Judaica 5 : Erlösung durch Sünde 3518221116

Herausgegeben, aus dem Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michael Brocke Titel der 1937 erschie

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Judaica 5 : Erlösung durch Sünde
 3518221116

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Gershom Scholem

Judaica 5 Erlösung durch Sünde

Bibliothek Suhrkamp

SV

Band

der Bibliothek Suhrkamp

Gershom Scholem Judaica 5 Erlösung durch Sünde Herausgegeben, aus dem Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michael Brocke

Suhrkamp Verlag

Titel der 1937 erschienenen Originalausgabe: Mizwa ha-ba'a ba *avera

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1992 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffendichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany Erste Auflage dieser Ausgabe 1992 ISBN 3-518-22111-6

2 } 4 5 - 08 07 06 05 04 03

Inhalt Erlösung durch Sünde...........................................

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Ursprünge, Widersprüche und Auswirkungen des Sabbatianismus................................................

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Nachwort .............................................................

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Z« dieser Übersetzung ......................................... Nachweise.............................................................

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Erlösung durch Sünde *

* Dieser Ausdruck, hebräisch mizwa ha-ba'a ba'avera, der dem Essay seinen Titel gab, findet sich in den Akten der Gemeinde Satanow, die dem Buch Seder 'olam rabba we-suta u-megillath ta'anith, gedruckt von R. Jakob Emden im Jahr 1757, angefügt sind (fol. j6a). R. Jakob Emden charakterisiert das Verhal­ ten der Sabbatianer sowohl in dem genannten Werk als auch in seinem Sefer Schimmusch, fol. 20a, mit diesem Ausdruck, der dem Traktat Berachoth, fol. 47b, entnommen ist.

I

Kein Kapitel der Geschichte unseres Volkes in den letz­ ten zwei Jahrhunderten liegt so sehr im Dunkeln wie das der sabbatianischen Bewegung. Geradezu einstim­ mig sind die Historiker der Auffassung, daß dem Auf­ bruch im Inneren des Judentums und den dramatischen Ereignissen bis zur Apostasie Sabbatai Zwis in der Ge­ schichte des jüdischen Volkes grundlegende Bedeutung zukommt und daß diese Epoche objektiv, und ohne die führenden Gestalten und ihre Anhänger mit Schimpf und Schande zu bedecken, erforscht und geprüft wer­ den muß. Wir haben, zumal in jüngster Zeit, begriffen, daß man zum Verständnis dessen, was sich hier im Herzen der Nation abgespielt hat, nicht durch Vorur­ teile gelangt, die das Geschehen jener Zeit nur im Hin­ blick auf eine Übereinstimmung mit unseren Begriffen oder denen der religiösen Tradition bewerten. Daß es sich bei den Ereignissen der Jahre 1665 und 1666 um »Betrug« oder dergleichen gehandelt habe, sind Auf­ fassungen, die widerlegt wurden und allmählich aus den Werken der Historiker verschwinden. Mehr noch: in der Generation des nationalen Aufbruchs entwickel­ ten manche ein neues und tiefes Verständnis dieses tra­ gischen Ausbruchs des Erlösungswillens und der Erlö­ sungssehnsucht im jüdischen Volk. Ganz anders je­ doch liegen die Dinge, wenn es um das Verständnis der Geschichte der Sabbatianer nach der Apostasie Sabba­ tai Zwis geht. Hier verstellt bis heute nicht Unfähig­ keit, sondern der Unwille zum Verständnis den Blick. In den letzten hundert Jahren zeigten die Forscher eine auffällige Tendenz, die Bedeutung des »ketzerischen« Sabbatianismus möglichst herabzumindern. Der Ver­ lauf dieser Bewegung, ihre geistigen Grundlagen und

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ihre Rolle für die Veränderungen der jüdischen Welt im 18. Jahrhundert wurden keineswegs angemessen er­ forscht. Unmöglich, ein Buch über diesen Gegenstand zu lesen, ohne darüber zu staunen, in welcher Fülle Schimpf und Tadel unablässig diejenigen treffen, die in die Angelegenheiten der sabbatianischen Sekten ver­ wickelt waren, und kein typischeres Beispiel für diese Sicht der Dinge als David Kahanas »Geschichte der Kabbalisten, Sabbatianer und Chassidim« (Toledoth ha-Mekubbalim, ha-Schabta'im we-ha-Chassidim). Die moralische Entrüstung, die nicht aus tieferer Er­ kenntnis des Gegenstandes folgt, sondern ihr voraus­ geht oder an ihre Stelle tritt, beschränkt sich keines­ wegs auf die Vertreter einer bestimmten Weltanschau­ ung, sondern ist allen, Aufklärern, Orthodoxen und »Gemäßigten«, gemeinsam. Dennoch stehen wir hier vor einem ernsten Problem. Wer sich diesen Fragen nähert, trifft auf eine gewaltige, doppelte Schwierigkeit: die der Quellenlage und die ei­ ner bestimmten inneren Einstellung - und beides ist aufs engste miteinander verknüpft. Wie das? Die sabbatianische Bewegung, wie sie sich in verschie­ denen Formen und Gruppierungen entfaltete, hielt sich in bestimmten Schichten des jüdischen Volkes mit er­ staunlicher Hartnäckigkeit noch ungefähr einhundert­ fünfzig Jahre nach dem Übertritt Sabbatai Zwis. In manchen Ländern war sie sehr stark; doch aus unter­ schiedlichen Gründen - äußeren wie inneren - ent­ schied sie, im Verborgenen zu agieren, und ließ nichts von dem, was sich in ihrem Inneren abspielte, an die Öffentlichkeit dringen. Gerade ihre Repräsentanten enthüllten ihren wahren Glauben nicht in gedruckten Werken, und noch in dem, was sie drucken ließen, verio

bargen sie mehr, als sie offenbarten. Dagegen besaßen sie eine außerordentlich reiche Literatur, die nur für die »Gläubigen« selbst bestimmt war. »Gläubige«, ma’aminim, lautete die allgemeine Selbstbezeicbnung der Sabbatianer gleich welchen Zweigs oder welcher Par­ teiung bis zu den letzten »Dönmeh« in Saloniki und den letzten Frankisten in den Ländern der öster­ reichischen Monarchie. Mit dieser Literatur geschah folgendes: Solange der Sabbatianismus im Ghetto als eine lebendige Kraft wirkte, die den Bestand der jüdi­ schen Tradition von innen heraus gefährdete, bemüh­ ten sich seine zahlreichen Widersacher und Verfolger, alles zu vernichten, was in ihre Hände fiel. Fanden sie Schriften von Anhängern sabbatianischer Kreise, ver­ brannten sie diese und »[sogar] alle [heiligen] Gottesna­ men darin«, wie die Bannschriften es verordnet hatten. So wurden viele Bücher vernichtet, ohne daß von ihnen das Geringste übrigblieb. Wäre es nach dem Willen der Rabbiner gegangen, die um das Schicksal des Juden­ tums fürchteten, wäre keinerlei Erinnerung an die Worte dieser Ketzer und Abtrünnigen zu uns gedrun­ gen - mit Ausnahme dessen, was in den Polemiken ge­ gen sie steht, die gedruckt wurden, um »ihre Schande« öffentlich anzuprangern. Hinzu kommt, daß beson­ ders die Frankisten in Böhmen und Mähren bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts im Besitz einer reichen religiösen Literatur waren, die Nachkommen dieser Familien aber, die Söhne und Enkel der »Gläubigen« in Prag und den anderen Gemeinden, sich selbst darum bemühten, jede Erinnerung an die Taten ihrer Väter und an ihren Glauben zu tilgen. Der berühmte Philosoph und Historiker des Atheismus, Fritz Mauthner, ein Nachkomme von Frankisten, bewahrt uns in seinen Erinnerungen diese interessante Bege-

