze gebunden ist, auf einem Missverständnis Montesquieus, da für den Richter im Rahmen der im Gesetz vorgesehenen „Relativierungsmechanismen“, welche überhaupt erst das Funktionieren des Rechtssystems erlauben, eine gewisse Willensfreiheit bei der Entscheidung unabdingbar sei und diesem daher trotz des Bindungsgebots ein Entscheidungsspielraum zustehe. Dieser Entscheidungsspielraum ergäbe sich nach Schweizer Recht aus den Vorschriften der Art. 5 I, 190 und 191c der Bundesverfassung sowie zur Lückenfüllung aus Art. 1 ZGB und zur Ermessensausübung aus Art. 4 ZGB. In jedem Fall müsse der Richter jedoch seine frei gewählte Lösung systemkonform begründen. Braun, Rechtsanwendung als Rechtserkenntnis, RphZ 2020, 40 – 58, sieht in der Rechtsanwendung eine Fortsetzung des gesetzgeberischen Erkenntnisakts in „denkendem Gehorsam“. 53 Gilles, Zum Bedeutungszuwachs und Funktionswandel des Prozessrechts, JuS 1981, 402, 404, 408. 54 Lorenz, Grundrechte und Verfahrensordnungen, NJW 1977, 865, 867. 55 So eine Äußerung von Cappelletti, zitiert nach Gilles (Fn. 52), S. 402. 56 Dazu Nörr (Fn. 49), S. 25 ff.; der „Vorbericht“ ist abgedruckt im Anhang auf S. 64 f.

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Carl-Gottlieb Svarez (1746 – 1798) verfasst wurde57. Aus der Erkenntnis, dass die Wahrheitsfindung allein dem Richter zu überlassen ist, die Parteien aber auch vor einem etwaigen Missbrauch jenes Privilegs geschützt werden müssen, stellte dieser darin sehr beachtenswert fest, der „vornehmste Entzweck“ der neuen Prozessordnung ginge dahin, „1. den Richter in Stand zu setzen, die Wahrheit selbst aufzusuchen; dagegen aber auch 2. die Partheyen gegen alle willkührliche Behandlungen zu sichern“. Damit diese Zwecke verwirklicht werden konnten, wurden in Preußen zeitweise die Advokaten aus dem Prozess, dem ein Güteverfahren vorausging, verdrängt und durch sog. Assistenzräte ersetzt, deren Aufgabe darin bestand, das Gericht bei der Sachverhaltsfeststellung zu unterstützen, den Rechtsstandpunkt der Parteien darzulegen und die Tätigkeit der Richter zu kontrollieren58. Die erste Maxime ist später durch die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit59 untermauert worden, während die zweite Maxime in der heutigen Prozessrechtslehre weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein scheint60, worauf noch zurückzukommen sein wird. Nach heutiger Lehre61 besteht jedenfalls der Zweck des Zivilverfahrens „allein oder doch vorrangig in der Verwirklichung der Gerechtigkeit auf der Grundlage der Wahrheit im Sinne des Schutzes, der Sicherung oder der zwangsweisen Durchsetzung subjektiv materieller Rechte, wie sie die Privatrechtsordnung dem Einzelnen einräume“, d. h., Zweck des Zivilprozesses ist die Feststellung und Verwirklichung subjektiver Rechte62. Die Hervorhebung des Individualrechtsschutzes als zentraler Prozesszweck entspricht der Bedeutung der Grundrechte als Individualrechte63 in der deutschen Verfassung. Soweit in der Literatur daneben noch andere, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Zwecke genannt werden wie die Bewährung des objektiven Rechts, die Sicherung des Rechtsfriedens und die Schaffung von Rechtsgewissheit (Rechtssicherheit), wirken sich diese lediglich als positive Rechtsreflexe aus64. Dies gilt nur dann nicht, wenn es ausnahmsweise einmal um die Bewährung eines Rechtsinstituts geht. So ist auch die Herstellung des Rechtsfriedens angesichts der

57 Bernd-Rüdiger Kern, Carl Gottlieb Svarez – Der Gesetzgeber Preußens, JuS 1998, 1085 – 1087; Zur Entwicklung und den Reformen der ZPO siehe Herbert Roth in JR 2018, 159 – 167. 58 Vgl. Ahrens (Fn. 49), S. 111. 59 Art. 97 I GG, Art. 191c Schweizerische BV. 60 Siehe Georg Steinberg, Richterliche Gewalt und individuelle Freiheit, 2010, S. 59. 61 Gilles (Fn. 52), S. 183 f.; BVerfGE 35, 348, 361; 85, 377, 445; 93, 99, 107; 97, 169, 185. 62 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl. 2010, § 1 III Rn. 7; Rolf Stürner, Prozeßzweck und Verfassung, in: FS Baumgärtel, 1990, 545. 63 R. Stürner (Fn. 64), Prozeßzweck und Verfassung, S. 546; Peter-Andreas Brand, Grenzen zivilprozessualer Wahrheit und Gerechtigkeit, NJW 2017, 3558, 3559. 64 Vgl. Jauernig/Hess, Zivilprozeßrecht, 30. Aufl. 2011, § 1 I 2; Stürner (Fn. 64), S. 546, 548.

§ 1 Einführung in die Thematik

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Tatsache, dass zu diesem Zweck nicht jedes beliebige Urteil geeignet ist, nur von untergeordneter Bedeutung65. Nicht durchzusetzen vermochte sich die extreme Ansicht Niklas Luhmanns, der als Ziel des Prozesses, den er als soziales Handlungssystem und Lernprozess begriff, die rein faktische Hinnahme des autoritären Richterspruchs durch die Betroffenen betrachtete66. Ihm hielten seine Kritiker zu Recht entgegen67, dass weder auf den Gewinn von Wahrheit und Richtigkeit als tragende Verfahrensfunktionen zugunsten einer nur faktischen Hinnahme der Entscheidung verzichtet werden könne noch ein solcher Verzicht mit der Forderung des Grundgesetzes nach Schutz der Individualrechte vereinbar sei. 3. Legitimation der außerordentlichen Rechtsbehelfe Wenn jedoch der Prozess nicht primär Rechtsfrieden und Rechtsgewissheit bezweckt, sondern die (Wieder-)Herstellung der subjektiven Rechte des Einzelnen durch eine möglichst „richtige“ Entscheidung, stellt sich das Problem der Legitimation der sachlich unrichtigen Entscheidungen und der Durchbrechung ihrer materiellen Rechtskraft im Ausnahmefall, da bekanntlich auch fehlerhafte Entscheidungen im Zweifel als wirksam gelten, und zwar selbst dann, wenn sie greifbar gesetzwidrig sein sollten68. Wie Jauernig hervorgehoben hat, lag in der Wirksamkeit (und regulären Unanfechtbarkeit) der grob missglückten Entscheidungen „gerade der Grund für die Erfindung der außerordentlichen Beschwerde“69. Denn selbstverständlich bedarf es zunächst einmal eines statthaften Rechtsbehelfs, um die Bindungswirkung des § 318 ZPO durchbrechen zu können, bevor überhaupt die Frage gestellt werden kann, ob und inwieweit in diesen Entscheidungen gegen das materielle Recht verstoßen wurde. Die Behauptung der unterlegenen Partei, dass ein solcher Verstoß stattfand, muss erst in einem neuen Prozess zugelassen werden, damit die Entscheidung überhaupt auf ihre Richtigkeit hin geprüft werden kann.

65 Unberath, Der Zweck der Rechtsmittel nach der ZPO-Reform, ZZP 2007, 323, 327, Fn. 27. 66 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, insbes. S. 33 ff., 57 ff., 82 ff., 107 ff. und 129 ff. 67 So u. a. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 2. Aufl. 1972, S. 205 – 216; J. Hagen, JuS 1972, 485 ff.; Gilles (Fn. 52), S. 188 ff.; zu den Verdiensten Luhmanns Stefan Machura, Niklas Luhmanns „Legitimation durch Verfahren“ im Spiegel der Kritik, ZfRSoz.1993, 97 – 114; Klaus F. Röhl, Verfahrensgerechtigkeit, ZfRSoz 14 (1993), S. 19; Henke, in: ZIS 2/2015. 68 BVerfGE 65, 182 = NJW 1984, 475; BVerfG NJW 2011, 836 Tz. 35. In der schweizerischen Bundesverfassung ist diese Verpflichtung sogar ausdrücklich in Art. 190 BV geregelt. Biaggini, Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit: Ersatzlose Aufhebung von Art. 190 BV als optimaler Weg?, ZBJV 12, 241. 69 Jauernig (Fn. 3) Außerordentliche Rechtsbehelfe, S. 241, 245 f.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

Dieses Faktum hat Puttfarken in seiner Würdigung der klassischen Rechtskraftlehre Schwabs klargestellt70: Rechtskraft aus dem Verhältnis zum materiellen Recht zu erklären, widerspräche der prozessualen Abfolge und sei auch ein logisch unzulässiger Vorgriff auf das spätere Ergebnis. Rechtskraft sei daher (nur) Zweckerreichung für die siegreiche Prozesspartei. Um sie durchbrechen zu können, muss daher das Rechtsmittelsystem der angeblich von einer greifbaren Gesetzwidrigkeit betroffenen Partei erst einen geeigneten Rechtsbehelf zur Verfügung stellen, um diese damit in die Lage zu versetzen, von der Justiz die Durchführung eines Abhilfeoder Wiederaufnahmeverfahrens mit dem Ziel der Korrektur der Entscheidung überhaupt verlangen zu können. Dies folgt auch zwingend aus dem Grundsatz der Rechtsmittelklarheit. Außerordentliche Rechtsbehelfe sind als „von der Rechtsordnung gewährte Mittel zur Verwirklichung eines Rechts“ dadurch gekennzeichnet, dass sie sich gegen formell rechtskräftige Entscheidungen richten, also gegen Entscheidungen, deren Anfechtung mit ordentlichen Rechtsmitteln im Rechtsmittelsystem nicht (mehr) vorgesehen ist71. Sie kommen nur subsidiär in einem an sich bereits „durch rechtskräftiges Endurteil geschlossenen Verfahren“ (§ 578 I ZPO) in Betracht und stellen damit ein Instrumentarium dar, mit dem bei Vorliegen der Voraussetzungen eine Entscheidung trotz ihrer formellen Rechtskraft noch einer Kontrolle und einer Korrektur unterworfen werden kann. Wie gesagt war das genau die Situation, die zwangsläufig zur Entwicklung und Anerkennung der außerordentlichen Rechtsbehelfe führte. Unanfechtbar ist damit nicht gleichzusetzen mit Unabänderbarkeit. Denn „Inhalt der formellen Rechtskraft ist die Unangreifbarkeit, nicht die Unwiderruflichkeit“ durch den Entscheidungsträger selbst72. Bei Erfolg des außerordentlichen Rechtsbehelfs entfällt die formelle Rechtskraft rückwirkend, die bis dahin nur konditioniert ist. Streng genommen kann daher von Unanfechtbarkeit erst gesprochen werden, wenn weder ein Abhilfeverfahren noch eine Wiederaufnahme des Verfahrens mehr in Betracht kommt73. Daher kommt es darauf an, unter welchen konkreten Voraussetzungen die Durchbrechung der Rechtskraft zum Zwecke der Erzielung eines „richtigen“ Ergebnisses ausnahmsweise als gerechtfertigt gelten kann74, und zwar auch unter Berücksichtigung der Ansicht derjenigen Rechtswissenschaftler, die von einer „Hypertrophie der Rechtsbehelfe“, einer „beispiellosen Rechtsschutzexpan70

Puttfarken, Gegenwartsprobleme der deutschen Zivilprozessrechtswissenschaft, JuS 1977, 493, 498. 71 Vgl. zum Begriff der außerordentlichen Rechtsbehelfe Chr. Seidel (Fn. 3), § 2 III. 72 BVerfG NJW 1996, 1736 betreffend den außerordentlichen Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde. 73 MüKo ZPO (Fn. 3), vor § 578 Rn. 1 f. 74 Nach Schenke (Fn. 3), S. 730, würden der Justizgewährungsanspruch und die subjektive Rechtsqualität der Verfahrensrechte „partiell preisgegeben, wenn man einem Verfahrensbeteiligten keine Möglichkeit einräumte, sich gegen eine durch die letztinstanzliche gerichtliche Entscheidung begründete Verletzung solcher Verfahrensrechte zur Wehr zu setzen“.

§ 2 Zivilprozessrecht und Sozialwissenschaften

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sion“ und „Instanzenseligkeit“ in Deutschland sprechen und meinen, dass die Kontrollintensität eher zurückzufahren als zu erweitern sei75.

§ 2 Zivilprozessrecht und Sozialwissenschaften I. Rechtssoziologische und rechtspsychologische Grundlagen In den frühen 70er Jahren erforschte Rüdiger Lautmann (während seiner Tätigkeit als Richter) die Richtertätigkeit bewusst durch „beobachtende Teilnahme“, um beschreiben zu können, „wie Richter zu ihren Urteilen gelangen“, wobei er ein schlüssiges Entscheidungsprogramm entwickelte, das zeigen sollte, wie die Richter mit den Fakten und Normen als den Prämissen ihrer Entscheidung umgehen76. Den wesentlichen Teil dieses Programms bildet das „Verfahrensprogramm“, das sich auf das richterliche Verhalten im Verfahrenssystem bezieht. Seines Erachtens sei bislang gerade der Gebrauch der Verfahrensnormen von der Rechtssoziologie vernachlässigt worden. Diese Sichtweise hat inzwischen dazu geführt, dass richterliches Entscheidungsverhalten von neueren Rechtstheoretikern als „soziale Praxis“ beschrieben wird. Richterliches Handeln sei danach „entscheidend geprägt durch eingeübte und habitualisierte Arbeitsstile und -techniken, professionelle Selbstverständnisse, die Bezugnahme auf ,Alltagstheorien‘ sowie durch spezifische Strategien der Entscheidungsorientierung und der Arbeitsökonomie“77. Gegenstand von Untersuchungen richterlichen Entscheidungsverhaltens sind außerdem schon seit längerer Zeit die hier noch zu behandelnden Prozesse der Herstellung und Darstellung der Entscheidung, und zwar ausgehend davon, dass „das Vorverständnis des Richters, das Entscheidungsmöglichkeiten selektiert, … immer nur zu solchen Ergebnissen (führt), die später auch begründbar sind“ 78. 1. Die Spruchtätigkeit des Richters als soziales Handeln i. S. der Soziologie Gegenstand dieser Untersuchung ist somit die richterliche Spruchtätigkeit, soweit sie in den Abhilfe- und Wiederaufnahmeverfahren in krassem Widerspruch zu den 75 Benda nannte 1979 die Rechtsgewährung ein „knappes Gut“ und forderte, „die Rechtsmittel zu beschränken“. Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 74 Rn. 65 f.; H. Roth, Zivilprozessuale Rechtsbehelfe und effektiver Rechtsschutz, JZ 1996, 805; Gilles, Rechtsmittelreform im Zivilprozess und Verfassungsaspekte einer Rechtsmittelbeschränkung, JZ 1985, 253. 76 Rüdiger Lautmann, Justiz – die stille Gewalt. Teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse, 1972, S. 18 f. Siehe zur Seriosität der (verdeckten) teilnehmenden Beobachtung als soziologische Methode Struck, Rechtssoziologie, 2011, § 11. 77 Michael Wrase, Recht und soziale Praxis – Überlegungen für eine soziologische Rechtstheorie, in: M. Cottier (Hrsg.), Wie wirkt Recht, 2010, S. 113, 115 f. 78 U. Schroth, Hermeneutik, Norminterpretation und richterliche Normanwendung, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Fn. 9), S. 296.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

Sollensanordnungen der Verhaltensnormen steht, die das Entscheidungsverhalten des Richters bestimmen. Recht ist eine Form menschlichen Handelns, und zwar, wie dies von der Pfordten79 deutlich gemacht hat, Handeln mit dem spezifischen Ziel der Vermittlung zwischen möglicherweise gegenläufigen, konfligierenden Belangen. Entscheidet der Richter, so handelt er, und zwar auch dann, wenn er entgegen dem non-liquet-Verbot eine Entscheidung unterlässt80, so z. B. beim Freispruch mangels Beweises. Das nicht ausdrücklich geregelte non-liquet-Verbot zwingt ihn zum Handeln81. Auch angesichts der von D. Simon82 beschriebenen „Entmythologisierung der Richterfigur“, in deren Zusammenhang auch „der sakrale Schauer, der das ,Richten‘ jahrhundertelang umhüllte, der nüchternen Betrachtung einer sozialen Funktion weichen“ musste, erscheint es naheliegender, statt von Rechtserkenntnis von richterlichem Handeln zu sprechen. Dieses Handeln ist rechtssoziologisch gesehen soziales Handeln, weil damit ein subjektiver Sinn verbunden wird. Und die Wissenschaft, die soziales Handeln „deutend verstehen“ und es „dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären“ will, ist nach Eugen Ehrlich und Max Weber die Soziologie. Erst durch das Handeln der Richter wird das geschriebene Recht „lebendig“, wird law in the books zu law in action. Insofern ist die Jurisprudenz Handlungswissenschaft83. Eugen Ehrlich erklärte bereits 1913 die Rechtssoziologie mit folgenden Worten zur einzig legitimen Rechtswissenschaft84: „Da das Recht eine gesellschaftliche Erscheinung ist, gehört jede Art der Jurisprudenz den Gesellschaftswissenschaften an, aber die eigentliche Rechtswissenschaft ist ein Teil der theoretischen Gesellschaftswissenschaft der Soziologie. Die Soziologie des Rechts ist die wissenschaftliche Lehre vom Recht.“

2. Psychische Einflussfaktoren auf die Entscheidungsfindung Die im konkreten Rechtsfall getroffene richterliche Entscheidung ist keineswegs immer das Ergebnis eines mehr oder weniger dogmatisch korrekten Subsumtionsschlusses85. Vielmehr kann sie auch durchaus von außerrechtlichen, insbesondere 79

Dietmar von der Pfordten, Was ist Recht? Ziele und Mittel, JZ 2008, 641. Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 26 I und § 27 III 3. 81 Ausdrücklich statuiert ist das non-liquet-Verbot (der Entscheidungszwang) nur in Art. 4 des Code civil, dazu O. Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, 1970, S. 108 f.; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 1995, S. 172 ff. 82 Dieter Simon, Richterliche Unabhängigkeit, 1973, S. 148, 158. 83 U. Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, in: Kaufmann/Hassemer/ Neumann (Fn. 9), S. 397 m. w. N. 84 Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 4. Aufl. 1989, hrsg. von M. Rehbinder, S. 33; Eva Kocher, Zur Unabdingbarkeit der Rechtssoziologie für die Rechtswissenschaft, RW 2017, 153, 178; Klaus F. Röhl/Stefan Machura, 100 Jahre Rechtssoziologie, JZ 2013, 117 – 1128. 85 Zur Subsumtion Thomas M. J. Möllers, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2019, §§ 4 und 14; Carsten Bäcker, Juristisches Begründen – Subsumtion und Ponderation als Grund80

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psychologischen Faktoren beeinflusst sein sowie auf sachfremden Motiven beruhen. In der Rechtstheorie ist seit langem anerkannt, dass weder das Gesetz noch die Auslegungsregeln geeignet sind, die richterliche Entscheidung voll zu determinieren86. Diese sei kein bloßer Erkenntnisakt, sondern auch Willensakt, da sie neben den kognitiven Elementen auch voluntative enthalte87. Bernhard Schlink hat diese Tatsache in einem Essay mit der Titel „Der Mythos der Entscheidung“88 wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Das erwachende soziologische Interesse an der Wirklichkeit des Rechts bemerkte, dass Richter ihre Urteile nicht finden, indem sie einfach von der grammatischen über die historische und teleologische zur systematischen Auslegung voranschreiten, sondern dass sie auf die Interessen blicken, die im Fall im Spiel sind, sich an Billigkeit und Gerechtigkeit, Empathie und Sympathie orientieren und darauf achten, was Nutzen bringt, Frieden stiftet, der höheren Instanz gefällt, der Karriere dient und manches mehr.“

Diese Entscheidungspraxis kann, wenn schon nicht zur Rechtsbeugung, so jedenfalls zu erheblichen Verzerrungen des Sachverhalts führen, den der Richter seinem Urteil zugrunde legt. Zumindest trifft zu, dass dieser durch seine Attitüden geprägt wird. So ist nach Rottleuthner in seinem um die Attitüde erweiterten Stimulus-Response-Modell89 zu unterscheiden zwischen „S“, dem tatsächlichen Sachverhalt, und „S‘“(S-Strich), den vom Richter für rechtlich relevant gehaltenen Sachverhalt, über den jener dann auch entscheidet. Schon dieses Phänomen kann durchaus zu erheblichen kognitiven Verzerrungen bei der Urteilsbildung führen90. Häuser fordert daher zu Recht, dass die notwendigerweise in die Entscheidung einfließenden subjektiven Elemente vom Richter reflektiert, offengelegt und dabei selbstverständlich auch argumentativ gerechtfertigt werden. Wie sich das Voluntative in der Entscheidung konkret auswirkt, lässt sich allerdings schwer feststellen. Trotz mancher Experimente wurden noch keine Untersuchungsmethoden entwickelt, welche die nichtrechtlichen Erwägungen des Richters

formen der Juristischen Methodenlehre, JuS 2019, 321 – 327; ders., Der Syllogismus als Grundstruktur des juristischen Begründens, Rechtstheorie 40 (2009), 404 – 424. 86 Raimund Jakob/Manfred Rehbinder (Hrsg.), Beiträge zur Rechtspsychologie, 1987, darin Jörg Berkemann, Die richterliche Entscheidung in psychologischer Sicht, 1971; Rottleuthner, Korrelation und Argumentation. Zur Soziologie und Neurobiologie richterlichen Handelns, in: FS Raiser, 2005, S. 579; Tobias Kalentscher, Die Neurobiologie der Urteilsbildung, Betrifft JUSTIZ 2019, 27 – 34. Martin Drath, Der Spiegel 29/1972, S. 51, bezeichnete das Subsumtionsdogma als „die Lebenslüge Nr. 1 der Juristen“. 87 Horst Häuser, Die Illusion der Subsumtion – Der Richter als Teil des Rechtsfindungsprozesses, Betrifft JUSTIZ 2011, 151. 88 Merkur 2019, 848, sowie merkur-zeitschrift.de/2020/01. 89 Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 114 ff. 90 Thomas Arntz, Systematische Urteilsverzerrungen im Rahmen richterlicher Entscheidungsfindung, JR 2017, 253 – 264; Rudolf Westerhoff, Ungute psychische Einflüsse auf das Rechtsdenken und deren Überwindung, JR 2013, 87 – 93.

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bei der Urteilsbildung zutage treten ließen91. Außerdem widersprächen solche wohl dem Beratungsgeheimnis. Davon abgesehen besteht die gerichtliche Praxis vor allem im Aufarbeiten von Tatfragen und weniger von Rechtsfragen, wobei davon auszugehen ist, dass Letztere in den meisten vor den Zivilgerichten ausgetragenen Rechtsstreitigkeiten nach sorgfältiger Aufarbeitung des Sachverhalts (wenn es dazu gekommen ist) bei korrekter Beherrschung der juristischen Methodenlehre92 auf nachvollziehbare Weise sachgerecht gelöst werden könnten. Das aber hängt allein von der fachlichen Kompetenz des Richters ab. Dabei sind die Aufklärung und Aufarbeitung des Sachverhalts das zunächst überhaupt Wichtigste. Deren Ziel ist „der richtige, nicht der gefällige Sachverhalt“93. Auf ihn kommt es nach § 286 I 1 ZPO als Grundlage für die richterliche Überzeugungsbildung ganz entscheidend an94. Die immer wieder auftretenden greifbaren Gesetzwidrigkeiten bei der richterlichen Entscheidungsfindung, welche die Qualität der Rechtsprechung der Fachgerichte weiter sinken lassen, sind allerdings in den meisten Fällen auf sehr naheliegende (menschliche) Gründe zurückführen, die nicht ihren Ursprung in den tiefenpsychischen Determinanten der Persönlichkeitsstruktur des Richters haben, da sie bei der Sachbearbeitung von ihm ganz bewusst gesetzt wurden. Schließlich handelt es sich bei den Richtern zunächst einmal um rein pragmatisch denkende und agierende Beamte, die vorrangig die Erfüllung ihrer Erledigungsquote im Auge haben. Denn diese ist für ihre Bewertung in der Personalakte nach wie vor allein entscheidend95. Und schon deswegen kommt es eben des Öfteren vor, dass ein Richter, um mit seinem Arbeitspensum nicht zu sehr in Rückstand zu geraten, anders als der wackere Richter Schulte-Kellinghaus96 entgegen seinem Diensteid gezielt auf eine vorzeitige Erledigung der Sache hinarbeitet und sich damit zugleich Arbeitserleichterung verschafft, indem er entgegen §§ 284, 286 ZPO unter Übergehung relevanten Parteivortrags und korrekt gestellter Beweisanträge auf eine vollständige 91 Dazu Benno Heussen, Libet, Rizzolatti, Haidt – Der Anteil des Unbewussten an richterlichen Entscheidungen, RphZ 2017, 275 – 284. 92 Siehe Thomas M. J. Möllers (Fn. 30), § 14 Rn. 2 ff.; Franz Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016. 93 Dazu eingehend Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, Rn. 67 ff., 88 ff. und Fn. 85. 94 Dazu Kockentied/Windau, Parteianhörung und richterliche Überzeugungsbildung, NJW 19, 3348. 95 Zum Bewertungssystem kritisch u. a. Ingrid Meinecke, Beurteilung – Faires Instrument zur Auswahlentscheidung oder Machtmittel, um die Richterschaft gefügig zu machen? Betrifft JUSTIZ, 2016, 69 – 73; Fabian Wittreck, Die Justiz im Spannungsfeld zwischen Rechtsschutzgarantie, Erledigungsdruck und Alimentationsmisere, Betrifft JUSTIZ, 2014, 67 – 77. 96 Dieser war abgemahnt worden, weil seine Erledigungsleistung nur 68 % derjenigen seiner Kolleg*innen entsprach. Die richterliche Unabhängigkeit sei erst beeinträchtigt, wenn ihm ein Pensum abverlangt werde, das sich „sachgerecht“ nicht mehr bewältigen lasse. Der Bescheid wurde durch Urteil des BGH vom 12. 05. 20, NJW 2020, 3320, bestätigt. Dazu kritisch Münchbach, Richterliche Unabhängigkeit contra Vorgabe von Erledigungszahlen, NJW 20, 3283 – 3288, und Schwamb, BetrifftJUSTIZ, 2020, 351.

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Sachverhaltsaufklärung verzichtet97, einen nach § 139 II ZPO zwingend notwendigen richterlichen Hinweis unterlässt, gar massiv den Sachverhalt verfälscht und entgegen § 300 I ZPO überraschend ein Urteil in einem noch gar nicht entscheidungsreifen Rechtsstreit erlässt. Dazu zählen auch die stark vereinfachenden Falllösungen mittels offenkundiger Zirkelschlüsse98. Unter den Verfahrensfehlern ist die vorsätzliche Sachverhaltsverfälschung sicherlich die häufigste Verfehlung und deshalb auch eine typische Begehungsform der Rechtsbeugung. Dies jedenfalls, nachdem hierfür seit der Grundsatzentscheidung BGH 2 StR 479/13 zu Recht der bedingte Vorsatz ausreicht. Für dieses bewusste richterliche Fehlverhalten in Gestalt der von Wilhelm Scheuerle so genannten „finalen Subsumtionen“99 sollte der Erledigungsdruck schon deswegen nicht als Entschuldigung dienen, da seit Jahren infolge der Verbraucherschlichtung und zunehmenden Schiedsgerichtsbarkeit ein angeblich sogar dramatischer Rückgang der Eingänge bei den Zivilgerichten zu verzeichnen ist100. Anders verhält es sich in der Strafgerichtsbarkeit: Dazu wies das BVerfG In einem Kammerbeschluss vom 14. 07. 2016, NJW 2016, 3711, sogar überraschend darauf hin, es könne im Einzelfall „bei der Anwendung von § 339 StGB zu berücksichtigen sein, dass das gegenwärtige System der Bewertung richterlicher Arbeit Anreize für eine möglichst rasche Verfahrenserledigung auch unter Inkaufnahme inhaltlicher Defizite schafft und die Länder jedenfalls im Bereich der Strafjustiz steigenden Belastungen nicht durch eine entsprechende personelle und sachliche Ausstattung Rechnung getragen haben“. Angesichts der Tatsache, dass jedem Richter die Möglichkeit offensteht, eine Überlastungsanzeige beim Dienstherrn einzureichen, erscheint dies allerdings bedenklich. Dennoch kann so manches Urteil durchaus auch auf sachfremden Motiven beruhen, etwa dann, wenn dem Richter das polemische Argumentieren des anwaltlichen Vertreters missfiel, dessen Opfer dann unverschuldet der Mandant wird. Volker Rieble hat den in der Gerichtspraxis leider noch immer anzutreffenden, besonders unangenehmen Richtertyp, nämlich den selbstherrlichen „Richterkönig“, der keine Kritik verträgt, trefflich wie folgt beschrieben: Jener mimosenhaft reagierende Richter weise streitbare Kritik allein schon wegen ihres Stils zurück. So brauche dieser nicht auf das Sachargument einzugehen. Das sei „ein Kunstgriff aus der eristischen Dialektik“. Dem Kritiker werde „Diffamierungsabsicht unterstellt, um den Streit ad personam austragen zu können und von der Sachfrage abzulenken“. 97

Die Nichtberücksichtigung erheblichen Vortrags verstößt gegen Art. 103 I GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet, BVerfGE 69, 141, 143 f. 98 Dazu Möllers (Fn. 30), § 5 Rn. 36 ff. und 91 ff. 99 Wilhelm Scheuerle, Finale Subsumtionen (Fn. 30). 100 Michael Dudek, Rückgang der Fallzahlen – Änderung der Konfliktkultur, JZ 2020, 884; Armin Höland/Caroline Meller-Hannich, Nichts zu klagen? Der Rückgang der Klageeingangszahlen in der Justiz – Mögliche Ursachen und Folgen, 2016; Tobias Freudenberg, Klagelos, NJW-aktuell 2018, 7; siehe zum „Zivilprozess im Wettbewerb der Methoden“ auch Adolphsen und Tombrink in den BRAK-Mitt. 2017, 147 und 152. Dennoch haben angeblich 60 % der Richter nach eigenem Empfinden nicht genügend Zeit zur Bearbeitung ihrer Fälle, DRiZ 2019, 6. Näheres zur Qualität der Rechtsprechung unten § 16 IV. Ziff. 5.

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Formuliere dieser sanft und zurückhaltend, menschlich verständnisvoll und fachlich konstruktiv, so gehe das im akademischen Grundrauschen unter. Vergessen sei, „dass Polemik als Stilmittel besonders Kritikwürdiges angreift“. Und für den vorliegenden Zusammenhang besonders klar auf den Punkt gebracht: „Wenn sich letztinstanzliche Richter über bislang eindeutig verstandene Gesetze hinwegsetzen, soll das keine Rechtsbeugung, sondern ,Rechtsfortbildung‘ sein. … Krasse Fehlurteile haben keine Folgen – für den Richter. Dessen Unabhängigkeit ist auch in der Ignoranz geschützt“101. Richter dieser Art sind noch keineswegs ausgestorben.

3. Annäherung der Zivilprozessrechtswissenschaft an die Rechtssoziologie Das Verhältnis zwischen Zivilprozessrecht und Sozialwissenschaften wird bestimmt von der Antwort auf die generelle Frage nach den Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Forschung in die Rechtswissenschaft. Obwohl die Beschäftigung der Soziologie mit der Justiz im deutschen Sprachraum eine vergleichsweise lange Tradition hat102, stellte Gilles noch 1983 fest, dass das spezifische Verhältnis zwischen Prozessrecht und Sozialwissenschaften als Teilbereich des Verhältnisses von Recht und Gesellschaft über das Stadium eines „beziehungslosen Nebeneinanders“ bislang nicht hinausgelangt sei103. Während sich die Jurisprudenz insgesamt gesehen der Soziologie längst geöffnet habe und für viele juristischen Fachdisziplinen der Umgang mit den Sozialwissenschaften bereits zum Alltagsgeschäft gehöre, habe innerhalb der Zivilprozessrechtswissenschaft die diesbezügliche Diskussion noch gar nicht recht begonnen. Demgegenüber habe sich die Rechtssoziologie in den USA schon seit den 60er Jahren intensiv mit den Verhaltensweisen von Richtern, ihren Aktivitäten und Attitüden sowie insbesondere mit dem hochkomplexen Gegenstand richterlicher Entscheidungsfindung befasst. Was dagegen in Deutschland zum Thema „Prozessrecht und Sozialwissenschaften“ an Überlegungen angestellt und an Untersuchungen vorgelegt wurde, sei in der Regel über die Qualität von Vorüberlegungen, Pilotstudien und allgemein gehaltener Theorieansätze nicht hinausgelangt. Aufgrund der wachsenden Bemühungen der Prozessrechtswissenschaft um eine Integration soziologischer Fragestellungen und Erkenntnisse in das Zivilprozessrecht lässt sich jedoch inzwischen, wenn schon nicht von einer „Soziologisierung“ des Zivilprozessrechts, so jedenfalls von einer fruchtbar gewordenen gegenseitigen Annäherung beider Wissenschaften sprechen. Ausdruck dessen sind u. a. die vor101 In der F.A.Z. vom 27. 05. 2015 auf der Seite N4 unter dem Titel „Der Richterkönig lebt!“. Siehe auch zum Versagen der richterlichen Selbstkontrolle Dierk Helmken, Richterliche Selbstherrlichkeit in der Wagenburg – Strukturelle Defizite in der Justiz, Betrifft JUSTIZ 2016, 57 – 64. 102 Rehbinder (Fn. 7), Rechtssoziologie, Rn. 132, 134, 165; ders., Fortschritte und Entwicklungstendenzen einer Soziologie der Justiz, 1989. 103 Gilles, Der Beitrag der Sozialwissenschaften zur Reform des Prozessrechts, in: Habscheid (Hrsg.), Rechtsschutz und verfassungsmäßige Ordnung, 1983, 105 f., 117.

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wiegend vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen „rechtstatsächlichen Untersuchungen“ zur beabsichtigten (und steckengebliebenen) „Großen Justizreform“, die Untersuchungen zur Vereinfachung und Beschleunigung des Gerichtsverfahrens sowie die Evaluationsstudien zu den Auswirkungen durchgeführter Reformen des Prozessrechts wie vor allem die Evaluation zur ZPO-Reform 2002104. Während in der Schweiz die Überprüfung der Maßnahmen des Bundes auf ihre Wirkungen verfassungsrechtlich zur Pflicht erklärt wurde (Art. 170 BV), findet sich in Deutschland eine Evaluationspflicht lediglich in § 44 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO), wonach bei der Gesetzesfolgenabschätzung auch die Nachhaltigkeit wesentlich zu berücksichtigen ist, sowie in § 55 SGB II, der regelmäßig und zeitnah eine Untersuchung der Wirkungen der Leistungen zur Eingliederung und derjenigen zur Sicherung des Lebensunterhalts fordert.

II. Zivilprozessrecht und Zivilprozessrechtsvergleichung 1. Der Beitrag der Rechtssoziologie zur Reform des Zivilprozessrechts Die Rechtssoziologie beobachtet das Recht (und die Justiz) von einem externen Standpunkt aus. Ihr Gegenstand ist die Faktizität des Rechts. Sie fragt nicht „wie soll der Richter entscheiden?“, sondern möchte wissen, „warum entscheiden die Richter gerade so und nicht anders?“ und fragt weiter: „Lässt sich der Richter wirklich vom Gesetz motivieren; inwieweit werden Gesetze von den Gerichten überhaupt befolgt?“ 105 Dementsprechend verlangt diese Wissenschaft auch nach einer eigenständigen Methode. Den wesentlichen Bestandteil machen insoweit die Methoden der empirischen Sozialforschung aus. Die Frage nach dem Beitrag der Sozialwissenschaften zur Reform des Prozessrechts wurde erstmals 1983 auf dem VII. Internationalen Kongress für Zivilprozessrecht in Würzburg thematisiert. Dessen Anliegen war es, „die Jurisprudenz nicht länger nur als reine Normwissenschaft, sondern zumindest auch als Wirklichkeitswissenschaft zu begreifen und zu betreiben und die immer noch dominanten normpositivistischen-konstruktionsjuristischen … Fragestellungen und Argumentationsmuster durch mehr … rechtssoziologische Problemsichten und Problembehandlungen zu ergänzen oder zu ersetzen“. So nannte Gilles mehrere Beispiele für potentielle Reformbeiträge der Sozialwissenschaften zu spezifisch zivilprozessrechtswissenschaftlichen Thematiken und stellte diese in einem „Leistungskatalog“ zusammen106. Daraus leitete Günther H. Roth107 den 104 Bundesjustizministerium (Hrsg.), Rechtstatsächliche Untersuchung zu den Auswirkungen der Reform des Zivilprozessrechts auf die gerichtliche Praxis, 2006. 105 Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie online, § 1 Gegenstand und Methode der Rechtssoziologie. 106 Gilles (Fn. 105), S. 105, 107 ff. 107 G. H. Roth, Der Beitrag der Rechtssoziologie zur Reform des Prozessrechts, in: Habscheid (Fn. 105), S. 215 – 251.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

Vorschlag ab, „eine unmittelbar reformbezogene Anwendung rechtssoziologischer Forschung auf dem Gebiet des Prozessrechts“ in fünf Stufen zu vollziehen, nämlich: Information über Rechtstatsachen, Nachweis der Reformbedürftigkeit, Definition bestimmter Reformziele und Reforminhalte, instrumentale Hilfestellung bei beliebigen Gesetzesreformen sowie Effektivitätskontrolle. Gilles108 stellte allerdings auch fest, dass „ein wirklicher ,Transfer‘ der aufgeworfenen sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und gewonnenen Erkenntnisse in die normative, prozessrechtsdogmatische oder prozessrechtspolitische Ebene nur höchst selten“ stattfinde. Dementsprechend geht es im Rahmen der vorliegenden Arbeit vor allem um die Feststellung der „sozialen Differenz“ zwischen normativer Erwartung und tatsächlichem Verhalten bei der richterlichen Entscheidungsfindung. Insbesondere befasst sich die Arbeit – auch rechtsvergleichend unter Einbeziehung der Rechtsschutzgarantie des Unionsrechts und der schweizerischen Bundesverfassung – mit der rechtssoziologisch relevanten Frage nach der Effektivität des durch die außerordentlichen Rechtsbehelfe der deutschen ZPO gewährten Rechtsschutzes gegen Entscheidungen in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren, die nach Ansicht der betroffenen Prozesspartei auf krassem judikativen Unrecht beruhen, nämlich auf einer entscheidungserheblichen Verletzung der Verfahrensgrundrechte, der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten oder der Entscheidungsbegründungspflicht. 2. Der Beitrag der Rechtsvergleichung zur Fortentwicklung des Prozessrechts Ebenso wie rechtssoziologische Untersuchungen verhelfen auch rechtsvergleichende Studien zu einem besseren Verständnis des eigenen Rechts (und dessen Handhabung) und geben Anregungen zu Reformvorhaben109. Die Rechtsvergleichung ist ein Zweig der Rechtswissenschaft, aber kein Rechtsgebiet, sondern eine wissenschaftliche Methode, die als zweckfrei gilt110. Sie liefert rechtstatsächliche 108 Gilles (Fn. 52), S. 126. Auch Röhl spricht noch 2007 in einem im Internet publizierten Nachtrag zu § 10 seines Lehrbuchs zur Rechtssoziologie von einer gegenwärtigen „Schwächephase“ der Rechtssoziologie, deren Ursache in der „fehlenden Nachfrage nach empirischer Rechtsforschung“ läge. Verantwortlich dafür sei das verständliche Misstrauen der Juristen gegenüber den mehr tentativen Ergebnissen der empirischen Sozialforschung. Die Rechtssoziologen ergingen sich „lieber in Theoriekonstruktion, als dass sie … mühsame empirische Forschung“ trieben. Dagegen betont Wrase im Bericht des Berliner Arbeitskreises Rechtswirklichkeit der HU Berlin „Rechtssoziologie und Law and Society – die deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch“, 2008, 4.1. – 4.3., dass die Rechtssoziologie, nachdem sie längere Zeit als theoriefreie Rechtstatsachenforschung zu einer Hilfswissenschaft der Jurisprudenz herabgestuft und als Bindestrich-Soziologie (miss-)verstanden worden sei, heute wieder ob ihres (gesellschafts-)kritischen Denkens gefragt sei. 109 Vgl. Rehbinder, Erkenntnistheoretisches zum Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, 1977; ders., Abhandlungen zur Rechtssoziologie, 1995. 110 A. F. Rusch, Methoden und Ziele der Rechtsvergleichung, in Jusletter vom 13. 02. 06, Rn. 2.

§ 2 Zivilprozessrecht und Sozialwissenschaften

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Informationen, dient „der Selbsteinschätzung und verhindert gedanklichen Stillstand wie trügerische Selbstzufriedenheit“111. Betrieben wird sie als sog. funktionale Rechtsvergleichung, d. h. „problembezogen-funktional“ und nicht „normbezogendeskriptiv“ wie die Auslandsrechtskunde und das IPR112. Verglichen wird nicht der pure Gesetzestext, sondern das gelebte, also angewandte Recht des anderen Staates, wobei stets bewertend vorgegangen wird113. Davon, welche Bedeutung gerade der Prozessrechtsvergleichung weltweit beigemessen wird, zeugt vor allem der seit 1950 regelmäßig stattfindende Internationale Kongress für Prozessrecht. Lange Zeit war die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Zivilverfahrensrechts auf Fragen der internationalen Zuständigkeit, der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile sowie der internationalen Zustellung und Beweisaufnahmen beschränkt. Heute dagegen, so von Bogdandy, werde sie „zum Beruf der Zeit“114. Als wesentlicher Gegenstand eines Systemvergleichs kommt nunmehr auch das zivilprozessuale Rechtsmittelsystem als solches in Betracht115. So sah sich auch der deutsche Gesetzgeber in der Regierungsbegründung zur ZPO-Reform 2002 veranlasst, die Neuregelung des Rechts der Berufung mit einer „rechtsvergleichenden Betrachtung“ zu rechtfertigen (BT-Drs. 14/ 4722). Das Reformvorhaben schließe sich der europäischen Reformbewegung in ihrer „Abkehr von einer vollumfänglichen zweiten Tatsacheninstanz“ an und verfolge damit eine „Angleichung an die Prozessrechtssysteme europäischer Nachbarländer“. Vorbild für diese Neuregelung war vor allem das österreichische Novenverbot (§ 482 ÖZPO), das jedoch nicht in voller Schärfe übernommen wurde (§§ 529, 531 ZPO). Rechtsvergleichung bedeutet allerdings nicht unkritische Übernahme von Regeln und Prinzipien anderer Rechtsordnungen. Vielmehr ist vor einer Rezeption nicht nur festzustellen, ob die Sachlage vergleichbar, sondern auch, ob die konkrete Regelung übertragbar, d. h. mit der eigenen Werteordnung rechtssystematisch und rechtskulturell verträglich ist. Vor allem kommt sie nur dort in Betracht, wo das positive Recht nach dem Wertungsplan des Gesetzgebers eine Gesetzeslücke als ungeplante Unvollständigkeit aufweist116. Bei bewusst geplanten Lücken besteht dagegen grundsätzlich kein Anlass zur Fortbildung des Rechts im Wege der Rechtsvergleichung.

111 112 113

370. 114

P. Gottwald, Zum Stand der Zivilprozessrechtsvergleichung, FS P. Schlosser, 2005, 227. Max Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 2. Aufl. 1987, S. 28. Tschentscher, Rechtsvergleichung und empirische Forschung, ZVglRWiss 2010, 362,

A. v. Bogdandy, Deutsche Rechtswissenschaft im europäischen Raum, JZ 2011, 1, 4 f. Gottwald (Fn. 113), S. 240. 116 Betont wurde die insoweit gebotene Zurückhaltung ausdrücklich in den Leitlinien für die Ausarbeitung des Entwurfs zur bundeseinheitlichen ZPO der Schweiz. 115

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

3. Ziele und Instrumente der Rechtsvergleichung in der Schweiz Die Rechtsvergleichung in der Schweiz hat eine langjährige Tradition und gewinnt als Hilfsmittel der Rechtsfindung sowohl in der Rechtssetzung als auch in der Rechtsanwendung weiter an Bedeutung. Zentraler internationaler Bezugspunkt ist die Europäische Union, obwohl die Schweiz nicht deren Mitglied ist, was zu landesspezifischen Besonderheiten führt. Der am 01. 01. 11 in Kraft getretenen bundeseinheitlichen schweizerischen ZPO war der Gesetzesentwurf einer vom Bundesrat eingesetzten Expertenkommission vorausgegangen, die in einem „Begleitbericht“ acht Leitlinien für die Ausarbeitung des Entwurfs festgelegt hatte117, in dem es galt, 26 kantonale Zivilprozessordnungen zu vereinheitlichen. Die Nr. 4 dieser Leitlinien lautete folgendermaßen: „Die künftige ZPO soll eine Fortführung der schweizerischen Rechtstradition sein, mithin die anerkannten Grundsätze und Prinzipien fortführen, wie sie in den kantonalen Zivilprozessordnungen zum Ausdruck kommen. In ausländischen Rechtsordnungen entwickelte Innovationen können nur dann in Betracht gezogen werden, wenn eine Implementierung in die schweizerische Rechtsordnung möglich und als wirkliche Verbesserung angezeigt ist. Zur schweizerischen Rechtstradition gehört namentlich auch der Mut zur Lücke (Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB).“

Ganz bewusst wurde hierbei die echte Gesetzeslücke (als planwidrige Unvollständigkeit) unter ausdrücklichem Hinweis auf Art. 1 II und III ZGB, wonach sich das „Gericht als Gesetzgeber“ betätigen darf bzw. muss, als „das zentrale Einfallstor für die Rechtsvergleichung im Bereich der Rechtsanwendung“ bezeichnet118. In der Tat eignet sich gerade die Rechtsvergleichung als Instrument der Lückenfüllung, indem sich Forderungen de lege ferenda mit Entwicklungen in ausländischen Rechtsordnungen begründen lassen. Maßgeblich für die Rechtsanwendung in der Schweiz ist außerdem die europa- und völkerrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts und für die Rechtssetzung die Prüfung von dessen Kompatibilität mit dem EU-Recht. Primäre Zielsetzung der Schweiz ist jedoch nicht die Harmonisierung mit dem EU-Recht, sondern die Beibehaltung der Eigenständigkeit und Transparenz ihres Rechts. Weder will sie einen Alleingang noch die Mitgliedschaft in der EU, vielmehr strebt sie einen Mittelweg an119. Diesen glaubt sie im autonomen Nachvollzug von EU-Recht erkannt zu haben, was allerdings eklektische Übernahmen nicht ausschließt. Daher soll auch durch die formalisierte EU-Kompatibilitätsprüfung nur in erster Linie sichergestellt werden, „dass Abweichungen vom EU-Recht nur noch 117 Dazu Thomas Sutter-Somm, Werdegang und Charakteristika der neuen Schweizerischen Zivilprozessordnung, FS Leipold, 2009, 753 – 767; ders., Die neue Schweizerische Zivilprozessordnung – ein Zukunftsmodell?, ZZP 2017, 61 – 89 (mit Diskussionsbericht). 118 Peter V. Kunz, Instrumente der Rechtsvergleichung in der Schweiz bei der Rechtssetzung und bei der Rechtsanwendung, ZVglRWiss 108 (2009), 31, 69. 119 Kunz (Fn. 120), S. 44 und 49; dazu auch Daniel Thürer, Europa und die Schweiz: Status quo und Potentiale einer Partnerschaft, SJZ 108 (2012), 477, 480.

§ 3 Richtigkeitsgewähr und Fehlentscheidung

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bewusst, in voller Kenntnis der Auswirkungen auf das Außenverhältnis der Schweiz erfolgen“. Dennoch meint Kunz zurecht, dass sich die Schweiz „noch vermehrt vom ausländischen Recht inspirieren lassen“ sollte120. Wie zu zeigen sein wird, käme insoweit als bedenkenswert die Regelung des Art. 328 I lit. a schwZPO in Betracht.

§ 3 Richtigkeitsgewähr und Fehlentscheidung Die Garantie wirkungsvollen (effektiven) Rechtsschutzes verlangt ein auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtetes Verfahren mit vollen Mitwirkungs- und Kontrollrechten des Einzelnen. Dies hat das BVerfG bereits grundsätzlich in seinen Entscheidungen 91, 181 und 93, 107 festgestellt und nochmals im Plenarbeschluss vom 30. 04. 03, BVerfGE 107, 395, besonders betont. Allerdings verlangt das BVerfG vom Rechtsanwender nicht, mithilfe der Auslegungsmethoden ein (absolut) richtiges Ergebnis zu finden, wohl aber ein begründbares Ergebnis121. „Richtigkeit“ bedeutet nach Habermas „rationale, durch gute Gründe gestützte Akzeptabilität“. In erster Linie heißt dies methodisch sachgerechte Anwendung von Gesetz und Recht auf den konkreten Fall. Darin erschöpfen sich die richterlichen Pflichten jedoch noch keineswegs122. Auch steht dem nicht die richterliche Unabhängigkeit entgegen, deren Bedeutung sich aus dem Wortlaut des Art. 97 I GG ergibt123. Vielmehr soll diese im Gegenteil die Richtigkeit der Entscheidung gerade sicherstellen (dazu § 14 I. 3. a. E.). Zweifelsohne ist es Aufgabe der Rechtsprechung, in ihren Entscheidungen Wertvorstellungen, die der verfassungsgemäßen Rechtsordnung immanent sind, auch dann zu realisieren, wenn sie im Gesetzestext nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangten. In diesen Fällen muss jedoch die Entscheidung auf rationaler Argumentation beruhen. Vor allem darf sich der Richter bei der Rechtsfortbildung nur in dem zur Rechtsverwirklichung im konkreten Fall unerlässlichen Maß vom 120 Kunz (Fn. 118), S. 80. In einer Untersuchung über die Ausstrahlung des deutschen Zivilprozessrechts auf andere Rechtsordnungen aus dem Jahre 1992 stellte Stürner (Fn. 64), S. 22 ff., mit Hinw. auf Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozeßrecht der Schweiz, Bd. II/1, 1931, fest, dass der deutsche Einfluss auf das schweizerische Zivilprozessrecht seit 1879 „gering veranschlagt“ werden müsse, was allerdings nicht für die Zivilprozessrechtswissenschaft gelte. Diese sei in den Schweizer Lehrbüchern zum Erkenntnisverfahren voll rezipiert worden (im Literaturverzeichnis der „Einführung in die schweizerische Zivilprozessordnung“ von Berti findet sich allerdings außer auf Luhmann kein Hinweis auf deutsches Schrifttum). 121 BVerfG NJW 1990, 2457, 2458. 122 Dazu Klaus Rennert, Legitimation und Legitimität des Richters, JZ 2015, 529, 531; Georg Freund, Richtiges Entscheiden – am Beispiel der Verhaltensbewertung aus der Perspektive des Betroffenen, insbesondere im Strafrecht, RphZ 1990, 388 – 410. 123 Nach EuGH, Urteil vom 05. 11. 19, JuS 2020, 182, gehört „das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, … zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren …“. Siehe auch Althammer/Weller (Hrsg.), Europäische Mindeststandards für Spruchkörper – Unabhängigkeit, Effizienz und Spezialisierung als Kernanforderungen, ZZP 2019, 395.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

geschriebenen Gesetz entfernen124. Nur dann kann das Ergebnis der schöpferischen Fortbildung des Rechts in Ergänzung des geschriebenen Gesetzes als „Recht“ im Sinne des Art. 20 III GG Anerkennung finden125.

I. Rechtskraftdurchbrechung nach der älteren BGH-Rechtsprechung Kam es vor der ZPO-Reform 2002 zu sachlich unrichtigen Entscheidungen in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren, hielt dafür der BGH grundsätzlich die einfache Erklärung bereit, dass es außer in den gesetzlich geregelten Fällen der §§ 36 I Nrn. 5 und 6, 233 ff., 323, 324, 578 ff., 641 i ZPO die Rechtskraft verbiete, die Frage nach der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Entscheidung erneut aufzuwerfen. Rechtsfriede und Rechtssicherheit seien so hohe Rechtsgüter, „dass um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden“ müsse (BGHZ 89, 121)126. Die Möglichkeit, dass infolge der Rechtskraft eine unrichtige Entscheidung maßgeblich bleibt, sei geringer zu veranschlagen als die Rechtsunsicherheit, die ohne die Rechtskraft bestehen würde (BAG NJW 94, 475). Lediglich in den Fällen, in denen der Richterspruch auf einer Gesetzesauslegung beruhte, die „mit der Rechtsordnung schlechthin unvereinbar“ war oder eine Gesetzesanwendung zur Folge hatte, „die durch das Gesetz ersichtlich ausgeschlossen werden sollte“, löste der BGH das Spannungsverhältnis zwischen den beiden angeblich gleichwertigen, wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaatsprinzips, Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit, indem er auf den konkreten Einzelfall praeter legem entwickelte Leitsätze anwandte, mit denen er – etwa in entsprechender Anwendung des § 826 BGB127 – die Durchbrechung der Rechtskraft in extremen Ausnahmefällen rechtfertigte, um nicht das Richtigkeitspostulat völlig aufgeben zu müssen und damit den Prozesszweck gänzlich zu verfehlen. Der bekannteste in diesem Zusammenhang von ihm im Jahr 1987 in Anlehnung an einen früheren Grundsatz des RG aufgestellte und bis zur ZPO-Reform 2002 angewandte Leitsatz lautete: „Die Rechtskraft muss zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, dass der Titelgläubiger seine formelle Rechtsstellung unter Missachtung der materiellen Rechtslage zu Lasten des Schuldners ausnutzt“128. 124

BVerfGE 34, 269, 287 und 292 (Soraya). Chr. Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im Zivilrecht, 2007, S. 59 f. 126 Vgl. Zöller-Vollkommer (Fn. 7), vor § 322 Rn. 71 f.; Schumann (Fn. 2), S. 289, 303 f. 127 Die Klage nach § 826 BGB wegen Erschleichung eines Titels bzw. arglistiger Ausnutzung eines formell zu Recht erlangten Titels stellt das Ergebnis einer Rechtsfortbildung des Wiederaufnahmerechts praeter legem dar und ist folgerichtig als weiterer außerordentlicher Rechtsbehelf mit in dieses Recht einzubeziehen, dazu ausführlich MüKo (Fn. 3), vor § 578 Rn. 10 f.; siehe zu den Anforderungen an die Rechtskraftdurchbrechung wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung BAG NZA 2020, 817, mit Bespr. Boemke, in: JuS 20, 1213. 128 BGHZ 101, 383; BGH NJW 2005, 2994; Zöller-Vollkommer (Fn. 7), vor § 322 Rn. 72. 125

§ 3 Richtigkeitsgewähr und Fehlentscheidung

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Seltsamerweise bezog sich der BGH in denjenigen Entscheidungen, in denen er trotz deren sachlicher Unrichtigkeit die Notwendigkeit der Durchbrechung der materiellen Rechtskraft verneinte, ausschließlich auf die eigentlich nur sekundären Prozesszwecke des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit, ohne dabei den vorrangigen Zweck des Individualschutzes und der Richtigkeitsgewähr auch nur in Betracht zu ziehen, womit er faktisch die allgemein geltende Rangordnung jener Zwecke relativierte. d. h., er änderte einfach je nach dem, auf welches Ergebnis er sich zuvor festgelegt hatte und welches es nun zu begründen galt, die Rangordnung unter den einzelnen Prozesszwecken und stellte entweder im Falle der Ablehnung der Durchbrechung auf den Rechtsfrieden und die Rechtssicherheit ab oder im Ausnahmefall der Anerkennung des Begehrens nach Durchbrechung der Rechtskraft auf die Grundsätze der Wahrheit und Gerechtigkeit. Die tatsächlichen Gründe für die unterschiedliche Auswahl unter jenen Prozesszwecken blieben dabei zwangsläufig im Verborgenen. Was nach außen hin dokumentiert wurde, waren reine Scheinbegründungen, die noch dazu auf einer petitio principii beruhten.

II. Das Richtigkeitspostulat im rechtswissenschaftlichen Schrifttum Das Gebot effektiven Rechtsschutzes gewährleistet den Parteien einen substanziellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle und bestimmt damit die Qualität des Rechtsschutzsystems129, die allein die Rechtskraft auch der sachlich unrichtigen Urteile zu rechtfertigen vermag. Dadurch verbindet sich „die Forderung nach Effektivität des Rechtsschutzes mit der Forderung nach einer funktionsfähigen Rechtspflege“130. Oberstes Ziel ist die Verwirklichung materiell richtigen Rechts durch rechtsfehlerfreie Entscheidungen. Dieses Ziel verlangt nach einem Kontrollsystem, das richterliche Fehlleistungen vermeidet und damit der Verwirklichung eines qualitativen Rechtsschutzes dient131. Als effektiv kann daher nur ein Verfahren gelten, das auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtet ist. Unter den Rechtswissenschaftlern, die sich mit dem Richtigkeitspostulat auseinandergesetzt haben, seien Folgende genannt: 1. Die „relative Rechtmäßigkeitsgewähr“ nach Peter Gilles Nach Gilles ist angesichts der Tatsache, „dass eine als absoluter Wert verstandene Gerechtigkeit ohnehin unerreichbar, weil schon undefinierbar“ ist, „das Ziel des Prozesses deshalb auf eine relative, … menschenmögliche Gerechtigkeit herunterzuschrauben“, die es „in permanenter Reflexion, Diskussion und Konsensbildung 129

Michael/Morlok, Grundrechte, 7. Aufl. 2020, Rn. 874 f. und 890 f.; BVerfGE 84, 34, 53. So Ule, Effektiver Rechtsschutz, DVBl 82, 821, 822. 131 Krugmann, Die Rechtsweggarantie des GG – zum Gebot qualitativen Rechtsschutzes, ZRP 2001, 306. 130

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

ständig zu präzisieren“ gilt132. Das im Prozess nur annäherungsweise erreichbare „relative“ Recht sei „nicht als eine fehlerhafte Übergangslösung zu einem unerreichbaren Ziel, sondern als ,eigenständiger, kultivierungsbedürftiger Wert‘ mit Legitimationsfunktion zu begreifen“. Diese „relative Rechtmäßigkeitsgewähr“ erlaube es, „grundsätzlich sämtliche in einem solchen Verfahren ergehenden Entscheidungen unter Inkaufnahme ihrer zwar möglichen, aber doch nicht wahrscheinlichen Rechtswidrigkeit mit ihrem Erlass für materiell rechtskräftig oder jedenfalls der materiellen Rechtskraft für fähig zu erklären“. Die Wirksamkeit auch der möglicherweise rechtswidrigen Entscheidungen könne jedoch nur dort legitimiert werden, „wo die Rechtsprechungseinrichtungen rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen“. Nur aufgrund dieser ihrer Qualität sei es erlaubt, „zunächst einmal die inhaltliche Richtigkeit der dort ergehenden Entscheidungen zu vermuten“, d. h. solange diese Richtigkeitsvermutung „nicht in einem der zur Verfügung stehenden Kontroll-, Rechtsmittel- oder Anfechtungsverfahren widerlegt wird“. Im Gegensatz zur Ansicht Luhmanns erfahre „die autoritative Verbindlichkeit, der gerichtliche Zwang, seine Legitimation … nicht durch ein rein faktisches Verfahren …, sondern aus eben dieser Rechtmäßigkeitsvermutung aufgrund der Qualität rechtsstaatlicher Rechtsprechungseinrichtungen“. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass die Problematik der legitimen Gültigkeit der sachlich unrichtigen Entscheidung letzten Endes gleichbedeutend ist mit der Frage nach der Qualität und Rechtsstaatlichkeit des bestehenden Rechtsmittelsystems. 2. Die Rechtskrafttheorie nach Ulfrid Neumann Mit dem Richtigkeitspostulat der neueren Prozessrechtslehre ist keineswegs gemeint, dass stets nur eine einzige Entscheidung richtig sein kann, während alle anderen als fehlerhaft zu gelten haben. Die Theorie Dworkins, die von dieser Annahme ausgeht, wird allgemein abgelehnt133, da sie voraussetzt, „dass sich all die kontroversen Präjudizien und Rechtsprinzipien einer Gesellschaft zu einem ausgewogenen Ganzen fügen, dass also nicht nur alle relevanten Argumente feststehen, sondern auch ihr genauer Stellenwert vorgeschrieben ist“ und dies wiederum eine Gesellschaft voraussetzt, „in der eine unterschiedliche Gewichtung von Rechtsprinzipien nicht möglich ist“134. Mit Neumann sollte man sie jedoch als „regulative 132

Gilles (Fn. 52), S. 197 f., 199 f., 201. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984 (Engl. Orig.: Taking Rights Seriously, 1977); dazu Tobias Herbst, Die These der einzig richtigen Entscheidung, JZ 2012, 891. Zu Robert Alexys Theorie der jur. Argumentation siehe Philipp Siedenburg, Die kommunikative Kraft der richterlichen Begründung – Zur Argumentationsfigur der einzig richtigen Entscheidung, 2019. 134 Neumann (Fn. 5), Wahrheit im Recht, 2004, S. 38 f.; ders., Richtigkeitsanspruch und Überprüfbarkeit richterlicher Entscheidungen, in: FS Hassemer, 2010, 143, 147 ff. Anlass der Erörterung war die Praxis der Revisionsgerichte in Strafsachen, die Entscheidungen der Instanzgerichte nur nach den Kategorien richtig oder falsch zu beurteilen und nicht auch nach der 133

§ 3 Richtigkeitsgewähr und Fehlentscheidung

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Idee“ aufrechterhalten, nämlich insofern, als der Richter in seiner Entscheidungspraxis so zu verfahren hat, „als ob in jedem Fall nur eine Entscheidung richtig wäre“135. Dieser soll also durchaus nach der einzig richtigen Entscheidung suchen, statt einfach nur zwischen mehreren Lösungsmöglichkeiten zu würfeln, falls solche gegeben und auch vertretbar sein sollten. Denn die rechtstheoretische Einsicht, dass in zahlreichen Fällen unterschiedliche Entscheidungen mit guten Gründen vertreten werden können, tauge nicht als Maxime richterlichen Handelns. Das Urteil muss nicht das einzig richtige sein, der Richter sollte es aber auch dann, wenn es eine andere ebenso vertretbare Lösung geben sollte, in der Begründung als das – unter den gegebenen Umständen – einzig richtige ausweisen, also darlegen, dass und warum gerade dieses Urteil aus seiner Sicht das allein richtige ist, da er sonst seine Aufgabe verfehlt. Aus der internen Perspektive des Richters könne es nur eine richtige Entscheidung geben136; aus der externen des Rechtsphilosophen handelt es sich um eine kontrafaktische Unterstellung. Lediglich was dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit für die von ihm gefällte Entscheidung anbelangt, wenn es also zu beurteilen gilt, ob er bei einer Fehlentscheidung die Tatbestandsvoraussetzungen der Rechtsbeugung erfüllt hat, muss „der Einsicht in die faktische Vertretbarkeit unterschiedlicher Entscheidungen Rechnung getragen werden“137. Bei der Frage nach der Legitimation der sachlich unrichtigen Entscheidungen gilt es zu bedenken, dass nach den Rechtskrafttheorien die materielle Rechtskraft zu einer geradezu „gewaltsamen Lösung des Problems“ insofern führt, als die „Richtigkeit“ auch der fehlerhaften Entscheidungen zwangsläufig fingiert werden muss, damit auch diese in Rechtskraft erwachsen und damit Verbindlichkeit erlangen können. Hier folgt nicht das Urteil dem materiellen Recht, also der Wahrheit, sondern umgekehrt das materielle Recht dem Urteil, nämlich der Autorität des Richters. Diese Fiktion beseitigt jedoch nicht den tatsächlich bestehenden Widerspruch zwischen dem Fehlurteil und der materiellen Rechtslage. Denn das Fehlurteil bleibt als solches bestehen trotz Eintritt der Rechtskraft. Um auch dieses zu legitimieren, sind daher Wahrheit und Verbindlichkeit der Entscheidung zu „entkoppeln“ mit der Folge, dass die Verbindlichkeit nicht (mehr) auf das materielle Recht gestützt werden muss, sondern auf die institutionelle Entscheidungskompetenz des Richters und die

Kategorie der Vertretbarkeit, sowie die Entscheidung des BVerfG NJW 2001, 1121, in der es um die Auslegung des Begriffs „Gefahr im Verzug“ in Art. 13 II GG und § 105 I 1 StPO ging. Indem das Gericht „eine vollständige gerichtliche Überprüfbarkeit der von der Staatsanwaltschaft angeordneten Grundrechtsbegriffe auch in Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe“ vertrat und zugleich „die Reichweite der gerichtlichen Überprüfbarkeit an die Reichweite der materiell-rechtlichen Bindung der Entscheidung“ knüpfte, habe es dieser Entscheidung „rechtstheoretisch das Modell der einzig richtigen Entscheidung“ zugrunde gelegt. Angestrebt worden sei damit eine höhere Kontrolldichte. 135 Neumann (Fn. 5 und 136), S. 40 (Wahrheit im Recht) und S. 150 (Richtigkeitsanspruch). 136 Neumann, Theorie der jur. Argumentation, Kaufmann/Hassemer/Neumann (Fn. 9), S. 342. 137 Neumann (Fn. 5), S. 56. Das gebietet auch die folgenorientierte Auslegung.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

Korrektheit des Verfahrens138. Eine vollständige Ablösung der Entscheidung von ihrem Richtigkeitsanspruch kommt jedoch nicht in Betracht. Denn nachdem sich die sachliche Richtigkeit des Urteils mit den begrenzten Mitteln der menschlichen Erkenntnis in der verfügbaren Zeit nicht in jedem Falle gewährleisten lässt, muss diesem in den Extremfällen sachlicher Unrichtigkeit die Verbindlichkeit versagt werden. 3. Die Wiederaufnahmetheorie nach Johann Braun Braun unterscheidet zwischen Verfahrensfehlern, bei denen gegen Normen verstoßen wurde, die sich auf das procedere beziehen, und Ergebnisfehlern, bei denen der maßgebliche Sachverhalt einer nochmaligen Überprüfung unterzogen werden müsste, und geht von der Prämisse aus, dass die Rechtskraft eines Urteils nicht schon dann durchbrochen werden kann, wenn sich nachträglich dessen sachliche Unrichtigkeit herausgestellt hat139. Denn auch der Rechtskraft sei ein eigener Wert zuzuerkennen, nicht nur dem materiellen Recht. Diese habe nämlich die Aufgabe, „das Vertrauen der obsiegenden Partei auf den Bestand des Urteils zu schützen“. Gerechtfertigt sei eine Korrektur eines rechtskräftigen Urteils daher „nur dann, wenn es dafür besondere Gründe gibt, die das Vertrauen der obsiegenden Partei auf den Bestand des Urteils überwiegen“. Die Wiederaufnahmeklage könne nur insoweit als sinnvolle Regelung verstanden werden, als die Wiederaufnahmegründe mit dem Prinzip grundsätzlicher Unanfechtbarkeit eines rechtskräftigen Urteils vereinbar seien. Das verkenne Gaul, dessen „Theorie der Beweissicherheit“140 solche Gründe nicht anzubieten vermöge. Was dieser als Restitutionsgründe bezeichne, seien vielmehr die zum Nachweis der eigentlichen Gründe bestimmten Beweismittel. Für eine Korrektur kämen nur solche Urteilsmängel in Betracht, die mit der Bedeutung der Rechtskraft in Einklang zu bringen seien. Nachdem ein Verfahrensfehler durch die Analyse des dem Urteil vorangegangenen Verfahrens ermittelt werde, was keine Überprüfung des Urteils im Ergebnis erforderlich mache, lasse sich die Korrektur von Verfahrensfehlern mit der Rechtskraft insofern vereinbaren, als diese Mängel ohne Verstoß gegen die materielle Rechtskraft festgestellt werden könnten. Bei Ergebnisfehlern könne der Mangel dagegen nur im Wege einer nochmaligen sachlichen Überprüfung des Urteils ermittelt werden. Diese Prüfung vornehmen zu können, setze aber bereits eine Durchbrechung der Rechtskraft voraus. Die „Verfahrensfehlerrestitution“ gemäß § 580 Nr. 1 – 5 ZPO sei daher unbedenklich. Soweit es sich im Falle der §§ 580 Nr. 7b, 641 i ZPO um eine Korrektur von Ergebnisfehlern handele, könne diese ausnahmsweise deswegen als vertretbar gelten, weil sie auf Entscheidungen beschränkt sei, die wie etwa familienrechtliche Urteile mit Dau138

Neumann (Fn. 5), S. 44 ff. MüKo-Braun/Heiß (Fn. 3), § 580 Rn. 2 ff., 8 ff., 23 ff. 140 Gaul, Die Grundlagen des Wiederaufnahmerechts und die Ausdehnung der Wiederaufnahmegründe. Zugleich ein Beitrag zum Problem der Analogie beim enumerativen Ausnahmesatz, 1956, S. 45, 52 f. 139

§ 3 Richtigkeitsgewähr und Fehlentscheidung

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erfolgen nur mit einer „Rechtskraft von geringerer Intensität“ ausgestattet seien. Zu den Folgen dieser Theorie für die Verfahrensfehlerrestitution siehe unter § 13 II.

III. Greifbare Gesetzwidrigkeiten und Rechtsbeugung als Anfechtungsgründe 1. Greifbare Gesetzwidrigkeit als richterlicher Kunstfehler Zur Feststellung greifbar gesetzwidriger Endentscheidungen hatte der BGH bis zur ZPO-Reform 2002 verschiedene Formeln entwickelt, mit deren zunehmender Anwendung sich die „greifbare Gesetzwidrigkeit“ im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung zu einem allgemeinen Anfechtungstatbestand verselbständigte141. Schwarze hat diese Formeln in zwei Klassen eingeteilt, nämlich in die engere Gesetzesfremdheitsformel und die weitere Evidenzformel, und dabei hervorgehoben, dass die durch sie bewirkte faktische Ausdehnung des Rechtsmittelsystems in keiner Weise dogmatisch legitimiert sei142. Zu beachten sei vielmehr nach wie vor den Vorrang der Rechtskraft. Die Offensichtlichkeit („Greifbarkeit“) der Gesetzwidrigkeit einer gerichtlichen Entscheidungsbegründung, die nicht mit Grundgesetzwidrigkeit gleichzusetzen sei, dürfe nicht die allgemeine Unanfechtbarkeit außer Kraft setzen, zumal es die gesetzlichen Ausnahmetatbestände der §§ 579, 580 ZPO gäbe. Mangels dogmatischer Absicherung sei die außerordentliche Anfechtbarkeit wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit nur durch den Gesetzgeber zu legitimieren143. Allerdings unterscheidet Schwarze hierbei zutreffend zwischen der außerordentlichen Anfechtbarkeit schlichter Rechtsanwendungsfehler einerseits und der Anfechtbarkeit der Verletzung von Verfahrensgrundrechten andererseits, die er grundsätzlich befürwortet, ohne dies allerdings näher auszuführen. Statt weiter mit jenen unbestimmten Formeln zu arbeiten, sollte daher zumindest für die ganz eklatanten Fälle greifbarer Gesetzwidrigkeit, in denen sogar der Verdacht der Rechtsbeugung begründet wäre, vorrangig nach einer Lösung über eine Reform der §§ 321a, 581 I ZPO und 339 StGB gesucht werden. Jedenfalls ist in den Fällen, in denen sich die greifbare Gesetzwidrigkeit objektiv tatbestandsmäßig zur Rechts-

141

Siehe Jauernig (Fn. 3), Außerordentliche Rechtsbehelfe, in: FS Schumann, 2001, 241. Schwarze, Außerordentliche Anfechtbarkeit zivilgerichtlicher Entscheidungen wegen offensichtlicher Gesetzwidrigkeit?, ZZP 2002, 25, 33. Die Gesetzesfremdheitsformel lautet: „Die Anfechtung wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit ist auf wirkliche Ausnahmefälle krassen Unrechts beschränkt. Diese Voraussetzung ist dann gegeben, wenn die Entscheidung mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar ist, weil sie jeder rechtlichen Grundlage entbehrt und dem Gesetz inhaltlich fremd ist“ und die Evidenzformel: „Greifbare Gesetzwidrigkeit liegt vor, wenn die Entscheidung auf einer Gesetzesauslegung beruht, die offensichtlich dem Wortlaut und dem Zweck des Gesetzes widerspricht und die eine Gesetzesanwendung zur Folge hat, die durch das Gesetz ersichtlich ausgeschlossen werden sollte“. 143 So allerdings H.-M. Pawlowski, in: FS für Egon Schneider, 1997, S. 39. 142

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

beugung gesteigert hat, die Einräumung angemessenen Rechtsschutzes am dringlichsten geboten. a) Greifbare Gesetzwidrigkeit und objektive Willkür Die Voraussetzungen der „greifbaren Gesetzwidrigkeit“ entsprechen weitgehend denjenigen der „objektiven Willkür“ als einer sachlich nicht zu rechtfertigenden, evident ungerechten Ungleichheit. Keineswegs darf es sich dabei nur um einfachrechtliche Fehler handeln. Um nur im extremen Ausnahmefall anzuerkennende Verstöße gegen den Gleichheitssatz in Form des Willkürverbots davon klar abzugrenzen, stützt sich das BVerfG auf folgenden Leitsatz: „Willkürlich ist ein Richterspruch nur dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht die Entscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird … Von willkürlicher Missachtung kann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandergesetzt hat und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt“144.

Als willkürlich will das BVerfG ein Entscheidungsverhalten daher erst anerkennen, wenn sich dies bereits in die Nähe der Rechtsbeugung rücken lässt, es sei denn, es lag totale Inkompetenz vor. Nach Ansicht von Röhl liefert die Willkürrechtsprechung des BVerfG daher keinen brauchbaren Fehlerbegriff, sondern nur Beispiele eklatanter richterlicher Fehlgriffe145. Insbesondere sei die „greifbare Gesetzwidrigkeit“ als Fehlermaßstab zu grob. Da sich Rechtsfälle aufgrund des den Richtern zustehenden Beurteilungsspielraums nicht wie mathematische Aufgaben lösen ließen, könnten Fehler in Gerichtsurteilen nur anhand der mitgelieferten Begründungen festgestellt werden, auch wenn dies allenfalls eine Fehlertypologie der falschen Argumentationen ermögliche. Auch die Urteile, die trotz fehlerhafter Begründung nicht zu einem falschen Ergebnis führen, weil sie sich mit anderer Begründung halten lassen, sollten zumindest für die Zwecke einer justizinternen Qualitätsbeobachtung als fehlerhaft bezeichnet werden. Was „greifbar gesetzwidrig“ sei, könne nicht abstrakt definiert werden, sondern müsse ebenso wie eine angebliche Rechtsbeugung in jedem Einzelfall konkret festgestellt werden.

144 145

97.

BVerfG NJW 2010, 1870, 1871 Tz. 12; Michael/Morlok (Fn. 131), Rn. 783 – 793. Klaus F. Röhl, Fehler in Gerichtsentscheidungen, Die Verwaltung, Beiheft 5, 2002, 67 –

§ 3 Richtigkeitsgewähr und Fehlentscheidung

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b) Greifbare Gesetzwidrigkeit und Rechtsbeugung Rechtsbeugung ist kein Amtsdelikt, sondern ein echtes Sonderdelikt. Eine objektiv-tatbestandsmäßige Beugung des Rechts wird nach der in der Literatur herrschenden objektiven Rechtsbeugungstheorie dann angenommen, wenn der Richtende das Recht objektiv falsch angewandt hat146. Allerdings muss ein eindeutiger Rechtsverstoß vorgelegen haben, d. h., die Grenze des Vertretbaren muss eindeutig überschritten worden sein147. Sollten auch andere Entscheidungen noch vertretbar sein, sich also noch im Rahmen des rechtlich Zulässigen halten, kann daher in der Wahl für die eine oder andere Lösungsmöglichkeit keine Rechtsbeugungshandlung gesehen werden148. Schon aufgrund der Einstufung der Rechtsbeugung als Verbrechen i. S. des § 12 I StGB mit der Folge des § 45 StGB bedurfte es zwingend einer genauen Grenzziehung zwischen der (noch) nicht strafbaren greifbaren Gesetzwidrigkeit und der Verwirklichung des objektiven Tatbestands des § 339 StGB durch die Strafgerichte. Greifbare Gesetzwidrigkeit und Rechtsbeugung schließen sich keineswegs aus, sondern können durchaus in Tateinheit zusammenfallen. Der Übergang vom einen zum anderen ist zweifelsohne ein fließender. Diese Grenzziehung mit Hilfe des Richterrechts vorzunehmen, war Aufgabe des BGH. Was dieser insoweit unternahm, war jedoch kein Versuch einer praxistauglichen Klärung des unbestimmten Begriffs der Rechtsbeugung, sondern eine bewusste und gewollte Neudefinition dieses Begriffs mit dem Ziel, den Richter durch ständiges Anreichern jenes Straftatbestands mit weiteren, angeblich ungeschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen möglichst vollständig gegen etwaige Angriffe sein Entscheidungsverhalten betreffend abzuschirmen. Nach dessen „Schweretheorie“ alter Fassung erfüllt allein ein „Rechtsbruch als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege“ den Tatbestand des § 339 StGB149. Selbst eine unbestreitbar greifbare Gesetzwidrigkeit wird damit noch keineswegs einer Rechtsbeugung im objektiven Sinne gleichgesetzt. Das Vorliegen einer greifbaren Gesetzwidrigkeit ist danach zwar grundsätzlich notwendige Voraussetzung der Rechtsbeugung, reicht nach Ansicht des BGH aber 146

LK-Hilgendorf, StGB, § 339 Rn. 5, 47 und 51. KG NStZ 1988, 557; BGH NJW 1999, 1122 mit Anm. von Herdegen in NStZ 1999, 456, der dagegen einwendet, dass damit „nur ein undeutlicher Begriff (Rechtsbeugung) durch einen anderen der Präzisierung bedürftigen Begriff (Unvertretbarkeit) ersetzt“ werde. Vertretbar handele nur der Richter, „der für sein relevantes (die Rechtslage beeinflussendes) Tun oder Unterlassen von Rechtswegen diskussionswürdige Gründe ins Feld zu führen vermag“. In den Fällen ergebnisrelevanten Verfälschens oder Übergehens fundierender Tatsachen läge die Unvertretbarkeit auf der Hand (JZ 1998, 54). 148 Bezogen auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Richters, U. Neumann (Fn. 5), S. 56. 149 Siehe Fischer, StGB (Fn. 21), § 339 Rn. 14, 15. Ablehnend Bemann/Seebode/Spendel (Fn. 21), ZRP 1997, 307; Seebode, Rechtsbeugung und Rechtsbruch, JR 1994, 1; Spendel, Rechtsbeugung und Justiz, JZ 1995, 375 und JR 1996, 215; Dallmeyer, GA 2004, 540, 548 ff.; Sowada, GA 1998, 177; a. A. Schroeder-Heine, StGB, 28. Aufl. 2008, § 339 Rn. 5c. 147

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noch nicht aus, um deren objektiven Tatbestand zu erfüllen. Vielmehr muss noch hinzukommen, dass sich der Richter „in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt hat“. Objektiv von Recht und Gesetz entfernt hat sich dieser jedoch schon mit der Verwirklichung einer greifbaren Gesetzwidrigkeit im Sinne der Gesetzesfremdheits- bzw. Evidenzformel des BGH. Die Verwirklichung des objektiven Tatbestands der Rechtsbeugung hängt folglich nur noch davon ab, ob dieses „SichEntfernen“ von Recht und Gesetz im Einzelfall als „schwerwiegend“ zu bewerten ist oder als noch nicht schwerwiegend. Damit erlaubte sich der BGH eine gesetzeskorrigierende Abweichung vom geschriebenen, wenn auch konkretisierungsbedürftigen Recht unter grobem Verstoß gegen die Gesetzesbindung, die nur mit dem „aus dem Korpsgeist der Richterschaft resultierenden Abwehrreflex“150, erklärt werden kann, der gemeinhin auf das „Krähenprinzip“ zurückgeführt wird. Denn für diese Art der Entfernung von der Gesetzesbindung gibt es nun einmal keine „Skala, auf der solche Rechtsverletzungen graduierbar wären“151. Daher stellte Kargl zutreffend fest, dass diese „Auslegung“ des § 339 StGB, durch die ein normatives Element in den Tatbestand der Vorschrift eingefügt wurde, als eine eigene Rechtssetzung des BGH zu werten sei, mit der sich das Gericht selbst vom Gesetz entfernt habe152. Soweit es gelegentlich dennoch Verurteilungen wegen Rechtsbeugung gab, sei dies allein auf die Beliebigkeit zurückzuführen, mit der sich die Justiz gelegentlich aus dem Werkzeugkasten der Auslegungsmethodik bediene. Im Wege der Auslegung dürfe schließlich das Gericht nicht das gesetzgeberische Ziel der Norm verfälschen und an die Stelle der Gesetzesvorschrift inhaltlich eine andere setzen153. Das Schwerwiegende des Sichentfernens hat sich damit als Qualifikationsmerkmal zur Abgrenzung gegenüber der nicht strafbaren greifbaren Gesetzwidrigkeit als unbrauchbar erwiesen mit der Folge, dass das Problem der Abgrenzung noch ungelöst ist. Die richterliche Entscheidungsfindung wird nach Hans-Heiner Kühne von Art. 20 III, 97 I GG dann nicht mehr gedeckt, wenn sich diese schon im Vorfeld der Argumentation im rein unbegründeten Behaupten erschöpft und damit von vornherein die Grundlagen der Gesetzesanwendung als allgemein-sprachliche Textinterpretation verfehlt154. Der Schutz der richterlichen Unabhängigkeit gelte also dann nicht mehr, wenn der Boden richterlichen Argumentierens wegen grundsätzlicher Argumentationsfehler noch nicht einmal betreten wurde. Es handele sich hierbei nicht um Mängel der Rechtsauslegung, sondern um Fehler vor der eigentlichen Rechtsanwendung, die ebenso ursächlich für die Verletzung von Gesetzen sein können, 150

F. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 158. K. Volk, Rechtsbeugung durch Verfahrensverstoß, NStZ 1997, 412, 413. 152 W. Kargl, Gesetzesrecht oder Richterrecht? – Eine Existenzfrage für den Tatbestand der Rechtsbeugung, in: FS Hassemer, 2010, S. 849, 861 ff. und 870 ff. 153 BVerfGE 78, 20, 24. 154 Hans-Heiner Kühne, Grenzen richterlicher Unabhängigkeit im Strafverfahren, GA 2013, 39, 46. 151

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weshalb dieses Überschreiten der richterlichen Unabhängigkeit auch strafrechtlich zu überprüfen sei. 2. Außerordentliche Anfechtbarkeit letztinstanzlicher Entscheidungen wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit Eine außerordentliche Anfechtbarkeit rechtskräftiger Entscheidungen wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit sieht die deutsche ZPO generell nicht vor. Dazu gilt der Begriff der greifbaren Gesetzwidrigkeit auch als viel zu diffus. Die Zulassung außerordentlicher Rechtsbehelfe gegen nicht rechtsmittelfähige Entscheidungen berührt nach herkömmlicher Prozessrechtslehre das Spannungsverhältnis zwischen den grundsätzlich gleichwertigen wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaatsprinzips Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit. Der Gesetzgeber hat dieses Spannungsverhältnis hinsichtlich der Bindungswirkung von Urteilen in § 318 ZPO grundsätzlich zugunsten der Rechtssicherheit gelöst. Aus diesem Prinzip folgt daher zunächst die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen. Nur wenn dieser Grundsatz mit dem Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall in Widerspruch tritt, ist es nach der Rechtsprechung des BVerfG Sache des Gesetzgebers, das Gewicht, das diesen Grundsätzen im jeweils zu regelnden Fall zukommt, abzuwägen und zu entscheiden, welchem Prinzip der Vorzug zu geben ist155. Räume dieser dabei der Rechtssicherheit den Vorrang ein, handle er nicht willkürlich. Die im Gesetz vorgesehenen Ausnahmeregelungen der §§ 323, 324, 578 ff. und 641 i ZPO seien exklusiv. In Abweichung von diesem Grundsatz wurde zwar durch die ZPO-Reform 2002 die Anhörungsrüge in die ZPO eingeführt, die damit als Sonderrechtsbehelf neben den Rechtsbehelf aus § 826 BGB trat. Dem dringenden Bedürfnis des Rechtsverkehrs hätte jedoch weit mehr ein Rechtsbehelf entsprochen, der die Prozessparteien in die Lage versetzt hätte, die Verletzung eines jeden anerkannten Verfahrensgrundrechts zu rügen. Die lediglich auf die Verletzung der Garantie des rechtlichen Gehörs erweiterte Rechtsschutzgewährleistung dürfte auch kaum der Auffassung von Schwarze gerecht werden. Dieser hatte zwar betont, dass die Anfechtbarkeit rechtskräftiger Entscheidungen wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit durch einen einheitlichen Rechtsbehelf nur durch eine bewusste Wertentscheidung des Gesetzgebers im Wege der Rechtsfortbildung legitimiert werden könne156. Auch sei eine außerordentliche Anfechtbarkeit wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit bei fehlerhafter Anwendung des materiellen Rechts grundsätzlich abzulehnen, da die Willkürkontrolle des BVerfG aufgrund einer Verfassungsbeschwerde praktisch deckungsgleich sei mit der von den Fachgerichten praktizierten Rechtsprechung zur greifbaren Gesetzwidrigkeit. Allerdings käme eine Anfechtbarkeit letztinstanzlicher Urteile bei Verfahrensfehlern in Betracht. Es müsse zwischen klaren Verstößen gegen die Verfahrensgrundrechte und 155 156

BVerfGE 15, 313, 319 = NJW 63, 851; BVerfGE 19, 150, 166; 29, 413, 432. Schwarze (Fn. 147), II 1 – 2.