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benheit1: Als die Bewegung im Abklingen war, kamen frankistische »Gesandte« zu seinem Großvater (sicher auch zu anderen Angehörigen der Sekte) und verlang­ ten, man solle ihnen »verschiedene Schriften« sowie das Bild der »Herrin«, das sich bei ihm befand [gemeint ist das Bild der Tochter Franks, die nach dessen Tod zum Haupt der Sekte wurde, A.d.U.], aushändigen, und nachdem sie alles erhalten hatten, verschwanden sie wieder. (Dies geschah in den zwanziger oder dreißi­ ger Jahren des 19. Jahrhunderts.) Dieser wichtige Punkt erhellt die besondere Beziehung einiger Historiker zur sabbatianischen Bewegung in mancherlei Hinsicht: Uns begegnen hier äußerst mäch­ tige und vitale Interessen und Gefühle. Aus den ver­ schiedensten Gründen kamen alle »Parteien« zu dem­ selben Schluß: Erscheinung und Gewicht des Sabbatianismus möglichst herabzumindern. Die orthodoxen Schriftsteller und Forscher waren daran interessiert, den Sabbatianismus herabzusetzen und seine Anliegen zu verschleiern, damit nicht, Gott bewahre, die Ehre einiger der Großen Israels, oder was immer sie darunter verstanden, angetastet würde. Apo­ logetische Bestrebungen, »grundsätzlich die Gerechten zu rechtfertigen«, taten das ihre. Hinzu kam das Ge­ schichtsbild der meisten dieser Schriftsteller, die in ih­ ren Büchern das Innenleben des Ghettos außerordent­ lich idealisierten und überhaupt kein Interesse daran zeigten, den Zwiespalt und die Abgründe aufzudekken, die im Seelenleben einiger Rabbiner selbst aufge­ brochen waren. Einzugestehen, daß irgendein Rabbiner in Jerusalem, Konstantinopel, Izmir oder Adrianopel i Fritz Mauthner, Erinnerungen (München 1918), S. 306. Die Mutter des Au­ tors war die Tochter eines ehemals »Gläubigen« aus der kleinen Gemeinde Horosiz in Böhmen, der am »Hof« in Offenbach gewesen war.

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beziehungsweise in Prag, Hamburg oder Berlin Sabbatianer gewesen sei - das bedeutete gewissermaßen, Menschen, die als makellose Juden galten, mit einem moralischen Fehl zu behaften. Es existiert in diesem Kreis ein außerordentlich starker seelischer Wider­ stand, sich überhaupt mit Dingen zu befassen, denen ein Ruch von Blasphemie, ja von Schmutz anhaftet. Zahllose Beispiele aus der Literatur zur Geschichte der Gemeinden und Rabbiner im 18. Jahrhundert bezeu­ gen diese Geisteshaltung. Besonders leidet an diesem »Idealismus« A. L. Frumkins Geschichte der Jerusale­ mer Gelehrten, die noch die strengst orthodoxen Sabbatianer von dieser »Schande« losspricht. Aufklärer und Liberale hingegen waren aus anderen Gründen an der Abwertung der sabbatianischen Bewe­ gung interessiert: waren doch in den westlichen Län­ dern die meisten Familien, die des Sabbatianismus ver­ dächtigt wurden, innerhalb des Judentums verblieben, ja hatten in der Epoche des Liberalismus - besonders in Österreich - beträchtliche Geltung erlangt. Die Kinder dieser Familien waren zwar nicht mehr Rabbiner, doch waren sie »mehr als das« - »Bannerträger« der Aufklä­ rung, einflußreich in den höchsten Kreisen und mäch­ tige Finanziers. Diese warfen nun scheele Blicke auf jeden Versuch, ihnen den »Makel« ihrer Familien ins Gedächtnis zurückzurufen; zur Zeit ihrer Vormacht­ stellung in der jüdischen Gesellschaft während des letz­ ten Jahrhunderts galt ihre Meinung viel, und wehe, der Name einer solchen Familie wurde ausdrücklich er­ wähnt; auch war es besser, nicht zu viele Nachfor­ schungen anzustellen, denn diese schienen selbst für das bürgerliche Bewußtsein dieser Generation keines­ wegs zum politischen Ziel der »Wissenschaft des Ju­ dentums« und zu den Kämpfen um die Emanzipation

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zu passen. Und was die Älteren dieser Generation aus freien Stücken unternommen hatten, als es noch viele Augenzeugen und Überlieferungen gab, das setzten die Jüngeren unfreiwillig fort, denn die Urkunden, Zeu­ genaussagen und Briefe waren bereits vernichtet, die direkten Informationen in Vergessenheit geraten, und geblieben war nur ein dunkles Gebilde sagenhafter An­ deutungen. Doch auch die dritte Seite verbarg ihre Angelegenhei­ ten, so gut es ging, nämlich die Angehörigen der Sekte der »Gläubigen« oder der »Dönmeh« in Saloniki und die Angehörigen der frankistischen Familien in Polen. Diese beiden Gruppen der sabbatianischen Bewegung waren nicht im Judentum verblieben, sondern in den Jahren 1683 und 1759 konvertiert. Ihren Glauben und ihren Zusammenschluß bewahrten sie noch lange Zeit in Gestalt einer geheimen Sekte, so die zum Islam kon­ vertierten Dönmeh bis zum Ersten Weltkrieg. Bis wann sich die zum Katholizismus konvertierten Fran­ kisten in Polen hielten, wissen wir nicht, da das Geheimnis ihrer Geschichte als Teil der polnischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag nicht aufgedeckt worden ist. Niemand weiß, wie viele Dokumente und Schriften, die kein Auge je wie­ der erblickt hat, in diesen Kreisen, besonders bei eini­ gen Warschauer Familien, aufbewahrt werden [1937, A.d.Ü.] und wieviel auch davon zerstört wurde, um ihre Vergangenheit und das Geheimnis im Lebenswan­ del ihrer Vorfahren in Vergessenheit zu bringen. Und dennoch: »Nicht verwitwet ist Israel« (Jer 51, 5). Obgleich die von allen Seiten betriebene Zerstörung und Geheimhaltung die Reduzierung historischen Ma­ terials, die der geschichtliche Zufall ohnehin bewirkt, noch verstärkte, besitzen wir wertvolle und wichtige