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bloßen Fehlern bei der Anwendung des materiellen Rechts differenziert werden. Denn erstere würden nach der Gesamtrechtsordnung deutlich schwerer wiegen als letztere. Zu empfehlen sei daher eine gesonderte dogmatische Behandlung der Verfahrensfehler, die in einer grob fehlerhaften Anwendung der verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien bestünden. Schwarze differenziert dabei nicht zwischen den einzelnen Verfahrensgrundrechten wie der Gesetzgeber, der allein das rechtliche Gehör durch die Einführung eines Sonderrechtsbehelfs vor Verletzungen glaubte schützen zu müssen. Vielmehr will er diesen Rechtsfortbildungsansatzes nur insofern begrenzen, als ausschließlich „greifbare“ Verstöße gegen die speziellen Verfassungsgarantien zur außerordentlichen Anfechtbarkeit führen sollen, also lediglich „nicht mehr verständliche, offensichtlich unhaltbare“ Gesetzesanwendungen i. S. der BVerfGE 82, 159, 194.

IV. Zur Bedeutung der Entscheidungsgründe 1. Die Entscheidungsbegründung als Kontrollgegenstand Die Notwendigkeit der Begründung von Gerichtsurteilen wird nach deutschem Verfassungsrecht aus dem Rechtsstaatsprinzip und nach Unionsrecht schon aus dem Grundsatz einer geordneten Rechtspflege abgeleitet157. Anerkannt ist, dass nur der Begründungszwang „Sicherheit gegen subjektives Belieben“ des Richters gibt 158 und die Kontrolle der Entscheidung möglich macht. Es gilt das Offenkundigkeitsprinzip, das letztlich wie der Grundsatz der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens auf die Französische Revolution zurückgeht159. Die Bekanntgabe der Entscheidungsgründe sollte deren rationale Kontrollierbarkeit ermöglichen und den Richterspruch für den bürgerlichen Gemeinverstand kritisierbar machen. Diese erfüllen somit eine Erläuterungs- und Kontrollfunktion, werden zum „Prüfstein“ der richterlichen Entscheidung und führen zu einer Effektuierung des Rechtsschutzes der Prozessparteien. Zusammen mit dem Öffentlichkeitsprinzip ist das Begründungserfordernis daher auch wesentlichstes informelles Kontrollinstrument.

157 EGMR NJW 1999, 2429; wörtlich heißt es dazu im Urteil des EuGH vom 05. 04. 06, T279/02: „Nach ständiger Rechtsprechung muss die Begründung einer Einzelfallentscheidung die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann.“ 158 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 174. 159 Hattenhauer, Zur Theorie und Praxis der Rezeption richterlicher Entscheidungsgründe, in: Hof/Lübbe-Wolff, Wirkungsforschung zum Recht III, 2001; ders., Kritik des Zivilurteils, 1970.

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a) Anforderungen an die Entscheidungsbegründung Die Entscheidungsbegründung muss aber auch ihrerseits inhaltlichen Anforderungen genügen, d. h., sie muss jedenfalls verständlich, vollständig und widerspruchsfrei sein160. Begründen heißt Rechtfertigung einer Rechtsfolge, heißt zu zeigen, dass die Entscheidung aus dem Gesetz abgeleitet ist. Die Prozessparteien haben ein subjektives Recht darauf, dass der Richter seine Entscheidung nicht nur fällt, sondern in der Begründung auch dem demokratisch legitimierten Normtext zuordnet, also seine Argumentation auf den Gesetzestext bezieht161. Die Begründung muss die wesentlichen denkbaren Einwände gegen die Entscheidung ausräumen, da nur dann gewährleistet ist, dass diese Einwände nicht zum Gegenstand eines erneuten Angriffs auf die Entscheidung gemacht werden. Das Ergebnis der Prozesse der Argumentation muss in der Urteilsbegründung nachvollziehbar dargestellt werden. Die Begründung soll zwischen Urteil, Gesetz und Verfahren vermitteln. Damit stellt sich die Frage nach den Gründen der Begründung eines Urteils im Einzelfall162. b) Der Begründungszwang bezogen auf letztinstanzliche Urteile Die Verpflichtung zur Entscheidungsbegründung gilt nicht nur für noch nicht rechtskräftige, also noch mit Rechtsmitteln anfechtbare Urteile, sondern ebenso für Urteile der Gerichte letzter Instanz. Dies hat der EGMR bereits mehrfach entschieden. Er zählt den Begründungszwang zu den zwingenden Bestandteilen der allgemeinen Anforderungen an ein faires Verfahren. Nur so sei erkennbar, dass das Vorbringen auch tatsächlich gehört wurde163. Die Ansicht des BVerfG, wonach ein Begründungszwang für letztinstanzliche Urteile ausnahmsweise nur dann besteht, wenn entweder vom eindeutigen Wortlaut oder von der bisherigen Auslegung einer Rechtsnorm abgewichen wird164, ist daher mit Kischel abzulehnen165. Denn auch die letztinstanzliche Entscheidung bedarf schon deswegen einer angemessenen Begründung, weil sie – obwohl rechtskräftig – noch keineswegs auch unanfechtbar sein muss, gegen sie also u. U. noch außerordentliche Rechtsbehelfe erhoben werden können. Deshalb hat in diesen Fällen die Urteilsbegründung die gleiche Erläuterungs- und Kontrollfunktion zu erfüllen wie bei den noch nicht rechtskräftigen 160 S. Brink, Über die richterliche Entscheidungsbegründung, 1999, S. 33, mit Hinw. auf Rudolf Brinkmann, Über die richterlichen Urteilsgründe, Kiel 1826, S. 56; Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, 1971, S. 86; Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001; Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987. 161 Christensen, Die Paradoxie der Gesetzesbindung, in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, 2005, S. 3, 68 f., 84 f. 162 Dazu T.-M. Seibert, Über Begründungen entscheiden, FS Fr. Müller, 2008, S. 235. 163 Siehe Gundel, Verfahrensrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI 1, Europäische Grundrechte I, 2010, § 146 Rn. 103 f. mit Nachw. in Fn. 391 ff. 164 BVerfG NJW 2011, 1497 unter Hinw. auf BVerfGE 118, 212, 238 = NJW 2007, 2977. 165 U. Kischel, Die Begründung – Zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger, 2003, 5. Kap. D I 2 b, S. 182 – 185.

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Urteilen. Schließlich sollen die Parteien auch in diesem Fall nicht in die Zwangslage versetzt werden, Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen einlegen zu müssen, deren Gründe sie nicht kennen (BGHZ 7, 155). Die Begründungspflicht hat vor allem aber auch Bedeutung für die Selbstkontrolle des Gerichts. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens ist auch bei einer nicht nachvollziehbaren Begründung anzunehmen. Auch das rechtfertigt die Anfechtbarkeit nicht hinreichend begründeter Endurteile in nicht mehr rechtsmittelfähigen Verfahren. Schutzwürdig ist zwar auch das Vertrauen der obsiegenden Partei auf den Fortbestand der Rechtskraft des Urteils. Denn auch insoweit gilt die Garantie eines fairen Verfahrens. Regelungen des nationalen Prozessrechts, nach denen ein rechtskräftiges Urteil jederzeit voraussetzungslos wieder infrage gestellt werden könnte, verstießen daher sowohl gegen jene Garantie als auch gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit166. Fehlt es jedoch völlig an verständlichen Urteilsgründen, ist in diesem Ausnahmefall das Interesse der unterlegenen Partei, die dem Urteil zugrundeliegenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen zu erfahren, höher zu bewerten. Selbstverständlich sollte insoweit eine Anfechtung nur in den absoluten Extremfällen völlig unzulänglicher Entscheidungsbegründungen in Betracht kommen, die einer gänzlich fehlenden Begründung gleichzusetzen sind. Dazu, wann dies anzunehmen ist, hat die Rechtsprechung jedoch schon seit längerem brauchbare Kriterien entwickelt. Solche hat das BVerwG in einem Beschluss vom 05. 06. 98167, wie folgt zusammengetragen: Nicht mit Gründen i. S. des § 313 I Nr. 6 ZPO versehen ist eine Entscheidung nur, wenn sie so mangelhaft begründet ist, dass sie weder ihre Erläuterungs- noch ihre Kontrollfunktion erfüllt. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn dem Tenor der Entscheidung überhaupt keine Gründe beigegeben sind, sondern auch dann, wenn die Begründung völlig unverständlich und verworren ist, so dass sie in Wirklichkeit nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgeblich gewesen sind. Dies gilt auch, wenn die Entscheidungsgründe rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos oder aus sonstigen Gründen derart unbrauchbar sind, dass die angeführten Gründe unter keinem denkbaren Gesichtspunkt geeignet sind, den Urteilstenor zu tragen168. Außerdem wird in den Kommentaren zu § 547 Nr. 6 ZPO seit langem davon ausgegangen, dass nichtssagende Floskeln, inhaltsleere Redensarten und bloße Leerformeln fehlenden Urteilsgründen gleichstehen169. Das gleiche gilt für bloße Scheinbegründungen170. Denn „Scheingründe sind … NichtGründe schlechthin, da sie der bestimmungsgemäßen Funktion von Gründen nicht 166

Gundel (Fn. 168) § 146 Rn. 104 mit Nachw. unter Fn. 394. BVerwG NJW 1998, 3290. 168 Zöller-Vollkommer (Fn. 7), § 313 Rn. 19; Musielak, ZPO, 12. Aufl. 2020, § 547 Rn. 16; Stein/Jonas /Grunsky, ZPO, 21. Aufl., § 313 Rn. 61; Chr. Fischer (Fn. 127), § 12 VI 4 b. 169 BVerfGE 34, 269, 287; BayVerfGH NJW 2005, 3771, 3772; Musielak (Fn. 170), § 321a, Rn. 16. 170 BVerwG, NJW 1998, 3290. 167

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entsprechen“171. Eingeschränkt werden diese Grundsätze allerdings von der Rechtsprechung wiederum insofern, als es nicht genügt, wenn die Gründe lediglich unklar, unvollständig, oberflächlich oder unrichtig sind. Bei der Abgrenzung kommt es daher stets auf die Umstände des Einzelfalls an. Jedenfalls ist, was diese Problematik betrifft, von einer Regelungslücke der ZPO auszugehen, die die Einführung einer Vorschrift rechtfertigt, wonach die Nichtigkeitsklage des § 579 ZPO auch dann zuzulassen ist, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen im Sinne des § 313 I Nr. 6 ZPO versehen wurde, es sei denn, man habe auf solche verzichtet.

2. Rechtsmethodik und Entscheidungsbegründung Der Richter hat bei der Konkretisierung und Fortbildung des Rechts methodengerecht vorzugehen; seine Methodik muss dem Grundgesetz entsprechen172. In der Vorbemerkung zu Essers „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung“ stellt dieser allerdings zu Recht fest, dass die akademische Methodenlehre dem Richter weder Hilfe noch Kontrolle bedeute. In der Tat wird in Gerichtsurteilen nur selten explizit auf die Standards der Methodenlehre Bezug genommen173. Man begnügt sich mit dem Zitieren von Kommentarstellen und der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Aufgabe der Rechtsmethodik ist es jedoch zu verhindern, dass die subjektiven Wertvorstellungen des Richters für die Entscheidung bestimmend werden. Daher gilt sie als Brücke zur Sicherstellung der Bindung des Richters an das Gesetz und damit zur Gewährleistung der Gewaltenteilung im Rechtsstaat. Schon Engisch stellte fest, dass „eine richtige Entscheidung eine methodengerecht begründete Entscheidung“ sei174. Auch wenn diese Brücke nicht wirklich trägt, zwingt sie doch den Richter zu einem systematischen Vorgehen bei der Entscheidungsfindung und zur Offenlegung der unvermeidlichen Wertungen, mag er auch niemals frei sein von Präferenzen und subjektivem Vorverständnis175. Angesichts der Tatsache, dass der gerichtliche Alltag laufend unterschiedliche Herangehensweisen der Richter an die ihrerseits zu entscheidenden Fälle offenbart, ausgehend von der streng methodisch bestimmten Gesetzesanwendung über die Ableitung der Entscheidung aus Präjudizien oder unbewusst in Anlehnung an die topische Denkart aus Gesichtspunkten unzulänglich selbst gebastelter Topoikataloge bis hin zum Urteilen lediglich nach dem Rechtsgefühl, kommt es für die Kontrolle 171

133 ff. 172

U. Foerste, Verdeckte Rechtsfortbildung in der Zivilgerichtsbarkeit, JZ 2007, 122,

BVerfGE 34, 269, 280 (Soraya). Rüthers, Methodenfragen als Verfassungsfragen, Rechtstheorie 40 (2009), 253, 271, 276 f. mit Hinweis auf die „launige Bemerkung“ des ehem. Präsidenten des BVerfG, W. Zeidler, wonach dort jeder Fall seine eigene Methode habe.; ders., Richter ohne Grenzen, FAZ vom 17. 06. 10, S. 7. 174 Karl Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, S. 14. 175 Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik (II), FS Jung 2007, S. 21. 173

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der Entscheidung auf das Vorverständnis des Richters auch bezogen auf die diversen Methoden der Rechtsanwendung an176. Deshalb sollte vom Richter grundsätzlich auch die Methodenwahl offengelegt werden. Zwar handelt es sich beim routinemäßigen richterlichen Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Sachverhalt und Norm177 um einen inneren Vorgang, der sich naturgemäß nicht umfassend beschreiben lässt. Weil dieser jedoch stets im Bewusstsein dessen abläuft, dass von den hierbei gewonnenen Erkenntnissen der Filterfunktion der Begründung entsprechend nur verwertet werden kann, was sich auch begründen lässt, kann auch verlangt werden, dass der Richter zusätzlich zu den Schlussfolgerungen aus seinen Bemühungen um Erkenntnis grundsätzlich auch seine methodische Herangehensweise an den Fall den Prozessbeteiligten plausibel darlegt. Insbesondere betont Rüthers die Bedeutung der Methodenlehre für die verfassungsgemäße Rechtsanwendung. Sie schütze den Vorrang der Legislative bei der Normsetzung gegen verfassungswidrige Übergriffe der Justiz. Methodentreue erzwinge rationale Begründungen und erleichtere damit die Überprüfbarkeit der Entscheidungen und das Finden angemessener Ergebnisse. Methodische Beliebigkeit und freie Methodenwahl führe dagegen zur willkürlichen, unkontrollierten „Kadijustiz“ und verletze den Gleichheitsgrundsatz. Das Problem werde verschärft durch den Umstand, dass in Deutschland anders als in der Schweiz (Art. 1 II ZGB) eine gesetzliche Regelung der richterlichen Rechtsfortbildung im Lückenbereich fehlt. Deshalb liefere der von der Methodenlehre gebotene Begründungszwang die Grundlage für die Akzeptanz oder für die kritische Analyse und Diskussion gerichtlicher Entscheidungen178. Damit tritt „an die Stelle der absoluten Richtigkeit … die Suche nach der überzeugendsten Begründung“ der Entscheidung179. Soweit demgegenüber Dworkin meint, es komme in einer Rechtssache in erster Linie auf das Ergebnis an und weniger auf die Begründung180, so trifft dies zwar insofern 176

Dazu Uwe Kischel (Fn. 167), 1. Kap. A I 4 b, S. 9 f, 14 f. Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 14 f. Im Zusammenhang mit der bekannten Wendung Engischs vom „Hin- und Herwandern des Blickes“ zwischen juristischem Obersatz und Lebenssachverhalt spricht J. Bung, Subsumtion und Interpretation, 2004, S. 26, von einer communis opinio in der Methodenlehre dahingehend, dass „Subsumtion gleich Syllogismus plus Wanderblick“ sei. Dieser Blick verändert nicht nur den zu beurteilenden Sachverhalt, sondern umgekehrt kann der Sachverhalt auch auf die Norm zurückwirken (W. Fikentscher, Methoden des Rechts Bd. III, S. 750 f.). Vgl. zum rechtstheoretischen Diskurs über die Eignung des Justizsyllogismus zur Entscheidungsfindung Carsten Bäcker, Der Syllogismus als Grundstruktur des juristischen Begründens, Rechtstheorie 2009, 404; Gräfin v. Schlieffen, Wie Juristen begründen, JZ 2011, 109, 111; D. Simon, Alle Quixe sind Quaxe – Aristoteles und die juristische Argumentation, JZ 2011, 697; U. Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986, 19 – 28. 178 Rüthers, Wozu auch noch Methodenlehre?, JuS 2011, 865, 868 f.; zur Methodenlehre als Legitimationslehre zur Machtbegrenzung des Richters siehe insbes. Thomas M. J. Möllers (Fn. 30), § 1 II 2. 179 Marco Staake, Das Ziel der Auslegung, JURA 2011, 177, 184. 180 R. Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 247 f.: „Fitting what judges did is more important than fitting, what they said.“ 177

§ 4 Zur Rechtsschutzgewährleistung nach der Zivilprozessordnung

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zu, als eben das Urteil den Rechtsstreit entscheidet, ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich allein anhand der Gründe Fehler in Gerichtsentscheidungen feststellen lassen.

§ 4 Zur Rechtsschutzgewährleistung nach der Zivilprozessordnung I. Das Zivilprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht Der deutsche Zivilprozess wird ebenso wie der Strafprozess wesentlich durch Verfassungsnormen bestimmt, auf deren Auslegung das BVerfG starken Einfluss ausgeübt hat. Dies allerdings auch mit Übergriffen in die Kompetenzen der Fachgerichtsbarkeit181. So hat es vor allem klargestellt, dass der Grundrechtsschutz angesichts der nur begrenzten gerichtlichen Kontrollintensität zunächst schon durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken sei182. Denn die Grundrechte beeinflussen nicht nur das materielle Recht, sondern auch das Verfahrensrecht, soweit dies für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist. Außer den in den Art. 101 ff. GG verankerten spezifischen Verfahrensgrundrechten sind es vor allem die Grundrechte aus Art. 1 – 3, die Rechtsschutzgarantie des 19 IV und das Rechtsstaatsprinzip des 20 III GG, die die ZPO als „konkretisiertes oder angewandtes (materielles) Verfassungsrecht“ erscheinen lassen. So hindert Art. 1 III GG den Gesetzgeber am Erlass von (Verfahrens-)Gesetzen, die mit den Grundrechten nicht vereinbar sind, und verpflichtet den Richter, diese bei der Gestaltung des Verfahrens zu beachten. d. h., die Verfahrensvorschriften sind grundrechtlich determiniert, und zwar nicht nur durch die Art. 101 I 2 und 103 I GG, sondern auch durch die sonstigen, als grundrechtsgleiche Rechte anerkannten Verfahrensgrundrechte, die den Zugang zum Recht, einen fairen Prozess, das rechtliche Gehör, die Waffengleichheit und den Schutz vor richterlicher Willkür garantieren183.

II. Das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes Die herrschende Imperativentheorie betrachtet Rechte wesensmäßig als das Komplement von Pflichten (und umgekehrt)184. Nach dieser Prämisse ist jede Be181 Dazu Herbert Roth (Fn. 25), Prozessmaximen, Prozessgrundrechte und die Konstitutionalisierung des Zivilprozessrechts, ZZP 2018, 3 – 24, u. a. mit Hinweis darauf, dass die Prozessgrundrechte in erster Linie als Instrumente zur Einschränkung einer als übersteigert vorgestellten Richtermacht dienen sollen. Insbesondere gehöre dazu auch der Anspruch auf einen fairen Prozess. 182 BVerfGE 53, 30, 65 = NJW 1980, 760; 54, 277, 291; BVerfGE 74, 228. 183 Lorenz (Fn. 55), S. 870. 184 Röhl/Röhl (Fn. 8), § 27 III 3 und § 46 III.

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rechtigung das Gegenstück einer Verpflichtung und jede Verpflichtung das Spiegelbild einer Berechtigung. Demnach wird der vom Staat zugewährende Rechtsschutz von der Pflichtseite her organisiert, und zwar als Leistungsrecht. Für den Staatsbürger als Träger subjektiv-öffentlicher Individualrechte ist folglich auch der Staat selbst als Inhaber des Rechtsprechungsmonopols Subjekt von Rechtspflichten und kann somit auch Anspruchsgegner dieser Rechte sein185. Dessen Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz in Zivilgerichtsverfahren ist Ausprägung des vom BVerfG aus Art. 19 IV, 101 I 2, 103 I GG, Art. 6 I EMRK und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten allgemeinen Justizgewährungsanspruchs186. Dieser garantiert den Zugang zu den Gerichten und beinhaltet die Verpflichtung des Staates zur Ausgestaltung effektiver, waffengleicher und fairer Verfahren vor dem gesetzlichen Richter. Die Verpflichtung trifft in erster Linie den Gesetzgeber, dessen Gestaltungsfreiheit es allerdings überlassen bleibt, „ob er in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten Rechtszüge einrichtet, welche Zwecke er damit verfolgt wissen will und wie er sie im Einzelnen regelt“187. Adressaten des Anspruchs sind aber auch die Gerichte selbst, indem sie dem Rechtsschutzbegehren des Einzelnen durch Wahrung der Verfahrensgrundrechte gebührend Rechnung zu tragen haben. Auch in der EU gilt der Effektivitätsgrundsatz als allgemeines Rechtsprinzip188. 1. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch als Auffangrecht Das an den Staat gerichtete verfassungsrechtliche Gebot der Bereitstellung effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes innerhalb angemessener Zeit bildet die Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols189. Rechtsdogmatisch musste das BVerfG den diesem Gebot entsprechenden Justizgewährungsanspruch außerhalb des Geltungsbereichs des Art. 19 IV GG aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG in Verb. mit den Grundrechten ableiten, da es sich schon frühzeitig auf die Ansicht festgelegt hatte, dass sich die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG lediglich auf Akte der öffentlichen Gewalt, also auf Maßnahmen der Exekutive, bezieht190. Diese Auslegung ist zwar nicht zwingend, im Ergebnis aber zutreffend. Nur wäre es methodisch sauberer gewesen, die Anwendbarkeit des Art. 19 IV GG durch den Gesetzgeber für Bereiche spezieller Regelungen ausdrücklich auszuschließen, also konkret in die Norm aufzunehmen, dass Akte der Rechtsprechung und der Ge185 Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, 4. Aufl. 2007, Rn. 86 – 90; Röhl/Röhl (Fn. 8), § 45 V. 186 BVerfGE 107, 395, 406 f.; BGH NJW-RR 2017, 306; Michael/Morlok (Fn. 131), Rn. 888 ff.; Schilken (Fn. 187), Rn. 90 und 99; Winterhoff, „… so steht ihm der Rechtsweg offen“, AnwBl 2008, 227, 229. 187 BVerfGE 54, 277, 291 = NJW 1981, 39; BVerfGE 89, 381, 390 = NJW 1994, 1053. 188 Dazu § 14 I. 189 BVerfGE 54, 39, 41; BVerfG NJW 2001, 214 f. 190 BVerfGE 97, 169, 185; BVerfG NJW 2001, 214 f.; Michael/Morlok (Fn. 133), Rn. 874 f., 888 f.

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setzgebung nicht in ihren Schutzbereich fallen191. Auch nach Ansicht von Schenke lässt sich die Ausklammerung der Rechtsprechungsakte aus der Rechtsschutzgarantie nur mit einer teleologischen Reduktion des Art. 19 IV GG rechtfertigen192. Allein mittels dieser Konstruktion des ungeschriebenen allgemeinen Justizgewährungsanspruchs als Auffangrecht konnte das Gebot effektiven Rechtsschutzes systemgerecht auch auf zivilgerichtliche Verfahren erstreckt werden, was eine Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts ausmacht. Ebenso wie Art. 19 IV GG garantiert auch er die Durchsetzbarkeit nicht nur der Grundrechte, sondern aller subjektiven Rechte, also auch derjenigen, die dem Einzelnen einfach-gesetzlich gewährt wurden. Zur Geltendmachung genügt die schlüssige Darlegung der Möglichkeit einer solchen Rechtsverletzung. Konkretisiert wird er durch die jeweiligen Zulässigkeitsvoraussetzungen in den einzelnen Prozessordnungen. Dementsprechend gilt der allgemeine Justizgewährungsanspruch in gleicher Weise wie Art. 19 IV GG als „formelles Hauptgrundrecht“ des GG und „Grundsatznorm für die gesamte Rechtsordnung“193. 2. Anforderungen an die Effektivität des Rechtsschutzes Die Prozessordnungen sollen effektiven Rechtsschutz gewährleisten, wobei der Gesetzgeber auch Regelungen treffen kann, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstellen. Das Gebot ist ebenso an die Gerichte selbst gerichtet. Auch sie dürfen durch ihre Rechtsprechung ein von der Verfahrensordnung bereitgestelltes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und so für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen194. Maßgeblich für die Effektivität der Rechtsverwirklichung ist faktisch der Wirkungsgrad der Rechtspflege bei der Realisierung des materiellen Rechts. Effektivität des Rechtsschutzes bedeutet danach konkret: - Der Zugang zum Verfahren darf nicht auf unzumutbare, nicht durch Sachgründe zurechtfertigende Weise erschwert werden. Dies gilt auch für den Zugang zu der

191 Vgl. Michael/Morlok (Fn. 131), Rn. 879. Gegen die h. A. vertritt lediglich Voßkuhle (Fn. 4), S. 255 ff., die Ansicht, dass sich die Rechtsschutzgarantie auch auf die spruchrichterliche Tätigkeit des Richters erstrecke (dazu § 4 III. 2.). 192 Schenke, Verfassungsrechtliche Garantie eines Rechtsschutzes gegen Rechtsprechungsakte?, JZ 2005, 116 f.; P. M. Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG, Art. 19 Rn. 439 f. 193 BVerfGE 58, 1, 30; Voßkuhle/Kaiser, JuS 2014, 312. Auf den Justizgewährungsanspruch lässt sich jedoch nicht die Vorschrift des Art. 19 IV Satz 2 GG übertragen, die den Richter dazu ermächtigt, Rechtsschutzlücken im einfachen Recht unmittelbar selbst im Wege der Rechtsfortbildung zu schließen. Vielmehr ist dazu allein der Gesetzgeber aufgerufen, so Schenke, Justizgewähr und Grundrechtsschutz, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009, § 78, S. 973, 975. 194 BVerfGE 78, 88, 99; 96, 27 = NJW 1997, 2163; BVerfG NJW 2010, 2864 und 2011, 1497.

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von der Verfahrensordnung eingeräumten nächsten Instanz. Auch er darf nicht von unerfüllbaren oder unzumutbaren Voraussetzungen abhängig gemacht werden195. - Die Ausgestaltung des Verfahrens durch den Gesetzgeber muss einen wirkungsvollen Rechtsschutz gewährleisten und „geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar“ sein196 ; dabei muss insbesondere die persönliche und sachliche Unabhängigkeit des Gerichts sichergestellt sein. - Der Ausgang des Verfahrens muss so geregelt sein, dass Rechtsverletzungen nicht nur festgestellt werden, sondern das Recht nach Möglichkeit wiederhergestellt wird bzw. Rechtsverletzungen tatsächlich kompensiert werden und - schließlich muss der Rechtsschutz „innerhalb angemessener Zeit“ gewährt werden, d. h., dass der Gesetzgeber gehalten ist, auch Vorsorge für den Fall zu treffen, dass der Richter seiner gesetzlichen Pflicht, eine Entscheidung zu treffen, nicht oder nicht innerhalb angemessener Zeit nachkommen sollte197. Fehlt es an diesen Erfordernissen, hat der Gesetzgeber ein Verfahren zur Verfügung zu stellen, das ihnen entspricht. Als Kontrollmaßstab für die Bestimmung der Geeignetheit und Angemessenheit des jeweiligen Verfahrens dient das Untermaßverbot198. Danach ist zu fragen, ob das Verfahren ein „Zuwenig“ an Rechtsschutz bietet und es daher geboten erscheint, das angeblich verletzte Grundrecht effektiver zu schützen. Primäres Ziel ist der Schutz des konkret betroffenen Grundrechtsträgers unter Berücksichtigung etwaig kollidierender Interessen Dritter. Ein Unterlassen der Verhinderung einer Grundrechtsbeeinträchtigung ist dem Staat als Verstoß zuzu195

BVerfGE 40, 272, 274; BVerfG NJW 2005, 1999, 2001; Michael/Morlock (Fn. 131), Rn. 889; BVerfGE 32, 305, 309; 88, 118, 124; 96, 27 (Tz. 48). Diese Rechtsprechung ist insofern widersprüchlich, als das BVerfG einerseits die Effektivität des Rechtsschutzes in allen von den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen gewährleistet, andererseits aber daran festhält, dass Art. 19 IV GG keinen Instanzenzug garantiert. Dazu Olaf Kamper, Die Anfechtbarkeit richterlicher Entscheidungen nach dem Grundgesetz, 2008, S. 105 f.; Gilles, JZ 1985, 253, 260; Michael Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, § 5 B. 196 BVerfGE 60, 253, 269 (Anwaltsverschulden); 109, 279, 364 (Großer Lauschangriff). 197 BVerfGE 55, 349, 369. Nach Ermahnung Deutschlands durch den EGMR wurde das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtliche Ermittlungsverfahren“ vom 24. 11. 11 verabschiedet, das den Anforderungen der Art. 6 I 1, 13 EMRK entspricht; dazu Matusche-Beckmann/Kumpf, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren – nach langem Weg ins Ziel?, ZZP 124 (2011), 173; Althammer/Schäuble, Effektiver Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer, NJW 2012, 1. Eine auf Nachlässigkeit des Richters zurückzuführende Verfahrensverzögerung verstößt daher gegen die in § 839 II 2 BGB genannte Amtspflicht zur zügigen Arbeitsweise. Noch zuvor hatte der BGH den Amtshaftungsanspruch eines Klägers wegen richterlicher Verfahrensverzögerung mit der Begründung zurückgewiesen, das Richterspruchprivileg des § 839 II 1 BGB erfasse auch alle prozessleitenden Maßnahmen, die objektiv darauf gerichtet seien, die Rechtssache durch Urteil zu entscheiden (BGHZ NJW 2011, 1072 f.). Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit lasse daher nur eine Vertretbarkeitsprüfung zu. Dem hatte Zuck, JZ 2011, 471, zu Recht entgegengehalten, dass eine bloße Vertretbarkeitsprüfung unzureichend sei, da der Gesetzgeber den Maßstabskatalog für die Verzögerungsumstände durchweg nach objektiven Kriterien nachprüfbar festgelegt habe. 198 Michael/Morlok (Fn. 131), Rn. 891, 888 f., 627.

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rechnen. Wie zu zeigen sein wird, besteht insoweit im deutschen Zivilprozessrecht nach wie vor ein erhebliches Rechtsschutzdefizit, nämlich zum einen insofern, als die Vorschrift des § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB infolge der nicht mehr vertretbaren Rechtsprechung des BGH zur Rechtsbeugung faktisch komplett ihre Zweckbestimmung und damit ihre Sanktionsgeltung einbüßte, und zum anderen insofern, als es dem Gesetzgeber mit der Einführung der Anhörungsrüge mangels grundlegender Fehler bei der Implementation des § 321a ZPO nicht gelang, eine effektive instanzinterne Selbstkontrolle zu etablieren. 3. Die Gestaltung der ZPO unter dem Einfluss des BVerfG Außerordentlicher Rechtsbehelfe zur Durchbrechung der materiellen Rechtskraft richterlicher Entscheidungen bedürfte es nicht, wenn dem Rechtsunterworfenen der Rechtsweg auch gegen die richterliche Entscheidung als solche offen stünde. Bekanntlich ist dies jedoch nicht der Fall. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG zählt die Judikative als dritte Gewalt im Staate ebenso wie die Legislative schon tatbestandsmäßig nicht zur öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 IV GG. Auch das Rechtsstaatsprinzip gewährleiste nicht die Einrichtung eines Instanzenzugs199. Aufgrund dessen war es bis zur Einführung der Anhörungsrüge ausgeschlossen, Entscheidungen in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren mit der Begründung anzugreifen, der letztinstanzliche Richter habe bei seiner Spruchtätigkeit in entscheidungserheblicher Weise eines der Verfahrensgrundrechte verletzt. Begründet wurde dies mit einer „zum Schlagwort erstarrten Behauptung“200 des BVerfG, „für die man vergeblich nach einer Begründung sucht“, die aber dennoch in dessen Rechtsprechung als Dogma für den Rechtsschutz gegen zivilgerichtliche Entscheidungen nachhaltig bestimmend wurde: Das Grundgesetz gewährleiste – so schon die Formulierung Dürigs aus dem Jahre 1958 – Rechtsschutz (nur) „durch den Richter“ und nicht (auch) „gegen den Richter“201, und zwar jedenfalls solange nicht, als die Gerichte in voller richterlicher Unabhängigkeit handeln und in ihrer Funktion als neutrale Instanzen der Streitentscheidung tätig werden. Denn Rechtsschutz auch gegen die spruchrichterliche Entscheidung als solche würde deren Zweck unterlaufen, Streitigkeiten beizulegen und damit Rechtssicherheit zu schaffen. Zwar garantiere das Grundgesetz Rechtsschutz vor den Gerichten nicht nur gemäß Art. 19 IV GG, sondern in Zivilsachen auch aufgrund des ihm zugrundeliegenden allgemeinen Justizgewährungsanspruchs. Doch auch aus diesem folge kein Anspruch auf eine weitere Instanz. Denn andernfalls würde ein Rechtsschutz ad infinitum eröffnet. 199

BVerfGE 54, 277, 291 = NJW 1981, 39; 107, 395, 402; 108, 341, 348. So die treffende Kennzeichnung von Lorenz, Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 241; eingehend dazu Voßkuhle (Fn. 4), S. 1 f., 146 ff., 225 ff.; ders., Erosionserscheinungen des zivilprozessualen Rechtsmittelsystems, NJW 1995, 1377. 201 BVerfGE 1, 433, 437; 15, 275, 280 = NJW 1963, 362; 96, 27, 39 = NJW 1997, 2163 f. 200

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Die äußerst restriktive Auslegung des Art. 19 IV 1 GG durch das BVerfG ist mit beachtlichen Argumenten auf heftige Kritik des Schrifttums gestoßen: So wurde vor allem dagegen vorgebracht, dessen Wortlaut böte gar keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass richterliche Akte von jener Garantie nicht mit erfasst werden202. Selbst ein über mehrere Instanzen geführtes Verfahren begründe keineswegs denknotwendig die Gefahr eines Rechtsschutzes ad infinitum. Auch spreche Art. 95 GG zumindest hinsichtlich der dort genannten Gerichtsbarkeiten für die Eröffnung eines Instanzenzuges203. Darüber hinaus sei außer in Bagatellsachen der Ausschluss einer zweitinstanzlichen richterlichen Kontrolle eine begründungsbedürftige Ausnahme und überdies nicht in allen Bereichen zulässig. Dennoch hielt das BVerfG an dem Dogma fest. Bezeichnenderweise blieb in der Debatte über die Legitimität jener Doktrin völlig unerwähnt, dass die ZPO sogar an exponierter Stelle eine Vorschrift enthält, durch die zweifelsfrei „Rechtsschutz gegen den Richter“ gewährleistet wird, wenn auch nur unter sehr erschwerten Bedingungen, nämlich eben § 580 Nr. 5 ZPO. Immerhin wird es der Prozesspartei durch diese Vorschrift grundsätzlich ermöglicht, das gegen sie ergangene rechtskräftige Endurteil mit der Begründung anzufechten, der Richter habe sich im vorausgegangenen Verfahren „in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten“ schuldig gemacht. Wenn das BVerfG diese Möglichkeit bei Übernahme der Dürig’schen Formel und auch im weiteren Verlauf ignorierte, kann dies nur darauf zurückgeführt werden, dass es die Vorschrift des § 339 StGB schon gar nicht (mehr) zum „lebenden“ Recht zählte, ihr also überhaupt keine instrumentelle Funktion mehr zubilligte, sondern allenfalls noch eine rein symbolische. Sonst hätte es sicherlich klargestellt, dass „Rechtsschutz gegen den Richter“ zwar gewährleistet werde, es dafür jedoch nur meistens am Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen fehle. Der Hinweis auf das Dürig’sche Dogma hätte sich daher erübrigt. Ähnlich verhielt es sich mit den Verstößen gegen Art. 103 I GG. Auch gegen diese hätte das Wiederaufnahmerecht in § 579 I Nr. 4 ZPO Rechtsschutz geboten, wären die Gerichte nicht der unzutreffenden These von der Analogieunfähigkeit der Wiederaufnahmevorschriften verfallen204. Somit kann nur festgestellt werden: De jure gab es ihn schon immer, den „Rechtsschutz gegen den Richter“, nur war dieser eben de facto nicht realisierbar. Folglich stellte die vom BVerfG beharrlich beibehaltene Doktrin weit mehr eine ungewollt rechtssoziologische Beschreibung seiner 202 Vgl. H. Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie, 1973, S. 100; Lorenz (Fn. 202), S. 241 ff.; Voßkuhle (Fn. 4), S. 255 ff.; Schenke, Justizgewähr und Grundrechtsschutz (Fn. 195), § 78 Rn. 32 f. 203 Krugmann (Fn. 133), S., 308; Voßkuhle, NJW 1995, 1377, 1381 f. 204 Nach Ansicht von MüKo-Braun/Heiß (Fn. 3), § 581, Rn. 7, habe diese These „den Blick darauf verstellt, dass durch § 581 I Hs. 1 ZPO das strafrechtliche Analogieverbot in systemwidriger Weise auf die zivilprozessualen Wiederaufnahmegründe des § 580 Nr. 1 – 5 ausgedehnt wird“. Apel, Zur Nichtigkeitsklage wegen Mängeln der Vertretung im Zivilprozeß, 1995, S. 81 ff.

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eigenen Entscheidungspraxis dar als ein bewusst aus der Verfassung abgeleitetes Dogma. Auszugehen ist nach der Rechtsprechung des BVerfG einerseits davon, dass die Verfahrensgrundrechte auch den Gesetzgeber binden, weshalb es vorrangig vor den Gerichten zuerst dessen Aufgabe ist, diese zu konkretisieren205, und andererseits davon, dass der Rechtssuchende aufgrund der staatlichen Justizgewährungspflicht Anspruch auf einen lückenlosen und auch qualitativen Rechtsschutz hat206. Auch gebieten es die grundsätzlichen Erwägungen des BVerfG in dessen Plenarbeschluss vom 30. 04. 03, „die Rechtsschutzgarantie auch auf den Richter zu erstrecken“207. Demzufolge muss es den Prozessparteien ermöglicht werden, Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht auch nach letztinstanzlichen Gerichtsverfahren einzufordern.

III. Exkurs: Rechtshistorischer Rückblick auf die Rechtsschutzgewährleistung unter dem Dogma vom Rechtsschutz durch, aber „nicht gegen den Richter“ 1. Anerkennung ungeschriebener Ausnahmerechtsbehelfe In der Zeit vor der ZPO-Reform 2002 hatte sich die Anzahl der überwiegend auf Verletzung des Art. 103 I GG gestützten Urteilsverfassungsbeschwerden derart erhöht, dass sich das BVerfG als bloßer „Pannenhelfer“ unterfordert fühlte und dahingehend Entlastung anstrebte208. Zu diesem Zweck unternahm er es, ohne gleich den Gesetzgeber zu bemühen, die Fachgerichte aufzufordern, ihnen unterlaufene Verstöße gegen Verfahrensgrundrechte, so vor allem gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, zur Vermeidung des Umwegs über die Verfassungsbeschwerde möglichst instanzintern zu beheben, „sofern die Auslegung der einschlägigen Verfahrensvorschriften dies ermögliche“209. Dieser Aufforderung waren die Fachgerichte zum Teil bereitwillig gefolgt, indem sie praeter legem in Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit neben der bereits gewohnheitsrechtlich anerkannten Gegenvorstellung210 und dem außerordentlichen Rechtsbehelf gemäß § 826 BGB gegen Urteilserschleichung und arglistiger Titelausnutzung ungeschriebene außerordentliche 205

BVerfGE 10, 200, 213 und 63, 45, 61. Krugmann (Fn. 133), S. 306 f.; Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck (Fn. 194), Art. 19 Rn. 467. 207 Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck (Fn.194), Art. 19 Rn. 443 m. Hinw. a. Voßkuhle (Fn. 4). 208 Dazu erstmals Schumann ZZP 1983, 137, 148 und NJW 1985, 1134; Kenntner, Vom „Hüter der Verfassung“ zum „Pannenhelfer der Nation“?, DÖV 2005, 269. Siehe Beispiele für „Pannenfälle“ bei Zöller-Vollkommer (Fn. 17), § 321a Rn. 9 f. 209 BVerfGE 42, 248 f.; 47, 190 f.; 49, 252, 259; 68, 376, 380; 73, 327; BVerfG NJW 87, 1319. 210 Dazu Schumann und H. Roth (Fn. 3) sowie Sangmeister in NJW 2009, 3053 f. 206

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Rechtsbehelfe gegen rechtskräftig gewordene Entscheidungen zuließen. Vor allem folgende von den oberen Fachgerichten erzeugte Ausnahmerechtsbehelfe fanden dadurch – vorläufig – die ausdrückliche Billigung des BVerfG: - Die „außerordentliche Beschwerde“ gegen Beschlüsse des Oberlandesgerichts als Ausnahme zu § 567 IV ZPO a. F. analog § 568 II ZPO a. F.211, - die „Ausnahmeberufung“ analog § 513 II ZPO a. F.212 und die „Untätigkeitsbeschwerde“ entsprechend Art. 6 I EMRK213 sowie - die auf wirkliche Ausnahmefälle krassen Unrechts beschränkte „außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit und groben prozessualen Unrechts“214. Diese ungeschriebenen Rechtsbehelfe wurden von den Fachgerichten allgemein anerkannt, ohne dass in Lehre und Schrifttum eine überzeugende dogmatische Grundlage für sie zu entwickelt worden war215. Voßkuhle sah ihre Grundlage im verfassungsrechtlichen Willkürverbot216, andere wollten sie gewohnheitsrechtlich anerkannt wissen. Ihre Zulassung durch das BVerfG mag Ausdruck der Erkenntnis gewesen sein, dass bei grober Verletzung von Verfahrensgrundrechten das Spannungsverhältnis zwischen den beiden angeblich gleichwertigen wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaatsprinzips, nämlich Rechtssicherheit und Gerechtigkeit217, ausnahmsweise zugunsten der Gerechtigkeit gelöst werden müsse. Dabei blieb jedoch völlig offen, unter welchen konkreten Voraussetzungen der jeweils anerkannte Rechtsbehelf zulässig und unter welchen er begründet sein sollte. Augenscheinlich wurden hier nur unbestimmte Rechtsbegriffe durch andere Leerformeln ersetzt. Weil die Duldung dieser Rechtsprechung durch das BVerfG bewusst nicht der Beseitigung einer verfassungswidrigen Regelungslücke, sondern allein seiner eigenen Entlastung dienen sollte, bemühte sich auch der BGH gar nicht erst um eine plausible Begründung der Statthaftigkeit dieser zunächst von ihm anerkannten Rechtsinstitute, sondern wartete insoweit ein Tätigwerden des Gesetzgebers ab. Jedenfalls war abzusehen, dass diese „unübersichtliche Aufsplitterung des Rechtsmittelsystems“ nicht lange aufrechterhalten bleiben konnte218. Faktisch führte diese Aufforderung, auch wenn sie weit mehr der Entlastung des BVerfG dienen sollte als der Qualitätssicherung der letztinstanzlichen Entscheidungen, bereits zu einer Einschränkung der doktrinären Auslegung des Art. 19 IV GG. Zwar wurde dadurch 211 212 213 214 215 216 217 218

BVerfGE 49, 252, 256 = NJW 1979, 538. BVerfG NJW 1999, 1176, dazu Schneider (Fn. 20), MDR 2006, 974 f. Michael/Morlok (Fn. 131), Rn. 909. BGHZ 119, 372 = NJW 1993, 135; 130, 99; dazu Voßkuhle (Fn. 4), S. 224. Schwarze (Fn. 144), S. 25; P. Günter (Fn. 3), S. 55 f.; Chr. Seidel (Fn. 3), § 2. Voßkuhle, NJW 1995, 1377, 1380. BVerfGE 15, 313, 319 f. = NJW 1963, 851. MüKo (Fn. 3), zu § 579 Rn. 21 und vor § 578 Rn. 7.

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die Doktrin vom „Rechtsschutz nur durch den Richter, nicht aber auch gegen denselben“, nicht außer Kraft gesetzt, zumindest aber bereits deutlich relativiert. 2. Die These Voßkuhles vom „sekundären Kontrollanspruch“ Im Jahre 1993 legte Voßkuhle unter dem Titel „Rechtsschutz gegen den Richter“ eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Dogma vom Rechtsschutz nur durch den Richter, nicht aber auch gegen denselben vor. Aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung folge ein Auftrag zur gegenseitigen Kontrolle und Beschränkung der Verfassungsmächte. Da die Rechtsprechungsfunktion als solche vom staatlichen Kontrollsystem kaum erfasst sei, stelle sich umso eindringlicher die Frage, ob nicht dieser im Grundgesetz enthaltene Kontrollauftrag zur Eindämmung staatlicher Herrschaftsmacht eine funktionsinterne Kontrolle der Herrschaftsakte des Richters beinhalte, die ihrerseits nur durch eine zweite richterliche Instanz verwirklicht werden könne. Keines der gesetzlich in den §§ 339 StGB, 839 II BGB i. V. mit Art. 34 GG sowie 26 DRiG vorgesehenen Kontrollinstrumente gewährleiste eine wirksame Kontrolle der richterlichen Entscheidungsmacht. Als Ergebnis seiner Arbeit hielt er fest, dass „eine verfassungsgerechte Auflösung der mit der Problematik des Rechtsschutzes gegen den Richter implizierten Spannungslage zwischen dem Rechtssicherheitsgedanken einerseits und dem Abwehrgedanken andererseits … in Anbindung an die einfachgesetzliche Rechtsmitteldogmatik nur nach Maßgabe des im Gewaltenteilungsdogma angelegten Kontrollauftrags erfolgen“ könne219. Der insoweit gebotenen Integration richterlicher Hoheitsakte in das verfassungsrechtliche Kontrollsystem entspreche auf Seiten des Bürgers ein grundsätzlicher Anspruch auf einmalige Überprüfung der (erstinstanzlichen) richterlichen Tatsachenentscheidung in Bezug auf die „Rechtsfrage“ durch eine zweite richterliche Instanz. Dieser sekundäre Kontrollanspruch sei Teil der sich aus Art. 19 IV 1 GG ergebenden Rechtsschutzgarantie. Gegen diesen Ansatz Voßkuhles, dem judikativen Unrecht durch Rückgriff auf den im Grundgesetz enthaltenen Kontrollauftrag zu begegnen, haben sich u. a. Marco Hößlein und Michael Stürner gewandt. Ersterer meint, ein grundrechtlicher Beseitigungsanspruch bei Beeinträchtigungen durch die Rechtsprechung könne nur aus dem subjektiven Recht und nicht aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG entwickelt werden220. Es dürfe nur vom Recht auf die Pflicht und nicht umgekehrt von der Pflicht auf das Recht geschlossen werden. Der Schluss von einer Pflicht auf ein subjektives Recht sei „rechtslogisch nicht zwingend“. Erst das aus dem subjektiven Recht abgeleitete Ergebnis fände seinen Ausdruck in einer korrespondierenden subjektiven Pflicht, wobei jede dem subjektiven Recht korrelierende Pflicht zugleich Bestandteil des objektiven Rechts sei. Dem ist entgegenzuhalten: Zweifelsohne setzt die Geltendmachung eines Rechtsbehelfs gegen eine greifbar ge219 220

Voßkuhle (Fn. 4), S. 255 ff. und 343; ders. (Fn. 205), NJW 1995, 1377, 1383. Marcus Hößlein, Judikatives Unrecht, 2007, A I 2 c und E I 1 d.

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setzwidrige richterliche Entscheidung ein an die Judikative als Adressat gerichtetes subjektives Recht des Betroffenen auf Restitution des ihm widerfahrenen Unrechts voraus. Mit der herrschenden Imperativentheorie ist jedoch weiter davon auszugehen, dass nicht die Rechte, sondern die Pflichten, die sich jeweils aus den Verhaltensnormen ergeben, als die Grundbausteine des Rechts gelten221. Deshalb stellen die subjektiven Rechte als die daraus abzuleitenden Gewährungen nur die Kehrseite dieser Pflichten dar. Demgegenüber bemängelt M. Stürner222 unter Hinweis auf Seitz223 die Konzentration Voßkuhles auf das Prinzip der Kontrolle. Die Kontrollinstrumente der Anklage wegen Rechtsbeugung und Einleitung von Disziplinarverfahren würden vom Staat eingesetzt, dagegen dienten die Rechtsmittel dem Individualrechtsschutz. Damit lasse sich das Bindungsgebot des Art. 20 III GG auch durchsetzen. Voßkuhle vermenge diese Konzepte. 3. Die Kontroverse „Anhörungsrüge oder Wiederaufnahmeklage“ Der OLG-Richter Seetzen hatte die These aufgestellt, es genüge schon aus Gründen der Praktikabilität, gegen die ständig zunehmenden Verletzungen der Garantie des rechtlichen Gehörs durch die Fachgerichte einen Sonderrechtsbehelf, nämlich die Anhörungsrüge, in die ZPO einzuführen, da diese Gehörsverletzungen – wie er fälschlich annahm – ganz überwiegend auf reinem Versehen beruhten und von den Richtern anstandslos korrigiert würden224. Eine einfache Gehörsrüge im schriftlichen Verfahren benötige vor allem kein neues Erkenntnisverfahren und sei daher weit weniger „aufwendig und umständlich“ als die Wiederaufnahmeklage. Dagegen verwies Braun auf § 579 I Nr. 4 ZPO und vertrat die Ansicht, dass es der Einführung eines solchen Rechtsbehelfs schon deswegen nicht bedürfe, weil sich entsprechend den Gesetzesmaterialien225 die analoge Anwendung dieser Vorschrift auf alle Gehörsverletzungen gleich welcher Art anbiete, obwohl sich diese ihrem Wortlaut nach nur auf einen Sonderfall der Gehörsverletzung, nämlich denjenigen der nicht ordnungsgemäßen Vertretung der Partei, bezieht226. Die Nichtigkeitsklage müsse daher in allen Fällen der entscheidungserheblichen Verletzung des Art. 103 I GG zugelassen werden, zumal es hier gelte, auch einen „Wildwuchs“ der Rechtsbehelfe zu verhindern. Der Einwand von Seetzen, die Wiederaufnahmegründe seien in den §§ 579, 580 ZPO enumerativ und damit abschließend aufgezählt, beinhalte „nichts anderes als eine Neuauflage der (im Zivilrecht) methodisch verfehlten und 221

S. 30. 222

Röhl/Röhl (Fn. 82), § 27 III 3; St. Meyer, Juristische Geltung als Verbindlichkeit, 2011,

Michael Stürner, Die Anfechtung von Zivilurteilen, 2002, S. 74 ff. Seitz, NJW 1994, 2011, 2012. 224 Seetzen, NJW 1982, 2337; 1984, 347. Dazu auch schon Schumann, NJW 1985, 1134. 225 Hahn, Die gesamten Materialien zur CPO, 1881, S. 379. 226 Dazu oben § 3 II. 3.; Braun, NJW 1981, 425; 1983, 1403; 1984, 348 f.; MüKo (Fn. 3), § 579 Rn. 23. 223

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bereits von Gaul227 widerlegten These, dass Ausnahmerechtssätze nicht analogiefähig seien“. Außerdem sei höchst widersprüchlich, einerseits die Wiederaufnahmevorschriften unter Berufung auf den angeblichen Willen des Gesetzgebers möglichst eng auszulegen, andererseits aber Rechtskraftdurchbrechungen bei auf § 826 BGB gestützten Schadenersatzklagen contra rem judicatam zuzulassen. Bis 1977 war noch im Rahmen des damaligen Schiedsurteilsverfahrens nach § 510c ZPO speziell für die Fälle der Gehörsverletzung und des Fehlens der Entscheidungsgründe in § 579 III 1 und 2 ZPO a. F. die Nichtigkeitsklage als Rechtsbehelf vorgesehen gewesen. Als dieses Verfahren durch die Vereinfachungsnovelle vom 03. 12. 1976 (BGBl. I, 3281) ersatzlos abgeschafft wurde, um erst im Jahre 1990 durch das RpflVereinfG als „Verfahren nach billigem Ermessen“ gemäß § 495a ZPO wieder eingeführt zu werden, unterließ es jedoch der Gesetzgeber, folgerichtig auch eine dem § 579 III ZPO a. F. entsprechende Vorschrift hinzuzufügen. Dadurch entstand eine deutliche Rechtsschutzlücke. Zwar galt jene Vorschrift nur im damaligen Schiedsurteilsverfahren. Statt sie zu streichen, wäre es jedoch weitaus sinnvoller gewesen, ihren Anwendungsbereich auf sämtliche nicht (mehr) rechtsmittelfähige Gerichtsverfahren auszudehnen228. Auf diese Weise hätte eine angemessene und effektive Kontrolle greifbar gesetzwidrigen richterlichen Entscheidungsverhaltens durchaus sichergestellt werden können. 4. Einführung der Anhörungsrüge durch die ZPO-Reform 2002 Im Rahmen der ZPO-Reform 2002 führte dann der Gesetzgeber zur Entlastung des BVerfG als „Pannenhelfer“ mit der Vorschrift des § 321a ZPO die Anhörungsrüge in die ZPO ein. Damit wollte er rechtssoziologisch gesehen das geschriebene Recht an das ungeschriebene anpassen. Dieser außerordentliche Rechtsbehelf war als eine Art wiedereinsetzungsähnliche, befristete gesetzliche Gegenvorstellung gegenüber dem Urteil des judex a quo ausgestaltet worden und sollte zunächst auf unanfechtbare Urteile der ersten Instanz beschränkt sein229. Das hinderte die Fachgerichte jedoch nicht daran, die Rüge auch in den höheren Instanzen zuzulassen, was zu einem unklaren Rechtszustand führte230. Dies wiederum veranlasste den 1. Senat des BVerfG, der eine Entscheidung treffen wollte, die der bis dahin von beiden 227

Gaul (Fn. 142), S. 37 ff. Braun (Fn. 20), JR 2005, 1 – 5; ders., JZ 2003, 906, 907, sowie NJW 2007, 1621. 229 Zöller-Vollkommer (Fn. 7), Einl. Rn. 103 und zu § 321a, Rn. 1. Nach Vollkommer, Zur Einführung der Gehörsrüge in den Zivilprozeß, FS Schumann, 2001, S. 507, 511, ist die Gehörsrüge trotz ihrer Ähnlichkeit mit der früheren Nichtigkeitsklage gemäß § 579 III 1 ZPO a. F. kein außerordentlicher Rechtsbehelf, sondern ein „spezifischer Rechtsbehelf zur instanzinternen Behebung von Gehörsverletzungen“. Nach Musielak, ZPO, § 321a Rn. 2, ist sie „ein Rechtsbehelf eigener Art, durch den das Gericht von der Bindungswirkung des § 318 ZPO … sowie von der formellen und materiellen Rechtskraft … freigestellt wird, wenn sich die Rüge als begründet erweist“. 230 Musielak, ZPO, § 321a, Rn. 6. 228

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Senaten einhellig beachteten Dürig’schen Doktrin widersprochen hätte, gemäß § 16 I BVerfGG ausnahmsweise das Plenum anzurufen, um von jener bisherigen gemeinsamen Rechtsprechung abrücken zu können. a) Die Plenarentscheidung des BVerfG vom 30. 04. 03 Das Plenum des BVerfG stellte daraufhin im Beschluss vom 30. 04. 03 unter Bezug auf den allgemeinen Justizgewährungsanspruch in der ZPO eine verfassungswidrige Rechtsschutzlücke fest und erklärte das Fehlen „einer Möglichkeit des Rechtsschutzes gegen Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch oberlandesgerichtliche Berufungsurteile außerhalb der streitwertabhängigen Revisionen“ für grundgesetzwidrig231. Zugleich setzte es dem Gesetzgeber eine Frist zur Neuregelung der Anhörungsrüge bis zum 31. 12. 04. Die Garantie wirkungsvollen (effektiven) Rechtsschutzes verlange ein auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtetes Verfahren mit vollen Mitwirkungs- und Kontrollrechten des Einzelnen. Die Rechtsschutzgarantie gelte nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, sondern auch für die höheren Instanzen und bedeute Anspruch auf ein effektives, angemessen ausgestaltetes Gerichtsverfahren in angemessener Zeit. Es verstoße „gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verb. mit Art. 103 I GG, wenn eine Verfahrensordnung keine fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall vorsehe, dass ein Gericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt“. Allerdings sei diese Garantie auf eine Instanz beschränkt, da der garantierte Rechtsschutz nicht notwendig zur Befassung einer höheren Instanz führen müsse. Es genüge daher ein Rechtsbehelf an das Gericht, dessen Verfahrenshandlung als fehlerhaft gerügt wurde. Diesen Plenumsbeschluss besprach Voßkuhle in der NJW unter der an sich nichtzutreffenden Überschrift „Bruch mit einem Dogma. Die Verfassung garantiert Rechtsschutz gegen den Richter“232. Denn Gegenstand des Plenarverfahrens war gar nicht die Problematik des „Rechtsschutzes gegen den Richter“ in verfassungsrechtlicher Hinsicht, sondern lediglich die Frage, „ob und in welchem Umfang es das Grundgesetz erfordert, dass Verstöße eines Richters gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG) durch die Fachgerichte selbst behoben werden können“. D. h., es ging dort ausschließlich um die Frage der Zulässigkeit der Etablierung einer instanzinternen Selbstkontrolle der Fachgerichte nach Beendigung letztinstanzlicher Verfahren. Diese Frage aber hatte das BVerfG längst beantwortet, 231 BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924; dazu Jürgen Gehb, Vom langsamen Ende eines verfassungsrechtlichen Dogmas? – Der trickreiche Weg des Bundesverfassungsgerichts zum Anhörungsrügengesetz, DÖV 05, 683. Michael/Morlok (Fn. 131), Rn. 874, 882 – 890 f.; ZöllerVollkommer (Fn. 7), Einl. Rn. 49 ff. und 103. So schon BVerfGE 91, 181; BVerfG NJW 2007, 2241, 3118. 232 Voßkuhle, NJW 2003, 2193; Vollkommer, Bundesverfassungsgericht, Justizgewährleistung durch das Grundgesetz, Verfahrensgrundrechte und Zivilprozess, speziell: Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts als Ersatzgesetzgeber?, in: FS Gerhardt, 2004, S. 1023.

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als es an die Fachgerichte appelliert hatte, Verstöße gegen die Verfahrensgrundrechte zu seiner Entlastung als „Pannenhelfer“ möglichst noch innerhalb der Instanz selbst zu beheben. Insofern diente der Beschluss im Grunde nur der nachträglichen Rechtfertigung dieser Vorgehensweise. Jedenfalls änderte die Entscheidung am Kerngehalt des Dogmas, wonach es keinen Anspruch auf einen Instanzenzug gibt, im Ergebnis nichts. Eingeräumt wurde vielmehr nur „eine punktuelle (gegenständlich beschränkte) Kontrolle der behaupteten Verfahrensgrundrechtsverletzung“ durch den judex a quo selbst233, wobei die Möglichkeit einer solchen Kontrolle keineswegs auf den Fall der Verletzung der Garantie des rechtlichen Gehörs begrenzt wurde. Außerdem stellte das BVerfG noch allgemein fest, dass eine instanzinterne Selbstkontrolle den rechtsstaatlichen Anforderungen nur dann entspräche, „sofern auf diese Weise der Mangel effektiv beseitigt werden“ könne234. Diese nicht näher konkretisierte Bedingung, mit der im Grunde nichts anderes als eine Selbstverständlichkeit ohne weiteren Erkenntniswert zum Ausdruck gebracht wurde, nannte Voßkuhle den „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG235. b) Neufassung des § 321a ZPO durch das Anhörungsrügegesetz Mit dem Anhörungsrügegesetz, das am 01. 01. 2005 in Kraft trat, setzte der Gesetzgeber die Vorgaben des BVerfG allerdings nur teilweise um. Die Neuregelung blieb in mehrfacher Hinsicht unvollständig und ergänzungsbedürftig. Denn zwar ließ der neu gefasste § 321a ZPO (§§ 152a VwGO, 133a FGO, 33a StPO, 29a FGG, 78a ArbGG, 178a SGG, 69a GKG, 157a KostO, 4a JVEG, 71a GWB, 12a RVG)236 die Rüge nunmehr uneingeschränkt gegen jede unanfechtbar gewordene Entscheidung gleich welcher Instanz zu. Nach wie vor wurde jedoch die Möglichkeit ausgeschlossen, auch die Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte zu rügen. Das Gesetz löste heftige Kritik aus, die vor allem darauf gestützt wurde, dass bei Einführung der Rüge das psychologische Problem der mangelnden Bereitschaft der Gerichte, eigene Fehler einzuräumen, völlig unberücksichtigt geblieben sei237. Schon das BVerfG habe in seinem Plenarbeschluss darüber hinweggesehen mit der Folge, dass es auch der Gesetzgeber unbeachtet gelassen habe. die Behandlung der Fälle greifbarer

233

Vollkommer (Fn. 234), S. 1023, 1028. BVerfGE 107, 395, 416 ff. = NJW 2003, 1924, 1928 ff. 235 Voßkuhle (Fn. 234), NJW 2003, 2193, 2197. 236 Besser wäre eine einheitliche, für alle Prozessordnungen geltende Regelung im GVG gewesen, so Rieble/Vielmeier, Riskante Anhörungsrüge, JZ 2011, 923, 924. 237 Sangmeister (Fn. 20), S. 657; ders., NJW 2007, 2363, 2369; Kirchberg, Anhörungsrüge – viel Aufwand, wenig Ertrag?, FS Krämer 2009, 43, 46 f.; Schneider (Fn. 20), MDR 2006, 969; Vollkommer (Fn. 234), S. 1023; Zuck, NJW 2005, 1226, 1229. 234

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Gesetzwidrigkeit nicht speziell Gegenstand dieser Evaluierung war. Allseits wurde die Reform daher „als praxisuntauglich gebrandmarkt“238. c) Wegfall der Ausnahmerechtsbehelfe als nicht geplanter Nebeneffekt? Nach der Neufassung des § 321a ZPO blieb umstritten, ob sich damit die gewohnheitsrechtlich anerkannten, ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe erledigt hatten oder ob von ihnen noch (teilweise) Gebrauch gemacht werden durfte, auch soweit mit ihnen bislang die Verletzung sonstiger Verfahrensgrundrechte und greifbarer Gesetzwidrigkeiten gerügt werden konnte. Dazu hatte das BVerfG überraschend festgestellt, dass „die von der Rechtsprechung geschaffenen außerordentlichen Rechtsbehelfe … den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit“ nicht genügten239. Rechtsbehelfe müssten „in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt“ und in „ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sein“. Die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit seien bei den gegenwärtig verfügbaren außerordentlichen Rechtsbehelfen nicht erfüllt. Unmittelbar nach Einführung der Anhörungsrüge hatte auch schon der BGH mit Beschluss vom 07. 02. 02240 festgestellt, dass aus Gründen der Rechtsmittelklarheit die bislang an ihn gerichtete Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit nicht mehr zum faktisch geltenden Recht zu zählen sei. Diese habe der Gesetzgeber mit der Einführung der Rechtsbeschwerde des § 574 ZPO praktisch abgeschafft241. Nach den Gesetzesmaterialien zu § 321a ZPO sollten die Ausnahmebeschwerde und die Gegenvorstellung durch die Einführung der Anhörungsrüge jedoch gerade nicht ausgeschlossen werden242. Anscheinend wollte hier vielmehr der Gesetzgeber abwarten, ob sich in der Rechtspraxis die Notwendigkeit ergeben werde, künftig auch die Verletzung der anderen Verfahrensgrundrechte in letztin238 Sangmeister (Fn. 20), FS Korn 2005, 657, 668 f.; Kirchberg (Fn. 239), S. 46 f.; Piepenbrock, AnwBl 2004, 329; Greger, JZ 2004, 805, 816. Bestätigt wird dies auch durch die Tatsache, dass die Vorschrift des § 522 III ZPO durch das Änderungsgesetz vom 07. 07. 11 erneut reformiert werden musste. 239 BVerfGE 107, 395, 416 f., dazu Vollkommer (Fn. 234), S. 1032 ff. Zu den Unklarheiten der Anhörungsrüge als Voraussetzung der Rechtswegerschöpfung bei der Verfassungsbeschwerde Rieble/Vielmeier (Fn. 238), JZ 2011, 923. 240 BGHZ 150, 133 = NJW 2002, 1577. 241 Mit Beschluss vom 16. 01. 07 bestätigte dann auch das BVerfG (NJW 2007, 2538 mit Anm. von Sangmeister), unter Hinweis auf seinen Plenumsbeschluss vom 30. 03. 03 (BVerfGE 107, 395) eine Entscheidung des BFH, mit der eine außerordentliche Beschwerde gegen eine Kostenentscheidung des FG wegen Verstoßes gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit als unstatthaft zurückgewiesen worden war. 242 BT-Dr. 15/3706, S. 14. Deshalb meinten Bloching/Kettinger, Verfahrensgrundrechte im Zivilprozess – Nun endlich ein Comeback der außerordentlichen Rechtsbehelfe?, NJW 2005, S. 860, dass nach den Gesetzesmaterialien die Vorschrift des § 321a ZPO einer Klärung dieser Fragen durch die Rechtsprechung nicht entgegenstehen sollte.

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stanzlichen Urteilen als angreifbar anzuerkennen. Ebenso lässt sich jedoch die Ansicht vertreten, dass die Beschränkung des § 321a ZPO auf Gehörsverletzungen eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers darstellte, was gegen eine analoge Anwendung dieser Vorschrift spricht. Folglich muss die Rechtslage insoweit als ungeklärt bezeichnet werden243. Das veranlasste Voßkuhle, in seiner Besprechung der Plenarentscheidung auf die „radikale Kehrtwendung“ des BVerfG hinzuweisen244 und die Frage aufzuwerfen, wie es denn nunmehr mit dem Rechtsschutz gegen sachlich evident unrichtige Entscheidungen in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren bestellt sei, wenn auf die bis dahin gewohnheitsrechtlich anerkannten, ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe wie vor allem die Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit tatsächlich nicht mehr zurückgegriffen werden könne, weil sie gegen das Gebot der Rechtsmittelklarheit verstießen. Im Zweifel müsse nämlich davon ausgegangen werden, dass mit der Neuregelung der Anhörungsrüge jene Rechtsbehelfe ihre Erledigung gefunden hätten, wobei Voßkuhle zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht das damals noch zu erlassende Anhörungsrügegesetzes kannte. Da der allgemeine Justizgewährungsanspruch nach Ansicht des BVerfG nur Rechtsschutz gegen die Verletzung von Verfahrensgrundrechten garantiere, seien die Fachgerichte nicht verpflichtet, gegen greifbare Gesetzwidrigkeiten entsprechende Beschwerdemöglichkeiten vorzusehen mit der Folge, dass dem Betroffenen letztlich nur die Verfassungsbeschwerde bliebe, die aber einen Grundrechtsverstoß voraussetze. Auch „krasse richterliche Fehlentscheidungen, wie sie aller Erfahrung nachgerade dort zu erwarten sind, wo mit einer Kontrolle durch Kollegen nicht gerechnet werden muss“, seien insoweit „von Verfassungswegen hinzunehmen“. Diesen Umstand hatte das BVerfG noch mit der Floskel beschönigt245, dass „im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens das verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtsschutzsystem … ein verbleibendes Restrisiko falscher Rechtsanwendung durch das Gericht in Kauf“ nehme. Zur Behebung rechtsstaatlicher Defizite beim Grundrechtsschutz ist die Verfassungsbeschwerde daher nicht geeignet. Auch unter dem Gesichtspunkt der Justizgewährungspflicht vermag sie als ein „Rechtsbehelf von anderer Qualität“ im Einzelfall keinen zureichenden Rechtsschutz zusätzlich zum fachgerichtlichen Verfahren zu gewährleisten246.

243 244 245 246

Vgl. Zöller-Vollkommer (Fn. 7), § 321a Rn. 4; Musielak (Fn. 170), § 321a Rn. 6 und 14. Voßkuhle (Fn. 234), S. 2198. BVerfGE 107, 395, 416 = NJW 2003, 1924. BVerfGE 107, 395, 413 = NJW 2003, 1924, 1927; Vollkommer (Fn. 234), S. 1037.

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§ 5 Die gesetzlichen Vorgaben der richterlichen Entscheidungsfindung I. Maßgeblichkeit der Gesetzesbindung Die Bindung der Richter an vorgegebene Entscheidungsmaßstäbe ist Voraussetzung der Nachprüfbarkeit der Entscheidung und damit auch des Vertrauens der Rechtsunterworfenen in die Rechtspflege247. Sie ist die Kehrseite des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts und notwendiges Korrelat der zugleich verbürgten richterlichen Unabhängigkeit248. Vorgegeben als Entscheidungsmaßstab sind nach Art. 20 III Hs. 2 und 97 I Hs. 2 GG ausschließlich „Gesetz und Recht“. Eine Richterkontrolle in Anwendung der außerordentlichen Rechtsbehelfe setzt demgemäß voraus, dass der Rechtsstab in seiner Funktion als Kontrollorgan überhaupt imstande ist, die Gesetzmäßigkeit richterlichen Handelns unter Wahrung der Gesetzesbindung anhand des geltenden Rechts zu überprüfen, und zwar besonders im Hinblick auf die Beachtung der Verfahrensgrundrechte und des Willkürverbots. Hierbei ist er jedoch dem Dilemma ausgesetzt, dass die Gesetzesbindung ein Gebot darstellt, dem der Richter naturgemäß nicht immer voll gerecht zu werden vermag. Tatsächlich ist sogar eine zunehmende Relativierung der Bindung an Gesetz und Recht in der Rechtsprechung festzustellen, die den Rechtsstaat zu erodieren droht249. 1. Die Kontroverse Hassemer – Rüthers zur Bedeutung der Gesetzesbindung Mit dieser Problematik haben sich u. a. besonders Hassemer und Rüthers auseinandergesetzt, wobei ersterer den Diskurs mit folgender These begann: „Es ist offenbar widersinnig, entgegen den Erkenntnissen zur unaufhebbaren Vagheit und Porösität von Gesetzesbegriffen oder zum je differenten richterlichen Vorverständnis darauf zu beharren, der Richter müsse sich streng an das Gesetz halten. Er kann es nicht (Hervorhebung vom Verfasser). Konsequenz einer solchen, sich scheinbar rechtsstaatlich begründenden Forderung kann nicht sein, dass die Rechtsprechung sich nunmehr exakter an gesetzliche Vorschriften hält, sondern vielmehr, dass sie so tut, als folge sie nur dem Gesetz …“ 250.

Die Fallentscheidung – so ebenfalls Hassemer – sei nicht das Implikat des Gesetzeswortlauts und der Richter nicht der „Mund des Gesetzes“ im Sinne Montesquieus. Vielmehr sei allgemein anerkannt, dass der Richter rechtsschöpferisch mit dem Gesetz umgehe, zumal es auch keine Meta-Regel der Interpretationsregeln 247

259. 248

Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, in: Kaufmann/Hassemer/N. (Fn. 9), S. 251,

Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, 118, 123 f. U. a. Martin Beckmann, Effektiver Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten?, DVBl 19, 1172. 250 Hassemer (Fn. 249), S. 260; ders, Gesetzesbindung und Methodenlehre, ZRP 2007, 213. 249

§ 5 Die gesetzlichen Vorgaben der richterlichen Entscheidungsfindung

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gebe251. Ähnlich äußerte sich D. Simon252 in einem am 03. 11. 08 gehaltenen Vortrag an der Humboldt-Universität unter Bezugnahme auf den „Zwischenruf“ des ehemaligen BGH-Präsidenten G. Hirsch253, der reichlich gewagt den Richter als Interpret des Gesetzes mit einem „mehr oder weniger virtuosen Pianisten“ verglichen hatte, indem er auf Friedrich Müller und darauf verwies, dass die Norm, unter die es den Fall zu subsumieren gilt, erst mit ihrer Anwendung vom Richter erzeugt werde. Dieser habe „mit dem beunruhigenden Paradoxon zu leben …, dass er erst jene Bindung herstellt, an die gebunden zu sein er anschließend erklärt“. Das BVerfG habe es sogar ausdrücklich für zulässig erachtet, dass sich der Richter bei unmenschlichen Gesetzen unter Berufung auf das „überpositive Recht“ selbst über einen eindeutigen und gewollten Gesetzesbefehl hinwegsetzt. Der Imperativ der materiellen Gerechtigkeit sei in diesem Fall höher zu bewerten als die Geltung der geschriebenen Ordnung. Ausgehend von diesen Vorstellungen muss eine Richterkontrolle, welche die strikte Einhaltung des Bindungsgebots zum Ziele hätte, von vornherein an ihrer Undurchführbarkeit scheitern, da ein Verstoß gegen das Postulat der Gesetzesbindung kaum noch schlüssig zu begründen wäre. Wie Hillgruber unter Hinweis auf Rüthers und Jestaedt dargelegt hat, erlaubt jedoch „selbst eine erwiesene Unmöglichkeit effektiver Gesetzesbindung nicht, von ihr Abschied zu nehmen. Denn selbst wenn es sie nicht gäbe, müsste ihre Möglichkeit unter der Geltung des Grundgesetzes normativ unterstellt und somit „notfalls als Fiktion angesehen werden“254. D. h., gäbe es sie nicht, müsste sie ersonnen werden: „Auch die Einsicht, dass die Rechtsgewinnung ein mehrschichtiger, aus Rechtserkenntnis und sich anschließender Rechtserzeugung in Individualisierung und Konkretisierung der erkannten abstrakt-generellen Normen zusammengefasster Prozess ist, führt … nicht zu einer Lockerung oder gar Auflösung der Gesetzesbindung, sondern nötigt vielmehr zur präzisen Abschichtung der Erkenntnis- und Rechtssetzungsanteile an der rechtsprechenden 251

Hassemer (Fn. 248), S. 261 ff.; s. auch Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl. 2010, Rn. 704. 252 Simon, Vom Rechtsstaat in den Richterstaat?, Vortrag vor dem BAR Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit, HU Berlin, 2009, www.recht-und-wirklichkeit.de. 253 Hirsch, Der Richter wird’s schon richten, ZRP 2006, 161 und ZRP 2009, 61. Dazu kritisch u. a. Gregor Kirchhof, Höchstrichterliche Rechtsprechung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, DVBl 2011, 1068, 1070. 254 Hillgruber, Neue Methodik – Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung, JZ 08, 745; Dazu auch Kargl (Fn. 157), S. 852: „An dem Postulat der Gesetzesbindung kommt auch nicht vorbei, wer den Willen des Gesetzgebers ignorieren will und … die Möglichkeiten, Texte zu verstehen, geringschätzt.“ Ähnlich Röhl am 06. 03. 12 unter rsozblog. de/ (Postmoderne Methodenlehre I) gegen die Ansicht derjenigen, welche die Gesetzesbindung zur Fiktion erklärt haben: Richtig sei zwar, dass jede Heranziehung einer Norm als Entscheidungsgrundlage auf die Norm selbst zurückwirke und die Norm im Zuge ihrer Verwendung eine inhaltliche Veränderung erfahren könne. Weit überwiegend führe deren Anwendung jedoch zu ihrer Verfestigung. Demgegenüber erwiesen sich die auf Veränderung abzielenden Anwendungen als marginal. Wer die Vorstellung einer hierarchischen Überordnung des Gesetzgebers über den Richter aufgeben wolle, ignoriere die im Grundgesetz vorgesehene Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Richter.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation Tätigkeit des Richters. Richterliche ,Rechtsanwendung bedeutet Rechtsetzung in Bindung an bestehendes Recht‘.“

Mit wohl etwas überzogener Schärfe wandte sich dann auch Rüthers selbst gegen die von Hassemer, Hirsch und Simon vermeintlich hingenommene, wenn nicht gar befürwortete Verwässerung des Gesetzesbindungspostulats. Diese zeige sich darin, dass Recht „nicht von der Gesetzgebung, sondern in einem mehr oder weniger undurchsichtigen Diskurs zwischen Gesetzgebung, Rechtswissenschaft, Prozessparteien und Gericht geschaffen“ werde255. Hassemer kämpfe „noch gegen das verstaubte Bild des ,Richters als Subsumtionsautomaten‘ und den ,Traum von der juristischen Logik‘ im Sinne der Begriffsjurisprudenz“ (was sicherlich polemisch übertrieben sein dürfte). Unrichtig sei insbesondere dessen Behauptung, die Interessenjurisprudenz habe „mit der Freirechtsschule die Tendenz gemeinsam, die gesetzlichen Regulierungen gering zu achten“. Vielmehr treffe das Gegenteil zu. Die präzise, besonders strenge Definition der richterlichen Gesetzesbindung sei eines der Hauptanliegen Philipp Hecks gewesen. Eine kurze Stellungnahme Hassemers zu dieser harschen Kritik Rüthers findet sich in der Fußnote 25 dessen Beitrags zur Festschrift Jung: Man streite „niemals über das Postulat der Gesetzesbindung, sondern nur über den Weg, sie herzustellen“256. 2. Die Diskrepanz zwischen Herstellung und Darstellung der Entscheidung In diesem Zusammenhang stellt Hassemer die Frage nach dem Verhältnis von juristischer Methodenlehre und richterlicher Pragmatik und verweist auf den seit Hermann Isay257 zu beachtenden Unterschied zwischen Herstellung und Darstellung 255

Rüthers, Methodenfragen als Verfassungsfragen, Rechtstheorie 40 (2009), 253, 271. Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik (I), FS Jung, 2007, S. 231, 253 f.; ders, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik (II), Rechtstheorie 2008, 1 – 22. 257 H. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929. Isay, der zur Freirechtsschule gezählt wird, hatte die These aufgestellt, dass juristische Entscheidungen zunächst „durch konstruktive Phantasie und nachfolgendes Wertfühlen oder durch Intuition“ gefunden und erst nachträglich an einer Rechtsnorm kontrolliert und dadurch rationalisiert würden. Zugleich betonte er jedoch, dass die Erklärung des Vorgangs der Entscheidungsfindung „nicht der Psychologie zugewiesen werden“ dürfe, da dieser dadurch in den Bereich der Willkür und Unredlichkeit gedrängt werde. Diese These hat auch Luhmann vertreten (Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, 1966, S. 51): „Der Schluß vom Tatbestand auf eine Rechtsfolge ist für den Juristen die Endgestalt, in der einer sein Arbeitsergebnis präsentiert, nicht aber ein Abbild oder Modell seiner faktischen Entscheidungstätigkeit. Die logische Form hat eine Darstellungsfunktion. Die juristische Entscheidung wird mithin durch bestimmte Darstellungserfordernisse, nicht aber im Prozeß ihrer Herstellung gesteuert.“ Schließlich legte auch Esser (Fn. 69), S. 133 ff. dar, dass der Jurist, der einen Fall zu lösen habe, immer schon eine Vorstellung von der „gerechten“ Lösung mitbringe bevor er das Gesetz mit den herkömmlichen Methoden auslege. Erst danach werde über eine Richtigkeits- und Stimmigkeitskontrolle geprüft, ob die gefundene Lösung auch „konsensfähig“ und „plausibel“ sei. Die Richtigkeitskontrolle des Ergebnisses werde schon mit der ersten Anpeilung von potentiell hilfreichen Normen eingeleitet und nicht mehr außer Acht gelassen“ (S. 139). 256

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des richterlichen Urteils, also zwischen Rechtsfindung und Rechtfertigung der getroffenen Entscheidung258. Diese Frage beruht auf der Erkenntnis, dass das, was in den Urteilsgründen steht (Darstellung), nicht notwendigerweise das ist, was den Inhalt und das Ergebnis des Urteils produziert hat (Herstellung), dass also die Darstellung nicht den tatsächlichen Herstellungsprozess der Entscheidung wiedergibt, sondern konstruktiv ein deduktives Entscheidungsprogramm im Sinne eines Subsumtionsschlusses vorgibt, während die tatsächliche Entscheidungsherstellung induktiv und problembezogen erfolgt. Bezogen auf den Rechtsfindungsaspekt bleibt daher „das Gebot der Gesetzesbindung ebenso ein (nicht kontrollierbares) Postulat wie die Forderungen nach einer transparenten, auf Konsens angelegten Rechtsprechung oder einer ,offenen‘ Dogmatik“. Was dagegen den Rechtfertigungsaspekt betrifft, so meint Hassemer, dass insoweit die Funktion des Bindungsprinzips evident sei: „Bindung an das Gesetz“ bedeute danach, „dass der Richter sich in der Begründung seiner Entscheidung an Sprache, Problemdifferenzierung und Entscheidungsregeln des Gesetzes (soweit konkretisiert vorhanden) und an Richterrecht bzw. Rechtsdogmatik zu halten“ habe. Insofern sei „die Beachtung des Bindungspostulats auch kontrollierbar“. Die Beachtung sei „überdies Voraussetzung dafür, dass sich Richterrecht und Rechtsdogmatik konsistent fortentwickeln können“. Die Hoffnungen auf Regeldurchsetzung, wie sie die juristische Methodenlehre hege, seien in der Phase der Herstellung das reine Wunschdenken. Erst die Darstellungsphase mache „sichtbar, welche Pfade des methodologischen Regelwerks begangen, welche vielleicht übersehen und welche verlassen worden sind“. Die juristische Methodenlehre sei daher „eine Lehre nicht des Findens, sondern des Begründens richterlicher Entscheidungen unter dem Gesetz“259. Ganz in diesem Sinne macht auch Christensen verständlich, dass die Gesetzesbindung, die Recht von Willkür unterscheide, nicht „auf einen angeblich vorgegebenen Inhalt des Gesetzes bezogen“ sei, sondern „auf die Struktur eines Herstellungsprozesses“ und damit erst „im Prozess der Herstellung der Rechtsnorm verwirklicht“ werde260. Die Rechtsnorm sei dem Richter nicht vorgegeben, sie werde von ihm „hergestellt“. Aber er müsse sie „dem einschlägigen Normtext rechtsstaatlich kontrolliert zurechnen“. Inwieweit ergangene Urteile „den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung genügen“, sei anhand der Begründung zu untersuchen, „die zwischen Urteil, Gesetz und Verfahren vermitteln soll“. Als Instrumente der Untersuchung könnten dabei die juristische Methodik, die Argumentationstheorie und die Sozial- und Textwissenschaften dienen. Der Richter führe „keine theoretisch-kognitive Rechtserkenntnis durch“, vielmehr übe er „praktische Gewalt“ aus. Ob er legitime oder illegitime 258

Hassemer (Fn. 257), S. 268; ders., in FS Jung (Fn. 258), S. 252 ff. Hassemer (Fn. 257), S. 254. 260 Christensen, Die Paradoxie der Gesetzesbindung, in: Kent D. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, 2005, 1, 75 f. 259

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Gewalt ausübe, hänge davon ab, „ob er sich mit seiner Entscheidung innerhalb der Grenzen des Rechts hält oder nicht“. Höre er auf zu interpretieren und verwende er den Text „nur noch zu Machtzwecken“, übe er eine illegitime Gewalt aus, die demokratisch nicht mehr gerechtfertigt werden könne. Folglich sei „die methodische Abschichtbarkeit der Interpretation von machtfunktionaler Benutzung des Gesetzes … das Nadelöhr, durch das die Unterscheidung von gerechtfertigter und nicht mehr zu rechtfertigender staatlicher Gewalt hindurch“ müsse. Damit stehe „im Mittelpunkt juristischer Methodik die Frage, ob und wie in der praktischen Rechtsarbeit eine Grenze zwischen legitimer richterlicher Gewalt und illegitimer Machtanmaßung gezogen werden“ könne. Der Richter sei daher bei der Herstellung der Bedeutung der Rechtsnorm „nicht frei, sondern an die von den rechtsstaatlichen Vorgaben sanktionierten Standards einer Argumentationskultur gebunden“. Zwar habe ihm die Verfassung auch die Gewalt übertragen, „den methodologischen Konflikt verschiedener Interpretationsvarianten zu entscheiden. Dies jedoch nicht unbegrenzt, sondern erschwert durch die Vorgabe, in der Begründung darzulegen, dass und wie er seine Entscheidung am Normtext und den damit verbundenen methodisch operationalisierten Anschlusszwängen des juristischen Sprachspiels legitimieren kann“. Auch für Christensen ist somit entscheidend, ob es dem Richter im Einzelfall gelungen ist, in seiner Begründung den Bezug zum Normtext und zu den argumentativen Standards plausibel darzulegen. Denn „mit der Anforderung der Begründung als Sicherheit gegen subjektives Belieben ist … eine Schranke gegen Willkür gesetzt, welche die vom Richter ausgeübte Gewalt mindestens irritiert, indem sie sein Tun kontrollierbar macht“261. Es ist zu bedauern, dass das positive Recht wesentlich genauer die Darstellung der Entscheidungen regelt als deren Herstellung262, weshalb die offene und wahrheitsgemäße Darlegung der Bildung richterlicher Überzeugung häufig hinter der unkritischen Übernahme der höchstrichterlichen Rechtsprechung zurücktritt. Diese Gefahr verringerte sich jedoch bei erhöhten Anforderungen an die Urteilsbegründung.

II. Der Rechtsstab als Adressat von Verhaltens- und Sanktionsnormen 1. Unterscheidung Verhaltens- und Sanktionsnormen Entsprechend der regulativen und integrativen Funktion des Rechts unterscheidet die Rechtssoziologie nach Eugen Ehrlich zwischen den Primär- oder Verhaltensnormen einerseits und den Sanktions- oder Entscheidungsnormen andererseits263. Erstere richten sich als Bestimmungsnormen an den einzelnen Staatsbürger, um ihm ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben. Letztere sind als Sekundär- oder Reak261 262 263

Lerch, Recht verhandeln, in: ders. (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, (Fn. 305), S. XXIV. So Kühne DRiZ 1974, 114 f. Rehbinder (Fn. 7), Rn. 96; Röhl/Röhl (Fn. 8), § 26 I; Raiser (Fn. 8), S. 222.