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Überreste. Die Anklagereden gegen die »Gläubigen« können aufgrund einiger Bücher, die der Vernichtung entgingen, geprüft (und meist bestätigt!) werden. Da und dort läßt sich das eine oder andere entdecken. Zwar werden zweifellos viele Details für immer unauf­ gehellt und unzugänglich bleiben, aber noch besteht Hoffnung, daß dieses wichtige Kapitel der jüdischen Geschichte einmal vollständig geschrieben werden wird. Schließlich wird ein richtiges Verständnis der sabbatianischen Bewegung nach der Apostasie Sabbatai Zwis auch einen neuen Schlüssel zum Verständnis der jüdischen Geschichte im 18. Jahrhundert und zum Ver­ ständnis der Anfänge der Aufklärung in manchen Län­ dern liefern. Meine Absicht in diesem Essay ist nicht, die äußere Ge­ schichte des Sabbatianismus und seine Wandlungen während 150 Jahren darzustellen, auch die Frage, ob dieser oder jener Sabbatianer gewesen sei oder nicht, werde ich außer acht lassen. Doch will ich meine klare Überzeugung nicht verhehlen, daß das Netz des Sabba­ tianismus sehr viel weiter gespannt war, als man heute gemeinhin zugeben mag. In vielen Fällen genügen selbst unsere äußerst unzulänglichen Quellen, um fest­ zustellen und eindeutig zu beweisen, daß die Zahl sabbatianischer Rabbiner größer war als vermutet, noch größer sogar, als ihr Hauptgegner, R. Jakob Emden, annahm, den man gewöhnlich der Übertreibung be­ zichtigt.2 So geht es in diesem Essay allein darum, die Ideologie des Sabbatianismus und ihre Entwicklung darzustellen, ein Kapitel, das bisher ganz besonders vernachlässigt wurde. 2 So R. Chajim Alfandari oder R. Benjamin Cohen aus Reggio, den R. Moses Chagis den »Gerechten seiner Generation« nennt (in Torath ha-Kena'oth, Lemberg 1870, S. 96).

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Liest man die Äußerungen von Heinrich Graetz oder David Kahana über die sabbatianische Kabbala, wird man das Geheimnis der Faszination des Sabbatianismus niemals begreifen. War alles Unsinn, Eitelkeit und Haschen nach Wind, und waren die Meister dieser Lehre Lügner und Betrüger, so möchte man wohl wirklich glauben, die Sache verlohne es nicht, daß je­ mand an sie auch nur einen Gedanken verschwende und sich ernsthaft mit ihr befasse. Und wie erst, wenn man zum tragischsten Kapitel der Geschichte des Sabbatianismus gelangt - zur Sekte der Frankisten! Die seelischen Hemmnisse, diese Erscheinung zu begrei­ fen, die hinsichtlich der sabbatianischen Bewegung insgesamt enorm sind, verstärken sich hier noch sieb­ zigfach. Denn hier steht als Stein des Anstoßes die Tat­ sache vor uns, daß die Angehörigen der Sekte sich nicht scheuten, in Disputen mit den Lemberger Rabbinern die Juden des Ritualmords anzuklagen, ein Akt, der das Gefühl der jüdischen Würde stärker verletzte, als die theoretischen Ansichten der Sektenmitglieder es ver­ mocht hatten. Um diese Frage der von Frankisten er­ hobenen Ritualmordbeschuldigung kreisen viele For­ schungen, besonders die des glänzenden Historikers Meir Balaban, der dieses Kapitel ausführlich in seinem Buch »Zur Geschichte der frankistischen Bewegung« (Le-toldoth ha-tenu‘a ha-frankith, 1934) aufgerollt und zum Eckstein seiner Erforschung der Geschichte der Sekte gemacht hat. Balaban zog eine wichtige Schlußfolgerung, die viel zur Lösung des Rätsels dieser Ritualmordanklage beiträgt. Er zeigt, daß es im Grunde keinerlei organischen Zusammenhang zwi­ schen den Glaubensgrundsätzen der Frankisten, wie sie im öffentlichen Disput formuliert wurden, und der erschütternden Ritualmordbeschuldigung gibt. Die

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Angehörigen der Sekte wollten diese Anklage keines­ wegs von sich aus erheben, sondern wurden dazu von Priestern gezwungen, die aus ihren eigenen Berech­ nungen heraus (und ohne Bezug zur Geschichte des Sabbatianismus) daran interessiert waren, sich der An­ hänger der Sekte für ihre Bedürfnisse zu bedienen. Das gesamte Kapitel des Disputs von Lemberg - ist das Werk von Klerikern, denen die Frankisten zu Hilfe ka­ men, um sich an den Rabbinern zu rächen, durch die sie harter Verfolgung ausgesetzt waren.3*5 Es gibt keinen Zweifel daran, wie wir das Verhalten der Frankisten im Lemberger Disput in moralischer und nationaler Hin­ sicht zu beurteilen haben. Außer Frage steht aber auch, daß unsere Kenntnis dieses Verhaltens (auf das sie an­ scheinend noch mehrere Male zurückkamen) uns kei­ neswegs zu einem besseren Verständnis der geistigen Welt der Sektenmitglieder selbst verhilft, da es in ihren Büchern (die ein oder zwei Generationen nach diesem Disput von 1759 geschrieben wurden) nicht einmal die Andeutung eines Hinweises darauf gibt, daß sie ihrer Anklage selbst Glauben schenkten. Aber eben ein sol­ ches Verständnis streben wir hier an. Und o Wunder: obgleich wir gerade aus den frankistischen Kreisen sehr wichtige Quellen zu einem Verständnis ihrer Lehre kennen, hat niemand es unternommen, die darin ent­ haltenen Ideen zu analysieren. Der Grund dafür ist ein­ fach. Graetz und A. Kraushar, die berühmte Bücher über Frank und seine Gemeinde geschrieben haben, dachten, eine frankistische »Lehre« gebe es nicht und 3 Balaban zitiert auf S. 26 5 die Worte des Eliezer von Jezierzany (eines Anhän­ gers von Frank)» der zu R. Chajim Ha-Kohen Rappapon von Lemberg nach Ende des Disputs zu diesem Punkt geäußert habe: »Chajim» hier hast du Blut um Blut! Du wolltest erlauben, daß unser Blut vergossen wird, jetzt gilt auch für euch Blut um Blut.«

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das »Buch der Worte des Herrn«, das wir auf polnisch besitzen (teilweise gedruckt), sei nichts als leeres Ge­ rede, aberwitziges Phantasieren ohne Sinn - und also gewiß auch ohne System. Nach Kraushar sind die Worte Franks »lächerlich, seltsam und unverständ­ lich«, und das Verhältnis von Graetz zu jeder Form von Mystik, ob orthodox oder häretisch, ist hinreichend bekannt, so daß von ihm schlechterdings keine Unter­ suchung der Texte zu erwarten war, die Verständnis für die religiösen Motive dieser Bewegung aufbrächte. In Balabans interessantem Buch schließlich geht es haupt­ sächlich um die Klärung der historischen Ereignisse bis zum Abfall der Frankisten und um ihre Glaubens­ grundsätze, die sie im Disput mit den Rabbinern vor dem Klerus verteidigten. Ihre wahre religiöse Welt aber wird nicht erläutert, da die »Glaubensgrundsätze«, die veröffentlicht wurden, von ihrem wirklichen Glauben, über den Balaban sich nicht weiter äußert, meilenweit entfernt waren. Balaban nimmt an, daß für die Juden der Frankismus mit dem Übertritt der meisten seiner Anhänger erledigt gewesen sei »und daß alles, was sich von da an ereignet, stärker mit der Persönlichkeit Franks und seiner Getreuen als mit einer religiösen Bewegung im Inneren des Judentums zusammen­ hängt«. Dieser Meinung Balabans ist allerdings kaum zuzu­ stimmen, und ich werde hier versuchen, wenigstens in Grundzügen darzustellen, daß der Sabbatianismus eine einzige kontinuierliche Bewegung war, die selbst nach dem Abfall einiger ihrer Getreuen in den Augen der Gläubigen als Einheit fortbestand - verständlich nur als eine religiöse Bewegung im Innern des Judentums, so paradox dieser Satz auch scheinen mag. Ich will die deutlich dialektische Entwicklung aufzeigen, die vom 18