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tionsnormen ausschließlich an die Judikative und die vollziehende Gewalt adressiert, also unmittelbar an den Rechtstab selbst. Durch sie wird diesem die Aufgabe zugewiesen, bei Nichtbeachtung der Verhaltensnormen gegen die Adressaten die dafür vorgesehenen Sanktionen festzusetzen. Damit wird die jeweils angewandte Vorschrift als faktisch wirksam bestätigt. Die allgemeinen Verhaltensnormen sind folglich den Sanktionsnormen vorgelagert und lassen sich im Gegensatz zu jenen keinem Rechtsgebiet zuordnen. Eine lex perfecta enthält daher zwei Komponenten, den Verhaltensbefehl des Gesetzgebers und die Sanktionsandrohung für den Fall der Zuwiderhandlung, wobei auch letztere als Befehl zu verstehen ist, nämlich als Anordnung, die Sanktion zu vollziehen. Die Sanktionsnormen fungieren dabei ihrerseits bezogen auf den Rechtsstab als spezielle Zielgruppe zugleich als Verhaltensnormen, nämlich insofern, als sie regeln, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall überhaupt von ihm Sanktionen gegen einen Delinquenten verhängt werden können oder müssen. 2. Auf die richterliche Spruchtätigkeit bezogene Verhaltensnormen Unmittelbarer Adressat der strafrechtlichen Sanktionsnormen ist also der Rechtsstab und nicht der Straftäter. Gerichtet sind sie an den Rechtsstab, weil sie diesen von ihrer Funktion her ermächtigen sollen, den Täter bei Vorliegen aller Sanktionsvoraussetzungen als solchen zu verurteilen. Vom Täter wird dabei nicht erwartet, dass er diese Voraussetzungen im Einzelnen kennt. Wie Frauke Rostalski zur Bestimmtheit der Sanktionsnormen gegen die Ansicht des BVerfG deutlich gemacht hat, muss durchaus nicht jedermann „vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist“264. Da die Verurteilung ein individuelles Fehlverhalten des zu Verurteilenden voraussetze, also einen Verstoß gegen Verhaltensnormen bestehend aus Ver- und Geboten, müsse er vielmehr lediglich über „die Einsicht in die Gründe verfügen, die gegen das jeweilige Verhalten sprechen“. Denn wäre die Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit eines Verhaltens Voraussetzung der Verurteilung, würden „erheblich zuweitgehende Anforderungen an die gesetzlichen Straftatbestände gestellt“. Art. 103 II GG diene „nicht der Freiheitsgewährleistung durch die Information über Verbot und Strafbewehrung spezifischer Verhaltensweisen“. Es genüge daher, wenn die von der Sanktionsnorm vorausgesetzte Verhaltensnorm mit ihren außerstrafrechtlichen Wertungen für den Täter hinreichend „verstehbar“ war. Dagegen sei „Adressat des Bestimmtheitsgrundsatzes, soweit es darin um die Formulierung von Strafgesetzen geht, der parlamentarische Gesetzgeber“ (dazu § 11 III. 1. b)). Bei einem Richter muss selbstverständlich die Kenntnis des durch § 339 StGB geschützten Rechtsguts und die darin vorausgesetzte Verhaltensnorm, nämlich Gesetz und Recht zu beachten, vorausgesetzt werden.

264 Rostalski, Bestimmtheit der Sanktionsnorm bei bestimmbarer Verhaltensnorm, RphZ 2018, 157 – 171 mit Hinweis auf BVerfG NJW 2010, 3209, 3210 und weiteren Nachweisen.

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a) Das Postulat der Gesetzesbindung als sekundäre Verhaltensnorm Das Bindungsgebot als die für den Richter maßgeblichste Verhaltensnorm wurde von den Verfassern des Grundgesetzes in Art. 97 I, Hs. 2 GG nur sehr knapp in die „sibyllinische Formel“ gefasst, die Richter seien unabhängig und „nur dem Gesetz unterworfen“ sind265. Obwohl durchaus verständlich ist diese höchst bedeutsame Vorgabe stilistisch insofern nicht ganz korrekt zum Ausdruck gebracht worden, als dort ohne ersichtlichen Grund die Statusbestimmung und die Verhaltensnorm in eine einzige Formulierung gezwängt wurden266. Der Vorrang des Gesetzes beinhaltet daher sowohl ein Anwendungsgebot als auch ein Abweichungs- bzw. Derogationsverbot, so dass der Richter das Gesetz, soweit er es nicht für verfassungswidrig hält, zwingend anzuwenden hat. Fraglich ist nur, inwieweit er dabei rechtsergänzend vorgehen kann, d. h. inwieweit seine Befugnis reicht, das Gesetz im Rahmen der Verfassung fortzubilden267. Dazu hat sich das BVerfG in einem Beschluss vom 25. 01. 11 zur unterhaltsrechtlichen Berechnungsmethode der „Dreiteilung“ des Familiensenats des BGH, die auf eine nicht mehr vertretbare Auslegung des § 1578 I 1 BGB gestützt wurde, klar wie folgt geäußert268 : Der Grundsatz der Gewaltenteilung schließe aus, „dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen.“ Richterliche Rechtsfortbildung dürfe nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt. Der Richter müsse die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und „den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen. Er [habe] hierbei den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung zu folgen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstell[e], keinen Widerhall im Gesetz [finde] und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt [werde, greife] unzulässig in die Kompetenzen des demokratischen legitimierten Gesetzgebers ein“ (vgl. BVerfGE 118, 212, 243 = NJW 2007, 2977).

265 Rüthers/Fischer (Fn. 38), Rn. 711; Rehbinder (Fn. 7), Rn. 21 mit Hinweis auf Ernst E. Hirsch, Die Bindung des Rechtsstabs an das Gesetz als Garantie des Rechtsstaats, in: ders., Rechtssoziologie für Juristen, 1984. 266 Die Konnexion beider Satzteile mittels zweier Konjunktionen unterschiedlicher Bedeutung, d. h. sowohl mit „und“ (Konjunktion) als auch mit „nur“ (restriktive Subjunktion), ist schief, da sie auch keine Parakonjunktion sein soll, Duden, Grammatik, 2016, Rn. 1734, 934, 937. 267 Siehe zur Verknüpfung von richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung Hassemer, Politik aus Karlsruhe, JZ 2008, 1, 5; ders. Gesetzesbindung und Methodenlehre, ZRP 2007, 213; sowie zur Beeinflussung der Rechtsweggarantie durch die Gesetzesbindung Meinhard Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 299 ff. 268 BVerfG NJW 2011, 836 (Tz. 53 f.); so schon u. a. BVerfGE 96, 375, 394 f.; 109, 190, 252.

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Der Vorrang des Gesetzes, der Grundsatz der Gewaltenteilung und der justiziable Gleichheitssatz untersagen dem Richter zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln. Die Grenze der Rechtsfortbildung zu „ausbrechenden Rechtsakten“ der richterlichen Spruchtätigkeit ist jedenfalls dann überschritten, wenn sich der Richter aus der Rolle des Normanwenders heraus in die einer normsetzenden Instanz begeben und sich damit der Bindung an Recht und Gesetz entzogen hat269. Daher darf sich das Gericht aufgrund seiner Justizgewährungspflicht im Einzelfall nur dann als Ersatzgesetzgeber betätigen, wenn der Gesetzgeber unter Verletzung des Parlamentsvorbehalts auf eine notwendige Regelung verzichtet hat, um sie der Rechtsprechung zu überlassen270. Was im Schweizer Zivilgesetzbuch in Art. 1 Abs. 2 und 3 ausdrücklich geregelt ist, entspricht im deutschen Recht in etwa der sog. Schumann’schen Formel, wonach in solchen Fällen bei der Anfechtung von Gerichtsurteilen zu prüfen ist, ob ein Richterspruch seinem Inhalt nach vom Gesetzgeber als Norm hätte erlassen werden dürfen271. Dabei wird allerdings verkannt, dass die Judikative im Vergleich zum Gesetzgeber einer engeren Normbindung unterliegt, da sie nach Art. 20 III GG auch an das einfache Gesetz gebunden ist, während die Legislative im Rahmen der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative inhaltlich nur die Vorgaben der Verfassung zu beachten hat272. b) Spezielle Verhaltensnormen bezogen auf die richterliche Spruchtätigkeit Die Verfahrensgrundrechte sind nach dem Plenarbeschluss des BVerfG vom 30. 04. 03 dadurch gekennzeichnet, dass dem Verstoß gegen sie Allgemeinbedeutung i. S. der Revisionszulassungsgründe zukommt. Konkrete Sollensanordnungen bezogen auf die richterliche Spruchtätigkeit enthalten neben § 286 ZPO die Art. 3 I GG (Willkürverbot), Art. 101 I 2 GG (gesetzlicher Richter), Art. 103 I GG (Garantie des rechtlichen Gehörs) und Art. 103 II und III GG (Analogieverbot, Rückwirkungsverbot und ne bis in idem). Weniger konkret geregelt sind dagegen der Anspruch auf 269 Die Entscheidung haben u. a. sowohl Rieble, Richterliche Gesetzesbindung und BVerfG, NJW 2011, 819, als auch Rüthers, Klartext zu den Grenzen des Richterrechts, NJW 2011, 1856, kommentiert. Rieble will trotz des klaren Wortlauts der Begründung eine „familienpolitische Intervention des BVerfG“ nicht ausschließen, der die Beanstandung des Verstoßes gegen die Gesetzesbindung nur als Vorwand diente, und zweifelt daher an der Entschlossenheit des BVerfG, den „strengen Bindungs-Maßstab“ dessen Beschlusses auch in künftigen Fällen zugrunde zu legen. Denn schon zu häufig habe sich das BVerfG bedenkenlos selbst über die Gesetzesbindung hinweggesetzt, obwohl es diese ebenso zu beachten habe. Davon abgesehen sei die Dreiteilungsmethode des BGH „nicht greifbar gesetzwidrig“ gewesen. Dagegen stimmt Rüthers dem Beschluss vorbehaltslos zu, ohne die Bedenken Riebles zu teilen. Die Theorien, wonach die Gesetzesbindung der Gerichte ein „unerfüllbarer Traum“ sei, hätten sich damit für die Gerichtspraxis in der Bundesrepublik erledigt. 270 Dazu Rüthers/Fischer (Fn. 38), Rechtstheorie, Rn. 832 ff., 850 ff., 878 – 887; v. Münch/ Kunig, Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 97 Rn. 23 – 25. 271 Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, 1969, S. 206 f. 272 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 28. Aufl 2012, Rn. 1283.

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effektiven Rechtsschutz273, das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren innerhalb angemessener Zeit, das aus Art. 2 I GG in Verb. mit Art. 20 III GG (sowie Art. 6 I EMRK, 47 II GRC) abgeleitet wird274, und das Gebot der Waffengleichheit. Wie der Anspruch auf ein faires Verfahren ist auch das Gebot der Waffengleichheit eng mit der Garantie des rechtlichen Gehörs verbunden. Die EMRK rechnet diese Garantie zum fair-trial-Grundsatz. Die Rechtsgleichheit und das Willkürverbot sind „grundlegende Gerechtigkeitspostulate“ i. S. des Art. 79 III GG. c) Das ungeschriebene Gebot der Unterlassung elementarer Rechtsverstöße Als das durch § 339 StGB geschützte Rechtsgut gilt wie gesagt herrschend die innerstaatliche Rechtspflege in Form der staatlichen wie vom Staat anerkannten richtigen und unparteiischen Rechtsprechung, die auch vor Fehlgriffen ihrer eigenen berufenen Vertreter von innen zu schützen ist. Der Schutz der Rechtspflege zielt dabei in zwei Richtungen: Er dient zum einen dem Interesse des Staates als Gesetzgeber dahin, dass die Richter als Vertreter der Judikative dem Grundsatz der Gesetzesgebundenheit entsprechend agieren, und zum anderen dem Schutz des Interesses der rechtssuchenden Bürger dahin, dass die Richter und Amtsträger bei ihrer Spruchtätigkeit jegliche Rechtsbeugung unterlassen275. Die der Norm zugrundeliegende, an den Rechtsstab gerichtete Sollensanordnung, Rechtsbeugungen zu unterlassen, erfasst jedoch nur einen speziellen Teilaspekt einer weitaus umfassenderen ungeschriebenen Verhaltensnorm, die dem Postulat der Gesetzesbindung der Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG zugrunde liegt. Diese ist ebenso unmittelbar an den Richter als Adressaten gerichtet, wird in Art. 3 I GG als faktisch geltend vorausgesetzt und besagt ganz konkret im Sinne der Eidesformel des § 38 DRiG sowie der beamtenrechtlichen Vorschriften der §§ 46 DRiG mit 54 BBG, dass jener bei seiner Spruchtätigkeit nicht nur jede strafbewehrte Verletzung von Amtspflichten zu unterlassen hat, sondern überhaupt jede greifbare Gesetzwidrigkeit und damit auch jeden Verstoß gegen die Verfahrensgrundrechte. Geschützt wird durch diese generelle sekundäre Verhaltensnorm als Korrelat der Gesetzesbindung noch wesentlich umfassender als durch die speziellen Verbote, die den Strafvorschriften der §§ 339, 332 II und 344 StGB zugrunde liegen, die Rechtsordnung als ganze, nämlich zum einen als von Verfassungswegen den Richtern anvertraute Kontrolle staatlicher Macht (Art. 92 GG) und zum anderen als Legitimationsgrund der Rechtsgeltung schlechthin276. Geschütztes Rechtsgut dieser Verhaltensnorm ist somit das Vertrauen der Allgemeinheit in die Unparteilichkeit und Willkürfreiheit bei der Leitung und Entscheidung von Rechtssachen277. Sie zielt ab auf die Sicherung und Wahrung der 273

Dazu Zöller-Vollkommer (Fn. 7), Einl. Rn. 47 – 51 und 100. BVerfG NJW 1991, 3140; 2004, 2887; 2008, 2243; Michael/Morlok (Fn. 133), Rn. 905. 275 LK-Hilgendorf (Fn. 41), § 339 Rn. 8. 276 Fischer, StGB (Fn. 21), Rn. 2. 277 MK-Uebele, StGB, 3. Aufl. 2006, § 339 Rn. 1, mit Hinw. auf Bemmann/Seebode/ Spengler (Fn. 21). Soweit der BGH in BGHSt 10, 294, 298 noch davon ausging, dass „die 274

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Verantwortlichkeit des Richters und die Achtung von Recht und Gesetz auch durch diesen selbst und ist damit das Gegenstück zur richterlichen Unabhängigkeit. Die Tatsache, dass diese Sollensanordnung nicht ausdrücklich kodifiziert wurde, bedeutet keineswegs, dass es sie nicht gibt. Denn es kommt sogar sehr häufig vor, so vor allem im Strafrecht, was gerade § 339 StGB zeigt, dass die Verhaltensnorm, die eigentlich teleologisch die Hauptsache bildet, nur mittelbar aus der sie ergänzenden Sanktionsnorm erschlossen werden kann: „Obwohl die Verhaltensnormen als solche nicht ausdrücklich ausgesprochen werden, sind sie doch die selbstverständliche Voraussetzung der Sanktionsnormen und damit Inhalt des Strafgesetzes selbst“278. Solche ungeschriebenen Verhaltensnormen lassen sich aber nicht nur aus den Vorschriften des Strafgesetzbuchs ableiten. Denn nicht jedes Verhalten, das von der Rechtsordnung missbilligt wird, muss zwangsläufig strafbar sein. Daher lässt auch die verfassungsrechtliche Garantie der Integrität der Rechtspflege durchaus den Rückschluss zu, dass dieser Garantie die Verpflichtung des Rechtsstabs zugrunde liegt, überhaupt alles zu unterlassen, was als greifbare Gesetzwidrigkeit oder gar elementarer Rechtsverstoß zu bewerten ist, ohne dass dies auf einem Zirkelschluss beruht. Für den Rechtsschutz entscheidend ist jedoch letzten Endes, ob diese Sollensanordnung auch konsequent durch eine auf sie bezogene Sanktionsnorm zu einer lex perfecta ergänzt wurde.

III. Abgrenzung der Begriffe Rechtsschutz, Kontrolle und Sanktion Vor der weiteren Darlegung bedarf es noch kurz der Erläuterung, mit welchem Bedeutungsgehalt hier die Begriffe Rechtsschutz, (Richter-)Kontrolle und Sanktion verwendet werden279. Dabei ist zu fragen, ob die außerordentlichen Rechtsbehelfe der Prozesspartei bei Verletzung eines Verfahrensgrundrechts in einem nicht mehr rechtsmittelfähigen Verfahren nur eine letzte ungewisse Möglichkeit eröffnen, vom judex a quo effektiven Rechtsschutz einzufordern, oder ob sie ihr etwas weitaus Angemesseneres bieten, nämlich das formelle Recht, einen ihr gegen die Judikative zustehenden subjektiv-öffentlichen Folgenbeseitigungsanspruch geltend zu machen280, also von dieser die Wiedergutmachung des ihr zugefügten judikativen Unrechts in Form der Korrektur der angegriffenen Entscheidung zu verlangen. Nur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit das durch § 336 erstrebte Ziel“ sei, traf dies gerade nicht zu, vgl. LK-Hilgendorf (Fn. 40), § 339 Rn. 89. In der Schweiz bildet die Rechtsbeugung lediglich einen Unterfall des Missbrauchs der Amtsgewalt gem. Art. 312 schweizerisches StGB, vgl. Schmidt-Speicher, Hauptprobleme der Rechtsbeugung, 1982, S. 113. 278 Röhl/Röhl (Fn. 8), § 26 III. 279 Zur Begriffsbildung Barczak, Rechtsbegriffe als Elementarteilchen jur. Methodik, JuS 2020, 905. 280 Dazu Grzeszick, Grundrechte und Staatshaftung, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte Bd. III, Allg. Lehren II, 2009, § 75 Rn. 39 ff. Einen „ungeschriebenen Beseitigungsanspruch“ gegen judikatives Unrecht leitet auch Rupp, Ungeschriebene Grundrechte unter dem Grundgesetz, JZ 2005, 157, 159, aus den Art. 19 IV und 93 I Nr. 4a GG ab.

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wenn sich der Richter darüber im Klaren ist, dass es sich bei jenen Rechtsbehelfen nicht um bloße Petitionen im Sinne des Art. 17 GG handelt, wird er sich zu einer ernsthaften Selbstkontrolle bereitfinden. Gerade die Verletzung der Verfahrensgrundrechte stellt einen derart schwerwiegenden Rechtsverstoß dar, dass es gerechtfertigt erscheint, die Anhörungsrüge und die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO als Instrumente zu verstehen, mit denen der Gesetzgeber die Prozessparteien befähigen wollte, vom judex a quo die Durchführung eines Abhilfe- bzw. Restitutionsverfahrens als förmliche Sühneaktion des Justizapparats ihnen gegenüber fordern zu können. Andernfalls wäre in diesen Fällen die Durchbrechung der Rechtskraft der Entscheidungen auch kaum zu rechtfertigen. 1. Rechtsschutz: Rechtsschutz ist der von den Gerichten gewährleistete Schutz der Rechtsgüter des Einzelnen gegen Gefährdung und Verletzung in besonderen von der Rechtsordnung bereitgestellten Verfahren. Er stellt eine staatliche Leistung dar, deren Voraussetzungen erst geschaffen, deren Art näher bestimmt und deren Umfang im Einzelnen in den jeweiligen Verfahrensordnungen festgelegt werden müssen, und ist damit essentieller Bestandteil des Rechts selbst281. Strittig ist nicht der Begriff, der sowohl „Kontrolle“ als auch „Sanktion“ beinhaltet, sondern Inhalt und Umfang des Rechtsschutzes. Dass dem Betroffenen überhaupt von staatlicher Seite gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung gestellt wird, garantieren Art. 19 IV GG und der allgemeine Justizgewährungsanspruch als Leistungsrecht, wobei diese Garantie nicht nur die Bereitstellung von Rechtsschutz schlechthin, sondern auch die angemessene gesetzliche Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens umfasst, die einen effektiven Rechtsschutz sicherstellen soll. Damit ist der Justizgewährungsanspruch in zivilgerichtlichen Verfahren auch Rechtsgrundlage für das verfassungsrechtliche Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes282. Im Übrigen gilt bezogen auf den vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung verneinten Anspruch auf einen Instanzenzug, was Ekkehard Schumann zu der These zusammenfasste: „Zwar gibt es kein Grundrecht auf Rechtsmittel in jedem Fall, aber der Bürger hat einen verfassungsrechtlich abgesicherten und mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbaren Anspruch auf ein am Gleichheitssatz und am Übermaßverbot orientiertes, sachgerechtes … Rechtsmittelsystem“283. Ähnlich meint Gilles, dass das Rechtsstaatsprinzip „nach einer Kontrolle auch der sich im richterlichen Urteilsspruch manifestierenden rechtsprechenden Gewalt“ verlange, und es deshalb „gegen jeden in der Streitsache erstmals entscheidenden Rechtsprechungsakt von einiger Bedeutung zumindest ein – wie auch immer geartetes – Kontroll- bzw. Anfechtungsmittel geben müsse“284. Das schließe eine sachgerechte Beschränkung des Rechtsmittelsystems als Ganzes ebenso wenig aus wie bestimmte Restriktionen bezüglich der Einzelbehelfe.

281 282 283 284

BVerfG NJW 2007, 2464, Tz. 169 (autom. Kontenabruf); BVerfGE 37, 231, 148. BVerfGE 97, 169, 185 = NJW 1998, 1475; BVerfGE 107, 395. Dazu unten § 4 III. 1. a). Ekkehard Schumann, Rechtsmittel, in: Gilles (Hrsg.) Rechtsmittel, 1985, S. 268 f. Gilles (Fn. 52), JZ 1985, 253.

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2. Kontrolle: Der Begriff Kontrolle wird nicht einheitlich verwendet. Synonyme Begriffe sind Prüfung, Aufsicht und Überwachung. Rechtsschutz und Kontrolle bedingen einander. Kontrolle ist als Teil jedes staatlichen Entscheidungsprozesses darauf gerichtet, durch Rationalisierung dieses Prozesses die inhaltliche Sachrichtigkeit der Entscheidung zu erhöhen. Sie bringt weniger das personale Moment der Beaufsichtigung als vielmehr einen Soll-Ist-Vergleich zum Ausdruck. Gerichtliche Kontrolle ist Rechtmäßigkeitskontrolle, denn Rechtmäßigkeit ist der Kontrollmaßstab und zugleich die Zielvorgabe285. Indem sie auf eine etwaige Korrektur einer richterlichen Entscheidung gerichtet ist, liegt ihre Besonderheit in der Verbindung von Kontrolle und Gewährung subjektiven Rechtsschutzes für den rechtsunterworfenen Bürger. Üblicherweise wird damit das Kontrollorgan zur zweiten, oberen und somit eigentlichen Handlungsinstanz. Die mit der Kontrollaufgabe beliehene Instanz sollte grundsätzlich nicht am zu kontrollierenden Handeln beteiligt sein und deshalb die nötige Unabhängigkeit zur Kontrolle besitzen. Es herrscht das Prinzip der Trennung von Kontrolle und Einleitung von Sanktionen286. Nur eine externe, aus der Distanz ausgeübte Kontrolle gilt als echte Kontrolle, obwohl auch sie mit Nachteilen verbunden sein kann, soweit ihr der genaue Einblick in das zu kontrollierende Geschehen fehlt. Zum Zwecke der Überprüfung bereits rechtskräftig gewordener Entscheidungen ist im Gesetz jedoch keine externe, ausschließlich zur Kontrolle berufene Instanz vorgesehen. Was in den Verfahren nach §§ 321a V I, 590 I ZPO stattfindet, ist nur eine justizinterne und sogar nur instanzinterne Kontrolle. Im Gegensatz zur Kontrolle der Exekutive und Legislative erfolgt die Kontrolle der Judikative daher nur durch sie selbst. Das BVerfG mit Erfolg anzurufen, hängt vom Vorliegen zahlreicher spezifischer Voraussetzungen ab (§ 23 I 2 BVerfGG), deren Nachweis meist schon nicht ausreicht, das Annahmeverfahren nach § 93a I BVerfGG zu überstehen287. Insofern bestimmt das BVerfG als unkontrollierbarer Kontrolleur selbst den Umfang und die Grenzen seines Kontrollauftrags und den Inhalt der Kontrollnormen288. Von 1951 bis 2010 wurden insgesamt 160.995 Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen eingereicht289, die rund 97 % aller Verfahren beim BVerfG ausmachten. Da das BVerfG 285

Püttner, Verwaltungslehre, 3. Aufl. 2007, § 21 Rn. 56 ff. Püttner (Fn. 287), S. 276. 287 Klein/Sennekamp, Aktuelle Zulässigkeitsprobleme der Verfassungsbeschwerde, NJW 07, 945 ff.; Papier, Das Verhältnis des BVerfG zu den Fachgerichtsbarkeiten, DVBl 2009, 473. 288 Hillgruber, Ohne jedes Maß? Eine Kritik der Rechtsprechung des BVerfG nach 60 Jahren, JZ 2011, 861, 862. Dazu heißt es sehr deutlich auch bei Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 28. Aufl. 2012, unter der Rn. 1282: „Letztlich gilt, dass das BVerfG überprüft, was es überprüfen will, und was es nicht überprüfen will, nicht überprüft.“ 289 Vgl. www.bverfg.de/organisation/gb2010/A-I-5.html. Siehe auch Jestaedt, Der Europäische Verfassungsgerichtsverbund in (Verkehrskenn-)Zahlen, JZ 2011, 872, 875. Im Jahr 2019 wurden von 4891 Urteilsverfassungsbeschwerden 4793 durch Nichtannahmebeschlüsse der Kammern, davon 68 Stattgaben, erledigt, und der Rest von den Senaten sowie durch Rücknahmen etc., davon 7 erfolgreich. Erfolg hatten somit nur 1,54 %. Im Jahr 2011 waren es 5824 Eingänge, was den Präsidenten des BVerfG dazu veranlasste anzukündigen, dass das 286

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nach Belieben Beschwerden ablehnen darf und diese Entscheidungen nicht einmal zu begründen braucht290, meint K. E. Heinz291 sicherlich nicht zu Unrecht, dass insoweit das Rechtsstaatsprinzip zumindest für den Bereich des BVerfG „praktisch außer Kraft gesetzt“ werde. 3. Sanktion: Von der Kontrolle streng zu unterscheiden ist der Begriff der Sanktion als die aus einem negativen Kontrollergebnis zuziehende Konsequenz. Sanktionen in ihrer negativen Ausprägung werden definiert als diejenigen Mittel, mit denen eine Norm gegenüber abweichendem Verhalten zur Geltung gebracht wird. Ihr Zweck besteht darin, die durch den Normbruch entstandene Störung der sozialen Ordnung aufzuheben. Üblicherweise wird der Begriff im Strafrecht verwendet. Verstöße gegen zwingende Normen des Zivilrechts haben jedoch keine Bestrafung zur Folge, sondern ggf. Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit. Aus diesem Grunde sollte der Sanktionsbegriff dahingehend erweitert werden, dass er auch jene Rechtsfolgen erfasst292. Schon Emile Durkheim unterschied zwischen repressiven und restitutiven Sanktionen. Während mit den repressiven Sanktionen dem Normbrecher eine Sühnehandlung auferlegt wird, soll mit den restitutiven Sanktionen erreicht werden, dass der frühere Zustand wiederhergestellt (restitutio in integrum), der entstandene Schaden ausgeglichen und dem Verletzten Genugtuung verschafft wird. Letzteres entspricht auch dem Zweck, den der Gesetzgeber zunächst mit der Restitutionsklage und dann mit der Anhörungsrüge verfolgte. Zu bedenken ist jedoch dabei, dass der Richter bei seiner Spruchtätigkeit in seiner Funktion als Träger der Rechtsprechung handelt. Durch bloße Repressalien gegen ihn selbst kann der dem Opfer seines Fehlverhaltens zugefügte Schaden von vornherein nicht ausgeglichen werden. Als Objekt möglicher Sanktionen zum Zwecke der Sicherstellung der Sachrichtigkeit des Entscheidens kommt daher allein der Rechtsstab als solcher in Betracht. Denn die vom Richter getroffene Entscheidung ist die des Gerichts und nicht die des Richters persönlich und verantwortlich für dessen Fehlverhalten ist gemäß Art. 34 GG ohnehin der Staat als dessen Dienstherr. Die Bestrafung oder auch nur Disziplinierung des Richters selbst wäre demgegenüber sekundär. Dennoch hat der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Restitutionsklage wegen Rechtsbeugung gemäß §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO mit 339 StGB ausdrücklich von dessen Verurteilung abhängig gemacht. Daher kommt es darauf an, ob dem Betroffenen bei hinreichendem Tatverdacht auch ein subjektives Recht gegen den Rechtsstab zusteht, dass gegen den Richter Anklage erhoben wird. Diese Frage wird im Zusammenhang mit der Darstellung der Probleme des Klageerzwingungsverfahrens zu erörtern sein. Gericht künftig offensichtlich erfolglose Beschwerden herausfiltern und den Beschwerdeführern eine „Mutwillensgebühr“ auferlegen wolle (dazu Zuck, NVwZ 2012,1292). 290 Siehe zu den drei möglichen Funktionen der Sanktion Rehbinder (Fn. 7), Rn. 99. 291 K. E. Heinz, Die Stellung des Bürgers nach Art. 17 GG, Recht und Politik, 2011, 28. 292 Renzikowski, Die Unterscheidung von primären Verhaltens- und sekundären Sanktionsnormen in der analytischen Rechtstheorie, FS Gössel, 2002, S. 3, 13; Raiser (Fn. 8), S. 221 ff.

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IV. Das Entscheidungsverhalten des Richters im Kernbereich seines Wirkens (der Spruchtätigkeit) als Sanktionsgegenstand Auch soweit der Rechtsstab aktiv Kontrollorgan ist, kann er als Adressat der an ihn gerichteten Verhaltens- und Sanktionsnormen passiv Objekt einer Untersuchung sein, die darauf gerichtet ist festzustellen, inwieweit er seine Kontrollaufgaben gegenüber den Berufskollegen tatsächlich wahrgenommen hat. Zweifelsohne ist der Rechtsstab insoweit auch kontrollbedürftig. Es fehlt aber an einer externen Institution, deren Aufgabe es wäre, die Ordnungsmäßigkeit der originär wahrzunehmenden Aufgaben des Rechtsstabs zu überwachen. 1. Bedeutung und Funktion der sekundären Sanktionsnormen Sanktionsnormen können vom Rechtsstab auch rechtsmissbräuchlich angewandt werden, was es zu verhindern gilt. Folglich muss es auch Sanktionsnormen geben, die wiederum gegen den Richter selbst gerichtet sind und in denen festgelegt ist, was zu geschehen hat, wenn dieser gegen die ihn betreffenden Verhaltensnormen (als primäre Sanktionsnormen) maßgeblich verstoßen haben sollte. D. h., die sekundären Normen benötigen ihrerseits aus denselben Gründen wie die primären Verhaltensnormen einen Überbau aus sekundären Gesetzen. Gemeint sind damit die sog. sekundären Sanktionsnormen293. Allein um diese für die Beschreibung (und Kontrolle) des richterlichen Entscheidungsverhaltens eminent wichtigen sekundären Sanktionsnormen geht es im vorliegenden Zusammenhang. Denn einerseits muss der Rechtsstab als Kontrollorgan hinreichend mit Sanktionspotential ausgestattet sein, um die Kontrolle sicherzustellen, andererseits sollten aber auch seine Eingriffsmöglichkeiten begrenzt sein, um etwaigem Machtmissbrauch der Judikative im Umgang mit den Sanktionsnormen gegenüber den Rechtsunterworfenen vorzubeugen. Das aber lässt sich nur dadurch erreichen, dass auch der Rechtsstab selbst bei der Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe mittels sekundärer Sanktionen in Schranken gehalten wird294. Fraglich ist nur, wo diese selten auftretenden partikularen Normen, die gemäß ihrer repressiven Funktion der Restitution judikativen Unrechts dienen, überhaupt im Gesetz verborgen sind295. Zu suchen sind also Vorschriften, in denen festgelegt wurde, unter welchen Voraussetzungen Sanktionen gegen den Justizapparat selbst zu verhängen sind, sollte in nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren der Richter als Organ der Rechtspflege gegen bestimmte, sein Entscheidungsverhalten regelnde Verhaltensnormen verstoßen haben. Um diese sekundären Sanktionsnormen ausfindig zu machen, ist auszugehen von den zuvor genannten geschriebenen 293

Renzikowski, Die Unterscheidung von primären Verhaltens- und sekundären Sanktionsnormen in der analytischen Rechtstheorie, FS Gössel, 2002, S. 3, 13; Röhl/Röhl (Fn. 8), § 26 I. 294 Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, 1980, S. 48 ff. 295 Raiser (Fn. 8), S. 164, 232.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

und ungeschriebenen Verhaltensnormen, die das richterliche Entscheidungsverhalten betreffen, da erst nach Ermittlung der sich aus ihnen ergebenden Pflichten festgestellt werden kann, ob das Gesetz überhaupt derartige Sanktionsnormen für den Fall deren Verletzung enthält. Damit sie als solche erkannt werden, sind folglich die zuvor genannten, an den Rechtsstab adressierten (sekundären) Verhaltensnormen darauf zu überprüfen, ob es sich bei ihnen um sanktionslose Rechtsnormen handelt, also um leges imperfectae mit lediglich starkem symbolischen Gehalt, die zwar einen Normadressaten, einen Tatbestand und eine Sollensanordnung aufweisen, nicht aber auch eine Rechtsfolgeanordnung296, oder ob sie unvollständige Normen297 darstellen, die vom Gesetzgeber lediglich aus Gründen der Gesetzestechnik unvollständig belassen wurden, um sie an anderer Stelle des Gesetzes umso besser komplettieren zu können. Im ersten Fall würde schon von vornherein die Verhängung von Sanktionen gegen den Rechtsstab entfallen. Dagegen müsste sich im zweiten Fall die fehlende Rechtsfolgeanordnung aus einer sich an anderer Stelle im Gesetz befindlichen Vorschrift ergeben. Ihr müsste sowohl entnommen werden können, unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte, offenkundig gegen das Bindungsgebot verstoßende richterliche Verhaltensweise als entweder rechtsfehlerhaft, unvertretbar, rechtsmissbräuchlich oder gar als kriminell zu bewerten ist, als auch, welche Maßnahmen der Rechtsstab zum Zwecke der Restitution des judikativen Unrechts zu treffen hat, falls dieses Fehlverhalten die spezifischen Voraussetzungen für die Verhängung der Sanktion erfüllt haben sollte. 2. Sanktionierung der Missachtung des Postulats der Gesetzesbindung? Was zunächst die Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG als Verhaltensnormen anbelangt, so spricht der erste Anschein dafür, dass es sich bei ihnen um sanktionslose Normen handelt. Denn es bietet sich keine Vorschrift an, die unmittelbar bezogen auf das Bindungsgebot als Rechtsfolgeanordnung für den Fall dessen Missachtung erkennbar wäre. Die Verletzung des Art. 20 III GG kann demzufolge nach allgemeiner Ansicht nicht mit der Verfassungsbeschwerde angefochten werden. Mit einem bloßen Rechtsanwendungsfehler ist eine solche jedenfalls nicht zu begründen. Vielmehr bedarf es dazu stets einer „spezifischen Verfassungsverletzung“, wonach der Einfluss der Grundrechte bei der Auslegung des einfachen Rechts grundlegend verkannt worden sein muss298. Genauer betrachtet ist jedoch festzustellen, dass die Rechtsordnung durchaus eine solche auf jene Verhaltensnormen bezogene, ungeschriebene sekundäre Sanktionsnorm enthält, nämlich den aus Art. 3 I GG abgeleiteten allgemeinen Gleich296 Zu ihnen zählten bis zur ZPO-Reform 2002 die Hinweis- und Erörterungspflichten aus §§ 139 und 278 II 2 ZPO. Deren Verletzung gilt als Verfahrensfehler wegen Verstoßes gegen Art. 103 I GG, der nunmehr mit der Anhörungsrüge und nach Rechtswegerschöpfung mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar ist (Zöller-Greger (Fn. 7), § 139 Rn. 20). 297 Röhl/Röhl (Fn. 8), § 25 V sowie § 27 II. 298 BVerfGE 1, 418, 429; 4, 1, 7; 18, 85, 92 f.; ständige Rechtsprechung.

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heitssatz. Denn nachdem unstreitig die Gleichheit „vor dem Gesetz“ die Gleichheit bei der Anwendung des Rechts umfasst, übernimmt insoweit jener Gleichheitssatz als Auffangrecht die Funktion der Sanktionsnorm, indem er als subjektiv-grundrechtliches Pendant zur objektiv-rechtlichen Bindung der Judikative an „Gesetz und Recht“ nach Art. 20 III GG der Durchsetzung der Rechts- und Gesetzesbindung dient299. Folgerichtig steht dem Betroffenen als Normbenifiziar zur Realisierung seines daraus folgenden subjektiven Rechts auch die Klageberechtigung zu300, wenn auch nur in Form der Verfassungsbeschwerde mit all den Einschränkungen, die nach Art. 93 I Nr. 4a GG und dem BVerfGG mit diesem Rechtsbehelf verbunden sind. Hier kann nur das BVerfG kontrollieren, ob das Fachgericht die gesetzgeberische Grundentscheidung bei der Rechtsanwendung oder -fortbildung respektiert hat, ob also die zur Begründung der Entscheidung angestellten Erwägungen erkennen lassen, dass es objektiv nicht bereit war, sich Recht und Gesetz zu unterwerfen. 3. § 26 DRiG als Sanktionsnorm das sonstige richterliche Verhalten betreffend Was das abweichende Verhalten des Richters bei seiner Spruchtätigkeit anbelangt, käme, als – repressive – Sanktionsnorm grundsätzlich auch die Vorschrift des § 26 DRiG in Betracht, welche die Dienstaufsicht über die Richter regelt. Nach allgemeiner Ansicht bezieht sich diese Norm jedoch ganz im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung des preußischen Großen Disziplinarsenats, der die Disziplinierung des Richters auch im Falle einer Pflichtwidrigkeit bei dessen Spruchtätigkeit für zulässig erklärte301, schon von vornherein nicht auf die Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG etc. bzw. auf das in diesen Artikeln normierte Postulat der Gesetzesbindung. Vielmehr ist anerkannt, dass sie nur das außerdienstliche Verhalten des Richters und dessen besondere Pflichten nach §§ 38 ff. DRiG und dem BBG betrifft und damit nicht auch den von der Garantie des Art. 79 I GG umfassten „Kernbereich“ der richterlichen Tätigkeit, die Spruchtätigkeit302. Dies hat zur Folge, dass die Dienstaufsicht gezwungen ist, auch solche Beschwerden abzuwehren, die an sich aufgrund offensichtlicher Kunstfehler des Richters berechtigt wären 303. Dazu wird von Schmidt-Räntsch – allerdings ziemlich vage – Folgendes ausgeführt: Bei der Beaufsichtigung des Verhaltens der Richter innerhalb der richterlichen Tätigkeit sei die Dienstaufsicht „eng begrenzt“. Die durch die Unabhängigkeit gekennzeichnete Stellung des Richters lasse eine uneingeschränkte Disziplinierung von Pflichtwidrigkeiten bei einer richterlichen Entscheidung nicht zu. Zwar könne der Rechtssuchende erwarten, dass ein pflichtgemäß handelnder Richter nach bestem Wissen und Gewissen seine Sache entscheidet. Eine volle disziplinarische Verant299 300 301 302 303

Michael/Morlok (Fn. 131), Rn. 753 und 783. Dazu Röhl/Röhl (Fn. 8), § 46. Schmidt-Räntsch, DRiG, 6. Aufl. 2009, vor § 63 Rn. 15. BGHZ 42, 163, 169 f.; 67, 184, 188; 90, 41, 45. Röhl, Fehler in Gerichtsentscheidungen, Die Verwaltung, Beiheft 5, 2002, S. 23.

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Teil 1: Aufgabenstellung und Konzeption der Evaluation

wortung des Richters auch bei der richterlichen Entscheidung würde jedoch zu einem „widersprüchlichen Ergebnis“ führen, nämlich insofern, als ihm andernfalls im Wege des Disziplinarverfahrens ein Verhalten vorgeworfen werden könne, dass ihm nach § 26 DRiG nicht vorgehalten werden dürfte (was offenkundig auf einem Zirkelschluss beruht)304. Erst unter der Rn. 18 vor § 63 heißt es dann deutlich, der Inhalt der Entscheidung könne Gegenstand eines Disziplinarverfahrens nur sein, wenn der Richter das Recht im Sinne des § 339 StGB gebeugt habe. § 26 DRiG scheidet daher als Rechtsfolgeanordnung bezogen auf jene Grundrechtsartikel aus, so wenig zwingend dies auch erscheinen mag. Immerhin räumt Schmidt-Räntsch ein, dass die Kernbereichstheorie, an der der BGH festhalte, „in ihrer ,reinen Form‘ in einer Reihe von Fällen zu Ergebnissen (führe), die weder der Öffentlichkeit noch juristisch vermittelbar“ seien. Noch 1977 hatte das Dienstgericht beim BGH in den Fällen einer „offensichtlich fehlerhaften Amtsführung“ eine Ausnahme von dieser Auslegung des § 26 DRiG angenommen305. Der Dienstvorgesetzte dürfe dem Richter im Falle eines „jedem Zweifel entrückten, offensichtlichen Fehlgriffs“ vorhalten, dass er sich nicht gesetzestreu verhalten habe. Demgegenüber wird heute die Ansicht vertreten, dass sich die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit nicht auf den Kernbereich der richterlichen Tätigkeit beschränkt, sondern sich ausnahmslos auf alle richterlichen Tätigkeiten bezieht mit der Folge, dass der sachliche Inhalt einer jeden richterlichen Tätigkeit unangetastet bleiben müsse306. Die Judikatur, die eine Ausnahme von der Kernbereichslehre zuließ, hat nach zutreffender Ansicht Wittrecks trotz ihrer Systemwidrigkeit die Schwäche der Kernbereichslehre aufgezeigt307. Sie habe auch in die richtige Richtung gewiesen, nämlich insofern, als die unabdingbare Bindung des Richters an Recht und Gesetz neben der allgemeinen Justizgewährungspflicht die „zentrale Rechtfertigung der Dienstaufsicht“ darstelle. Es spräche vieles dafür, „an die Stelle der gesetzesfernen und in ihren Ergebnissen oft genug zufällig anmutenden Kernbereichslehre des BGH ein einheitliches Modell zu setzen, das die gesamte richterliche Tätigkeit der Dienstaufsicht unterwirft, diese aber wiederum an die Unabhängigkeitsgarantie bindet“. In der Tat wäre dies ein Gedanke, der umgesetzt werden sollte. Dem Richter bleibt gemäß § 26 III DRiG immer die Möglichkeit, gegen Maßnahmen der Dienstaufsicht das Richterdienstgericht anzurufen (wovon der Richter SchulteKellinghaus daher auch Gebrach gemacht hat). Eine spürbare Verkürzung der richterlichen Unabhängigkeit wäre daher nicht zu besorgen.

304

Schmidt-Räntsch (Fn. 303), § 26 Rn. 22 ff. und 28 – 34 sowie Rn. 15 – 20 vor § 63. BGH NJW 77, 437 mit Anm. Wolf, NJW 77, 1063; Schmidt-Räntsch (Fn. 303), § 26 Rn. 27. 306 Schmidt-Räntsch (Fn. 303), § 26 Rn. 33. 307 F. Wittreck, Die Verwaltung der dritten Gewalt, 2006, S. 146 f. 305

Teil 2

Durchführung der Evaluation: Feststellung des Befunds und Ermittlung der Interventionswirkungen Vordringliche Aufgabe einer Gesetzesevaluation ist es, dem Auftraggeber umfassende Informationen über den Regelungsgegenstand zu beschaffen, d. h. Befunde zu liefern, die ihm die Erlangung von Erkenntnissen über die Wirkungen eines Programms ermöglichen. Bei diesem nicht ausschließlich ziel-, sondern wirkungsorientierten Evaluationsansatz geht es wesentlich um die Erlangung von Erkenntnissen über die infolge der zuvor beschriebenen Interventionen eingetretenen Veränderungen der Verfahrenswirklichkeit. Mit ihm wird also angestrebt, hypothesengeleitet den intendierten und nicht intendierten Wirkungen (impact) jener Interventionen auf die Spur zu kommen, wobei die Programmziele eine entscheidende Rolle spielen. Folglich sind als erste Aktion der Evaluationsdurchführung die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele zu klären, um anschließend aufzeigen zu können, ob und inwieweit diese Ziele unter Beachtung der hierfür relevanten Verhaltens- und Entscheidungsnormen vom Rechtsstab überhaupt realisiert wurden. Das Mittel, die bewirkten Veränderungen festzustellen und damit den Grad der Zielerreichung, also den „Erfolg“ der Interventionen, ist der Soll-Ist-Vergleich von Ziel und Ergebnis308.

§ 6 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit der Evaluation Um die Zielsetzung der folgenden Gesetzesevaluationen genauer darlegen zu können, ist nochmals die Fragestellung deutlich zu machen, die ihnen zugrunde liegt. Denn erst aus ihr ergibt sich, welchen Evaluationsgegenstand es zu analysieren und zu bewerten gilt. Dieser Gegenstand muss definiert werden, wobei zu klären ist, zu welchem Zweck er untersucht werden soll, also welchen Nutzen die Evaluation dem Auftraggeber bringen soll. Die Fragestellung, die Anlass zu der hier vorgelegten Studie gab, stimmt im weitesten Sinn mit der These überein, die Steinberg in seiner Habilitationsschrift unter der Überschrift „Defizitärer verfassungsrechtlicher Schutz vor der Judikative“ wie folgt formuliert hat309 : In den Hintergrund sei die Sorge um den Missbrauch (fach-)richterlicher Gewalt getreten, aus der Montesquieu das 308 309

Dazu Stockmann/Meyer (Fn. 14), 2.2.2., S. 69, 3.2, S. 89, und 3.4.1., S. 126 f. Steinberg (Fn. 61), S. 59.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

Postulat deren „Nichtigkeit“ abgeleitet habe. Von den seinerseits geforderten drei Kautelen gegen richterlichen Machtmissbrauch (Gewaltenteilung, Richter auf Zeit aus dem Volk und engste Bindung an das Gesetz) sei nur noch die erste deutlich präsent310. Zwar könne nicht verlangt werden, diese Schutzmechanismen voll zu reaktivieren. Zu kritisieren bleibe jedoch, dass das „allgemeine Schutzbedürfnis des Bürgers vor judikativer Machtausübung in der verfassungsrechtlichen Lehre keine hinreichende Beachtung“ finde. Wohl werde betont, dass die Judikative nicht nur Garant gegen Übergriffe der anderen Gewalten, sondern auch selbst nach Art. 20 III Halbs. 2 GG an Recht und Gesetz gebunden ist. Nur sehr vereinzelt werde jedoch die Ausübung der Judikativgewalt als prinzipiell die individuelle Freiheit beschränkend begriffen. Dem korrespondiere „soziologisch … eine Überhöhung des Richters, ein ,Richterzentrismus‘ in der Rechtskultur der Bundesrepublik, Rechtsdenken und Juristenausbildung eingeschlossen“.

I. Klarstellung der zu überprüfenden Hypothesen Diese als Vermutung über den gegenwärtigen Rechtszustand formulierte Behauptung ist so zu verstehen, dass die Rechtsordnung der Bundesrepublik die Gefahr illegitimer judikativer Machtausübung in sich birgt, weshalb es einer effektiveren Richterkontrolle bedarf. Sie stellt zwar, weil zu allgemein gehalten, keine sozialwissenschaftlich überprüfbare Hypothese dar311, sondern lediglich eine rechtspolitische Forderung nach geeigneten Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der judikativen Gewalt. Da sie jedoch klar von einem kausalen Zusammenhang zwischen richterlicher Machtentfaltung und unzureichender Richterkontrolle ausgeht, lässt sie sich auch in eine Wirkungshypothese im sozialwissenschaftlichen Sinn umformulieren, ohne dass dadurch ihr Inhalt im Kern verfälscht wird. Allgemein formuliert würde diese These lauten, dass es dem ohnehin unzulänglichen Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht in letztinstanzlichen Zivilgerichtsverfahren weitgehend an der verfassungsrechtlich garantierten Effektivität mangelt. Bezogen auf § 321a ZPO heißt dies konkret: Wird die Anhörungsrüge erhoben, so fehlt dieser die Effektivität des Rechtsschutzes, die ihr zur Durchsetzung des Rechts verfassungsrechtlich zukommen müsste.

Und bezogen auf die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO mit § 339 StGB heißt dies: 310 Eine klare Dreiteilung der Staatsgewalt im Sinne Montesquieus ist zwar nach dem Wortlaut der Art. 20 und 92 GG vorgesehen. Der Justizapparat untersteht jedoch, wie das Udo Hochschild aufgezeigt hat, der Regierung (Idee und Wirklichkeit der Gewaltenteilung in Deutschland, Internet). Nur die Legislative ist gegenüber der Exekutive organisatorisch selbständig, die Judikative ist es nicht. Lediglich das Bundesverfassungsgericht ist unabhängig. 311 Zur Wissenschaftlichkeit von Hypothesen siehe Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie-online, § 14 IV.

§ 6 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit der Evaluation

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Will eine Prozesspartei die Restitutionsklage gestützt auf die Behauptung erheben, dass die letztinstanzliche Entscheidung auf einer Rechtsbeugung beruht, und erstattet er dieserhalb Strafanzeige gegen den Richter, so scheitert dieses Vorhaben im Zweifel bereits an der Weigerung der Staatsanwaltschaft, dieser Anzeige Folge zu leisten und gegen den Richter Anklage zu erheben. Unternimmt es daraufhin die Partei als ultima ratio, den Klageerzwingungsantrag zu stellen, erweist sich auch dieser Antrag regelmäßig als ineffektiv, da das Oberlandesgericht die abweisende Haltung der Staatsanwaltschaft im Zweifel bestätigt.

Diese Thesen, die der vorliegenden Studie zugrunde gelegt werden, dürften sich sinngemäß mit der Äußerung Steinbergs decken, sind demgegenüber aber auch sozialwissenschaftlich überprüfbar, wenn auch nur mit ziemlichen Einschränkungen. Jedenfalls erlauben sie auch Gesetzesevaluationen wie sie hier vorgenommen werden. Darüber hinaus rechtfertigt das die Ansicht Hochschilds, wonach im Rahmen der Gewaltenteilung die judikative Gewalt faktisch keineswegs unabhängig ist von den beiden anderen Gewalten Exekutive und Legislative312. 1. Gegenstand der Evaluationen Gegenstand der vorliegenden Studie ist das Ob und Wie der Befolgung der an den Rechtsstab als (internes) Kontrollorgan gerichteten Verhaltens- und Entscheidungsnormen im Falle der Geltendmachung eines der hier ausgewählten außerordentlichen Rechtsbehelfe gegen letztinstanzliche Zivilgerichtsurteile im Rahmen der instanzinternen Selbstkontrolle. Zum einen sind das die für die richterliche Spruchtätigkeit relevanten geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltens- und Entscheidungsnormen im Falle der Erhebung einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO, also die Art. 103 I GG und 6 I EMRK, und zum anderen sind das die für die Staatsanwaltschaft relevanten Verhaltens- und Entscheidungsnormen für den Fall der Erstattung einer Strafanzeige gegen einen Richter wegen des Verdachts der Rechtsbeugung durch ein angebliches Opfer einer solchen Straftat, also die §§ 152 II, 160 I StPO. Dies im letzteren Fall mit dem Ziel, damit die Voraussetzungen zu schaffen für die Erhebung einer Restitutionsklage gegen ein letztinstanzliches Urteil gemäß §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO, notfalls nach Durchführung des Klageerzwingungsverfahrens. Untersucht werden soll also nicht das real geschehene judikative Unrecht einer Gehörsverletzung und einer Rechtsbeugung als solches bei Ausübung der richterlichen Spruchtätigkeit bzw. bei Wahrnehmung der staatsanwaltlichen Pflichten im Rahmen der Strafverfolgung, sondern allein das Verhalten jener Organe der Rechtspflege in Reaktion auf die von einer Prozesspartei ergriffenen legalen Abwehrmaßnahmen gegen ihr angeblich zugefügtes judikatives Unrecht in einem

312

So Udo Hochschild, „Gewaltenteilung im Parteienstaat“, Fassadenkratzer Internet.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

letztinstanzlichen zivilrechtlichen Gerichtsverfahren313. Das erfordert eine konkrete Bestimmung der Faktoren, die auf diese Reaktion Einfluss ausüben. Da es hier nur um Verhaltens- und Entscheidungsnormen geht, die sich unmittelbar an den Rechtsstab richten und nicht an die Bevölkerung, kommen allein Faktoren aus der Sphäre der Norm bzw. des Normgebers in Betracht sowie solche, die in der Person des Normadressaten wurzeln. Erstere betreffen die gesetzestechnisch fehlerfrei oder fehlerhaft erfolgte Implementierung der Vorschriften in das Gesetz, letztere deren Akzeptanz, also deren innere Bejahung seitens der Richterschaft. Diese Wirksamkeitsfaktoren, die mit sehr unterschiedlicher Intensität vorliegen können und untereinander in einem hoch komplexen Wirkungszusammenhang stehen314, sind unabdingbare Voraussetzung für die Seinsgeltung jener Vorschriften und damit für die Effektivität des durch sie gewährleisteten Rechtsschutzes Das Entscheidungsverhalten des Richters soll hier nur in solchen Abhilfe- bzw. Wiederaufnahmeverfahren der Betrachtung unterzogen werden soll, die durch die Geltendmachung eines an den judex a quo gerichteten außerordentlichen Rechtsbehelfs initiiert werden. Damit scheidet die an den judex ad quem gerichtete Urteilsverfassungsbeschwerde als Untersuchungsgegenstand aus. D. h., die Evaluation beschränkt sich auf die Feststellung, inwieweit sich die Anhörungsrüge und die Restitutionsklage ihrer Aufgabe entsprechend als effektive Instrumente der instanzinternen Selbstkontrolle in der Gerichtspraxis bewährt haben (§§ 321a II 4 und 584 I ZPO). 2. Zielsetzung der einzelnen Evaluationen Ziel der Evaluationen ist folglich die Ermittlung der Effektivität bzw. Ineffektivität des Rechtsschutzes gegen greifbar gesetzwidriges richterliches Entscheidungsverhalten in nicht mehr rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren, soweit ein solcher Rechtsschutz gemäß §§ 321a und 580 Nr. 5 ZPO mit 339 StGB durch die außerordentlichen Rechtsbehelfe der Anhörungsrüge und der Restitutionsklage grundsätzlich gewährleistet wird. Dazu wurde die auf jene Rechtsbehelfe bezogene Hypothese aufgestellt, dass die Effektivität des durch sie gebotenen Rechtsschutzes gemessen an den verfassungsrechtlichen Garantien im Zusammenhang mit dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch derart minimal ist, dass sie ihren Zweck nahezu gänzlich verfehlen, d. h., dass sie zwar auf dem Papier geboten werden, von ihnen aber aufgrund diverser objektiver Zugangsschranken, richterlicher Attitüden und psychologischer Hemmnisse kein effektiver Gebrauch gemacht werden kann. Nachdem sich die Wirksamkeit einer Norm rechtssoziologisch gesehen aus ihrer Anwendung durch den Rechtsstab als Kontrollorgan ergibt, soll hier dessen Entscheidungsverhalten bei der Beurteilung der von einer Prozesspartei behaupteten 313 Siehe zur Reaktionstheorie, also dazu, dass für die Rechtsqualität einer Norm nur das Handeln des Rechtsstabs in sozialen Situationen entscheidend ist, Rehbinder (Fn. 7), Rn. 44 f. 314 Raiser (Fn. 8), S. 254.

§ 6 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit der Evaluation

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Fehlgriffe und elementarer Rechtsverstöße von Richtern und Staatsanwälten bei deren Tätigkeit als Organe der Rechtspflege gezielt unter Beobachtung gestellt werden, um aus dem dabei registrierten Verhalten Rückschlüsse auf die Effektivität der jeweils angewandten oder nicht angewandten Verhaltens- und Entscheidungsnorm ziehen zu können, d. h., auf deren Verhaltensgeltung, Sanktionsgeltung oder auch Nichtgeltung315. Zu beurteilen ist dies auf der Grundlage der sowohl zu § 321a ZPO als auch zu § 580 Nr. 5 ZPO bzw. zu § 339 StGB ergangenen Gerichtsurteile, die es daher im Rahmen dieser Evaluation als Daten zu sammeln und zu bewerten gilt; und demgemäß vollzieht sich deren Analyse als Dokumenten- oder Rechtsprechungsanalyse316. Wesentlich für den Auftraggeber einer Evaluationsstudie ist jedoch letztlich nicht der festgestellte Befund und die Bestätigung der aufgestellten Wirkungshypothese, sondern das Auffinden und Präsentieren einer überzeugenden Lösung für das aufgezeigte Problem, hier also für das noch näher zu beschreibende Rechtsschutzdefizit. Ziel der Studie ist auch, das Vorhandensein der psychischen Voraussetzungen für die Effektivität des durch die Verhaltens- und Sanktionsnormen gewährleisteten Rechtsschutzes zu ermitteln, welche die Einleitung und Durchführung von Überprüfungsverfahren regeln, in denen es gilt, eine angeblich relevante richterliche Fehlleistung im Ausgangsverfahren zu beurteilen. D. h., die Untersuchung ist auch gerichtet auf die Feststellung des Maßes an Gesetzestreue seitens der Richterschaft als Korrelat der Gewaltenteilung gegenüber den einschlägigen Verhaltens- und Sanktionsnormen nach Antrag auf Durchführung einer instanzinternen Selbstkontrolle gemäß § 321a ZPO, in denen der Richter prekärerweise über sein eigenes angeblich abweichendes Entscheidungsverhalten im vorausgegangenen Verfahren zu befinden hat.

II. Durchführbarkeit der Evaluationen Die Qualität einer retrospektiven (ex-post) Evaluation, die der Aufklärung über die Wirkungen von Maßnahmen dienen soll, ist abhängig von der Bereitstellung exakter und für die Beantwortung der Evaluationsfrage adäquater Informationen. Vor allem sollte dabei den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Anforderungen an die Genauigkeit empirischer Datenerhebungen und Auswertungen entsprochen werden317. Diese Anforderungen wurden von der Evaluationsforschung in Standards festgelegt, um den Evaluatoren eine Orientierung bei der Planung und Durchführung von Evaluationen zu geben und dadurch deren Qualität sicherzustellen, aber auch die Auftraggeber vor inkompetentem Vorgehen zu schützen318. Gerade deswegen ist 315

H. Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, 1980, S. 64 f. Dazu Rehbinder (Fn. 7), 62 f.; Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, § 15 V. 317 W. Meyer, Informationssammlung und Bewertung, in: Stockmann/Meyer (Fn. 14), 5.1. 318 W. Meyer (Fn. 319), 4.4.3 mit Hinweis auf die deutschen CEval-Standards. Zu den schweizerischen SEVAL-Standards siehe Thomas Widmer, in: SZK 2011, 23 – 26. 316

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

besonders darauf hinzuweisen, dass den hier präsentierten Gesetzesevaluationen von der Eigenart des Untersuchungsobjekts her Grenzen gesetzt waren, was eine exakt methodengerechte Untersuchung ausschloss. Dies bedarf zunächst der Erklärung. Anschließend gilt es dafür umso deutlicher zu machen, dass diese Evaluationsstudie auch unter Berücksichtigung ihrer methodischen Mängel sinnvoll war und der Justiz als der hypothetischen Auftraggeberin dennoch einen konkreten Erkenntnisgewinn bringen wird. 1. Probleme der methodengerechten Durchführung Die Evaluationsforschung ist Teil der Sozialwissenschaften und bedient sich deren Methoden ebenso wie die empirische Rechtssoziologie als Rechtstatsachenforschung. Nach ihrem Begründer Arthur Nußbaum319 hat diese „zu erforschen, wie die Formen der tatsächlichen Anwendung des Gesetzes beschaffen sind, insbesondere, in welcher Weise das Gesetz von den Gerichten und dem Publikum tatsächlich angewendet wird, ferner welche Zwecke mit den Normen verfolgt werden und welche Wirkungen diese äußern“. D. h. an sich für den Bearbeiter: Formulierung des Forschungsziels, Datenerhebung, Datenauswertung und Berichterstattung, wobei ständig die Frage präsent sein sollte, „Was genau möchte ich wissen?“320. Die Aufgabe der empirischen Sozialforschung, die Prüfung von Hypothesen, ist jedoch keineswegs problemlos zu realisieren. Nötig ist dazu sowohl die Diagnose etwaiger Fehlerquellen der Prüfverfahren als auch eine Therapie zur Kontrolle von Verzerrungseffekten. 2. Schwierigkeiten bei der Hypothesenüberprüfung Den wissenschaftlichen Ansprüchen an eine Evaluation voll gerecht zu werden, ist allerdings bei Einmann-Studien, wie Rehbinder festgestellt hat321, nahezu aus319 Arthur Nußbaum, Rechtstatsachenforschung, neu hrsg. von Rehbinder, 1968, S. 24; Rehbinder (Fn. 7), Rn. 6; ders., Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, in: ders., Abhandlungen zur Rechtssoziologie, 1995, S. 31 – 66. Nach Nußbaum ist Rechtstatsachenforschung „die systematische Untersuchung der sozialen, politischen und anderen tatsächlichen Bedingungen, aufgrund derer einzelne rechtliche Regeln entstehen, und die Prüfung der sozialen, politischen und sonstigen Wirkungen jener Normen“ (S. 64). Als Erfahrungswissenschaft geht es ihr um die Erhebung und Auswertung sozialer Sachverhalte bzw. Daten, die, soweit sie Gegenstand von Rechtsnormen sind, die Rechtstatsachen bilden. Dies sind nach Nußbaum (a. a. O., S. 21) „diejenigen Tatsachen, deren Kenntnis für ein volles Verständnis und eine sachgemäße Anwendung der Normen erforderlich ist“ und die jeweils induktiv zu erforschen sind. 320 Siehe Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung, 20. Aufl. 2009, B V 1 sowie S. 54, 70 und 192 f. Zur Vermeidung verzerrter Evaluationen sollte die Inhaltsanalyse durch selektive Wahrnehmung auch nicht dergestalt hypothesengesteuert sein, dass bevorzugt jene Wahrnehmungen registriert werden, die die eigenen Vorurteile bestätigen. 321 Rehbinder (Fn. 7), Rn. 24 und 59. So meint auch Rottleuthner (Fn. 9), S. 48: Die Feststellung der Kausalität legislativer Maßnahmen im Hinblick auf die Zielerreichung als das

§ 6 Gegenstand, Zielsetzung und Durchführbarkeit der Evaluation

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geschlossen. Denn solche Studien „sind kaum in der Lage, Hypothesen im strengen Sinne zu überprüfen. Sie beschränken sich daher zumeist auf eine nicht-experimentelle Untersuchungsanordnung und damit auf deskriptive Forschung oder auf eine Illustrierung von Hypothesen. Ihr wissenschaftlicher Erkenntniswert im Hinblick auf Kausalerklärungen liegt dann in ihrer Verwendbarkeit als Pilotstudie und – im nichtjuristischen Sinne – in einer Umkehr der Beweislast“. Ähnlich weist auch Struck darauf hin, dass die methodischen Ansprüche an die Wirkungsforschung so hoch gesteckt werden, „dass ein so ausgelegtes Forschungsprojekt im derzeitigen praktischen, politischen und wissenschaftlichen Geschehen nur selten verwirklicht werden wird, und dann mit einem Zeitaufwand, der die Ergebnisse veralten lässt“322. Die wissenschaftliche Genauigkeit steuere auch in der Rechtssoziologie auf ein Paradox zu: Wer es mit der Genauigkeit als Wissenschaftler übertreibt, komme nie zu einem Ergebnis. Man dürfe daher aus wissenschaftsinternen Gründen die Frage der praktischen Umsetzung von Projekten nicht aus dem Blick verlieren. Das heißt, dass die hier aufgestellte Hypothese nicht streng nach sozialwissenschaftlichen Methoden überprüft, sondern lediglich illustriert werden kann. Nur ein solches Ergebnis ist mit dieser Studie bestenfalls anzustreben. Vor allem wird es schon naturgemäß nicht möglich sein, die Untersuchung über die Feststellung etwaiger rechtsstaatlicher Effektivitätsdefizite des gegenständlichen Rechtsschutzes hinaus auch noch auf die Ermittlung einer exakten Befolgungs- oder Effektivitätsquote der einschlägigen Vorschriften im Sinne Theodor Geigers bei Durchführung der instanzinternen Selbstkontrolle zu erstrecken. Denn dies würde voraussetzen, die wirklich gewissenhaft vom Richter durchgeführten Selbstkontrollen von den nur scheinbar gewissenhaft durchgeführten unterscheiden zu können, was völlig ausgeschlossen ist. 3. Einschränkungen bei der Einhaltung der Evaluationsstandards Folglich vermag diese Studie auch den verbindlichen Evaluationsstandards nicht voll zu entsprechen. Zum einen fehlt es sowohl an einer verwertbaren Statistik über erfolgreich und erfolglos gegen letztinstanzliche Urteile geltend gemachte außerordentliche Rechtsbehelfe als auch an einer Erhebung über die Unzahl der nicht geltend gemachten Rechtsbehelfe, die u. U. hätten erfolgreich sein können, wenn sie geltend gemacht worden wären. Dann entfiel hier von vornherein die Möglichkeit einer offenen oder verdeckten (teilnehmenden) Beobachtung der richterlichen Spruchtätigkeit bei der Bearbeitung der Rechtsbehelfe, wie sie ehedem Lautmann gegeben war. Und schließlich war es nicht möglich, diese Gesetzesevaluation als interaktiven Prozess zu organisieren323, in dem es zu fruchtbaren Dialogen zwischen dem Evaluator und den an der Evaluation beteiligten Personen (hier also den zentrale Problem der Rechtswirkungsforschung setze „eigentlich ein experimentelles Design voraus“, das jedoch „fast nie zu realisieren“ sei. Es gäbe lediglich Annäherungen in Form sog. Quasi-Experimente wie die „interrupted time series analysis“. 322 G. Struck (Fn. 78), Rechtssoziologie, 2011, § 13 Nr. 7. 323 Siehe Stockmann/Meyer (Fn. 14), 4.5., S. 186.

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Richtern und Staatsanwälten) hätte kommen können. Auch dies ist als ein Manko der Studie einzuräumen, da an sich gerade die spezifischen Merkmale dieser „Stakeholder“324 für die Feststellung der Akzeptanz der an sie gerichteten Verhaltens- und Entscheidungsnormen eine gewichtige Rolle spielen. Weil die Rechtsfindungsprozesse, die in deren Köpfen stattfinden, letztlich verschlossen bleiben, kann diese Arbeit somit verständlicherweise nicht den Anspruch erheben, eine Gesetzesevaluation im streng sozialwissenschaftlichen Sinn zu bieten. a) Fehlen einer verwertbaren Justizstatistik Eine verwertbare Statistik müsste so beschaffen sein, dass ihr auch zu entnehmen wäre, wie viel Rügen überhaupt erhoben und wie viele davon aus welchen Gründen zurückgewiesen wurden. Eine solche Statistik kann jedoch von der Justiz schon deswegen nicht geboten werden, weil der Datenerfassung zuvor eine arbeitsintensive Aufbereitung jedes einzelnen Abhilfeverfahrens etwa in der Weise vorausgehen müsste, wie sie Vollkommer vor seinen „Fallanalysen“ der 16 Amtsgerichtsbeschlüsse in seinem Festschriftbeitrag für Musielak zu bewältigen hatte325. Daher wird eine Datenerhebung in dieser Weise auch von keinem Landesjustizministerium durchgeführt326. Selbst wenn es eine derart aufbereitete Statistik gäbe, könnte auch sie nicht zu gesicherten Aussagen über die Häufigkeit abweichenden richterlichen Entscheidungsverhaltens in Reaktion auf einen außerordentlichen Rechtsbehelf führen, da sich dieses Verhalten ganz wesentlich im Dunkelfeld des Herstellungsprozesses der Entscheidung abspielt und die Abweichung in deren Darstellung keineswegs erkennbar zum Ausdruck kommen muss. Die Kontrolle der Dunkelziffer ist aber notwendige Bedingung für die sinnvolle Überprüfung einer Wirkungshypothese auf empirischer Grundlage327. Unter Umgehung dieses Dunkelfelds sind keine verlässlichen Angaben zu ihrer Verifizierung möglich. Diese Umstände zwingen zu einem pragmatischen Vorgehen, nämlich dazu, sich auf die Analyse einiger vom Schrifttum als beachtlich eingestuften publizierten Entscheidungen zu beschränken, die sich als symptomatisch für die mangelnde Effektivität des durch die genannten Vorschriften normativ gewährleisteten Rechtsschutzes erwiesen haben. Als Erhebungsmethode kann folglich insoweit nur 324 Dies ist der Oberbegriff für alle Personen und Personengruppen, die in irgendeiner Form direkt oder indirekt von den Aktivitäten eines Projekts betroffen, an ihnen beteiligt oder an deren Ergebnissen interessiert sind, vgl. Stockmann/Meyer (Fn. 14), S. 186, und 252 f. 325 Siehe unten § 8 II. 1. 326 Laut der ZP/F-Statistik des Bayer. Staatsministeriums der Justiz wurden von den Amtsgerichten im Jahre 2008 in 82 Verfahren 50 Rügen verworfen oder zurückgewiesen, im Jahre 2009 in 78 Verfahren 56 Rügen und im Jahre 2010 in 98 Verfahren 71 Rügen, wobei unklar bleibt, ob die übrigen Rügen erfolgreich waren oder sich sonst erledigten. Die von den Landund Oberlandesgerichten verworfenen oder zurückgewiesenen Rügen wurden nicht erfasst. Erhoben wurden bei den Oberlandesgerichten in Bayern 89 Rügen im Jahre 2008, 106 Rügen im Jahre 2009 und 105 Rügen im Jahre 2010. 327 Dazu Diekmann, Die Befolgung von Gesetzen, 1981, S. 47.

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das Stichprobenverfahren mit bewusster Auswahl (judgement sample) zur Anwendung gebracht werden. Dabei ist allerdings davon auszugehen, dass Beschlüsse, mit denen einer berechtigten Rüge abgeholfen wurde, meist nicht als veröffentlichungswürdig eingestuft wurden. D. h., hier hat ohnehin schon durch das Publikationsorgan eine gewisse Vorauswahl stattgefunden und diese kann noch fortgesetzt werden, wenn Autoren publizierte Entscheidungen zum Anlass nehmen, dazu eigene Kommentare abzugeben. Zusammenhangshypothesen können jedoch selbst an willkürlichen Stichproben geprüft werden. Nur wenn Aussagen über Grundgesamtheiten getroffen werden sollen, sind kontrollierte Stichprobenverfahren erforderlich328. b) Selektion bei der Inanspruchnahme der außerordentlichen Rechtsbehelfe Außerdem kann nicht unterstellt werden, dass sich die von einer greifbaren Gesetzwidrigkeit betroffene Prozesspartei stets gegen das ihr zugefügte judikative Unrecht zur Wehr setzen wird. Schließlich kann sie die Benachteiligung auch kampflos hinnehmen, etwa wenn ihr das Unrecht gar nicht bewusst geworden ist oder wenn sie falsch beraten wurde, die gesetzliche Frist versäumt hat oder die Kosten, den psychischen Stress und die lange Verfahrensdauer scheuen sollte. Hinzu kommt die hohe Selektivität schon beim Zugang zu den Wiederaufnahmeverfahren infolge der förmlichen Zugangsschranken. Nicht jeder Fall einer solchen möglichen Diskriminierung einer Prozesspartei wird daher erneut vor Gericht gebracht und einer Prüfung unterworfen329. Angesichts der Unmenge der täglich verkündeten letztinstanzlichen Endurteile werden die außerordentlichen Rechtsbehelfe, was deren Effektivität anbelangt, daher nur zu einem ganz geringen Teil einem gerichtlichen „Test“ unterzogen. Das aber bedeutet, dass die vor Gericht gebrachten Fälle durchaus keine repräsentative Stichprobe des Geschehens in der Wirklichkeit abgeben, das die Effektivität des durch die außerordentlichen Rechtsbehelfe gewährleisteten Rechtsschutzes bestimmt. Besonders gilt dies für die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB. Ganz erheblich dürfte aber auch die Anzahl der potenziell möglichen Anhörungsrügen sein, auf deren Erhebung aus außerrechtlichen Gründen verzichtet wurde, wobei auch zu bedenken ist, dass das Anhörungsrügeverfahren gemäß § 19 I 2 Nr. 5 RVG zum Rechtszug gehört und daher für den anwaltlichen Vertreter keine weitere Gebühr anfällt.

III. Feststellung der Gesetzeszwecke Die Erforschung der Wirkungen vom Recht „gehört zu den interessantesten und theoretisch ergiebigsten, zugleich methodisch schwierigsten Forschungsfeldern der 328

Diekmann, Empirische Sozialforschung, (Fn. 391), S. 379 f. Siehe zu den Bedingungen der Mobilisierung von Recht E. Blankenburg, Mobilisierung des Rechts, 1995, S. 42 f.; Raiser (Fn. 8), 16. Abschnitt VIII. 329

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empirischen Rechtssoziologie“330. Zu bewältigen sind dabei insbesondere zwei Schwierigkeiten: Die erste besteht gerade bei der Erforschung von Gesetzeswirkungen darin, dass es der Feststellung der eindeutigen, widerspruchsfreien und operationalisierbaren Regelungsziele des Gesetzgebers bedarf. Erst sie versetzen den Evaluator in die Lage, einen sinnvollen Abgleich des Soll-Zustands mit dem IstZustand einer Gesetzesänderung vorzunehmen. In den vorliegend zu untersuchenden Fällen scheinen sie klar erkennbar zu sein, sind es jedoch nur ganz allgemein gesehen. Die Vorschrift des § 580 Nr. 5 ZPO soll die Prozesspartei vor Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten schützen und die Vorschrift des § 321a ZPO vor entscheidungserheblichen Verstößen des Richters gegen die Garantie des rechtlichen Gehörs in nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren. An diesen Regulierungszielen ist die Verfahrenswirklichkeit zu messen. Weshalb der Gesetzgeber im letzteren Fall nicht ein weitergehendes Ziel verfolgte, nämlich den Schutz der Parteien vor der Verletzung der Verfahrensgrundrechte schlechthin, ist eine andere Frage, die es erst bei der abschließenden Bewertung der Evaluationsergebnisse aufzuwerfen und zu beantworten gilt. Die weitere Schwierigkeit ergibt sich bei der Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen der zu evaluierenden Norm und einem als relevant erscheinenden Verhalten der Rechtsadressaten, das auch auf andere Ursachen als die Befolgung oder Nichtbefolgung jener Norm zurückgeführt werden kann. Diese Schwierigkeit wird die Untersuchung jedenfalls insofern beeinträchtigen, als es kaum gelingen dürfte, genauer zu klären, welche der beiden möglichen Ursachen der Nichtbefolgung der Normen, nämlich entweder deren fehlerhafte Implementierung in das Gesetz oder deren mangelnde Akzeptanz bei der Richterschaft, letztlich den größeren Anteil am festgestellten Befund hat. Im Folgenden soll festgestellt werden, inwieweit es dem Gesetzgeber gelungen ist, mit der Anhörungsrüge den tragenden Gründen des Plenumsbeschlusses entsprechend einen funktionsgerechten Rechtsbehelf zu implementieren, und inwieweit sich die Gerichte dazu bereitgefunden haben, der Vorschrift des § 321a ZPO durch sachgemäße Anwendung die ihr zugedachte Geltung zu verschaffen. Danach soll entsprechend mit den Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO, 339 StGB verfahren werden, wobei konkret auf die 2014 ergangene Grundsatzentscheidung zu § 339 StGB, BGH 2 StR 479/13, einzugehen sein wird. Dabei wird vor allem zu beobachten sein, ob dadurch der fortgeschrittenen „Entkriminalisierung“ dieser Norm Einhalt geboten wurde oder ob die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO weiter zu einem nudum jus verkümmert ist. Und schließlich gilt es auch noch die Vorschrift des § 172 II 1 StPO auf ihre Effektivität hin zu untersuchen, weil auch sie in diesem Zusammenhang für den Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht eine bedeutsame Rolle spielt. Erst dann kann nach den Ursachen gesucht und beurteilt werden, ob es geboten erscheint, den „Rechtsschutz gegen den Richter“ der Rechtsschutzgarantie und dem 330 So Armin Höland, Ein Gesetz und seine Folgen. Probleme der Abschätzung, aufgezeigt an einem Beispiel aus der Forschung, FS Rottleuthner, 2011, S. 282, 285.

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unabweisbaren Bedürfnis des Rechtsverkehrs entsprechend verfassungsrechtlich anzupassen. Zunächst gilt es jedoch, die jeweiligen Regelungszwecke der zu evaluierenden Vorschriften zu klären331: 1. Der Regelungszweck des § 321a ZPO Für die ursprüngliche Fassung des § 321a ZPO ergab sich dessen Zweck klar aus den Gesetzesmaterialien. Vordergründig sollte dem erstinstanzlichen Gericht Gelegenheit zur Korrektur eigener Gehörsverletzungen eingeräumt werden, vor allem aber sollte das BVerfG von der „Bagatelljudikatur“ zu Art. 103 I GG entlastet werden. Die Beschränkung auf die Verfahren nach billigem Ermessen gemäß § 495a ZPO erwies sich jedoch als unzureichend, was dazu führte, dass die Rüge auch in höheren Instanzen zugelassen wurde, so insbesondere gegen die nicht mehr anfechtbaren, die Berufung zurückweisenden Beschlüsse gemäß § 522 II ZPO a. F. Deshalb musste die Vorschrift auf Ersuchen des BVerfG nachgebessert werden332. Aufgrund dessen wurde durch Neufassung des § 321a ZPO der Rechtsschutz auf alle letztinstanzlichen Verfahren erweitert. Dennoch verfehlte dies den Gesetzeszweck insofern, als die Urteilsverfassungsbeschwerden keineswegs zurückgingen. Das Problem liegt hier jedoch nicht in der Ermittlung des Gesetzeszwecks, sondern in der Beschränkung des Anwendungsbereichs des außerordentlichen Rechtsbehelfs auf die entscheidungserhebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs unter Ausschluss der übrigen Verfahrensgrundrechte. Betroffen von dieser Entwicklung ist insbesondere der von der Rechtsprechung entwickelte außerordentliche Rechtsbehelf der Gegenvorstellung, für den neben der Anhörungsrüge nun angeblich kein Raum mehr besteht. 2. Der Regelungszweck der §§ 580 Nr. 5 ZPO Noch weit mehr als § 321a ZPO ist die Restitutionsklage dazu bestimmt, die Integrität der Rechtspflege sicherzustellen und die Prozessparteien vor pflichtwidrigem und rechtsmissbräuchlichem richterlichen Entscheidungsverhalten zu schützen. Sie soll Angriffe gegen die Rechtspflege „von innen“ unterbinden und der Prozesspartei bei Verstößen des Richters gegen dessen strafbewehrte Amtspflichten einen Rechtsbehelf bieten, mit dessen Hilfe selbst ein bereits rechtskräftiges Urteil angegriffen werden kann. Entscheidend hierfür ist nach dem Wortlaut des § 581 I ZPO die Verurteilung des Richters. Diese herbeizuführen, ist allein der Initiative der betroffenen Partei überlassen, notfalls eben mit Hilfe des Klageerzwingungsantrags. Schließlich gibt es keine Kontrollinstanz, deren Aufgabe es wäre, alle rechtskräftigen 331

Dazu, wie Normen als Mittel eingesetzt werden, um Ziele zu realisieren, siehe Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie-online, § 16 Zweck und Funktion, Bedürfnis und Interesse, Güter und Werte, I und IV. 332 Siehe Zöller-Vollkommer (Fn. 7), § 321a Rn. 1.

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zivilgerichtlichen Urteile von Amts wegen auf ihre strafrechtliche Relevanz im Hinblick auf die Verwirklichung des objektiven Tatbestands des § 339 StGB zu überprüfen. Da ein rechtskräftiges Strafurteil gegen den Richter von der Partei kaum vorgelegt werden kann, ist die Effektivität der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO zunächst einmal entscheidend davon abhängig, ob sich die zweifellos richtige Rechtsauffassung Brauns durchsetzen wird, wonach § 581 I ZPO auch im Hinblick auf den von der Praxis praeter legem entwickelten Rechtsbehelf des § 826 BGB dahingehend zu berichtigen ist, dass die strafgerichtliche Verurteilung des Richters keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Restitutionsklage darstellt333. Auch wenn das Zivilgericht befugt ist, das Vorliegen der Straftat selbst zu prüfen, kommt es jedoch immer noch darauf an, wie es die Vorschrift des § 339 StGB auslegt. Sollte es dabei weiter der früheren BGH-Rechtsprechung folgen, wäre dem Restitutionskläger auch mit der Berichtigung des § 581 ZPO nicht geholfen. 3. Der Regelungszweck des § 172 II 1 StPO Das Klageerzwingungsverfahren soll auf Initiative des Opfers, das selbst kein gerichtliches Strafverfahren gegen den Rechtsbrecher in Gang setzen darf, das Legalitätsprinzip sichern. Zwar kann damit der Antragsteller nur erreichen, dass die Staatsanwaltschaft durch Beschluss des Oberlandesgerichts zur Anklageerhebung gezwungen wird (oder, wenn sie gar die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens verweigert hat, zur Einleitung dieses Verfahrens). Damit sollte nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG in bestimmten Fällen sogar zu rechnen sein. Dies jedenfalls dann, wenn sich der Vorwurf darauf richtet, der Richter habe als Amtsträger eine Straftat bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben begangen334. Aufgrund der inzwischen vom BVerfG ebenfalls konkretisierten Zulässigkeitserfordernisse des Klageerzwingungsantrags sollten auch bewusste Fehleinschätzungen der Oberlandesgerichte bei der Beurteilung der Antragszulässigkeit zur Verhinderung der Anklageerhebung ausgeschlossen sein. Die Behandlung der Anträge nach § 172 II 1 StPO seitens der Oberlandesgerichte einschließlich des Kammergerichts Berlin zeigt allerdings, dass diese neuere Rechtsprechung noch immer nicht berücksichtigt wird (dazu § 11 II. 2.).

§ 7 Anspruch und Rechtswirklichkeit der Zivilgerichtsbarkeit Nach Art. 92 Hs.1 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern „anvertraut“. Dieser Ausdruck spricht dafür, dass über die Aufgabenzuweisung hinaus programmatisch auch die Art und Weise der Aufgabenerledigung angedeutet werden sollte. Nach Paul Kirchhof baut hier das Grundgesetz nicht allein auf die Geset333 334

MüKo-Braun/Heiß (Fn. 3), § 580 Rn. 21 und § 581 Rn. 1 ff. Meyer-Großner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, zu § 172, Rn. 1a.

§ 7 Anspruch und Rechtswirklichkeit der Zivilgerichtsbarkeit

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zesbindung des Richters, „sondern ebenso auf seine Gewissenhaftigkeit, Unbefangenheit und Unbestechlichkeit“335. Außer der Gesetzesbindung hat daher der Richter bei seiner Entscheidungsfindung noch weitere Regeln zu beachten, die sich für ihn als maßgeblich aus anderweitigen geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltensund Sanktionsnormen ergeben wie vor allem das Willkür- und Rechtsmissbrauchsverbot336. Darüber hinaus sollte er sich neben seinen Pflichten aus dem Diensteid und dem Richtergesetz noch an bestimmte berufsspezifische Tugenden halten wie Entscheidungsbereitschaft, Arbeitsdisziplin und Gewährung „inneren“ Gehörs337. Zu einer Dokumentation seiner Überzeugungsbildung in den Urteilsgründen ist der Tatrichter allerdings nicht verpflichtet338.

I. Rechtsstaatliche Defizite des zivilprozessualen Rechtsschutzes Gemessen an diesen Maximalanforderungen zeigt die Rechtswirklichkeit der Justiz nicht immer, aber sehr häufig ein anderes Bild. Dies sollen die Beispiele krasser Fehlentscheidungen im Anhang demonstrieren. Zwar bereitet der Justiz die

335

P. Kirchhof, Richterliche Rechtsfindung, gebunden an Recht und Gesetz, NJW 1986, 2275. Die Bedeutung des Richterspruchs lege dem Richter vier weitere Bindungen auf: Die Entscheidungspflicht, das Gesetzesrecht nicht absterben zu lassen, die Unbefangenheit, „d. h. die Freiheit und Offenheit des Richters für das Recht“, das Willkürverbot als Sicherheit gegen die Überlagerung von Recht und Gesetz durch den Willen des Richters sowie die Kontinuitätsgewähr zur Vermeidung des abrupten Abbruchs mit dem Herkömmlichen. 336 Aufgehoben wird ein Urteil wegen Verstoßes gegen Art. 3 I GG in dessen Ausformung als Willkürverbot vom BVerfG nur, wenn der Richterspruch „unter keinem rechtlichen Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht“ (BVerfG NJW 2014, 291 Rn. 15; 2010, 1349 Rn. 11). Das ist der Fall, „wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (BVerfG NJW 2014, 3213 Rn. 19). Eine gegebene Rechtsbegründung kann das Willkürurteil nicht verhindern, wenn ein Bezug zur anzuwendenden Norm nicht einmal im Ansatz zu erkennen ist (BVerfG NJW 2010, 1349 Rn. 13). Dazu außerdem Herbert Roth, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Zivilprozessrecht, JZ 2015, 443, 448; JZ 2015, 495 und 554. Von Florian Loyal, Ungeschriebene Korrekturinstrumente im Zivilprozessrecht, 2018, wurden sogar die ungeschriebenen Generalklauseln Rechtsschutzbedürfnis und Treu und Glauben auf ihre Eignung als Vehikel einer formalen und inhaltlichen Legitimation konkreter Entscheidungen untersucht, um dies jedoch letztlich zu verneinen (dazu Schilken, in: ZZP 2020, 261). Nach Thomas M. J. Möllers (Fn. 30), § 14 Rn. 99, sei allerdings anzuerkennen, dass „ganz am Ende der Prüfung in einem Restbereich auch auf außergesetzliche Wertmaßstäbe zurückgegriffen werden müsse“. Zum Rechtsmissbrauch der Parteien eines Zivilprozesses Tobias Leitner, Rechtsmissbrauch im Zivilprozess, 2019. 337 Udo Steiner, Richterliche Rechtsfindung und die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht, DVBl 2018, 1097, 1100; U. Schneider, Richterliche Ethik im Spannungsfeld zwischen richterlicher Unabhängigkeit und Gesetzesbindung, 2017; Benno Heussen, Richterliche Berufsethik aus der Sicht eines Rechtsanwalts, NJW 15, 1927 – 1933. 338 BGH vom 27. 11. 18 – 3 StR 33/18, NStZ-RR 2019, 58.