Glauben an Sabbatai Zwi zum religiösen Nihilismus des Sabbatianismus und des Frankismus führt: zu einer Lehre, die die Seele des Judentums zutiefst erschütterte und den Grundsatz einschloß, daß »die Aufhebung der Tora ihre Erfüllung« sei. Vom Nihilismus als religiöser Haltung, die aus den Quellen der Religion schöpft, lei­ tete diese Dialektik schließlich über zur neuen Welt der Aufklärung. Denn die Sabbatianer, die jüdisch blieben, waren Stützen und Wegbereiter der Aufklärung. Sie oder ihre Kinder wurden selbst Aufklärer, nachdem sie die Hoffnung auf ihre Erlösung tief enttäuscht aufgege­ ben hatten. Ich werde auf diesen Seiten versuchen, die Grundlagen der geistigen Welt der Sabbatianer, ihrer verschiedenen Richtungen und Gruppierungen, zu er­ läutern. Und ich werde versuchen zu zeigen, daß die Krise des Judentums in den Generationen nach der Öffnung des Ghettos sich schon im Inneren, in verbor­ genen Winkeln der jüdischen Seele und im Allerheilig­ sten von Mystik und Kabbala selbst, vorbereitet hatte. Schon innerhalb der Ghettomauern fanden sich ein­ zelne Personen und kleine Zirkel, deren Begriffe und Lebensweise trotz äußerer Beachtung jüdischer Le­ bensformen in Wirklichkeit durch und durch verwan­ delt waren. In der Epoche vor der Französischen Revo­ lution fehlten die historischen Bedingungen, die diese latente Kraft in eine offen revolutionäre hätten verwan­ deln können, daher wirkte sie als revolutionärer Faktor im Inneren, in den verborgenen Schichten des jüdi­ schen Bewußtseins und des jüdischen Lebens, doch es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, daß hier keine Verbindung stattgefunden habe. Die Sehnsucht nach Befreiung, die einen so tragischen Ausdruck in der ni­ hilistischen Lehre der Sabbatianer fand, zeugt nicht nur von der Wirksamkeit zerstörerischer Kräfte. Im Ge19

genteil, die Pflicht des Historikers ist, das Positive in diesem Negativen, die Sehnsucht nach einem festen Bau inmitten solcher Zerstörung noch hinter allen Do­ kumenten, hinter Greuel und Gesetzlosigkeit wahrzu­ nehmen. Es ist nicht leicht, die nur allzu verständlichen psychischen Schwierigkeiten zu überwinden, die mit diesen Forschungen verbunden sind, und es ist kein Wunder, daß sich vor der Generation des nationalen Aufbruchs niemand fand, der die innere Freiheit hierzu besessen hätte. Erst die neue Bewegung öffnete uns die Augen, und wir sahen den Taumel der Erlösung noch in solchen Erscheinungen, die dem geruhsamen jüdi­ schen Bürger des letzten Jahrhunderts nur Wahn und Schrecken schienen. Doch auch unsere Generation trägt noch schwer am Erbe der letzten Generationen; viel zu stark ist die jüdi­ sche Historiographie von den Verurteilungen geprägt, die das Erbe jener sind, die als Kinder des 19. Jahrhun­ derts das gängige Bild jüdischer Geschichte hervorge­ bracht haben. Obgleich wir den Ort längst verlassen haben, von dem aus jene in unserer Geschichte sahen, was immer sie sahen - und zu Recht verkündeten wir stets von neuem die Notwendigkeit, die jüdische Ge­ schichte von Grund auf neu zu sehen, in einer national geprägten Sicht, nicht in einer der Assimilation -, so ziehen wir doch aus dem historischen Perspektiven­ wechsel erst allmählich nicht nur in der allgemeinen Historiographie, sondern auch in einzelnen konkreten Fragen die Konsequenzen. Bis heute zeigten nur zwei Männer Zeichen eines echten Verständnisses für die seelischen Verstrickungen des Sabbatianismus, näm­ lich S. J. Hurwitz in »Woher und wohin?« (Me-’ajin ul’an) und S. Rubaschow (Schasar) in seinen Aufsätzen, besonders in seiner Abhandlung »Auf den Trümmern 20

des Hauses Frank« (‘Al tile beth Frank)’, doch schenk­ ten nur wenige ihren Worten Aufmerksamkeit. Und noch eines ist hier zu bemerken. Es ist üblich, sich der Pflicht zu objektiver Befassung mit Sabbatianismus und Frankismus dank der gängigen Annahme zu entle­ digen, es handle sich dabei um krankhaft pathologische Erscheinungen, die nicht Gegenstand des Historikers, schon gar nicht des Religionshistorikers, sondern viel­ mehr ein Fall für den Arzt seien. Sd haben wir bereits Bichovskis Artikel »Frank und seine Sekte im Lichte der Psychiatrie« (Frank we-kitato le’or ha-psichiatria, in: Ha-Tequfa XIV), der das Unvermögen einer sol­ chen Sehweise demonstriert, ihren Gegenstand bis in seine Tiefe auszuloten. Kein Zweifel» Frank war nach dem Verständnis der Sexualpathologie ein kranker Mann, und zweifellos gab es in der sabbatianischen Be­ wegung (wie in jeder ausgesprochen radikalen Bewe­ gung in ihren, besonderen Spannungsverhältnissen, und oft am Rande eines normalen Seelenlebens) Einzelne, die auch dem Atzt als Fallgeschichte dienen mögen. Aber was ist damit gewonnen? Schließlich ist nicht das Problem eines Einzelnen von Bedeutung, sondern die Frage, wie es ihm gelang, Einfluß zu gewinnen und zu faszinieren. Wir wollen begreifen, wie es geschah, daß Tausende von Menschen in den seelischen Verstrickun­ gen des Sabbatianismus lebten und dort fanden, wo­ nach ihre Seele verlangte. Die Diagnose eines Nerven­ arztes kann hier weder positiv noch negativ etwas aus­ richten. Wir dürfen uns nicht durch die billigen Worte »Erkrankung« oder »Massenpsychose« beirren lassen. Sie verschleiern die Frage, statt sie zu präzisieren, ent­ binden uns davon, in die Tiefen des Gegenstandes selbst hinabzusteigen, und schmeicheln außerdem nicht wenig dem »normalen« Menschen, der solch bö-

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sein Unheil entgeht. Zu Recht sind wir uns alle sicher, daß Jakob Frank eine verdorbene und skrupellose Per­ sönlichkeit war, und dennoch wird uns dieser Mann, im bekannten Sinne, zum Problem, wenn wir seine »Lehren« studieren und verstehen wollen, wodurch er einer großen Bewegung als Anführer und Prophet er­ scheinen konnte. Mehr noch als das Innenleben der führenden Gestalten wollen wir das Innenleben der von ihnen Geführten begreifen; und in einer Bewegung wie der des Sabbatianismus, die sich ganz aus Parado­ xien aufbaut, stellt das Verständnis des seelischen Le­ bens ihrer Gläubigen ein besonders schwieriges Pro­ blem dar. Ich weiß nicht, ob Sabbatai Zwi oder Jakob Frank nur Betrüger waren, wenngleich diese Auffas­ sung, was Frank betrifft, nicht ganz unbegründet er­ scheint. Ihre Anhänger aber waren keine Betrüger: Ihr Glaube war echt - »rein« kann ich nicht sagen, denn wenn es eines gibt, was in der paradoxen Religion der Sabbatianer nicht existiert, so Reinheit! Aber auch wenn von Reinheit hier nicht die Rede sein kann, so finden wir doch gewiß echte Gläubigkeit, durchdrin­ gend bis in die Abgründe, die die Seele birgt. Nach den Wurzeln dieser Gläubigkeit fragen wir, ihre Eigenart wollen wir ergründen.

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Als mystische Häresie nahm der Sabbatianismus ver­ schiedene, stark wechselnde Formen an: Er zerfiel in zahlreiche kleinere Gruppen, und schon die Verfasser der polemischen Bücher gegen den Sabbatianismus wußten, daß diese »Ketzer«, weit davon entfernt, eine Einheit zu bilden, untereinander über fast alles zerstrit­

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ten sind.4 »Über fast alles«, denn eines war allen ge­ meinsam, die Grundlegung und Wurzel des »heiligen Glaubens«, wie die Sabbatianer selbst nannten, was ihre Gegner als Ketzerei und Häresie bezeichneten. Daher müssen wir zunächst diese Grundlagen bestim­ men, ihre seelischen Bedingungen ebenso wie die Form ihrer Lehre. Der messianische Aufschwung des Jahres 1666 erfaßte, so sämtliche Zeugen, alle Schichten der Nation in allen Ländern der Zerstreuung. In diesem Aufbruch der Gläubigen und der umgekehrten Sünder offenbarte sich ein neues Gefühl, das nicht in der Hoffnung auf politische Erlösung allein Sättigung fand. Die auf poli­ tische Autonomie zielende Idee der Erlösung - Freiheit vom Joch der Völker und Befreiung aus der Niedrigkeit des Exils - blieb mit der ganzen ihr eigenen Kraft auch in der großen Erregung wirksam, die damals alle Gei­ ster ergriff, aber unter dem Einfluß des Aufbruchs tra­ ten zudem seelische Begleiterscheinungen hervor, die, wie bald deutlich wurde, ein Eigenleben führten. Große Massen glaubten schlichten Herzens - die naive Reinheit des messianischen Glaubens war zu dieser Zeit noch ungebrochen -, daß der neue Geschichts­ zyklus bereits begonnen habe und sie schon in der neuen Welt der Erlösung stünden, was in ihrem Le­ bensgefühl Wurzel schlug. Die neue messianische Welt wurde ihnen zu einer Wirklichkeit des Gefühls, die an­ scheinend in keinerlei Widerspruch zum Lauf der äu­ ßeren Ereignisse stand, zu dieser historischen und poli­ tischen Realität, die schon im Zusammenbruch und Umbruch begriffen war, als Sabbatai Zwi seine Wun­ derreise antrat, um die Krone der Gottheit vom Haupt 4 Josef Ergas in Seferha-zad nachasch, fol. lyb-aoa, ebenso R. Mose Chagis in Torath ha-Kena'oth, S. 86, und R. Jakob Emden selbst, ibd. S. 61.

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des Sultans zu nehmen. In der Generation vor Sabbatai Zwi hatte die lurianische Kabbala sich der Herzen be­ mächtigt, und die messianische Idee in ihrer traditio­ nellen Gestalt und in ihrer politischen Färbung verband sich mit der mystischen Auffassung, welche die Kabba­ listen, diese theologischen Autoritäten der Nation im 17. Jahrhundert, über den mystischen Gehalt der Erlö­ sung und die geheime Bedeutung der nahe bevorste­ henden »Welt des Tikkun , * der Wiederherstellung des harmonischen Urzustands, entwickelt hatten. Der volkstümlich-nationale Mythos gewann hier neue Töne und Schattierungen, wurde umgedeutet und er­ weitert, bis er sich in ein kosmisches Drama verwan­ delte. Die Erlösung ist nun nicht mehr vornehmlich Befreiung aus der Knechtschaft unter den Völkern, sondern sie ist eine Wesensveränderung im Herzen der ganzen Schöpfung, ein Prozeß, der alle verborgenen und offenbaren Welten durchzieht; ist sie doch der Tikkun jenes großen Makels des »Bruchs«, der in ih­ rem Inneren geschehen war. Die Erlösung selbst be­ dingt einen radikalen Wandel in der Struktur der Wel­ ten, die zu ihrer Einheit und dem ursprünglichen Stand zurückkehren werden, den sie vor der Sünde einge­ nommen haben. Die Kabbalisten gingen in der Be­ schreibung des geistigen Wesens der Erlösung viel wei­ ter als in der Ausmalung ihres äußeren Bildes, das zwar keineswegs aufgehoben wird, sich ihnen aber allmäh­ lich zum Symbol des spirituellen Prozesses und dessen, was in ihm erreicht wird, verwandelt. »Die Sammlung der Zerstreuten ist die Sammlung der Funken, die in der Galuth, dem Exil, gefangen sind«, sagt der Verfas­ ser des Sefer ha-liqqutim im Abschnitt Wa-jischlach (fol. 22c). Die Kabbalisten kamen niemals auf den Ge­ danken, es könnte ein Konflikt entstehen zwischen 24

dem Symbol und der Wirklichkeit, die es zu symboli­ sieren bestimmt war. Niemand spürte die Gefahr, die in solcher Verlagerung des Schwerpunktes der Erlö­ sungsidee auf eine Ebene innerer Wirklichkeit lag, so­ lange nicht diese messianische Agitation in einer gro­ ßen historischen Stunde auf die Probe gestellt wurde. Die Kabbala bereitete die Herzen viel mehr auf eine Erneuerung des inneren Lebens, auf eine Selbsterneue­ rung der Seele vor als auf eine des politischen Lebens; da aber beide unlöslich miteinander verbunden sind, sah niemand darin etwas Erstaunliches. Im Gegenteil hieß es doch, daß diese Vorbereitung selbst das Kom­ men des Erlösers beschleunige. Als nun Sabbatai Zwi auftrat und die jüdischen Massen ihm glaubten, wurde jenes Erlebnis der inneren Frei­ heit, jenes Erlebnis einer »reinen Welt«, die in der Seele schon Wirklichkeit geworden war, zum Gemeingut vieler. Selbstverständlich erwarteten sie auch die volle Erfüllung der messianischen Verheißung in ihrem exoterischen und politischen Teil, doch was in ihrer Seele geschehen, war bereits unwiderruflich. Die »Erhebung der Schechina aus dem Staube« war eine Tatsache. Der »häretische« Sabbatianismus entstand, als durch die Apostasie Sabbatai Zwis, die ja ein durchaus un­ vorhergesehenes Ereignis war, sich eine Kluft auftat zwischen jenen beiden Schauplätzen des Dramas der Erlösung, ein Konflikt zwischen Erfahrung und Ge­ schichte, zwischen dem inneren und dem äußeren Aspekt der Erlösung aufbrach. Dieser Konflikt, auf den niemand vorbereitet war und an den keiner auch nur im Traum gedacht hätte, griff in die letzten Tiefen der Seele. Jetzt mußte gewählt und entschieden wer­ den: ob Gottes Wort aus dem Urteilsspruch der Ge­ schichte zu vernehmen sei oder aus der Wirklichkeit, 25