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Qualität der Rechtsprechung nach wie vor erhebliche Sorge339, dennoch erhebt niemand ernsthaft die Forderung nach Etablierung einer von der Justiz unabhängigen Kontroll- und Sanktionsinstanz, deren Aufgabe es wäre, das Entscheidungsverhalten der Richter auf etwaige Verstöße gegen deren Amtspflichten hin zu überprüfen. Ohnehin darf der Inhalt der richterlichen Entscheidung nur im Extremfall offensichtlichen Gesetzesverstoßes zum Anlass aufsichtsrechtlicher Maßnahmen genommen werden340. Soweit in § 26 DRiG (Dienstaufsicht) und Art. 98 II und V GG (Richteranklage) dienstaufsichtliche und disziplinarische Maßnahmen vorgesehen sind, dürfen diese nicht die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen, weshalb sie meist schon von vornherein nicht ergriffen werden. Selbst wenn sich der Richter nicht an der Rechtsauffassung der Aufsichtsbehörde und Dienstgerichte orientierten sollte, muss er keine Sanktionen befürchten, da es genügt, wenn er sich grundsätzlich an Recht und Gesetz hält. Davon abgesehen kann er aufsichtliche Anweisungen und Rügen disziplinargerichtlich überprüfen lassen (§§ 26 III DRiG und 63 I DRiG in Verb. mit 31 I BDO). Die Richteranklage nach Art. 98 II und V GG kommt nur im Falle einer aggressiv-kämpferischen Haltung des Richters gegenüber der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Betracht und hat daher keine praktische Bedeutung341. Durch das Spruchrichterprivileg des § 839 II BGB ist die Haftung des Richters für unrichtige Urteile auf Pflichtverletzungen beschränkt, die zugleich in einer Straftat bestehen. Dies wiederum wirkt sich entscheidend auf die Effektivität des durch die Restitutionsklage gebotenen Rechtsschutzes aus. 1. Egon Schneider zur Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit Noch deutlichere Kritik am Widerstand der Richterschaft gegen vermeintliche Einschränkungen ihrer richterlichen Unabhängigkeit übte Egon Schneider anlässlich des 61. Deutschen Juristentags 1996, indem er schrieb342 : „Die teilweise nicht mehr nachvollziehbare Ausweitung der richterlichen Unabhängigkeit macht es notwendig, Änderungen der ZPO, die den Richter in die Pflicht nehmen, mit Sanktionen zu versehen. Nur dann besteht eine Chance, den Gesetzeszweck zu verwirklichen. Pflichtbewusstsein nur zu fordern oder nur dazu zu ermahnen, das hilft nichts. Wo eine

339

Sven Rebehn, DRiZ 2019, 6 und 2020, 282. F. Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, 2006, S. 145 ff.; BGHZ 76, 288, 291. 341 Wittreck (Fn. 342), S. 159 f. Wittreck weist jedoch darauf hin (S. 162 f.), dass zumindest im Rahmen der Debatte, ob ein Antrag nach Art. 98 II 1 GG gestellt werden soll, „inhaltliche Kritik auch an der Rechtsprechung als dem Kernbereich richterlicher Tätigkeit möglich ist“ und dass die Institution der Richteranklage „als verfassungsrechtliche Garantie … der parlamentarischen Urteilsschelte“ fungiere und so immerhin „auch auf diese Weise der legitimationsvermittelnden Rückkoppelung der Rechtsprechung an den Volkswillen“ diene. 342 Egon Schneider, Entlastung der Gerichte – eine Sisyphusarbeit, MDR 1996, 865. Das Thema des Juristentags lautete: „Empfehlen sich im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes Maßnahmen zur Vereinfachung, Vereinheitlichung und Beschränkung der Rechtsmittel und Rechtsbehelfe des Zivilverfahrensrechts?“ 340

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freiwillige Verhaltensänderung erfahrungsgemäß nicht zu erwarten ist, kann sie lediglich mit Sanktionen erreicht werden.“

Diese Kritik trifft auch heute noch zu. Allerdings lässt auch Schneider offen, welche Sanktionen hier s. E. angemessen wären. Vorschläge für Sanktionen zur Verhinderung richterlichen Machtmissbrauchs zu unterbreiten, kann auch nicht Ziel dieser Studie sein. Vielmehr richten sich die hier angestellten Bemühungen allein darauf, in einem Teilbereich des Prozessrechts, nämlich dem Recht der außerordentlichen Rechtsbehelfe, legitime Möglichkeiten zu eruieren, durch die der individuelle Schutz vor richterlichen Fehlgriffen in letztinstanzlichen Verfahren deutlich verbessert werden könnte. Angesichts des unstreitig defizitären Zustands der Staatshaftung für judikatives Unrecht, also des sekundären Grundrechtsschutzes, erscheint es ohnehin angebracht, vorrangig den primären Rechtsschutz i. S. des § 839 III BGB zu verbessern343. 2. Schrifttum zur Rechtswirklichkeit der deutschen Justiz 2017 erschien eine umfassende Untersuchung zum Ist-Zustand der Justiz des ehemaligen Moderators Joachim Wagner unter dem Titel „Ende der Wahrheitssuche“, die – wenn auch ohne wissenschaftlichen Anspruch – nach eingehender Befragung der Protogonisten die Wirklichkeit in den einzelnen Gerichtszweigen durchaus treffend beschrieb344. Im Anschluss daran übten selbst amtierende Richter schärfste Kritik an der Justiz in Büchern mit aufreizenden Titeln wie „Justiz am Abgrund“ (Patrick Burow), „Ende der Gerechtigkeit“ (Jens Gnisa), „Ende des Rechtsstaats“ (Ralph Knispel) und „Urteil: ungerecht – Ein Richter deckt auf, warum die Justiz versagt“ (Thorsten Schleif)345. Letzterer bezweifelt in seinen Darlegungen bereits die Kompetenz der eigenen Berufskollegen aufgrund deren praxisuntauglichen Ausbildung und des Verzichts auf qualifizierte Eignungstests. Demgegenüber bemühen sich andere Autoren um eine bessere Strukturierung und effizientere Verfahrensgestaltung des Zivilprozesses346.

343

Dazu eingehend Marten Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, 2011, S. 138 ff. Dazu meine Besprechung des Buchs in Betrifft JUSTIZ 2017, 105. 345 Burow befasst sich im Wesentlichen mit der Strafgerichtsbarkeit, die in der Tat völlig überlastet ist. Was das Buch von Gnisa anbelangt, so ist dieses weit weniger lesenswert als die dazu verfasste satirische Rezension von Regina Ogorek unter dem Titel „Biedermann und Brandstifter, oder Gnisas Ende“ in Myops, 2018, 4 – 16. Überzeugend, wenn auch ebenfalls auf die Strafgerichtsbarkeit bezogen, dagegen Amtsrichter Schleif, der die Unabhängigkeit der Justiz bestreitet, den Deutschen Richterbund eine „Vereinigung unterwürfiger Bittsteller“ nennt und Richter als eine gefährliche Kombination aus „Ignoranz und Arroganz“ beschreibt, die noch dazu von ihren eigenen Fähigkeiten überzeugter seien als Angehörige anderer Berufe. 346 So Johann Braun, Grundlagen des zivilprozessualen Diskurses, ZZP 2020, 271 – 317; Herbert Roth, Strukturen des Zivilrechtsschutzes, ZZP 2020, 135; Volker Vorwerk, Strukturiertes Verfahren im Zivilprozess, NJW 2017, 2326; Christian Duve/N. Schoch, Wege zu effizienten Verfahrensgestaltungen im Zivilprozess, AnwBl 17, 240. 344

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

3. Die Maßnahme der Bundesregierung zur Verbesserung der Qualität der Rechtspflege: Der „Pakt für den Rechtsstaat“ Dieser Entwicklung wollte die Bundesregierung mit dem Pakt für den Rechtsstaat Einhalt gebieten, der 2019 ohne Beteiligung der Anwaltschaft zwischen Bund und Ländern geschlossen wurde. Damit verbunden war eine „Offensive für den Rechtsstaat“. Nach einem Bericht des Bundesjustizministeriums wurden durch ihn seitdem in den Ländern 2041 neue Planstellen für Richter und Staatsanwälte geschaffen. Hierbei ging es auch darum, dem verbreiteten Gefühl eines „Kontrollverlustes“ des Staates in der Flüchtlingskrise zu begegnen. Es galt „die positive Wahrnehmung des Rechtsstaates“ dadurch zu fördern, „dass er erfahrbar und erfassbar wird“. Gerichtsentscheidungen sollten transparent und verständlich erläutert werden. Auch wurde in dem Maßnahmenkatalog aufgenommen, dass die Rechtspflege „durch Spezialisierung und Fortbildung des Justizpersonals“ gesichert werden solle347. Das mag erfreulich sein, doch stellen sich auch Zweifel am Erfolg der Aktion ein. Dies jedenfalls insofern ein, als die angebliche Überlastung der Richter keineswegs der alleinige Grund des mangelhaften Zustands der Zivilgerichtsbarkeit ist. Denn die Qualität der Rechtspflege hängt schließlich nicht allein von der Anzahl der Richter und deren Besoldung ab348, sondern doch wohl eher von deren Kompetenz, Effizienz und Arbeitsethos. Allenfalls dürfte damit der in der Tat stark überlasteten Strafgerichtsbarkeit geholfen werden. Auch wird zur Lösung hoch komplexer Fälle nicht allein die Spezialisierung ausreichen. Denn gerade diese Fälle verlangen fundamentale und umfassende Kenntnisse des Rechts und dessen Methoden. Wie bereits gesagt geht es bei Gericht vorrangig nicht um besonders schnelle Entscheidungen, sondern um die Wahrung des Richtigkeitspostulats349. Demnach dürften die Zivilrichter eher zu ermahnen sein, nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung wesentlich genauer in den Sach- und Rechtsstand einzuführen, den begründeten Beweisanträgen nachzugehen und die gesetzlich festgelegten Hinweispflichten zu befolgen. Denn dadurch wird deutlich, wie gut der Einzelne auf die Sitzung vorbereitet ist. Und nachdem es gerade denen, die den ganzen Tag Recht sprechen und damit der Déformation professionelle unterliegen, besonders schwerfällt, Fehler einzugestehen, wäre außerdem zu wünschen, dass die Qualität der Rechtspflege durch eine angemessene Fehlerkultur gesteigert wird, wie sie 2018 auf dem Deutschen Anwaltstag diskutiert wurde.

347 Zur Großen Justizreform, Verfahrensgerechtigkeit und Einrichtung von Spezialkammern H. Roth, Die Zukunft der Ziviljustiz, ZZP 2016, 3, 13. 348 Dazu der Beschluss des BVerfG DRiZ 2020, 316 f. sowie Sven Rebehn, Sorge um die hohe Qualität der Justiz, DRiZ 2020, 282. 349 Nach dem KG, OLGZ 1977, 479, muss der Richter im Rahmen des Beibringungsgrundsatzes alles tun, um eine in der Sache richtige Entscheidung herbeizuführen; die Parteien wünschten und brauchen eine schnelle, aber mehr noch eine richtige Entscheidung.

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Der Stellenaufbau wird mit Geld aus dem Bundeshaushalt in Höhe von 220 Mio E gefördert. Er kostet nach Schätzungen der Länder 400 Mio E pro Jahr. Inzwischen wird bereits eine Verlängerung des Paktes um zwei weitere Jahre mit zusätzlichen Bundesmitteln gefordert. So meldete der Deutsche Richterbund, es gelte in nächster Zeit altersbedingt 10.000 Richter und Staatsanwälte zu ersetzen, und zwar auch wegen der stark gestiegenen Zahl der Asylverfahren sowie wegen der notwendiger Neubesetzung auf den Gebieten Kapitalmarktrecht, Steuerstrafrecht und Cyberkriminalität. Noch nicht geregelt wurde der dringende Bedarf am nicht-richterlichen Justizpersonal.

II. Erfassung der gesetzlichen Vorgaben der Rechtsschutzgewährleistung gegen sachlich unrichtige letztinstanzliche Urteile Judikatives Unrecht kann nur effektiv bekämpft werden, wenn die Verfahrensordnung dem Betroffenen ein Instrumentarium bietet, das geeignet ist, sachlich fehlerhafte letztinstanzliche Entscheidungen zu verhindern. Eben deshalb hat das BVerfG wiederholt betont, dass die Grundrechte nicht nur einen materiell-rechtlichen, sondern auch einen prozeduralen Gewährleistungsgehalt haben. Neben dem Grundrechtsschutz im Verfahren stehe derjenige durch Verfahren350. Sicherlich ist nicht schon jeder Verfahrensfehler als Grundrechtsverstoß zu werten351 und Rechtsschutz muss es nicht ad infinitum geben. Die Frage ist jedoch, ob die Verfahrenswirklichkeit auch hergibt, was die Verfahrensordnung an Rechtsschutz zu leisten vorgibt. Fällt hier Norm und Wirklichkeit auseinander und kommt es dadurch zu grob fehlerhaften Entscheidungen, kann dies wie gesagt Ursachen haben, für die sowohl der Normgeber als auch der Normadressat, hier also der Richter, verantwortlich zu machen sind. Im ersteren Fall könnte legislatives, im letzteren Fall judikatives Unrecht vorliegen. Beides kann jedoch nicht voneinander getrennt werden, da letztlich stets das Gericht entscheidet. 1. Beschränkung des Rechtsbehelfs auf die Gehörsverletzung Als statthafter außerordentlicher Rechtsbehelf gegenüber dem judex a quo, dessen Entscheidungsverhalten Gegenstand dieser Untersuchung ist, kommt in erster Linie die durch die ZPO-Reform 2002 neu in die ZPO eingeführte Anhörungsrüge in Betracht, die nach den Gesetzesmaterialien vom Gesetzgeber ausdrücklich als eine Art wiedereinsetzungsähnliche, befristete gesetzliche Gegenvorstellung gerichtet an 350

So u. a. BVerfGE 61, 82, 110 = NJW 1982, 2173; 116, 135, 153 = NJW 2006, 3701, dazu M. Sachs, in: JuS 2007, 166 ff. sowie T. André/D. Sailer, in: JZ 2011, 555, 561. 351 BVerfGE 53, 30, 65; BVerfG NJW 2004, 151; anders jedoch BVerfG FamRZ 2010, 1225.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

den judex a quo ausgestaltet wurde352. Mit der Einführung des § 321a ZPO hatte dieser bekanntlich das Ziel verfolgt, die vom BVerfG aus Art. 2 I GG in Verb. mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III GG entwickelte Garantie wirkungsvollen (effektiven) Rechtsschutzes für die Rechtspraxis in die Tat umzusetzen, nachdem die Fachgerichte zuvor vom BVerfG ausdrücklich ersucht worden waren, ihnen unterlaufene Verstöße gegen die Verfahrensgrundrechte, so insbesondere gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, zur Vermeidung des Umwegs über die Verfassungsbeschwerde möglichst instanzintern im Wege der Selbstkontrolle zu beheben. Voraussetzung der Rüge ist, dass der Anspruch der Partei auf rechtliches Gehör vom judex a quo „in entscheidungserheblicher Weise“ verletzt wurde353. Ist dies der Fall gewesen, hat das Gericht gemäß § 321a V 1 ZPO der Rüge abzuhelfen, „indem es das Verfahren fortführt, soweit dies aufgrund der Rüge geboten ist“. Damit wird das Verfahren in die Lage zurückversetzt, in der es sich vor Schluss der mündlichen Verhandlung befand. Dies jedenfalls war die Vorstellung des Gesetzgebers. Aufgabe dieser Evaluation ist es festzustellen, ob sich die Vorschrift des § 321a ZPO dieser Zielsetzung entsprechend nicht nur bei gerichtlichen Pannen, sondern auch und gerade bei bewussten, also mit Problembewusstsein verübten richterlichen Verstößen gegen Art. 103 I GG als faktisch geltendes Recht in der Rechtspraxis durchgesetzt hat. Auch wenn deren Voraussetzungen und Rechtsfolgen hinreichend klar bestimmt wurden, bestehen angesichts der auffällig geringen Erfolgsquote der Anhörungsrüge als Sonderrechtsbehelf doch starke Zweifel an ihrer faktischen Wirksamkeit, nämlich zum einen schon aufgrund ihrer mangelhaften Konzeption und zum anderen aufgrund ihrer offenbar fehlenden Akzeptanz bei der Richterschaft. 2. Keine Sanktionierung der Verletzung der sonstigen Verfahrensgrundrechte Dagegen gibt es bislang keinerlei Anzeichen dafür, dass der Gesetzgeber beabsichtigt, zur Komplettierung des Rechtsschutzes in den nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren einen außerordentlichen Rechtsbehelf auch für die Fälle der Verletzung der übrigen Verfahrensgrundrechte in die ZPO einzuführen. Demnach ist die Vorschrift des § 321a ZPO insoweit sogar als verfassungswidrig zu betrachten, als sie es in Bagatellstreitigkeiten nicht zulässt, auch die Verletzung jener sonstigen Verfahrensgrundrechte zu rügen354. Fraglich ist daher, ob hier eine Rechtsschutzlücke vorliegt, die es etwa durch analoge Anwendung des § 321a ZPO auf die übrigen Verfahrensgrundrechte auszufüllen gilt. Schließlich waren es gerade diese Verstöße gewesen, die dazu führten, dass die Fachgerichte unter ausdrücklicher 352 Zöller-Vollkommer (Fn. 7), Einl. Rn. 103 und § 321a ZPO Rn. 1; Vollkommer, NJWSonderheft BayObLG 2005, S. 64, 69; Zuck, Die Anhörungsrüge im Zivilprozess, 2008, Rn. 16. 353 Siehe Christoph Fellner, Die aktuelle Rechtsprechung zur Verletzung des Anspruchs auf Gewährung des rechtlichen Gehörs im Zivilprozess, MDR 2020, 900 – 904. 354 So Raeschke-Kessler, Die Rechtsmittelreform im Zivilprozess von 2001 – ein Fortschritt?, AnwBl 2004, 321, 324. Gegen die analoge Anwendung in st. Rspr. BGH NJW 2016, 3035 Rn. 22.

§ 7 Anspruch und Rechtswirklichkeit der Zivilgerichtsbarkeit

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Billigung des BVerfG jene ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe entwickeln konnten. Insofern lag es ja auch durchaus nahe, vom Fortbestehen dieser Sonderrechtsbehelfe auszugehen355. Dementgegen hat das BVerfG in seinem Plenarbeschluss vom 30. 04. 03 ausdrücklich auf den Grundsatz der Rechtsmittelklarheit hingewiesen, wonach die Rechtsbehelfe „in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar“ sein müssen356. Dieser Grundsatz steht daher der weiteren Anerkennung der ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe entgegen, so vor allem der außerordentlichen Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit. Aber auch was die analoge Anwendung der §§ 321a ZPO, 152a VwGO usw. anbelangt, muss festgestellt werden, dass sich diese trotz des erheblichen Bedürfnisses der Rechtspraxis und trotz der beachtlichen Argumente u. a. Schnabls357 bislang in keiner Weise gegen die Richterschaft durchgesetzt hat. Insofern bleibt abzuwarten, ob es hier noch zu einer Nachbesserung seitens des Gesetzgebers kommt. Feststeht jedenfalls, dass es verfassungsrechtlich dringend geboten ist, die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten auf die Fälle der Verletzung der sonstigen Verfahrensgrundrechte zu erweitern, da insoweit die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde keineswegs ausreicht358. Die Beschränkung des Rechtsbehelfs auf die Fälle der Verletzung des rechtlichen Gehörs hat erhebliche Kritik ausgelöst. Denn es gab keinen zwingenden Grund, den durch die Anhörungsrüge gebotenen Rechtsschutz nicht auf die Verletzung aller anerkannten Verfahrensgrundrechte zu erstrecken359. Zwar mag zutreffen, dass in der Gerichtspraxis statistisch gesehen das rechtliche Gehör von allen Verfahrensgrundrechten weitaus am häufigsten verletzt wird. Das macht die übrigen Verfahrensgrundrechte jedoch nicht weniger schutzwürdig. Auch vom BVerfG wurde diese Beschränkung nicht gefordert. Darauf wird später einzugehen sein. Vorerst ist Gegenstand der Untersuchung allein der tatsächliche Umgang der Gerichte mit der Anhörungsrüge, um aus diesem Entscheidungsverhalten Rückschlüsse auf die Effektivität dieses Sonderrechtsbehelfs ziehen zu können. D. h., es gilt hier nur feststellen, was ist, also welche Qualität diesem Rechtsbehelf in der Verfahrenswirklichkeit zukommt, und nicht auch das, was verfassungsrechtlich sein sollte360. Daher 355

So Bloching/Kettinger, NJW 2005, 860, 863; Seer/Thulfaut, BB 2005, 1085. In der Plenarentscheidung des BVerfG NJW 2003, 1924/1926 heißt es dazu: „Die Verfahrensgrundrechte, insbesondere die des Art. 101 I und des Art. 103 I GG, sichern in Form eines grundrechtsgleichen Rechts die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards.“ 357 D. Schnabl, Die Anhörungsrüge nach § 321a ZPO, 2007, S. 93 ff. 358 A. Kettinger, Die Verletzung von Verfahrensgrundrechten – Die Flucht des Gesetzgebers vor seiner Verantwortung, ZRP 2006, 152; ders., Die Verfahrensgrundrechtsrüge, 2007. 359 Zur Frage der überwiegend abgelehnten analogen Anwendung des § 321a ZPO siehe BGH NJW 2008, 2126 f.; BVerfG NJW 2009, 3710; MüKo ZPO (Fn. 3), vor § 567 Rn. 14; Musielak (Fn. 170), § 321a Rn. 14; Schneider (Fn. 29), S. 973; Zöller-Vollkommer (Fn. 7), § 321a Rn. 3a. 360 Siehe Rehbinder (Fn. 7), Rn. 29; Röhl/Röhl (Fn. 8), § 81 I. 356

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

ist auch die schon recht umfangreiche Kasuistik zur Anhörungsrüge zunächst nur ohne kritische Würdigung in ihrem Einfluss auf die Rechtswirklichkeit darzulegen. 3. Kein effektiver Rechtsschutz bei Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten Ebenso wie die Regelungen über die Anhörungsrüge stellt sich auch die Vorschrift über die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 5 ZPO als Sanktionsnorm der restitutiven Art dar. Auch sie ist an den Rechtsstab als Kontrollorgan gerichtet und bezieht sich, wenn auch nicht ausdrücklich, so jedenfalls ihrer ratio entsprechend auf den Kerngehalt der in Art. 20 III und 97 I 2. Halbs. GG enthaltenen Sollensanordnung, elementare Rechtsverstöße, Rechtsmissbrauch und blanke Willkür strikt zu unterlassen. Die von ihr vorgesehene Sanktion, die Aufhebung des angefochtenen Urteils, greift allerdings wie gesagt nur dann, wenn die Voraussetzungen des § 581 I ZPO erfüllt sein sollten. Da es sich bei der richterlichen Spruchtätigkeit anerkanntermaßen nicht um einen reproduzierenden, sondern um einen rechtsschöpferischen Akt handelt, bei dem eine Rechtsfortbildung durch Rechtsfindung in den vom Gesetzgeber nicht geregelten Fällen keineswegs ausgeschlossen sein soll361, lässt sich naturgemäß im Einzelfall nur schwer beurteilen, wann eine Entscheidung als noch gerade vertretbar und wann sie als schlechthin nicht mehr akzeptabel zu bewerten ist. Demzufolge hat der Gesetzgeber auch nur eine einzige, extrem gesetzwidrige Verhaltensweise des Richters als so schwerwiegend erachtet, dass er sich veranlasst sah, sie sogar unter Strafe zu stellen, d. h. förmlich zu kriminalisieren, nämlich eben die Rechtsbeugung des § 339 StGB. Damit aber wollte er der freien Rechtsfindung der Judikative durchaus eine klare, wenn auch konkretisierungsbedürftige Grenze setzen. Die Tatsache, dass er diese Straftat sogar als Verbrechen mit der Folge des Amtsverlustes gemäß § 45 I StGB einstufte, zeigt jedenfalls, welch außerordentlich hohen Stellenwert er der Aufrechterhaltung der Integrität und Unparteilichkeit der Rechtspflege und damit deren Schutz gegen Angriffe „von innen“ ursprünglich beigemessen hat. Umso seltsamer erscheint, dass es einer einzelnen Prozesspartei in einer Zivilsache dennoch so gut wie nie gelingt, selbst einen angeblich „jedem Zweifel entrückten, offensichtlichen Fehlgriff“ des Richters prozessual daraufhin überprüfen zu lassen, ob dieser angebliche Fehlgriff nun den Tatbestand des § 339 StGB erfüllt hat oder nicht. Selbst in den Fällen, in denen die Partei an einer Bestrafung des Richters gar nicht interessiert ist, weil es ihr allein um die Aufhebung der Entscheidung geht, muss sie zunächst einmal durch eine Strafanzeige die Voraussetzung schaffen, dass ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wird, damit überhaupt ein Strafurteil gegen ihn ergeht, auf das sie sich dann in ihrer Restitutionsklage ggf. beziehen kann. Zur Anklageerhebung ist die Staatsanwaltschaft jedoch im Zweifel schon aus Opportunitätsgründen nicht bereit, sofern sie das gegen den Richter eingeleitete Ermitt361

BVerfGE 71, 354.

§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO

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lungsverfahren nicht ohnehin mangels Tatverdachts bereits wieder eingestellt hat. Zwar hat dann die Partei noch die Möglichkeit, beim Oberlandesgericht den Antrag nach § 172 II 1 StPO zu stellen. Aber auch damit wird sie scheitern, selbst wenn sie die diffizilen Zulässigkeitserfordernisse dieses Antrags erfüllt haben sollte, da die Strafkammer des Oberlandesgerichts bei der Beurteilung des Sachverhalts wie sich gezeigt hat nicht von der früheren Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB abweichen wird. Damit erweist sich bereits das Klageerzwingungsverfahren für sie als kaum zu überwindende Zugangssperre (weiter unter § 11 III.).

§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO Die Einführung der Anhörungsrüge in die ZPO und deren notwendige Nachjustierung durch das Anhörungsrügegesetz und die Justizmodernisierungsgesetze auf Veranlassung des BVerfG war sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung und schien zunächst auch einen Fortschritt in den Bemühungen um eine weitere Effektuierung des Rechtsschutzes in Zivilsachen darzustellen. Für die Rechtspraxis kommt es jedoch darauf an, ob diese (weitere) „Intervention“ des Gesetzgebers in die Verfahrenswirklichkeit von den Gerichten inzwischen auch in geltendes (d. h. im Sinne Eugen Ehrlichs „lebendes“) formelles Recht umgesetzt wurde. Folglich ist nunmehr als zweite Aktion der Evaluationsdurchführung der Frage nachzugehen, ob sich jener bescheidene Ansatz eines „Rechtsschutzes gegen den Richter“ auch in der Rechtspraxis als durchsetzbar erwiesen hat, d. h., inwieweit sich aufgrund der neueren Rechtsprechung Veränderungen der Verfahrenswirklichkeit feststellen lassen, die sich auf die eingangs geschilderten „Interventionen“ zurückführen lassen. Inzwischen ist die Kasuistik zu § 321a ZPO sowie das Schrifttum zur Anhörungsrüge362 mit massiver Kritik am Gesetzgeber, dem vorgeworfen wird, den Fachgerichten die Verpflichtung zur internen Selbstkontrolle in völliger Verkennung der Eignung der Vorschrift zur Realisierung der mit ihr verfolgten Ziele auferlegt zu haben, nahezu unübersehbar geworden. Kurze Zeit nach der ZPO-Reform 2002 wurden von einigen Rechtswissenschaftlern sogar beachtliche Versuche unternommen, die Implementation des § 321a ZPO auf empirischer Basis zu überprüfen. Obwohl diese Arbeiten nicht explizit der Effektivitäts- und Implementationsforschung zugeordnet wurden, stellen sie faktisch Gesetzesevaluationen dar, die es hier zwingend zu berücksichtigen gilt. Insofern hat Röhl zu Recht darauf hingewiesen, dass auch solche „Äußerungen unter fremder Flagge“, wie sie sich als kritische Jurisprudenz in rechtsdogmatischen, politik- oder verwaltungswissenschaftlichen Schriften finden, der Rechtssoziologie durchaus zugerechnet und von ihr vereinnahmt werden sollten363. 362 Siehe insbesondere Kirchberg, Die Anhörungsrüge – viel Aufwand, wenig Ertrag, FS Krämer, 2009, S. 43, sowie die unter der Fn. 29 angeführte Literatur. 363 So eine Äußerung von Klaus F. Röhl 2010 auf seinem Webblog „rsozblog.de“.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

I. Unzulängliche Implementierung des § 321a ZPO Unzulänglich implementierte Normen beeinflussen ganz wesentlich die richterliche Entscheidung. Dafür bietet § 321a ZPO ein ausgesprochen typisches Beispiel. Andererseits kann es jedoch auch dazu kommen, dass eine grundsätzlich zur Anwendung geeignete, wenn auch noch konkretisierungsbedürftige Norm von der Rechtsprechung bewusst ignoriert und damit der Erosion preisgegeben wird. Dies trifft geradezu exemplarisch auf die Vorschrift des § 339 StGB zu, deren instrumentelle Funktion bereits nahezu vollständig an Bedeutung verloren hat mit der weiteren Folge, dass damit auch der Prozesspartei die Möglichkeit entzogen wurde, insoweit Rechtsschutz gegen rechtskräftige Urteile über die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO zu begehren. Nachfolgend sind daher im Rahmen des Möglichen sowohl die Spruchtätigkeit des Richters zu beschreiben, der als Leiter eines Gerichtsverfahrens im Rahmen einer instanzinternen Selbstkontrolle – auf grundsätzlich bedenkliche Weise – „in eigener Sache“ fungiert, als auch die Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft nach Kenntniserlangung konkreter Anzeichen für das Vorliegen eines Anfangsverdachts einer richterlichen Rechtsbeugung. Beides berührt die Frage nach der prozessual statthaften Überprüfbarkeit sachlich unrichtiger rechtskräftiger Endurteile und damit das fundamentale Problem des – primären – Rechtsschutzes gegen die Judikative. Im Rahmen dieser Durchführungsphase sind somit getrennt voneinander zwei unterschiedliche Soll-Ist-Vergleiche anzustellen: In beiden Fällen geht es um den Abgleich des Ist-Zustands der Verfahrenswirklichkeit letztinstanzlicher Zivilgerichtsverfahren mit dem von der Verfahrensordnung vorgegebenen Soll, das seinerseits vom Verfassungsrecht und dem europäischen Zivilprozessrecht determiniert wird. Zu unterscheiden ist jedoch auf der einen Seite die Eignung der Verfahrensnormen zur Rechtsschutzgewährleistung verglichen mit den Grundnormen und Leitsätzen der Verfassung und des Unionsrechts von der auf der anderen Seite zu beobachtenden faktischen Handhabung dieser Regularien durch die Gerichte verglichen mit dem Soll des Entscheidungsverhaltens, das den Richtern durch andere, ebenfalls verfassungsrechtliche Rechtsnormen und Grundsätze vorgegeben ist, die sich auf die gesetzestreue Anwendung des Rechts schlechthin beziehen. Ersteres betrifft die Qualität der Rechtsnormen, letzteres die Qualität der Rechtsanwendung. Erst beides zusammen bestimmt die Effektivität des Rechtsschutzes, auf die der Einzelne einen subjektiven Anspruch hat364. Um diese Vergleiche anstellen zu können, bedarf es daher vorab sowohl der Darlegung der für die Rechtsschutzgewährleistung gegen bereits rechtskräftige Urteile maßgeblichen Rechtsnormen und Verfahrensgrundsätze als auch der Schilderung der für das richterliche Entscheidungsverhalten maßgeblichen geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltens- und Sanktionsnormen.

364 Vgl. P. M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl. 2010, Art. 19 IV Rn. 459 ff.

§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO

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II. Bisherige Ansätze zur Evaluierung des § 321a ZPO Von diesen Arbeiten ist insbesondere der „Erfahrungsbericht“ Vollkommers aus dem Jahre 2004 hervorzuheben365, aber auch der besonders kritische Beitrag Schneiders über die Gehörsrüge als „legislative Missgeburt“366. Die durchweg zutreffenden Feststellungen dieser Autoren gilt es zunächst wiederzugeben. Nach Diekmann sollte zwar bei der Hypothesenprüfung an die Stelle der Beachtung aller sich bietenden Informationen als Prüfkriterium nicht die Übereinstimmung der eigenen Hypothese mit den Ansichten einer allseits anerkannten Autorität treten367. Darüber hinaus gibt es jedoch keinen Grund, diese Feststellungen nicht zur Kenntnis zu nehmen und sie nach eigener Einschätzung bei der Überprüfung der eigenen Hypothese nicht mit zu verwerten. 1. Der Erfahrungsbericht Vollkommers aus dem Jahr 2004 Vollkommer publizierte seinen Bericht unter dem Titel „Erste praktische Erfahrungen mit der neuen Gehörsrüge gemäß § 321a ZPO“. In ihm wertete er insgesamt 16 unveröffentlichte Entscheidungen der Amtsgerichte München, Köln, Nürnberg und Schwabach zu § 321a ZPO aktenmäßig aus und kam dabei zu Ergebnissen, die heute niemand mehr zu überraschen vermögen: a) Feststellung der Problematik des Anhörungsrügeverfahrens Wie schon der Titel besagt, beschreibt der Autor lediglich den ersten praktischen Umgang der Richterschaft mit der neuen Vorschrift, wobei er anfangs darauf hinweist, dass in jenen 16 Abhilfeverfahren nicht die unbeabsichtigten Gehörsverletzungen den Schwerpunkt der Rügen bildeten, sondern die Sachverhaltserfassung und die „bewussten“ Verfahrens- und Entscheidungsfehler wie das Übergehen bzw. die Nichtberücksichtigung von entscheidungserheblichem Vorbringen und Beweisangeboten, die unterbliebenen Hinweise gemäß § 139 ZPO und der Erlass von Überraschungsentscheidungen368. Dennoch behandelt der Bericht bereits exakt die wesentlichsten Probleme des Anhörungsrügeverfahrens, die sinngemäß wie folgt beschrieben werden: - Zunächst bestünde die von den rechtspolitischen Gegnern der Einführung des § 321a ZPO geäußerte Befürchtung der rechtsmissbräuchlichen Verwendung der Rüge als verkappte Berufung.

365

Vollkommer, in: FS für Musielak 2004, S. 619. Schneider (Fn. 20), FS Madert 2006, S. 187 ff. 367 Diekmann (Fn. 322), S. 63 f. 368 Siehe zu diesem Begriff Schnabl (Fn. 359), S. 211; Bloching/Kettinger (Fn. 357), S. 863. 366

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

- Dann läge das Hauptproblem des Verfahrens schon per se in der Unzulänglichkeit der Selbstkontrolle369, da der Richter, der gerügt wurde, einen der tragenden verfassungsrechtlichen Verfahrensgrundsätze verletzt zu haben, „psychologisch in eine Verteidigerposition gedrängt (werde), die er durch eine begründete Zurückweisung der Anhörungsrüge rechtfertigen“ werde. - Ferner gäbe es Schwierigkeiten beim Nachweis der Gehörsverletzung in den Fällen des Übergehens des Kerngehalts des Parteivortrags aufgrund der Tendenz zur Überspannung der Formalvoraussetzungen des notwendigen Inhalts der Rüge vor allem bezüglich der Entscheidungserheblichkeit. - Schließlich sei entgegen § 321a IV 4 ZPO („kurz zu begründen“) häufig eine nur formelhafte Zurückweisung der Rüge festzustellen ohne jede Auseinandersetzung mit dem (oft umfangreichen) Rügevorbringen.

b) Die Schlussfolgerungen Vollkommers aus den Fallanalysen Obwohl diese Erkenntnisse nur auf der Grundlage einer minimalen Anzahl ausgewählter Entscheidungen gewonnen wurden und in dem Bericht nicht als Schlussfolgerungen einer absolut methodengerecht durchgeführten Datenanalyse präsentiert werden, können sie dennoch durchaus den Anspruch erheben, als Thesen empirisch verifiziert worden zu sein: - Ob die Befürchtung gerechtfertigt sei, die Anhörungsrüge werde als verkappte Berufung missbraucht, sei zuverlässig erst nach einer empirischen Untersuchung zu beantworten. Wenn „man einerseits dem Richter große Freiheiten bei der ,Verbescheidung‘ des Parteivorbringens in den Urteilsgründen“ zugestehe und ihm darüber hinaus auch noch die nachträgliche Erklärung gestatte, „er habe das Vorbringen doch zur Kenntnis genommen und erwogen und hätte auch ohne den Verfahrensfehler keine andere Entscheidung getroffen“, so müsse man auch „andererseits der Partei, die ihren vorgetragenen Standpunkt im Urteil ,nicht wiederfindet‘, zubilligen, die Gehörsrüge zu erheben“. Es gehe daher nicht an, „die ,wegen angeblicher Gehörsverletzung ohne berechtigten Hintergrund‘ und die ,von Rechtsanwälten evtl. auch aus Haftungsgründen‘ erhobenen Rügen in die Nähe von Missbräuchlichkeit und Querulantentum zu rücken“. - Da bei den nicht berufungsfähigen Urteilen gemäß § 313a I 1 ZPO kein Tatbestand geschrieben werden müsse, fehle der Begründungszwang als Mittel zur Sicherung des rechtlichen Gehörs und als Hilfe für den Nachweis einer Gehörsverletzung370. Denn „aus dem ,Schweigen‘ der ohnehin knappen Entscheidungsgründe (werde) man in der Regel nicht auf eine in der Unvollständigkeit der Begründung zum Ausdruck kommende Gehörsverletzung schließen können“. In der Praxis werde von der Erleichterung der §§ 313a I 1 mit 511 II ZPO reichlich Gebrauch gemacht. 369 370

Vollkommer (Fn. 367), S. 653 f. Vollkommer (Fn. 367), S. 630 f.

§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO

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- Die geringe Erfolgsquote der Rüge habe ihre Ursache vor allem in der strukturellen Schwäche des Rügeverfahrens, „das den judex a quo gleichsam zum Richter über die eigenen Gehörsverletzungen setzt“, weshalb „dessen Erfolg wesentlich von der ,Mitwirkung‘ des Richters bei der Feststellung des Verstoßes und seiner Entscheidungserheblichkeit abhängt“. Auf dessen Kooperation sei jedoch keineswegs Verlass, zumal dann der Fehler auch noch nach außen hin dokumentiert werden müsste. Das Ablehnungsverfahren sei nicht dazu in der Lage, dieser Schwäche abzuhelfen. - Effektiv sei das Abhilfeverfahren nur in den sog. Pannenfällen, also in den Fällen der „unbeabsichtigten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör“, problematisch dagegen bei „bewussten“ Fehlern des Richters, also in den Fällen, in denen dieser mit Problembewusstsein handelte und dabei falsche rechtliche Erwägungen zu dem Verfahrens- oder Entscheidungsfehler führten. Denn die Praxis zeige, dass bei einem Richter, der im Ausgangsverfahren das Recht auf Gehör (z. B. durch Unterlassen von Hinweisen gemäß § 139 ZPO) gröblich verletzt hat, wenig bis keine Neigung bestehe, durch Eingeständnis seines Fehlers das versagte Gehör im Abhilfeverfahren nachzuholen. In Bagatellsachen könne man sich mit dem „geminderten“ Rechtsschutz des Abhilfeverfahrens durch den judex a quo begnügen371. Es wäre aber „ein Irrweg …, im Ausbau des § 321a ZPO zu einem für sämtliche nicht rechtsmittelfähigen Entscheidungen auch der höheren Instanzen geltenden allgemeinen Prinzip die Lösung des Problems des innerprozessualen Grundrechtsschutzes zu suchen“. Dennoch ist der Gesetzgeber diesem „Irrweg“ auf Anregungen des BVerfG gefolgt und ließ die Gehörsrüge gegen jede Entscheidung gleich welcher Instanz zu, soweit die ZPO insoweit kein Rechtsmittel vorsah. Zwar war dies durchaus konsequent, beruhte jedoch auf einer völlig unrealistischen Vorstellung von der Bereitschaft der Richter zu einer effektiven Selbstkontrolle. 2. Die massive Kritik Egon Schneiders am Anhörungsrügegesetz Schneider bemängelt vor allem die verfehlte Zielsetzung des ZPO-ReformG 2002 sowie zahlreiche handwerkliche Fehler des Gesetzgebers: Bei Einführung der Anhörungsrüge aufgrund jenes Reformgesetzes sei es Ziel des Gesetzgebers gewesen, das BVerfG „von der Korrektur objektiver Verfahrensfehler“ zu entlasten, „die einfacher und ökonomischer instanzintern behoben werden“ könnten (BT-Drs. 15/ 3706). Denn die Duldung der Ausnahmebeschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit und der übrigen von den Fachgerichten entwickelten außerordentlichen Rechtsbehelfe durch das BVerfG habe keineswegs ausgereicht, ein weiteres Ansteigen der Beschwerden zu verhindern. Dem sollte nunmehr mit der gesetzlich geregelten Anhörungsrüge begegnet werden. Wie ähnlich schon von Vollkommer 371

Vollkommer (Fn. 367), S. 654, mit Hinweis auf K. G. Deubner, JuS 2003, 896.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

festgestellt, sei es hierbei jedoch zu gravierenden Implementationsfehlern gekommen. Im Einzelnen: - Schon bei der Formulierung der Vorschrift sei verabsäumt worden, zwischen den versehentlichen, fahrlässigen und vorsätzlichen Gehörsverletzungen zu differenzieren, also vor allem zwischen den sog. Pannenfällen und den „bewussten“ Verstößen gegen Art. 103 I GG372. Denn die Reaktion der Richter falle je nach der Schwere des Vorwurfs sehr verschieden aus. So würden diese zwar bereitwillig Fehler einräumen, die ihnen rein versehentlich unterlaufen sind, doch seien sie im Zweifel keineswegs geneigt, auch „bewusst“ falsche Entscheidungen als Verstöße gegen die Verfassung einzugestehen. Vielmehr würden gerade in diesen Fällen bei ihnen Abwehrmechanismen aktiviert wie das schlichte Leugnen des Fehlers oder dessen Entscheidungserheblichkeit. Diese unterschiedlichen Verfahrensverstöße gleichbehandelt zu haben, sei eine unbegreifliche Nachlässigkeit des Gesetzgebers gewesen. - Vor der Implementierung des § 321a ZPO habe der Gesetzgeber das ihm verfassungsrechtlich obliegende Vorprüfungsgebot unbeachtet gelassen. Die gravierenden Mängel der Vorschrift, die sich zeigten, wären klar vorhersehbar gewesen. Auch dieser Vorwurf ist berechtigt: Das dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entnommene Gebot der Gesetzesfolgenabschätzung ist zwar vorrangig bei Eingriffen des Gesetzgebers in die Grundrechte zu beachten, während es hier um eine Programmintervention in Form der Erweiterung des Rechtsschutzes zugunsten der Prozessparteien ging. Dabei hätte aber auch der sachgemäße Vollzug der Vorschrift durch den judex a quo sichergestellt werden müssen. Gerade daran scheiterte jedoch die Reform. - Die ohnehin bereits äußerst begrenzte Bereitschaft der Richter, eigene Fehler einzugestehen, sei noch zusätzlich dadurch eingeschränkt worden, dass in § 321a IV 4 ZPO der auf eine Gehörsrüge ergangene Beschluss für unanfechtbar erklärt wurde. Sinnvoller wäre es gewesen, dem Vorschlag Gravenhorsts373 zu folgen, den judex a quo im Falle der Nichtabhilfe zu verpflichten, die Rüge dem übergeordneten Gericht zur Entscheidung vorzulegen. – An diesen Mängeln habe auch die Neuregelung des § 321a ZPO durch das Anhörungsrügegesetz nichts geändert, weil damit nur den Mindestanforderungen der BVerfGE 107, 395 entsprochen worden sei. Hinzugekommen sei auch noch, dass der beantragte Beschluss, der nach der früheren Fassung des § 321a IV 4 ZPO noch entsprechend § 313 I Nr. 6, III ZPO zu begründen war, nach der Neufassung nur noch „kurz“ zu begründen sei. Die Neuregelung sei daher nichts als „legislatives Flickwerk“. Allem Anschein nach waren also die Gerichte davon ausgegangen, die Behandlung der „bewussten“ Fehlgriffe weiter dem BVerfG überlassen zu können. Sinn und Zweck der Gehörsrüge war aber selbstverständlich auch der – vorgelagerte – 372 373

Dazu Schnabl (Fn. 359), S. 209 ff. mit Hinw. auf Vollkommer (Fn. 367), S. 522. Gravenhorst, MDR 2003, 888.

§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO

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Grundrechtsschutz der Parteien. Schließlich waren dem judex a quo in § 321a ZPO bezogen auf mögliche Verstöße seinerseits gegen Art. 103 I GG keineswegs eingeschränkte, sondern umfassende Kontrollbefugnisse eingeräumt worden, die es pflichtgemäß zu nutzen galt, die wider Erwarten aber gar nicht genutzt wurden. Schneider bezeichnete daher die Begründung des Gesetzesentwurfs, in der die Rechtswirklichkeit grundlegend verkannt worden sei, „als zu Papier gebrachtes Wunschdenken“374 3. Weitere kritische Stimmen zu § 321a ZPO Was die übrige umfangreiche Kritik an der Anhörungsrüge betrifft, so seien insoweit nur die krass formulierten Kernaussagen folgender Autoren abgekürzt wiedergegeben: Braun zur Fristenregelung des § 321a ZPO: Diese Regelung offenbare „ein Chaos unterschiedlicher Wertungen, das so nicht bestehen bleiben kann, wenn der Rechtssuchende am Recht nicht verzweifeln soll“375. Kirchberg376 : Die Anhörungsrüge habe sich „ganz überwiegend als erfolglos bzw. ineffektiv“ erwiesen. Derselbe zu § 321a IV 5 ZPO: Zur Entlastung der BVerfG sollte der Beschluss „nicht nur ,kurz‘, sondern jedenfalls so umfangreich begründet werden, dass ein präsumtiver Beschwerdeführer die Chancen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens wegen Verletzung des Art. 103 I GG einigermaßen realistisch einschätzen kann und … tatsächlich in die Lage versetzt wird, sich inhaltlich mit der Begründung … auseinanderzusetzen. Sangmeister377: „Die Annahme des BVerfG, wer bei Gericht formell ankommt, solle auch substantiell ankommen, also wirklich gehört werden, bleibt angesichts der alltäglichen Gehörsverletzungen ein uneinlösbares Heilsversprechen“. Derselbe zur instanzinternen Selbstkontrolle: „Nicht dass auch Richter Fehler machen, ist das Problem, sondern, dass sie diese nicht einräumen … und nicht zur Verantwortung gezogen werden können“. Schellhammer zu § 321a IV 5 ZPO: „Wieder einmal hat sich der Gesetzgeber der trügerischen Hoffnung hingegeben, eine kurze Begründung mache weniger Mühe und koste weniger Zeit als eine lange, und dies ausgerechnet im Umgang mit dem Vorwurf, das rechtliche Gehör sei verletzt worden“. Derselbe zur instanzinternen Selbstkontrolle: „Die Einsicht des Gerichts in den eigenen Fehler bleibt regelmäßig ein frommer Wunsch, solange die Zurückweisung der Rüge unanfechtbar ist“ 378. Zuck zum Anhörungsrügegesetz: Dieses sei „eine gesetzliche Anleitung zum Unglücklichsein“379. Dagegen Treber in NJW 2005, 97, 99: „Dass es das Vermögen des Richters generell übersteigt, einen Irrtum – und 374

E. Schneider (Fn. 20), Die Gehörsrüge, S. 189. MüKo ZPO (Fn. 3), am Ende der Rn. 28 zu § 579 ZPO. 376 Kirchberg (Fn. 364), S. 46 und 57. 377 Sangmeister (Fn. 20), S. 659; ders.,„Oefters todtgesagt bringt langes Leben“ – Doch noch ein (kleiner) Hoffnungsschimmer für die Anhörungsrüge?, NJW 2007, 2363, 2369. 378 Schellhammer, Zivilprozessrecht, 13. Aufl. 2010, Rn. 833. 379 Zuck, Die Anhörungsrüge im Zivilprozess, NJW 2005, 1226, 1229. 375

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gar schwarz auf weiß – zugeben zu müssen, ist eine nicht näher belegbare Vermutung.“

III. Vorschläge im Schrifttum zur Rettung der Anhörungsrüge Im Schrifttum haben diverse Autoren den Versuch unternommen, die Effektivitätsproblematik der Anhörungsrüge durch eine verfassungskonforme Auslegung des § 321a ZPO in den Griff zu bekommen, nämlich dem Grundsatz der Normerhaltung entsprechend in Richtung auf eine Anpassung des de lege lata bestehenden Rechtsschutzes an die verfassungsrechtliche Mindestgarantie des Justizgewährungsanspruchs. Obwohl hier die Ansicht vertreten wird, dass eine extensive Auslegung des § 321a ZPO schon wegen des Widerspruchs zu den exklusiven Vorschriften der §§ 578 ff. ZPO ausscheidet, sollen nachfolgend diese Versuche der Rettung jener Ausnahmevorschrift wiedergegeben und kritisch gewürdigt werden. 1. Gravenhorst und Bloching/Kettinger: Vorlage an den judex ad quem Als erster schlug Gravenhorst vor380, das Anhörungsrügeverfahren im Fall der Nichtabhilfe vor dem judex ad quem des übergeordneten Gerichts fortzuführen. Dem judex a quo sei daher für diesen Fall eine Vorlagepflicht ähnlich § 572 I ZPO aufzuerlegen. Diesen Vorschlag einer Kombination des Abhilfeverfahrens mit einer Vorlagepflicht befürworten auch Vollkommer sowie Bloching/Kettinger, denen zufolge eine instanzinterne Selbstkontrolle bei „bewussten“ Verstößen gegen die Verfahrensgrundrechte nicht ausreiche, weshalb „eine Überprüfung nur durch einen absolut unvoreingenommenen Richter denkbar“ sei381. In Betracht käme nur ein Rechtsbehelf mit Devolutiveffekt, ausnahmsweise eine Überprüfung durch einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts. Ebenso betont Krugmann, dass es einer übergeordneten Instanz sowohl zur Wahrung der Rechtseinheit als auch insbesondere zur Sicherstellung der Qualität des Rechtsschutzsystems bedarf382. 2. Seer/Thulfaut: Beschwerde zum judex ad quem Diese Autoren bezweifeln bereits die Effektivität der Anhörungsrüge als Hilfsmittel bei „schlichten Pannen“ des Gerichts. Auch hier bedürfe es „einer gewissen Größe des Richters“, eine solche einzugestehen und nach außen hin offen einzuräumen383. Umso mehr dürfte es in den Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit an dessen 380

Gravenhorst, MDR 2003, 887. Vollkommer (Fn. 234), S. 1037 und 1040; Bloching/Kettinger (Fn. 244), S. 863. 382 Krugmann (Fn. 133), S. 307. 383 Seer/Thulfaut, Die neue Anhörungsrüge als außerordentlicher Rechtsbehelf im Steuerprozess, BB 2005, 1085, 1088. 381

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Bereitschaft fehlen, eigene Fehlentscheidungen in einem Selbstprüfungsverfahren zu korrigieren. Da sich der Gesetzgeber auf das Minimalziel des Schutzes vor Gehörsverletzungen beschränkt hat, würde sich bei der Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte anbieten, weiter von der (ungeschriebenen) außerordentlichen Beschwerde (wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit bzw. groben prozessualen Unrechts) zum judex ad quem Gebrauch zu machen, die nach der Gesetzesbegründung zu § 321a ZPO (BT-Drs. 14/4722, 14) nicht ausgeschlossen werden sollte, was vom IV. Senat des BFH ausdrücklich bestätigt worden sei (BFH , BB 2004, 1726). Wenn das Rügeverfahren „nicht zur Farce werden“ solle, seien außerdem im Wege der verfassungskonformen Auslegung des § 321a ZPO „Mindestvoraussetzungen an die Begründung eines die Rüge zurückweisenden Beschlusses zu stellen“. Denn auch eine Kurzbegründung müsse erkennen lassen, dass das Gericht den Rügevortrag (im Kerngehalt) zur Kenntnis genommen hat. 3. Schnabl: Analoge Anwendung des § 42 II ZPO Nach Ansicht Schnabls könne „das Effektivitätsdefizit schon durch die Entscheidung eines anderen Richters behoben werden. Zu diesem Ergebnis führe der Weg über die Richterablehnung analog § 42 II ZPO. Die Richterablehnung stelle „wohl die einzige Möglichkeit“ dar, „in den problematischen Fällen auf der Grundlage des geltenden Rechts effektiven Rechtsschutz zu erlangen“. Das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes unter Berücksichtigung des Art. 101 I 2 GG gebiete eine verfassungskonforme Auslegung des § 42 II ZPO dahingehend, dass anstelle des judex a quo ein „anderer“ Richter im Sinne des § 45 II ZPO über die Anhörungsrüge zu entscheiden hat, der dann wohl eigens im Geschäftsverteilungsplan als hierfür zuständig bestimmt werden müsste. Besser noch sei allerdings eine Lösung de lege ferenda im Sinne des Vorschlags von Gravenhorst. 4. Kritische Würdigung der Regelungsvorschläge Zum Vorschlag von Gravenhorst und Bloching/Kettinger: Dieser dürfte, weil zu weitgehend, jedenfalls nicht durchsetzbar sein. Denn er würde faktisch auf die Anerkennung einer weiteren (dritten) Instanz hinauslaufen, auf die nach der – wenn auch sehr umstrittenen – Rechtsprechung des BVerfG gerade kein Anspruch besteht. Die Anhörungsrüge würde nämlich dadurch von einem nur außerordentlichen Rechtsbehelf faktisch zu einem zusätzlichen Rechtsmittel gleich der sofortigen Beschwerde gemäß §§ 567 ff. ZPO mutieren mit der Folge, dass dadurch die mit der Rüge angefochtene Entscheidung gar nicht in Rechtskraft erwachsen könnte. Dieser Lösungsvorschlag scheidet daher von vornherein aus, abgesehen davon, dass er auch mit den exklusiven Vorschriften der §§ 578 ff. ZPO über die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht vereinbar wäre. Doch ist nochmals zu erwähnen, dass nach den Materialien zu § 321a ZPO (BTDrs. 15/3706, S. 14) der Anwendungsbereich der

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außerordentlichen Beschwerde nicht ausgeschlossen wurde, weshalb die Frage deren gewohnheitsrechtlicher Fortgeltung derzeit als ungeklärt gilt. Zum Vorschlag von Seer/Thulfaut: Deren Beitrag beschränkt sich im Wesentlichen auf die Empfehlung, die Parteien sollten in den Fällen, in denen es um die Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte geht als um diejenige der Garantie des rechtlichen Gehörs, weiter die angeblich noch immer bestehende Möglichkeit der (ungeschriebenen) außerordentlichen Beschwerde nutzen. Dies würde allerdings dazu führen, dass die Rüge einer Gehörsverletzung vom judex a quo, die Rüge der Verletzung eines der übrigen Verfahrensgrundrechte dagegen vom judex ad quem zu beurteilen wäre. Angesichts der Problematik der Selbstkontrolle wäre dann ausgerechnet dasjenige Verfahrensgrundrecht, dem das BVerfG von allen Verfahrensgrundrechten die größte Bedeutung beimisst, nämlich eben die Garantie des rechtlichen Gehörs, effektiv deutlich weniger geschützt als die übrigen angeblich weniger bedeutsamen Verfahrensgrundrechte. Das aber widerspräche krass sowohl der Intension des BVerfG als auch dessen Effektivitätsvorbehalt. Folgerichtig meinen daher die Autoren, dass es besser wäre, die Anhörungsrüge den Regeln des Beschwerdeverfahrens anzupassen. Dabei übersehen sie jedoch ebenso wie Gravenhorst und Bloching/Kettinger, dass diese Rüge dann kein außerordentlicher Rechtsbehelf mehr wäre, sondern ein neu in die ZPO implementiertes Rechtsmittel mit allen Folgen für die Rechtskraft der damit angegriffenen Entscheidung. Diese Lösung entfällt daher ebenso. Der Beitrag jener Autoren ist jedoch insofern überzeugend, als darin eine verfassungskonforme Auslegung des § 321a IV 4 ZPO dahingehend gefordert wird, dass Mindestanforderungen auch an die Kurzbegründung, die dem judex a quo abverlangt wird, zu stellen seien. Die hierfür vorgebrachten Argumente überzeugen durchaus: Denn selbstverständlich muss auch die Kurzbegründung erkennen lassen, dass das Gericht den mit der Rüge unterbreiteten Vortrag zur Kenntnis genommen und sich damit auseinandergesetzt hat. Ob dies anzunehmen ist, kann nur an Hand der Begründung des zurückweisenden Beschlusses überprüft werden. Lässt diese keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Rüge erkennen, muss davon ausgegangen werden, dass es den Rügeführer auch im Anhörungsrügeverfahren nicht wirklich angehört hat. Der Verstoß gegen das rechtliche Gehör wird schließlich nicht schon durch die bloße Befassung des Gerichts mit der Rüge geheilt. Der Betroffene bleibt somit weiterhin auf die Verfassungsbeschwerde angewiesen. Sangmeister hat gezeigt384, dass die den Revisionsgerichten in § 564 ZPO eingeräumte Möglichkeit des Begründungsverzichts bei der Zurückweisung von Verfahrensrügen bei „erfolglosen“ Revisionen schon weitgehend zur Aushöhlung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geführt hat. Zum Vorschlag Schnabl: Die analoge Anwendung des § 42 II ZPO erscheint zwar auf den ersten Blick plausibel, zumal die (zu kurzen) Begründungen der Zurückweisungsbeschlüsse häufig durchaus vermuten lassen, dass Ablehnungsgründe beim 384

Sangmeister, NJW 2009, 2087.

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judex a quo bestanden. Auch bei dieser Lösung ist jedoch keineswegs sichergestellt, dass jener „andere“ Richter tatsächlich als neutraler Richter mit „innerer Unabhängigkeit“ über die Arbeitsleistung seines kraft Gesetzes „abgelehnten“ Richterkollegen urteilen wird, worauf die Partei gemäß Art. 101 I 2 GG einen subjektiven Anspruch hat. Als „unbeteiligter Dritter“ gilt er nämlich nicht schon dann, wenn er am Verlauf und Ausgang des Verfahrens kein eigenes Entscheidungsinteresse verfolgt und es unterlässt, einem Prozessbeteiligten faktisch oder rechtlich eine Lage zu verschaffen oder zu belassen, „die ein Mehr an begünstigenden oder benachteiligenden Momenten gegenüber der objektiv-rechtlich gewährten Lage in sich schließt“, sondern erst, wenn auch seine Akzeptanz seitens der Parteien gewährleistet ist385. An dieser Voraussetzung fehlt es jedenfalls. Denn die Vermutung der Partei wird nicht zu widerlegen sein, dass erfahrungsgemäß jener „andere“ Richter ebenso voreingenommen und skeptisch an die Bearbeitung der Rüge herangehen wird, wie dies immer wieder bei Richtern festzustellen ist, die über Ablehnungsgesuche zu entscheiden haben und dabei die notwendige Distanz für eine unbefangene Entscheidung vermissen lassen. Für die Annahme solcher „Berufskumpanei“ kommt es nicht darauf an, ob der andere Richter eine Bloßstellung des Richterkollegen im Zweifel vermeiden will386. Vielmehr genügt es schon, dass diese Konstellation aus der Sicht der Prozessparteien geeignet ist, Misstrauen gegen dessen Objektivität zu rechtfertigen. Zwar würde hier der Ausschluss des Richters schon kraft Gesetzes feststehen. Das muss den anderen Richter jedoch nicht daran hindern, Überlegungen (auch) darüber anzustellen, ob der Ausschluss unter den gegebenen Umständen wirklich gerechtfertigt war. Deshalb könnte die Lösung Schnabls sogar einen negativen Effekt haben, nämlich dann, wenn jener andere Richter in der Tat dazu neigen sollte, die Anhörungsrüge wie ein Ablehnungsgesuch zu behandeln, wodurch sich die Erfolgsquote der Anhörungsrüge zwangsläufig der noch geringeren Erfolgsquote der Ablehnungsgesuche annähern würde. Der Vorschlag vermag daher nicht zu überzeugen und hat daher zu Recht weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum Zustimmung erfahren. Auch nach den Ergebnissen dieser vergeblichen Rettungsversuche dürfte es naheliegen, erneut der Frage nachzugehen, die bereits Braun im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem OLG-Richter Seetzen zur Frage „Anhörungsrüge oder Wiederaufnahmeklage?“ aufgeworfenen hatte (oben § 4 III.), nämlich, ob es nicht sinnvoll wäre, auf den Sonderrechtsbehelf des § 321a ZPO überhaupt zugunsten einer angemessenen Erweiterung der Wiederaufnahmegründe der §§ 578 ff. ZPO, nämlich insbesondere des § 579 Nr. 4 ZPO gänzlich zu verzichten. Denn wie dargelegt wurden dessen Argumente im Verlauf der späteren zweifelhaften „Karriere“ jenes Rechtsbehelfs vollauf bestätigt387. 385

Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatliches Problem, 1960, S. 25. Sangmeister, NJW 2007, 2363, 2369 mit Hinw. auf die Anmerkungen Wittrecks zur Novellierung des Richtergesetzes: Anwälte als Richter über Richter?, NJW 2004, 3011. 387 Dazu Kirchberg (Fn. 364), S. 45 ff. 386

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IV. Ablehnende Haltung der Richter zur Anhörungsrüge Damit ist nunmehr die gegenwärtige Verfahrenswirklichkeit des „Rechtsschutzes gegen den Richter“ im Hinblick auf etwaig eingetretene Veränderungen zu beschreiben. Dabei darf auch die erneute Änderung der seit der ZPO-Reform 2002 äußerst umstrittenen Vorschrift des § 522 II ZPO durch das Gesetz vom 07. 07. 11 nicht übergangen werden, die zu einer widersprüchlichen Regelung der Angreifbarkeit der Beschlusszurückweisung substanzloser Berufungen geführt hat. Gerade diese Beschlusszurückweisungen nach § 522 II ZPO a. F. waren das Hauptangriffsziel der Anhörungsrüge. Durch die Änderung ist deren Anwendungsbereich auf Berufungszurückweisungen in Fällen mit einem Beschwerdewert bis zu einschließlich 20.000 E extrem reduziert worden. Dadurch, dass dieser Sonderrechtsbehelf künftig nur noch zur Klärung von Fällen mit geringem Streitwert als Mittel zur Rechtsschutzgewährleistung angeboten wird, ist deutlich geworden, dass er inzwischen selbst seitens der Justiz als weitgehend verfehlt und unbrauchbar eingeschätzt wird. 1. Die Rechtsprechung zur Garantie des rechtlichen Gehörs Der in Art. 103 I GG verbürgte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht dient nicht nur der Abklärung der tatsächlichen Grundlage der Entscheidung, sondern auch der Achtung der Würde des Menschen, der die Möglichkeit haben muss, sich mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten388. Aufgrund seiner Pflicht zur Kenntnisnahme hat sich das Gericht ausdrücklich mit dem Parteivorbringen in den Entscheidungsgründen zu befassen, auch wenn das nicht für jedes Vorbringen gilt389. Im Zweifel wird jedoch davon ausgegangen, dass dies zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen wurde. Demzufolge sind Verfassungsbeschwerden wegen Verletzung des Art. 103 I GG nach Zurückweisung der Anhörungsrüge nur äußerst selten erfolgreich, zumal das BVerfG die Gehörsverletzung dahingestellt bleiben lässt, wenn es der Sache selbst den Erfolg versagt390. Erfolgsaussichten bestehen nur, wenn das Fachgericht auf den Kerngehalt des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht eingegangen ist, so dass dies auf eine Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen lässt, es sei denn, der Vortrag war unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert391. So hat der BGH einen Verstoß gegen Art. 103 I GG bejaht, wenn die Begründung der angefochtenen Entscheidung nur den Schluss zulasse, dass sie auf einer allenfalls 388

BVerfG NJW 1980, 2698. BVerfG MMR 2009, 605. 390 BVerfGE 6, 334, 340; vgl. dazu Zuck (Fn. 20), AnwBl. 2008, 168; ders., Praxishinweise zur zivilprozessualen Anhörungsrüge, MDR 2011, 399, 400. 391 Christoph Fellner, Die aktuelle Rechtsprechung zur Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Zivilprozess, MDR 2020, 900 – 904. 389

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den äußeren Wortlaut, nicht aber den Sinn des Parteivortrags erfassenden Wahrnehmung beruht392. Gleiches gilt für die so genannten Überraschungsentscheidungen. Diese zu vermeiden, ist Zweck der richterlichen Hinweispflicht, die damit zugleich den Anspruch auf rechtliches Gehör konkretisiert393. Von einem Überraschungsurteil geht das BVerfG394 jedoch nur aus, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte gestützt hat, mit denen „auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte“. Voraussetzung ist die Erheblichkeit der Gehörsverletzung, die zu begründen ist, es sei denn, sie geht unmittelbar und zweifelsfrei aus dem bisherigen Prozessverlauf hervor. Auch bedarf es einer gewissen Evidenz, d. h. einer gravierenden Enttäuschung prozessualen Vertrauens. Die Partei muss daher in ihrer Rüge besondere Umstände des Einzelfalls aufzeigen, aus denen deutlich wird, dass ihr tatsächliches und rechtliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder jedenfalls bei der Entscheidung nicht erwogen wurde, d. h., sie müsste an sich sogar noch schlüssig darlegen, dass ihr Vorbringen nicht einmal als unwesentlich beurteilt wurde. Obwohl es auch aufgrund der umfassenden Rechtsprechung zu Art. 103 I GG nicht geschehen sollte, dass relevanter Vortrag der Partei bei der Entscheidungsfindung übergangen wird, ist vor Gericht keineswegs sichergestellt, dass dieser Vortrag auch tatsächlich Berücksichtigung findet, so z. B. der Sachvortrag zu streitigen Fragen des Vertragsabschlusses (BGHZ 173, 40), der Anfechtung (BGH, Beschl. v. 27. 09. 07 – V ZR 9/07 – juris) oder der Schadenshöhe (BGH RuS 09, 155). Im Wesentlichen bezieht sich die höchstrichterliche Rechtsprechung zu Art. 103 I GG, was die Ermittlung des Sachverhalts anbelangt, abgesehen von den Überraschungsentscheidungen aufgrund unterbliebener Hinweise nach § 139 II ZPO auf fünf Fehlerkomplexe, nämlich: auf das fehlerhafte Zurückweisen von Vorbringen als präkludiert395, auf das fälschliche Nichtberücksichtigen des Parteivortrags als unsubstantiiert396, auf das unrichtige Behandeln von bloßem Nichtbestreiten nach § 138 III ZPO als bindendes Geständnis nach §§ 288, 290 ZPO397, auf das unzulässige Übergehen entscheidungserheblicher Beweisanträge sowie auf die Berücksichtigung vermeintlicher Tatsachen und Beweise, die nicht ordnungsgemäß in den Prozess eingeführt wurden und daher nicht hätten verwertet werden dürfen398. Im letzteren Fall ist Art. 103 I GG verletzt, „wenn aufgrund einer fortgebildeten Prozessrechtsnorm entscheidungserheblicher Tatsachenvortrag nicht zum Gegenstand der 392 393 394 395 396 397 398

BVerfGE 86, 122, 133; BGH NJW 2009, 2137 mit Anm. von Mark und Schütt. BGH MDR 2009, 998. BVerfGE 83, 24, 35 = MDR 1991, 893; BVerfGE 86, 133, 144 f.; 98, 218, 263. BVerfGE 60, 305, 310; 75, 302, 316; 81, 97, 105 f. BVerfGE 84, 188, 190 = NJW 1994, 1274. BVerfG NJW 2001, 1565. BVerfGE 69, 141, 144; BVerfG NJW 1994, 1210; NJW-RR 2004, 1150 f.

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mündlichen Verhandlung gemacht wird, erhebliche Beweisangebote übergangen oder umgekehrt Tatsachen und Beweise verwertet werden, die nicht Gegenstand des Verfahrens waren“399. Dagegen verstößt nicht schon die Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften als solche gegen Art. 103 I GG, es sei denn, das Gericht habe bei deren Anwendung die Bedeutung und Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkannt400. Gleiches gilt, wenn die Gehörsverletzung für die Entscheidung nicht kausal war. Diese beruht nur dann auf der Verletzung, falls nicht ausgeschlossen werden kann, dass anders entschieden worden wäre, wenn sich das Gericht mit dem Vortrag auseinandergesetzt oder der Partei Gelegenheit gegeben hätte, zu den gerichtlichen Bedenken Stellung zu nehmen. Auch dies muss gesondert vorgetragen werden. Es genügt nicht, dass sich die Erheblichkeit ohne weiteres als selbstverständlich aus dem Vortrag ergibt. 2. Abwehrhaltung und Abwehrmechanismen der Richterschaft Die geringe Akzeptanz, die der Anhörungsrüge seitens der Richterschaft entgegengebracht wird, hat noch einen anderen Aspekt: Sehr häufig erweist sich die Kontrolle des richterlichen Verhaltens über den außerordentlichen Rechtsbehelf des § 321a ZPO als undurchführbar, weil die höchstrichterliche Rechtsprechung die Richter durch fragwürdige Entscheidungen zu deren Schutz in die Lage versetzt hat, ihr Entscheidungsverhalten durch den Einsatz mehr oder weniger subtiler Abwehrtaktiken bzw. -mechanismen401 von vornherein gegen Angriffe mittels der Anhörungsrüge zu immunisieren. Meist betrifft das genau die Fälle, in denen eine Überprüfung zwingend geboten wäre. Im Wesentlichen können hier drei Fallgruppen unterschieden werden: Zunächst einmal kann der Richter das Gehörsrecht in seiner Wirksamkeit schon leicht dadurch unterlaufen, dass er einen entscheidungserheblichen Vortrag der Partei zwar scheinbar zur Kenntnis nimmt, diesen aber in seiner Entscheidung mit der Bemerkung abtut, dass er ihn als unwesentlich beurteilt habe. Gewöhnlich heißt es dann in den Gründen entweder, das Vorbringen sei nicht übersehen, sondern nur nicht besonders erörtert worden, oder das Gericht habe den Sachvortrag der Partei durchaus zur Kenntnis genommen, sei aber ihrem Standpunkt nicht gefolgt. Denn in der Tat gilt in diesen Fällen die Rüge nach der Rechtsprechung des BVerfG als unbegründet, wobei auch nicht auf ein Verschulden des Gerichts abgestellt wird402. Sehr häufig ist bei den Rügeentscheidungen der unteren Fachgerichte festzustellen, dass sich der judex a quo bei der Bearbeitung der Rüge einfach darüber 399

BVerfG NJW 2009, 1585; BGH NJW 2009, 2139; Chr. Fischer (Fn. 127), S. 478. BVerfGE 54, 277, 291; 74, 228. 401 Schneider, Die Gerichte und die Abwehrmechanismen, AnwBl 2004, 333. 402 BVerfGE 58, 353; vgl. dazu die drastische Schilderung von Sangmeister, NJW 2007, 2363, 2367 sowie 2369. 400

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hinweggesetzt hat, dass das Rügeverfahren als unselbständiges zweiseitiges Annexverfahren in zwei Stufen abläuft, wenn eine Abhilfe tatsächlich veranlasst sein sollte, da in diesem Fall das Ausgangsverfahren fortzusetzen ist, § 321a V 1 und 2 ZPO. D. h., er unternimmt es, der Rüge scheinbar abzuhelfen, indem er in den Gründen seines ablehnenden Beschlusses nachträglich auf das im Ausgangsverfahren übergangene Vorbringen der Partei eingeht, macht dies jedoch nur in der Weise, dass er feststellt, die Entscheidung wäre auch dann nicht anders ausgefallen, wenn das Gericht dieses Vorbringen schon sofort berücksichtigt hätte. Gemäß § 321a V 1 und 2 ZPO hätte jedoch gerade dann das Verfahren erst einmal zwingend in die Lage vor Schluss der mündlichen Verhandlung unter Beteiligung des Gegners als Partei zurückversetzt werden müssen403. Unter solchen Umständen kommt es in diesen Fällen schon von vornherein zu keiner ernsthaften Begründetheitsprüfung. In diesem Fall hat das BVerfG die Gehörsverletzung allerdings nicht mehr als „geheilt“ erachtet404. Selbst dann, wenn der judex a quo über die Rüge der Gehörsverletzung hinaus von der Partei sogar beschuldigt werden sollte, er habe sich zugleich mit der Verletzung dieses Verfahrensgrundrechts auch einer greifbaren Gesetzwidrigkeit in Form der Rechtsbeugung schuldig gemacht, nämlich etwa im Wege der Tatbestandsverfälschung, kann sich dieser darauf berufen, dass er seine Entscheidung für sachgerecht und rechtlich vertretbar befunden habe, weshalb keine Veranlassung bestehe, von ihr abzurücken. In diesem Fall verwirklicht er den Tatbestand des § 339 StGB nach herrschender Ansicht selbst dann nicht, wenn er die Unrichtigkeit seiner Entscheidung für möglich hielt405 und sich später deren Unrichtigkeit tatsächlich herausstellen sollte. Diese Auslegung der Norm kommt einer regelrechten Immunisierung der Richterschaft gleich. Auch wenn einem Straftäter nach § 46 StGB das Fehlen „voller Unrechtseinsicht“ nicht strafschärfend angelastet werden darf406, so muss diese Einstellung bei einem Richter noch lange nicht zu einem persönlichen Strafausschließungsgrund i. S. der §§ 28 I, 14 I StGB führen. 3. Tauglichkeit der instanzinternen Selbstkontrolle als effektives Kontrollinstrument? Im Rahmen der Selbstkontrolle hat der Richter Rechtsnormen anzuwenden, die sich von den primären Verhaltens- und Sanktionsnormen dadurch unterscheiden, dass sie die eigene Entscheidungsfindung und Spruchtätigkeit im vorausgegangenen Verfahren betreffen, was in dessen Person bei der Bearbeitung der Rechtsbehelfe erhebliche Konflikte auslösen kann. Er selbst nämlich muss hier darüber befinden, ob diese Normen voll gegen ihn als Spruchkörper anzuwenden sind. Außer dem BVerfG 403 404 405 406

Vgl. Zöller-Vollkommer (Fn. 7), § 321a, Rn. 12 a. E. BVerfG NJW 2009, 1584; BVerfG ZEV 2009, 142. Vgl. Fischer (Fn. 21), § 339 Rn. 18 m. w. N. Vgl. Fischer (Fn. 21), § 46 Rn. 50.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

gibt es keine Instanz mehr, die im Fall der Zurückweisung des Rechtsbehelfs noch seine Gesetzestreue überprüfen und ggf. Sanktionen gegen ihn festsetzen könnte. Nachdem die freiwillige Anerkennung einer Norm einerseits und der erzwungene Gehorsam andererseits die komplementären Elemente der faktischen Rechtsgeltung bilden407, demgegenüber aber bei der in § 321a ZPO geregelten Selbstkontrolle jeder erzwingbare Gehorsam entfällt, sind schon grundsätzlich größte Zweifel hinsichtlich der Effektivität dieser Selbstkontrolle angebracht. Jedenfalls stellt die von einem aus derart psychologischen Gründen voreingenommenen oder vorbelasteten Richter durchgeführte Überprüfung seiner eigenen Entscheidung kein auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtetes neutrales Verfahren dar408. Die einzige Möglichkeit, die der Partei unabhängig von der ohnehin wenig erfolgversprechenden Verfassungsbeschwerde dann noch zur Abwehr einer angeblich greifbaren Gesetzwidrigkeit grundsätzlich zur Verfügung steht, ist der Weg über die Strafanzeige gegen den Richter wegen Rechtsbeugung. Dieser Weg aber ist, wenn auch in gewisser Weise verständlich, wie dargelegt durch ähnliche Hindernisse blockiert. Doch so zweifelhaft auch die Effektivität der Selbstkontrolle sein mag, keineswegs ist sie schon per se als Kontrollinstrument ungeeignet. Darauf wird bei der Auswertung der Evaluationsergebnisse zurückzukommen sein.

V. Die Gehörverletzung als Wiederaufnahmegrund gemäß § 579 I Nr. 4 ZPO Da auch § 579 I Nr. 4 ZPO eine Regelung zu Gehörverletzungen enthält, ist selbstverständlich auch diese Vorschrift mit in die Evaluation des § 321a ZPO einzubeziehen. Die Nichtigkeitsklage dient ebenso wie die Restitutionsklage der Korrektur schwerwiegender Verfahrensfehler, die durch die Analyse des dem Urteil vorangegangenen Verfahrens ermittelt werden können, ohne dass es dazu einer sachlichen Überprüfung des Ergebnisses bedarf. Diese Korrektur lässt sich mit der Rechtskraft des Urteils vereinbaren, da erst dessen inhaltliche Überprüfung die vorherige Durchbrechung der Rechtskraft notwendigerweise voraussetzen würde. Der Unterschied zwischen den beiden Wiederaufnahmeklagen besteht nach Braun darin, „dass die genannten Restitutionsgründe auf einer schuldhaften Verletzung von Verfahrenspflichten beruhen, während es bei der Nichtigkeitsklage um die Beseitigung ,objektiver‘ Verfahrensmängel geht“, deren Nachweis mit allen verfügbaren Beweismitteln geführt werden kann409. Eines strafbaren Verhaltens des Richters bedarf es hierzu also nicht. Der Vorschrift des § 579 I Nr. 4 ZPO komme die Funktion zu, „den Anspruch auf rechtliches Gehör in das Wiederaufnahmeverfahren hinein zu verlängern“, weshalb es angezeigt sei, sie auf sonstige Fälle der Gehörverletzung entsprechend anzuwenden, und zwar auch und gerade im Falle gerichtlicher Ver407 408 409

Raiser (Fn. 8), S. 178 und 180 f. So bereits Schnabl (Fn. 359), S. 214. MüKo ZPO (Fn. 3), § 579 Rn. 1, 23 und 26 sowie § 580 Rn. 9.

§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO

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sehen im Rahmen des laufenden Verfahrens. Die Folge der analogen Anwendung wäre dann, dass damit die Vorschrift des § 321a ZPO leerliefe410. Das wäre jedoch schon deswegen kein Nachteil für die Partei, weil es dadurch zu einer einheitlichen Regelung käme411. Ohnehin war bis 1977 in § 579 III ZPO a. F. für den Fall der Gehörverletzung eine Nichtigkeitsklage vorgesehen. Insofern müsste diese frühere Vorschrift nur wiederbelebt werden (dazu weiter unter § 16 I. 2.).

VI. Anhörungsrüge und Nichtzulassungsbeschwerde Zugleich mit der Anhörungsrüge hatte der Gesetzgeber im Rahmen der ZPOReform 2002 mit der Vorschrift des § 522 II ZPO (alt) die sog. Beschlusszurückweisung eingeführt. Danach hatte das Richterkollegium der Berufungsgerichte substanzlose Berufungen unverzüglich ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen, falls es einstimmig zu der Überzeugung gelangt war, dass für diese Zurückweisung die eigens in § 522 II 1 Nr. 1 – 3 ZPO festgelegten Voraussetzungen vorlagen. Die Berufung musste dazu nicht einmal offensichtlich unbegründet sein. Die Vorschrift war bewusst als zwingendes Recht konzipiert worden, um dadurch einen möglichst großen Entlastungseffekt für den BGH zu erzielen. Insbesondere wurde in § 522 III ZPO (alt) die Anfechtbarkeit des Beschlusses ausgeschlossen. Obwohl diese Regelung vom BVerfG mangels Verstoßes gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht für verfassungswidrig erklärt worden war412, hatte sie erhebliche Kritik ausgelöst413, die sich sowohl gegen den Wegfall der mündlichen Verhandlung richtete414 als auch vor allem gegen den „Ausschluss der drittinstanzlichen Kontrolle“ der Beschlusszurückweisung415. Letztlich zur Neuregelung veranlasst sah sich der Gesetzgeber jedoch erst, nachdem durch die Justizstatistik offenbar wurde, dass die einzelnen Berufungsgerichte höchst unterschiedlich von der Beschlusszurückweisung Gebrauch gemacht hatten416. Erst dieser

410

Dazu Christoph Warga, Die Verletzung von Verfahrensgrundrechten im Zivilprozess und ihre Korrektur nach Eintritt der Rechtskraft, 2008, 80 ff., 102 ff. 411 MüKo ZPO (Fn. 3), zu § 579 Rn. 28 und 29. 412 BVerfGE 122, 248, 271 = NJW 2009, 1469; BVerfG NJW 2004, 1371. 413 Siehe Reinelt, Die unendliche Geschichte – § 522 ZPO, ZRP 2009, 203; Rimmelspacher, Bessere Kontrolle zivilprozessualer Berufungsentscheidungen, ZRP 2010, 217; Trimbach, Zurückweisung der Berufung durch Beschluss im Zivilprozess – notwendig und verfassungsgemäß, NJW 2009, 401. 414 So Chr. Wolf, BRAK-Mitteilungen 2010, 194. 415 So Rimmelspacher (Fn. 415), S. 218. 416 Begr. des RegE zum Änderungsgesetz, BT-Dr. 17/5334, S. 6. Dieser Anlass war jedoch keineswegs zwingend. Vielmehr beruhte die Gesetzesbegründung, bei der es die Autoren unterlassen hatten, die vorliegenden Daten wie jedem Statistiker geläufig zuvor entsprechend zu „gewichten“, auf „reichlich naiver Zahlengläubigkeit“, so Nassall (Rechtsanwalt beim BGH), Zehn Jahre ZPO-Reform vor dem BGH, NJW 2012, 113, 117.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

Umstand führte zur erneuten Änderung des § 522 II und III ZPO mit einem auch für die Evaluation der Anhörungsrüge relevanten Ergebnis. 1. Das Gesetz vom 07. 07. 11 zur erneuten Änderung des § 522 ZPO Durch das Änderungsgesetz vom 07. 07. 11 wurde Abs. 3 der Vorschrift, der bislang die Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses nach Abs. 2 Satz 1 angeordnet hatte, aufgehoben und durch die Vorschrift ersetzt, dass dem Berufungsführer gegen den Beschluss das Rechtsmittel zustehe, „das bei einer Entscheidung durch Urteil zulässig wäre“, also die Nichtzulassungsbeschwerde des § 544 ZPO. Damit setzte sich der Vorschlag Rimmelspachers durch, der es für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten hatte, dass Abs. 3 die Überprüfbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses auch insoweit ausgeschlossen hatte, als dieser die revisions- oder rechtsbeschwerdewürdige Bedeutung der Rechtssache verneinte417. Überraschenderweise wurde dann noch auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestags Satz 1 des Absatzes 2, dessen zwingender Charakter nach dem Änderungsvorschlag des Bundesjustizministeriums sogar noch eigens unterstrichen werden sollte, nur als Soll-Vorschrift verabschiedet. Dies wurde damit begründet, dass durch den Wegfall der Unanfechtbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses der wesentliche Grund für die Aufrechterhaltung als zwingendes Recht entfallen sei, so dass die Entscheidung in das gebundene Ermessen des Berufungsgerichts gestellt werden könne. Außerdem kam es noch zu einer Ergänzung des Abs. 2 S. 1 durch eine Nr. 4 dahingehend, dass dem Erlass eines Zurückweisungsbeschlusses zusätzlich die Prüfung vorauszugehen habe, dass eine mündliche Verhandlung „nicht geboten“ sei. Dieses weitere Erfordernis sollte dem Schutz des Berufungsführers dienen. Auch wenn die Berufung letztlich keine Erfolgsaussicht habe, solle mündlich verhandelt werden, „wenn dies aus anderen Gründen angezeigt“ erscheine, so vor allem wenn die Rechtsverfolgung für diesen „existentielle Bedeutung“ habe. Ferner wurde klargestellt, dass die Beschlusszurückweisung nur noch in den Fällen offensichtlicher Unbegründetheit418 der Berufung in Betracht komme, und in Absatz 2 wurde noch als Satz 2 eingefügt, dass ein anfechtbarer Beschluss „darüber hinaus eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen zu enthalten“ habe. Der BGH hat nach der Vorstellung des Gesetzgebers auf die Nichtzulassungsbeschwerde der betroffenen Partei den Zurückweisungsbeschluss wie ein Berufungsurteil auf das 417

MüKo-Rimmelspacher (Fn. 3), § 522 Rn. 41. Rottleuthner (Fn. 8), S. 54 bezweifelt zu Recht, ob das, was „offensichtlich unbegründet“ sein soll, überhaupt zu begründen ist. Die Anforderung sei paradox, zumal sich gezeigt habe, dass Zurückweisungsbeschlüsse (zu § 313 II StPO) häufig keine Begründung im üblichen Sinne aufwiesen. Ähnlich verhält es sich mit dem nur einer höchst subjektiven Wahrnehmung zugänglichen Begriff der „grundsätzlichen Bedeutung“ in § 543 II Nr. 1 ZPO. 418

§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO

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Vorliegen der Revisionszulassungsgründe des § 543 II ZPO zu prüfen. Sollten diese Gründe vorliegen, ist die Revision zuzulassen. 2. Einschränkung des Anwendungsbereichs der Anhörungsrüge Entgegen der Konzeption einer reinen Zulassungsrevision ist die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH nach § 544 ZPO als „Anhörungsbeschwerde“ zum judex ad quem419 nach § 544 II Nr. 1 ZPO (zuvor § 26 I Nr. 8 EGZPO) nur insoweit statthaft, „als der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 E übersteigt“ (nunmehr § 544. Höchst inkonsequent war es hier zum Zwecke der Entlastung des BGH „zur Wiedereinführung der alten (in der Begründung der Reform wortreich verdammten) Wertgrenzen-abhängigen Revision durch die Hintertür“ gekommen, wenn auch auf niedrigerem Niveau420. Aufgrund dessen kommt die Anhörungsrüge jetzt nur noch gegen Berufungsurteile der Land- und Oberlandesgerichte mit nicht zugelassener Revision sowie gegen Zurückweisungsbeschlüsse nach § 522 II ZPO in Rechtssachen mit einem Streitwert bis zu einschließlich 20.000 E in Betracht. Fraglich konnte nicht sein, ob überhaupt Rechtsschutz gegen den Zurückweisungsbeschluss gewährleistet werden sollte, sondern nur, auf welche Weise dies zu geschehen hatte, um diesen Beschluss als solchen zu rechtfertigen. Wenn es das erklärte Ziel der ZPO-Reform 2002 war, Fehlsteuerungen in der Berufungsinstanz zu beseitigen, deren Ursache u. a. darin bestand, dass die in erster Instanz unterlegene Partei auch in aussichtslosen Fällen noch die Möglichkeit hatte, die „Flucht in die Berufung“ mit Anspruch auf eine nochmalige mündliche Verhandlung zu ergreifen, so dürfte dieses Ziel mit der erneuten Änderung des Gesetzes noch weniger erreicht werden als dies mit der bisherigen Fassung des § 522 II ZPO gelungen war: a) Gleichstellung der Zurückweisungen durch Urteil und Beschluss Obwohl das BVerfG einen Verstoß des § 522 III ZPO gegen das Recht auf gleichen Rechtsschutz aus Art. 3 I in Verb. mit Art. 20 III GG insofern verneint hat, als Verwerfungs- und Zurückweisungsentscheidungen nach der ZPO unterschiedlich anfechtbar sind, hatte Rimmelspacher seine Ansicht darauf gestützt, dass die unterschiedliche Behandlung der Zurückweisungsbeschlüsse einerseits und der Zurückweisungsurteile andererseits, was den Rechtsschutz anbelange, „unter dem Blickwinkel des Art. 3 I GG“ verfassungsrechtlich bedenklich sei421. Für eine Ungleichbehandlung gäbe es keine sachliche Rechtfertigung. Dass diese Gleichsetzung verfassungsrechtlich geboten sei, hatte der Rechtsausschuss verneint, wobei er auch noch plausibel darlegte, dass es dadurch wieder vermehrt zu Berufungen aus ver419 420 421

Vgl. Zöller-Vollkommer (Fn. 7), § 321a Rn. 4. Zöller-Heßler, § 26 EGZPO Rn. 12 mit Hinw. auf Piepenbrock/Schulze, JZ 2002, 911. BVerfG NJW 2005, 659; Rimmelspacher (Fn. 415), S. 218.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

zögerungstaktischen Gründen kommen werde. Zweifellos war der Gesetzgeber aufgrund seiner Gestaltungsautonomie dazu berechtigt, die Nichtzulassungsbeschwerde gegen Zurückweisungsbeschlüsse in gleicher Weise zuzulassen wie gegen Zurückweisungsurteile. Allerdings handelte es sich hierbei keineswegs um zwei (völlig) gleichgelagerte Sachverhalte. Denn eine Berufung, die aufgrund des Vorprüfungsverfahrens nach § 522 II 1 Nr. 1 – 4 ZPO schon eine aufwendige Sonderbehandlung durch ein Kollegialgericht erfahren hat, ist jedenfalls nicht ohne weiteres einer Berufung gleichzustellen, die das übliche Verfahren nach §§ 522 I 1, 523 ZPO beim Einzelrichter durchlaufen hat. Die Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte ist Sache des Gesetzgebers, solange es dieser nicht unternimmt, wesentlich ungleiche Sachverhalte gleich zu behandeln, es also unterlässt, zwischen nur unwesentlichen Unterschieden zu differenzieren. Hier aber gab es Unterschiede, wenn auch nur unwesentlicher Art. Folglich bestand umgekehrt auch kein zwingender Grund zur Gleichbehandlung. Der Gesetzgeber hätte daher auch dann nicht gegen Art. 3 I GG verstoßen, wenn er es bei der bisherigen Regelung belassen hätte422. b) Folgen der Änderung des § 522 II ZPO in eine Soll-Vorschrift Wie sich schon kurze Zeit nach der ZPO-Reform 2002 herausgestellt hatte, wurde das Berufungsverfahren durch die nach Abs. 2 nötige Vorprüfung weder vereinfacht noch beschleunigt, sondern verzögerte sich durch die mit ihr verbundene Mehrbelastung der Richter sogar noch deutlich mit der Folge, dass manche Gerichte unter Missachtung des fehlenden Ermessensspielraums allein schon aus arbeitsökonomischen Gründen auf die Berufungszurückweisung durch Beschluss verzichteten423. Denn der durch den Wegfall der mündlichen Verhandlung ersparte Aufwand wurde bereits durch den nach Abs. 2 S. 2 zu erlassenden Hinweisbeschluss und die dazu erforderlichen Beratungen mehr als ausgeglichen. Dies zumal dann, wenn jener Hinweis „zu einer Art zweiter Berufungsbegründung“ geführt hatte, die das Gericht zu einem weiteren rechtlichen Hinweis nötigte424. Dadurch, dass die Land- und Oberlandesgerichte die Vorschrift des § 522 II ZPO in einem nicht feststellbaren Umfang de facto wie eine Ermessensregel gehandhabt hatten, statt sie regulär als zwingendes Recht anzuwenden, hatten sie folglich von einer Wahlmöglichkeit Gebrauch gemacht, die ihnen das Gesetz gar nicht eingeräumt hatte425. Genau deswegen sollte ja gerade dieses den zwingenden Charakter des Gesetzes miss422 Auch Meller-Hannich, Die Neufassung von § 522 ZPO – Unbestimmte Rechtsbegriffe, Ermessen und ein neuartiges Rechtsmittel, NJW 2011, 3393, 3396, weist darauf hin, dass die Konstruktion mit der Nichtzulassungsbeschwerde „ziemlich gewagt“ sei, da diese Beschwerde an sich nur in Betracht komme, wenn das Berufungsgericht die Revision nicht zugelassen hat. Gerade das entfalle jedoch bei der Beschlusszurückweisung. 423 Greger, Die ZPO-Reform – 1000 Tage danach, JZ 2004, 805, 813. Dagegen spricht Rimmelspacher (Fn. 415), S. 217, sogar – ironisch – von „einer Erfolgsgeschichte der Norm“. 424 Vgl. Debusmann, Die Beschlusszurückweisung nach § 522 II ZPO – „Kurzer Prozess“ in der Berufungsinstanz?, NJW-Sonderheft BayObLG, 2005, 15 ff. 425 Vgl. Reinelt (Fn. 415), 204 mit Hinw. u. a. auf Schellenberg, MDR 2005, 610.

§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO

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achtende Entscheidungsverhalten der Berufungsgerichte durch die noch deutlichere Formulierung des Abs. 2 S. 1 „Das Berufungsgericht hat … zurückzuweisen“ unterbunden werden. Soweit es dort jetzt nur noch heißt, „das Berufungsgericht soll … zurückweisen“, mag dies durch die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gedeckt sein, dürfte aber möglicherweise dazu führen, dass sich die Berufungsgerichte im Zweifel gar nicht mehr für die Beschlusszurückweisung entscheiden werden mit der weiteren Folge, dass ein spürbarer Entlastungseffekt für den BGH ausbleiben wird. Denn angesichts dieser Anreize für die Richter, dem zusätzlichen Aufwand einer gesetzestreuen Anwendung des § 522 II ZPO folgenlos auszuweichen, wird jedenfalls kaum damit zu rechnen sein, dass sich die Richter bei substanzlosen Berufungen noch regelmäßig der Mühe unterziehen werden, akribisch das Vorliegen der Voraussetzungen der Erfordernisse des § 522 II 1 Nrn. 1 – 4 ZPO für den Erlass eines Zurückweisungsbeschlusses zu prüfen426. Insbesondere dürfte zweifelhaft sein, ob sie sich mit dem Berufungsführer eingehend darüber auseinandersetzen werden, ob hier aus spezifischen, allein in dessen Person liegenden Gründen dennoch eine mündliche Verhandlung anzuberaumen ist oder nicht. Schließlich kann das Gericht nicht daran gehindert werden, das Vorprüfungsverfahren dadurch zu unterlaufen, dass es im Zweifelsfall zugunsten des Berufungsführers befindet und die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung trotz Aussichtslosigkeit der Berufung schon von vornherein bejaht, auch wenn dies in erster Linie der eigenen Entlastung dienen sollte. Ohnehin hatte die Beschlusszurückweisung schon zu einem erheblichen Akzeptanzverlust bei den Parteien insofern geführt, als der Verzicht darauf, ihnen im Rechtsgespräch die Rechtslage zu erklären und die beabsichtigte Entscheidung verständlich zu machen, bei ihnen den Eindruck erweckte, ihr Anliegen werde nicht angemessen gewürdigt427. Sollten jedenfalls die Berufungsgerichte die Vorschrift wie zu erwarten trotz Vorliegens ihrer Voraussetzungen gar nicht mehr regelmäßig zur Anwendung kommen lassen, sie also gar nicht mehr zwingend einem gerichtlichen „Test“ unterwerfen, würde damit auch die Entwicklung zu einer einheitlichen Rechtsprechung die Beschlusszurückweisung des § 522 III ZPO betreffend hinfällig werden. Unter diesen Umständen wäre es daher in der Tat sinnvoller gewesen, der Ansicht Reinelts zu folgen, nämlich § 522 II und III ZPO aufzuheben und wieder zum früheren Rechtszustand vor der ZPO-Reform 2002 zurückzukehren428.

426 Dies bestätigt auch Nassall (Fn. 418), S. 115, mit den Worten, „… eine Berufungszurückweisung durch Beschluss nach § 522 ZPO kam – und kommt – (bei den Berufungsgerichten) kaum vor, sondern sie verhandelten – und verhandeln“. 427 Debusmann (Fn. 426), S. 17. 428 Reinelt (Fn. 415), S. 203; ders., NJW-Editorial Heft 44/10 und BRAK-Mitteil. 6/2010, S. VII.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

3. Die nicht genutzte Alternativlösung: Reform des § 321a ZPO Verfassungsrechtlich bedenklich wäre der Ausschluss der drittinstanzlichen Kontrolle auch nicht im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie gewesen, hätte die ZPO den Prozessparteien einen außerordentlichen Rechtsbehelf zum judex a quo bereitgestellt, mit dem diese ebenso wirkungsvoll gegen die Beschlusszurückweisung hätten vorgehen können. Denn Rechtsschutz muss nicht zwingend durch eine weitere Instanz gewährleistet werden. Vielmehr reicht nach dem Plenarbeschluss des BVerfG vom 30. 04. 03 wie dargelegt auch ein gerichtlicher Rechtsschutz durch dieselbe Instanz429, wenn auch nur unter der strengen Voraussetzung, dass „auf diese Weise der Mangel effektiv beseitigt werden kann. Immerhin hatte deswegen der Gesetzgeber zusammen mit der Beschlusszurückweisung auch die Anhörungsrüge des § 321a ZPO eingeführt, um damit den Parteien gleichzeitig ein Instrument zur Abwehr solcher Beschlüsse zur Verfügung zu stellen, und zwar unabhängig vom Streitwert430. Nun trifft zweifellos zu, dass sich dieser Sonderrechtsbehelf aufgrund der genannten Implementationsfehler als für die Rechtspraxis unbrauchbar herausgestellt hat, nachdem durch ihn Rechtsschutz nicht effektiv gewährleistet, sondern nur vorgespiegelt wird. Erst dadurch ergab sich das rechtsstaatliche Defizit. Dann aber hätte man aus dieser Situation auch die Konsequenz ziehen und die Anhörungsrüge gleichzeitig mit der Einführung eines neuen effektiven Rechtsbehelfs endgültig abschaffen müssen. Doch statt nun diese Ursache zu beheben und die weitaus dringendere Reform der „Placebo-Vorschrift“ des § 321a ZPO endlich in Angriff zu nehmen, unternahm es der Gesetzgeber, die Nichtzulassungsbeschwerde unnötigerweise auch noch gegen die Beschlusszurückweisung zuzulassen. Hätte er stattdessen § 321a ZPO aufgehoben und der Forderung Brauns nach einer grundlegenden Reform des Wiederaufnahmerechts folgend die Wiederaufnahmegründe der §§ 578 ff. ZPO dem Bedürfnis des Rechtsverkehrs entsprechend ausgedehnt, hätte sich sowohl die letztlich unergiebige Diskussion um die Beschlusszurückweisung als auch die Reform der Reform des § 522 III ZPO erübrigt, bei der die Vorschrift des § 321a ZPO nicht einmal Erwähnung fand. Die Einräumung weiterer Instanzen mag sinnvoll sein und muss aus funktionalrechtlichen Gründen dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Hier lag das Problem jedoch nicht in der Vorschrift des § 522 III ZPO a. F., sondern in der mangelnden Effektivität des Rechtsschutzes aufgrund der missglückten Implementierung der Anhörungsrüge. Soweit es der Gesetzgeber für notwendig erachtete, die Zurückweisungsbeschlüsse auch noch der Überprüfung durch eine dritte Instanz zu unterwerfen, wäre folglich eher der Ansicht derjenigen Rechtswissenschaftler zuzustimmen, die von einer „Hypertrophie der Rechtsmittel“ und „Instanzenseligkeit“ in Deutschland sprechen und einen Abbau der Kontrollintensität fordern. Dies zumal 429

BVerfGE 107, 395, 408, 412 = NJW 2003, 1924, 1927. Die Rüge hat nach der Änderung des § 705 ZPO zwar keine rechtskrafthemmende Wirkung, durchbricht die Rechtskraft aber im Falle ihrer Begründetheit, Zöller-Stöber (Fn. 7), § 705 Rn. 1. 430

§ 8 Evaluation der Vorschrift des § 321a ZPO

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hier der Gesetzgeber vorrangig die angeblich gefährdete Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicherstellen wollte, ohne dabei zugleich ein unabweisbares Bedürfnis in der Rechtspraxis nach einer solchen Regelung eruiert zu haben. Im Gegenteil hatte er nämlich sogar angenommen, dass aufgrund der erweiterten Voraussetzungen des § 522 II ZPO „tendenziell … die durch Zurückweisungsbeschlüsse entschiedenen Berufungssachen … eindeutiger und damit deutlich weniger rechtsmittelanfällig (werden), so dass von einer erheblich niedrigeren Anfechtungsquote auszugehen“ sei. Deshalb bestand auch kein zwingender Anlass, von der Doktrin des BVerfG abzuweichen, wonach aus der Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG kein Anspruch auf einen (mehrstufigen) Instanzenzug folge. 4. Willkürliche Ungleichbehandlung der Beschlusszurückweisungen nach der Höhe des Beschwerdewertes Wie erwähnt ist die Nichtzulassungsbeschwerde gegen Beschlusszurückweisungen erst ab einer Beschwer über 20.000 E statthaft431. Je nach der Höhe der Beschwer kommt daher zur Abwehr jener Zurückweisungen entweder die Anhörungsrüge oder die Nichtzulassungsbeschwerde in Betracht. Wenn jedoch letztere in erster Linie eine einheitliche Rechtsprechung zu den Zurückweisungsbeschlüssen sicherstellen soll, ist eine Differenzierung nach einem willkürlich festgelegten Beschwerdewert zumindest widersprüchlich. Schließlich gibt es Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung auch in Fällen mit einem Streitwert bis zu 20.000 E. Gerechtfertigt werden könnte diese Differenzierung daher allenfalls mit einem außerrechtlichen Grund, nämlich damit, dass andernfalls eine Überlastung des BGH mit der Bearbeitung von Nichtzulassungsbeschwerden drohte. Nach der Gesetzesbegründung wird aber eine solche gerade nicht befürchtet. Der Gesetzgeber hätte daher abwägen müssen, ob es einer Partei in Fällen mit einem Streitwert bis zu 20.000 E überhaupt zugemutet werden kann, sich zur Abwehr eines Zurückweisungsbeschlusses mit dem „ganz überwiegend als erfolglos bzw. ineffektiv“ geltenden Sonderrechtsbehelf der Anhörungsrüge abzufinden. Dass eine solche Abwägung stattfand, ist den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen. Doch stellt sich die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde schon offensichtlich als eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung derjenigen Parteien dar, die sich statt ihrer mit dem Pseudo-Rechtsbehelf der Anhörungsrüge begnügen müssen. Insoweit wurde hier in der Tat der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt. Die Forderung Rimmelspachers nach einer Anfechtbarkeit der beschlussmäßigen Zurückweisung war zwar durchaus berechtigt. Doch war hierfür die Nichtzulassungsbeschwerde nicht das geeignete Rechtsmittel, zumal es dabei auch zu bedenken galt, dass nach § 544 IV 2 ZPO die Beschlüsse vom BGH nur „kurz“ zu begründen sind bzw. von einer Begründung sogar abgesehen werden kann. Dies obwohl durch sie die Parteien 431 Die schweizerische BV lässt in Art. 191 II BV Rechtsschutzbeschränkungen durch Festlegung von Streitwertgrenzen nur für Fälle zu, die keine grundsätzliche Bedeutung haben.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

doch gerade darüber aufgeklärt werden sollten, warum ihrer Beschwerde nicht entsprochen werden konnte432. Da diese Lösung nicht einmal der Beschleunigung des Berufungsverfahrens dient, hatte der Rechtsausschuss des Bundestags empfohlen, gemäß Art. 77 II GG den Vermittlungsausschuss anzurufen, konnte sich damit aber nicht durchsetzen.

VII. Zwischenergebnis bezogen auf die Anhörungsrüge Angesichts des nach Einführung der Anhörungsrüge eingetretenen Stillstands des nötigen Ausbaus eines effektiven Rechtsschutzes gegen evident unrichtige Endurteile, dürfte die Feststellung zutreffen, dass sich insgesamt gesehen der Rechtsschutz gegen greifbare Gesetzwidrigkeiten durch § 321a ZPO weit eher verringert als vergrößert hat, zumal die analoge Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf die Fälle der Verletzung der sonstigen Verfahrensgrundrechte zu Recht abzulehnen ist. Dies hatte ja schon Voßkuhle zu der Bemerkung veranlasst, dass hier das BVerfG „bei seinem anerkennenswerten Bemühen um die Entwicklung einer verfassungsrechtlich fundierten Rechtsmitteldogmatik leider auf halbem Wege stehengeblieben“ ist433. Allerdings hätte das den Gesetzgeber nicht am Erlass eines besseren Gesetzes hindern müssen. Schließlich muss er dazu nicht auf Vorgaben des BVerfG warten434. Folglich ist zu prüfen, ob hier nach wie vor die Voraussetzungen für die Annahme eines regulierungsbedürftigen Sachverhalts vorliegen, d. h., ob vom Vorhandensein einer verfassungswidrigen Rechtsschutzlücke in Form einer „planwidrigen Unvollständigkeit“ und damit von einem deutlichen rechtsstaatlichen Defizit der ZPO ausgegangen werden muss. Dieserhalb sprach Kettinger schon 2006 von der „Flucht des Gesetzgebers vor seiner Verantwortung“435.

432 Sehr kritisch zu dieser Einschränkung des Begründungszwangs gerade bei den Entscheidungen über Verfahrensrügen Sangmeister, Aushöhlung des rechtlichen Gehörs durch Begründungsverzicht bei der Zurückweisung von Verfahrensrügen, NJW 2009, 2087. Dazu auch Zöller-Heßler (Fn. 7), § 544 Rn. 21c. Ganz in diesem Sinne wendet sich auch Nassall (Fn. 484), S. 118, gegen die „stets gleichlautende Formalbegründung“ des BGH bei der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerden. Nach Zuck (Fn. 450, Rn. 145 ff.) befindet sich der Rechtssuchende von der Nichtzulassungsbeschwerde an, was die Begründung angeht, in einer „Leerlaufkette“. Die Erhebung der Beschwerde muss auf der „Begründung“ der Nichtzulassungsbeschwerdeentscheidung aufbauen. Da diese aber regelmäßig begründungslos bleibt, kann er sich gar nicht mit der Entscheidung auseinandersetzen. 433 Voßkuhle (Fn. 234), S. 2188; dazu Schnabl (Fn. 359), S. 93. 434 S. zur Problematik der Vorgaben des BVerfG an den Gesetzgeber Hesse, JZ 1995, 267. 435 Kettinger, ZRP 2006, 152.

§ 9 Evaluation der Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO

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§ 9 Evaluation der Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO Bei der Restitutionsklage des § 580 Nr. 1 – 5 ZPO geht es um die Korrektur elementarer Verstöße gegen die richterlichen Verfahrenspflichten. Wie aus den Vorschriften der §§ 579 I Nr. 1 – 4 ZPO zu erkennen ist, beruht damit das Wiederaufnahmerecht, was Braun verdeutlicht hat436, ganz wesentlich auf der Konzeption der Verfahrensfehlerrestitution im Gegensatz zur Ergebnisrestitution im Sinne der von Gaul vertretenen „Theorie der Beweissicherheit“. Die Wiederaufnahmetheorie Brauns unterscheidet sich von der Theorie Gauls wie bereits ausgeführt darin, dass sie auch der Rechtskraft als solcher unabhängig von der sachlichen Richtigkeit des Urteils einen eigenen Wert zuerkennt, während jene allein auf das materielle Recht abgestellt. Soweit es den Anschein hat, dass dementgegen die Vorschrift des § 581 I ZPO Ausfluss der Theorie der Beweissicherheit Gauls ist, weil bei deren wörtlicher Auslegung nicht schon die Straftat, sondern erst das Strafurteil den Restitutionsgrund bildet, hat Braun nachgewiesen, dass diese Vorschrift als „überholt“ zu betrachten ist, weshalb sie zwingend zu berichtigen sei. Die Gründe für diese Berichtigung seien hier nochmals kurz wiedergegeben:

I. Das Erfordernis der rechtskräftigen Verurteilung des Richters Zu unterscheiden sei klar zwischen dem Restitutionsgrund einerseits und dessen Beweis andererseits. Beides hänge insofern miteinander zusammen, als das eine die gedankliche Voraussetzung des anderen sei. Was Gaul als Restitutions„gründe“ bezeichne, seien in Wahrheit die zum Nachweis der eigentlichen Gründe bestimmten Beweismittel. Deren Bedeutung aber läge nicht darin, „dass sie die Restitution begründen, sondern darin, dass sie die Durchbrechung der Rechtskraft aus unterschiedlichen Gründen begrenzen“. Im Interesse der Rechtskraft reiche es nicht aus, die Urteilsunrichtigkeit durch ein Strafurteil als qualifiziertes Beweismittel darzutun. Vielmehr müsse diese Unrichtigkeit unabhängig davon in allen Fällen zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Demnach sei das Vorliegen des behaupteten Wiederaufnahmegrunds auch bei Vorliegen eines Strafurteils dennoch von Amts wegen zu prüfen. Restitutionsgrund sei folglich nicht das Strafurteil, sondern allein die Straftat437. Die Vorschrift des § 581 I ZPO müsse somit dahingehend berichtigt werden, „dass der Nachweis des Restitutionsgrundes in entsprechender Anwendung von Abs. 1 Halbs. 2 auch in anderen als den dort genannten Fällen ohne vorherige strafgerichtliche Verurteilung geführt werden kann“. Die Straftatbestände, an welche die Nrn. 1 bis 5 des § 580 ZPO anknüpfen, könnten dann methodisch so behandelt werden, als ob sie nicht im StGB, sondern unmittelbar in § 580 ZPO selbst stünden. Dadurch eröffne sich die Möglichkeit einer analogen Anwendung der Wiederauf436 So bereits oben § 3 II. 3.; Braun, Rechtskraft und Restitution, 2. Teil: Die Grundlagen des geltenden Restitutionsrechts, 1985; MüKo ZPO (Fn. 3), § 580 Rn. 7 ff. 437 MüKo ZPO (Fn. 3), § 580 Rn. 3 ff. und 23, § 581 Rn. 11 – 14.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

nahmegründe und zugleich entfiele damit die Rechtfertigung der systemwidrigen Schadensersatzklage wegen Urteilserschleichung gemäß § 826 BGB. 1. Die Gegenansicht des BGH zur Auslegung des § 581 I ZPO Diese Ansicht hat der BGH in einem Urteil vom 12. 05. 06 unter Hinweis auf Stein/Jonas/Grunsky438 mit allerdings sehr oberflächlicher Begründung abgelehnt: Es sei schon den Gesetzesmaterialien zu entnehmen, dass „grundsätzlich zunächst die Strafverfolgungsbehörden mit dem strafbaren Verhalten, um dessentwillen die Restitutionsklage zulässig sein soll, befasst werden müssen“. Daher sei die Ermittlung und die Prüfung der behaupteten Straftat durch jene Behörden vom Gesetzgeber als ein für die Restitutionsklage „notwendiges Vorverfahren“ bestimmt worden, so dass diese nur zulässig sei, „wenn der Kläger die ihm vorliegenden Erkenntnisse über eine Straftat und die ihm bekannten Beweismittel unverzüglich zur Einleitung von Ermittlungen angezeigt hat“. Habe er diese Anzeige unterlassen, lägen „die Voraussetzungen des zivilrechtlichen Wiederaufnahmeverfahrens auch dann nicht vor, wenn sie hätten erfüllt werden können“. Diese Gründe vermögen die Ansicht Brauns jedoch weder zu widerlegen noch auch nur ernsthaft in Zweifel zu ziehen: Zulässigkeitsvoraussetzung der Restitutionsklage ist das Vorliegen einer strafbewehrten Amtspflichtverletzung des Richters. Ob eine solche vorliegt, ist nach schlüssiger Behauptung der betroffenen Prozesspartei vom Gericht von Amts wegen zu prüfen. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob das von der Staatsanwaltschaft eingeleitete Strafverfahren auch tatsächlich zur Verurteilung geführt hat, wenn der objektive Tatbestand des § 339 StGB verwirklicht wurde, was auch das Zivilgericht beurteilen kann, es sei denn, der Tatverdacht gegen den Richter habe sich schon im Ermittlungsverfahren als unbegründet herausgestellt. Sicherlich wollte der damalige Gesetzgeber verhindern, dass in Zivilverfahren über eine Straftat gestritten wird, um grundsätzlich jeden Widerspruch zwischen Zivil- und Strafurteil zu vermeiden. Gerechtfertigt war diese strikte Trennung jedoch nur zur Zeit der uneingeschränkten Geltung des Legalitätsprinzips. Deshalb kamen nach Einführung des Opportunitätsprinzips und der freien richterlichen Beweiswürdigung auch Ausnahmen für den Fall in Betracht, dass eine Verfahrenseinstellung nach §§ 153 ff. StPO aus Opportunitätsgründen erfolgte. Der Hinweis des BGH auf die Gesetzesmaterialien geht daher fehl. 2. Rechtsfortbildung des Wiederaufnahmerechts praeter legem durch die Anerkennung des Rechtsbehelfs nach § 826 BGB Die Vorschrift des § 581 ZPO gilt bereits seit ihrer Implementierung aufgrund der gleichzeitigen Einführung des Prinzips der freien richterlichen Beweiswürdigung, das zum Wegfall der strengen Bindung der Zivilgerichte an strafgerichtliche Urteile 438

BGH NJW-RR 2006, 1573; Stein/Jonas/Jacobs, ZPO, 22. Aufl., § 581 Rn. 1.

§ 9 Evaluation der Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO

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führte (§ 14 II Nr. 1 EGZPO), als Fremdkörper in der ZPO439. Demzufolge wurde bereits verschiedentlich die Forderung erhoben, sie aus dem Gesetz zu streichen440. Dennoch ist bislang ihre Verfassungswidrigkeit nicht festgestellt worden. Und dies, obwohl sie nach BGHZ 50, 116 nicht auf den außerordentlichen Rechtsbehelf aus § 826 BGB entsprechend anzuwenden ist, unter dessen Deckmantel nach Braun faktisch eine Fortbildung des Wiederaufnahmerechts erfolgte, wodurch sie einfach unterlaufen werden kann441. Auch aus diesem Grund ist daher zwingend dessen Ansicht zu folgen, wonach nicht das Strafurteil, sondern die – vollendete – Straftat als Restitutionsgrund zu gelten hat442.

II. Weitere Zugangsschranken zur Restitutionsklage Bliebe es bei der bisherigen wörtlichen Auslegung des § 581 I ZPO, hätte der Restitutionskläger schon unmittelbar nach Kenntnis vom Verdacht einer Rechtsbeugung eine ganze Reihe von Barrieren zu überwinden, die ihm den Zugang zur Klage von vornherein auf unzumutbare Weise erschweren, sobald er seine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft eingereicht hat. Insgesamt handelt es sich dabei um fünf Zugangsschranken, die die Effektivität des Rechtsschutzes weit über das noch hinnehmbare Maß hinaus reduzieren. Diese sind: Erste Hürde: Zunächst muss die von der Prozesspartei wegen erlittenen judikativen Unrechts bei der Staatsanwaltschaft eingereichte Strafanzeige zu einem Ermittlungsverfahren gegen den angeschuldigten Richter geführt haben. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder lehnt die Staatsanwaltschaft entgegen §§ 152 II, 160 I StPO ohne nähere Prüfung des Sachverhalts schon die Einleitung eines Verfahrens mangels Tatverdachts ab und verständigt davon den Anzeigenerstatter mittels eines formlosen Schreibens oder sie leitet zwar pflichtgemäß ein Verfahren ein, stellt dies aber unmittelbar danach gemäß § 170 II StPO wegen angeblich fehlenden hinreichenden Tatverdachts wieder ein. Die Mitteilung darüber erfolgt meist durch rein floskelhaft begründeten Bescheid mit beigefügter Rechtsbehelfsbelehrung. Zweite Hürde: Die dagegen erhobene Beschwerde zur Generalstaatsanwaltschaft muss Erfolg gehabt haben. Tatsächlich wird diese Beschwerde jedoch regelmäßig ohne nähere Prüfung unter Hinweis auf die „Gründe“ des Einstellungsbescheids zurückgewiesen. Die Rechtsbehelfsbelehrung verweist auf den Klageerzwingungsantrag. Dritte Hürde: Der Anzeigenerstatter ist nunmehr gezwungen, beim Oberlandesgericht den Antrag nach § 127 II 1 StPO zu stellen, der gemäß § 175 StPO nach Anhörung des Beschuldigten zur Anklage führen müsste. Hierbei ist jedoch u. a. 439 440 441 442

Zu dieser „verfehlten“ Vorschrift siehe MüKo ZPO (Fn. 3), § 581 Rn. 1 ff. und 11. Die Nachweise finden sich bei Braun, Rechtskraft und Restitution, 1. Teil, 1979, S. 127. MüKo-Braun/Heiß (Fn. 3), vor § 578 Rn. 10. MüKo ZPO (Fn. 3), zu § 580 Rn. 10 und zu § 581 Rn. 11 – 13 (dazu § 12 II. 1.).

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

streng darauf zu achten, dass das Gericht dessen Tatsachenvortrag ohne Rückgriff auf die Akten überprüfen kann und es auch nicht an der Darstellung des wesentlichen Inhalts der Beweismittel fehlt. Andernfalls wird der Antrag ohne Vertiefung in das Entscheidungsverhalten des Zivilrichters und teilweise unter Verfälschung des vorgetragenen Sachverhalts mit formelhafter Begründung verworfen. Dagegen hilft auch nicht die Anhörungsrüge nach § 33a StPO verbunden mit einem Ablehnungsgesuch (dazu unten § 11 II. 2.). Folglich bleibt danach nur noch die Verfassungsbeschwerde mit völlig ungewissem Ausgang. Vierte Hürde: Sollte es tatsächlich auf Anordnung des OLG nach § 175 StPO zur Anklage gekommen sein, müsste das Strafverfahren gegen den Richter auch zu dessen rechtskräftiger Verurteilung führen. In diesem Fall kann sich zwar der Anzeigenerstatter gemäß § 393 II Nr. 2 StPO der erhobenen öffentlichen Klage als Nebenkläger anschließen, um der Gefahr entgegenwirken zu können, dass die Staatsanwaltschaft das gegen ihren Willen zustande gekommene Verfahren nur nachlässig betreibt443. Verhindern kann er dies jedoch effektiv nicht. Zu bedenken ist, dass ihm das Strafverfahren doch nur mittelbar dazu dienen soll, ihm einen zivilprozessualen Restitutionsgrund zu verschaffen. Daher kann sich der Umstand, dass hier das Strafgericht vom Nebenkläger eigentlich nur als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, ihm zu ermöglichen, seine angeblichen Rechte in einem zivilprozessualen Verfahren zu realisieren, auch negativ auf dessen Entscheidungsverhalten auswirken. Dies mit dem wenn auch nicht ganz schlüssigen Hinweis darauf, dass es sich bei § 339 StGB nicht um eine Vorschrift zur Überprüfung richterlicher Entscheidungen außerhalb des Rechtsmittelzugs handelt, sondern um eine Vorschrift, die ausschließlich grobe Auswüchse richterlichen Rechtsmissbrauchs verhindern will. Davon abgesehen kommt es hier natürlich voll auf die Auslegung des § 339 StGB durch das Strafgericht im konkreten Einzelfall an. Fünfte Hürde: Selbst wenn das Strafverfahren tatsächlich zur rechtskräftigen Verurteilung des Richters geführt haben sollte, entfaltet das Urteil noch keineswegs Tatbestandswirkung auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 581 I ZPO. Vielmehr sind die Voraussetzungen der Straftat dennoch vom Zivilgericht erneut bei der Prüfung der Zulässigkeit der Restitutionsklage festzustellen444. Auch auf dieser Stufe ist somit noch keineswegs sichergestellt, dass es zur Wiederaufnahme kommt. Dies hängt wiederum davon ab, inwieweit die Neuinterpretation des § 339 StGB durch die BGH-Entscheidung 2 StR 479/13 von den Gerichten akzeptiert wird. Der „Rechtsschutz gegen den Richter“ scheitert bei der Restitutionsklage somit derzeit nicht erst an der Vorschrift des § 581 I ZPO, sondern bereits vorher im Klageerzwingungsverfahren. Unabhängig davon kommt es für die Verurteilung des Richters letztlich darauf an, wie das Zivilgericht mit der Strafvorschrift des § 339 StGB verfährt. Für dessen Anwendbarkeit auf den konkreten Fall hat zwar der BGH in seiner Entscheidung 2 StR 479/13 inzwischen praktikable Anhaltspunkte geboten. 443 444

Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 393 Rn. 9. MüKo ZPO (Fn. 3), § 581 Rn. 7; BGHZ 85, 32 = NJW 1983, 230.

§ 9 Evaluation der Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO

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Solange das Delikt als Verbrechen i. S. des § 12 I StGB eingestuft bleibt, werden jedoch die Gerichte weiterhin erhebliche Skrupel haben, danach entsprechende Urteile zu erlassen.

III. Zwischenergebnis bezogen auf die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO Die Reduktion der Vorschrift des § 339 StGB auf einen zunehmend symbolischen Bedeutungsgehalt hat entscheidenden Einfluss auf die Effektivität des § 580 Nr. 5 ZPO als außerordentlicher Rechtsbehelf. Dieser wird zur Gänze von deren mangelnder Sanktionsgeltung erfasst, soweit es um Rechtsbeugungen in Zivilgerichtsverfahren geht. Denn dem Erfordernis der rechtskräftigen Verurteilung des Richters kann angesichts der Reformbedürftigkeit des § 339 StGB schlechthin nicht entsprochen werden, so sehr sich dieser auch von Recht und Gesetz entfernt haben mag. Das Problem liegt dabei weniger in der Vorschrift des § 581 ZPO als vielmehr darin, dass zum einen schon aufgrund fehlender Aufklärung der Opfer nur äußerst selten Strafanzeigen gegen Richter wegen Rechtsbeugung erstattet werden und zum anderen die Staatsanwaltschaft trotz erfolgter Anzeige selbst in denjenigen Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit, in denen i. S. des § 170 I StPO an sich hinreichender Tatverdacht der Rechtsbeugung bestünde (z. B. in Form der Tatbestandsverfälschung), im Zweifel die Anklageerhebung mit floskelhafter Begründung unter Berufung auf die frühere Schweretheorie des BGH verweigert445. Damit erweist sich das Erfordernis des Nachweises der Rechtsbeugung als strafbewehrte Amtspflichtverletzung des Richters für den Zugang zum Restitutionsverfahren jedenfalls in den Fällen, in denen die Klage auf das Vorliegen dieser Straftat gestützt werden sollte, nicht nur als bloße, noch hinnehmbare Barriere, sondern als eine auf zumutbare Weise nicht zu überwindende Zugangssperre. Der Prozesspartei bleibt in der Regel keine reelle Chance, ihre Behauptung, der Richter habe den objektiven Tatbestand des § 339 StGB erfüllt, überhaupt gerichtlich auf ihre Richtigkeit hin überprüfen zu lassen. Zweifelsohne muss einem Missbrauch dieser Rechtsschutzmöglichkeit vorgebeugt werden, weil keineswegs schon jede Fehlentscheidung auf einer Rechtsbeugung beruht. Das, was der Prozesspartei schon im Klageerzwingungsverfahren in den Weg gestellt wird, geht jedoch bei weitem über das verfassungsrechtlich noch vertretbare Maß hinaus. Einem Missbrauch könnte leicht durch Einführung einer Missbrauchsgebühr begegnet werden, die hier mindestens ebenso gerechtfertigt wäre wie im Falle der Erhebung einer offensichtlich unbegründeten Urteilsverfassungsbeschwerde. Anwaltszwang besteht für den Klageerzwingungsantrag gemäß § 172 III 2 StPO ohnehin. 445 Dazu nochmals Heinz Giehring (Fn. 10), Die Belange der Opfer vorsätzlichen groben Justizunrechts und die Definition und Verfolgung von Rechtsbeugung, FS Wolter, 2013, 699 – 727.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

§ 10 Evaluation der Vorschriften der §§ 172 I 2 StPO mit 339 StGB Die Strafnorm des § 339 StGB erodiert durch Nichtanwendung (jedenfalls in der Zivilgerichtsbarkeit) zu einer Vorschrift mit nur noch symbolischer Geltung. Es gilt daher festzustellen, inwieweit ihr rechtssoziologisch gesehen derzeit noch Seins- und Sanktionsgeltung zukommt446. Leider ist sie bisher von der Effektivitätsforschung noch nicht als Forschungsgegenstand entdeckt worden. Ihre Akzeptanz beim Rechtsstab könnte sich zwar aufgrund der vertretbaren Konkretisierung ihres Tatbestands durch die BGH-Entscheidung 2 StR 479/13 verbessert haben. Doch ist es seitdem auf dieser Grundlage noch zu keinem Verfahren gegen einen Zivilrichter gekommen.

I. Zur Seins- und Sanktionsgeltung des § 339 StGB Zwar bleibt eine Gesetzesvorschrift grundsätzlich solange anwendbar und verbindlich, als sie nicht aufgehoben ist. Die Fragestellung der Rechtssoziologie ist jedoch eine andere: Während die Rechtsdogmatik den normativen Sinngehalt einer Rechtsnorm zu ermitteln sucht, also danach fragt, unter welchen Voraussetzungen eine Vorschrift für den Normadressaten verbindlich ist, und damit eine Entscheidung über das „Sollen“ im Recht trifft, will die Rechtssoziologie die soziale Wirklichkeit des Rechts, dessen Faktizität, erforschen und damit eine Aussage über das „Sein“ des Rechts treffen, also über die faktische Geltung von Rechtsnormen (Seinsgeltung) oder deren Nichtgeltung. Als wirksames („lebendes“) Recht in diesem Sinne gelten danach nur diejenigen Rechtsnormen, die in der Rechtspraxis auch durchgesetzt werden können. Von diesem soziologischen Rechtsbegriff wird hier ausgegangen447. Soweit in Lehre und Rechtsprechung trotz bestehender Zweifel noch von einer „lebenden“ Rechtsnorm des § 339 StGB in diesem Sinne gesprochen werden sollte, erstreckt sich die Untersuchung daher auf die Überprüfung der gegenteiligen Annahme, nämlich darauf, ob jene Norm infolge Nichtanwendung durch die Gerichte noch eine instrumentelle Wirkung zeitigt oder nur noch eine rein symbolische, also nur noch den Anschein erweckt, die Nichtbefolgung des ihr zugrundeliegenden Gebots, Rechtsbeugungen zu unterlassen, werde weiter dem Legalitätsprinzip entsprechend regelmäßig als Straftat verfolgt.

446

Siehe zu diesen Begriffen Raiser (Fn. 8), 14. Abschnitt I 1 f). Siehe zum soziologischen Rechtsbegriff Rehbinder (Fn. 7), Rn. 3: Dort heißt es: „Lebendes Recht ist geltendes Recht, das wirksam ist. Denn Normativität ohne Faktizität ist totes Recht (d. h., normativ geltendes Recht, das nicht oder nicht mehr durchgesetzt wird: paper rule) und Faktizität im Gegensatz zur Normativität ist Unrecht“. 447

§ 10 Evaluation der Vorschriften der §§ 172 I 2 StPO mit 339 StGB

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1. Instrumentelle oder symbolische Geltung des § 339 StGB? Nur symbolische Wirkung hat die Gesetzgebung, „wenn der Gesetzgeber einen normativen Anspruch erhebt, ohne die Voraussetzungen für die Wirksamkeit dieses Anspruchs schaffen zu wollen“448. Scheitert ein Gesetz, kann dies sowohl daran liegen, dass es der Gesetzgeber von vornherein nur mit symbolischer Wirksamkeit ausstatten wollte, als auch daran, dass es die Judikative nicht durchsetzen konnte oder wollte. Von nur symbolisch wirksamer Gesetzgebung ist jedenfalls dann zu sprechen, wenn der Gesetzgeber gar nicht erst den Versuch unternimmt, auch die Voraussetzungen für den Vollzug zu schaffen, die er hätte schaffen können. Daher fragt sich, ob der deutsche Gesetzgeber bei Einführung des StGB im Jahre 1871 ähnlich vorgegangen ist wie z. B. der norwegische Gesetzgeber im Jahre 1948 bei Einführung des Norwegischen Hausangestelltengesetzes, nämlich so, dass er zwar einerseits nach außen hin durchaus den Anschein erwecken wollte, die im Gesetz enthaltene Sanktionsnorm werde im Falle der Zuwiderhandlung auch durchgesetzt (hier gegen die Richter wie dort gegen die Arbeit gebenden Hausfrauen), andererseits aber der Norm aus Rücksicht auf die widerstreitenden Interessen der betroffenen Richter eine Fassung gab, die es diesen ermöglichen sollte, in gleicher Weise wie bisher ohne gesteigerten Sanktionsdruck weiterarbeiten zu können449. Dafür spricht zwar die wenig konkrete Ausgestaltung des § 339 StGB, dessen Anwendung auf den Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Allein dies rechtfertigt jedoch noch keineswegs die Annahme, die Vorschrift sei schon von vornherein so konzipiert worden, dass sie nur symbolisch wirksam werden solle. Im Gegenteil folgt aus deren Entstehungsgeschichte aus dem Preußischen StGB von 1851, dass ihr durchaus eine instrumentelle Wirkung zukommen sollte450. Andernfalls wäre nicht zu erklären, weshalb der preußische Große Disziplinarsenat für Richter noch 1927 die Disziplinierung richterlicher Pflichtwidrigkeiten bei der Entscheidungsfindung für zulässig hielt. Zweifellos hat der Gesetzgeber die Vorschrift mit einem hohen Symbolgehalt ausgestattet. Gewiss lag es jedoch nicht in seiner Absicht, ihr eine ausschließlich symbolische Funktion beizumessen, sie also schon von vornherein gar nicht faktisch wirksam werden zu lassen. Dennoch gilt sie für die Zivilgerichtsbarkeit aufgrund der Haltung der Staatsanwaltschaft nur insoweit, als ihre Appel- bzw. Suggestivwirkung reicht. Jedenfalls fallen bei ihr die instrumentelle und die symbolische Geltungsquote derart auseinander, dass sie sich trotz ihrer klaren Zweckbestimmung, die „Herr-

448 Blankenburg, Rechtssoziologie und Rechtswirksamkeitsforschung. Warum es so schwierig ist, die Wirksamkeit von Gesetzen zu erforschen, in: Plett/Ziegert (Hrsg.), Empirische Rechtsforschung zwischen Wissenschaft und Politik, 1984, S. 62, 64; Kindermann, Symbolische Gesetzgebung, in: Grimm/Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 222, 227; Rehbinder (Fn. 7), Rn. 125 u. 205. 449 Raiser (Fn. 8), 14. Abschnitt III 3, S. 252 f. 450 Schmidt-Speicher (Fn. 322), Hauptprobleme der Rechtsbeugung, S. 14 ff., 51, 91.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

schaft des Rechts“ zu gewährleisten, praktisch nicht effektiv zur zwangsweisen Durchsetzung eignet. 2. Zur Sanktionsgeltung des § 339 StGB Die Wirksamkeit eines Gesetzes im instrumentellen Sinn zeigt sich im Vollzug. Genau daran fehlt es jedoch bei der Vorschrift des § 339 StGB, jedenfalls was ihre Anwendbarkeit auf das Entscheidungsverhalten von Zivilrichtern anbelangt, obwohl deren Zweck gerade in der Sicherung der Gesetzesbindung liegt451. Zu verzeichnen ist hier ein ähnliches Vollzugsdefizit wie es erwiesenermaßen z. B. im Umweltschutzrecht besteht452. Die Aktivierung der Staatsanwaltschaft zur Einleitung von Ermittlungen wegen des Verdachts einer Rechtsbeugung ist wie bei jeder anderen Straftat zunächst abhängig von der Anzeigenbereitschaft der angeblichen Verbrechensopfer. Tatsächlich wird jedoch selbst in krassen Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit eines Zivilurteils eine richterliche Fehlentscheidung nicht zur Anzeige gebracht. Wesentlicher Grund dafür dürfte der Glaube der Opfer an die Geltung des Krähenprinzips sein, also daran, dass die Anzeige schon deswegen keine Erfolgsaussicht habe, weil es bereits an der Bereitschaft der Staatsanwaltschaft fehle, den Tatvorwurf überhaupt einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Dieser Glaube ist keineswegs abwegig. Für die Judikative ist das Delikt der Rechtsbeugung ohnehin nur ein Mythos453. Die nicht zu rechtfertigende Zurückhaltung der Staatsanwaltschaft bei der Strafverfolgung der Rechtsbeugung lässt sich auch sozialpsychologisch mit der Theorie der kognitiven Dissonanz erklären, wonach der Handelnde, der sich zu entscheiden hat, dazu neigt, sich nur noch von Informationen überzeugen zu lassen, die sein Vorurteil bestärken, und diejenigen Informationen negiert, die damit nicht in Einklang zu bringen sind. So haben Untersuchungen gezeigt, dass Angehörige gering geschätzter sozialer Gruppen bei Verfehlungen weit eher angezeigt und bestraft werden als der Durchschnitt der Bevölkerung (sog. Sub-Classing)454. „Die Verfolgung von Personen, denen man abweichendes Verhalten zutraut, ist kognitiv konstant und fällt daher leicht, während soziales Ansehen, das man ja gerade auch durch die Erfüllung und Übererfüllung normativer Erwartungen erwirbt, sich mit der Annahme normwidrigen Verhaltens nicht verträgt, so dass der Fall schon sehr krass liegen muss, soll er zur Kenntnis genommen werden.“ Um einen Richter anzuklagen, helfen jedoch oft selbst krasseste Fälle nichts.

451

Sowada (Fn. 154), S. 196. Vgl. z. B. Jens Newig, Symbolische Umweltgesetzgebung, 2003. 453 Schloderer (Fn. 41), S. 574 ff. und 613 ff. 454 Zu dieser Selektivität der Strafverfolgung siehe Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie-online, § 42 Innere Verhaltensmuster V mit Hinweis u. a. auf Peters, Richter im Dienste der Macht, 1973, 110 ff. 452

§ 10 Evaluation der Vorschriften der §§ 172 I 2 StPO mit 339 StGB

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3. Unzulängliche Konzeption des § 339 StGB Verantwortlich für die zunehmende Erosion der Sanktionsnorm des § 339 StGB zu einer Rechtsnorm mit lediglich symbolischer Geltung ist in erster Linie die frühere verfassungswidrige Rechtsprechung des BGH zur Rechtsbeugung, die nicht einmal den bedingten Vorsatz für ausreichend hielt. Wegen des Fehlens konkreter Tatbestandsmerkmale ist die Anwendbarkeit der Vorschrift jedoch schon in den Grenzfällen zur straflosen schlicht fehlerhaften Rechtsanwendung höchst problematisch. Hinzu kommt die überzogene Strafandrohung mit der Folge des Amtsverlusts gemäß §§ 45 StGB, 24 Nr. 1 DRiG, die ebenso wie die Sperrwirkung des § 339 StGB auf den Rechtsanwender abschreckend wirkt455. Von Rechtsbeugung ist zwar schon im Alten Testament die Rede456. Gemeint ist damit eine „Verkehrung“ des Rechts zum Unrecht, die noch dazu „im Gewand des Rechts und damit unverdächtig auftritt“457. Auch diese Charakterisierung der Tat erleichtert die Anwendung der Vorschrift jedoch ebenso wenig wie die Beschreibung der Rechtsbeugung als „unvertretbare“ Rechtsanwendung. Vor jeder Anwendung bedarf es daher zwingend einer erneuten Konkretisierung der Norm bzw. deren „Herstellung“ im Sinne Christensens, wie dies der BGH in der Entscheidung 2 StR 479/13 vorgenommen hat. Schon aufgrund ihrer Unbestimmtheit und der Tatsache, dass sie gegen Angehörige des eigenen Berufsstandes gerichtet ist, war daher abzusehen, dass der Rechtsstab zu einer weitgehend restriktiven Auslegung hintendieren werde. Jedenfalls erklärt dies das Ausbleiben der für die Sanktionsgeltung der Norm relevanten psychischen Wirksamkeitsfaktoren, was zu einem bewussten Sanktionsverzicht des Rechtsstabs geführt hat. Äußerst treffend bringt Fischer dieses Phänomen in seinem Kommentar wie folgt zum Ausdruck458: „Einer symbolisch überhöhten Bestimmung des Unrechtsgehalts, die sich in der hohen Strafandrohung widerspiegelt, steht eine Rechtswirklichkeit gegenüber, die dem Bild der Rechtsbeugung als schwerwiegendem Verbrechen mit zwingendem Amtsverlust kaum gerecht wird. Das praktische Bild bewusster Verstöße gegen Rechtsnormen prägen nicht Fälle rechtsfeindlicher Entscheidungen gegen ,elementare Rechtsgrundsätze‘, sondern Fälle bewusst unvertretbarer Verfahrensbehandlungen, teils zur Arbeitserleichterung, teils zur Erzielung ,gerechter‘ Ergebnisse, deren Erfassung durch § 339 umstritten ist. Dem Ansehen und der Autorität des Rechtsstaates sind auch sie abträglich.“

Gemeint ist damit vor allem die mangelnde Entsprechung von Normbruch und Sanktion, da letztere nicht der tatsächlichen Schwere der Tat im „Normalfall“ der Rechtswirklichkeit angepasst wurde459. Der Vorschrift wird so bescheinigt, dass sie 455

Uwe Berlit, Richterhaftung und Rechtsbeugung (Fn. 4), S. 253 f.; Fischer (Fn. 21), § 339, Rn. 48. 456 5. Buch Mose, Kap. 27, Vers 19. 457 Saliger, Rechtsphilosophische Probleme der Rechtsbeugung, ARSP Beiheft 104 (2005), S. 138, 139. Siehe zum Begriff „Rechtsbeugung“ LK-Hilgendorf (Fn. 40), Rn. 1 ff. und 10 ff. 458 Fischer, StGB (Fn. 21), § 339 Rn. 4. 459 Dazu Popitz (Fn. 317), S. 59.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

sich als „missglückt“ erwiesen hat, weil sie die ihr vom Gesetzgeber zugewiesene Funktion als Sanktionsnorm zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Bindungsgebots nicht mehr effektiv wahrzunehmen vermag.

II. Die Rechtsprechung des BGH zum Verbrechen der Rechtsbeugung Das „Recht“ bildet bei der Rechtsbeugung sowohl das Angriffsobjekt der Tathandlung als auch den alleinigen Maßstab der Beurteilung dieser Handlung. Nachdem gewiss nicht schon jeder Rechtsanwendungsfehler den objektiven Tatbestand des § 339 StGB verwirklichen sollte, die absolute Unvertretbarkeit der Entscheidung entgegen BGHSt 41, 274 (251) im Zweifel aber durchaus460, war es Aufgabe der Rechtsprechung zu klären, welche Verstöße des Richters gegen Gesetz und Recht nach Art und Umfang der Gesetzgeber überhaupt als strafbar behandelt wissen wollte. 1. Die ältere BGH-Rechtsprechung zu § 339 (früher 336) StGB Mit dem Kriterium, wonach sich der Richter „in schwerwiegender Weise von Gesetz und Recht entfernt“ haben muss, setzte der BGH die Grenze zur Strafbarkeit derart hoch an, dass ein Richter selbst im Falle einer offenkundigen greifbaren Gesetzwidrigkeit im Sinne der früheren BGH-Formeln keineswegs zu befürchten brauchte, wegen Verstoßes gegen § 339 StGB angeklagt zu werden461. Anscheinend sollte die Einführung dieses normativen Elements in den Tatbestand der Vorschrift einzig dem Zweck dienen, die Tat zum Schutz der Richter als noch nicht verwirklicht bezeichnen zu können. Da jedoch der Tatbestand des § 339 StGB „im Blick auf die Opfer keinen elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege, sondern nur einen vorsätzlichen Normbruch“ verlangt, entfernte sich der BGH durch diese Normsetzung selbst vom Gesetz und verbrämte diese Abkehr auch noch dadurch, dass er seine Entscheidung äußerlich als das Ergebnis einer Gesetzesauslegung präsentierte, obwohl er so die Vorschrift inhaltlich durch eine andere Norm ersetze und damit deren gesetzgeberisches Ziel massiv verfälschte462. Als zwingende Folge einer an der herrschenden Methodik orientierten Interpretation der Vorschrift hätte er jedoch die Schweretheorie nur ausgeben können, wenn er zumindest Bezugspunkte genannt hätte, von denen aus hätte gemessen werden können, wann sich der Richter in schwerwiegender Weise vom Gesetz entfernt hat. Solche Kriterien wären zu formulieren gewesen463. Aber auch darauf verzichtete er. 460 Dazu auch BGH NJW 1997, 1455 und NJW 1999, 1122 mit Anm. von Herdegen (Fn. 152). 461 Urteil vom 29. 10. 92, BGHSt 38, 381; Fischer (Fn. 21), Rn. 9 und 14. 462 Kargl (Fn. 154), S. 861 f. und S. 870. 463 Seebode (Fn. 151), JR 1994, 1 ff.

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Entgegen der h. L. entschied er außerdem, dass für die Strafbarkeit ein nur bedingter Vorsatz nicht ausreiche464 und in einer noch früheren Entscheidung verfälschte er sogar den offenkundigen Gesetzeszweck465. So meinte er, Ziel des (damaligen) § 336 StGB sei die „Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit“, obwohl die Vorschrift durch die Betonung der Gesetzesbindung im Gegenteil gerade die Verantwortlichkeit des Richtenden wahren soll und damit zwangsläufig die Einschränkung seiner Entscheidungsfreiheit rechtfertigt. Als letzte Steigerung berief er sich sogar noch darauf, dass die restriktive Auslegung dieser Vorschrift als Korrektiv gegen eine sonst zu befürchtende Überflutung der Justiz mit Strafanzeigen wegen Rechtsbeugung mit dem Ziel der erneuten Überprüfung rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen gerechtfertigt sei. Dazu hieß es noch wörtlich im Urteil BGHSt 41, 247, 251 f.: „Vor dem Hintergrund, dass die Annahme von Unvertretbarkeit bei der gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen nicht etwa auf extreme Ausnahmefälle beschränkt ist – z. B. bei revisionsgerichtlicher Überprüfung von Strafaussprüchen … und bei Annahme ,objektiver Willkür‘ im Verfassungsbeschwerdeverfahren –, sind gesteigerte Anforderungen an den Rechtsbeugungstatbestand ein notwendiges Korrektiv gegen die andernfalls drohende Konsequenz, Gerichtsentscheidungen allzu häufig nochmals wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung erneuter Sachprüfung durch die Justiz zu unterstellen.“ 466

Im Gegensatz zu dieser den Rechtsbeugungstatbestand verfälschenden älteren Rechtsprechung des BGH waren die Bemühungen, die im Jahre 1839 der württembergische Gesetzgeber bei der Konkretisierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen an den Tag legte, als er bei der Rechtsbeugung allein darauf abstellte, ob „wesentliche Vorschriften des gerichtlichen Verfahrens vorsätzlich verletzt“ wurden467, voll zutreffend. a) Faktische Entkriminalisierung des § 339 StGB In einer ausführlichen Besprechung der Entscheidung des BGH vom 05. 12. 96 (BGHSt 42, 343), in der diese rigorose Restriktion des Tatbestands des § 339 StGB erneut bestätigt wurde, hat Sowada468 nachgewiesen, dass die Rechtsprechung im Bereich des § 339 StGB „eine faktische Entkriminalisierung“ betreibt, „indem sie ihre Maßstäbe am ,Antimythos des › bösen ‹ Terrorrichters‘ ausrichtet“. Dies sei Ausdruck einer „Vermeidungsstrategie“, die angesichts der harten Rechtsfolgen der Straftat offenbar allein vom gewünschten Ergebnis diktiert werde. Dementgegen halte der Gesetzgeber nach außen hin konsequent an der harten Linie dieser Vor464

Dagegen Lehmann (Fn. 45), S. 131 sowie LK-Hilgendorf (Fn. 41), Rn. 86 – 92. BGHSt 10, 294, 298. Dazu näher Spendel, in: FS Heinitz, S. 448 f. 466 Fischer (Fn. 21), § 339 Rn. 15a. 467 Seebode (Fn. 151), JR 1994, 5. 468 Sowada, Zur Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung bei angemaßter richterlicher Zuständigkeit, GA 98, 177, 196; Volk (Fn. 180), NStZ 97, 412. 465

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schrift fest, indem er jegliche Ansätze für legislatorische Auflockerungen469 zurückweise, um dadurch der Bevölkerung und den Richtern „den prinzipiellen Wert einer auch strafrechtlich abgesicherten Gesetzesbindung … klar vor Augen zu stellen“. Die Konzeption trage „Züge eines symbolhaften Strafrechts470, bei dem es weniger um die konkreten Rechtsbeugungsverfahren als um das allgemeine Bekenntnis des politischen Systems zur strikten Unverbrüchlichkeit des Rechtsstaates“ gehe. Um dieses politischen Zieles willen werde „die Latte der Rechtsfolgen so hoch gelegt, dass sich die Rechtspraxis unter dem Eindruck der gravierenden Realfolgen in weitem Maße schlicht weigert, diese Norm umzusetzen und zur Anwendung zu bringen“. Es könne aber „der Justiz nicht das Recht zugestanden werden, im Wege der Selbsthilfe die gesetzgeberischen Anordnungen einfach leerlaufen zu lassen“, und zwar insbesondere dann nicht, wenn es sich um eine Vorschrift handele, deren Zweck gerade in der Sicherung der Gesetzesbindung bestehe. b) Zuständigkeit des BGH zur Konkretisierung des Rechtsbeugungstatbestands Demnach war der BGH lange Zeit nicht darum bemüht, durch Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Rechtsbeugung den Anwendungsbereich des § 339 StGB der Sache entsprechend angemessen zu bestimmen. Vielmehr unternahm er es mehr oder weniger bewusst, die Vorschrift durch Fiktion nicht vorhandener Tatbestandsmerkmale als Rechtsnorm mit Verhaltensgeltung faktisch außer Kraft zu setzen. Dieses Unterfangen kam einer Derogation durch den Gesetzgeber gleich, zu der er keinesfalls ermächtigt war. Denn auch für ihn galt der Vorrang der Gesetzesbindung, der einer gesetzesergänzenden „Auslegung“ klar entgegenstand471. An einer Lückenausfüllung solcher Art ist ein Gericht nur dann nicht gehindert, wenn der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum bei der Formulierung der Vorschrift bewusst nicht (voll) ausgeschöpft, sondern deutlich erkennbar an die Rechtsprechung weitergegeben hat472. Von einer solchen Ermächtigung durfte der BGH im Fall des § 339 StGB jedoch nicht auszugehen. Seine Aufgabe bestand lediglich darin, den unbestimmten Begriff „Rechtsbeugung“ so zu konkretisieren wie andere zum überlieferten Bestand der Strafrechtsnormen gehörende unbestimmte Rechtsbegriffe, also z. B. wie denjenigen der Beleidigung473. Dabei stand ihm auch nicht das 469

Einen solchen Ansatz stellt der Reformvorschlag von Bemmann/Seebode/Spendel (Fn. 30) dar, der auch damit gerechtfertigt wurde, dass die einengende Auslegung des § 339 StGB „bis zur Gesetzwidrigkeit“ ginge. 470 Siehe zur symbolischen Geltung von Rechtsnormen Raiser (Fn. 18), 14. Abschnitt II; Rehbinder (Fn. 17), Rn. 125; Bryde, Die Effektivität von Recht als Rechtsproblem, 1993, S. 12 ff. 471 Siehe dazu die Ausführungen von A. Röthel, Verfassungsprivatrecht aus Richterhand? – Verfassungsbindung und Gesetzesbindung der Zivilgerichtsbarkeit, JuS 2001, 424, 426, die sich ebenso auf die Strafgerichtsbarkeit übertragen lassen. 472 Vgl. Rüthers/Fischer (Fn. 38), Rn. 851, 944 ff., 952 ff., 959 ff., 965 ff. 473 Die Verwendung unbestimmter, wertausfüllungsbedürftiger Begriffe durch den Gesetzgeber ist unbedenklich, wenn sie zum überlieferten Bestand an Strafrechtsnormen gehören

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Wahlrecht zu, die Vorschrift überhaupt anzuwenden oder auch nicht. So, als könne er sich selbst vom Gesetzesgehorsam dispensieren, verhielt er sich aber damals noch. Fraglich kann nur das Maß an Bestimmtheit sein, das die Vorschrift § 339 StGB nach der Verfassung aufzuweisen hat. Nach Rostalski wird dem Bestimmtheitsgrundsatz dadurch in angemessener Weise Rechnung getragen, dass der Gesetzgeber in der Sanktionsnorm „den Verhaltensnormtyp bezeichnet, dessen Verstöße … mit Strafe geahndet werden sollen“474. Dies setze voraus, „dass jedenfalls durch Rechtskonkretisierung die Gründe ermittelt werden können, die für die Legitimation der Verhaltensnorm sprechen“. Bei der Rechtsbeugung besteht insoweit schon deswegen kein Problem, weil sich die Pflicht der Richter, die sie betreffenden Verhaltensnormen zu beachtenden, bereits aus dem Richtereid ergibt. 2. Konkretisierung des § 339 StGB durch die Grundsatzentscheidung BGH 2 StR 479/13 Erst in der Grundsatzentscheidung vom 22. 01. 2014, Az. 2 StR 479/13 = NJW 2014, 1192, unternahm es der 2. Strafsenat des BGH, den Tatbestand der Rechtsbeugung für den Rechtsanwender zwar geringfügig, aber in durchaus plausibler Abweichung von seiner bisherigen, zu restriktiven Auslegung zumindest soweit zu konkretisieren, dass dadurch Staatsanwälte und Richter in die Lage versetzt wurden, auf nachvollziehbare Weise über eine Strafanzeige bzw. Strafanklage zu entscheiden. Insbesondere stellte er hierbei klar, es erschöpfe sich das über den bedingten Vorsatz hinausgehende subjektive Element der „bewussten Abkehr von Recht und Gesetz“ darin, dass der Täter die Schwere des Rechtsverstoßes, also die Bedeutung der von ihm gebrochenen Rechtsnorm für das Rechtssystem im Rahmen des von ihm geführten Verfahrens erkannt haben müsse. Dementsprechend lautet der erste Leitsatz dieser Entscheidung: „Der subjektive Tatbestand der Rechtsbeugung setzt mindestens bedingten Vorsatz hinsichtlich des Verstoßes gegen geltendes Recht sowie einer Bevorzugung oder Benachteiligung einer Partei voraus. Das darüberhinausgehende subjektive Element einer bewussten Abkehr von Recht und Gesetz bezieht sich auf die Schwere des Rechtsverstoßes. Auf die persönliche Gerechtigkeitsvorstellung des Richters kommt es nicht an.“

Näheres zu diesem entscheidenden Aspekt ergibt sich aus den Urteilsgründen: „Der Täter muss einerseits die Unvertretbarkeit seiner Rechtsansicht zumindest für möglich gehalten haben und billigend in Kauf genommen haben; andererseits muss er sich der grundlegenden Bedeutung der verletzten Rechtsregel für die Verwirklichung von Recht und und sich durch den Normzusammenhang sowie die gefestigte Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung gewinnen lässt, vgl. Fischer (Fn. 10), § 1 Rn. 5c m. w. N. Einen Nachweis dafür, dass es schon vor seiner Zeit keine gefestigte Rechtsprechung zur Rechtsbeugung gab, hat der BGH aber nicht erbracht. 474 Siehe Fn. 266 S. 167, dort m. w. N. in der Fn. 37.

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

Gesetz bewusst gewesen sein. Bedingter Vorsatz reicht für das Vorliegen eines Rechtsverstoßes aus; Bedeutungskenntnis im Sinne direkten Vorsatzes ist hinsichtlich der Schwere des Rechtsverstoßes erforderlich. Diese Differenzierung trägt dem berechtigten Anliegen Rechnung, einerseits den Verbrechenstatbestand der Rechtsbeugung nicht auf jede – später möglicherweise aufgehobene oder als unzutreffend angesehene – ,nur‘ rechtsfehlerhafte Entscheidung anzuwenden, andererseits aber ein sachwidriges Privileg für Richter auszuschließen, die unter bedingt vorsätzlicher Anwendung objektiv unvertretbarer Rechtsansichten bei der Entscheidung von Rechtssachen Normen verletzen, deren grundlegende – materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche – Bedeutung für die Rechtsordnung im Allgemeinen oder für die zu entscheidende Sache ihnen bewusst ist.“

Mit dieser Entscheidung wurde der Tatbestand des § 339 StGB wie es bei Fischer heißt endlich aus dem Nebel angeblicher Unanwendbarkeit herausgeholt: „Wenn die Rechtsgüter des § 339 StGB Geltung und Legitimität des Rechts sind, kann dessen Auslegung nicht daran orientiert werden, einen Schutz der Justiz vor Strafverfahren wegen Rechtsbeugung sicherzustellen, sondern nur daran, einen Schutz der Rechtsgeltung vor Angriffen ,von innen‘ zu bewirken“475.

Der zweite Leitsatz der Entscheidung befasst sich mit den Bedingungen, unter denen von vorsätzlicher Begehung ausgegangen werden kann. Er lautet: „Indizien für das Vorliegen des subjektiven Tatbestands der Rechtsbeugung können sich aus der Gesamtheit der konkreten Tatumstände ergeben, insbesondere auch aus dem Zusammentreffen mehrerer gravierender Rechtsfehler.“

Liegen insoweit konkrete Anhaltspunkte für die Annahme nicht nur eines weisungsfeindlichen Anfangsverdachts, sondern eines dringenden Tatverdachts vor, steht dem Anzeigenerstatter als Opfer der Straftat nach BVerfG NJW 2015, 150, Rn. 13, sogar grundsätzlich ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung zu476. Hier dennoch kein Ermittlungsverfahren gegen den Richter einzuleiten, würde daher elementar gegen das Legalitätsprinzip verstoßen. Nach Ansicht von Matthias Jahn finde zwar auch diese Differenzierung im Wortlaut des § 339 StGB keine Stütze, doch führe sie „jedenfalls mit Rücksicht auf die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit in Art. 97 I GG zu sachgerechten Ergebnissen“477. Dem ist zuzustimmen. Bislang hat diese Entscheidung dennoch weder bei den Staatsanwaltschaften noch bei den Oberlandesgerichten in den Klageerzwingungsverfahren zu einer allgemeinen Akzeptanz geführt. 3. Der Sonderfall der Rechtsbeugung des Kollegialgerichts Einen Sonderfall bildet die Verfolgung der Rechtsbeugung von Mitgliedern eines Kollegialgerichts: Wenn hier ein Mitglied gegen das Fehlurteil der anderen Richter 475

Fischer (Fn. 21), zu § 339 Rn. 42, 32, 33 und 34 ff. Dazu grundsätzlich Karl Kröpil, Anspruch auf Strafverfolgung – zugleich eine Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 06. 10. 14 (2 BvR 1568/12). 477 In JuS 2014, 850 ff. 476

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gestimmt hat, soll nicht einmal Versuch, geschweige denn Vollendung in Betracht kommen, auch wenn es am Zustandekommen der Entscheidung durch seine Zugehörigkeit zum Spruchkörper und seine Anwesenheit bei der Urteilsverkündung mitgewirkt hat. Werde durch eine Mehrheit im Kollegialgericht das Recht eindeutig verletzt, so werde „durch die ,Beteiligung‘ des überstimmten Richters … der objektive Rechtsbeugungstatbestand ebenso wenig für den richtig Urteilenden begründet wie für die falsch Entscheidenden ausgeschlossen“. Denn Beugung des Rechts als Tathandlung sei „nicht schon jede für ein Fehlurteil tatsächlich mitbedingende (kausale), sondern nur eine auch als rechtsverletzend bewertete Tätigkeit“478. Es bedürfe insofern einer teleologischen Reduktion des § 339 StGB. Dagegen meint Erb, dass jedes Verhalten dessen Tatbestand erfülle, „durch das der Täter an der Inkraftsetzung einer rechtsbeugerischen Entscheidung mitwirkt“479. Besonders problematisch wird die Verfolgung der Straftat dadurch, dass die Aufklärung des Falles von den Aussagen der beteiligten Richter abhängt, jedoch nach h. M. aufgrund des richterlichen Beratungsgeheimnisses keine Aussagepflicht besteht. Im Fall Görgülü wurde deswegen vom OLG Naumburg die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen die Richter unter Hinweis auf § 43 DRiG in Verb. mit § 202 S. 1 StPO verhindert480.

III. Zur Entscheidungspraxis der Oberlandesgerichte im Klageerzwingungsverfahren bei Strafanzeigen gegen Richter Was die Vorschrift des § 172 II 1 StPO anbelangt, so kann insoweit die Evaluation auf die Schilderung des widersprüchlichen Entscheidungsverhaltens der Oberlandesgerichte beschränkt werden, das sich zeigt, wenn deren Strafsenate über einen Klageerzwingungsantrag zu befinden haben, der auf eine angebliche Rechtsbeugung eines Richters gestützt wird: Bekanntlich hatten diese Senate bei der Prüfung der Zulässigkeit der Anträge nach § 172 II 1 StPO lange Zeit darauf abgestellt, dass auch bestimmte ungeschriebene Zulässigkeitserfordernisse des § 172 III StPO erfüllt sein müssten (wie u. a. eine „in sich geschlossene“ und vollständige Schilderung des Sachverhalts, ohne dass auf die Akte zurückgegriffen werden muss, und eine umfassende Auseinandersetzung mit den Argumenten der Staatsanwaltschaft)481, was 478

LK-Hilgendorf (Fn. 41), § 339 Rn. 123 m. w. Nachw. Erb, Überlegungen zur Strafbarkeit richterlichen Fehlverhaltens, in: FS Küper, S. 29, 31 ff.; sowie NStZ 2009, 193. 480 OLG Naumburg, NJW 2008, 3585; dazu Erb (Fn. 545); Chr. Putzke, Rechtsbeugung in Kollegialgerichten, 2012; Schönfeld, Zur Rechtsbeugung des Kollegialrichters, JA 2009, 401; Mandla, Senatus legibus solutus – Kollegialrichter können straflos Recht beugen, ZIS Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik, 09, 143 (Online-Zeitschrift); Marsch, Kontrolle der rechtsprechenden Gewalt und der Fall Görgülü, NJ 2009, 152. 481 Dazu Wohlers in SK-StPO, 4. Aufl. 2010, § 172 Rn. 70 ff.; BVerfG NStZ 93, 497; Schulz-Arenstorff, Die Zulässigkeitserfordernisse des Klageerzwingungsantrags, NJW 78, 1302. 479

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Teil 2: Durchführung der Evaluation

zu einer ständigen Abweisung der Anträge als unzulässig führte. Dieser unzulässig restriktiven Rechtsprechung hat jedoch das BVerfG in mehreren Entscheidungen Einhalt geboten482. So entschied es, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Antrags nicht überspannt und schablonenhaft angewandt werden dürften und dass Art. 19 IV GG es verbiete, ein Rechtsmittel durch überstrenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften ineffektiv zu machen und für den Rechtsmittelführer „leerlaufen“ zu lassen. Die §§ 172 ff. dienten nicht nur der Verwirklichung des Legalitätsprinzips, sondern auch dem Genugtuungsinteresse des Verletzten. Die Formerfordernisse dürften nicht weitergehen, als durch ihren Zweck geboten ist. Diese drohten sonst zum formalistischen Selbstzweck zu werden. Demzufolge war an sich zu erwarten, dass daraufhin die Oberlandesgerichte diese Maßstäbe gleichermaßen auf die Beurteilung der Zulässigkeit aller Klageerzwingungsanträge anlegen, also auch auf die Anträge, die sich darauf richteten, die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung gegen einen Richter wegen Rechtsbeugung zu verurteilen. Diese Erwartung hat sich jedoch bislang noch in keinem Fall erfüllt. Vielmehr haben neuere Entscheidungen jedenfalls des Kammergerichts Berlin, des Oberlandesgerichts München und des Brandenburgischen Oberlandesgerichts gezeigt, dass deren Strafsenate keineswegs dazu bereit sind, jene neuere, extensivere Rechtsprechung des BVerfG zu § 172 III StPO zu akzeptieren. Vielmehr wird dort nach wie vor in der Absicht, eine eingehende Beschäftigung mit der Sache selbst zu vermeiden, akribisch nach noch so abwegigen Anhaltspunkten gesucht, um die Klageerzwingungsanträge als bereits unzulässig verwerfen zu können. Damit verstoßen jene Senate weiter massiv gegen die Rechtsweggarantie der Art. 19 IV 1 und 20 III 2. Alt. GG, wobei zu bedenken ist, dass es über § 172 StPO hinaus nach h. L. grundsätzlich keinen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Rechtsverfolgung Dritter gibt483. Hinzu kommt im Einzelfall noch folgende Besonderheit: Unternimmt es der Antragsteller, gegen den Bescheid die Anhörungsrüge des § 33a StPO zu erheben und lehnt er zugleich die vormals erkennenden Richter des Strafsenats des Oberlandesgerichts (bzw. des Kammergerichts Berlin) gemäß § 24 StPO wegen Übergehens relevanten Parteivortrags, eklatanter Voreingenommenheit und mangelnder Begründung des Bescheids ab, geschieht das Unerwartete: Die Richter fühlen sich befugt, unter Missachtung des § 27 I StPO in gleicher Besetzung selbst über das Befangenheitsgesuch zu befinden484. Dies unter Hinweis darauf, dass das Gesuch wegen Fehlens eines Ablehnungsgrunds i. S. des § 26a I Nr. 2 StPO oder wegen einer völlig ungeeigneten Begründung nach § 26a II 1 StPO unzulässig sei485, womit 482

BVerfGE 96, 27/39; MüKo, StPO, zu § 172, Rn. 2; Löwe/Rosenberg, StPO, Rn. 146. Meyer-Großner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, zu § 172 Rn. 1a unter Hinweis auf BVerfG NStZ 02, 606 und NStZ-RR 20, 51. 484 So die im Anhang geschilderten Beispielsfälle 2 und 3. 485 Dazu Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 549), § 26a Rn. 4a mit Hinweis auf Schlei, Die Verwerfung eines Ablehnungsgesuchs als unzulässig, 2016. 483

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zugleich auch die Abgabe der dienstlichen Äußerung nach § 26 III StPO unterlassen wird. Um ein solches Entscheidungsverhalten zu rechtfertigen, müsste jedoch das Gesuch „losgelöst von den konkreten Umständen des Einzelfalls zur Begründung der Besorgnis der Befangenheit gänzlich ungeeignet erscheinen“486. Zwar kommen für begründete Ablehnungen „regelmäßig nur solche Gesuche in Betracht …, die Handlungen des Richters beanstanden, welche nach der Prozessordnung vorgeschrieben sind oder sich ohne weiteres aus der Stellung des Richters ergeben“, wie die Einhaltung des prozessordnungsgemäßen Verfahrensgangs und die Mitwirkung an einer Vor- oder Zwischenentscheidung sowie sonstige Vorbefassungen487. Davon, dass der Anwalt solche Gründe überhaupt nicht genannt hat, kann jedoch im Zweifel nicht ausgegangen werden. Denn nach herrschender Ansicht rechtfertigen selbst schwerwiegende Begründungsmängel die Verwerfung nicht. Auch solche machen nämlich eine gewisse Sachprüfung erforderlich und zu vermeiden ist stets eine Begründetheitsprüfung im Gewande der Zulässigkeitsprüfung488. Dieser massive Verstoß gegen Art. 101 I 2 GG würde daher zweifelsfrei die Verfassungsbeschwerde gegen solche Zurückweisungsbeschlüsse rechtfertigen. Auch das rechtfertigt die Ansicht Brauns, dass im Rahmen der Restitutionsklage nach § 580 Nr. 5 ZPO allein auf das Vorliegen einer Straftat abzustellen sei, deren Tatbestandsvoraussetzungen vom Zivilgericht selbst festgestellt werden sollten. Dann bedürfte es an sich auch keines Klageerzwingungsverfahrens mehr. Da jedoch der Restitutionskläger die Straftat zumindest schlüssig vortragen muss, wird er im Zweifel auf die Strafanzeige und den Klageerzwingungsantrag nicht verzichten können.

486

BVerfG 2005, 3410, 3412; BVerfG NStZ-RR2007, 275, 276. BVerfG NJW 2006, 3129, 3132; BGH NStZ-RR 2012, 350; Meyer-Großner/Schmitt, § 26a Rn. 4a. 488 Fischer/Kudlich, Ausschluss und Ablehnung von Richtern im Strafverfahren, JA 2020, 641, 645. 487

Teil 3

Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung der Evaluationsergebnisse Die vorausgegangenen, auf die Verfahrenswirklichkeit bezogenen Feststellungen konnten die eingangs aufgestellte Hypothese, dass weder die Anhörungsrüge des § 321a noch die Restitutionsklage der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO in Verb. mit § 339 StGB noch der Klageerzwingungsantrag den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Effektivität gesetzlich gebotenen Rechtsschutzes gerecht werden, zwar nicht streng methodengerecht verifizieren, dürften sie aber zumindest hinreichend illustriert, also plausibel gemacht haben. Dies mit der Folge, dass „im Sinne einer untechnischen Umkehr der Beweislast“ von demjenigen, der diese Hypothese für falsch halten sollte, verlangt werden kann, dass er durch eine eigene empirische Untersuchung Belege beibringt, die gegen die Ergebnisse dieser Evaluation sprechen489. Dem rechtssoziologischen Ansatz dieser Untersuchung folgend sind daher nunmehr die Ursachen dieser mangelnden Effektivität zu ermitteln. Denn die der Datenerhebung folgende Ursachenforschung ist das eigentliche Ziel, die zentrale Aufgabe der Rechtssoziologie490. Demgegenüber fällt die Auswertung der Evaluationsergebnisse in den Bereich der soziologischen Jurisprudenz.

§ 11 Ursachenanalyse und Bewertung Dem Vorgehen der Implementationsforschung entsprechend sind nunmehr retrospektiv die beim Vollzug des § 321a einerseits und der §§ 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit 339 StGB andererseits aufgetretenen Störungen zu untersuchen, um danach weiter zu fragen, wie diese beseitigt und künftig vermieden werden können. Es geht dabei im Wesentlichen um die Frage, inwieweit die faktische Unwirksamkeit jener Vorschriften schon durch deren unzulängliche Konzeption vorprogrammiert wurde.

489

Rehbinder (Fn. 17), Rn. 24 und 59; siehe dazu bereits oben Fn. 392. Rehbinder, Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, Jb. Rechtssoziologie u. Rechtstheorie Bd. 1, 1979, S. 334, 358. 490

§ 11 Ursachenanalyse und Bewertung

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I. Ursachen der Rechtsschutzdefizite die Anhörungsrüge betreffend Zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Effektivität der Anhörungsrüge kommt es bereits dadurch, dass Unklarheiten darüber bestehen, wie eine Gehörsverletzung im Einzelfall von der Verletzung eines der anderen Verfahrensgrundrechte abzugrenzen ist. Denn die Konkurrenz der Verfahrensgrundrechte untereinander ist dogmatisch ungeklärt491. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis der Gehörsverletzung zum prozessualen Willkürverbot und zum Gebot des wirkungsvollen Rechtsschutzes sowie zum Anspruch auf ein faires Verfahren. Wenn aber die Anhörungsrüge nur auf Verletzung des Art. 103 I GG gestützt werden kann, muss „verlässlich geklärt werden, was zur Verletzung des rechtlichen Gehörs gehört und was nicht“492. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht jedenfalls sicherstellen, dass Entscheidungen überhaupt frei von Verfahrensfehlern ergehen, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und damit Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben493. Zwar können mit der Anhörungsrüge auch angebliche Verstöße gegen andere Verfahrensgrundrechte gerügt werden494. Darauf einzugehen braucht das Gericht jedoch nicht. Denn die analoge Anwendung des § 321a ZPO auf die sonstigen Verfahrensgrundrechte ist angesichts der insoweit bewussten Beschränkung des Gesetzgebers auf den Schutz der Garantie des Art. 103 I GG mit der herrschenden Meinung abzulehnen. Dies obwohl die instanzinterne Abhilfe bei Verstößen gegen die sonstigen Verfahrensgrundrechte in gleicher Weise geboten ist wie bei den Gehörsverletzungen und sich aus § 156 II Nr. 1 ZPO sogar die Verpflichtung zu einer umfassenden Abhilfe ableiten lässt495. Es fehlt insoweit am Vorliegen einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes496. Was vorliegt, ist vielmehr eine bewusste, planmäßige, dennoch aber verfassungswidrige Gesetzeslücke497, also ein rechtsstaatliches Defizit, das entsprechend dem Gebot der Bereitstellung eines lückenlosen Rechtsschutzes vom Gesetzgeber durch Einführung eines Rechtsbehelfs beseitigt werden sollte, der geeignet wäre, die Verletzung aller anerkannten Verfahrensgrundrechte abzuwehren. 1. Fehlerhafte Implementierung des § 321a ZPO in das Gesetz Wie eingangs dargelegt hat der Gesetzgeber die Gehörsrüge als eine Art wiedereinsetzungsähnliche befristete Gegenvorstellung in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Verfahren ausgestaltet. Als nur außerordentlicher Rechtsbehelf fehlt ihr ebenso 491 Zuck, Die Konkurrenz von Verfahrensgrundrechten, in: FS A. Krämer, 2009, S. 85, 91; ders., Anwalt oder Gericht – wer sichert das rechtliche Gehör?, AnwBl 2006, 773, 776. 492 Zuck (Fn. 493), FS Krämer, S. 97. 493 BGH WM 2009, 2212. 494 Siehe Sangmeister (Fn. 388), S. 2368; Zuck (Fn. 493), Rn. 149. 495 Zöller-Vollkommer (Fn. 17), § 321a Rn. 17. 496 So auch Breuer (Fn. 346), S. 282 f.; Schnabl (Fn. 428), S. 96 ff.; Zuck (Fn. 493), Rn. 73. 497 Schnabl (Fn. 395), S. 96 ff.; Breuer (Fn. 346), S. 284.