die sich in den Tiefen der Seele offenbart hatte. Der Sabbatianismus entstand, als breite Schichten der Na­ tion den Urteilsspruch der Geschichte anzuerkennen sich weigerten und nicht zugeben wollten, daß ihre Er­ fahrung sie getrogen hatte und haltlos war. Ein Ziel ist daher allen sabbatianischen Lehren, so ver­ schieden sie sind, gemeinsam: eine Ideologie zu schaf­ fen, die diesen Abgrund erklärte, der sich zwischen der inneren Realität und jener äußeren aufgetan hatte, die aufhörte, Symbol der inneren zu sein; eine Ideologie, die es denjenigen, die das neue Gefühl besaßen, ermög­ lichen würde, in dieser Spannung zwischen Innen und Außen zu leben. Der Sabbatianismus ist also aus einem Gefühl des Widerspruchs, aus einer Paradoxie heraus geboren, und das Gesetz, unter dem er angetreten, be­ stimmt auch seinen weiteren Verlauf: Der Sabbatianis­ mus ist auf dem Paradox des abgefallenen Erlösers auf­ gebaut und lebt aus Paradoxen, von denen immer eines ein weiteres nach sich zieht. Diejenigen, die für die Realität ihrer Erfahrung optierten, mußten die einfache Frage beantworten, welchen Wert dann die historische Realität behält, die unsere Hoffnungen anscheinend so grausam enttäuscht hat, und in welchem Verhältnis schließlich beide zueinander stehen. Anders gesagt, das Geheimnis des psychologischen Verständnisses des Sabbatianismus zeigt sich in einem einzigen Satz: Unmöglich, daß das ganze Volk Gottes in seiner Erfahrung irrt, und wenn die Tatsachen dies »widerlegen«, so sind sie anders zu deuten. Man argu­ mentiert, daß »der Heilige, gesegnet sei Er, nicht ein­ mal den Tieren der Gerechten ein Hindernis in den Weg legt, erst recht nicht den Gerechten selbst - um wieviel weniger wird er also die Nation als ganze in solch große Verderbnis führen ... wie wäre es aber

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möglich zu sagen, ganz Israel befinde sich im Verder­ ben, es sei denn, Droben sei zuvor Großes geschehen«, wie sich einer der »gemäßigten« Sabbatianer noch drei­ ßig Jahre nach dem Übertritt äußerte.5 Viele aber grif­ fen schon zu Beginn der Bewegung auf dieses Argu­ ment zurück, das bekanntlich sogar bei den Gegnern der sabbatianischen Bewegung großen Eindruck hin­ terließ, da auch sie nicht das Volk Israel als Ganzes an­ klagen wollten, sondern nach anderen Erklärungen sei­ nes Scheiterns verlangten. Die sabbatianische Bewegung bestand damals und noch bis zu ihrem Verebben 150 Jahre später aus den Kreisen, die das neue Lebensgefühl bewahren wollten, das der »Welt des Tikkun * entsprach, die sich zu offen­ baren begonnen hatte. Sie entwickelten in ihrem Inne­ ren Auffassungen und Lebensformen, die sie dem neuen Stand der Welten angemessen glaubten. Kraft dieses neuen Lebensgefühls, das in deutlichem Wider­ spruch zu dem der Juden des Ghettos stand, dem sie doch selbst noch angehörten, verwandelten sich insbe­ sondere die radikalen Sabbatianer in Rebellen, die das Joch abwarfen und die Schranken durchbrachen. Hier liegt die seelische Wurzel jener geistigen Strömung, die den Zorn ihrer Widersacher entfachte, da sie zu Recht durch sie die Grundlagen der Existenz des rabbinischen Judentums untergraben glaubten, wenn auch im Namen eines neuen Judentums, von dem niemand ahnte, daß es einmal wirklich erstehen würde. Aus dieser Wurzel nährten sich alle Versuche, eine sabbatianische Ideolo­ gie zu entwickeln, die wir nun untersuchen müssen. 5 R. Mordechai benJehuda Löw Aschkenasi, Schüler des bedeutenden Sabbatianers R. Abraham Rovigo (vgl. G. Schölern, Chalomothaw sehet ha-Schabta’i R. Mordechai Aschkenase »Das Traumtagebuch des Sabbatianers Mordechai Aschkenasi«, Jerusalem 1938).

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Eine weitere Erscheinung hat hier ihren Ursprung, die ebenfalls allen Gestalten des Sabbatianismus gemein ist und die Art des Zusammenschlusses in der Sekte be­ dingt: Aus der allgemeinen Religionswissenschaft ken­ nen wir den Typus, der als »Pneumatiker«, pneumatikös, oder »Spiritualist«, spiritualis, bezeichnet wird. Dieser Begriff, dem in der Religionsgeschichte große Bedeutung zukommt, meint »jemanden, in dem mehr des Geistes ist«, oder einen »spirituellen« Menschen oder, in der Sprache des Sohar: den »Meister einer hei­ ligen Seele«. Gemeint ist nicht derjenige, der einmal oder mehrere Male für kurze Zeit die Stufe des »heili­ gen Geistes« erlangt hat, sondern ein Mensch, dem es vergönnt ist, dauerhaft im »Palast des Königs« zu ste­ hen, ein Mensch, dem sich Tore einer neuen geistigen Welt geöffnet haben und der in ständiger Verbindung zu dieser Welt lebt, sei es, daß er wirklich in sie eintritt, bis die vorige Welt keine Macht mehr über ihn hat, sei es, daß es ihm gelingt, einen Funken jener höheren Welt auf sich zu ziehen, der »heiligen Seele« gleich, der nur »Erleuchtete« und einige Auserwählte gewürdigt werden. Ein solcher Mensch steht in verschiedener Hinsicht über den Gesetzen unserer sichtbaren Welt verwirklicht er doch in seiner Erfahrung schon die ver­ borgene Welt, die Welt des göttlichen Lichts. Wer zu diesem Typus‘zählt, betrachtet sich selbst immer als ei­ gentlich geschieden vom Rest der Menschheit, dem keine »hinzügegebene Seele«, Nescharna, jethera, oder höhere Erleuchtung eignet. Hier entspringt das Gefühl des Elitären, das diese »höheren Menschen« oder »Söhne des Aufstiegs« stets auszeichnet. Stehen sie doch schon in den Toren des himmlischen Jerusalems, in der oberen Welt, so daß ihr Verhältnis zu den Ange­ legenheiten dieser niederen Welt völlig verändert ist. 28

Wer zu diesem Typus zählt, besitzt eine besondere psychologische Disposition zum »Sektierertum«, zur Abgrenzung von der Umwelt durch die Organisation der Sekte. Die Sekte ist der passende Ort für die Pflege »elitärer« Gefühle, Zuflucht der »Geistmenschen« vor dem mangelnden Verständnis und der fehlenden Er­ leuchtung der Menge, der »fleischlichen Menschen«. Sie rühmen sich, Pioniere einer neuen Welt zu sein. Zwar bestreiten sie keineswegs die Grundlagen der Re­ ligion, aus der sie Erleuchtung schöpften, aber sie er­ scheint ihnen in einem neuen Licht, das jener erhabe­ nen Wirklichkeit entspricht, aus der sie sich nähren und in der sie Wurzel schlagen. In der jüdischen Religionsgeschichte hat man nach der Epoche des Zweiten Tempels diesem Typus kaum je gestattet, sich im Innern des Judentums zu entwickeln. Dafür gibt es viele Gründe, die hier nicht erörtert wer­ den können. Beträchtlichen Anteil an der Situation hatte das Christentum: Zweifellos sind viele dieser Er­ leuchteten konvertiert. Dem jüdischen Volk mangelte es natürlich nicht an Erwählten, aber sie blieben Ein­ zelne, die es nicht zur Sektenbildung brachten. Be­ kanntlich findet man diesen Typus am häufigsten auf dem Gebiet der religiösen Mystik; die Geschichte der Kabbala zeigt jedoch, daß das Judentum des Mittelal­ ters die Kraft besaß, sich die meisten dieser Erleuchte­ ten zu assimilieren. Es existiert ein virtueller Wider­ spruch zwischen der allgemeinen positiven Religion, die (wenn es erlaubt ist, sich dieses Begriffs zu bedie­ nen) einen auffallend »bürgerlichen« Ton besitzt, und dem Überschwang (ja der Anarchie) dieser »Pneumatiker« und Erwählten. Dieser Konflikt brach in Chri­ stentum und Islam tatsächlich ungezählte Male in aller Schärfe auf. Die spiritualistischen Sekten, die sich aus 29