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

wie der Verfassungsbeschwerde die rechtskrafthemmende Wirkung. Ist sie begründet, kommt es gemäß § 321a V 1 ZPO unter Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils zur Fortsetzung des ursprünglichen Verfahrens, „soweit dies aufgrund der Rüge geboten ist“498. Dann allerdings stellt sich die Frage, weshalb der Gesetzgeber die entscheidungserhebliche Verletzung des Art. 103 I GG nicht in den Katalog der Nichtigkeitsgründe des § 579 ZPO oder der Restitutionsgründe des § 580 ZPO aufgenommen hat. Denn nur das hätte der Gesetzessystematik entsprochen. Zwischen dem Fortsetzungsverfahren nach § 321a V ZPO und der Neuverhandlung in Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 578 ff. ZPO ergeben sich nämlich weder hinsichtlich der (ausschließlichen) Zuständigkeit des judex a quo noch hinsichtlich des eingeschränkten Streitgegenstands erhebliche Unterschiede499, weshalb überhaupt kein zwingender Grund bestand, die Vorschrift des § 321a ZPO in die Normen des Abschnitts 1 des Buchs 2 der ZPO über das Urteil im Verfahren vor den Landgerichten einzufügen. Eher schon wäre hierfür § 318 ZPO als Regelungsort in Betracht gekommen. Somit war es schon verfehlt, die Anhörungsrüge als eigenständigen Rechtsbehelf isoliert von den Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens vorwiegend nur zur Korrektur gerichtlicher Pannen zu konzipieren, obwohl sich zwingend angeboten hatte, die Rüge nach dem Vorbild des früheren § 579 III 1 ZPO a. F. als Nichtigkeitsklage auszugestalten. Insbesondere wurde dabei versäumt, das Konkurrenzverhältnis des § 321a ZPO zu dem bereits in § 579 I Nr. 4 ZPO geregelten Sonderfall der Gehörsverletzung zu regeln. Vom Wortlaut her erfasst nämlich § 321a ZPO diesen Sonderfall ebenso wie den Fall, dass eine Partei durch einen Vertreter ohne Vertretungsmacht vertreten wurde. Es war daher abwegig, so Braun, „die Korrektur anderer Gehörsverletzungen losgelöst vom Wiederaufnahmerecht zu regeln und dafür einen eigenen Rechtsbehelf zu schaffen“500. Hinzu kommt der „Missgriff“, dass § 321a II 1 ZPO für die Erhebung der Rüge im Gegensatz zu § 586 ZPO nur eine Notfrist von 2 Wochen vorsieht, was zu einem „Chaos unterschiedlicher Wertungen“ geführt hat501. Dass diesem Sonderrechtsbehelf, der in erster Linie der Entlastung des BVerfG dienen sollte und nur höchst sekundär dem Grundrechtsschutz der Prozessparteien, seitens der Richterschaft nicht die nötige Akzeptanz entgegengebracht wurde, muss daher keineswegs verwundern. 2. Fehlen der psychischen Wirksamkeitsfaktoren der Effektivität Da die Vorschriften der §§ 321a, 580 Nr. 5 ZPO, 339 StGB als Sanktionsnormen an den Rechtsstab gerichtet sind, kommt es für deren Wirksamkeit maßgeblich auf 498

Zöller-Stöber (Fn. 7), zu § 705 Rn 1; BGH NJW 2005, 1432. Zöller-Vollkommer (Fn. 7), § 321a Rn. 18, sowie Zöller-Greger, § 590 Rn 9. 500 Braun (Fn. 20), Die Korrektur von Gehörverletzungen im Zivilprozess, JR 2005, 1, 4 f. 501 Zu diesem Caos unterschiedlicher Fristenregelungen MüKo-Braun/Heiß ZPO, § 579 Rn. 28. 499

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deren Akzeptanz an. Die Akzeptanz einer Rechtsnorm als deren innere Bejahung (Internalisierung) ist neben der Sanktionsorientierung und der Identifikation unerlässliche Voraussetzung für deren Effektivität502. Um dieses „Rechtsbewusstsein“ bei den Richtern zu erzeugen, hätten die hinter diesen Normen stehenden Wertentscheidungen und Zweckmäßigkeitserwägungen auch und gerade dem Rechtsstab gegenüber überzeugend offengelegt und übermittelt werden müssen. Das aber wurde bei § 321a ZPO vom Gesetzgeber schon insofern versäumt, als nicht einmal klargestellt wurde, dass die Anhörungsrüge keineswegs nur auf „unbeabsichtigte“ Fehler des Gerichts, also auf relativ geringfügige richterliche Pannen503, Anwendung finden sollte, sondern selbstverständlich auf jede entscheidungserhebliche Gehörsverletzung, und zwar vor allem auf solche, die den Kerngehalt des Parteivortrags betreffen504. Verschiedentlich entstand nämlich bei der Richterschaft der Eindruck, es müsse zur Unterbindung der für das BVerfG so lästigen „Pannenjudikatur“ nur der Rüge unbeabsichtigter Gehörsverletzungen abgeholfen werden, während für Beanstandungen, die sich gegen die bewusste, mit Problembewusstsein erfolgte Nichtberücksichtigung von Parteivortrag richteten, weiter das BVerfG zuständig bleiben solle. Demgemäß zeigte sich bei den Richtern auch nur in den Fällen bloßen Versehens, in denen kein eigener schwerwiegender Fehler eingeräumt und dokumentiert zu werden brauchte, willfährige Bereitschaft zur Selbstkorrektur, während in den Fällen der bewussten Nichtberücksichtigung des Vortrags – wie die Fallanalysen von Vollkommer und Schneider gezeigt haben – eine deutlich ablehnende Haltung eingenommen wurde. Somit hat sich gezeigt, dass die Effektivität der Anhörungsrüge in erster Linie durch die mangelnde Bereitschaft des judex a quo zur rückhaltlosen Selbstkontrolle verhindert wird, was wiederum vor allem darauf zurückzuführen ist, dass dieser bei gegebenem Anlass seinen Fehler pflichtgemäß nach außen hin dokumentieren müsste. Die größten Bedenken gegen die Zuweisung der Rüge an ihn als „Richter in eigener Sache“ betreffen daher gerade die Fälle, in denen er gehalten wäre, vorurteilslos über sein eigenes Entscheidungsverhalten zu urteilen, das von der beschwerten Partei etwa wegen „evidenter Verfehlung des Sachverhalts“ oder „offenkundiger Unrichtigkeit aufgrund grober Verfahrensfehler“ auch noch als objektiv willkürlich gerügt wurde505. Weshalb sollte er sich da selbst belasten, wo er doch 502

Rehbinder (Fn. 7), Rn. 127. Wie der Begründung des ZPO-RG-Entwurfs, BT-Drucks. 14/4722, S. 63, zu entnehmen ist, wurde mit der Einführung des § 321a ZPO in der Tat vor allem das Ziel verfolgt, eine instanzinterne Korrektur gerade für die unbeabsichtigten Gehörsverletzungen zu schaffen. 504 Der BGH verdeutlichte in seinen Beschlüssen NJW 2009, 2137 (mit Anm. von Mark und Schütt) und NJW 2009, 2139, dass eine Gehörsverletzung dann vorliegt, wenn die Begründung der angefochtenen Entscheidung nur den Schluss zulässt, dass diese Entscheidung „auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, nicht aber den Sinn des Parteivortrags erfassenden Wahrnehmung beruht“. 505 Dazu Sangmeister (Fn. 388), S. 2368, mit Hinw. auf BVerfG, NJW 2006, 2248 sowie BVerfGE 86, 133, in der es zur Zurückverweisung kam. Siehe auch Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 366), § 26a Rn. 4a. 503

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

keine Überprüfung seiner Entscheidung mehr zu befürchten braucht. Nach Ansicht Schneiders könnte er sich sogar als „Beschuldigter“ fühlen und sich darauf berufen, dass er durch die Selbstbelastung in seinen Grundrechten beeinträchtigt würde506. In diesen Fällen wird die Rüge vom Richter meist sogar als Affront empfunden, und zwar jedenfalls dann, wenn sie – aus anderen Gründen – auch noch mit einem Ablehnungsgesuch verbunden wurde507. Wie gekränkt sich hier der Richter fühlt, kann dann seiner dienstlichen Äußerung gemäß § 44 III ZPO entnommen werden, die häufig gesetzwidrig nicht einmal eine sachliche Stellungnahme zu dem geltend gemachten Ablehnungsgrund enthält508. Im Zweifel folgt darauf die Abweisung auch des Ablehnungsgesuchs durch den oder die Richterkollegen in falscher Solidarität mit reinen Scheinbegründungen. 3. Das Versagen der instanzinternen Selbstkontrolle Die Selbstkontrolle hat sich zwar keineswegs als effektiv erwiesen. Dennoch kann auf sie nicht per se verzichtet werden. Schließlich ist zu bedenken, dass es zum einen keine Alternative zu dieser Kontrolle in letztinstanzlichen Verfahren gibt und zum anderen gemäß § 584 ZPO das Ausgangsgericht auch für die Nichtigkeits- und Restitutionsklage zuständig ist. Es ist daher zu prüfen, ob die Rahmenbedingungen der instanzinternen Selbstkontrolle zu verbessern sind, ob sie also so gestaltet werden kann, dass sie dem „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG entspricht und damit möglichst uneingeschränkt effektiven Rechtsschutz gewährleistet: a) Der „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG im Plenarbeschluss E 107, 395 Trotz der Bedenken Vollkommers unternahm es der Gesetzgeber, die Anhörungsrüge auch gegen die nicht rechtsmittelfähigen Entscheidungen der höheren Instanzen zuzulassen. Dabei verwirklichte er jedoch die Vorgaben des BVerfG im Ergebnis höchst unzureichend. Dieser hatte nämlich in seinem Plenarbeschluss vom 30. 04. 03 wie gesagt deutlich erklärt, dass er eine an den judex a quo gerichtete Rüge nur dann als zum Schutz des Art. 103 I GG geeignet erachte, „sofern auf diese Weise der Mangel effektiv beseitigt werden“ könne. Tatsächlich entsprechen die Regelungen des § 321a ZPO diesem von Voßkuhle so bezeichneten „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG jedoch nicht annähernd. Jedenfalls gilt dies für die „bewussten“, mit Problembewusstsein begangenen Verfahrensverstöße wie etwa die Überraschungsentscheidungen und die gesetzwidrigen Präklusionen. Denn unbestreitbar entscheidet hier der judex a quo „nicht mit der notwendigen inneren Unparteilichkeit als ,unbeteiligter Dritter‘, sondern als Betroffener über seine eigene Arbeitsbelas506

E. Schneider (Fn. 20), MDR 2006, 969, 971; Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 2 Rn. 34. 507 Ablehnungsgrund wäre allerdings nur Willkür der Entscheidung, Zöller (Fn. 7), § 321a Rn. 4. 508 Dazu E. Schneider, Die dienstliche Äußerung im Ablehnungsverfahren, NJW 2008, 491.

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tung“. Da die Neutralität und Distanz des agierenden Richters zu den Kernelementen des gerichtlichen Rechtsschutzes gehört, sollte dieser daher grundsätzlich nicht Kontrolleur in eigener Sache sein509. So wie die Anhörungsrüge gestaltet wurde, war daher abzusehen, dass sie mangels einer zusätzlichen Kontrolle durch einen neutralen Richter weitgehend leerlaufen werde. Insofern scheint nur noch fraglich zu sein, ob diese angeblich notwendige weitere Kontrolle im Falle der Nichtabhilfe durch den judex a quo vom übergeordneten Gericht vorgenommen werden sollte, also vom judex ad quem, wie dies Gravenhorst, Schneider und Vollkommer befürwortet haben, oder von einem „anderen Richter“ derselben Instanz, wie dies Schnabl vorgeschlagen hat510, der letztlich allerdings auch die Kontrolle durch den judex ad quem vorzieht. So gesehen entfiele eine instanzinterne Selbstkontrolle, die abschließend vom judex a quo durchgeführt wird, von vornherein als sinnvoll. Damit aber stellt sich sogleich die Frage, wie es denn dem BVerfG angesichts dieser Umstände einfallen konnte, seine „Anweisung“ an den Gesetzgeber, bei den Fachgerichten durchgehend eine instanzinterne Selbstkontrolle zu etablieren, überhaupt mit der Forderung zu verbinden, dass jene Verfahren unabdingbar dem verfassungsrechtlichen Effektivitätsgebot zu entsprechen haben. Offensichtlich setzte hier das BVerfG den Idealtyp eines Richters voraus, der jederzeit dazu bereit ist, auch bewusst verübte Entscheidungsfehler sofort einzugestehen und angemessen auszuräumen. Gerade davon, dass der einzelne Richter diese Bereitschaft üblicherweise aufbringt, kann jedoch, wie die Fallanalysen Vollkommers, Sangmeisters und Schneiders deutlich gemacht haben, keine Rede sein. Die Analysen bestätigen vielmehr, dass jener im Zweifel ganz im Gegenteil alle sich ihm bietenden, scheinbar legalen Möglichkeiten nutzt, die eigene Entscheidung nicht revidieren zu müssen. Genau dies hat das BVerfG offensichtlich falsch eingeschätzt, weshalb es auch folgerichtig darauf verzichtet hatte, dem Gesetzgeber konkrete Vorstellungen zu unterbreiten, wie denn die Anhörungsrüge hätte gestaltet werden müssen, um den Prozessparteien auch effektiven und damit verfassungskonformen Rechtsschutz zu bieten. Folglich müsste an sich all denjenigen zugestimmt werden, welche die interne Selbstkontrolle als mögliches Instrument effektiven Rechtsschutzes schon grundsätzlich ablehnen. b) Die Anhörungsrüge als Produkt einer Alibi-Gesetzgebung? Hinzu kommt Folgendes: Selbst dann, wenn der Richter als Adressat einer Gehörsrüge nicht als „Beschuldigter“ im Sinne der Ansicht Schneiders anzusehen ist, wird man einräumen müssen, dass er im Rahmen der Selbstkontrolle jedenfalls nicht dem non-liquet-Verbot ausgesetzt ist mit der Folge, dass er auf die Rüge des Betroffenen hin zwar eine Entscheidung treffen kann und sollte, dazu aber keineswegs 509 510

Voßkuhle (Fn. 4), Rechtsschutz gegen den Richter, S. 142 f., sowie NJW 2003, 2197. Schnabl (Fn. 359), S. 242 ff.

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

verpflichtet ist, falls er selbst nicht voll davon überzeugt sein sollte, dass er tatsächlich einen entscheidungserheblichen Verfahrensfehler beging. D. h., es bleibt völlig seinem Gutdünken überlassen, sich überhaupt mit der Rüge zu befassen oder bei vermeintlich begründeten Zweifeln an deren Berechtigung schlicht eine nonliquet-Entscheidung zu treffen, also eine Nicht-Entscheidung, die wie im Strafverfahren einem Freispruch seiner eigenen Person mangels Beweises gleichkäme. Dass er dabei im Zweifel entscheiden wird, er sei nicht von einem eigenen Fehlverhalten überzeugt, dürfte auf der Hand liegen. Dies macht deutlich, dass § 321a ZPO in der Tat, wie dies Schneider nachzuweisen versucht hat, faktisch „eine Placebo-Vorschrift“ darstellt, also nur eine Pseudo-Rechtsschutzmöglichkeit bietet, mit der effektiver Rechtsschutz nicht gewährt, sondern nur vorgespiegelt wird, da sie nichts als eine Alibifunktion erfüllt. Somit wäre die Selbstkontrolle schon per se kein geeignetes Kontrollinstrument und da auf einen Richter unmittelbar kein Druck ausgeübt werden kann, einen Fehlgriff einzugestehen, gibt es anscheinend auch keine Möglichkeit, dieses Mittel effektiver zu gestalten. Dadurch, dass so gesehen die Rügeentscheidung letztlich in das Belieben des judex a quo gestellt ist, das durchaus auch in Willkür ausarten kann, kommt dem Sonderrechtsbehelf des § 321a ZPO in dessen derzeitiger Fassung als Produkt einer reinen Alibi-Gesetzgebung bestenfalls die rechtliche Qualität einer förmlich geregelten Petition i. S. des Art. 17 GG zu. Folglich war die Umsetzung der Vorstellungen des BVerfG zur Verbesserung des fachgerichtlichen Rechtsschutzes bei Gehörsverletzungen durch den Gesetzgeber aufgrund der Fehleinschätzung der für das richterliche Entscheidungsverhalten maßgeblichen Akzeptanz der Regelungen des § 321a ZPO seitens der Richterschaft schon von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dies muss jedoch keineswegs bedeuten, dass auf eine Selbstkontrolle überhaupt verzichtet werden sollte.

II. Ursachen der Rechtsschutzdefizite die Restitutionsklage betreffend Ursache für den Ausfall der Funktion der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO als außerordentlicher Rechtsbehelf im Falle der Rechtsbeugung ist zwar vordergründig die längst „überholte“ Vorschrift des § 581 I ZPO, die trotz der grundlegenden Feststellungen Brauns zu diesem „Fremdkörper“ in der ZPO noch immer die Vorlage eines rechtskräftigen Strafurteils verlangt. Bis zur Entscheidung BGH 2 StR 479/13 war dieser Ausfall jedoch auch maßgeblich auf die Unbestimmtheit des § 339 StGB und die früher dazu ergangene Rechtsprechung des BGH zurückzuführen, die bewirkt haben, dass die Vorschrift mangels Vollzugs faktisch zu einer Rechtsnorm mit allenfalls noch symbolischer Funktion erodierte. Auch ohne die Zugangssperre des § 581 ZPO hätte sich daher im Ergebnis nichts an der Tatsache geändert, dass mit der Restitutionsklage in Verb. mit § 339 StGB früher kein effektiver Rechtsschutz gewährleistet wurde.

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1. Fehlende Effektivität der Restitutionsklage Die Möglichkeit, sich als Partei in nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren mittels der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO einer greifbaren Gesetzwidrigkeit mit der Behauptung zu erwehren, diese erfülle sogar den Tatbestand des § 339 StGB, bestünde folglich selbst dann nicht effektiv, wenn man hierfür als Zulässigkeitsvoraussetzung im Wege einer berichtigenden Auslegung der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO den plausiblen Nachweis des Vorliegens dieser Straftat genügen ließe. Da es schon gar nicht erst zur Einleitung eines Restitutionsverfahrens kommt, bringt es dem Anzeigenerstatter auch nichts, dass nach wohl h. A. der judex a quo in diesem Verfahren, würde es durchgeführt werden, ausnahmsweise analog § 41 Nr. 6 ZPO von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen wäre, obwohl die Restitutionsklage nach allerdings strittiger Ansicht kein Rechtsmittel darstellt511. D. h., es würde sich für ihn im Fall des § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB das Problem der zweifelhaften Effektivität der Selbstkontrolle gar nicht erst stellen, da es ihm schon gar nicht gelingen wird, das Wiederaufnahmeverfahren überhaupt in Gang zu setzen. Als Ergebnis der Beobachtung der Rechtspraxis ist daher festzuhalten, dass mit der Restitutionsklage gestützt auf die Behauptung, die letztinstanzliche Entscheidung beruhe auf einer Rechtsbeugung, ein außerordentlicher Rechtsbehelf gegen elementare richterliche Rechtsverstöße nur scheinbar bereitgestellt wird, der effektiv keinerlei Rechtsschutz bietet. 2. Mangelnde Effektivität des Klageerzwingungsantrags Sollte die Rechtsprechung bei der Prüfung der Zulässigkeit der Restitutionsklage als Nachweis des Restitutionsgrundes die schlüssige Behauptung des Klägers genügen lassen, das angegriffene Urteil beruhe auf einer Straftat des Richters, bedürfte es an sich auch keiner Strafanzeige und keines Klageerzwingungsantrags mehr. Das wäre eine enorme Erleichterung für den Restitutionskläger. Das Gericht, das über die Klage zu entscheiden hat, muss jedoch vom Vorliegen der behaupteten Straftat überzeugt werden. Auf die Strafanzeige und den Klageerzwingungsantrag wird der Kläger daher dennoch kaum verzichten können, wobei die darauf ergehende Entscheidung des OLG auf das Urteil des Zivilgerichts natürlich Einfluss ausüben kann. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang allerdings auf den Beschluss des BGH vom 14. 09. 17, 4 StR 274/16512, in dem es um einen Staatsanwalt ging, der es in einigen Ermittlungsverfahren trotz bestehender Verurteilungswahrscheinlichkeit unterließ, gegen die Beschuldigten die öffentliche Klage zu erheben. Zwar sei § 339 StGB bei Verletzung von Verfahrensrecht durch Unterlassen in der Regel nur dann als gegeben anzunehmen, „wenn eine rechtlich eindeutig gebotene Handlung unter511

So Jauernig/Hess (Fn. 66). Nach Braun/Heiß, MüKo ZPO (Fn. 3), vor § 578 Rn. 5, werde ihre Charakterisierung als „außerordentliches Rechtsmittel“ ihrem Erscheinungsbild am besten gerecht. 512 Besprochen von Matthias Jahn, in: JUS 2017, 1227 f.

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blieben ist“ (Leitsatz 3), diese Voraussetzung sei aber in jenem Fall vom Staatsanwalt erfüllt worden. 3. Fehlurteilsforschung nur bezogen auf Strafurteile Fehlurteilsforschung gibt es seit langem, ist jedoch bislang nur auf die Strafgerichtsbarkeit gerichtet513. Nach Röhl fehlt es in der Ziviljustiz an einer Fehlertypologie für Gerichtsverfahren und -entscheidungen sowie an einer Fehlerursachenforschung514. Notwendig sei der Versuch einer Qualitätskontrolle mit juristischmethodischen Gütekriterien. Von einem Fehlurteil kann endgültig erst gesprochen werden, wenn es im Wiederaufnahmeverfahren kassiert wurde. Häufig wird jedoch ein Verfahren gegen fragwürdige Endurteile mangels Interesses oder Erfolgsaussichten gar nicht angestrengt, so dass diese nicht untersucht werden können. Auszugehen ist somit von einem erheblichen Dunkelzahl von Fehlurteilen, weshalb es auch noch keine aussagekräftige Falldatenbank gibt, die noch aufzubauen wäre. Mangels einer solchen sei es daher auch nach Ansicht von Kölbel, Puschke und Singelnstein sinnvoller, die Forschungsressourcen auf die Identifizierung prozessualer Fehlerursachen zu konzentrieren. Es sei eher eine Fehlerursachen- als eine Fehlurteilsforschung vonnöten515. Zumindest könnte dadurch die empirische Forschung dazu beitragen, das Bewusstsein der Richter um deren Fehleranfälligkeit zu stärken und die Bereitschaft zu einer „Fehlerkultur“ zu erhöhen. Dadurch würde mittelbar auch dem grundrechtlichen Gebot entsprochen, effektiven Rechtsschutz gerade gegen gerichtliche Verfahrensfehler sicherzustellen516. Auch die Kontroverse zwischen Kyriakos N. Kotsoglou und Stephan Barton beschränkt sich auf die Problematik des Fehlurteils im Strafverfahren517. Zweifelsohne gibt es dort Fehlurteile wie – wenn auch nicht eindeutig – z. B. dasjenige, 513 Einen Überblick über den Stand der internationalen Fehlurteilsforschung geben Kölbel, Puschke und Singelnstein in GA 2019, 129 – 148; siehe auch Toni Böhme, Das strafgerichtliche Fehlurteil – Systemimmanenz oder vermeidbares Unrecht?, 2018; Ulrich Sommer, Über Macht und Verantwortung, StraFo 2017, 1 – 6; Alexander Baur, Die tatrichterliche Überzeugung, ZIS 2019, 119. 514 Röhl, Thesen zur Qualitätskontrolle, Vortrag 29./30. 01. 20 in Hamburg, Internet, dazu unten § 16 IV 5. 515 Zur Fehleranfälligkeit siehe Bernd Hirtz, Fehlervermeidung im Zivilprozess, AnwBl 2018, 598. 516 So Matthias Bäcker, Rechtsschutz gegen gerichtliche Verfahrensfehler als grundrechtliches Gebot, EuGRZ 2011, 222; Herbert Geisler, Der Zivilprozess lebt noch immer – BGH-Rechtsprechung für die Praxis. Die neueste Rechtsprechung des BGH betont die Verfahrensgrundrechte, AnwBl 2017, 1046 – 1071; Matthias Siegmann, Die Gewährleistung der grundrechtsgleichen Verfahrensrechte in der zivilrechtlichen Rechtsprechung des BGH, JZ 2017, 598 – 606. 517 Kyriakos N. Kotsoglou, Das Fehlurteil gibt es nicht – Zur Aufgabe des Tatrichters, JZ 2017, 123 – 132, und Stephan Barton, „Das Fehlurteil gibt es nicht“ – gibt es doch!, in: FS Eisenberg 2019, 15 – 29, sowie darauf erneut Kotsoglou, Ein bisschen ,Sein‘, ein bisschen ,Sollen‘?, Myops 2020, 50 – 60.

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durch das ein Proberichter vom LG Kassel wegen Rechtsbeugung verurteilt wurde, weil er einen Angeklagten für einen Zeitraum von unter einer Minute zu Demonstrationszwecken in eine Arrestzelle einschloss518. Die hier vorgelegte Studie befasst sich jedoch wie dargelegt nicht schlechthin mit der Fehlerhaftigkeit von Gerichtsurteilen gemessen an Recht und Gesetz, sondern lediglich speziell mit dem Entscheidungsverhalten von Richtern, das den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt haben könnte, und dies auch nur bezogen auf die Entscheidungsfindung in der Zivilgerichtsbarkeit. Erwähnenswert dürfte in diesem Zusammenhang jedoch die den Gerichten in § 144 I 1 ZPO n. F. neu eingeräumte Möglichkeit sein, zum Verfahren einen Sachverständigen als Berater hinzuzuziehen. Dessen Funktion soll sich zwar auf die Erstellung von Gutachten zu den vom Gericht bezeichneten Punkten beschränken. Auch eine Beratung zusammen mit dem Gericht ist nicht vorgesehen. Entsprechend § 285 ZPO ist jedoch über das Ergebnis des Gutachtens mit den Parteien zu verhandeln. Die Gerichte könnten daher von dieser Möglichkeit auch bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung Gebrauch machen wie z. B. bei der Frage der analogen Anwendbarkeit des § 579 I Nr. 4 ZPO.

III. Bewertung der Evaluationsergebnisse Nach der Beschreibung des faktisch durch die genannten außerordentlichen Rechtsbehelfe gebotenen Rechtsschutzes ist dieser Befund nunmehr unter Beachtung der Wirkungszurechnung zu bewerten. Maßstab der Erfolgsbewertung sind die Programmziele, hier also die vom Gesetzgeber mit Einführung der §§ 321a, 580 Nr. 5 ZPO und 172 StPO jeweils beabsichtigten Rechtsschutzeffekte. Programmziel des Gesetzgebers bei Einführung der Anhörungsrüge im Jahre 2002 mit Erweiterung im Jahre 2004 war der Schutz der Prozessparteien gegen entscheidungserhebliche Gehörsverletzungen in den nicht mehr rechtsmittelfähigen Zivilgerichtsverfahren und Programmziel bei Einführung der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO war deren Schutz vor Nachteilen durch Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten. Das Gleiche gilt für die Einführung des Klageerzwingungsverfahrens im Falle der Rechtsbeugung. Keines dieser Ziele kann bislang als auch nur annähernd realisiert bestätigt werden. Vielmehr haben sich alle diese außerordentlichen Rechtsbehelfe in der Rechtswirklichkeit nachhaltig als ineffektiv erwiesen. Eine Ausnahme gilt allein für die dem Richter rein versehentlich unterlaufenen Gehörsverletzungen:

518

Aufgehoben vom BGH durch Beschluss vom 15. 08. 18, NJW 2019, 277.

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

1. Zum Befund bezogen auf die Anhörungsrüge Was die Anhörungsrüge anbelangt, so hat sich diese bezogen auf „bewusste“ Gehörsverletzungen als ein nur scheinbarer Rechtsbehelf ohne jede feststellbare Effektivität erwiesen, der im Prozess nicht mehr Aussichten hat als eine Petition i. S. des Art. 17 GG. Dass es ausgerechnet bei schweren Verstößen gegen Art. 103 I GG nicht zum Fortsetzungsverfahren nach § 321a V ZPO kommt, liegt meist nicht an der Unbegründetheit der Rügen, sondern an dem erheblichen Spielraum und den zahllosen Möglichkeiten, die dem judex a quo zur Verfügung stehen, sie ohne eingehende Sachprüfung zurückzuweisen. Diese Fehlentwicklung hätte weitgehend ausgeschlossen werden können, wenn der Gesetzgeber das Abhilfeverfahren nicht als ein rein schriftliches Verfahren geregelt hätte, sondern der rügenden Partei in gleicher Weise, wie dies nunmehr in § 522 II Nr. 4 ZPO für den Berufungskläger vorgesehen ist, das Recht eingeräumt hätte, Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung zur detaillierten Erörterung des Rügevorbringens zu stellen. Das rechtspolitische Ziel des § 321a ZPO war die möglichst weitgehende Reduzierung der permanent auftretenden Verletzungen des rechtlichen Gehörs durch die Fachgerichte. Um dieses Ziel durch die Befolgung jener Vorschrift seitens der Rechtsadressaten (der Richter) auch zu erreichen und dabei zu vermeiden, dass sich die Regelung als „ein Schuss ins Dunkle“ erweist, hätte der Gesetzgeber schon vor deren Erlass zwingend eine Gesetzesfolgenabschätzung durchführen müssen, die es trotz der zuvor jahrzehntelang geführten Diskussion unter der Rechtswissenschaftlern nicht gegeben hat. Offenbar fehlte diesem bereits der entscheidende politische Willen zum Erlass einer instrumentell wirksamen Norm, also einer Norm, die ihm als Instrument zur Erreichung eines erwünschten bzw. zur Beseitigung eines unerwünschten Zustands dienen sollte, weshalb er sich insoweit mit einer nur symbolhaften Gesetzgebung begnügte. Zwar hat der Gesetzgeber grundsätzlich ein Recht auf „prognostischen Irrtum“519. Stellt sich jedoch das von der Legislative eingesetzte Mittel als objektiv untauglich und schlechthin ungeeignet heraus oder war die legislative Prognose bereits im Ansatz verfehlt, so berechtigt dies zur Kassation des Gesetzes durch das BVerfG und zu einer erneuten Aufforderung an den Gesetzgeber, umgehend ein besseres Produkt zu liefern. 2. Zum Befund bezogen auf die Restitutionsklage Noch krasser verhält es sich mit der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO in den Fällen der Rechtsbeugung, die aufgrund der Verkümmerung des § 339 StGB zu einer allenfalls noch symbolisch geltenden Strafrechtsnorm keinerlei Rechtsschutz mehr zu bieten vermag. Das Auffällige und für den gesamten Rechtsschutz gegen den Richter Bezeichnende ist, dass ausgerechnet der völlig unverzichtbare Rechtsschutz gegen sogar strafbewehrtes richterliches Entscheidungsverhalten mit praktisch un519

BVerfGE 16, 147, 181; Schnapp, Die Grundrechtsbindung der Staatsgewalt, JuS 89, 1, 4.

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überwindbaren prozessualen Hindernissen ausgestattet wurde. Das vermeintliche Opfer einer Rechtsbeugung hat keine reelle Chance, seinen Fall vor Gericht zu bringen. Und da es wegen greifbarer Gesetzwidrigkeiten in Zivilsachen nicht zu Anklagen wegen Rechtsbeugung kommt, erhält der BGH auch keine Gelegenheit, seine greifbar gesetzwidrige Rechtsprechung zu § 339 StGB im Allgemeinen und zum Vorsatz der Rechtsbeugung im Besonderen nachhaltig zu überprüfen. Insofern könnte die Vorschrift ersatzlos aus dem Gesetzbuch gestrichen werden, wenn sie nicht auch noch an andere Straftaten im Amt anknüpfen würde wie an diejenigen gemäß §§ 331 II, 332 II, 344 und 348 StGB. 3. Zum Befund bezogen auf den Klageerzwingungsantrag Wäre am Wortlaut des § 581 I ZPO festzuhalten, so dass es für die Zulässigkeit der Restitutionsklage weiterhin der rechtskräftigen Verurteilung des Richters bedürfte, so wäre das Opfer der Tat nach wie vor darauf angewiesen, das Klageerzwingungsverfahren durchzuführen. Das damit verfolgte Ziel, die Strafanklage gegen den Richter zu bewirken, scheitert jedoch regelmäßig nicht erst an der Unbegründetheit des Vorwurfs, sondern bereits zuvor an der angeblichen Unzulässigkeit des Antrags, wobei sich die Strafsenate der Oberlandesgerichte auf die veraltete Rechtsprechung zu § 170 III StPO stützen und vorgeben, dass dort angeblich geregelte Erfordernisse nicht erfüllt worden seien. Im Ergebnis würde das bedeuten, dass unter dieser Voraussetzung der Zugang zur Restitutionsklage auch durch das Klageerzwingungsverfahren weiter in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird. Dies obwohl gerade beim Vorwurf der Rechtsbeugung, bei dem sich sogar der Anzeigenerstatter selbst der Straftat der falschen Verdächtigung oder Verleumdung aussetzen kann, das Verhalten der Staatsanwaltschaft ganz besonders sorgfältig überprüft werden sollte. 4. Zusammenfassende Bewertung der Effektivität des Rechtsschutzes Zusammenfassend ist festzustellen, dass die evaluierten Vorschriften typische Fälle eines nur normativ geltenden Rechts darstellen, das sich sowohl aufgrund der gesetzgeberischen Implementationsfehler als auch aufgrund der fehlenden Akzeptanz seitens der Richterschaft weitgehend als ungeeignet erwiesen hat, sich vom law in the books zum faktisch geltenden Recht, also zum law in action, zu entwickeln. Grund dieser mangelnden Verhaltensgeltung ist bei der Anhörungsrüge deren von vornherein falsche Konzeption als Sonderrechtsbehelf außerhalb des Rechts der Wiederaufnahme des Verfahrens und Grund bei der Restitutionsklage und beim Klageerzwingungsantrag ist in erster Linie das Festhalten der Staatsanwaltschaften und Gerichte an der früheren überholten Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB.

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

§ 12 Auswertung der Evaluationsergebnisse Der Wert einer Evaluation bestimmt sich nach deren Nützlichkeit für den Adressaten, hier also für den Gesetzgeber. Ihre Nützlichkeit wird unter der Voraussetzung, dass sie sich an den erklärten Zwecken ausgerichtet hat und die Standards gewahrt wurden, darin gesehen, dass ihre Erkenntnisse, Informationen und Schlussfolgerungen auf das Handeln des Adressaten einwirken520. Hat sie ihren Zweck erfüllt, empirisch fundierte, glaubwürdige und auswertbare Befunde zu liefern, ist sie damit grundsätzlich beendet, so dass der Auftraggeber entscheiden kann, welche Maßnahmen auf der Grundlage dieser Befunde ergriffen werden sollten. Selbstverständlich kann der Evaluator aber auch Empfehlungen aussprechen, für deren Umsetzung er dann allerdings nicht mehr unmittelbar verantwortlich ist. In diesem Sinne wird hier nunmehr – die hinreichende Qualität der Evaluation unterstellt – von der Feststellung der Defizite des Rechtsschutzes gegen letztinstanzliche Urteile im Falle des Tatverdachts einer Rechtsbeugung zur soziologischen Jurisprudenz übergewechselt, die sich mit dem Sollen beschäftigt521, und der Frage nachgegangen, wie diese Defizite vom Gesetzgeber auch im Rahmen der Rechtsprechung beseitigt werden könnten. Im Wiederaufnahmerecht der §§ 578 ff. ZPO haben sich nach Braun Lehre und Rechtsprechung grundsätzlich “um einen Interpretationsrahmen zu bemühen, der den Gedanken der Rechtskraft in gebührender Weise berücksichtigt“522. Umso mehr ist dieser Gedanke bei der hier aufgeworfenen Frage zu beachten, ob über die Gründe hinaus, die der Gesetzgeber in den §§ 578 ff. und 321a ZPO als Voraussetzungen für die Durchführung von Wiederaufnahme- bzw. Abhilfeverfahren bestimmt hat, auch noch bislang nicht erfasste Fehlgriffe des letztinstanzlichen Richters bei seiner Spruchtätigkeit dazu Anlass geben sollten, als Wiederaufnahmegründe anerkannt zu werden. Als solche kommen wie gesagt drei Fehlergruppen judikativen Unrechts in Betracht, nämlich: erstens Verstöße gegen die Justiz- oder Verfahrensgrundrechte über die Gehörsverletzung hinaus, zweitens Verstöße gegen die strafbewehrten richterlichen Amtspflichten, soweit sie sich aufgrund der Rechtsprechung als unangreifbar erwiesen haben, und drittens Verstöße gegen die unverzichtbaren Begründungspflichten523. Dies alles betrifft die seit einhundert Jahren vergeblich angemahnte dogmatische Modernisierung des Wiederaufnahmerechts524, das wie gezeigt noch erhebliche rechtsstaatliche Defizite aufweist.

520

Stockmann (Fn. 14), 4.4.2, S. 179. Dazu Rehbinder (Fn. 7), § 2 III; Röhl, Rechtssoziologie-online, Kap. 2, Geschichte der Rechtssoziologie, § 11 Schulen der soziologischen Jurisprudenz. 522 MüKo ZPO (Fn. 3), vor § 578 Rn. 2. 523 Dazu K. F. Röhl (Fn. 147), Fehler in Gerichtsentscheidungen, S. 18. 524 Braun (Fn. 20), NJW 2007, 1620, 1622. 521

§ 12 Auswertung der Evaluationsergebnisse

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I. Effektuierung des Rechtsschutzes gegen Gehörsverletzungen Schon 2004 hatte Vollkommer darauf hingewiesen, dass die 2002 reformierte ZPO dennoch eine verfassungswidrige Regelungslücke aufweise, „soweit eine Abhilfemöglichkeit bei entscheidungserheblichen Gehörsverletzungen durch unanfechtbare Entscheidungen außerhalb des unmittelbaren Anwendungsbereichs der in § 321a ZPO genannten Verfahren nicht besteht“525. Offenbar wollte dieser damit anregen, die Rüge des § 321a ZPO auf die Verletzung der Verfahrensgrundrechte im Allgemeinen auszudehnen. Zweifellos entspräche dies dem unabweisbaren Bedürfnis der Rechtspraxis und wäre daher äußerst begrüßenswert. Im Rahmen der Auswertungsphase dieser Studie geht es jedoch um die Frage, wie der Rechtsschutz gegen Gehörsverletzungen grundsätzlich gesteigert werden könnte. Denn, so fragwürdig auch die Effektivität des durch die Anhörungsrüge gewährten Rechtsschutzes sein mag, völlig untauglich ist es wie gesagt als Kontrollinstrument jedenfalls nicht. Schließlich ist zu bedenken, dass es andernfalls nur die Nichtigkeits- und Restitutionsklage als Alternative gibt. Daher ist zu prüfen, wie bis zu einer grundlegenden Reform des zivilprozessualen Wiederaufnahmerechts zumindest das Anhörungsrügenverfahren in seinem Ablauf soweit verbessert werden kann, dass es dem „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG entspricht. Dieser Aspekt wurde in der bisherigen Auseinandersetzung, bei der das Anhörungsrügeverfahren lediglich in der Fassung Gegenstand war, die ihm der Gesetzgeber in § 321a IV ZPO verlieh, außer Acht gelassen. Von der analogen Anwendung des § 579 I Nr. 4 ZPO einmal abgesehen, würde das Verfahren im Sinne jenes Vorbehalts jedenfalls schon dann verbessert werden, wenn dort ebenso wie gemäß §§ 585, 128 ZPO im Wiederaufnahmeverfahren eine mündliche Verhandlung stattfände (siehe auch § 590 II ZPO): 1. Einführung der mündlichen Verhandlung in das Anhörungsrügenverfahren Einerseits bietet die mündliche Verhandlung der rügenden Partei nochmals Gelegenheit, dem Richter dessen angebliches Fehlverhalten plausibel vor Augen zu führen, und andererseits wird jener dadurch gleichzeitig in die Lage versetzt, sein Entscheidungsverhalten ihr gegenüber detailliert zu rechtfertigen. Gerade die diskursive und dialogische Art und Weise der Rechtsfindung bewirkt eine Steigerung der Ergebnisrichtigkeit und der inhaltlichen Qualität der Rechtsprechung526. Denn das Abhilfeverfahren ist kein kontradiktorisches Erkenntnisverfahren mehr, in dem sich die Parteien weiter streitend gegenüberstehen, sondern ein Verfahren sui generis, das einzig die Begründetheit bzw. Unbegründetheit des behaupteten Verfah-

525

Vollkommer (Fn. 234), FS Gerhardt, S. 1037 und 1040. Klaus Rennert (Fn. 126), S. 535; Zur Bedeutung der mündlichen Verhandlung für die Sachverhaltsvermittlung; siehe auch Sangmeister, Verfahrensrecht ist Verfassungsrecht, BRAK-Mitt. 2020, 73, 75. 526

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

rensverstoßes im Sinne des § 321a I 1 Nr. 2 ZPO zum Gegenstand hat527. Dieser ist streng zu unterscheiden von dem nur noch eingeschränkten Gegenstand des Fortsetzungsverfahrens und der Neuverhandlung nach § 321a V 1 ZPO im Falle der Begründetheit der Rüge. Bis dahin geht es ausschließlich darum festzustellen, ob der Rüge überhaupt abzuhelfen ist, und nur mittelbar um die materielle Richtigkeit der Entscheidung. Darüber hinaus würde durch eine obligatorische mündliche Verhandlung auch der Grundgedanke der ZPO-Reform 2002 in die Tat umgesetzt, wonach die Parteien als Subjekte und nicht als Objekte des Verfahrens zu behandeln sind. Denn gerade dieses Verfahren soll doch die unterlegene Partei in die Lage versetzen, auch das für sie negative Ergebnis des Prozesses zu akzeptieren. Außerdem kann der Richter im Rahmen einer mündlichen Verhandlung schon aufgrund der ihm durch § 139 ZPO auferlegten Erörterungs- und Hinweispflichten weit weniger einer sachlichen Argumentation der Partei ausweichen als ihm dies im schriftlichen Verfahren möglich ist, wobei auch etwaige sonstige mit der Gehörsverletzung in Verbindung stehende Verfahrensgrundrechtsverletzungen erörtert werden könnten, so aufwendig dies auch sein mag. D. h., er ist verpflichtet, sein Entscheidungsverhalten der Partei gegenüber zu rechtfertigen, andernfalls er einen Ablehnungsantrag riskiert528, es sei denn, die Rüge diente nur der Verzögerung oder sei rein querulatorischer Natur. Damit tritt an die Stelle der monologischen Beziehung zwischen Richter und Gesetz ein dialogischer Argumentationsprozess zwischen Richter und Partei. Ein Abhilfeverfahren im Rahmen der instanzinternen Selbstkontrolle, das wie gemäß 590 II ZPO einer mündlichen Verhandlung bedarf, entspricht folglich auch dem „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG, weshalb ein solches unter dieser Voraussetzung auch zu akzeptieren ist, und zwar auch deswegen, weil es dann zu einem Urteil kommt und nicht zu einem nur kurz zu begründenden Beschluss. In diesem Sinne meint auch Braun: Wäge man Vor- und Nachteile gegeneinander ab, so erscheine die Kontrolle durch den judex a quo als der einfachere, klarere und weniger aufwendige Weg und somit „als das kleinere Übel“ gegenüber der Weiterleitung der Rüge an den judex ad quem529. Und schließlich lässt sich noch anführen, dass das Abhilfeverfahren vor dem judex a quo auch eine erzieherische Wirkung auf diesen ausübt, wie dies Schneider hervorgehoben hat530, da „Fehler, die im Ergebnis zu Mehrarbeit führen, weil eine Sache zweimal bearbeitet werden muss, … erfahrungsgemäß sehr schnell vermieden werden“. Hier hängt eben viel von der 527

Hingewiesen wird von Zöller-Vollkommer (Fn. 7), § 321a Rn. 18, allerdings nur auf den Streitgegenstand der Neuverhandlung. 528 Die Vorbefassung und die Unrichtigkeit der Entscheidung rechtfertigen als solche die Ablehnung außer im Fall der Willkür nicht, Zöller-Vollkommer (Fn. 7), § 321a Rn. 4. 529 Braun (Fn. 20), JR 2005, S. 3; ders., Systembildung im Zivilprozessrecht, ZZP 2018, 227, 313, wo betont wird, dass ein „dialogisch angelegter Diskurs zwischen Gericht und Parteien“ die wichtigste Methode sei, einen Rechtsfall „einer nachkontrollierbaren Entscheidung zuzuführen“. 530 E. Schneider, Grundrechtsverstöße als greifbare Gesetzwidrigkeiten, MDR 1997, 991.

§ 12 Auswertung der Evaluationsergebnisse

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Kompetenz und der Persönlichkeit des Richters ab, an dessen Rechtsbewusstsein und Rechtsethos es daher notfalls durch Hinweis auf die zwingenden Vorschriften der Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG, §§ 1 GVG, 38, 46 DRiG, 54 BBG zu appellieren gilt. 2. Verdrängung des § 321a ZPO zugunsten der analogen Anwendung des § 579 I Nr. 4 ZPO Die Nichtigkeitsklage des § 579 I ZPO beruht auf der Konzeption der Verfahrensfehlerrestitution und dient der Beseitigung schwerwiegender „objektiver“ Verfahrensmängel. Dieser Zweck ist mit der Rechtskraft der Entscheidung vereinbar, weil jene Mängel ohne erneute Prüfung des Urteils auf dessen sachliche Richtigkeit und damit ohne Verstoß gegen dessen materielle Rechtskraft festgestellt werden können531. Fraglich ist, ob die Vorschrift im Fall des § 579 I Nr. 4 ZPO auch auf andere Fälle der Gehörsverletzung analog anwendbar ist, da wie gesagt insoweit eine offene Rechtsschutzlücke besteht. Der damalige Gesetzgeber von 1877 hatte nämlich in dieser Nr. 4 das ihr zugrundeliegende Prinzip nur beispielhaft an einem einzigen speziellen Fall der Gehörsverletzung zum Ausdruck gebracht. Wie bereits mit Hinweis auf Braun dargelegt, ist es daher geboten, die Vorschrift auch auf andere Fälle der Gehörsverletzung auszudehnen, so gerade auf Gehörsverletzungen infolge gerichtlicher Versehen im Rahmen eines laufenden Verfahrens532. Damit käme man zu einer einheitlichen Regelung, auch wenn dadurch der Anwendungsbereich der ohnehin nur subsidiären Vorschrift des § 321a ZPO entfällt. Nicht mehr analog anwendbar ist § 579 I Nr. 4 ZPO nur dann, wenn der Mangel bereits im früheren Verfahren geprüft und verneint wurde. Dementsprechend schlägt Warga533 im Sinne der von Braun vertretenen Ansicht vor, die Vorschrift des § 579 ZPO unter Aufhebung des § 321a ZPO dahingehend zu ergänzen, dass die Nichtigkeitsklage auch stattfindet, „wenn eine Partei in ihrem verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör, ihrem Recht auf ein faires Verfahren, ihrem Anspruch auf den gesetzlichen Richter oder dem Grundsatz der Waffengleichheit verletzt ist“. Eine solche Ergänzung würde insbesondere durch die Einbeziehung der Verletzung des Fair-trial-Gebots als Wiederaufnahmegrund eine außerordentliche Verbesserung des Rechtsschutzes gegen sonst nicht mehr anfechtbare Entscheidungen bewirken und damit zugleich das Bundesverfassungsgericht erheblich entlasten. In diese ergänzte Vorschrift mit einzubeziehen wären allerdings noch die Fälle der unterlassenen und der unzulänglichen, nicht nachvollziehbaren Entscheidungsbegründungen, wie es sie früher in Absatz 3 Satz 2 der bis 1976 geltenden Fassung des § 579 ZPO im Rahmen des damaligen Schiedsurteilsverfahrens gab. Außerdem dürfte es sich empfehlen, für die Vorschrift einen Wortlaut zu wählen, der demjenigen der Art. 6 I EMRK, 47 II GRC entspricht oder zumindest auf diese Menschen531 532 533

MüKo ZPO (Fn. 3), vor § 578 Rn. 8 f. sowie § 580 Rn. 7 – 9. MüKo ZPO (Fn. 3), § 579 Rn. 29 f. Christoph Warga (Fn. 412), S. 127.

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

und Unionsrechte als Mindeststandards verweist. Ein dahingehender eigener Vorschlag für eine Erweiterung des § 579 ZPO wird in § 16 unterbreitet werden.

II. Folgen der Wiederaufnahmetheorie Johann Brauns für das zivilprozessuale Wiederaufnahmerecht Den durch die Restitutionsklage gewährten Rechtsschutz zu effektuieren, könnte grundsätzlich auf zweifache Weise angestrebt werden, nämlich zum einen über den Gesetzgeber de lege ferenda und zum anderen über die Rechtsanwendung de lege lata im Wege einer verfassungskonformen Auslegung bzw. Rechtsfortbildung der evaluierten Vorschriften. Zu einer Neugestaltung des Rechtsschutzes ist zwar grundsätzlich der Gesetzgeber aufgerufen. Es bietet sich jedoch auch der Weg über die Auslegung an: 1. Berichtigung des § 581 I ZPO de lege ferenda Was diese „nach verbreiteter Meinung verfehlte Vorschrift“ anbelangt, so ist dazu von Braun bereits alles Notwendige gesagt worden, so dass auf dessen ausführliche Darlegungen im Münchener Kommentar zur ZPO verwiesen werden kann534. Ohnehin liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf der Behandlung der Problematik der Vorschrift des § 339 StGB. Festgestellt werden soll hier der Empfehlung Braun/Heiß im Ergebnis folgend lediglich, dass die strafgerichtliche Verurteilung des Richters richtigerweise keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Restitutionsklage ist und demzufolge § 581 I ZPO derjenigen des § 580 Nr. 8 ZPO in der Weise angepasst werden muss, dass das Vorliegen des jeweiligen objektiven Tatbestands der Strafvorschrift auch vom Zivilgericht festgestellt werden kann535. Dabei ist zu bedenken, dass § 581 I ZPO auch dann keine Anwendung fände, wenn der EGMR auf die Beschwerde des Klägers eine Verletzung in seinem Menschenrecht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 I EMRK festgestellt haben sollte. Denn die Verletzung dieses Menschenrechts kann schließlich auch auf das Vorliegen eines richterlichen Amtsdelikts wie etwa Rechtsbeugung gestützt werden.

534 MüKo-Braun/Heiß, § 581 Rn. 11 – 14 und § 580 Rn. 23 und 78 f.; Zöller-Greger (Fn. 7), § 581 Rn. 3. 535 Christina Zantis, Das Richterspruchprivileg in nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht, 2010, hat dazu den plausiblen Vorschlag unterbreitet, § 580 Nr. 5 ZPO dahingehend zu ergänzen, dass die Restitutionsklage dann stattfindet, „wenn ein Richter bei dem Urteil mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf den Rechtsstreit einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflicht gegen die Partei schuldig gemacht oder einen offenkundigen Gemeinschaftsrechtsverstoß begangen hat“.

§ 12 Auswertung der Evaluationsergebnisse

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2. Der Weg zum gleichen Ergebnis de lege lata Trotz einer gegenteiligen Ansicht im Schrifttum536 gilt es aber auch zu prüfen, ob dem bestehenden Rechtsschutzdefizit nicht schon de lege lata im Rahmen der Rechtsanwendung abgeholfen werden könnte. Als geeignetes Mittel dazu käme die verfassungskonforme Auslegung einschließlich der unionsrechtskonformen Auslegung der Vorschriften des Wiederaufnahmerechts in Betracht. Ohnehin besteht nach dem Gebot der Erhaltung der Norm für den Rechtsanwender zunächst die Verpflichtung zur verfassungskonformen Auslegung jener Vorschriften. Im Folgenden gilt es daher festzustellen, welcher rechtliche Spielraum sich noch den mittels außerordentlicher Rechtsbehelfe angerufenen letztinstanzlichen Gerichten bietet, den Prozessparteien in den Fällen groben judikativen Unrechts im Wege der Selbstkontrolle über eine verfassungskonforme Auslegung oder gar zulässigen Rechtsfortbildung jener Rechtsbehelfe den ihnen von der Verfassung garantierten Rechtsschutz zukommen zu lassen. Bei einer Rechtsfortbildung der Gerichte darf grundsätzlich der normative Gehalt der Regelung nicht neu bestimmt werden (BVerfGE 8, 71, 78). Die Auslegung müsste durch den Wortlaut des Gesetzes gedeckt sein und die prinzipielle Zielsetzung des Gesetzgebers beachten (BVerfGE 86, 288, 320), d. h., sie dürfte nicht dazu führen, dass das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht wird (BVerfGE 8, 28, 34 und 54, 277, 299). So gesehen wäre eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift kaum angebracht. Dennoch wird vom BVerfG in bestimmten Ausnahmefällen ohne Verstoß gegen Art. 103 II GG eine Rechtsfortbildung selbst gegen den Wortlaut, gegen die Systematik, gegen den historischen Willen des Gesetzgebers sowie gegen die ratio der Norm als zulässig anerkannt, wenn eine eindeutige Verletzung von Grundrechten vorliegt, ohne dass dabei massiv in die Grundrechte Dritter eingegriffen wird (Beispiele: Anerkennung eines Schmerzensgeldanspruchs bei Persönlichkeitsverletzung praeter legem im Herrenreiter-Fall, dann das Volkszählungs-Urteil BVerfGE 65, 1, 42 f., ferner die Entscheidung zur Online-Durchsuchung BVerfGE 120, 274, 303 ff., sowie der Soraya-Beschluss)537. Die Grundrechtsverletzung des Rechtssuchenden muss jedoch offensichtlich sein, wobei sich eine Rechtsschutzlücke besonders aufdrängen muss. Eine völlig unzulässige Rechtsfortbildung contra legem ist daher in derartigen Ausnahmefällen nur anzunehmen, wenn diese zu einer schweren Grundrechtsbeeinträchtigung Dritter führen würde538. Zu prüfen ist also um eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung, durch die der Wortlaut der Vorschrift ausnahmsweise überschritten und im Sinne des oben unter § 13 II. 1. wiedergegebenen Lösungsvorschlags von Braun berichtigt werden soll. Nötig ist dazu eine offensichtliche Rechtsschutzlücke, die sich für den Verletzten als 536 537

435 f. 538

Stein/Jonas/Jakobs, ZPO, § 581 Rn. 1. Jörg Neuner, Die Kontrolle zivilrechtlicher Entscheidungen durch das BVerfG, JZ 2016, Thomas M. J. Möllers, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2019, § 11 Rn. 86 ff.

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unbillige Härte auswirkt. Das verlangt eine klare Grundrechtsverletzung der betroffenen Prozesspartei, damit das Verfassungsrecht als höherrangiges Recht gegenüber dem einfachen Recht zur Anwendung gebracht werden kann. Eine solche eklatante Grundrechtsverletzung liegt hier nach den Umständen in der Tat vor. Denn hat der Richter bei seiner Entscheidungsfindung Rechtsbeugung begangen, so ist die Partei ganz massiv in dem ihr nach Art. 19 IV 1, 20 III GG sowie Art. 6 I, 13 EMRK zustehenden Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt. Selbstverständlich ist sie in diesem Fall auch schutzwürdig. Und schließlich steht der Rechtsfortbildung auch nicht EU-Recht entgegen. Vielmehr entspricht diese Auslegung durchaus der EU-Vorrangregel für die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung, die nicht deren ungeklärte Grenzen überschreitet539. Damit wird das gleiche Ergebnis wie zuvor de lege ferenda erreicht, nämlich, dass der Nachweis der Zulässigkeit der Restitutionsklage in Erweiterung der Möglichkeiten des § 581 zweiter Halbsatz ZPO auch durch das schlüssige Behaupten einer Straftat des Richters erbracht werden kann, und zwar insbesondere, wenn es sich um das Sonderdelikt der Rechtsbeugung handelt. Dies muss nicht als unzulässige Rechtsgestaltung des Gerichts gegenüber dem Gesetzgeber gewertet werden, wobei zu bedenken ist, dass dieser in der Sache jahrzehntelang untätig blieb. Schließlich hat das BVerfG in seinem Plenarbeschluss ausnahmsweise auch einen praeter legem gewährten Rechtsschutz durch die Gerichte für den Fall anerkannt, dass der Gesetzgeber pflichtwidrig untätig bleiben sollte540.

III. Steigerung der Effektivität des Klageerzwingungsantrags Ist ein subjektives Recht des Opfers einer Straftat auf effektive Strafverfolgung anzuerkennen, steht diesem im Rahmen des Klageerzwingungsverfahrens auch ein Recht auf Anklageerhebung zu. Ersteres hängt zunächst davon ab, ob das Opfer ein als legitim anzuerkennendes Interesse an einer Bestrafung des Täters hat. Dies wird überwiegend bejaht541. Hinzukommen muss jedoch, dass aufgrund dieses berechtigten Genugtuungsinteresses auch eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates besteht, zur Befriedigung dieses Interesses gegen den Täter ein Strafverfahren einzuleiten. Welche Gründe für und gegen die Anerkennung eines solchen subjektiven Anspruchs auf effektive Strafverfolgung sprechen, finden sich in der Anmerkung von Tatjana Hörnle zu dem Kammerbeschluss des BVerfG vom 19. 05. 15542, in dem grundsätzlich dargelegt wurde, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch des Opfers auf effektive Strafverfolgung ausnahmsweise anzunehmen ist. Das BVerfG hat jedenfalls im Ergebnis ein solches Recht – wenn auch mit fragwürdiger 539

Möllers (Fn. 539), § 12 Rn. 24 ff. BVerfGE 107, 395, 418 unter IV 3. 541 Hörnle, JZ 2006, 950, 955 f.; Roxin, GA 2015, 185, 201; Kritisch Jahn/Bung, StV 2012, 754, 760 f. 542 BVerfG JZ 2015, 890 mit Anm. Hörnle, S. 893, 896. 540

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Begründung in einem bloßen Kammerbeschluss – u. a. für den Fall bejaht, dass die Straftat von einem Amtsträger verübt wurde. Bei Vorliegen hinreichenden Tatverdachts einer Rechtsbeugung wäre diese Voraussetzung sicher erfüllt. Dabei ist auch das Interesse des Opfers zu berücksichtigen, sich aktiv an dem Verfahren beteiligen zu können543. Damit dürfte dem Opfer einer solchen Straftat nach Stellung des Klageerzwingungsantrags auch ein Recht auf Anklageerhebung zustehen, und zwar entgegen § 172 II 3, 2. Alt. StPO auch dann, wenn das Ermittlungsverfahren gegen den Richter aus Opportunitätsgründen nach § 253 ff. StPO eingestellt worden sein sollte544.

§ 13 Kontrolle von Rechtsbeugung, Despotismus und Rechtsmissbrauch Bereits im Jahre 2000 brachte K. F. Röhl im Zusammenhang mit der fortwährenden Diskussion um die Einführung einer Qualitätskontrolle in der Justiz mittels des Neuen Steuerungsmodells (NSM)545 dezidiert zum Ausdruck, dass die deutsche Justiz „an einem erheblichen Demokratie- und Kontrolldefizit“ leide546. Daher lasse sich „eine Qualitätskontrolle auch der Rechtsprechung … nicht pauschal als unzulässig oder auch nur als überflüssig abwehren“. Es gäbe für sie nur einen einzigen „zulässigen Gesichtspunkt der externen Kontrolle, nämlich die äußerlich ordnungsgemäße Erledigung der Verfahren, die Gegenstand der Dienstaufsicht sind“. Frage ist daher, ob es zur Qualitätsverbesserung der Rechtsprechung trotz der verfassungsrechtlich verbürgten richterlichen Unabhängigkeit zur Verhinderung extremer Auswüchse einer Richterkontrolle bedarf:

I. Notwendigkeit einer Richterkontrolle? Besteht der im allgemeinen Justizgewährungsanspruch angelegte Rechtsschutzauftrag an den Richter darin, eine dem Richtigkeitspostulat der herrschenden Prozessrechtslehre entsprechende Entscheidung zu treffen, ist dies also eine konkrete 543

Vgl. Art. 3 S. 1 des EU-Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. 03. 01 (ABI. EG L 82/1), in dem es heißt: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann.“ 544 Die Einbeziehung der Einstellungen gemäß §§ 153 ff. StPO in den Anwendungsbereich des Klageerzwingungsverfahrens ist nach Wohlers, SK-StPO, § 172 Rn. 5, ohnehin dringend geboten. 545 NSM ist die Übersetzung von New Public Management. Dazu Rehbinder (Fn. 7), Rn. 186 – 192. In der Schweiz spricht man klarer von „wirkungsorientierter Verwaltungsführung“. 546 K. F. Röhl, Justiz als Wirtschaftsunternehmen, DRiZ 2000, 220, 228.

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verfassungsrechtliche Anforderung, die an den (ansonsten) „exemten Richterakt“547 zu stellen ist, so ist eine wirksame Kontrolle des richterlichen Entscheidungsverhaltens jedenfalls insoweit unverzichtbar, als es Entscheidungen zu verhindern gilt, die auf reiner Willkür und Beliebigkeit des Gerichts beruhen. Denn gerade deswegen, weil dieses Verhalten, wie das schon Jahrreiß feststellte, durchaus zu Rechtsbeugung und Rechtsmissbrauch führen kann, folgt daraus „die zwingende Notwendigkeit, die vor die Schranken der Justiz Gerufenen vor der Willkür der Richterbank zu schützen“548. D. h., es bedarf auch unabdingbar einer „Kontrolle der Kontrolleure“, eine Forderung, die schon der römische Satiriker Juvenal549 in die geflügelten Worte Sed quis custodiet ipsos custodes? kleidete und die im Jahre 1947 Max Rheinstein zu dessen nicht minder bekannten Aufsatz mit dem Titel „Who watches the watchmen?“ anregte550. Sehr eindringlich bringt dieser darin zum Ausdruck, dass auch „ein Despotismus der Richter“ denkbar sei und deswegen vorsorglich „wirksame Kontrollmaßnahmen gegen richterliche Willkür getroffen werden“ sollten. Man stehe „dem Paradox gegenüber, dass das Recht von den Richtern durchgesetzt werden soll, dieses aber die Rechtstreue der Richter selbst nur in begrenztem Maße sicherstellen“ könne. Allerdings verbietet die Unabhängigkeit der Rechtspflege eine „institutionalisierte oder formelle Fremdkontrolle der Justiz“. Stattdessen ist mit Röhl eine Verbesserung der Effizienz der Selbstkontrolle zu fordern551. 1. Die Aufgabe des Richters nach den Vorstellungen von Montesquieu und Svarez Nach der klassischen Gewaltenteilungslehre Montesquieus sind im idealen Staat die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative zwar der Idee nach voneinander getrennt. Innerhalb der Judikative sollten die Richter jedoch nur Urteile aussprechen, die sich in der Begründung darauf beschränkten, den Gesetzestext wiederzugeben. Damit reduzierte sich deren Rolle praktisch auf null (en quelque facon nulle), weshalb die Judikative, wie dies Muskens klargestellt hat, effektiv keine dritte Gewalt darstellte, sondern lediglich eine Drittgewalt mit bloßer Kontrollfunktion552. Die Aufgabe der Judikative bestand im Absolutismus somit allein darin, 547

Voßkuhle (Fn. 4), § 1 S. 8. Jahrreiß, Rechtspflege, 37. DJT (1950), S. 39. Das Rechtsmissbrauchsverbot ist als allgemeines rechtsübergreifendes Institut auch im Zivilprozessrecht anerkannt, Zöller-Vollkommer (Fn. 7), Einl. Rn. 57. Beispiel: Zurückweisung neuen Vorbringens in einem Durchlauftermin als verspätet, oder wenn für das Gericht ohne eingehende Untersuchung erkennbar war, dass die Verzögerung, die bei Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens eingetreten wäre, bei rechtzeitigem Vorbringen zur gleichen Verzögerung geführt hätte, vgl. Doukoff, Zivilrechtliche Berufung, 2010, § 1 Rn. 34. 549 Decimus Junius Juvenal (um 60 – 160 n. Chr.), Satiren 6, 347 f., damals allerdings bezogen auf die Wächter der untreuen Ehefrauen der in den Krieg gezogenen römischen Soldaten. 550 Übersetzt von v. Borries, „Wer wacht über die Wächter?“, in JuS 1974, 409 ff. 551 Klaus F. Röhl, DRiZ 2000, 220, 227. 552 Siehe Fn. 53. 548

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durch strikte Einhaltung der demokratisch legitimierten Gesetze die Macht der Exekutive einzuschränken. Demgegenüber galt die Sorge der preußischen Beamten Carl Gottlieb Svarez und Johann Heinrich Carmer wie erwähnt gerade der Verhinderung des Missbrauchs richterlicher Macht. Dies war deren mitbeherrschender Gedanke bei der Gestaltung der Vorläufer der CPO Ende des 18. Jahrhunderts. So hatte Svarez schon 1791/92 betont, dass das Gericht, dem zur Wahrheitsfindung „volle Macht beigefügt“ wurde, „unter beständiger Aufsicht und Beobachtung“ stehen müsse, damit die Rechte der Staatsbürger nicht gefährdet werden553. Als hierfür geeignete Kautelen nannte er akribische Protokollführung, professionelle Betreuung der Parteien durch Beistände, die der Richter stets hinzuzuziehen habe, sowie die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Heute scheint demgegenüber der Gedanke der Verhinderung missbräuchlicher Wahrnehmung richterlicher Macht im Zivilprozessrecht durch die Überbetonung der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen. Zweifelsohne ist die Unabhängigkeit der Justiz ein wesentliches rechtsstaatliches Strukturprinzip, das die Gewaltenteilung sicherstellt. Es wurde jedoch längst klargestellt, dass die richterliche Unabhängigkeit, die doch deswegen garantiert wurde, weil das Bindungsgebot den Rechtsunterworfenen vor willkürlicher Rechtsprechung schützen soll554, letztlich den gleichen Zweck verfolgt wie die Richterkontrolle, nämlich die Sachrichtigkeit des richterlichen Entscheidens sicherzustellen555. Auch hat zwar das BVerfG mehrfach betont, dass „der Bürger einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle“ habe556, und Voßkuhle versuchte den Nachweis zu führen, dass der aus dem Gewaltenteilungsprinzip folgende Kontrollauftrag zur Eindämmung staatlicher Herrschaftsmacht auch die Notwendigkeit einer funktionsinternen Kontrolle der Herrschaftsakte des Richters beinhalte, wenn auch stets „das Interesse an einer effektiven Aufgabenwahrnehmung im Vordergrund stehe“557. Mit Hinweis darauf lässt sich jedoch lediglich die überstrapazierte Berufung der Justiz auf die richterliche Unabhängigkeit als „Totschlagsargument“ zurückweisen558, soweit mit ihr auch noch der Versuch der faktischen Immunisierung der Richterschaft gegen jeglichen Vorwurf pflichtwidrigen Verhaltens gerechtfertigt werden soll. Einer Stärkung der Parteirechte gegen mögliche richterliche Willkürakte in letztinstanzlichen Verfahren und einer Effektuie553 Svarez, Privatrecht, in Conrad/Kleinheyer (Hrsg.), Vorträge über Recht und Staat von C. G. Svarez, 1960, S. 215 und zu den Kautelen S. 436. Dazu Steinberg (Fn. 61), S. 40. 554 Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, 118. 555 Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatliches Problem, 1960, S. 254. 556 BVerfGE 35, 263; 81, 123, 129; 84, 34, 53. 557 Voßkuhle (Fn. 4), § 10, S. 255 ff. und 265 ff. 558 So Busse auf dem 66. DJT 2006 laut dem Bericht von Lührig in AnwBl. 06, 704 f.; ebenso K. F. Röhl, Justiz als Wirtschaftsunternehmen, DRiZ 2000, 220 f.: Kaum werde es ernst mit Reformen, werde „den Reformern der Knüppel der richterlichen Unabhängigkeit zwischen die Beine geworfen“. Auch Pawlowski (in: FS Roellecke, 1997, S. 191) stellt klar, dass Richter die Unabhängigkeit nur deswegen beanspruchen dürfen, weil und soweit sie die Gesetzesbindung und damit den Souverän achten, in dessen Namen sie Recht sprechen.

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rung des hiergegen de lege lata gebotenen Rechtsschutzes ist man damit allerdings noch keinen Schritt näher gerückt. 2. Amtsmissbrauch und Rechtsmissbrauch im Schweizer Recht Tathandlung des Amtsmissbrauchs ist nach Art. 312 schwStGB der bewusste Missbrauch der amtlichen Machtstellung. Es genügt Eventualvorsatz, hinzukommen muss jedoch eine Vorteils- oder Benachteiligungsabsicht. Wenn der Täter glaubt, rechtmäßig zu handeln, entfällt der Tatbestand. Das Strafmaß beläuft sich auf bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Es ist ein Sonderdelikt bezogen auf alle Beamte. Eine darüber hinaus allein auf Richter und Staatsanwälte bezogene Rechtsbeugung findet sich daher im Schweizer Strafgesetzbuch nicht. Das Rechtsmissbrauchsverbot des Art. 2 Abs. 2 ZGB bezieht sich dagegen ausschließlich auf rechtsmissbräuchliches Verhalten der Prozessparteien, das nach Art. 52 schwZPO Treu und Glauben unterliegt. Der Rechtsmissbrauch durch den Richter fällt somit unter Amtsmissbrauch. Der Richter unterliegt nach Art. 191c BV der Gesetzesbindung ebenso wie im deutschen Recht. Dieses Gebot ist auch noch in den Artikeln 5 I und 190 BV verankert und somit nicht nur ein prägendes Prinzip der Schweizer Rechtsordnung. Nach Art. 1 I ZGB hat der Richter die Gesetze anzuwenden, die nach ihrem Wortlaut oder Auslegung auf einen Fall Anwendung finden. Bei der Lückenausfüllung im Falle einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes handelt es sich um eine zulässige Rechtsfindung praeter legem, während die grundsätzlich unzulässige Gesetzeskorrektur eine solche contra legem darstellt. Im Übrigen gilt Art. 1 II ZGB, wonach das Gericht nach Gewohnheitsrecht bzw. nach der Regel entscheiden soll, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Bei der Feststellung des Sachverhalts und der Beweiswürdigung ist der Richter frei, muss aber von dieser Freiheit einen vernünftigen, sachgemäßen Gebrauch machen und dies begründen. Bei Willkür steht der Partei die Beschwerde zu.

II. Die Richterkontrolle im Interaktionsfeld von Rechtsstab und Prozesspartei Kontrollmaßnahmen bezogen auf die richterliche Spruchtätigkeit können sowohl auf die quantitative Bewältigung der anhängigen Rechtsfälle in angemessener Zeit ausgerichtet sein als auch auf die Sicherung der Qualität des Richterspruchs. In dieser Untersuchung soll weder von der Leistungskontrolle, wie sie u. a. auf dem 66. Deutschen Juristentag 2002 gefordert wurde, noch vom Neuen Steuerungsmodell559 die Rede sein, sondern allein von der subjektiven Arbeitsleistung des Richters als 559

log.de.

Dazu Röhl, Kann die Qualität der Justiz gemessen werden? Vortrag 20. 01. 02, rsozb

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Ergebnis dessen Entscheidungsverhaltens ausgehend davon, dass die verfassungsrechtliche Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes ein auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtetes Verfahren mit vollen Mitwirkungs- und Kontrollrechten der Parteien verlangt, also auch ein dementsprechendes Entscheidungsverhalten des Richters560. Hierbei wird davon ausgegangen, dass auch das Willkür- und Rechtsmissbrauchsverbot eine richtige Rechtsprechung gewährleisten soll561. Die Rechtswirklichkeit der Richterkontrolle als Gegenstand der Rechtstatsachenforschung zu beschreiben, heißt, zwei unterschiedliche Ebenen dieser Wirklichkeit zu beleuchten, nämlich zum einen die Ebene der Gesetzgebung, der zu entnehmen ist, welche Entscheidungsnormen zur Richterkontrolle der Gesetzgeber der Judikative überhaupt zur Verfügung gestellt hat, und zum anderen die Ebene der Rechtsprechung zu diesen Normen, die zeigt, wie diese jeweils von den Gerichten im zu entscheidenden Fall angewendet werden. Ersteres betrifft die Frage, welche Vorschriften des positiven Rechts als Sanktionsnormen hier überhaupt als für die Richterkontrolle relevant in Betracht kommen, und letzteres betrifft die Frage, inwieweit diesen Vorschriften in der Rechtswirklichkeit aufgrund der Spruchpraxis der Gerichte auch tatsächlich eine Sanktionsgeltung zukommt. Hierbei gilt es zunächst einmal (im Rahmen der Orientierungs- und Informationsphase) die Gesamtheit der Vorschriften zu erfassen, die von ihrer ratio her dazu bestimmt sind, unmittelbar oder auch nur mittelbar der Kontrolle richterlichen Verhaltens zu dienen, um anschließend (im Rahmen der Wirkungs- oder Evaluationsphase) die Rechtsprechung zu jenen Vorschriften daraufhin zu überprüfen, ob sie demjenigen, der als Beteiligter eines nicht (mehr) rechtsmittelfähigen gerichtlichen Verfahrens von einer richterlichen Maßnahme oder Entscheidung betroffen ist, wirklich effektiven, weniger effektiven oder nur scheinbaren Rechtsschutz gegen diese Maßnahmen und Entscheidungen in den Fällen greifbarer Gesetzwidrigkeit bieten.

III. Die Kompetenzfrage bei der Wahrnehmung von Kontrollmaßnahmen Die rechtsprechende Gewalt kontrolliert sich ausschließlich selbst. Daher liegt auch die Kompetenz-Kompetenz zur Wahrnehmung von Kontrollaufgaben anders als bei der Exekutive und Legislative wiederum beim Rechtsstab562. Diese besteht darin zu entscheiden, wann und in welchem Umfang eine rechtliche Kontrolle vorgenommen oder darauf verzichtet wird. Die Kontrolle ist dadurch gekennzeichnet, dass sie anders als die Disziplinargerichtsbarkeit nach dem DRiG nicht als solche förmlich ausgestaltet und demnach schon von Amts wegen durchzuführen ist, 560

Vgl. Zöller-Vollkommer (Fn. 7), Einl. Rn. 50 mit Hinw. auf die BVerfGE 91, 181. Hergenröder (Fn. 83), § 19 III 1 a, S. 363. 562 Dazu N. Wimmer, Kontrolldichte – Beobachtungen zum richterlichen Umgang mit Entscheidungsprärogativen, JZ 2010, 433. 561

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sondern erst nach Ergreifen eines Rechtsbehelfs seitens einer Prozesspartei auf deren Antrag hin stattfindet. Insofern fehlt es auch an einer offiziellen Kontroll- und Sanktionsinstanz. Deren Funktion wird vielmehr entweder von einem anderen Gericht übernommen oder im Fall der instanzinternen Selbstkontrolle vom Ausgangsgericht selbst. So gesehen wird durch die außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 321a und § 580 Nr. 5 ZPO zwar mittelbar eine förmliche Richterkontrolle in Gang gesetzt, dies jedoch ausschließlich auf Initiative der angeblich von judikativem Unrecht betroffenen Prozesspartei. Dadurch kommt jenen Rechtsbehelfen auch die Funktion zu, zum Zwecke der Restitution judikativen Unrechts Sanktionsmaßnahmen gegen den Rechtsstab selbst auszulösen, die dieser dann nach der Verfahrensordnung durch den judex a quo zugunsten der Partei zu vollstrecken hat. Daher weist Schneider zu Recht darauf hin, dass eigentlich „nicht den Gerichten, sondern den betroffenen Parteien … die Selbsthilfe abverlangt“ werde563. Entscheidend ist jedoch letztlich die Effektivität dieser Richterkontrolle.

IV. Unzulänglichkeiten der gesetzlichen Regelung Das klassische Mittel zur Überprüfung der Bindung des Richters an Gesetz und Recht ist der Instanzenzug, zumal diese Kontrolle unstreitig als voll mit der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar gilt564. Zwangsläufig entfällt jedoch diese Kontrollfunktion in letzter Instanz. Daher nutzt auch ein mehrstufiger Instanzenzug nichts, wenn in letzter Instanz die Rechte einer Prozesspartei in greifbar gesetzwidriger Weise verletzt werden565. Hier können auch die Rechte aus Art. 47 GRC nicht mehr durchgesetzt werden, da es an einer europäischen Grundrechtsbeschwerde fehlt. Was als ultima ratio bleibt, ist vor Beendigung des Verfahrens die Richterablehnung und der Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 156 ZPO), nach Erlass des Urteils aber nur noch die Verfassungsbeschwerde, sofern keine Gründe für eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach §§ 578 ff. ZPO vorliegen sollten. Das Befangenheitsrecht wird nach Zuck „von Leerformeln und arbiträrer Kasuistik“ bestimmt566, weshalb Ablehnungsgesuche kaum effektiver sind als die regelmäßig aussichtslosen Dienstaufsichtsbeschwerden. Denn bekanntlich herrscht in der Richterschaft die Neigung vor, die Kollegen im Zweifel nicht für befangen zu halten, wobei noch hinzukommt, dass die Verstöße gegen das Bindungsgebot regelmäßig erst im Urteil zutage treten. Die richterliche Unbefangenheit soll eben als Eigenschaft gelten, die ausnahmslos in jedem Fall vorhanden ist. Insbesondere werden selbst gravierende Verfahrensfehler mit dem Hinweis darauf nicht 563

E. Schneider, Grundrechtsverstöße als greifbare Gesetzwidrigkeit, MDR 97, 891. Dazu Voßkuhle (Fn. 4), S. 298 ff. 565 Siehe dazu die Fallbeispiele im Anhang. 566 Zuck, DRiZ 1988, 172, 179; ferner Ignor, Befangenheit im Prozess, ZIS 2012, 228; Schneider, MDR 1996, 865, 868 f. und NJW 2008, 491; Wittreck (Fn. 309), S. 141 f. 564

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als Ablehnungsgrund anerkannt, dass das Ablehnungsrecht kein Instrument der Verfahrens- und Fehlerkontrolle sei567. Auch die Verfassungsbeschwerde hilft im Zweifel nicht, da sie nach Art. 93 I Nr. 4a GG und §§ 90 ff. BVerfGG an derart strenge Voraussetzungen geknüpft ist, dass sie nur in Ausnahmefällen Erfolg hat, nachdem das BVerfG nur prüft, ob das Fachgericht die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert hat und den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gefolgt ist568. Im Übrigen berücksichtigt das BVerfG aus oft undurchsichtigen Gründen in Anwendung der sog. Heck’schen Formel nur die Verletzung „spezifischen“ Verfassungsrechts, was überhaupt erst zur Annahme der Beschwerde führt569. Deshalb bedarf es der Einführung außerordentlicher Rechtsbehelfe nicht nur zur Korrektur schlichter Pannen des letztinstanzlichen Gerichts, sondern auch und gerade zur Abwehr auch sonstiger entscheidungserheblicher Verstöße gegen die Verfahrensgrundrechte. Bis zur Einführung der Anhörungsrüge war es die gesetzlich nicht geregelte formlose Gegenvorstellung gewesen570, welche die Rechtsprechung zu diesem Zweck gewohnheitsrechtlich zu einem Teil des Rechtsbehelfssystems der ZPO aufgewertet hatte. Für sie soll nunmehr nach sehr strittiger Ansicht des BGH neben der Anhörungsrüge kein Raum mehr sein571. Ist aber die Anhörungsrüge als gesetzlich geregelte Gegenvorstellung anzusehen, dürfte sie folgerichtig die Gegenvorstellung nur aus denjenigen Verfahren verdrängt haben, in denen sie förmlich als nunmehr gesetzlich geregelter Sonderrechtsbehelf an deren Stelle getreten ist.

V. Reform des § 339 StGB als zusätzliche Maßnahme? Angesichts der Tatsache, dass einer Restitutionsklage selbst im Falle der Berichtigung des § 581 ZPO die Unsicherheit anhaftet, im konkreten Fall dennoch an der Auslegung des § 339 StGB zu scheitern, stellt sich die Frage, ob die Effektivität 567

So KG Berlin, MDR 2005, 703; OLG Frankfurt/Main, NJW 2004, 621. BVerfG NJW 2015, 394 ff. (Tz. 17); BVerfG JZ 2012, 1065. Dazu Neuner (Fn. 539), JZ 2016, 435. 569 BVerfGE 18, 85, 92, wonach „die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall … allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das BVerfG entzogen“ ist. Dazu Röhl/Röhl (Fn. 8), § 84 I, Falsche Auslegung als Verfassungsverstoß; Papier, Das Verhältnis des BVerfG zu den Fachgerichten, DVBl 2009, 473, 479. Kritisch Rennert, Die Verfassungswidrigkeit „falscher“ Gerichtsentscheidungen, NJW 1991, 12, sowie Pieroth/Aubel, Die Rechtsprechung des BVerfG zu den Grenzen richterlicher Entscheidungsfindung, JZ 2003, 504 f. 570 Vgl. Schumann (Fn. 2), S. 491; H. Roth (Fn. 3), S. 805, 807. 571 BGHZ 160, 240. Dazu Rüsken, Wird die Gegenvorstellung abgeschafft?, NJW 2008, 481. Diese Frage betreffend stellte das BVerfG allerdings in einer neueren Entscheidung NJW 2009, 829, 830, Tz. 34 – 37, fest, dass die rechtsstaatlichen Defizite der Gegenvorstellung nicht dazu führen, von Verfassungswegen deren Zulässigkeit als eine Abhilfemöglichkeit zu verneinen, vgl. dazu die Anmerkung von Sangmeister, NJW 2009, 3053 f. 568

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

des durch diesen außerordentlichen Rechtsbehelf gebotenen Rechtsschutzes noch zusätzlich durch eine Reform des § 339 StGB gesteigert werden sollte, die den Vollzug der Vorschrift sicherstellen und zu einer Erhellung des Dunkelfelds der Rechtsbeugung führen könnte. Denn der Zielsetzung der Studie entsprechend sollte diese dem Gesetzgeber nicht nur Anlass zur Reform der hier gegenständlichen außerordentlichen Rechtsbehelfe bieten, sondern auch Grundlage zu einer Neugestaltung der Vorschrift des § 339 StGB. Dabei wird davon ausgegangen, dass hinsichtlich der Effektivität des de lege lata bestehenden Rechtsschutzes gegen die Verfahrensgrundrechtsverletzungen in den nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren ein erhebliches rechtsstaatliches Defizit besteht und zugleich ein unabweisbares Bedürfnis der Rechtspraxis nach dessen Beseitigung. Zuvor drängt sich jedoch die Frage auf, inwieweit die evaluierten Rechtsnormen überhaupt dem vorrangigen Unionsrecht gerecht werden, was es zu untersuchen gilt:

§ 14 Zur Vereinbarkeit der evaluierten Rechtsnormen mit der Rechtsschutzgarantie des Unionsrechts und der EMRK Das Unionsrecht gewährt Rechtsschutz gegen judikatives wie legislatives Unrecht. Es gilt daher noch zu prüfen, ob es geboten erscheint, die Effektivität des durch die hier gegenständlichen Vorschriften der §§ 321a, 580 Nr. 5 ZPO und 172 II 1 StPO bereitgestellten Rechtsschutzes an den Anforderungen zu messen, die den Gesetzgebern und Gerichten der Mitgliedstaaten vom vorrangigen Unionsrecht vorgegeben sind. D. h. konkret, dass noch zu klären zu ist, ob angesichts des festgestellten Mangels an Effektivität des Rechtsschutzes, der im Falle judikativen oder legislativen Unrechts dem einzelnen davon betroffenen Staatsbürger durch die evaluierten Vorschriften geboten wird, Veranlassung besteht zu prüfen, ob sogar die Voraussetzungen für die Geltendmachung des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs572 gegen die Bundesrepublik Deutschland vorliegen würden, der vom EuGH aus dem AEUV entwickelt wurde, um sicherzustellen, dass die Rechte der Bürger effektiv geschützt werden. Dies obwohl damit vom Kläger nur die Verurteilung des Staats zur Leistung von Schadenersatz zu erreichen ist und nicht auch die Aufhebung der rechtskräftigen Gerichtsentscheidung. Der Vorrang des Unionsrechts verlangt, dass nationales Recht, das gegen die Vorgaben verstößt, anzupassen ist573. Enthält das Gesetz eine bestimmte, nicht mit dem EU-Recht zu vereinbarende Rechtsnorm, liegt legislatives Unrecht vor574, ergeht es ein nicht mit dem Unionsrecht konformes 572 Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 340 AEUV Rn. 36 ff.; Möllers, EuR 1998, 20 ff. 573 Beispiele für erfolgreiche Anpassungen nennt Möllers (Fn. 87) in § 12 Rn. 112 und 71. 574 Einen Staatshaftungsanspruch wegen legislativen Unrechts aufgrund einer fehlerhaft ergangenen Verordnung der hessischen Landesregierung zur Mietpreisbremse verneinte der BGH zuletzt durch Urteil vom 28. 01. 21, Az. III ZR 25/20, da sich Gesetze und Verordnungen als generelle und abstrakte Regelungen nicht auf bestimmte Personen bezögen, weshalb keine

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Gerichtsurteil, handelt es sich um judikatives Unrecht. Als Prüfungsgegenstand für beides kommt hier nach den getroffenen Feststellungen in erster Linie die Vorschrift des § 580 Nr. 5 ZPO in Betracht, und zwar zwangsläufig in Verbindung sowohl mit § 581 I ZPO als auch mit den faktisch bestehenden Zugangsschranken wie in § 9 II. geschildert sowie der dazu ergangenen Rechtsprechung.

I. Die Anforderungen des EU-Rechts an die Effektivität des Rechtsschutzes Seitdem der Europäischen Union mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags am 01. 05. 99 auch die Gesetzeskompetenz für Maßnahmen im Bereich der judiziellen Zusammenarbeit mit grenzüberschreitenden Bezügen übertragen wurde, hat eine „Europäisierung“ des Zivilprozessrechts eingesetzt mit zunehmendem Einfluss auch auf das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten der EMRK575. Nach Anerkennung der im Vertrag von Nizza verkündeten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) vom 07. 12. 00 in Art. 6 I EUV erhielt das bisherige Europäische Gemeinschaftsrecht, nunmehr „Unionsrecht“ genannt, in Art. 47 I GRC auch eine alle Mitgliedstaaten bindende Regelung zur Rechtsschutzgarantie, die am 01. 12. 09 in Kraft trat. Diese ist ebenso wie diejenige aus Art. 19 IV GG ein Leistungsgrundrecht576, steht nach Art. 6 I Hs. 2 EUV als „Grundsatz der gerichtlichen Überprüfbarkeit“ im Range eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts und kann von jedermann mit der Menschenrechtsbeschwerde nach Art. 34 f. EMRK innerhalb von 6 Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geltend gemacht werden577. In Verb. mit Art. 19 I 3 EUV beinhaltet Art. 47 I GRC den Auftrag an die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, „damit ein wirksamer Rechtsschutz in dem vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“. Die EMRK verfügt ebenso wenig wie die EU über eine eigene Zivilgerichtsbarkeit. Vielmehr erschöpft sich ihre Kompetenz darin, den Mitgliedstaaten Standards für die Gestaltung ihrer nationalen Prozessordnungen vorzugeben. Einfluss will die EMRK vor allem auf die Verfahrensgarantien in den Mitgliedstaaten ausüben. Damit haben die Verfahrensgrundrechte der Art. 6 I EMRK für das Zivilprozessrecht der Mitgliedstaaten überragende Bedeutung erlangt, so jedenfalls als konkret personenbezogene Amtsplicht verletzt worden sein konnte. Eine mit einem solchen Anspruch verbundene erhebliche Ausdehnung der Staatshaftung komme im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung nicht in Betracht. 575 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2021, § 1 Rn. 7; Heinze, Zivilprozessrecht unter europäischem Einfluss, JZ 2011, 709; Classen, Effektive und kohärente Justizgewährung im europäischen Rechtsschutzverbund, JZ 2006, 157. 576 Maunz-Dürig, GG, 2017, zu Art. 19 IV, Rn. 7 – 20. 577 Jarass, Bedeutung der EU-Rechtsschutzgewährleistung für nation. und EU-Gerichte, NJW 2011, 1393.

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prozessuale Mindeststandards578. Dies folgt auch daraus, dass die Rechtsweggarantie des EMRK über Art. 6 III EUV die unionsrechtliche Rechtsweggarantie beeinflusst und als Rechtserkenntnisquelle dient. Mit dem außerdem in Art. 6 II EUV vereinbarten formellen Beitritt der EU zur EMRK wird dann auch deren Judikatur übernommen werden. Mit der Anerkennung der Grundrechts-Charta durch die EU erlangten die darin prgrammierten Grundrechte „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie die sich aus der EMRK ergebenden Menschenrechte (Art. 52 III GRC). Die in Art. 47 I GRC verankerte Befugnis der EU-Bürger, ihre Rechte vor einem Gericht im Rahmen eines wirksamen Gerichtsverfahrens geltend machen zu können, stellt ein Grundrecht des Unionsrechts dar. Danach hat jede Person „ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“. Diese Vorschrift gilt anders als Art. 19 IV GG wie Art. 6 I EMRK auch „für Streitigkeiten im Zusammenhang mit zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen“. Demzufolge hat die Justizgewährleistung durch die nationalen Gerichte voll dem Durchsetzungsanspruch des integrierten Unionsrechts zu entsprechen. Das bedeutet auch, dass die Mitgliedstaaten ein angemessenes System von Rechtsbehelfen und Verfahren bereitzustellen haben, das jenem Anspruch gerecht wird. Die Verpflichtung dazu folgt aus dem Grundsatz der Unionstreue des Art. 4 III EUV und Beachtung des effet utile579. Nach den Erläuterungen zu Art. 47 GRC, die gemäß Art. 52 VII GRC gebührend zu berücksichtigen sind, gründet sich Absatz 1 des Art. 47 GRC auf die Vorschrift des Art. 13 EMRK und Absatz 2 des Art. 47 GRC auf die Vorschrift des Art. 6 I EMRK. Die Auslegung dieser Grundrechte hat auf der Grundlage der Rechtsprechung des EGMR zu erfolgen. Damit stimmen die Anforderungen des Unionsrechts und der EMRK, die an die Rechtsstaatlichkeit und Qualität der Verfahrensordnungen ihrer jeweiligen Mitgliedstaaten gestellt werden, weitgehend überein. Folglich kann die schweizerische ZPO in gleicher Weise wie die deutsche an den gemeinsamen Standards der EMRK und des Unionsrechts als tertium comparationis gemessen werden. Nachdem am 01. 01. 2011 die bundeseinheitliche schweizerische ZPO in Kraft getreten ist, bietet sich daher an, ergänzend zu den Evaluationen auch rechtsvergleichende Feststellungen zum Recht der Wiederaufnahme des Verfahrens in beiden Staaten im Hinblick auf die Effektivität der Rechtsschutzgewährleistung zu treffen. 1. Verpflichtung zur Einführung effektiver Rechtsbehelfe Der Grundsatz der Effektivität verlangt, dass der Zugang zum Gericht in wirksamer Weise gewährleistet wird. Bei der Überprüfung der nationalen Verfahrens578 579

Christoph Althammer, Mindeststandards im Zivilprozess, ZZP 2013, 3 – 41. Oliver Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, S. 3, 45 ff.

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vorschrift anhand jenes Grundsatzes ist diese „im Einzelfall unter Berücksichtigung ihrer Stellung im Gesamtverfahren, des Verfahrensablaufs und der Verfahrensbesonderheiten zu würdigen“580. Erfüllt sie den Mindeststandard der EMRK nicht, besteht nach Art. 19 I UAbs. 2 S. 2 EUV für den nationalen Gesetzgeber die Verpflichtung, zur notwendigen Anpassung der Verfahrensordnung an die Standards der Art. 6 I, 13 EMRK und 47 GRC entsprechende Institute und Rechtsbehelfe einzuführen581, d. h. ein effektives Rechtsschutzsystem einzurichten, das dem eigenen System zur Durchsetzung des nationalen Rechts gleichwertig ist, durch das also die Einhaltung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (mindestens) ebenso gewährleistet ist. Das bedeutet, dass dem innerstaatlichen Gesetzgeber die Ausgestaltung der entsprechenden gerichtlichen Verfahren obliegt. Die Rechtsweggarantie der EMRK wirkt insofern mittelbar auf die nationalen Verfahrensordnungen ein, als sie zur effektiven Durchsetzung des Konventionsrechts die Klagebefugnis des einzelnen Bürgers erweitert. Das Gebot effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes der Art. 6 I, 13 EMRK, 47 GRC bezieht sich nicht nur auf Akte der öffentlichen Gewalt wie Art. 19 IV GG, sondern auch auf zivilrechtliche Verfahren und Gerichtsurteile ebenso wie der allgemeine Justizgewährungsanspruch. Es soll die richterliche Kontrolle der Einhaltung des Unionsrechts samt dessen innerstaatlicher Umsetzung sicherstellen. Vor allem darf der Zugang zum Gericht nicht durch schwer zu überwindende Verfahrens- oder Beweishindernisse unverhältnismäßig behindert werden582. Art. 6 I EMRK, 47 GRC verbürgen zwar ebenso wenig wie Art. 19 IV GG und der allgemeine Justizgewährungsanspruch einen mehrstufigen Instanzenzug. Stellt jedoch das nationale Rechtsschutzsystem Rechtsmittel bereit, müssen auch sie den unionsrechtlichen Verfahrensgarantien entsprechen583. Allerdings wird der Zugang zum Gericht nicht absolut und uneingeschränkt garantiert. Den Mitgliedstaaten bleibt grundsätzlich die Verfahrensautonomie, also die Ausgestaltung der Verfahrensmodalitäten vorbehalten (Art. 291 I AEUV). Es gilt grundsätzlich der Vorrang der nationalen Gesetzgebungskompetenz, so u. a. was die Regelung der Rechtskraft anbelangt. Dieser Grundsatz beinhaltet aber auch das Gebot, das nationale Prozessrecht gemeinschaftskonform auszulegen. Das Europäische Zivilprozessrecht will die Verfahrensrechte in den Prozessordnungen der Mitgliedstaaten also nicht verdrängen, sondern nur koordinieren und teilweise harmonisieren mit dem Ziel, sie dadurch zu effektuieren. Wesentlich geht es dabei um die Einhaltung prozessualer Mindeststandards (als Vorstufe für ein einheitliches Europäisches Prozessrecht), an denen die Verfahrensvorschriften der Mitgliedstaaten zu messen sind584.

580 581 582 583 584

Heinze, Europäisches Primärrecht und Zivilprozess, EuR 2008, 654, 662. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, Teil VII § 40 III 1, Rn. 15. EuGH, Urt. v. 07. 06. 07 (van der Weerd), C 222/05, Slg. 2007, I-4233, Rn. 33. Jarass (Fn. 582), EU-Grundrechte, Teil VII § 40 III 2, Rn. 22. Hess (Fn. 575), § 11 I 2, Rn. 10; § 3 III 3, Rn. 46.

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

Das Unionsrecht fordert nicht, dass im innerstaatlichen Prozessrecht nach Erschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der Rechtsmittelfristen von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften zur Rechtskraft abgesehen wird, wenn auf diese Weise ein Verstoß gegen das Unionsrecht in einer rechtskräftig gewordenen Entscheidung geheilt werden könnte. Ein Rechtsbehelf gegen letztinstanzliche Entscheidungen wie die Verfassungsbeschwerde in Deutschland wird nicht bereitgestellt. Es fehlt im Unionsrecht an einer europäischen Grundrechtsbeschwerde zum EuGH585. Die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 IVAEUV ist nur gegen Rechtsakte der EU statthaft. Auch die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG kann nicht unmittelbar auf einen Verstoß gegen die EMRK-Grundrechte gestützt werden. Denn Prüfungsmaßstab sind hier ausschließlich die Grundrechte des Grundgesetzes. Insoweit ist es nur möglich, die Missachtung der Beachtenspflicht mittelbar als Verstoß gegen die Gesetzesbindung in Verbindung mit dem konkret betroffenen Unionsgrundrecht zu rügen. Das BVerfG erkennt jedoch an, dass die EMRK einschließlich der Rechtsprechung des EGMR als Auslegungshilfe bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze zu berücksichtigen ist586. Über die spezielle Frage hinaus, ob und inwieweit der durch die außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 321a und 580 Nr. 5 ZPO gewährleistete Rechtsschutz überhaupt hinreichende Effektivität besitzt, ist daher noch festzustellen, ob und inwieweit dieser Rechtsschutz auch den prozessualen Anforderungen der Art. 6 I, 13 EMRK, 47 II GRC gerecht wird. Denn missachtet der nationale Gesetzgeber bei der Gestaltung der Verfahrensordnung in unzulässiger Erweiterung seiner Verfahrensautonomie den zur Durchsetzung des Unionsrechts verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsschutzstandard, so verstößt er nicht nur gegen das Grundgesetz, sondern eben auch gegen den vom Effektivitätsgrundsatz bestimmten Durchsetzungsanspruch des Unionsrechts. Entsprechendes gilt für die Gerichte. Damit auch sie diesen Grundsatz respektieren, sind die Mitgliedstaaten daher verpflichtet, in ihren Verfahrensordnungen auch für den Fall der Missachtung jenes Standards wirksame Sanktionen vorzusehen, die eine effektive Beseitigung sowie ggf. eine spürbare Ahndung der Rechtsverletzung sicherstellen587.

585 Heinze (Fn. 581), S. 665 f. Dies zur Vermeidung der Überschwemmung des EuGH mit Beschwerden wegen Nichterfüllung der Vorlagepflicht aus Art. 267 III AEUV, Jarass (Fn. 582), Teil VII § 40 III 2, Rn. 21. 586 Vgl. M. Gerhardt, Europa als Rechtsgemeinschaft: Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts, ZRP 2010, 161. Siehe allgemein zur Rolle des BVerfG Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: Jestaedt/Lepsius/ Möllers/Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 77. 587 Vgl. Dörr (Fn. 580), Teil 3, B III.

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2. Zum Fairnessgebot des Art. 6 I EMRK Die Grundrechte des Art. 47 GRC überschneiden sich hinsichtlich der Garantie des Zugangs zum Gericht und des Rechts auf ein faires Verfahren588. Letzteres umfasst anders als im deutschen und schweizerischen Recht auch die Gewährung rechtlichen Gehörs. Das Fairnessgebot ist verletzt, wenn das Gericht Verfahrensvorschriften erkennbar missbräuchlich einsetzt, also etwa die Waffen- und Chancengleichheit missachtet. Um bei den nationalen Gerichten die Bindung an die Grundrechte der Union auszulösen, reicht es aus, dass eine nationale Maßnahme in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Die Verletzung eines subjektiven Rechts im Sinne der deutschen Schutznormtheorie ist nicht Voraussetzung. Art. 13 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten, die in der Konvention festgelegten Rechte auf effektive Weise durch die nationalen Verfahrensordnungen zu schützen, und gewährt dem Bürger bei Verletzung dieser Pflicht das Recht auf eine wirksame Beschwerde. Vor allem fordert der EGMR, es müsse das nach nationalem Prozessrecht bereitgestellte Rechtsmittel nicht nur in rechtlicher, sondern auch in praktischer Hinsicht effektiv sein. Beschränkungen der Grundrechte sind möglich „nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen“ (Art. 74 I GRC). So bleibt die Ausgestaltung des Rechtsschutzes zwar im Einzelnen weiter dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten. Dennoch gebietet auch der Grundsatz der Verfahrensautonomie, das nationale Prozessrecht vorrangig gemeinschaftskonform zu gestalten und auszulegen589. Ergänzt werden die geschriebenen Grundrechte durch zwei ungeschriebene Verfahrensgebote, den Äquivalenz- oder Nichtdiskriminierungsgrundsatz und das Effektivitätsgebot590. Beide Gebote werden abgeleitet aus dem Prinzip der loyalen Zusammenarbeit und gebieten den nationalen Gerichten als unmittelbar wirksame Handlungsanweisungen die Anpassung ihrer Rechtsprechung an die Vorgaben des Unionsrechts, Die nationalen Vorschriften dürfen zur Durchsetzung des Unionsrechts weder ungünstiger ausgestaltet sein als die Vorschriften zur Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts (Äquivalenzgrundsatz) noch die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). 3. Vorabentscheidungsverfahren und Vorlagepflicht Zusätzlich soll die Effektivität des Rechtsschutzes durch das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 19 III lit. b EUV mit Art. 267 II AEUVauf ganz besondere Weise sichergestellt werden. Dieses Verfahren ermöglicht es dem EU-Bürger, vorab durch den EuGH einen möglichen Verstoß des nationalen Gerichts gegen das Uni588 589 590

Dazu Heinze (Fn. 581), S. 657. Möllers (Fn. 87), § 12 Rn. 16 ff. m. Hinw. a. EuGH, Urt. v. 4.2.88, C-157/86, Rn. 11. Möllers (Fn. 87), § 5 Rn. 113 f. m. Hinw. a. EuGH, Urt. v. 20.9.01, C-453/99, Rn. 29.

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

onsrecht bei dessen Anwendung feststellen zu lassen, und dient dadurch der einheitlichen Auslegung des Unionsrechts. Nach Art. 267 III AEUV sind in den nicht (mehr) rechtsmittelfähigen Verfahren die nationalen Gerichte zur Anrufung des EuGH und zur Aussetzung des Verfahrens sogar verpflichtet. Dies gilt selbst für das BVerfG. Allerdings fordert das Unionsrecht vom nationalen Gesetzgeber nicht die Einführung eines Rechtsbehelfs gegen die Verletzung der Vorlagepflicht. Wird diese Pflicht vom Fachgericht missachtet, stellt dies eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 101 I 2 GG dar, was mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann, da der EuGH „gesetzlicher Richter“ im Sinne dieser Vorschrift ist591. Noch nicht abschließend geklärt ist, welchen Maßstab das BVerfG bei der Beurteilung dieser Pflichtverletzung zugrunde zu legen hat. Bislang stellte es allein auf das Willkürverbot ab, stützt sich in neueren Entscheidungen aber auch auf die Kriterien der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 267 III AEUV592. Trotz der allseits bestehenden Zweifel an der Wirksamkeit der Vorschrift des § 581 I ZPO hat offenbar bislang noch kein letztinstanzliches Zivilgericht Gelegenheit gehabt, die Vorschrift durch Einleitung eines solchen Verfahrens dem EuGH zur Entscheidung über deren Auslegung vorzulegen. Die Nichtbeachtung der Vorlagepflicht würde die Pflicht zur Unionstreue nach Art. 4 III AEUV veletzen, was zu einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 f. AEUV führen könnte. Dasgleiche gilt, wenn das nationale Gericht selbst entscheidet, ohne dabei die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen. Außerdem würde bei einer willkürlichen Nichtvorlage auch das Fairnessgebot des Art. 6 I ERMK verletzt.

II. Zu den Voraussetzungen des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs Die Voraussetzungen hierfür sind erstens, dass eine Schutznorm des Unionsrechts verletzt wurde, die bezweckt, dem Betroffenen hinreichend bestimmte Rechte zu verleihen, zweitens, dass das mitgliedstaatliche Organ hinreichend qualifiziert gegen die unionsrechtliche Norm verstieß, und drittens, dass der Verstoß bei dem Betroffenen zu einem adäqaut kausalen Schaden geführt hat. Hinsichtlich der entscheidenden zweiten Voraussetzung kommt es darauf an, ob eine eindeutige Missachtung der Vorgaben des EuGH anzunehmen ist. Dazu hat dieser in der Brasserie-du-Pêcheur-Entscheidung Kriterien entwickelt593. Danach gilt eine Verstoß gegen das 591 BVerfGE 73, 339, 366 ff. – Solange II; BVerfGE 75, 223, 245 f. Nach Ansicht von Matthias Bäcker, Rechtsschutz gegen gerichtliche Verfahrensfehler als grundrechtliches Gebot, EuGRZ 2011, 222, bedarf der Rechtsschutz gegen die Verletzung der Vorlagepflicht keines eigenen Rechtsbehelfs, weshalb dieser in der Hand des BVerfG belassen bleiben könne. 592 BVerfG in NJW 2010, 1268 f. und NJW 2011, 288 f. Dazu Haensle, Der Willkürmaßstab bei der Garantie des gesetzlichen Richters bei Nichtvorlagen – bewährter Maßstab oder gemeinschaftsrechtliche Notwendigkeit einer Neuausrichtung?, DVBl 2011, 811, 816. 593 EuGH, Urt. v. 5. 3. 1996, C-46/93, Rn. 55 f.

§ 14 Zur Vereinbarkeit der evaluierten Rechtsnormen

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Gemeinschaftsrecht als „hinreichend qualifiziert“, wenn „ein Mitgliedstaat oder ein Gemeinschaftsorgan die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat“. U. a. gehört dazu auch das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift und der Umfang des Ermessensspielraum, den die verletzte Norm den nationalen Behörden belässt. Daran gemessen besteht allseits Einigkeit darüber, dass jedenfalls § 839 BGB einer unionskonformen Anwendung bedarf, die vom Grundsatz des effet utile nach Art. 4 III AEUV bestimmt wird594, wonach u. a. das Richterprivileg des § 839 II 1 BGB unionskonform teleologisch zu reduzieren sei. Bezogen auf die Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO muss das in gleicher Weise gelten mit der Folge, dass sie unionskonform so auszulegen sind wie schon seit langem von Braun vertreten, ohne dass dies hier nochmals darzulegen ist.

III. Folgen der Verurteilungen durch den EGMR Hat das nationale Gericht durch sein Urteil vorrangiges Unionsrecht verletzt, so erwächst dieses Urteil trotz jenes Verstoßes in formelle und materielle Rechtskraft. Weder der EuGH noch der EGMR sind Superrevisionsinstanzen in der Hierarchie über den Gerichten der Mitgliedstaaten und daher nicht zur Aufhebung der Urteile deren Gerichte befugt. Zur Aufhebung des Urteils ist der Mitgliedstaat auch nicht als Rechtsfolge der Amtshaftung nach Art. 268, 340 EMRK verpflichtet595, zumal die EMRK gemäß § 59 II GG lediglich Gesetzesrang besitzt. Allerdings hatten sich die Vertragsparteien in Art. 46 I EMRK verpflichtet, die endgültigen Urteile des EGMR zu befolgen und Wiedergutmachung für die sich aus der Konventionsverletzung ergebenden Folgen zu leisten (restitutio in integrum). Andernfalls läge darin auch ein Verstoß gegen das Effektivitätsgebot der Art. 6 I, 13 EMRK, 47 I GRC. Folglich waren die nationalen Gesetzgeber gehalten, eine jener Verpflichtung entsprechende Regelung für den Fall zu treffen, dass der EGMR einen Verstoß eines deutschen Gerichts gegen die Konvention feststellen sollte. Dem ist der deutsche Gesetzgeber durch Einführung des § 580 Nr. 8 ZPO nach Erlass des 2. Justizmodernisierungsgesetzes mit Wirkung vom 31. 12. 06 nachgekommen. Die dem § 580 Nr. 8 ZPO entsprechende Vorschrift der schweizerischen Zivilprozessordnung findet sich in Art. 328 II schwZPO. Danach kann die „Revision“ verlangt werden, wenn der EGMR festgestellt hat, dass durch einen rechtskräftigen Entscheid des nationalen Gerichts die EMRK oder eines der Protokolle verletzt wurden. Das Gleiche gilt, wenn die vom EGMR zugesprochene Entschädigung nicht dazu geeignet sein sollte, die Folgen der Verletzung auszugleichen. Die Revision muss notwendig sein, um die Verletzung zu beseitigen.

594

MüKo BGB, 7. Aufl. 2017, § 839 Rn. 99, 103; Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 839 Rn. 5, 6a, 8; Ehlers, JZ 1996, 776, 777 f. 595 D. Poelzig, Die Aufhebung rechtskräftiger zivilgerichtlicher Urteile unter dem Einfluss des Europäischen Gemeinschaftsrechts, JZ 2007, 858, 860.

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

Nach § 580 Nr. 8 ZPO findet die Restitutionsklage gegen ein rechtskräftiges Urteil dann statt, wenn nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs der EGMR auf Beschwerde gemäß Art. 34, 35 EMRK hin eine Verletzung der EMRK im Verfahren vor Erlass dieser Entscheidung festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht. Art. 6 I EMRK gewährleistet Rechtsschutz auch bei Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten, ohne dass es der Vorlage eines rechtskräftigen Strafurteils gegen den Richter bedarf. Im Gegensatz zu §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO ist daher die Restitutionsklage gemäß § 580 Nr. 8 ZPO nach Feststellung der Verletzung der EMRK durch den EGMR selbst dann statthaft, wenn es nicht zu dessen strafgerichtlicher Verurteilung kam. Braun sieht darin zu Recht einen evidenten Wertungswiderspruch im Gesetz596. Schließlich habe der EGMR keine besseren Erkenntnismöglichkeiten als das mit der Restitutionsklage befasste innerstaatliche Gericht. Der deutsche Gesetzgeber habe damit ungewollt bestätigt, dass das Erfordernis strafgerichtlicher Verurteilung unter den Voraussetzungen freier Beweiswürdigung verfehlt sei. Statt daraus die Konsequenz zu ziehen, habe dieser die miteinander unvereinbaren Regelungen systemwidrig neben einander stehen lassen. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland laut Wikipedia bereits 234-mal wegen Verletzung der EMRK seit deren Ratifizierung am 05. 12. 52 verurteilt wurde (die Schweiz 113-mal, die Türkei als Spitzenreiter 2.747-mal bei im Oktober 2020 insgesamt 60.000 anhängigen Verfahren), wird vom BVerfG bereits eine gewisse Bevormundung durch den EGMR befürchtet und dessen Selbstbeschränkung angemahnt597. Ungeachtet dessen sind die Aussichten, vor dem BVerfG und dem EGMR zum Erfolg zu gelangen, abgesehen von der überlangen Verfahrensdauer derart gering, dass kein Bürger und kein Anwalt im Zweifel auf diese Gerichte setzen sollte. Kleine-Cosack hat sie daher sarkastisch als „Nichtannahmegerichte“ bezeichnet und betont, dass schon die Instanzgerichte die Verpflichtung hätten, die Grund- und Menschenrechte zu beachten598. Angesichts der zahlreichen Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR müsse sogar festgestellt werden, dass in den letzten Jahren das BVerfG den Grundrechtsschutz vernachlässigt habe599. 596

Braun, Restitutionsklage wegen Verletzung der EMRK, NJW 2007, 1620, 1621, sowie MüKo ZPO (Fn. 3), vor § 578, Rn. 37 f. und zu § 580 Rn. 78 ff. 597 Das BVerfG erkennt den Vorrang des Unionsrecht nur soweit an, als es nicht zu „ausbrechenden Rechtsakten“ des EuGH kommt (vgl. BVerfGE 89, 155, 188, also zu Urteilen, die der Ultra-vires-Kontrolle unterworfen werden müssen, weil sie vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht gedeckt sind). Siehe zum Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EGMR Udo Steiner, in: FS Bethge, 2009, S. 653, 666 f.; ferner Ekkehard Schumann, Die vorbildliche Rolle des BVerfG als Verteidiger und Vollzugshelfer der Europäischen Gerichtshöfe, FS Schellenberg, 2010, 729; Stefan von Raumer, Wozu braucht Deutschland einen EGMR – wenn es ein BVerfG hat?, AnwBl 2010, 195 und 2011, 512; Christian Winterhoff, Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH, AnwBl 2011, 506, 507. 598 Kleine-Cosack, Grund- und Menschenrechte im „Bermuda-Dreieck“, AnwBl 2011, 501. 599 Kleine-Cosack, Grundrechte auf dem Abstellgleis … oder warum es um die Grundrechte in Deutschland nicht so gut bestellt ist, wie viele glauben, AnwBl 2010, 41.

§ 14 Zur Vereinbarkeit der evaluierten Rechtsnormen

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IV. Die Rechtsschutzgarantie nach der Schweizer Bundesverfassung Von der Europäisierung des Zivilprozessrechts ist ebenso wie Deutschland auch die Schweiz als Mitglied der EMRK betroffen, nachdem sie sich ausdrücklich zum autonomen Nachvollzug des EU-Rechts entschlossen hat. Die EMRK wurde von den 47 Staaten, die sie ratifiziert haben, unterschiedlich inkorporiert: So erlangte sie in Österreich Verfassungsrang und steht in den Niederlanden sogar über der Verfassung, während ihr in Deutschland gemäß Art. 59 II GG lediglich der Rang eines einfachen Gesetzes zugestanden wurde600. Die Bundesversammlung der Schweiz beschloss 1974 die Ratifikation der EMRK. Das Schweizerische Bundesgericht geht von einer Sonderstellung der Konvention aus. Da die dort verbürgten Rechte ihrer Natur nach verfassungsrechtlichen Inhalt hätten, könnten sie auch in gleicher Weise wie die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte gerügt werden601. Das Bundesgericht prüft daher auch die Vereinbarkeit der kantonalen Gesetze mit der EMRK, die sich auf diese präventiv auswirkt. 1. Der Einfluss der EMRK auf die Schweizer Bundesverfassung Die Schweiz kannte lange Zeit keine umfassende Rechtsweggarantie, sondern nur ein Verbot der Rechtsverweigerung, das den Bürgern Schutz bot vor einer beliebigen Anwendung des Rechts durch die Behörden und den Gerichten untersagte, untätig zu bleiben602. Erst im Jahr 1999 wurde der Artikel 29a in die Bundesverfassung eingeführt, der auch dem Schweizer Bürger grundsätzlich einen den Art. 6 I, 13 EMRK und 47 I GRC entsprechenden Rechtsschutz garantiert603. Art. 6 I ERMK hatte schon zuvor maßgeblich die Verfahrensgrundrechte der Art. 29, 30 und 32 BV geprägt. Danach steht dem Einzelnen in Rechtsstreitigkeiten ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf eine tatsächlich wirksame und umfassende gerichtliche Kontrolle der Rechts- und Sachverhaltsfragen zu. Statuiert wurde ein „Anspruch auf Beurteilung von Rechtsstreitigkeiten durch eine richterliche Behörde“ im Allgemeinen, der weiter reicht als derjenige aus Art. 13 EMRK, da er nicht nur zivil- und strafrechtliche Verfahren betrifft. Insbesondere darf demzufolge der Zugang zum Gericht weder grundsätzlich ausgeschlossen noch in unzumutbarer Weise erschwert werden. Art. 29a BV unterscheidet sich von Art. 13 EMRK zum einen in der Weise, dass die Rechtsweggarantie aus Art. 29a BV einen Anspruch auf Beurteilung durch ein Gericht einräumt, während Art. 13 EMRK eine Überprüfung durch eine unab600

BGBl. II 2002, 1054, bestätigt durch BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106, 120; 111, 307, 311. Grabenwarter, Nationale Grundrechte und Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Merten/Papier (Fn. 165), Bd. VI/2, 2009, S. 33, 37; BGE 117 Ib 367 (371). 602 H. Keller, Garantien fairer Verfahren und rechtliches Gehör, in: Merten/Papier (Fn. 165), Bd. VII 2, 2007, § 225 Rn. 15. 603 Dazu Markus Müller, Die Rechtsweggarantie – Chancen und Risiken, ZBJV 2004, 162: Die Garantie weise drei Normgehalte aus, nämlich als individuelles Verfahrensgrundrecht, als Organisationsgarantie und als verfahrensrechtliche Leitplanke für die Ausformung der zentralen Verfahrensinstitute im Bund und in den Kantonen. 601

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

hängige und unparteiische Verwaltungsbehörde genügen lässt, und zum anderen dadurch, dass Art. 29a BVauch andere Rechtsverletzungen als EMRK-Verletzungen erfasst604. Die Rechtsweggarantie gewährt grundsätzlich nur eine einmalige Sachverhalts- und Rechtskontrolle durch ein Gericht auf beliebiger Stufe der Gerichtsorganisation. Auch gilt der Anspruch nicht absolut, da nach Art. 29a S. 2 BV Bund und Kantone in Ausnahmefällen die richterliche Beurteilung ausschließen können, wofür es jedoch einer gesetzlichen Grundlage bedarf605. Effektiver Rechtsschutz wird gewährleistet durch die Art. 29, 30, 31 und 32 BV. Dazu wurden in Art. 30 BV in Anlehnung an Art. 6 I EMRK die früher verstreut geregelten Verfahrensgarantien zusammengefasst. Allerdings kam es nicht zur Anerkennung eines selbständigen Grundrechtscharakters des Willkürverbots, das im Entwurf der neuen Verfassung ausdrücklich als Individualrecht vorgesehen war. Obwohl der Schweizer Bundesrat das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit als „Rechtsschutzlücke“606 beanstandet hatte, ist eine solche nach Durchführung der Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28. 02. 01 nicht verwirklicht worden. Deshalb besitzt das Bundesgericht auch nicht die Kompetenz zur Durchführung einer Normenkontrolle (Art. 189 BV). 2. Zur „Revision“ i. S. der bundeseinheitlichen schweizerischen ZPO Die neue bundeseinheitliche schweizerische ZPO kennt zwar auch den außerordentlichen Rechtsbehelf im Sinne des deutschen Prozessrechts als Rechtsinstitut, verwendet diesen Begriff im Gesetz aber ebenso wenig wie denjenigen der Wiederaufnahme des Verfahrens607. Stattdessen gebraucht sie dafür in Art. 328 schwZPO den Terminus „Revision“. Obwohl dieses Rechtsinstitut etwas irritierend als „Rechtsmittel“ bezeichnet wird, fehlt ihm die Suspensivwirkung (Art. 331 I schwZPO). Folgerichtig gilt die Revision im Gegensatz zu den „ordentlichen Rechtsmitteln“ der Berufung und Beschwerde als „außerordentliches Rechtsmittel“. Das Institut der Wiedererwägung wurde fallengelassen. 604

Schweizerisches Bundesgericht, NVwZ 2010, 662 mit Hinw. auf Rhinow/Schefer, Schweizerisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 542, Z. 2832. 605 Vgl. Kley, Die schweizerische Bundesverfassung, 2. Aufl. 2008, zu Art. 29a, Rn. 5 ff.; Rhinow/Schefer (Fn. 286), S. 541 ff. 606 Eine Rechtsschutzlücke (ein Rechtsschutzdefizit) liegt nach Uhlmann/Biaggini/Auer, den Verfassern des 1. Zwischenberichts des Zentrums für Rechtssetzungslehre der UZH Zürich „Rechtsschutzlücken – Zur Evaluation der Wirksamkeit der neuen Bundesrechtspflege, Projekt Rechtsschutzlücken“, Zürich 2010, (nur) dann vor, „wenn ein Recht nicht durchgesetzt werden kann, der Rechtsschutz nicht effektiv ist oder ein Recht nicht von einem Gericht … gewährleistet wird“. Nicht jede Rechtsschutzbegrenzung stelle schon eine Rechtsschutzlücke dar. Insofern führten die nach Art. 29a Satz 2 BV zugelassenen Begrenzungen in einzelnen Sachbereichen nicht zu einem Rechtsschutzdefizit (dazu III des Berichts). 607 Dazu Thomas Sutter-Somm, Die neue Schweizerische Zivilprozessordnung – ein Zukunftsmodell?, ZZP 2017, 61 – 89 (mit Diskussionsbericht).

§ 15 Vorschlag zu einer Reform des § 339 StGB

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Damit handelt es sich bei ihr abgesehen von der unterschiedlichen Terminologie wie bei den deutschen „Rechtsbehelfen“ um ein außerordentliches, nicht devolutives (Art. 328 I schwZPO), befristetes (Art. 329 schwZPO), reformatorisches (Art. 333 schwZPO) Rechtsmittel, mit dem die Partei die Abänderung eines bereits in Rechtskraft erwachsenen „Entscheids“ (Art. 236 ff. schwZPO) begehren kann und das auf Neudurchführung des Prozesses auf verbesserter Grundlage abzielt608. Hierbei können „echte“ Noven nach Maßgabe des Art. 328 I lit. a schwZPO die Revisionsgründe bilden. Als solche gelten „erhebliche Tatsachen oder entscheidende Beweismittel“, welche die Partei nachträglich erfahren bzw. aufgefunden hat und daher „im früheren Verfahren nicht beibringen konnte“. Zweck dieser Regelung ist, der materiellen Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Insoweit stellt dies anders als das deutsche Wiederaufnahmerecht eine (nahezu) reine Ergebnisrestitution dar. Folgerichtig entfällt die Berücksichtigung von Verfahrensfehlern, wie dies in § 579 I der deutschen ZPO vorgesehen ist, mit der einzigen Ausnahme, dass gemäß Art. 51 III schwZPO die Revision auch dann statthaft ist, wenn bei dem angegriffenen Entscheid eine nach Art. 47 ff. schwZPO zum Ausstand verpflichtete Gerichtsperson mitwirkte und dies erst nach Abschluss des Verfahrens entdeckt wird609. Dagegen entspricht die Regelung in Art. 328 I lit. b schwZPO grundsätzlich den Erfordernissen der Restitutionsklage des § 580 Nr. 1 – 6 ZPO mit dem allerdings erheblichen Unterschied, dass es – anders als in § 581 I ZPO noch immer ausdrücklich gefordert – der Vorlage eines Strafurteils nicht bedarf.

§ 15 Vorschlag zu einer Reform des § 339 StGB Aufgabe der Strafrechtswissenschaft als empirische Wissenschaft ist es, dem Gesetzgeber die realen Gegebenheiten für die rechtspolitische Umgestaltung einer zunehmend erodierenden Norm plausibel zu machen, d. h., sie ist dazu aufgerufen, „auf der Basis ihrer dogmatischen Einsichten Veränderungen des geltenden Rechts zu fordern und die Ergebnisse der Gesetzgebung nicht nur dogmatisch, sondern auch rechtspolitisch zu bewerten“610. Dieser Aufgabe ist die Strafrechtswissenschaft bezogen auf § 339 StGB bislang nicht nachgekommen. Nach den Ergebnissen dieser Studie besteht jedenfalls hinreichend Anlass, nochmals über eine Reform dieser Strafrechtsnorm nachzudenken, um einerseits auch seitens des Strafrechts den Schutz der Prozessparteien insbesondere gegen die permanenten Verletzungen der Verfahrensgrundrechte zu stärken und andererseits bei der Richterschaft das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die besonders schwerwiegende, objektiv will608

Stephen V. Berti, Einführung in die schweizerische Zivilprozessordnung, 2011, S. 145. Vgl. Spühler/Tenchio/Infanger, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, Art. 328 Rn. 35. 610 P. Rieß, Wechselbezüge zwischen Strafrechtswissenschaft und Gesetzgebung, ZStW 1983, 529, 530. 609

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Teil 3: Ursachenanalyse, Bewertung und Auswertung

kürliche Verletzung von für das Rechtssystem bedeutender Rechtsnormen durchaus zu einer Bestrafung führen kann. Die Messung der Wirksamkeit eines Gesetzes muss sich an dessen Zielen orientieren611. Wie sich gezeigt hat, hat der Gesetzgeber die Ziele, die er mit der Kriminalisierung des elementar gegen die Rechtspflege verstoßenden Entscheidungsverhaltens verband, das er vage mit dem Begriff „Rechtsbeugung“ umschrieb, jedenfalls insofern verfehlt, als es ihm darum ging, damit gegen den Richter eine wirksame Sanktionsdrohung aufzubauen. Denn nach wie vor muss jedenfalls in der Zivilgerichtsbarkeit kein Richter selbst bei krassen Fehlentscheidungen ernsthaft befürchten, einem Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Rechtsbeugung ausgesetzt zu werden, das mit einer Anklage endet. Der Zugang zum Restitutionsverfahren darf aber nicht durch unerfüllbare prozessuale Erfordernisse von vornherein faktisch ausgeschlossen werden, die einen Immunitätsstatus des Richters bewirken würden612. Denn hat der Gesetzgeber einen Rechtsbehelf eingeführt, muss dieser hinsichtlich seiner Effektivität auch den verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen entsprechen. Völlig ineffektive Rechtsbehelfe als Produkte einer reinen Alibi-Gesetzgebung dienen weder den Parteien noch der Entlastung des BVerfG. Wie von Braun seit langem gefordert, bedarf es zwar zunächst einmal einer Berichtigung der außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 579 I Nr. 4 und 580 Nr. 5, 581 I ZPO, die jenen Mindestanforderungen des Justizgewährungsanspruchs gerecht wird und zugleich die Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils in Extremfällen sachlicher Unrichtigkeit rechtfertigt. Dennoch genügt dies nicht im Falle des Tatverdachts einer Rechtsbeugung, um die Wiederaufnahme effektiv zu erreichen, da es bei der Begründetheitsprüfung der auf § 580 Nr. 5 ZPO gestützten Restitutionsklage auf die Anwendung des § 339 StGB ankommt, an dessen Auslegung die Klage letzten Endes dennoch zu Unrecht scheitern kann. Denn trotz der BGH-Entscheidung 2 StR 479/13 bleibt den Strafverfolgungsbehörden immer noch ein erheblicher Spielraum bei der Beurteilung der Voraussetzung im Einzelfall, ob der Richter die Bedeutung der von ihm gebrochenen Rechtsnorm für das Rechtssystem im Rahmen des von ihm geführten Verfahrens erkannt haben musste. Es bleibt daher die Frage, ob der Gesetzgeber nicht doch veranlasst werden sollte, den Tatbestand des § 339 StGB entsprechend den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit eines Straftatbestands so weitgehend zu konkretisieren, dass bei tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Rechtsbeugung die Überprüfung der rechtskräftigen Entscheidung als gesetzlich gebotene Folge auch wirklich gewährleistet ist613.

611 Amelung, Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung, ZStW 1980, 30; Noll, Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung, ZStW 1980, 73; Schreiber, Ist eine Effektivitätskontrolle von Strafgesetzen möglich?, in: Schäffer/Triffterer (Hrsg.), Gedächnisschrift für J. Rödig, 1984, 178, 180. 612 Dazu Scheffler/Mathies, Rechtsbeugung und Immunität, in: FS Seebode, 2005, S. 317. 613 So Fischer (Fn. 21), § 339 Rn. 31.

§ 15 Vorschlag zu einer Reform des § 339 StGB

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I. Zur Anwendbarkeit der Strafvorschrift Zunächst etwas Grammatikalisches: Die Vorschrift besteht aus einem Haupt- und einem Nebensatz, die zusammen einen Konditionalsatz bilden, der von einem Relativpronomen eingeleitet wird. Es handelt sich um eine konsekutive Subjunktion, bei der die Handlung im untergeordneten Satzteil eine Folge der Handlung des übergeordneten Satzteils ist614. Der Nebensatz enthält die „Bedingung“, der Hauptsatz die Folge. Die „Bedingung“ erschöpft sich jedoch in dem unbestimmten Rechtsbegriff „Rechtsbeugung“ ähnlich wie bei § 185 StGB in dem – allerdings weit eher bestimmbaren – Begriff der Beleidigung615. Der Tatbestand enthält außer dem Hinweis darauf, wer als Täter bei der „Beugung des Rechts“ in Betracht kommt, keine weiteren Antezedenzbedingungen und Anhaltpunkte dafür, welches Verhalten denn konkret die Strafbarkeit auslösen soll. Hätte der Gesetzgeber die beiden Satzglieder mit sog. konditionalen Konnektoren verbunden, also in einen Wenndann-Zusammenhang gestellt616, so dass die Vorschrift lauten würde: „Wenn sich der Richter einer Beugung des Rechts schuldig macht, (dann) wird er …“, wäre dieser Mangel an Bedingungen noch auffälliger geworden. Jedenfalls fragt Kargl angesichts des Wortlauts dieser Rechtsnorm zurecht: „Wie soll ein Gesetz, das sich prinzipiell der Eingrenzung entzieht, gebrochen werden?“617 Soweit im Gesetz klare Grenzen zwischen falsch und richtig nicht mehr vorstellbar seien, werde „der Gesetzesinhalt auf einem ,Spielplatz‘ ausgetragen, dessen Regeln von vorfindbaren staatlichen oder gesellschaftlichen Notwendigkeiten bestimmt werden“. Sofern mit einem solch ambivalenten Instrumentarium „teleologische Auslegung, Bagatellprinzip, Opportunität, Absehen von Strafe, Wiedergutmachung oder Diversion Einzug in das Strafrecht hielten, seien im Großen und Ganzen „Entkriminalisierung und Nicht-Geltung des Gesetzes angesagt“. Hoenigs geht sogar soweit, die Ansicht zu vertreten, der Tatbestand gehöre überhaupt abgeschafft618. Zu prüfen ist daher, inwieweit die Norm überhaupt die verfassungsrechtlichen Vorgaben an die Bestimmtheit von Strafvorschriften erfüllt:

614

Duden, Die Grammatik, 9. Aufl. 2016, Rn. 950. Dazu Sven Großmann, Der Beleidigungstatbestand: Partielle Reform oder grundlegende Revision?, GA 2020, 546 – 563, der sich mit den Strafverschärfungen für Beleidigungen menschenverachtenden Inhalts und von (Cyber-)Mobbing-Angriffen beschäftigt, die das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität (BT-Drs. 19/17741, S. 35) sowie der Bayerischen Diskussionsentwurf für ein Gesetz zur nachdrücklichen strafrechtlichen Bekämpfung der Hassrede und anderer besonders verwerflicher Formen der Beleidigung vom 04. 11. 19 vorsieht. 616 Duden (Fn. 615), Rn 1772. 617 Walter Kargl, Die Rechtsbeugung – ein Exempel des Abbaus strafrechtlicher Gesetzlichkeit, Haffke-Symposium, 2009, 39. Dazu Thomas-Michael Seibert, Rechtsbeugung: Heimsuchung durch Gespenster, in: FS Kargl 2015, 545. 618 Maike Hoenigs, Der Straftatbestand der Rechtsbeugung: Ein normativer Antagonismus zum Verfassungsprinzip der richterlichen Unabhängigkeit, KritV 2009, 303. 615

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1. Zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift Zweifelsohne hätte der BGH hinreichend Anlass gehabt, die Vorschrift nach Art. 100 I GG dem BVerfG zur Prüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit mit der Begründung vorzulegen, dass sie nicht die Bestimmtheitserfordernisse des Art. 103 II GG, § 1 StGB erfülle und eine unverhältnismäßig hohe Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe enthalte, die keine Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153a StPO mehr zulasse. Hierbei hätte er sich darauf berufen können, dass eine Strafrechtsnorm umso präziser sein müsse, je schwerer die angedrohte Strafe ist619. Doch hat sich der BGH selbst für befugt gehalten, die Vorschrift zu konkretisieren, was möglicherweise einen Verstoß gegen das Verwerfungsmonopol des BVerfG darstellte. Grund dieser Unterlassung mag gewesen sein, dass das BVerfG die Anforderungen an konkrete Normenkontrollanträge durch Errichtung hoher Zulässigkeitshürden erheblich verschärft hat, um eine Vorlagenflut zu vermeiden. Wie sich gerade bei § 339 StGB gezeigt hat, hatte das allerdings zur Folge, dass sich die Fachgerichte teilweise zu einer „unbegrenzten Auslegung“ der Gesetze veranlasst sahen620. Dadurch wurde nicht nur deren Gesetzesgehorsam unterminiert, sondern auch der Respekt vor den Gerichten geschwächt. Im Ergebnis führte die frühere Rechtsprechung des BGH jedenfalls dazu, dass der Vorschrift weitgehend die instrumentelle Funktion abgesprochen wurde, um sie im Wesentlichen nur noch in ihrer symbolischen Funktion aufrechtzuerhalten. Struck621 führte als Beispiel für eine Rechtsnorm mit nur symbolischer Funktion die Vorschrift des § 108e StGB (Abgeordnetenbestechung) an. Seit der Maskenaffäre wird nunmehr sogar deren Hochstufung zum Verbrechen gefordert. § 339 StGB ist jedoch kein Produkt einer Alibigesetzgebung, sondern eine Vorschrift, die erst nachträglich infolge bewusster Nichtanwendung seitens der Strafverfolgungsbehörden faktisch bis zur Nichtgeltung verkümmerte. Wenn jedoch ein Täter schon gar nicht mehr zu befürchten braucht, dass seine „Tat“ entdeckt und entsprechend als Straftat verfolgt wird, ist die Strafandrohung selbst in ihrer Funktion als psychologischer Zwang untauglich. Folglich könnte behauptet werden, § 339 StGB sei nicht einmal insoweit faktisch wirksam, als dessen Appellwirkung gegenüber den Richtern greift. Ohnehin dürfte die Sanktionserwartung, also die Furcht, sich wegen Rechtsbeugung strafbar zu machen, als Motiv für das in der Regel „Gesetz und Recht“ beachtende Entscheidungsverhalten der Richter selbst im Unterbewusstsein kaum eine Rolle spielen. Vielmehr ist im Zweifel davon auszugehen, dass die Richter bei ihren Entscheidungen und deren Begründungen in erster Linie rein pragmatisch darauf bedacht sind, dass ihre Urteile im Rechtsmittelzug möglichst aufrechterhalten bleiben622. 619

Fischer (Fn. 21), § 1 Rn. 5 – 5c. Hillgruber, JZ 2011, 861, 866. 621 Struck (Fn. 78), S. 178 f. 622 Das bestätigen die Beobachtungen Lautmanns (Fn. 78), S. 167, die zeigen, wie sehr es den Vorsitzenden Richtern darauf ankommt, die Urteile ihrer Kammern „revisionssicher“ zu begründen“. In Strafsachen kann deren Angst vor einem erfolgreichen Rechtsmittel z. B. dazu 620

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Jedenfalls dürfte sich eine Vorlage an das BVerfG aufgrund der BGH-Entscheidung 2 StR 479/13 erledigt haben. 2. Unzulässigkeit einer „authentischen Interpretation“ des Gesetzgebers Erweist sich ein Gesetz als unklar oder stellt sich nachträglich heraus, dass dessen Auslegung durch die Gerichte der Regelungsintension des Gesetzgebers widerspricht, so hat dieser grundsätzlich die Möglichkeit der Klarstellung oder Selbstkorrektur jenes Gesetzes durch Erlass eines „Reparaturgesetzes“. Wegen des Rückwirkungsverbots kommt dies allerdings nur mit ausdrücklich verordneter Exnunc-Wirkung in Betracht, um auch eine als bloß deklaratorische Klarstellung getarnte Rückwirkung zu verhindern. Das gleiche Problem stellt sich bei der sog. authentischen Interpretation623. Denn auch sie beinhaltet notwendig den Anspruch auf Rückwirkung, indem sie die Behauptung impliziert, das Gesetz habe immer schon, also schon seit seinem Inkrafttreten, so verstanden werden müssen. Deshalb ist sie nach unstreitiger Rechtsprechung des BVerfG unzulässig, da zur verbindlichen Auslegung einer Norm letztlich allein die rechtsprechende Gewalt berufen ist624. Diese Prüfungskompetenz der Gerichte kann der Gesetzgeber nicht mit der Behauptung unterlaufen, seine Norm habe (nur) klarstellenden Charakter. Eine durch einen Interpretationskonflikt ausgelöste Normsetzung ist somit nicht anders zu beurteilen als eine durch sonstige Gründe veranlasste Gesetzesänderung.

II. Eigener Vorschlag zur Reform des § 339 StGB Dem Restitutionskläger als angebliches Opfer einer Rechtsbeugung geht es nicht vorrangig um die Bestrafung des tatverdächtigen Richters, sondern in erster Linie um einen effektiven Rechtsschutz gegen die greifbar gesetzwidrige Entscheidung auch nach Eintritt der Rechtskraft. Die Strafgesetzgebung hat jedoch die Strafvorschrift des § 339 StGB naturgemäß nicht auf die restitutionsrechtlichen Sinnzusammenhänge zugeschnitten625. Der Verhängung von Sanktionen gegen den Richter persönlich bedarf es ausschließlich zur Reinhaltung der Amtsführung und damit zum Schutz der innerstaatlichen Rechtspflege, wobei darauf abzustellen ist, welche Rechtsgüter die Vorschrift des § 339 StGB als echtes Sonderdelikt schützt, nämlich wie gesagt die Rechtspflege gegen Angriffe „von innen“, die Individualrechtsgüter

führen, dass von zwei angeklagten Delikten das schwerer nachzuweisende einfach fallen gelassen und dafür das Strafmaß für das andere entsprechend erhöht wird. 623 Dazu Schnapp, Unbegrenzte Nachbesserung von Gesetzen bei unklarer und verworrener Rechtslage?, JZ 2011, 1125, 1128 f. 624 BVerfGE 126, 369, 392 f. 625 MüKo ZPO (Fn. 3), § 580 Rn. 15.

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und die Unparteilichkeit der Rechtspflege626. Zur Durchführung der Verfahrensfehlerrestitution muss jedoch einer der in § 580 ZPO vorausgesetzten Straftatbestände erfüllt worden sein. Nach der Berichtigung des § 581 I ZPO kommt es daher darauf an, dass die Tatbestände dieser Strafvorschriften gesetzgebungstechnisch so genau formuliert werden, dass deren Anwendbarkeit im konkreten Fall auch durch die Zivilgerichte gewährleistet ist. Dem soll der folgende Reformvorschlag gerecht werden.

1. Kriminologische Vorüberlegungen Die Rechtsbeugung wurde als Verbrechen eingestuft. Dennoch mangelt es an der Sanktionswirkung. Kriminalität ist als subjektiv sinnhaft vollzogene Handlung zu verstehen und nicht als objekthaft gegebenes, naturalistisch beobachtbares Verhalten. Was als „kriminelles Verhalten“ zu gelten hat, erfolgt durch Zuschreibung des Gesetzgebers im Strafrecht, das damit die Vorstellungen der Gesellschaft von dessen Strafwürdigkeit zum Ausdruck bringt. Die Rechtsnorm, die eine strafbare Handlung tatbestandlich definiert, ist daher das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses. Fraglich ist nur, nach welchen Kriterien diese Zuschreibung zu erfolgen hat627. Das Besondere an der Rechtsbeugung besteht darin, dass mit ihr vom Täter unter Berufung auf seine richterliche Unabhängigkeit dem Opfer gegenüber auch noch vorgetäuscht wird, sein Verhalten sei legitim und voll vom Recht gedeckt. Schon das mindert erheblich die Entdeckungswahrscheinlichkeit. Das Opfer rechnet nicht mit einer solchen Tat, weil sie ökonomisch gesehen für den Richter keinen Vorteil bringt, sondern allenfalls Arbeitserleichterung. Denn – wie dies Fischer zutreffend festgestellt hat –, wird die Rechtswirklichkeit „nicht von Fällen rechtsfeindlicher Entscheidungen gegen ,elementare Rechtsgrundsätze‘ (geprägt), sondern von Fällen bewusst unvertretbarer Verfahrensbehandlung, teils zur Arbeitserleichterung, teils zur Erreichung ,gerechter‘ Ergebnisse“628. Das aber ist für die Prozesspartei und selbst für deren Anwalt nicht immer offen erkennbar. Maßgeblichen Einfluss auf das Verhalten des Richters können daher grundsätzlich nur die Entdeckungswahrscheinlichkeit und die Sanktionserwartung haben. „Anstatt von kriminellem Verhalten auszugehen und rückblickend nach den möglich kausal determinierenden Ursachen dieses Verhaltens zu fragen“, sollte demzufolge „umgekehrt von potentiell kriminalitätsbegünstigenden Faktoren ausgegangen werden und in Verlaufsstudien prospektiv geprüft werden, unter welchen Randbedingungen bei Vorhandensein dieser Faktoren in Zukunft wirklich Kriminalität auftritt …“629. 626

950. 627

LK-Hilgendorf (Fn. 41), § 339 Rn. 4; Kern (Fn. 40), § 2; OLG Naumburg, JuS 2012,

Karl-Ludwig Kunz, Kriminologie, 5. Aufl. 2008, § 1 Rn. 17, § 15 Rn. 15; ders., Unentdeckte Straftaten aus konstruktivistischer Sicht – ein Beitrag zum Verständnis des Dunkelfelds, MschrKrim 2020, 150. 628 Siehe Fn. 460. 629 Karl-Ludwig Kunz (Fn. 628), § 17 Rn. 20, 21 und 28.

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Diese Faktoren liegen offen zu Tage: Es sind dies die richterliche Tätigkeit als solche und die Unbestimmtheit der Norm. Jeder Richter kann in seiner Funktion jederzeit nicht nur versehentlich, sondern auch elementar gegen Recht und Gesetz verstoßen und dies noch dazu, ohne insoweit einer speziell darauf gerichteten Kontrolle ausgesetzt zu sein. Denn auch vom Instanzgericht wird seine Entscheidung nur auf ihre Vertretbarkeit, nicht aber auch auf ihre strafrechtliche Relevanz hin überprüft, da sich die Zivilrichter auch bei bestehendem Tatverdacht nicht als Ermittlungsbehörde betätigen, obwohl sie grundsätzlich nicht daran gehindert wären, die Akte der Staatsanwaltschaft zur Überprüfung vorzulegen. In diesen Fällen bleibt es daher stets dem vermeintlichen Opfer überlassen, in Eigeninitiative gegen den Richter Strafanzeige wegen Rechtsbeugung bei der Staatsanwaltschaft einzureichen, auf deren sachgerechte Beurteilung sich dann seine Erwartungen richten müssen. Da die Entdeckungswahrscheinlichkeit so gering ist, bringt es diesem auch nichts, dass die Tat sogar als Verbrechen eingestuft wurde. Denn „die Höhe der gesetzlich angedrohten und von den Gerichten verhängten Strafe beeinflussen im Allgemeinen weder die Hemmschwelle für Folgetaten im Sinne der Abschreckung potentiell Tatgeneigter noch das Ausmaß der Normakzeptanz im Sinne der positiven Generalprävention630. Selbst beim richterlichen Entscheidungsverhalten spielt wie gesagt die Sanktionserwartung praktisch keine Rolle. Demzufolge kann es bei einer Neugestaltung des § 339 StGB nur darum gehen, die Entdeckungswahrscheinlichkeit zu steigern, um damit den Vollzug der Vorschrift sicherzustellen, und zwar bereits bei der Staatsanwaltschaft. Dazu dürfte es nicht genügen, diese zur strikten Verfolgung der Tat anzuweisen, zumal dafür erst einmal das Dunkelfeld der Rechtsbeugung erhellt werden müsste. Vielmehr sollten zuerst die Tatbestandmerkmale näher bestimmt werden: 2. Folgerungen für die Neugestaltung der Vorschrift Ziel der Neugestaltung des § 339 StGB sollte daher sein, der Vorschrift eine Fassung zu verleihen, durch die das Bestimmtheitsgebot des § 1 StGB gewahrt und damit die Anwendbarkeit sowie der Vollzug der Vorschrift sichergestellt wird, also die bislang fehlende Sanktionswirkung. Dies würde auch der Selbstreinigung der Justiz dienen, deren Interesse schließlich stets auf eine Erhellung des Dunkelfelds der Rechtsbeugungen und deren regelmäßige Verfolgung gerichtet sein sollte. Entscheidend ist dabei auch die Festlegung des Strafrahmens, d. h. die Einstufung als Vergehen oder als Verbrechen wie bisher. Grundsätzlich ist zwar Bemmann, Seebode und Spendel zu folgen, dass es sich bei der Rechtsbeugung um „eines der übelsten Verbrechen“, handelt, weil es dadurch gekennzeichnet sei, dass „der Richtende, der berufene Hüter des Rechts, seine hoheitliche Aufgabe ,verkehrt‘ und, statt das Recht zu ,richten‘ und zu wahren, das Recht ,biegt‘ und ,beugt‘“631. Um dieses Delikt zu 630 631

Kunz (Fn. 628), § 25 Rn. 9. Bemmann/Seebode/Spendel (Fn. 21), S. 307.

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bekämpfen oder gar auszurotten, muss jedoch nicht weiter die Höchststrafe angesetzt werden, wenn sich herausgestellt hat, dass die Vorschrift zu erodieren droht, weil ihr keine Sanktionswirkung mehr zukommt. Denn die Tat lässt sich wie gesagt weniger durch die Sanktionshärte als durch die Sanktionswahrscheinlichkeit verhindern. Daran würde sich auch durch die Einführung eines minder schweren Falls nichts ändern, zumal damit die Rechtsfolge des § 45 StGB nicht ausgeschlossen wäre. So meinte auch Berlit in der Gedächtnisschrift für Seebode, die Herabstufung zum Vergehenstatbestand könnte jedenfalls „die psychologischen Anwendungshindernisse mildern“, die sich aus der gesetzlich vorgegebenen Sanktionshärte ergeben haben632. Zwar werde damit versucht, „die Abgrenzungsbedürfnisse modernen Haftungsrechts mit der strafrechtlichen Eigenlogik zu verknüpfen, ohne die jeweiligen Regelungszwecke zu beachten“. Dennoch sei eine strafrechtliche Entschärfung des Rechtsbeugungstatbestands unabhängig vom Haftungsrecht angezeigt, „um den strafrechtlichen Schutz vor massiven Qualitätsmängeln in der Justiz, die krasse Fehlentscheidungen bedeuten, zu verbessern“. Denn eine weitgehend leerlaufende Strafnorm verfehle ihr Ziel. a) Aufspaltung des Tatbestands in zwei eigenständige Delikte Dieses Ziel dürfte allerdings nur durch eine Aufspaltung der Norm in zwei eigenständige Straftatbestände etwa folgendermaßen zu erreichen sein: Zunächst sollte als erster Schritt aus der Gesamtheit der elementaren richterlichen Verstöße gegen die Rechtspflege, die nach der Vorstellung des Gesetzgebers tatbestandsmäßig unter den Begriff Rechtsbeugung fallen, der spezielle Fall der (bedingt) vorsätzlichen schwerwiegenden Verletzung der Verfahrensgrundrechte ausgegliedert und als ein eigener Deliktstypus mit eigenem Namen – z. B. „Rechtsmissbrauch“ – unter Strafe gestellt werden. Denn diese Variante der Rechtsbeugung durch Verletzung prozessualer Normen tritt erstens relativ häufig auf, kann zweitens tatbestandsmäßig genau beschrieben werden und würde drittens die Bedeutung der Verfahrensgrundsätze für die Entscheidung von Zivilrechtsstreitigkeiten nochmals besonders hervorheben. Dass es sich auch bei der Verwirklichung dieses neuen Straftatbestands grundsätzlich um Rechtsbeugung handelt, muss nicht daran hindern, diese spezielle Art der Tatbestandsverwirklichung getrennt unter Strafe zu stellen, um dafür eine Sonderregelung treffen zu können ähnlich wie für einen minderschweren oder besonders schweren Fall. Im zweiten Schritt sollte dieser neue Straftatbestand dann dem § 339 StGB in seiner bisherigen Fassung als lex specialis vorangestellt werden. Der Sinn und Zweck der Ausgliederung dieser speziellen Variante der Rechtsbeugung aus der Vorschrift des § 339 StGB und deren Implementierung als eigene Strafvorschrift in das StGB bestünde darin, die schwerwiegende Verletzung der Verfahrensgrundrechte zum Zwecke des effizienteren Vollzugs lediglich als Vergehen i. S. des § 12 II StGB 632

Siehe Fn. 4.

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einstufen zu können, so dass nur die übrigen – vom Gesetzgeber nicht näher bestimmten – elementaren Verstöße gegen die Rechtspflege weiter als Rechtsbeugung und damit als Verbrechen i. S. des § 12 I StGB strafbar blieben. Für die Strafbarkeit dieser restlichen Fälle der Rechtsbeugung würden dann die gleichen Kriterien gelten wie bisher. Die Differenzierung beim Strafmaß wäre gerechtfertigt, da dies zum einen zumindest die dringend gebotene Strafverfolgung der Verstöße gegen die Verfahrensgrundrechte sicherstellen und zum anderen zugleich die Verfahrensfehlerrestitution erleichtern würde. b) Zur Strafbarkeit der schwerwiegenden Verletzung der Verfahrensgrundrechte Dieser Vorschlag zur Schaffung eines eigenen Deliktstypus bezogen auf die Verletzung der Justiz- oder Verfahrensgrundsätze setzt also voraus, dass ein solches richterliche Entscheidungsverhalten auch ohne diese neue Rechtsnorm mit Namen „Rechtsmissbrauch“ als Rechtsbeugung strafbar wäre. Dies bedarf noch der Klarstellung: Geht man einmal von dem entscheidenden Kriterium aus, auf das es nach der Grundsatzentscheidung BGH 2 StR 479/13 für die Strafbarkeit eines bestimmten richterlichen Entscheidungsverhaltens als Rechtsbeugung ankommt, nämlich darauf, dass der Täter die Schwere des Rechtsverstoßes, also die Bedeutung der von ihm gebrochenen Rechtsnorm für das Rechtssystem im Allgemeinen und für den zu entscheidenden Fall im Besonderen im Rahmen des von ihm geführten Verfahrens erkannt haben muss, so dürfte feststehen, dass es auch und gerade die Verfahrensgrundrechte sind, auf deren Einhaltung der Richter in ganz besonderem Maße zu achten hat. Darauf, welche Bedeutung ihnen zukommt, haben die Zivilgerichte des BGH in mehreren Entscheidungen nochmals ausdrücklich hingewiesen633. Insbesondere hat auch das BVerfG wiederholt betont, dass die Grundrechte, zu denen in diesem Zusammenhang auch die Verfahrensgrundrechte zählen dürften, nicht nur einen materiell-rechtlichen, sondern auch einen prozeduralen Gewährleistungsgehalt haben. Neben dem Grundrechtsschutz im Verfahren stehe derjenige durch Verfahren634. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, dass auch und gerade die verfassungsrechtlichen Vorschriften zu den Verfahrensgrundrechten zu den prozessualen Normen zählen, deren Verletzung zur Bestrafung wegen Rechtsbeugung grundsätzlich genügt635. Nötig ist lediglich, dass durch die Verfahrensverletzung die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung begründet wird, wobei jedoch ein Vor633 Siehe dazu Siegmann, Grundrechtsgleiche Verfahrensrechte in der Rechtsprechung des BGH, JZ 2017, 598, darin zum Fairnessgrundsatz S. 603; ferner Geisler, Der Zivilprozess lebt noch – BGH-Rechtsprechung für die Praxis, AnwBl 2017, 1046 – 1071, darin zur Hinweispflicht, zum Verbot von Überraschungsentscheidungen und zum Fairnessgrundsatz S. 1049 ff. 634 So u. a. BVerfGE 61, 82, 110 = NJW 1982, 2173; 116, 135, 153 = NJW 2006, 3701, dazu M. Sachs, in: JuS 2007, 166 ff. sowie T. André/D. Sailer, in: JZ 2011, 555, 561. 635 Fischer (Fn. 21), StGB, § 339 Rn. 17 mit Hinweis auf u. a. auf BGH 32, 357 und 47, 105, 109.

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oder Nachteil für eine Partei nicht eingetreten sein muss636. Hinsichtlich des Verfahrensgrundrechts des Art. 103 I GG käme es dadurch zwar zu einer Überschneidung mit dem Klagerecht aus der Nichtigkeitsklage in der erweiterten Auslegung des § 579 I Nr. 4 ZPO. Dies jedoch nur dann, wenn die Gehörsverletzung im Einzelfall auch tatsächlich strafbar sein sollte, was jedoch nach BGH 2 StR 479 /13 keineswegs stets der Fall wäre. Zugleich wäre damit auch der „praktisch sinnlosen Diskussion“637 über das (Schein-)Problem der analogen Anwendbarkeit des § 321a ZPO auf die Verletzung der übrigen Verfahrensgrundrechte ein Ende gesetzt. Somit dürfte auch klargestellt sein, dass durch das Ausgliedern dieser speziellen strafbaren Variante der Rechtsbeugung aus § 339 StGB trotz der geringeren Strafzumessung kein minderschwerer Fall der Rechtsbeugung geregelt wird, sondern dass es sich bei dem neuen Delikt um eine selbständige Abwandlung des Verbrechens der Rechtsbeugung mit alternativem Tatbestand handelt638. Diese ausgegliederte Variante der Tat wäre folglich als ein delictum sui generis zu qualifizieren, das sich zur Rechtsbeugung so verhalten würde wie z. B. Diebstahl zu Raub oder § 242c zu 242 StGB. Dazu, wie der Tatbestand dieser neu zugestaltenden Strafvorschrift formuliert werden sollte, wird unter § 16 I ein Entwurf vorgelegt.

III. Folgerungen aus der Berichtigung der §§ 579 Nr. 4, 581 ZPO mit 339 StGB 1. Anspruch auf Strafjustizgewähr des Opfers im Falle des Verdachts der Rechtsbeugung? Damit bleibt noch zu prüfen, ob der Prozesspartei als potentielles Opfer einer Rechtsbeugung bei Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts ein subjektiv öffentliches Recht auf Strafjustizgewähr gegen die Judikative dahingehend zusteht, dass gegen den beschuldigten Richter dieserhalb Anklage erhoben und ein Strafverfahren durchgeführt wird. Hier ist nochmals auf den Kammerbeschluss des BVerfG vom 19. 05. 15639 hinzuweisen, wonach bei „Straftaten gegen Opfer, die sich in einem besonderen Obhutsverhältnis zur öffentlichen Hand befinden, sowie bei Delikten von Amtsträgern“ im Falle erheblicher Straftaten gegen das Leben … und die Freiheit der Person ein „Anspruch auf effektive Strafverfolgung Dritter“ in Betracht kommt. Es müsse gewährleistet sein, dass „Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen dieser Rechtsgüter auch tatsächlich zur Verantwortung ge636

Fischer (Fn. 21), StGB, § 339 Rn. 23 mit Hinweis auf BGH 42, 343, 346. So Seer/Thulfaut (Fn. 385), BB 2005, 1085, 1086. 638 Siehe zu den drei Möglichkeiten miteinander verbundener Tatbestände Fritjof Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 1996, § 1 3 b. 639 JZ 2015, 890 mit kritischen Anmerkungen die Entscheidungsbegründung betreffend von Tatjana Hörnle und Klaus F. Gärditz, sowie Hörnle, JZ 2015, 893. 637

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zogen werden“. Auch sei bereits der Anschein zu vermeiden, „dass gegen Amtswalter des Staates weniger effektiv ermittelt wird oder insoweit erhöhte Anforderungen an eine Anklageerhebung gestellt werden“. Ein solcher Anspruch des Opfers dürfte bei hinreichendem Tatverdacht der Rechtsbeugung jedenfalls nach der zuletzt genannten Variante klar zu bejahen sein, also selbst dann, wenn das zwischen Richter und Partei bestehende Fürsorgeverhältnis nicht einem Obhutsverhältnis gleichgestellt werden kann. Denn zweifelsfrei handelt es sich bei der Rechtsbeugung um eine erhebliche Straftat gegen die Freiheit einer Person i. S. der Art. 2 II 2 in Verb. mit Art. 1 I 2 GG. Abzuleiten ist der Anspruch auch aus dem Rechtsstaatsprinzip. Das BVerfG hatte noch in seinen älteren Entscheidungen einen generellen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Strafverfolgung abgelehnt, da ein Ausgleichsanspruch des Verletzten gegen den Staat wegen des Verlustes archaischer „Selbstjustizbefugnisse“ nicht anerkannt werden könne640. Gegen die „Kehrtwende“ des Gerichts wurden von Verfassern der Beschlussanmerkungen aber keine ernsthaften Bedenken erhoben, sondern nur gegen deren Begründung. Vielmehr sei die verfassungsrechtliche Aufwertung von Opferansprüchen positiv zu bewerten641. Schon Wilfried Holz hatte die Ansicht vertreten, dass der Verletzte einer Straftat Anspruch auf ein Unwerturteil gegen den Täter auf Restitution des durch die Straftat lädierten Normvertrauens habe642. Ihm stehe daher generell ein subjektives Recht gegen den Täter auf Strafjustizgewährung zu. Abzuleiten sei dieses Recht aus der Verpflichtung des Staates zum Schutz der Grundrechte, die auch den Schutz des Vertrauens der Bürger auf Gewährung von Sicherheit umfasse. 2. Analoge Anwendbarkeit des § 580 Nr. 5 ZPO auch auf nicht strafbewehrte greifbare Gesetzwidrigkeiten Die Ansicht, dass diese Analogie „zwingend geboten“ sei, ist bislang nur von H.G. Borck in einem Aufsatz aus dem Jahre 1999 vertreten worden643 : Borck stellt der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO die (damals noch gebräuchliche) außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit gegenüber, prüft dann, „ob das, was unter der ,Greifbarkeit‘ der Gesetzwidrigkeit verstanden werden soll, der Bedeutung der Strafbarkeit im System der Restitutionsgründe entspricht“, um daraufhin festzustellen, dass der Zweck der Strafbarkeit nur darin bestehen kann, die Restitutionsklage auf solche Fälle zu beschränken, in denen die Grundlagen des Urteils evident – um nicht zu sagen ,greifbar‘ – erschüttert“ wurden, und kommt 640 Th. Weigend, „Die Strafe für das Opfer“? – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht, RW 2010, 39, 45, 54. Auch er leitet jedoch aus Art. 2 I mit 1 I GG einen subjektiven Anspruch auf Durchführung eines Strafverfahrens ausnahmsweise für Verletzte schwerer Straftaten ab. Siehe auch R. P. Anders, Straftheoretische Anmerkungen zur Verletztenorientierung im Strafverfahren, ZStW 2012, 375, 387 ff. 641 Hörnle (Fn. 640), S. 894. 642 W. Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 133 ff. 643 Borck, Wiederaufnahme wegen „greifbarer Gesetzwidrigkeit“?, WRP 1999, 478.

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schließlich zu dem Ergebnis, dass die greifbare Gesetzwidrigkeit, die auch für den judex a quo evident ist, dem Merkmal der Strafbarkeit des richterlichen Verhaltens in §§ 580 Nr. 5, 581 ZPO gleichzusetzen sei. Dies mit der Folge, dass die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO auch auf nicht strafbare, aber greifbar gesetzwidrige Spruchtätigkeit analoge Anwendung fände. Wie unter § 5 II. 2. c) ausgeführt, beinhaltet die ungeschriebene, an den Richter adressierte Verhaltensnorm, die hinter der Sanktionsnorm des § 339 StGB steht, nicht nur das strikte Verbot, das Recht zu beugen, sondern eine darüber hinaus weitaus umfassendere Sollensanordnung, nämlich die, bei seiner Spruchtätigkeit überhaupt Rechtsmissbrauch, Rechtsbeugung und („bewusste“) greifbare Gesetzwidrigkeiten zu unterlassen. Dass der Gesetzgeber unter diesen Varianten abweichenden richterlichen Entscheidungsverhaltens nur die Rechtsbeugung ausgewählt hat, um sie zu kriminalisieren, steht dazu absolut nicht in Widerspruch und hindert ihn keineswegs, auch greifbare Gesetzwidrigkeiten des judex a quo in Gestalt der entscheidungserheblichen Verletzungen eines Verfahrensgrundrechts als nicht strafbewehrte Amtspflichtverletzung zu sanktionieren, nämlich wie bei § 321a ZPO eben in der Weise, dass der Rechtsstab auf Antrag hin sein Entscheidungsverhalten im Wege der instanzinternen Selbstkontrolle nochmals zu überprüfen und ggf. zu revidieren hat. Die richterliche Unabhängigkeit wird dadurch in keiner Weise beeinträchtigt. Es geht auch insoweit allein um die Sicherstellung der Sachrichtigkeit der Entscheidung. Der Analogieschluss setzt als wertender Akt des Rechtsanwenders voraus, „dass der ,Rechtsgedanke‘ der analog anzuwendenden Vorschrift nach Sinn und Zweck auch auf den ungeregelten Sachverhalt so weitgehend zutrifft, dass die Gesetzgebung diesen ebenso geregelt haben würde“644. Dementsprechend soll hier die in § 580 Nr. 5 ZPO enthaltene Regelung, wonach die Restitutionsklage dann stattfindet, wenn sich der Richter bei seiner Mitwirkung im Verfahren „einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten gegen die Partei schuldig gemacht hat“, auf den nicht geregelten Fall ausgedehnt werden, dass diesem anstelle einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten (nur) eine grundsätzlich nicht strafbare greifbare Gesetzwidrigkeit in Form einer Verletzung eines Verfahrensgrundrechts zum Vorwurf gemacht werden kann. Zu fragen ist demnach, ob hier die Wertmaßstäbe, die den Gesetzgeber veranlassten, die Rechtsbeugung zusätzlich mittels der Restitutionsklage nach §§ 580 Nr. 5 ZPO zu sanktionieren, in gleicher Weise bei der Beurteilung des strukturell gleichen Falls anzulegen sind, dass dem Richter (lediglich) eine nicht strafbare greifbare Gesetzwidrigkeit zum Vorwurf gemacht werden kann. Bedenkt man, dass die Rechtsbeugung innerhalb der gesamten Breite des greifbar gesetzwidrigen richterlichen Verhaltens nur einen extremen Auswuchs dieses Verhaltens betrifft, der durch offizielle Zuschreibung645 seitens des Gesetzgebers sogar als Straftat stigmatisiert wurde, so muss diese Analogie im Zweifel bejaht werden. Denn keineswegs sollte dadurch das zivilprozessuale judikative Unrecht des übrigen, 644 645

Rüthers/Fischer (Fn. 114), Rn. 889, 894 f. mit 751. Dazu z. B. K.-L. Kunz, Kriminologie, 5. Aufl. 2008, § 1 Rn. 17 ff.

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nicht für strafbar erklärten greifbar gesetzwidrigen Verhaltens des Richters gänzlich verneint oder auch nur relativiert werden. Zwar trifft zu, dass der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Restitutionsklage ausdrücklich an eine strafbare Verletzung der Amtspflichten des Richters geknüpft hat. Aus der Sicht der Prozesspartei ist jedoch gleichgültig, ob der Richter, der sich bei seiner Spruchtätigkeit unbestreitbar einen offensichtlichen, jedem Zweifel entrückten Fehlgriff leistete, damit auch noch den Tatbestand eines Verbrechens verwirklichte. So meint auch Borck, dass schließlich „eine Entscheidung, welche unrichtig ist, weil sie auf einer greifbaren Gesetzwidrigkeit beruht, … nicht dadurch noch unrichtiger (werde), dass der Richter, der sie getroffen hat, hierfür bestraft wird“646. Aus der Existenz der Vorschrift des § 339 StGB kann daher keinesfalls e contrario gefolgert werden, dass greifbare Gesetzwidrigkeiten, die nicht zugleich den Tatbestand des § 339 StGB erfüllen, nach den Vorstellungen des Gesetzgebers keine (zivilrechtlich) beachtlichen Angriffe gegen die staatliche Rechtspflege „von innen“ darstellen sollten und es deshalb auch nicht nötig sei, sie überhaupt zu sanktionieren. Das rechtfertigt es, die Vorschriften der §§ 580 Nr. 5, 581 I ZPO auch analog auf Endurteile anzuwenden, die auf elementaren Verstößen gegen die Verfahrensgrundrechte beruhen. 3. Drittschützende Wirkung der sekundären Sanktionsnormen Damit die Prozesspartei, die in einem nicht mehr rechtsmittelfähigen Gerichtsverfahren Opfer einer Rechtsbeugung oder greifbaren Gesetzwidrigkeit des Gerichts wurde, prozessual in die Lage versetzt werden kann, vom Staat die Wiedergutmachung des ihr zugefügten judikativen Unrechts zu verlangen, muss ihr ein subjektivöffentliches Recht dieses Inhalts einschließlich der Klagebefugnis oder Klageberechtigung zustehen. Ein solches Recht ist nach der herrschenden Schutznormtheorie nur gegeben, wenn ein Rechtssubjekt das Verhalten eines anderen Subjekts einklagen kann. Es besteht dort, wo rechtliche Verhaltens- und Sanktionsnormen derart kombiniert sind, dass der Normbenifiziar bei Verletzung von Verhaltensnormen Sanktionen gegen den Urheber dieser Rechtsverletzung auslösen kann“647. Entscheidend ist dabei letztlich die Möglichkeit der gerichtlichen Durchsetzbarkeit einer bestimmten Verhaltensnorm: Als solche bietet sich den Prozessparteien die schon genannte, den Vorschriften der Art. 20 III, 97 I Hs. 2 GG, § 1 GVG, §§ 38, 46 DRiG, 54 BBG und 339 StGB zugrundeliegende ungeschriebene Verhaltensnorm an, nach deren Sollensanordnung der Richter bei seiner Spruchtätigkeit nicht nur strafbare Amtspflichtverletzungen zu unterlassen hat, sondern überhaupt jede greifbare Gesetzwidrigkeit insbesondere durch Verletzung der Verfahrensgrundrechte. Davon, ob jene Verhaltensnorm drittschützende Wirkung auf die Prozessparteien ausübt, hängt es ab, ob diesen auch eine Klageberechtigung zukommt. Es kommt also darauf an, ob sie nur darauf abzielt, die objektive Rechtsgeltung zu bewahren und Angriffe „von 646

Borck (Fn. 502), S. 483. Dazu Röhl/Röhl (Fn. 8), § 45 III und § 46; Groß, Die Klagebefugnis als gesetzliches Regulativ des Kontrollzugangs, Die Verwaltung 2010, 349, 351 ff. 647

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innen“ gegen die Rechtspflege zu verhindern, oder ob sie auch dem Schutz der einzelnen Prozesspartei als Adressat des richterlichen Handelns vor krasser Willkür zu dienen bestimmt ist. Für Letzteres spricht klar der Wortlaut des § 339 StGB („zugunsten oder zum Nachteil einer Partei“). Dennoch betrachteten Kuhlen und Lackner/Kühl den Schutz der Individualinteressen der Partei bislang als bloßen Schutzreflex jener Norm, wobei sie ihre Ansicht sogar als herrschend bezeichneten648. Die gegenteilige Ansicht sei „nicht damit verträglich, dass auch eine lediglich zum Vorteil einer Partei erfolgende Fehlentscheidung dem Tatbestand genügt“. Dem hält Kargl entgegen, dass die Tatsache, dass jede Beugung des Rechts die Besser- oder Schlechterstellung einer Partei zur Folge habe, doch nur die Aufwertung des Individualschutzes bestätige649. Unabhängig davon, ob es Fälle der Rechtsbeugung gäbe, bei denen es zu keiner Vorteils- oder Nachteilszufügung komme, werde mit dem Einwand nicht mehr gesagt, als dass eine falsche Entscheidung stets Auswirkungen auf subjektive Rechte habe. Da der Tatbestand mit der Wendung „oder“ einer Herausnahme der ausschließlichen Begünstigung widerspräche, müsse dem Bedenken Rechnung getragen werden, dass es in diesen Fällen eben nicht auf die Verletzung subjektiver Rechte des Einzelnen ankomme. Es sei schon schwierig, bestimmen zu müssen, wo genau die Grenzen zwischen Vorteil und Nachteil verlaufen. Doch selbst wenn man davon ausginge, dass diese Grenzziehung prinzipiell möglich ist und somit „Nur-Begünstigungsfälle“ existierten, führe dies nicht zur Beseitigung des Individualschutzes beim Rechtsgut der Rechtsbeugung. Dem ist zuzustimmen. Denn jedenfalls kann davon ausgegangen werden, dass mit dem Schutz der Rechtspflege im Zweifel zumindest mittelbar auch der Schutz des Einzelnen intendiert wurde. So meint auch Kuhlen, dass angesichts der „auch vertretbaren Gegenauffassung“ die seinerseits zugrunde gelegte Rechtsgutsbestimmung nicht überbewertet werden dürfe650. Das aber bedeutet, dass der Prozesspartei volle Drittschutzwirkung zukommt und nicht nur ein bloßer Schutzreflex. Auch fehlt es für die Anwendbarkeit der Schutznormtheorie nicht an der hinreichenden Bestimmtheit des geschützten Personenkreises. Damit steht der betroffenen Prozesspartei auch die Klageberechtigung zu. Herzuleiten ist dieses Abwehrrecht als subjektives Recht somit nicht aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG, sondern folgt selbst unabhängig vom allgemeinen Justizgewährungsanspruch aus der Tatsache, dass es dem einzelnen Prozessbeteiligten mittelbar – über die Drittschutzwirkung – kraft öffentlichen Rechts verliehen wurde.

648 649 650

NK-Kuhlen, StGB, 2003, § 339, Rn 15; Lackner/Kühl, StGB, 2007, § 339 Rn 2. Dazu Kargl (Fn. 154), S. 866 f. NK-Kuhlen (Fn. 647), § 339 Rn. 16.

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§ 16 Empfehlungen an die Gesetzgebung I. Folgerungen für den Gesetzgeber Abschließend gilt es dem Gesetzgeber Vorschläge zu unterbreiten, wie die durch die Evaluationen gewonnenen Erkenntnisse in entsprechende Gesetzesentwürfe umgesetzt werden könnten, so insbesondere bezogen auf die zu ändernde Vorschrift des § 339 StGB. Gemäß § 1 StGB muss die Tathandlung, um dem Bestimmtheitsgebot zu entsprechen, hinsichtlich des Subjekts, des Gegenstands und der Form als strafbar beschrieben sein. Normadressat der Vorschrift ist der Richter. Dieser muss vorhersehen können, wann und wo seine Entscheidungsprärogative endet und die Strafbarkeit seines Entscheidungsverhaltens beginnt. 1. Vorschlag zur Neugestaltung der Strafvorschrift des § 339 I StGB Der nachfolgende Formulierungsvorschlag sollte dazu geeignet sein, dem Richter zu ermöglichen, sein Entscheidungsverhalten auf die Rechtslage einzurichten. Das dürfte bei dem Entwurf der Fall sein, weil die Kenntnis der Justiz- oder Verfahrensgrundrechte zum fundamentalen Bestand des Fachwissens eines jeden Richters gehört. Insbesondere kann bei ihm vorausgesetzt werden, dass ihm im Sinne der BGH-Entscheidung 2 StR 479/13 die Bedeutung der Verfahrensgrundrechte sowohl für das Rechtssystem im Allgemeinen als auch für das von ihm geführte Verfahren im Besonderen bewusst ist, so dass er insoweit leicht zwischen richtig und falsch unterscheiden kann. Danach sollte die zu ändernde Vorschrift des § 339 StGB aufgeteilt in zwei eigene Strafnormen etwa folgenden Wortlaut erhalten: Rechtsmissbrauch und Rechtsbeugung § 339 StGB I Rechtsmissbrauch: Ein Richter oder Schiedsrichter, der sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zum Nachteil einer Partei in schwerwiegender Weise der entscheidungserheblichen Verletzung eines der Verfahrensgrundrechte schuldig macht, wird wegen Rechtsmissbrauch mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Als Verfahrensgrundrechte gelten insbesondere das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 IV GG, die Garantien aus Art. 101 I 2 GG und 103 I GG sowie die Europäischen Grundrechte aus Art. 6 I EMRK und 47 II GRC. II Rechtsbeugung: Ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsrichter, der sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache darüber hinaus in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei eines elementaren Verstoßes gegen die Rechtspflege schuldig macht, wird wegen Rechtsbeugung mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.

Danach wäre als Rechtsbeugung nur noch dasjenige richterliche Entscheidungsverhalten strafbar, das die in den beiden Leitsätzen der BGH-Entscheidung 2 StR 479/13 näher konkretisierten subjektiven und objektiven Voraussetzungen eines schweren Rechtsbruchs als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege erfüllen würde. D. h., der Täter müsste auf jeden Fall die Schwere des Rechtsverstoßes, also

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die Bedeutung der von ihm gebrochenen Rechtsnorm für das Rechtssystem im Rahmen des von ihm geführten Verfahrens erkannt und billigend in Kauf genommen haben. Auf seine persönliche Gerechtigkeitsvorstellung käme es dabei im Gegensatz zum Schweizer Verständnis des Amtsmissbrauchs nicht an. Ebenso wie dort genügte aber der bedingte Vorsatz651. Da das neue Delikt „Rechtsmissbrauch“ und das bisherige Delikt „Rechtsbeugung“ zwei eigene Deliktstypen bilden sollen, wäre natürlich auch deren Aufteilung in zwei gesonderte Paragrafen § 339 und § 339a StGB naheliegend. 2. Kodifizierung der Gehörverletzung als Wiederaufnahmegrund Diese Vorschrift betreffend ist nach der Rechtsprechung des BVerfG einerseits davon auszugehen, dass die Verfahrensgrundrechte auch den Gesetzgeber binden, weshalb es vorrangig vor den Gerichten zuerst dessen Aufgabe ist, diese zu konkretisieren652, und andererseits davon, dass der Rechtssuchende aufgrund der staatlichen Justizgewährungspflicht Anspruch auf einen lückenlosen und auch qualitativen Rechtsschutz hat653. Auch gebieten es die grundsätzlichen Erwägungen des BVerfG in dessen Plenarbeschluss vom 30. 04. 03, „die Rechtsschutzgarantie auch auf den Richter zu erstrecken“654. Demzufolge muss es den Prozessparteien ermöglicht werden, Rechtsschutz gegen judikatives Unrecht auch nach letztinstanzlichen Gerichtsverfahren einzufordern. Dem deutschen Gesetzgeber wird daher als Fazit dieser Evaluation zur Verbesserung der Effektivität des von der ZPO nur unzulänglich gewährleisteten Rechtsschutzes gegen entscheidungserhebliche Verletzungen der Verfahrensgrundrechte in den letztinstanzlichen Verfahren außerdem der Vorschlag unterbreitet, unter Aufhebung des § 321a ZPO die Vorschrift des § 579 ZPO über die Nichtigkeitsklage in Anpassung an das Unionsrecht um einen dritten Absatz mit folgendem Wortlaut zu erweitern: (3) Die Nichtigkeitsklage findet außer in den Fällen des Absatzes 1 auch dann statt, wenn das Gericht bei seiner Entscheidungsfindung ein Verfahrensgrundrecht im Sinne der Art. 6 Abs. 1 EMRK, 47 Abs. 2 GRC in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat. Soweit der Rechtsschutz nach deutschem Recht weiter reicht, ist diesem der Vorrang einzuräumen. Das gleiche gilt, wenn das Urteil nicht mit Entscheidungsgründen im Sinne des § 313 Abs. 1 Nr. 6 mit Abs. 3 ZPO versehen wurde, es denn, dass die Parteien in der Verhandlung vor Gericht ausdrücklich auf eine schriftliche Begründung verzichtet haben.

Durch eine solche Regelung mit Verweis auf die Mindeststandards der EMRKund Unionsverfahrensgrundrechte unter dem Vorbehalt, dass die deutschen Ver651

Vgl. Fischer (Fn. 21), zu § 339 Rn. 42. BVerfGE 10, 200, 213 und 63, 45, 61. 653 Krugmann (Fn. 133), S. 306 f.; Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck (Fn. 194), Art. 19 Rn. 467. 654 Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck (Fn.194), Art. 19 Rn. 443 m. Hinw. a. Voßkuhle (Fn. 4). 652

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fahrensgrundrechte Anwendungsvorrang genießen, falls diese dem Betroffenen weitergehenden Rechtsschutz einräumen sollten655, würde entsprechend dem Ziel eines effektiven und kohärenten Grundrechtsschutzes in Europa eine „Dopplung des Grundrechtsschutzes“ vermieden656, die zu divergierenden Entscheidungen der nationalen und europäischen Gerichtshöfe führen kann und die die Gefahr eines unübersichtlichen Rechtsschutzes in sich birgt. Zugleich würde dadurch die angestrebte Harmonisierung der mehrschichtigen Grundrechtsgarantien gefördert. Nachdem Verstöße gegen die strafbewehrten richterlichen Amtspflichten zwangsläufig auch zu Verletzungen der Verfahrensgrundrechte führen, durch welche die Prozessparteien hinreichend abgesichert wären, bedürfte es über die von Braun empfohlene Berichtigung des § 581 I ZPO hinaus auch keiner Änderung der Vorschrift des § 580 Nr. 5 ZPO, sondern allein einer Reform des § 339 StGB.