solchen Zusammenstößen heraus formierten, erlangten insbesondere als Wegbereiter neuer Epochen im reli­ giösen und gesellschaftlichen Leben große Bedeutung. Revolutionäre Ideen, sei es auch religiösen Charakters, brachen meist in solchen Sekten hervor und gewannen dort an Einfluß. Während der letzten drei Generatio­ nen hellten europäische Forscher die Verbindungen auf, welche zwischen diesen Sekten und christlichen Strömungen einerseits und der Geschichte der »Tole­ ranz« und der Aufklärungsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert andererseits bestehen. In der jüdischen Geschichte schenkte man solchen hi­ storischen Kräften keine Aufmerksamkeit. Und da sie bei uns lange Zeit nicht manifest wurden, konnte man die Augen vor ihnen verschließen. Wurde doch die Ge­ schichte der Kabbala, in der diese Kräfte im Verborge­ nen wirkten, ohne sich äußerlich zu manifestieren und ohne sich in organisierter Gestalt Ausdruck zu ver­ schaffen, überhaupt vernachlässigt. Niemand kam in der von der Assimilation dominierten Epoche auf den Gedanken, daß die religiöse Reform und die rationali­ stische Aufklärung historisch und geistig nicht nur der Welt rationaler Kräfte, sondern auch einer ganz ande­ ren Welt verwandt sein könnten: der Welt der Kabbala und der sabbatianischen Krisis, der Welt jener »anar­ chischen Ketzer« also, die jeder bereitwillig anpran­ gerte. Hier nun, in der sabbatianischen Bewegung, haben wir es mit dem ersten Auftreten (besser gesagt: dem ersten Ausbruch) dieser Kräfte in der jüdischen Exilsge­ schichte zu tun. Der psychologische Typus des radika­ len Spiritualisten findet hier seinen vollen und genauen Ausdruck. Auch der Chassidismus kannte, besonders während seines goldenen Zeitalters, viele solche Er3°

leuchtete, doch ließ er sich durch sie nicht in den Ab­ grund treiben, sondern zwang sie, nach einigem Zö­ gern und Schwanken, ihren stürmischen Geist zu zähmen. Zudem löste er das schwierige und heikle Pro­ blem, sie in einen Teil seiner Welt zu verwandeln. Der Chassidismus wußte um das große Geheimnis des »bis hierher und nicht weiter«. Nicht so der Sabbatianismus, der die Gestalt einer Sekte annahm, in der jedes Mitglied ein Erleuchteter war und die aus ihren Vor­ aussetzungen noch die letzten Konsequenzen zog. Die Sabbatianer gingen bis zum Äußersten und gelangten zu jenem Abgrund, wo die reine Geistigkeit einer sich erneuernden Welt in die seelischen und moralischen Verstrickungen in den 49 Pforten der Unreinheit um­ schlägt. Hier waren wirklich alle Bedingungen erfüllt, deren es bedurfte, um im Herzen des Judentums ein Feuer zu entfachen. Menschen erhoben sich, denen die alte Welt, die Welt des Exils und die Welt des Judentums im Exil, aufgehoben schien, sei es ganz oder nur teilweise, und die im vollen Glauben daran lebten, daß die »Welt des Tikkun * sich zu offenbaren begonnen habe und es notwendig sei, nach ihren Satzungen und Vorschriften zu handeln. Die große historische Enttäuschung, die sie erfuhren, erfüllte sie mit der paradoxen Gewißheit, daß die Stunde noch nicht gekommen sei, in der sich das, wessen nur sie für würdig befunden worden wa­ ren, allen offenbaren werde. Daher die Betonung und die besondere Bedeutung der Begriffe »Gläubige« und »der heilige Glauben« bei den Sabbatianern, die an der Art, wie sie sich ihrer bedienen, sofort zu erkennen sind, selbst wenn in ihren Äußerungen nichts auf Sabbatai Zwi selbst hindeutet. Der »heilige Glauben« - das ist der Schlüssel zum Verständnis der neuen Wirklich3i

keit der Welten und des Bezugs, in welchem der Schöp­ fer zu den Welten in der Zeit des Tikkun steht, in die wir eingetreten sind. Wir werden noch sehen, wie man diese neue Wirklichkeit verstand. Der »Gläubige«, der an die Wahrheit der Sendung Sabbatai Zwis und an die neuen Geheimnisse Gottes, der Welt und ihrer Bezie­ hungen in der Zeit der Erlösung glaubt, steht auf einer gänzlich anderen Stufe als die Nichtgläubigen. In seiner Seele bewahrt er eine kostbare Perle; selbst wenn sie noch im Innersten verborgen liegt, durchbricht ihr Glanz doch alle Schalen, alle Nebel des Bösen und der äußeren Wirklichkeit. Der Name dieses Schatzes lautet - messianische Freiheit. Der Gläubige weiß (entspringt es doch »seiner Erfahrung«), daß er ein freier Mensch ist; er weiß, daß diese innere Freiheit, die er in der Zeit des messianischen Aufbruchs oder mit Beginn seines »heiligen Glaubens« gewonnen hat, den äußeren Tatsa­ chen widerspricht. Ziel aller sabbatianischen Lehren war es, diesen Widerspruch aufzulösen. Der Konflikt trat scharf und deutlich zutage. Diejenigen, die nach dem Abfall Sabbatai Zwis ernüchtert waren, behaupte­ ten: die Welt nimmt ihren gewohnten Lauf, nichts hat sich verändert, Galuth bleibt Galuth, Tora bleibt Tora, und auch die kabbalistische Lehre von Sod ha-’Elohuth, vom »Mysterium« der Gottheit und der Welt, bleibt dieselbe Kabbala. Mag sein, daß hier eine große Stunde angebrochen war, doch wir haben sie verfehlt. Und wieder können wir uns nur auf unseren Vater im Himmel verlassen. Die Gläubigen hingegen argumen­ tierten: So geschah es, und »unsere Augen sahen, und es war nicht fremd« (Ijob 19, 27); die Erlösung hat be­ gonnen, doch es liegt darin ein Geheimnis, und sie ist in ihrem äußeren Aspekt noch unvollendet. Ihrem Äuße­ ren nach bleiben die Dinge bestehen, im Inneren aber