II. Folgerungen für den Schweizer Gesetzgeber Die Revision nach Art. 328 schwZPO beschränkt sich im Gegensatz zu einigen Regelungen der früheren kantonalen Verfahrensordnungen ausdrücklich auf die Anerkennung der angeblich „klassischen“ Revisionsgründe657. So wird die Regelung des Art. 328 I lit. a schwZPO wie folgt erklärt658 : Aus Gründen der Rechtssicherheit müssten zwar die vom Streitgegenstand des Verfahrens erfassten Tatsachen durch die Rechtskraft präkludiert werden. Eine endgültige Präklusion solcher Tatsachen, welche eine Partei im früheren Prozess nicht geltend machen konnte, würde jedoch das rechtliche Gehör verletzen, da diese Tatsachen auch bei gehöriger Sorgfalt nicht hätten geltend gemacht werden können. Dies bestätige deutlich den Zusammenhang zwischen materieller Rechtskraft und rechtlichem Gehör659. Ob es einen solchen Zusammenhang gibt, ist jedoch fraglich. Denn wie schon Puttfarken klargestellt hat, ist es verfehlt, die Rechtskraft aus ihrem Verhältnis zum materiellen Recht zu erklären660. Mit dieser Grundentscheidung für die „klassischen“ Revisionsgründe unter Verzicht auf deren enumerative Aufzählung durch Regelbeispiele lässt die Schweiz 655 Zu der Idee einer Umkehr des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts F. Kirchhof, Grundrechtsschutz durch europäische und nationale Gerichte, NJW 2011, 3681, 3686. 656 Siehe Papier, In Vielfalt geeint, in FAZ vom 03. 07. 2008; ferner F. Kirchhof (Fn. 654), S. 3885 m. Hinw. a. Art. 52 IV GRC, der vorschreibt, dass für die Auslegung der Grundrechte die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen wesentlich sein sollen (unter Beibehaltung der „einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ – Art. 52 VI GRC), wodurch ein Gleichklang der europäischen und nationalstaatlichen Grundrechte angestrebt wird. 657 Eine dem deutschen und französischem Recht entsprechende Regelung hatten die Kantone Waadt, Basel und Neuenburg. Siehe dazu Edgar Habscheid, Der Ausschluss des nicht vorgebrachten Prozessstoffes durch die materielle Rechtskraft (Präklusion) und die Revision (Wiederaufnahme des Verfahrens) nach Schweizer Recht, ZZP 2004, 235. 658 Spühler/Tenchio/Infanger (Fn. 610), Art. 328 Rn. 34. 659 Spühler/Tenchio/Inganger (Fn. 610), Vorbem. zu Art. 236 – 141 Rn. 21. 660 Dazu § 1 III. 3. Fn. 72.

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sowohl das Problem der analogen Anwendung dieser Gründe dahingestellt als auch die fundamentale Frage, „was die Durchbrechung der Rechtskraft und die damit verbundene Enttäuschung des Vertrauens der Gegenpartei auf den Bestand des Urteils überhaupt rechtfertigt“661. Damit unterscheidet sich die Schweizer Revision von den Vorschriften des deutschen Wiederaufnahmerechts deutlich jedenfalls in zweierlei Hinsicht: Zum einen beruht Abs. 1 lit. a des Art. 328 schwZPO, der die nachträgliche Entdeckung neuer Tatsachen und Beweismittel (der sog. unechten Noven) voraussetzt, auf der Konzeption einer reinen Ergebnisrestitution und zum anderen wird in Abs. 1 lit. b jener Vorschrift nicht wie in § 581 I 1. Alt. der deutschen ZPO die Vorlage eines rechtskräftigen Strafurteils verlangt. Vielmehr genügt insoweit der Nachweis, dass durch ein Verbrechen oder ein Vergehen zum Nachteil der Partei auf den Entscheid eingewirkt wurde. Eine Verurteilung des Täters durch das Strafgericht ist nicht erforderlich. Falls das Strafverfahren nicht durchführbar sein sollte, kann der Beweis der Straftat auch auf andere Weise erbracht werden. Letzteres entspricht weitgehend der Regelung in § 581 I 2. Alt. ZPO. Mit Ausnahme des dem Art. 51 III schwZPO zugrundeliegenden Falls, dass nachträglich die Mitwirkung eines zum Ausstand verpflichteten Gerichtsperson an dem Entscheid bekannt wurde, können hingegen keine Verfahrensfehler mit der Revision gerügt werden662. 1. Unzulänglichkeit der Ergebnisfehlerrestitution Die „Kunst der Gesetzgebung“ ist gerade in der Schweiz hoch entwickelt und in der Handhabung dieser Kunst gilt die Schweiz sogar mit als führend in Europa663. Dennoch ist festzustellen, dass das grundsätzliche Bekenntnis des schweizerischen Gesetzgebers zur Konzeption der „Revision“ als Ergebnisfehlerrestitution verbunden mit dem nahezu völligen Ausschluss der Verfahrensfehlerrestitution nicht dem Standard der modernen Zivilprozessrechtswissenschaft entspricht, wobei sich diese Kritik ausschließlich auf die Regelungen der Art. 328 f. schwZPO bezieht. Denn das Erkenntnisverfahren des neuen Gesetzes wird den rechtsstaatlichen Ansprüchen an ein Rechtsschutzverfahren durchaus gerecht. Davon abgesehen will das Gesetz notwendige Ergänzungen keineswegs ausschließen664. Wie dargelegt wird die grundsätzliche Entscheidung des deutschen Gesetzgebers für die Verfahrensfehlerrestitution von Braun damit begründet, dass die Rechtskraft die Aufgabe habe, das Vertrauen der obsiegenden Partei auf den Bestand des Urteils zu schützen, wobei der Vertrauende auch dann zu schützen sei, wenn es sich in Wahrheit anders verhalten hat. Der bloße Umstand, dass ein Urteil im Ergebnis unrichtig ist, reiche zur Rechtfertigung der Wiederaufnahme nicht aus, und dies gelte 661 662 663 664

MK-Braun (Fn. 3), vor § 578 Rn. 8 a. E. Spühler/Tenchio/Infanger (Fn. 610), Rn. 35. Ulrich Karpen, Schweizerische Rechtsetzung und Rechtsetzungslehre, ZG 2012, 68. Berti (Fn. 609), § 1 Rn. 2.

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selbst dann, wenn die Unrichtigkeit „beweissicher“ (im Sinne Gauls) dargetan werden könne. Denn schon die Zulässigkeitsprüfung, ob überhaupt ein Wiederaufnahmegrund vorliegt, bewirke einen Verstoß gegen die Rechtskraft, da sie deren Durchbrechung voraussetze. Die Wiederaufnahme müsse deshalb auf die Korrektur solcher Urteilsmängel beschränkt bleiben, die ohne erneute Sachprüfung festgestellt werden könnten. Nachdem ohne eine erneute Sachprüfung nur Verfahrensfehler festgestellt werden könnten, seien folglich auch nur Verfahrensfehler als Wiederaufnahmegründe anzuerkennen und somit nicht auch Ergebnisfehler. Kriterien zur Beurteilung der Qualität eines Gesetzes sind vor allem Zielgenauigkeit (efficacy), Durchsetzbarkeit (effectiveness) und Kostengünstigkeit (efficiency) sowie Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit665. Misst man die Qualität der Vorschriften der Art. 328 I lit. a mit 329 II schwZPO anhand dieser Kriterien, so ergeben sich nach dem Vorhergesagten begründete Zweifel sowohl an der Durchsetzbarkeit als auch an der Verhältnismäßigkeit der darin getroffenen Regelungen. Ein rechtskräftig gewordener Entscheid kann danach bis zum Ablauf von 10 Jahren nach Eintritt der Rechtskraft selbst dann noch mit der Revision angefochten werden, wenn der Revisionskläger eine ihm nachträglich bekannt gewordene erhebliche Tatsache lediglich durch einen von ihm erst später ausfindig gemachten Zeugen unter Beweis stellen kann. Nach der Entdeckung des Revisionsgrundes hat er 90 Tage Zeit, das Revisionsgesuch „schriftlich und begründet einzureichen“ (Art. 329 I schwZPO). Bis zu diesem Zeitpunkt ist der rechtskräftige Entscheid für den Revisionsbeklagten lediglich „konditioniert“, d. h., es kann bis zu 10 Jahre dauern, bis feststeht, dass der Entscheid endgültig Bestand hat. Demgegenüber hat der deutsche Gesetzgeber eine Ausnahme von dem Grundsatz, wonach schon zur Zeit des Vorprozesses vorhandene, aber erst später aufgefundene Beweismittel die Wiederaufnahme nicht rechtfertigen, gemäß § 580 Nr. 7 b ZPO allein für den Fall zugelassen, dass die Partei nachträglich eine Urkunde auffinden sollte, „die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde“. Selbst in diesem Fall muss jedoch die Urkunde innerhalb von 5 Jahren nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils aufgefunden worden sein und der Partei steht dann nur noch eine Frist von einem Monat zur Klageerhebung zur Verfügung (§ 586 I 1 u. 2 ZPO). Somit stellt sich die Frage, wie ein Schweizer Gericht den Wahrheitsgehalt der Aussage eines Zeugen über einen Vorfall beurteilen soll, der u. U. mehrere Jahre zurückliegt. Im Zweifel ist hier jedes Gericht überfordert. Dagegen ist dies bei der Beurteilung einer Urkunde keineswegs der Fall. Ohne zwingenden Grund wird hier dem Interesse des Revisionsklägers an der Wiederaufnahme des Verfahrens der Vorzug vor dem Interesse des Revisionsbeklagten an der Aufrechterhaltung des rechtskräftigen Entscheids eingeräumt, obwohl Ersterer u. U. dennoch nicht mit einem Erfolg rechnen kann. Damit fehlt es an der praktischen Durchsetzbarkeit und

665 Vgl. U. Karpen (Fn. 662), S. 76; Axel Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, 1996, S. 123; Noll (Fn. 93), S. 244 ff.

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Verhältnismäßigkeit des Art. 328 I lit. a schwZPO. Auch die Garantie des rechtlichen Gehörs rechtfertigt die Durchbrechung der Rechtskraft nicht in diesem Ausmaß. 2. Empfehlung zum Ausbau der Verfahrensfehlerrestitution Im Ergebnis bedeutet der weitgehende Ausschluss der Verfahrensfehlerrestitution, dass selbst elementare Verstöße des Berufungsgerichts gegen die Verfahrensgrundrechte, obwohl in Art. 29 und 30 BV verfassungsrechtlich garantiert, nicht mit der Revision geltend gemacht werden können. Eine Erklärung für diese grundsätzliche Ablehnung der Konzeption der Verfahrensfehlerrestitution ist den einschlägigen Kommentaren zur neuen bundeseinheitlichen schweizerischen ZPO nicht zu entnehmen. Auch gibt es keinen Hinweis auf die unterschiedliche Regelung im deutschen Wiederaufnahmerecht. Verwiesen wird lediglich darauf, dass für die Rüge von Verfahrensfehlern ausschließlich die Rechtsmittel der Berufung und Beschwerde zur Verfügung stehen, die jedoch beide ein noch nicht rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren voraussetzen. D. h., auf Verfahrensgrundrechtsverletzungen beruhende Entscheide der Schweizer Berufungsgerichte sind endgültig unanfechtbar, sofern nicht die Voraussetzungen der subsidiären Verfassungsbeschwerde nach Art. 113 ff. BGG erfüllt sein sollten666. Dieser Befund rechtfertigt nach deutschem Rechtsverständnis die Annahme eines Rechtsschutzdefizits, da hier die Partei u. U. auf die Erhebung der Individualbeschwerde zum EGMR angewiesen bleibt. Umso weniger problematisch ist die in Art. 328 I lit. b schwZPO getroffene Regelung des Falls, dass durch eine Straftat zum Nachteil einer Partei auf den Entscheid eingewirkt wurde. Zu Recht hat der Schweizer Gesetzgeber offenbar kein Problem darin gesehen, die Zivilgerichte auch über das Vorliegen einer Straftat entscheiden zu lassen. Zu den infrage kommenden Straftaten zählt selbstverständlich auch der Amtsmissbrauch des Richters nach Art. 312 schwStGB und damit auch das Delikt der Rechtsbeugung. Allerdings kennt die schweizerische Strafprozessordnung kein Klageerzwingungsverfahren, das die Einhaltung des Legalitätsprinzips sicherstellen könnte667. Im Falle des Verdachts eines richterlichen Amtsmissbrauchs ist der Bürger daher darauf angewiesen, dass die Strafverfolgungsbehörde die Richteranklage für opportun hält, ohne dass er die Möglichkeit hat, diese Ermessensentscheidung überprüfen zu lassen. Konsequent wäre die Einführung eines solchen Verfahrens daher durchaus, erscheint jedoch angesichts der in der Schweiz 666

Dazu R. J. Schweizer, Durchsetzung des Grundrechtsschutzes, in: Merten/Papier (Fn. 165), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, 2009, § 229 Rn. 10 und 91 f. 667 Weigert sich die Staatsanwaltschaft, einer Strafanzeige eines angeblichen Opfers i. S. des Art. 116 I schwStPO nachzukommen, indem sie gemäß Art. 310 I lit. a schwStPO eine „Nichtanhandnahmeverfügung“ erlässt, kann sie allerdings auf Beschwerde jener Person nach Art. 396 schwStPO bzw. Art. 78 BGG vom Gericht unter Aufhebung der Verfügung gemäß Art. 387 III schwStPO zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Täter angewiesen werden, siehe dazu Bundesgericht, Urteil vom 07. 06. 12, 1 B 156/2012, forumpoenale 2012, S. 268 (betrifft eine fahrlässige schwere Körperverletzung beim Golfen).

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stattfindenden Direktwahl der Richter durch das Volk auf Zeit nicht so zwingend wie in Deutschland, wo die Richter in der Regel auf Lebenszeit bestellt werden und es keine Abberufungsmöglichkeit gibt668.

III. Zusammenfassung der Evaluationsergebnisse 1. bezogen auf die Anhörungsrüge: a) Wenn die verfassungsrechtliche Garantie wirkungsvollen Rechtsschutzes ein auf Richtigkeitsgewähr ausgerichtetes Verfahren mit vollen Mitwirkungs- und Kontrollrechten der Prozessparteien verlangt und Grundrechtsschutz vom Gesetzgeber auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist, dann bedarf es nach Beendigung letztinstanzlicher Zivilgerichtsverfahren zur Verhinderung sachlich fehlerhafter Endurteile unabhängig von der Verfassungsbeschwerde auch eines effektiven „Rechtsschutzes gegen den Richter“ durch Bereitstellung eines hierfür geeigneten außerordentlichen Rechtsbehelfs. Gerade weil diese Notwendigkeit auch vom BVerfG anerkannt werden musste, kam es schließlich zur Einführung der Anhörungsrüge. Dieser ultimative Rechtsschutz, der auch der Stärkung des primären Rechtsschutzes gegen judikatives Unrecht dienen soll, muss nicht durch Einräumung einer weiteren Instanz gewährleistet werden. Vielmehr genügt dazu, wie das BVerfG in seinem Plenarbeschluss vom 30. 04. 03 (BVerfGE 104, 395) grundsätzlich dargelegt hat, auch ein Rechtsbehelf an das Gericht, dessen Verfahrenshandlung als fehlerhaft gerügt werden soll. Diese justizinterne Selbstkontrolle ist jedoch nicht auf die Prüfung von Gehörsverletzungen zu beschränken, sondern muss zwingend auf die Verletzung aller anerkannten Verfahrensgrundrechte erstreckt werden. Nur dann würde das BVerfG nachhaltig entlastet werden. b) Die Effektivität dieses Rechtsbehelfs ist allerdings nur dann sichergestellt, wenn der Gesetzgeber entsprechend dem „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG in jenem Plenarbeschluss dem Antragsteller auch das Recht einräumt, im Rahmen des Vorprüfungsverfahrens, ob ein Verfahrensgrundrecht auf entscheidungserhebliche Weise verletzt wurde (vgl. §§ 321a IV 1 und 590 II 1 ZPO), die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu beantragen, etwa so, wie dies in den Vorschriften der §§ 522 II S. 1 Nr. 4 und 585 mit 128 ZPO geregelt ist. Denn die Bereitschaft des judex a quo, sich ernsthaft mit der Verfahrensrüge auseinanderzusetzen, dürfte aufgrund des dadurch zwangsweise stattfindenden Dialogs zwischen Richter und Anwalt nachhaltig gefördert werden. Schließlich handelt es sich insoweit nicht mehr um ein zwischen den Parteien fortgeführtes kontradiktorisches Erkenntnisverfahren, sondern um ein Verfahren sui generis, das allein die Feststellung der Schlüssigkeit des behaupteten Verfahrensverstoßes zum Gegenstand hat. Durch eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe würde sich dieses Problem gar nicht erst stellen. 668 Siehe zur Richterwahl in der Schweiz Tschentscher, Demokratische Legitimation der dritten Gewalt, 2009, § 8 I 1, S. 273 ff.

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Erst wenn deutlich erkennbar wird, dass es an der Bereitschaft des Richters fehlt, den Kerngehalt der Rüge überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, sollte von der Möglichkeit der Richterablehnung Gebrauch gemacht werden. Dagegen sollte in den besonders groben Fällen der greifbaren Gesetzwidrigkeit, die bereits den Verdacht der Rechtsbeugung nahelegen, die Vorschrift des § 41 Nr. 6 ZPO analoge Anwendung finden, wonach der Richter wegen Vorbefassung mit der Sache von der weiteren Mitwirkung am Verfahren ausgeschlossen ist. c) Die Anhörungsrüge erfüllt selbst die Mindestvoraussetzungen eines effektiven Rechtsschutzes gegen judikatives Unrecht in keiner Weise. Grund hierfür sind die erheblichen Fehler des Gesetzgebers bei der Implementierung des § 321a ZPO im Rahmen der ZPO-Reform 2002 (u. a. Einführung als Sonderrechtsbehelf außerhalb der Vorschriften des vierten Buches der ZPO über die Wiederaufnahme des Verfahrens, nur beschränkt auf Gehörsverletzungen, keine mündliche Verhandlung, systemwidrige Fristenregelung, unklares Verhältnis zu § 579 I Nr. 4 ZPO, nur kurze Begründung des Beschlusses). Insbesondere wurde unterlassen, auch für die nötige Akzeptanz des neu geschaffenen Abhilfeverfahrens bei der Richterschaft als zwingende Voraussetzung der Verhaltens- und Sanktionsgeltung des § 321a ZPO Sorge zu tragen. Folglich sollte diese Vorschrift mangels Durchsetzbarkeit wieder aufgehoben werden. Stattdessen sollte ähnlich wie von Braun vorgeschlagen in einem dritten Absatz des § 579 ZPO bestimmt werden, dass die Nichtigkeitsklage auch bei der entscheidungserheblichen Verletzung der in Art. 6 I EMRK anerkannten Verfahrensgrundrechte Anwendung findet. Darüber hinaus sollte als weiterer Wiederaufnahmegrund neben der Verletzung der Verfahrensgrundrechte auch die massive Verletzung der Entscheidungsbegründungspflicht anerkannt werden. Denn die rationale Begründung des Urteils ist notwendige Bedingung für deren rationale Kritik. Gerichtsentscheidungen sind nicht ausschließlich „Akte der schöpferischen Erkenntnis“ des Richters, die die Parteien schon aufgrund dessen Autorität und Entscheidungskompetenz hinzunehmen haben. Legitimation genießt vielmehr allein das auf Richtigkeit hin ausgerichtete begründete Entscheiden des Gerichts. 2. bezogen auf die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO: a) Entgegen der früheren Annahme des BVerfG, die Verfassung gewährleiste nur Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber auch gegen denselben, die noch dazu jahrzehntelang als „Dogma“ kaschiert wurde, enthält die ZPO in § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB eine unmissverständliche Regelung, wonach Rechtsschutz auch gegen den Richter gewährt wird, wenn auch nur in den Fällen der Verletzung der strafbewehrten richterlichen Amtspflichten. Die Rechtsbeugung ist jedoch kein Mythos, sondern durchaus Teil der Realität, so insbesondere in ihrer Ausprägung als Tatbestandsverfälschung. Von der de lege lata gebotenen Möglichkeit, rechtskräftig gewordene Endurteile anzufechten, konnte von den Parteien nur deswegen nicht effektiv Gebrauch gemacht werden, weil die Vorschrift des § 339 StGB aufgrund ihrer verfassungswidrigen „Auslegung“ durch den BGH faktisch zu einer Rechts-

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norm mit nur noch symbolischer Funktion erodiert war und sich daher wegen Wegfalls ihrer Sanktionsgeltung nicht mehr zur Durchsetzung eignete. Tatsächlich handelte es sich bei dem Dogma gar nicht um eine aus dem Grundgesetz abgeleitete Doktrin, sondern nur um die Beschreibung der eigenen Rechtspraxis und damit um eine bloße Illustration der Verfahrenswirklichkeit. b) Um die Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO zu effektuieren und damit zu reaktivieren, reicht es nicht aus, die ohnehin „überholte“ Vorschrift des § 581 I ZPO mit Braun dahingehend zu berichtigen, dass Zulässigkeitsvoraussetzung nicht das Strafurteil, sondern die Straftat ist. Vielmehr bedarf es dazu außerdem noch einer Reform des § 339 StGB, wobei die überzogene Strafandrohung, die offenbar die besondere Verwerflichkeit der Tat betonen soll, der Schwere der Tat anzugleichen ist. Durch die – teilweise – Herabstufung des Verbrechens wie vorgeschlagen zu einem Vergehen würde die Tat auch nicht zu einem (Quasi-)Alltagsdelikt abgeschwächt, was der Rechtsfriedensfunktion der Rechtsprechung widerspräche669, da auf diese Weise das Vollzugsdefizit behoben werden könnte, zumal das Delikt in der besonders schweren Version als Verbrechen erhalten bliebe. Als weitere Möglichkeit der Konkretisierung des Straftatbestands käme auch das Anfügen von Regelbeispielen in Betracht (z. B. grobe Verfälschung des Sachverhalts, evident falsche Rechtsanwendung, massive Verstöße gegen die Verfahrensgrundrechte). Bei den Bemühungen um eine Reform des § 339 StGB sollte aber auch darauf Bedacht genommen werden, dass dieses Delikt Einfluss auf die Zulässigkeit der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO ausübt, weshalb das Opfer in erster Linie eine Wiederaufnahme des Zivilgerichtsverfahrens anstrebt. c) Schließlich sollte beim Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts einer Rechtsbeugung ein subjektiv-öffentliches Recht des angeblichen Opfers dieser Straftat auf Strafjustizgewährung mit der Folge anerkannt werden, dass nach Stellung des Antrags gemäß § 172 II 1 StPO das Klageerzwingungsverfahren ohne akribische Prüfung der Zulässigkeitserfordernisse zwingend vom Oberlandesgericht gegen die Staatsanwaltschaft durchzuführen ist. Denn wenn es sich so verhält, dass die Straftat von der Judikative selbst zu vertreten ist, hat der Gesetzgeber in diesem Fall das Verfahren so zu gestalten, dass dem Antragsteller die Prüfung der Frage, ob das Legalitätsprinzip von der Staatsanwaltschaft eingehalten wurde, uneingeschränkt garantiert wird. Andernfalls müsste angenommen werden, dass die Vorschrift des § 581 I ZPO auch noch in ihrer berichtigten Fassung eine unzumutbare und damit verfassungswidrige Zulassungsschranke enthält. 3. bezogen auf die Artikel 328 I lit. a und 329 II schwZPO: Die Regelung in Art. 328 I lit. a schwZPO, wonach zur Sicherstellung der Garantie des rechtlichen Gehörs ein rechtskräftiger Entscheid erst 10 Jahre später endgültig unanfechtbar wird, wobei zum Nachweis der Tatsachen, die nicht vor669

So Fischer (Fn. 21), § 339 Rn. 15b.

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gebracht werden konnten, auch Zeugen als Beweismittel benannt werden können, dürfte gegen den verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Der Rechtskraft ist mit Braun ein eigener Wert beizumessen, der zu einer gegenseitigen Abwägung der Interessen der obsiegenden und unterlegenen Prozesspartei zwingt. Demnach wäre einer Regelung wie derjenigen der §§ 580 Nr. 7 b, 586 I ZPO klar der Vorzug einzuräumen.

IV. Schlussbemerkungen mit Anregung zur Einsetzung eines Qualitätsbeauftragten 1. Gerichtsentscheidungen erfahren ihre Legitimation nicht schon durch den autoritären Richterspruch als solchen im Wege der Fiktion ihrer „Richtigkeit“. Legitimität beanspruchen kann vielmehr nur das begründete Entscheiden, das sich an den Kriterien der sachlichen Richtigkeit und rechtlichen Regelhaftigkeit orientiert670. Zwar verbietet die Rechtskraft grundsätzlich die Frage nach der Richtigkeit der Entscheidung. Zur Abwehr judikativen Unrechts in letztinstanzlichen Verfahren ist jedoch den Prozessparteien durch Bereitstellung eines außerordentlichen Rechtsbehelfs auch „Rechtsschutz gegen den Richter“ zu gewährleisten, wie dies das BVerfG in seinem Plenarbeschluss vom 30. 04. 03 (BVerfGE 107, 395, 411) grundsätzlich anerkannt hat, wenn auch nur für den dort streitgegenständlichen Fall der Verletzung des Art. 103 I GG. Der zu diesem Zweck in die ZPO eingeführte Sonderrechtsbehelf der Anhörungsrüge hat sich allerdings in jeder Hinsicht als ungeeignet erwiesen. Entscheidender Grund hierfür war, dass der Gesetzgeber, statt die seit langem dringend gebotene, grundlegende Reform des Wiederaufnahmerechts in Angriff zu nehmen, mit der auf Gehörsverletzungen beschränkten Vorschrift des § 321a ZPO ebenso halbherzig wie systemwidrig eine Sonderregelung traf, die schon aufgrund der deutlich ablehnenden Haltung der Richterschaft den Prozessparteien effektiven Rechtsschutz nicht zu bieten vermochte. Zwingend notwendig ist insbesondere die vom BVerfG keineswegs ausgeschlossene Ausdehnung des Rechtsschutzes auf die entscheidungserhebliche Verletzung aller anerkannten Verfahrensgrundrechte in den letztinstanzlichen Verfahren durch eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe des § 579 ZPO. 2. Demgegenüber ist die gegen die instanzinterne Selbstkontrolle als solche gerichtete Kritik des Schrifttums überzogen. Wie in § 584 I ZPO geregelt, ist es durchaus sinnvoll und vertretbar, die ausschließliche Zuständigkeit des Ausgangsgerichts in den Abhilfe- und Wiederaufnahmeverfahren beizubehalten, sofern erstens das hierfür gesetzlich festgelegte Abhilfeverfahren die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorsehen sollte, zweitens der „Zugang 670 U. Neumann, Wahrheit statt Autorität. Möglichkeiten und Grenzen einer Legitimation durch Begründung im Recht, in: Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 2, 2005, S. 369, 382.

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zum Recht“ nicht durch unangemessene Schranken versperrt wird und drittens im Ausnahmefall die Vorschrift des § 41 Nr. 6 ZPO entsprechende Anwendung findet671. Unter diesen Bedingungen entspräche die interne Selbstkontrolle als Kontrollinstrument auch dem „Effektivitätsvorbehalt“ des BVerfG. 3. Beim jahrzehntelangen Festhalten des BVerfG an dem angeblichen „Dogma“ vom „Rechtsschutz nur durch den Richter, nicht aber auch gegen denselben“ wurde bewusst über die Tatsache hinweggetäuscht, dass die ZPO entgegen dieser Behauptung durchaus „Rechtsschutz gegen den Richter“ gewährt und schon immer gewährt hat, wenn auch nur unter besonderen Voraussetzungen, nämlich mittels der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO in Verb. mit § 339 StGB. Diese Tatsache wurde in voller Absicht ignoriert zu verhindern, dass es zu Anklagen gegen Richter wegen Rechtsbeugung kommt, was ja auch Zweck der verfassungswidrigen „Auslegung“ der §§ 339 StGB und 172 StPO durch den BGH war. Der dadurch bewirkte Wegfall der Verhaltens- und Sanktionsgeltung des § 339 StGB hatte zur Folge, dass diese Vorschrift zu einer Rechtsnorm mit nur noch symbolischer Funktion erodierte und damit der Restitutionsklage gestützt auf das Verbrechen der Rechtsbeugung jede Anwendungsmöglichkeit entzog. Rein symbolische Strafvorschriften aber sind unberechenbar und widersprechen liberalem Strafrecht. Denn dieses will nur sanktionieren, was direkt sozialschädlich ist672. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes beinhaltet aber auch den Vorrang des auf die Verhinderung eines rechtswidrigen Zustands abzielenden Primärrechtsschutzes gegenüber dem auf Zahlung von Schadenersatz beschränkten Sekundarrechtsschutz in Form des – ausdrücklich nur subsidiären – Amtshaftungsanspruchs (§ 839 III BGB). Diesem Gebot genügt nicht jeglicher Primärrechtsschutz, sondern eben nur ein wirklich effektiver. Die faktische Verkümmerung der Restitutionsklage des § 580 Nr. 5 ZPO zu einem nudum ius widerspricht daher auch krass dem Effektivitätsgebot des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs. Demzufolge gilt es diesen außerordentlichen Rechtsbehelf unabhängig von der Berichtigung des § 581 I ZPO durch eine Reform des § 339 StGB zu reaktivieren. Maßgeblich für die Prozesspartei in Zivilsachen ist dabei nicht, ob der Richter auch tatsächlich bestraft wird, sondern allein, ob sie den ihr von der ZPO bereitgestellten Rechtsbehelf auch effektiv gegen ihn einsetzen kann, dass also der Zugang zum Restitutionsverfahren für sie nicht unzumutbar erschwert wird. 4. Dass es der Gesetzgeber nicht zustande brachte, mit der Anhörungsrüge einer angemessenen Lösung des Grundproblems der Vermeidung letztinstanzlicher Fehlentscheidungen näher zu rücken, hat in erster Linie das BVerfG zu verantworten, dessen dahingehende Verlautbarungen unklar und widersprüchlich waren. Soweit es die Fachgerichte anfangs dazu aufrief, den Verletzungen der 671 In den Fällen des § 580 Nr. 5 ZPO ist der judex a quo nach h. A. ausnahmsweise analog § 41 Nr. 6 ZPO von der weiteren Mitwirkung ausgeschlossen, Zöller (Fn. 7), § 41 Rn. 14. 672 So deutlich Steinberg, Aus der Zeit gefallen, FAZ vom 16. 05. 12, S. 8.

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Verfahrensgrundrechte durch „eine grundrechtsorientierte Handhabung der Prozessvorschriften“ zu begegnen und dabei einfachgesetzlich nicht vorgesehene Rügemöglichkeiten zu entwickeln, war dies zu begrüßen, da zuerst einmal ein dringendes Bedürfnis der Rechtspraxis nach dem Einsatz außerordentlicher Rechtsbehelfe herausgefunden werden musste. Demgegenüber hieß es dann jedoch überraschend in der Kammerentscheidung NJW 2007, 2538, 2539, die Fachgerichte verstießen gegen die im Plenumsbeschluss vom 30. 04. 03 entwickelten verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit, wenn sie außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts entwickelten, um damit tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bestehenden Rechtsmittelsystem zu schließen. Auch das wurde jedoch später zum Teil wieder zurückgenommen, indem das BVerfG die Gegenvorstellung betreffend durch Senatsbeschluss verkündete673, die fehlende Rechtsmittelklarheit als solche führe noch nicht zur Unzulässigkeit der außerordentlichen Rechtsbehelfe, ohne zugleich klarzustellen, was dann hinsichtlich der übrigen ungeschriebenen außerordentlichen Rechtsbehelfe gelten solle. Vor allem übermittelte das BVerfG dem Gesetzgeber keine hinreichend klar umsetzbaren Vorgaben für eine effiziente Implementierung der Anhörungsrüge, die seinen Vorstellungen von der Effektivität einer instanzinternen Selbstkontrolle entsprochen hätte. Keineswegs genügte dazu der allgemeine Hinweis, dass zum Schutz des rechtlichen Gehörs nur ein Rechtsbehelf in Betracht komme, durch den die fehlerhafte Verfahrenshandlung „effektiv beseitigt werden“ könne. Infolgedessen gab es eigentlich keinen triftigen Grund, jenen Plenarbeschluss euphorisch als „Bruch“ eines Dogmas und als „geradezu revolutionären Schritt weg vom traditionellen Dogma des ,Kein Rechtsschutz gegen den Richter‘ hin zu einem umfassenden Rechtsschutzkonzept gegen judikatives Unrecht“ zu begrüßen674. 5. Eine unmittelbare Beobachtung und damit gleichzeitige Überwachung der Person des einzelnen Richters bei seiner Entscheidungsfindung derart, wie sich dies Lautmann erlaubt hatte, wäre weder rechtlich zulässig noch praktisch durchführbar. Unabhängig davon hat Röhl im Zusammenhang mit der Konzeption des Total Quality Managements (TQM), wonach Qualität nicht geprüft werden könne, sondern hergestellt werden müsse, darauf hingewiesen, dass Qualität ohnehin nicht durch Fehlerprüfung und Nacharbeit fehlerhafter Produkte erzeugt werden könne675. Vielmehr gehe es bei der Qualitätskontrolle „um eine präventive Strategie und nicht um individuelle Zuschreibung von Qualitätsmängeln“. Dennoch räumt er ein, dass es auch Instrumente geben müsse, „die gezielt bei den Richterindividuen ansetzen“. Genau das aber ist und bleibt das Entscheidende. Denn gerade weil der Richter nicht nur der Mund des Gesetzes ist, hängt die 673

BVerfG NJW 2009, 829, 830 Tz. 34, dazu Sangmeister, NJW 2009, 3053 f. So Voßkuhle (Fn. 234) mit Einschränkungen sowie M. Breuer (Fn. 346), S. 55; zu Recht skeptisch Redeker, Verfahrensgrundrechte u. Justizgewährungsanspruch, NJW 03, 2956. 675 Röhl, Thesen zur Qualitätskontrolle (Fn. 516), S. 3 und 9. 674

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Qualität seines Urteils als Endprodukt der richterlichen Entscheidungsfindung ganz maßgeblich von seiner Kompetenz, Gründlichkeit und Gesetzestreue sowie Kommunikationsfähigkeit und richterlichen Selbstbeschränkung676 ab. Zwingend bedarf es daher wie dargelegt auch einer wirksamen Sanktionsandrohung für den Fall, dass er bei der Urteilsfindung die Grenze des noch irgenwie Vertretbaren klar überschreiten sollte, da andernfalls jede noch so ausgefeilte Qualitätskontrolle kaum Effizienz erlangen dürfte. Grundsätzlich könnte in der Justiz in Erwägung gezogen werden, ein Kontrollsystem nach dem Vorbild der Qualitätskontrolle der Wirtschaftsprüferkammer im Rahmen der Wirtschaftsprüfung aufzubauen. Denn wie bei der richterlichen Entscheidung eines Rechtsstreits nach den Vorschriften der ZPO handelt es sich auch bei der handelsrechtlichen Jahresabschlussprüfung nach § 316 I 1 HGB um eine formelle Gesetzesprüfung, die der Feststellung der Ordnungsmäßigkeit des nach § 242 III HGB von der Kapitalgesellschaft aufgestellten Jahresabschlusses dient. Der vom Abschlussprüfer nach § 321 I 1 HGB zu erstellende Prüfungsbericht entspricht dabei der Erledigung des entscheidungsreifen Rechtsstreits durch das begründete Urteil des Gerichts. Grundlage der Jahresabschlussprüfung bilden die Grundsätze ordnungsgemäßer Abschlussprüfung. Deren korrekte Einhaltung ist entscheidend für die Qualität dieser Pflichtprüfung. Wegen ihrer Bedeutung für die glaubwürdige Information der Rechnungslegungsadressaten unterliegt die Jahresabschlussprüfung einer eigens etablierten Qualitätskontrolle, deren Grundsätze in der WPO und der Satzung für Qualitätskontrolle (SaQK) normiert sind. Am 01. 09. 20 wurde die SaQK von der Kommission für Qualitätskontrolle durch „Hinweise zur Durchführung und Dokumentation einer Qualitätskontrolle“ mit dem Ziel konkretisiert, dem eigens dazu etablierten „Prüfer für Qualitätskontrolle“ einen Rahmen für dessen Ermessensausübung und Berichterstattung bei der Qualitätsprüfung an die Hand zu geben, ohne seine Eigenverantwortung einzuschränken677. Dieser hat somit die Qualitätskontrolle unter Beachtung jener gesetzlichen und satzungsmäßigen Vorgaben durchzuführen (§§ 55b Abs. 1 und 2 WPO). Sein Bericht kann bei Feststellung gravierender Mängel z. B. wegen Nichtvorhandenseins eines ordnungsgemäßen Qualitätssicherungssystems beim Wirtschaftsprüfer zu dessen Löschung als gesetzlicher Abschlussprüfer aus dem Berufsregister führen. Demgegenüber existiert in der Justiz keine Institution, deren Aufgabe es wäre, die von den Gerichten ausgeübte richterliche Gewalt, durch die es die Rechtsordnung zu verwirklichen gilt, als solche auf ihre Qualität zu überprüfen und damit die Ordnungsmäßigkeit der gerichtlichen „Geschäfte“ i. S. des § 21e I 1 GVG sicherzustellen. Mag das von der Wirtschaftsprüferkammer neuerdings verbesserte Qualitätskontrollsystem zur Sicherstellung der Qualität der Jahresabschlussprüfungen 676

Dazu Thomas M. J. Möllers (Fn. 30), § 13 Rn. 84 ff. Siehe WPK-Magazin 2020, S. 17, abrufbar unter: www.wpk.de/mitglieder/praxishinwei se/kfgk/. Zu beachten sind außerdem die fachlichen Regeln des Instituts der Wirtschaftsprüfer (hier: IDW PS 140). 677

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auch nicht in toto auf die Ziviljustiz übertragbar sein, so könnte doch überlegt werden, ob es nicht sinnvoll wäre, in die Justizverwaltung zumindest eine jenem „Prüfer für Qualitätsprüfung“ vergleichbare Institution in Gestalt eines „Qualitätsbeauftragten“ einzuführen, dessen Aufgaben und Befugnisse dann noch im Einzelnen festzulegen wären. Dieser Beauftragte sollte jedenfalls ebenso unabhängig und nicht weisungsgebunden sein wie der 2010 von der Bundesregierung eingeführte Missbrauchsbeauftragte gegen familiäre Gewalt und angesiedelt werden könnte er in allen Bezirken der Oberlandesgerichte. Ähnlich einem Controller sollte er vorrangig den Gerichten beim Aufbau deren Qualitätssicherungssysteme beratend zur Seite stehen und erst in zweiter Linie verpflichtet sein, über einen offen aufgetretenen Qualitätsmangel eines jener Systeme in dem von ihm geprüften Gericht, wie sich dieser in dessen Rechtsprechung niederschlug, förmlich zu berichten.

Anhang Drei Beispiele krasser Fehlurteile von Zivilgerichten (stark verkürzt wiedergegeben) in Anlehnung an die Beispielssammlung des Projekts „Watch The Court“ an der Universität Bielefeld unter Prof. Dr. Martin Schwab1. Beispiel 1 (Az: 6 C 472/16 AG Schöneberg) verfassungswidriges Überraschungsurteil, elementarer Verstoß gegen § 300 I ZPO:

Sachverhalt: Geklagt hatte eine Mieterin wegen angeblicher Mängel der Mietsache. Der Vermieterin war von der Mieterin noch keine Gelegenheit eingeräumt worden, die angeblichen Mängel der Wohnung zu besichtigen, die bestritten worden waren. Unmittelbar nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung am 20. 12. 17 unterbreitete die Amtsrichterin, die zuvor nicht einmal in den Sach- und Streitstand eingeführt und die Güteverhandlung eröffnet hatte, den Parteien überraschend einen detaillierten Vergleichsvorschlag, in dem teilweise von Tatsachen ausgegangen wurde, die zwischen den Parteien äußerst strittig waren und daher erst noch der Aufklärung bedurften. Der Anwalt der Vermieterin erklärte daher zu Protokoll, dass ihm der Vergleich schriftlich zugestellt werden möge, rügte die Verletzung des § 139 IV ZPO und beantragte „Vertagung und eine Frist zur Stellungnahme zum Vergleichsvorschlag des Gerichts“ (sinngemäß: nach erfolgter Besichtigung der Wohnung). Darauf gab die Richterin Folgendes zu Protokoll: „Die Parteivertreter erhalten Gelegenheit, bis zum 20. 01. 18 mitzuteilen, ob sie den vorgeschlagenen Vergleich abschließen bzw. einen eigenen Vergleichstext einreichen.“ Der Entscheidungsverkündungstermin wurde auf den 14. 02. 18 anberaumt. Da vor dem 20. 01. 18 keine Besichtigung der Wohnung stattfinden konnte, verlängerte die Amtsrichterin die Frist antragsgemäß zweimal. Nach erfolgter Besichtigung reichten beide Parteivertreter umfangreiche Schriftsätze ein und erwarteten die Anberaumung eines Termins zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung und zur Beweisaufnahme. Verfahrensverlauf: Stattdessen erließ die Amtsrichterin am 14. 02. 18 ein Endurteil mit teilweiser Verurteilung der Beklagten zur Mängelbeseitigung, wobei sie auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 20. 12. 17 abstellte. Dies unter Hinweis darauf, dass der Rechtsstreit bereits zu diesem Zeitpunkt entscheidungsreif gewesen sei. Die später (innerhalb der gesetzten Frist) eingegangenen Schriftsätze der Parteivertreter seien „gemäß § 296a ZPO nicht zu berücksichtigen“ gewesen und hätten auch keinen Vortrag enthalten, der zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung Anlass gegeben hätte. Auch die auf die 1 Das Projekt verfolgt das Anliegen, „eindeutig rechtswidrige Gerichtsurteile öffentlich zu machen“, siehe http://www.watchthecourt.org.

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massive Verletzung des § 300 I ZPO gestützte Berufung wurde von der 63. Zivilkammer des LG Berlin mit der Begründung zurückgewiesen, die nach der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsätze wären vom Amtsgericht gemäß § 296a ZPO zu Recht unberücksichtigt gelassen worden, da vom Beklagtenvertreter „keine Stellungnahmefrist im Sinne von § 283 ZPO beantragt worden“ sei. Es läge auch kein Überraschungsurteil vor, da das Amtsgericht „im Termin vom 20. 12. 17 den Parteien einen nur unwesentlich vom späteren Urteil abweichenden Vergleichsvorschlag unterbreitet“ habe. Die Abweichung sei „unschädlich“ gewesen. Rechtliche Würdigung: Die Amtsrichterin entschied die noch nicht endscheidungsreife Sache ohne Berücksichtigung der Ergebnisse der späteren Wohnungsbesichtigung vorzeitig durch verfassungswidriges Überraschungsurteil, da sie auf den Antrag des Beklagtenvertreters, sie möge ihm „eine Frist zur Stellungnahme zum Vergleichsvorschlag des Gerichts“ einräumen, ausdrücklich zu Protokoll gab, dass die Parteivertreter Gelegenheit erhalten, „bis zum 20. 01. 18 mitzuteilen, ob sie den vorgeschlagenen Vergleich abschließen bzw. einen eigenen Vergleichstext einreichen“, wobei sie diese Frist sogar antragsgemäß zweimal verlängert hatte. Denn unbestreitbar handelte es sich dabei um eine Frist i. S. des § 139 V ZPO, auf die ausdrücklich in § 296a Satz 2 ZPO verwiesen wird, und nicht um eine solche des § 283 ZPO, weshalb die nachgereichten Schriftsätzen beider Parteivertreter zwingend zu berücksichtigen gewesen wären. Bekanntlich bezieht sich nämlich die Vorschrift des § 283 ZPO eindeutig nur auf „Vorbringen des Gegners“ und keineswegs auch auf Hinweise und Vergleichsvorschläge des Gerichts. Mangels neuen Vorbringens des Klägervertreters in der Sitzung bestand für den Beklagtenvertreter nicht die geringste Veranlassung, zusätzlich noch eine Schriftsatzfrist gemäß § 283 ZPO zu beantragen. An dem krassen Verfahrensverstoß ändert auch die Tatsache nichts, dass die Richterin in ihrem Urteil „nur unwesentlich“ von ihrem Vergleichsvorschlag abgewichen ist, da bei Berücksichtigung der Ergebnisse der Wohnungsbesichtigung das Urteil ohnehin anders ausgefallen wäre. Trotz dieser Einwände wurde die Berufungsentscheidung auch auf die Anhörungsrüge nach § 321a ZPO bestätigt. Darauf blieb nur die Strafanzeige wegen Rechtsbeugung, die jedoch im Klageerzwingungsverfahren nicht weiterverfolgt werden konnte. Beispiel 2 (LG Berlin, Az: 27 S 4/18, entscheidungserhebliche Sachverhaltsverfälschung infolge Fiktion eines tatsächlich nicht entstandenen Schadens):

Sachverhalt: In diesem Fall, der vor der 27. Kammer des LG Berlin (Pressekammer) in der Berufungsinstanz ausgetragen wurde, hatte die Klägerin in erster Instanz einen angeblichen Schadensersatzanspruch wegen unerlaubter Handlung aus abgetretenem Recht gegen den Beklagten geltend gemacht. Bei dem Zedenten handelte es sich um den Geschäftsführer der Klägerin, der sich durch einen Leserbrief des Beklagten diskreditiert gefühlt hatte. Aufgrunddessen hatte sich dieser unter Inanspruchnahme der Rechtsschutzklausel in seinem Geschäftsführervertrag von der Anwaltskanzlei beraten lassen, die mit seiner Arbeitgeberin, der Klägerin, in Geschäftsbeziehnung stand, und dadurch eine Beratungsgebühr ausgelöst. Diese

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Anwaltsgebühr war jedoch nicht ihm (dem Zedenten) in Rechnung gestellt worden, sondern aufgrund einer zwischen der Kanzlei und der Klägerin bestehenden Absprache unmittelbar der Klägerin. Dennoch ließ sich die Klägerin den angeblichen Anspruch ihres Geschäftsführers gegen den Beklagten auf Erstattung der von ihr bereits bezahlten Anwaltsgebühr ausdrücklich abtreten, um ihn in fremdem Namen einklagen zu können. Verfahrensverlauf: Der Klage wurde in erster Instanz vom Beklagtenvertreter entgegengehalten, es fehle am Schadenseintritt beim Zedenten, da sich dessen Vermögenslage gegenüber derjenigen vor der Beratung nach der Differenzhypothese in keiner Weise negativ verändert hatte. Die Abtretung habe sich daher auf eine unmögliche Leistung i. S. des § 275 I BGB gerichtet und wäre somit ins Leere gegangen (was offensichtlich auf einen Beratungsfehler der Kanzlei zurückzuführen war). Erwartungsgemäß wurde die Klage daher vom Amtsgericht TempelhofKreuzberg in erster Instanz mit der Begründung abgewiesen, der Klägerin habe kein Schadensersatzanspruch aus abgetretenem Recht zugestanden, da ein solcher schon in der Person des Zedenten mangels Eintritts eines Schadens nicht zur Entstehung gelangt sei. Trotz dieser überzeugenden Begründung des Amtsgerichts legte die Klägerin gegen das Urteil Berufung ein und stützte diese darauf, dass ihr der Geschäftsführer aus Auftragsrecht zur Erstattung des ihr entstandenen Kostenaufwands verpflichtet gewesen sei. Dieser Argumentation folgte das LG Berlin zwar nicht, jedoch erteilte der Vorsitzende dem Beklagten und Berufungsbeklagten folgenden richterlichen Hinweis nach § 139 II ZPO: „Hinweis gemäß § 139 ZPO: Die Kammer hält an der im Termin am 25.09.18 mitgeteilten rechtlichen Beurteilung fest. Den danach grundsätzlich bestehenden Schadensersatzanspruch gegenüber dem Beklagten hat Herr … auf Grund der Abtretungsvereinbarung vom 20.09.18 (Anlage K 6) gemäß § 389 BGB wirksam an die Klägerin abgetreten. Die Abtretung ging nicht deswegen ins Leere, weil die Klägerin die Rechtsanwaltskosten des Herrn … beglichen hatte. Das Amtsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass sein Schadensersatzanspruch auf Grund der Bezahlung des Anwaltshonorars durch die Klägerin mangels Vorliegens eines Schadens wegfiel mit der Folge, dass ein solcher Anspruch auch nicht gemäß § 389 BGB abgetreten werden konnte. Denn nach der Rechtsprechung des BGH sollen Leistungen eines Dritten – sei es auf freiwilliger Basis oder auf Grund von vertraglichen oder gesetzlichen Verpflichtungen – den Schädiger nicht entlasten (vgl. BGH Urteil vom 17. Juni 1953 – VI ZR 113/52 -, BGHZ 19, 107 – 111, Rn 6 – 11).“

Dem hielt der Beklagtenvertreter entgegen, der Entscheidung BGH NJW 53, 1346 zur Vorteilsausgleichung habe ein gänzlich anderer Sachverhalt zugrunde gelegen, nämlich bereits insofern, als dort durchaus ein Schaden des Arbeitnehmers vorgelegen habe. Schon deswegen könne jener Rechtsgedanke auf den vorliegenden Fall keineswegs entsprechende Anwendung finden. Dennoch gab die 27. Kammer des LG Berlin – ohne Beteiligung des Vorsitzenden – der Berufung mit genau der Begründung statt, die dem Beklagten schon zuvor in dem richterlichen Hinweis mitgeteilt worden war. Selbst die Revision wurde nicht zugelassen.

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Darauf reichte der Beklagte durch seinen Anwalt bei der Staatsanwaltschaft gegen die Richterinnen der Berufungskammer Strafanzeige wegen Rechtsbeugung mit der Begründung ein, diese hätten sich durch die Fiktion eines beim Zedenten tatsächlich nicht entstandenen Schadens der massiven Sachverhaltsverfälschung schuldig gemacht, was eines der typischen Begehungsweisen der Rechtsbeugung sei. Das zunächst förmlich eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde kurz danach mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 II StPO eingestellt, weshalb der Beklagte beim Kammergericht Berlin den Klageerzwingungsantrag gemäß § 172 II 1 StPO einreichte. Diesen Antrag verwarf das Kammergericht im Wesentlichen mit der Begründung, der Antragsteller sei „überhaupt nicht auf die naheliegende (?!) Frage eingegangen, ob die von den Antragstellern kritisierten Erwägungen des Landgerichts Berlin … nicht unter Berücksichtigung der Grundsätze der Drittschadensliquidation richtig oder zumindest gut vertretbar sein könnten“. Gemeint war damit offenbar, dass die Entscheidung des Landgerichts, wenn schon nicht aufgrund des Rechtsgedankens der Vorteilsausgleichung, so jedenfalls aufgrund des Rechtsinstituts der Drittschadensliquidation als „zumindest gut vertretbar“ bewertet werden müsse. Damit glaubte also der Strafsenat des Kammergerichts das Urteil mit Hinweis auf ein Rechtsinstitut rechtfertigen zu können, an das die angeschuldigten Richterinnen selbst nicht gedacht hatten. Rechtliche Würdigung: Der Kammervorsitzende hatte bei seinem richterlichen Hinweis auf die BGH-Entscheidung NJW 53, 1346 zur Vorteilsausgleichung es schon grob fahrlässig unterlassen, diese als für die Lösung des Rechtsstreits relevant und sogar einschlägig zu identifizieren2. Vielmehr hatte er deren Relevanz einfach ohne jede Begründung behauptet. Nicht anders verhielt sich der 6. Strafsenat des Kammergerichts Berlin mit seinem Hinweis auf die hier angeblich einschlägige Drittschadenliquidation. Denn zwar trifft zu, dass dieses Rechtsinstitut nicht auf bestimmte Fallgruppen beschränkt ist, sondern bei vergleichbarer Interessenlage auch in anderen Fällen in Betracht kommt. Von einer vergleichbaren Interessenlage konnte hier jedoch schon deswegen keine Rede sein, weil es bereits am Eintritt eines Schadens beim Zedenten fehlte. Das Charakteristikum der Drittschadensliquidation ist das Auseinanderfallen von Gläubigerstellung und geschütztem Interesse, also die – zufällige – Schadensverlagerung, wie sie z. B. bei einem gescheiterten Versen2 Dazu Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, Rn. 464 – 474. Darauf, welche Gefahren durch eine unbedachte Verallgemeinerung gerichtlicher Entscheidungen drohen, hat auch Oliver Lepsius, in: JZ 2019, 793 – 802 hingewiesen. Gerichtsurteile würden ausgelegt, „als ob es sich um subsumtionsfähige generell-abstrakte Rechtssätze handelt“. Die Umstände des einst kompetenzbegründenden Falls spielten bei der Verarbeitung der Entscheidung keine Rolle mehr. Zunehmend ersetze eine „Collagetechnik aus Versatzstücken von Gerichtsentscheidungen das systematische Argument“. Zur Vermeidung „übergriffiger Interpretationen“ solle sich daher der Rechtsanwender die begrenzte Bedeutung und Reichweite der herangezogenen Präjudizien vor seiner Entscheidung bewusst machen. Wichtig sei dabei insbesondere die Eingrenzung auf den konkreten Sachverhalt, da die Gerichte ihre Kompetenz u. a. daraus herleiten, dass sie sich grundsätzlich auf einen singulären Fall beschränken. Dazu auch die Erwiderung von Johann Braun, Entscheidungsverarbeitung als Aufgabe der juristischen Methodenlehre, JZ 2020, 353.

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dungskauf vorliegt. Anspruchsinhaber (Geschädigter) ist nicht der Dritte, sondern derjenige, in dessen Rechtsposition eingegriffen wurde. Hier war jedoch in die Rechtsposition der Klägerin überhaupt nicht eingegriffen worden. „Geschädigter“ war vielmehr allein der Zedent. Insbesondere bestand für diesen – anders als für den Verkäufer im Fall des gescheiterten Versendungskaufs – auch gar kein Hinderungsgrund, seine angeblichen Schadensersatzansprüche aus § 823 BGB unmittelbar gegen den Beklagten gerichtlich geltend zu machen. Folglich fehlte es hier nach den Umständen von vornherein am entscheidenden Charakteristikum der DSL, nämlich dem Merkmal „Der Schaden wird zum Anspruch gezogen“. Beide Gerichte, die Kammer des LG Berlin und der Strafsenat des Kammergerichts, glaubten also offenbar, durch ihre Schlussfolgerungen vom Besonderen auf das Besondere die Lösung des Problems auf der Grundlage der Vergleichsfallmethode3 gefunden zu haben, nämlich unter Bezug auf den allgemeinen Rechtsgedanken der Vorteilsausgleichung (LG Berlin) bzw. auf die anerkannten Fälle der Drittschadensliquidation (Kammergericht Berlin) als tertium comparationis durch Gleichsetzung des der Abtretung zugrundeliegenden Falls mit dem Sachverhalt der Entscheidung BGH 53, 1346. Bei dieser Methode geht es bekanntlich um die Gleichbehandlung wesentlich gleicher und die Ungleichbehandlung wesentlich ungleicher Fälle. Dazu sind die jeweiligen Tatsachen und die Wertungen miteinander zu vergleichen. Die Sach- und Interessenlage muss in beiden Fällen wertungsmäßig dieselbe sein. Davon durfte hier aber schon deswegen nicht ausgegangen werden, weil es am Vorliegen zweier auch nur ähnlicher Sachverhalte fehlte. Das Berufungsurteil konnte folglich weder mit der Vorteilsausgleichung noch mit der Drittschadensliquidation gerechtfertigt werden. In beiden Fällen handelte es sich vielmehr um reine Scheinbegründungen zur Ablenkung von der eigentlichen Problemlösung sowie zum Schutz der beschuldigten Richterinnen. Dennoch wurde auch die Anhörungsrüge des § 33a StPO als unzulässig verworfen, die mit einem Ablehnungsgesuch die Richter des Strafsenats betreffend verbunden worden war. Hierbei unternahmen es die abgelehnten Richter sogar, unter Berufung auf § 26a II 1 mit I Nr. 2 StPO selbst über das Ablehnungsgesuch zu entscheiden, obwohl dies auf durchaus geeignete Gründe gestützt worden war und daher nach h. L. keineswegs als „völlig ungeeignet“ hätte bewertet werden dürfen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 26a Rn. 4a). Gegen die Verwerfung des Klageerzwingungsantrags erhob der Beklagte daher wegen schwerwiegender Verletzung der Verfahrensgrundrechte aus Art. 3 I, 101 I 2 und 103 I GG Verfassungsbeschwerde, über die noch nicht entschieden ist. Beispiel 3 (Az. 55 S 239/17 LG Berlin, Anwaltsrecht, unterlassene Belehrung nach § 49b V BRAO und fehlender Einzelrichterübertragungsbeschluss):

Sachverhalt: Der Beklagte hatte an eine Wohnungsbaugesellschaft ein Mietobjekt verkauft, für das eine Baugenehmigung zur Aufstockung um eine Etage bestand. 3

Dazu Thomas M.J. Möllers (Fn. 30), § 7 IV Rn. 45.

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Nachdem die Käuferin mit dem Aufbau begonnen hatte, glaubte sie im Dachstuhl Holzbockbefall festgestellt zu haben und forderte daher den Beklagten durch Anwaltschreiben unter Klageandrohung auf, ihr vom Kaufpreis 225.000 E wegen arglistiger Täuschung zurückzuerstatten. Darauf vereinbarte der Beklagte bei einem ihm empfohlenen Rechtsanwalt, dem Kläger, einen Besprechungstermin, wobei er diesen zuvor schriftlich wissen ließ, dass er sich möglichst außergerichtlich mit der Käuferin einigen wolle. Zum vereinbarten Besprechungstermin nahm er den bisherigen Baubetreuer mit und erklärte dem Kläger, dass er nicht mit einer Klage rechne, da der angebliche Schaden wegen des schon fortgeschrittenen Abbaus des Dachstuhls vermutlich kaum noch nachgewiesen werden könne. Folglich einigten sich die Parteien darauf, dass der Kläger beim gegnerischen Anwalt anfragen solle, ob Bereitschaft zur gütlichen Einigung bestehe. Diesen Auftrag setzte der Kläger sofort in die Tat um, indem er im Beisein des Klägers und seines Begleiters ein Schreiben an den Gegenanwalt diktierte, in welchem er bestritt, dass sein „Mandant“ im notariellen Kaufvertrag eine falsche Erklärung abgegeben habe, und monierte, dass der bezifferte Schaden nicht konkretisiert worden sei. Sein Mandant sei bereit, den angeblichen Schaden aufgrund eines noch einzuholenden Angebots einer Fachfirma beseitigen zu lassen. An dieses Angebot halte sich dieser „bis zum 18. April 2017“ gebunden. Falls es auf dieser Basis nicht zu einer Einigung komme, werde „allerdings ein Rechtsstreit unvermeidlich sein“. Auf Frage des Beklagten, womit er an Honorar zu rechnen habe, veranlasste der Kläger seine Sekretärin, ihm einen Computerauszug mit dem vollen Prozessrisiko über zwei Instanzen bei einem Gegenstandswert von 225.000 E zu übergeben. Darauf bat er ihn noch, eine Vollmacht zur Prozessführung zu unterzeichnen und ihm einen Honorarvorschuss von 2.500 E zu überweisen. Das Vollmachtsformular enthielt am Ende in Fettdruck folgenden Zusatz: „Der Auftraggeber wurde darauf hingewiesen, dass sich die Vergütung des Rechtsanwalts entsprechend § 2 RVG nach dem Wert berechnet, den der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit hat (Gegenstandswert).“ Nachdem der Gegenanwalt auf das Schreiben bis zum 18. 04. 17 nicht reagierte, unternahm es der Beklagte, sich persönlich mit dem ihm von den Vorverhandlungen her bekannten Vertreter der Käuferin in Verbindung zu setzen, und einigte sich mit diesem ohne Beisein beider Anwälte darauf, dass er an die Käuferin zur Abgeltung aller ihrer angeblichen Ansprüche einen Betrag von 30.000 E zahlt. Über den Vergleichsabschluss informierte er den Kläger und fragte an, ob die Formulierung so in Ordnung gehe, was jener bejahte. Zugleich übersandte auch der Gegenanwalt dem Kläger den Vergleich mit der Bitte um Prüfung, „ob er so unterzeichnet werden kann“. Darauf stellte der Kläger dem Beklagten ausgehend von einem Gegenstandswert von 225.000 E folgende Gebühren in Rechnung: 1,3 Geschäftsgebühr, 1,5 Einigungsgebühr zuzüglich Auslagenpauschale und Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 7.130,96 abzüglich der schon bezahlten 2.500 = 4.630,96 E. Dies erschien dem Beklagten bei weitem überhöht, so dass er sich von einem anderen Anwalt gebührenrechtlich beraten ließ und ihm das Mandat zu seiner Vertretung erteilte. Dieser teilte dem Kläger mit, dass aus folgenden Gründen jede weitere Zahlung

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abgelehnt werde: Erstens habe es dieser versäumt, seinen früheren Mandanten zeitlich vor der Mandatsannahme nach § 49b V BRAO zu belehren, wobei davon auszugehen sei, dass die Annahme spätestens mit Beginn des Diktats erfolgt sei. Zweitens stehe ihm für das einfache Schreiben an den Gegenanwalt lediglich eine 3/10-Gebühr nach der Nr. 2301 VV zu und drittens sei keine Einigungsgebühr angefallen, da er am Zustandekommen des Vergleichs nicht mitgewirkt habe. Allenfalls stünde ihm für die spätere Durchsicht des Vergleichs nach § 34 I 3 RVG eine Beratungsgebühr in Höhe von höchstens 250 E zu, da sich das seiner Vorstellung nach auf die gerichtliche Vertretung seines früheren Mandanten gerichtete Mandat mit Ablauf der Frist zum 18. 04. 17 faktisch von selbst erledigt habe. Verfahrensverlauf: Auf die Zahlungsklage des Klägers wandte der Beklagtenvertreter außerdem Folgendes ein: Der Mandatsvertrag sei schon wegen Dissenses über den Inhalt des Mandats als nichtig zu betrachten, da der Kläger entgegen dem klar geäußerten Wunsch des Beklagten nach einer ausschließlich außergerichtlichen Vertretung einfach eine Prozessvertretung unterstellt habe. Es lägen klare Indizien für das Auseinanderfallen des inneren Willens der Parteien vor, nämlich auf der einen Seite das Anschreiben des Beklagten vor dem Besprechungstermin und dessen Hinweise während dieses Termins, nachweisbar durch seinen Begleiter, und auf der anderen Seite die Vorlage des Computerauszugs über das Prozessrisiko, dann der letzte Satz des Schreibens des Klägers an den Gegenanwalt und schließlich die dem Beklagten abverlangte Prozessvollmacht. Der Beklagte habe klar erkennbar nur an ein beschränktes Mandat gedacht. Im Zweifel wäre es daher Aufgabe des Klägers gewesen, genauer dessen Zielvorstellungen zu erfragen. Außerdem habe der Kläger angesichts der Tatsache, dass es sich bei den geforderten 225.000 E um einen Phantasiebetrag gehandelt habe, lediglich von allenfalls 40.000 E als Gegenstandswert ausgehen dürfen. Er müsse daher vom Vorschuss eigentlich noch einiges zurückzahlen. Der Beklagte wurde in erster Instanz vom Amtsgericht voll mit der Begründung verurteilt, es habe dahingestellt bleiben können, ob die Belehrung nach § 49b V BRAO erfolgt sei, da durch den Verstoß gegen diese Vorschrift nicht der Vergütungsanspruch für die anwaltliche Tätigkeit entfallen sei. Der zum Beweis für die Behauptung der nicht erteilten Belehrung als Zeuge angebotetene Begleiter des Beklagten habe daher auch nicht antragsgemäß vernommen werden müssen. Was den Gegenstandswert anbelange, sei entscheidend, was der Gegner verlangt habe. Angefallen sei nicht nur die 1,3-Geschäftsgebühr sondern auch die 1,5-Einigungsgebühr, da der Beklagte die Einigung mit dem Käufer von der Prüfung des Vergleichs durch den Kläger abhängig gemacht habe. Für die Mitwirkung reiche ein sog. fördender Rat. Davon, dass der Vergleich zwischen den Kaufvertragsparteien bereits „durch Handschlag“ verbindlich vereinbart worden sei, könne nicht ausgegangen werden, da auch der Gegenanwalt den Kläger mit der Bitte um Prüfung des Vergleichs angeschrieben habe. Auch für die Anwendung des § 31b RVG habe es an den Voraussetzungen gefehlt. Dem Beklagten stehe wegen der angeblich unterlassenen Belehrung nach § 49b V BRAO auch kein aufrechenbarer Schadensersatzanspruch

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zu, da nicht nachgewiesen sei, dass der Beklagte bei ordnungsgemäßer Belehrung von der Mandatserteilung Abstand genommen hätte. Davon abgesehen habe der Kläger nicht gegen die Belehrungspflicht aus § 49b V BRAO verstoßen, da er den Beklagten „mit dem Hinweis auf der Vollmacht rechtzeitig vor Übernahme des Auftrags auf die vorgesehene Abrechnung nach Gegenstandswert hingewiesen“ habe. Denn der Beklagte habe „die Entscheidung über die Erteilung des Mandats zur außergerichtlichen Einigung erst im Anschluß an die Beratung“ getroffen. Das Diktat habe nur der Information des Beklagten darüber gedient, „wie sich der Kläger eine außergerichtliche Vertretung des Beklagten vorstellte“. Der Vertragsschluss sei mit der Vollmachtserteilung zusammengefallen. Mit der Berufung des Beklagten wurde in erster Linie die unterlassene Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich des behaupteten Totaldissenses bei der Mandatserteilung gerügt. Außer der Tatsache, dass der Kläger dem Beklagten keine seinem Auftrag entsprechende spezielle Vollmacht für die außergerichtliche Vertretung vorgelegt habe, sondern eine solche für die ausdrücklich nicht gewollte Prozessvertretung, habe er es auch schuldhaft versäumt, ihn nach dem Umfang des Mandats zu befragen. Denn es richteten sich „Art und Richtung der vom Anwalt zu erfüllenden Aufgaben, also der Umfang seiner Vertragspflichten im konkreten Fall, nach dem erteilten Mandat und den Umständen des einzelnen Falls“ (u. a. BGH NJW 1996, 1499, 1501). Ein Erfahrungssatz dahin, dass ein Auftraggeber seinen Anwalt umfassend beauftragen will, sei nicht anerkannt. Die grundlegende Pflicht des Anwalts, schon zu Beginn des Mandats den Sachverhalt so weit wie möglich präzise zu klären, beinhalte auch die möglichst genaue und umfassende Klärung und richtige Erfassung des Ziels oder der Zielvorstellungen des Mandanten und deren Vereinbarkeit mit dem vorgetragenen Sachverhalt. Diese Grundsätze habe der Kläger bei dem Eingangsgespräch sträflich vernachlässigt. Auch ohne Übernahme der Beweislast hätte daher dem Beweisantrag stattgegeben werden müssen, den Begleiter des Beklagten als Zeuge einzuvernehmen, da dieser sowohl bestens mit der Problematik vertraut war, um die es ging, als auch mit den Ambitionen des Beklagten. Jedenfalls sei nach den Umständen die Mandatsübernahme durch den Kläger unbestreitbar zeitlich vor dem Diktat erfolgt. Bis dahin sei aber von einer Belehrung nach § 49b V BRAO noch keine Rede gewesen. Insbesondere habe die Amtsrichterin verkannt, dass mit fruchtlosem Ablauf der Frist, die schließlich der Kläger dem Gegner zur Beantwortung seines Schreibens selbst gesetzt hatte, nämlich in der Hoffnung, es werde zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommen, das Mandat gegenstandslos geworden sei. Dies mit der Folge, dass der Beklagte berechtigt gewesen sei, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, zumal sich der Kläger danach nicht mehr bei ihm erkundigt habe, was er denn nun noch für ihn tun könne. Ferner könne sich der Kläger auch nicht darauf berufen, daß er sich die Mandatsannahme bis zur Unterzeichnung der Prozessvollmacht vorbehalten habe. Denn selbst wenn er diesen Vorbehalt zur Mandatsbedingung gemacht hätte, wäre diese Klausel nach § 308 Nr. 1 BGB unwirksam, weil keine hinreichend bestimmte Frist

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zur Erklärung der Annahme vorgesehen wurde (LG Köln, BRAK-Mitteilungen 2/ 2018, S. 97/99). Deshalb sei die Argumentation des Klägers und des Amtsgerichts krass widersprüchlich. Denn wenn das Mandat erst nach oder zugleich mit der Vollmachtserteilung angenommen wurde, könne vorher für das Schreiben an den Gegner keine volle Geschäftsgebühr angefallen sein. Und schließlich sei ein Vollmachtsformular keineswegs einem Formular für den Abschluss eines Mandatsvertrags gleichzusetzen. Denn stets setze die Vollmachtserteilung zwingend die vorherige Erteilung des Mandats voraus. Der Zusatz in dem Vollmachtsformular über die Belehrung nach § 49b V BRAO sei daher an dieser Stelle verfehlt, weil verspätet, und daher unbeachtlich. Bis zur der faktischen Mandatserledigung sei daher in der Tat nur die 0,3-Gebühr nach Nr. 2301 VV angefallen. Andernfalls hätte die Erstrichterin die mündliche Verhandlung nach § 156 ZPO wiedereröffnen müssen. Auf Anfrage des Kammervorsitzenden teilten beide Parteivertreter mit, dass mit der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter kein Einverständnis bestehe. Demzufolge wurde Termin vor der Kammer anberaumt. Eröffnet wurde die Sitzung jedoch völlig überraschend von einer Einzelrichterin, die dem Beklagtenvertreter einen Beschluss überreichte, wonach „der Rechtsstreit der bisherigen Berichterstatterin zur Entscheidung als Einzelrichterin übertragen“ worden sei. Der Beschluss war von der Einzelrichterin mit unterzeichnet worden, wobei bei allen drei Richtern die Dienstbezeichnung fehlte. Diese Richterin, die sich später als Proberichterin herausstellte, wies nach kurzer Erörterung die Berufung mit Hinweis darauf zurück, der Beklagte habe erst nach der Unterzeichnung der Vollmacht durch den Beklagten davon ausgehen können, dass ihm dieser das Mandant erteilen wollte. Für die Beendigung des Mandats hätte es einer Kündigung bedurft. Im Übrigen wurde auf die Gründe des Ersturteils verwiesen. Gegen das Urteil erhob der Anwalt der Beklagten die Anhörungsrüge des § 321a ZPO unter gleichzeitiger Ablehnung der Einzelrichterin als befangen mit der Begründung, diese habe auf krasseste Weise das rechtliche Gehör des Beklagten missachtet und massivste Verfahrensfehler begangen. Insbesondere seien bei Erlass des – nicht anfechtbaren – Einzelrichterübertragungsbeschlusses krass die Voraussetzungen des § 526 I Nr. 1 – 4 ZPO missachtet worden. Eine Spezialkammer gemäß § 348 I 2 Nr. 2d ZPO für Streitigkeit aus der Berufstätigkeit der Rechtsanwälte sah der Geschäftsverteilungsplan des Gerichts nicht vor. Auf das Ablehnungsgesuch reagierte die 55. Zivilkammer erst nach 7 Monaten mit dem Hinweis darauf, dass die Richterin inzwischen aus der Kammer ausgeschieden sei und daher das Gesuch zurückgenommen werden möge. Darauf nahm der Beklagtenvertreter das Gesuch zurück und fragte an, wie denn nun weiter mit der Anhörungsrüge verfahren werde. Ohne dass diese Anfrage beantwortet wurde, erhielt er einige Zeit später unvermittelt den Beschluss eines neu in die Kammer eingetretenen Richters, mit dem dieser in angeblicher Funktion als von der Kammer eingesetzter Einzelrichter die Rüge mangels Verletzung des Art. 103 I GG als unbegründet zurückgewiesen hatte. Dies verlasste ihn, Einsicht in die Gerichtsakte zu nehmen, aus der sich ergab, dass

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vor Erlass dieses Beschlusses keinerlei Übertragung der Sache auf jenen neuen Richter als Einzelrichter durch Beschluss i. S. des § 526 I ZPO stattgefunden hatte. Darauf forderte er die Kammer unter Hinweis auf BGH NJW 93, 600 auf, sie möge durch Beschluss feststellen, dass jener Beschluss des offenbar selbsternannten Einzelrichters wegen „unheilbaren Mangels“ nichtig sei, weshalb über die Gehörsrüge neu durch die Kammer entschieden werden müsse. Dazu kam hinzu, dass ihm auf seine Anfrage beim Landgerichtspräsidenten, ob die Proberichterin bei ihrer Entscheidung überhaupt die Voraussetzungen des § 348 I 2 Nr. 1 ZPO erfüllt hatte, mitgeteilt worden war, diese habe vor ihrem gerade erst erfolgten Eintritt in die Kammer lediglich eine Station an einem Sozialgericht absolviert. Dies bedeutete, dass jener Proberichterin der Rechtsstreit von vornherein nicht zur Entscheidung als Einzelrichterin hätte übertragen werden dürfen. Demzufolge stützte der Beklagtenvertreter die Anhörungsrüge auch noch auf diese Tatsache und reichte vorsorglich Nichtigkeitsklage nach § 579 I Nr. 1 und 4 ZPO ein. Nachdem die Kammer auch darauf nicht reagierte, beantragte er, durch Zwischenurteil analog § 366 I ZPO festzustellen, dass der Beschluss des von der Kammer nicht ausdrücklich zum Einzelrichter bestimmten Richters, mit dem dieser die Anhörungsrüge des Beklagten und Berufungsklägers als unbegründet zurückgewiesen habe, wirkungslos ergangen sei mit der Folge, daß über die Anhörungsrüge noch nicht rechtswirksam entschieden wurde, weshalb das Verfahren fortzusetzen sei. Feststehe nach Einsicht in die Gerichtsakte, dass von der Kammer kein Einzelrichterübertragungsbeschluss nach § 526 I ZPO erlassen wurde, weshalb offensichtlich zuvor auch keine Prüfung der Voraussetzungen der Nrn. 1 – 4 stattgefunden habe. Nach Ausscheiden der Proberichterin sei der Rechtsstreit wieder automatisch Kammersache geworden (Musielak/Voit, ZPO, § 348 Rn. 5a m. w. Nachw.). Vor allem ersetze der interne Geschäftsverteilungsplan nicht den Einzelrichterübertragungsbeschluss. Der Richter hätte daher selbst dann, wenn er tatsächlich zum Einzelrichter bestimmt worden wäre, wegen der tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Sache die Verpflichtung gehabt, den Rechtsstreit der Kammer nach § 526 II Nr. 1 ZPO zur Entscheidung über die Übernahme vorzulegen. Auszugehen sei nach BGH NJW 93, 600 sowie auch BGH NJW 2001, 1357 somit davon, dass der Beschluss jenes nicht authorisierten Richters mit einem „unheilbaren Mangel“ behaftet ist mit der weiteren Folge, daß über die Gehörsrüge noch nicht rechtswirksam entschieden wurde, womit das Verfahren fortzusetzen sei. – Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Termin findet erst im September d. J. statt.

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Sachwortregister Akzeptanz 28 (Fn. 38), 60, 100, 110, 123, 124 ff., 133, 142, 157, 160, 197, 211 Amtspflichten – nicht strafbewehrte 84, 201 f. – strafbewehrte 112 f. Anhörungsrüge – als Placeborechtsbehelf 159 f., 164, 212 – als Sonderrechtsbehelf 16 f., 71 ff., 86, 94 f., 101, 103, 109 ff., 116, 155 ff. Anhörungsrügengesetz 113, 117 ff. Anhörungsrügeverfahren 115 Auslegung 45, 52, 82 – authentische 195 – berichtigende 43, 161, 200 – gesetzesergänzende 148 – restriktive 28, 66, 145, 159 – verfassungskonforme 120 ff., 170 f. Ausnahmerechtsbehelfe, ungeschriebene 67 f., 74 außerordentliche Beschwerde 68 außerordentliche Rechtsbehelfe 34, 101, 215, 121 – Entwicklung 29 – Legitimation 33

Begründung siehe Entscheidungsbegründung Begründungszwang 57 beobachtende Teilnahme 35 Beseitigungsanspruch, ungeschriebener 85 (Fn. 280) Bewertungs- und Personalberechnungssystem Pebbsy 37 Bindungsgebot siehe Gesetzesbindung Bundesverfassungsgericht 39, 45 – als Ersatzgesetzgeber 21, 74 – als Pannenhelfer 67, 71 ff., 103, 117, 157 – als unkontrollierbarer Kontrolleur 97 – Effektivitätsvorbehalt 73, 158, 168, 210 f.

– Plenarbeschluss 67, 72, 107, 206, 211, 395 – Willkürrechtsprechung 52 Code de procédure civil 30 Corpus Juris Fredericianum 30 CPO Reichscivilprozeßordnung 30 f. Dienstaufsicht, richterliche 91 Déformation professionelle 108 Dunkelfeld 27, 100 Effektivität des Rechts siehe Seinsgeltung Effektivität des Rechtsschutzes 17 f., 47, 114, 165 – nach EU-Recht 180 – psychische Wirksamkeitsfaktoren 36 f., 96, 156 f. siehe auch Akzeptanz – verfassungsrechtliche Anforderungen 63 ff. Effektivitäts- und Evaluationsforschung 26 Entdeckungswahrscheinlichkeit 15, 196 Entscheidung – Herstellung und Darstellung 78 ff. – Idee der einzig richtigen 48, 59 Entscheidungsbegründung – als Kontrollgegenstand und -instrument 56 ff., 212 – Anforderungen 57 – fehlende 58 – nach EU-Recht 181 – letztinstanzlicher Urteile 57 Entscheidungsfindung, richterliche 54 – Gesetzesbindung siehe dort – gesetzliche Vorgaben 76 ff. Entscheidungsverhalten, richterliches – als Sanktionsgegenstand 89 f. – als soziale Praxis 18, 35 – greifbar gesetzwidriges siehe greifbare Gesetzwidrigkeit Erodierung des § 339 StGB 21, 28, 145

246

Sachwortregister

Evaluation 19, 93 ff., 100 – Durchführbarkeit 98 f. – Gegenstand 95 – nach der schweizer Bundesverfassung 20 (Fn. 14), 41 – Zielsetzung 96 Evaluationsstandards 99 Fairnessgebot 58, 158 Faktizität des Rechts 271, 27, 41, 142 Fehlurteilsforschung 162 Freirechtslehre 78 Gegenvorstellung 67, 71, 74, 179 Gehörsverletzungen 95, 103, 109 siehe auch Anhörungsrüge – als Wiederaufnahmegrund siehe Nichtigkeitsklage Geltung der Rechtsnormen – instrumentelle und symbolische 66, 143 – Nichtgeltung 97 – Sankionsgeltung 97, 142 – Seinsgeltung siehe dort – Verhaltensgeltung 82, 97 Gesetzesbindung 23, 31 (Fn. 52), 54, 76 ff., 82 ff. (Fn. 269), 90 f., 148 Gesetzesevaluation siehe Evaluation Gesetzesfolgenabschätzung 118 Gesetzgeber 55, 204 – Alibi-Gesetzgebung 159 f., 192, 194 – Einschätzungsprärogative 83 – Intervention siehe dort – Regelungsziele 102 – symbolische Gesetzgebung 164 Gesetzeszwecke 101 ff. Gewaltenteilung 79, 82 f., 95 (Fn. 312), 174 Gleichheitssatz 52, 86, 90 f. greifbare Gesetzwidrigkeit 16, 51 – 56, 201 Grundrechtsschutz – durch Verfahren 109, 188, 199 – primärer und sekundärer 107, 114 Hypothese 21, 26 (Fn. 33) – Konkretisierung 94 f. – Überprüfung 98 – Wirkungshypothese 94, 97, 100

Implementations- und Evaluationsforschung 22 Implementierung, missglückte 22, 114, 118, 134, 138, 212, 216 Instanzinterne Selbstkontrolle 120, 127 – als Kontrollinstrument 214 – Versagen 158 ff. Intervention des Gesetzgebers – ungeplanter Nebeneffekt 74 – Wirkungen 22 Judikatives Unrecht 16, 67, 101 – Fehlergruppen 23 f. – Haftung siehe Rechtsschutz – unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch 180 Jurisprudenz – als Handlungswissenschaft 35 f. – als interdisziplinäre Wissenschaft 43 – als Wirklichkeitswissenschaft 41 – soziologische Jurisprudenz 25, 154 Judikative – als Gegenstand der Kritik 107 – als stille Gewalt 35 (Fn. 76) – Kontrolle siehe Richterkontrolle – Machtmissbrauch 172 Justizgewährungsanspruch 61 f., 72, 75 Klageerzwingungsantrag 18 f., 95, 104 – Effektivität 172 – Entscheidungspraxis 151 ff., 161 – Evaluation 142 ff., 165 Kompetenz-Kompetenz 187 Kognitive Dissonanz 144 Krähenprinzip 54, 144 law in action, law in the books 36, 165 Legalitätsprinzip 104, 138, 150, 152, 212 Legitimation – der begründeten Entscheidung 214 – der sachlich unrichtigen Entscheidung 33, 49 – durch Verfahren 33, 48 Maskenaffäre 194 Methodenlehre, juristische 38, 59 f., 78 f. Mobilisierung von Recht 22 mündliche Verhandlung 129 f., 167 f., 212

Sachwortregister Nichtigkeitsklage 70, 129, 156, 169, 200, 206, 212 Nichtzulassungsbeschwerde 129 non-liquet-Verbot 36 Opportunitätsprinzip

138

Pakt für den Rechtsstaat Prozesszwecke 31 ff.

108

Qualität – der Rechtspflege 106, 108 f., 111, 167 – des Rechtsschutzsystems 47, 75, 120, 183 Qualitätsbeauftragter 217 Qualitätskontrolle 162, 173, 217 Qualitätsmängel 198, 215 Reaktionstheorie 96 Rechtsbehelf gemäß § 826 BGB 67, 138 Rechtsbegriff, soziologischer 142 Rechtsbeugung – als Sonderdelikt 53, 172 – als unvertretbare Rechtsanwendung 145 – als Verbrechen 53, 196 f. – Altes Testament 145 – Begriff 192, 193, 198 – des Kollegialgerichts 150 – Dunkelfeld 27, 197 – Entkriminalisierung 19, 147 – Konkretisierung 148 ff. – Rechtsgut 203 – Rechtsprechung 146 f. – Reform des § 339 StGB 179, 191 ff., 195 – Schweretheorie 28, 53 f. – Strafanzeigen wegen 15 (Fn. 1), 128, 197, 220 f. Rechtsfortbildung, richterliche 82, 138, 171 Rechtskraft, materielle 34 – Durchbrechung 45 f. – Rechtskrafttheorie 48 ff. rechtliches Gehör – Anspruch auf 125, 128, 169 – Aushöhlung 122, 136 (Fn. 125) – Rechtsprechung 72, 110, 117 Rechtsmissbrauch 107, 173 f., 176, 204 Rechtsmittelklarheit 110, 216

247

Rechtsschutzsystem 47, 75, 120, 183 Rechtsnormen – partikulare 89 – sanktionslose 90 – unvollständige 90 Rechtspflege – innerstaatliche 28, 84, 195 f., 202, 204 – Integrität der 85, 103, 112 – Qualität 108 f. Rechtsschutz – ad infinitum 66 – Begriff 85 ff. – defizite 25 f., 65, 166 – Effektivität siehe dort – gegen den Richter 21, 25 f., 65, 67 ff., 112, 215 – primärer 24, 114, 214 Rechtsschutzgarantie – des Unionsrechts 42, 180 – des Grundgesetzes 45, 67, 69 – der schweizerischen BV 44, 189 f., 206, 213 Rechtssoziologie 17 (Fn. 7 f.), 21 f., 26, 40 f. – als die wiss. Lehre vom Recht 36 – empirische siehe Rechtstatsachenforschung – Erkenntnisziel 26 (Fn. 33) Rechtsstab – als Kontrollorgan 89, 96, 112 – als Normadressat 80 f., 84 – Begriff und Funktion 27 Rechtstatsachenforschung 21, 26, 98, 177 Restitution – Ergebnisfehlerrestitution 137, 191, 208 f. – Verfahrensfehlerrestitution 50 f., 169, 210 Restitutionsgründe siehe Wiederaufnahmegründe Restitutionsklage 88, 112, 137 ff., 164 Richter – ablehnung 211, 222 – als la bouche de la loi 30 f. – Entmythologisierung 36 – Entscheidungsverhalten siehe dort – Unabhängigkeit 45, 106 f., 175, 196 – strafgerichtliche Verurteilung 104, 137, 170

248

Sachwortregister

Richterkontrolle 69, 87, 173 ff., 177 f. Richtigkeitsgewähr 45 ff., 48 f., 72 Sanktion – Begriff 48, 88 – Wirkung 85, 143, 184, 196 ff. Sanktionsandrohung 27, 172 Sanktionserwartung 28, 194, 196 ff. Sanktionsgeltung 142, 144 f., 177, 211, 215 Sanktionsnormen – als Verhaltensnormen 80, 88 f. – primäre und sekundäre 89, 202 Seinsgeltung 21 f., 26 f., 96, 142 f. Sollensanordnung 83 ff., 90, 112 Stimulus/Response-Schema 37 Strafjustizgewähr des Tatopfers 200 Subsumtion 36, 60 (Fn.177), 79 – finale 39 – Mythos 37

Verfahrenswirklichkeit 20 ff., 25, 102, 109, 113, 124 Verfassungsrecht, spezifisches 23, 179 Verhaltensnormen 29, 80 ff., 83, 85, 89, 97, 105, 107, 213 – sanktionslose 90 – sekundäre 90 – ungeschriebene 85, 90 Vollzugsdefizit 144, 213

Tatbestandsverfälschung 39 Theorie der Beweissicherheit 50, 137

Wiederaufnahmegründe 50, 166, 208 – Erweiterung durch Analogie 66, 70 f., 169, 123, 134, 214 Wiederaufnahmeklage siehe Restitutionsklage Wiederaufnahmerecht – der schweizerischen ZPO 44, 189 f., 207, 213 – Rechtsfortbildung 138 f. – Reformbedürftigkeit 134, 166 f., 214 Wiederaufnahmetheorie 50, 170 Wirkungsforschung 19, 99

Vereinfachungsnovelle 71 Verfahrensgrundrechte 61 f., 67 f., 83 f., 86, 103, 110 f., 122, 155, 181, 198 ff., 205, 212 f.

ZPO-Reform 2002 20, 25, 43, 46, 55, 71, 109, 131, 168, 212 Zugangsschranken 17 f., 133, 139 f., 141, 181