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erneuert sich die Welt. Das Exil erhält ein neues Ge­ sicht, die Tora erhält ein neues Gesicht, und ganz ge­ wiß erhält Sod ha-'Elohuth, das »Mysterium der Gott­ heit« ein neues Gesicht, mögen dies vorerst auch nur »inwendige Gesichter« sein. Bald bildete sich bei den Sabbatianern die charakteristi­ sche Psychologie »geistiger« Sektierer heraus, und nicht lange, so fanden sie in einigen Zirkeln auch die ihnen angemessene Organisationsform. Die Verfol­ gung durch die Rabbiner und Gemeindevorsteher, wie auch ihre eigenen Auffassungen von dem großen Ge­ heimnis, dessen sie gewürdigt worden waren und das im Kreis der »Gläubigen« gehütet werden mußte, so­ wie die Taten, zu denen viele von ihnen durch die logi­ sche Kraft ihrer Anschauungen getrieben wurden, rie­ fen diese Entwicklung hervor. Ich will, wie gesagt, hier nicht die Geschichte dieser Zirkel darstellen. Erwähnt sei nur dies: In weiten Krei­ sen der Nation, besonders bei den Sepharden, blieb man Sabbatai Zwi nach seinem Übertritt treu. Gegner wie R. Jakob Sasportas bemühten sich zwar zu zeigen, daß diese Kreise nur eine »unbedeutende Minderheit« seien, geben aber an anderer Stelle durchaus zu, daß diese Minderheit recht bedeutend war, besonders in Marokko, Palästina, Ägypten und in den meisten Ge­ meinden der Türkei und des Balkan. Diese Kreise stan­ den miteinander meist in sehr lebhafter Verbindung, zudem waren sie untereinander in erbitterte Kämpfe um die rechte Auslegung des »heiligen Glaubens« ver­ strickt. Hier erwuchsen der Bewegung ihre ersten Theoretiker: Nathan von Gaza, Samuel Primo, Abra­ ham Michael Cardoso und Nechemia Chajon [auch Chajun, A.d.Ü.], sowie die Vertreter der Lehre vom »freiwilligen Marranentum«, die sich in Saloniki in der

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Sekte der Dönmeh zusammenschlossen. In Italien war die Zahl der Sabbatianer kleiner, doch zählten die wichtigsten Kabbalisten zu ihnen. Nach einer Genera­ tion blieb der Sabbatianismus hier für hundert Jahre Angelegenheit einiger Rabbiner und Talmudgelehrter, ohne in breitere Kreise vorzudringen. Besonders sam­ melten sich die Sabbatianer um R. Benjamin Cohen und R. Abraham Rovigo. In den aschkenasischen Län­ dern hielten sich anfangs nur kleine Zirkel um »Pro­ pheten« wie R. Heschel Zoref aus Wilna und R. Mordechai aus Eisenstadt in Ungarn. Um 1700 gibt es eine »Israel-Epoche« im Sabbatianismus - sabbatianisch motivierte, organisierte Einwanderungsbewegungen aus verschiedenen Ländern. Die Bewegung dehnt sich in Deutschland und im ganzen österreichischen Kaiser­ reich stark aus, besonders in Böhmen (»>Niemand tut Gutes, auch nicht ein Einziger« (Ps 14,3) — der Zahlen­ wert dieses Verses entspricht dem Wort >MährenEsther war der Grund der WeltUnd der Herr wird ihn aussondern zum Unglück aus allen Stämmen Israels< ... Das heißt, die Schrift meint es so: Da es ein Mann ist, der das Wohl Israels beab­ sichtigt ..., und da dieser Mann, nachdem er gesündigt und durch die Kelipa hindurchgegangen ist, sich prüft und vollkommene Umkehr tut, wird er, indem er reuig umkehrt, gewiß viele Funken aus der Kelipa heraushe­ ben. Vergleichbares findet sich in der Natur des Men­ schen, denn gibt man ihm etwas zu essen, damit er sich erbreche, so erbricht er nicht nur dieses Gift, sondern er wird, sobald er den Mund geöffnet hat, dieses Gift samt allem, was dem Gift nahe war, erbrechen. So ver­ hält es sich mit der Kelipa, die manchmal einen Men­ schen mit einer großen Seele beherrscht und Böses be­ wirkt: Wenn er aber umkehrt, so erbricht er alles, was in ihm war. Und Salomo sagt: >zur Zeit, da ein Mensch den anderen beherrschen wird zu seinem Unglück< (vgl. Koh 8, 9), es gibt diese Zeit, und das Wunder er­ eignet sich nicht zu jeder Stunde, daher warnt Mose den Menschen, er solle sich nicht in diese Gefahr bege­ ben ... >und der Herr wird ihn aussondern zum Un­ glück«, das heißt, wenn er Unglück verursacht hat, wird er ihn aussondern aus allen Stämmen Israels, denn 78

niemand kann für einen anderen an dessen Statt sündi­ gen, selbst wenn wir ihn beauftragten, und erst recht nicht, wenn wir ihn nicht beauftragen. Wenn er aber nur aus sich selbst heraus handelt, wird das Böse, das er begeht, Israel in keiner Weise betreffen. Wenn er dagegen Gutes tut, das heißt, mit aller Kraft vollkom­ men umkehrt, wird diese Umkehr Funken aus Israel heben, und die Stämme Israels werden teilhaben an diesem Gut, am Bösen aber haben sie keinen An­ teil.«4’

Mag sein, daß diese Auslegung auch Zeugnis für den Autor und sein eigenes Geschick ablegen soll. Wie dem auch sei, jeder Leser wird fühlen, wie weit der Autor davon entfernt ist, die Abtrünnigen zu beschimpfen, deren tiefstes Inneres er sehr wohl versteht. Der Wille, die äußere geschichtliche Wirklichkeit ab­ zuwerten, spielte, wie gesagt, eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der nihilistischen Geistesströ­ mung. Noch wurden die Mächte des Exils nicht ver­ nichtet, und nur in den Herzen der »Gläubigen« zeigt sich das Wirken der Erlösung im Inneren der Welt. Wir verstehen wohl, daß dieser Wille, die äußere Welt zu zerstören, sich zu dieser Zeit auf das Gebiet der Religion beschränkte und noch keine andere Gestalt angenom­ men hat. Dieser Wille war noch nicht auf politische Re­ volution durch Teilhabe an politischen Vorgängen ge­ richtet. Dafür war in der Welt des Ghettos noch kein Bewußtsein erwacht, und bis zur Französischen Revo45 Teile dieses Abschnitts wurden schon von R. David Nieto in Sefer 'Esch Dath, Teil i, $.97-98, angegriffen, der die Äußerungen zu dem Satz »Größer ist eine Übertretung um ihrer selbst willen« zitiert, um daraus (zu Unrecht) zu schließen: »Sagt er doch ausdrücklich, es sei erlaubt, Übertretungen um ihrer selbst willen zu begehen, ausgenommen Götzendienst.«

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lution gab es keinerlei Verbindung zwischen den Auf­ fassungen der Sabbatianer und bestimmten histori­ schen Tendenzen, die Europa verändern sollten. Als aber die historischen Umstände den Horizont weiteten und sich den Sabbatianern die Aussicht einer äußerst konkreten »Aufhebung« in der Realität der Geschichte selbst bot, war es von »der Aufhebung der Tora deBeri’a* zur revolutionären Vision nur ein kleiner Schritt. Hier kehrt die Lehre an ihren Ursprung zu­ rück: Der politische Gehalt der messianischen Idee war in den Sabbatianismus umgeschlagen, wie ich oben ge­ zeigt habe. Deshalb waren die Bestrebungen der radi­ kalen Sabbatianer zunächst nirgends politisch, denn noch war die Zeit nicht reif. Der Sabbatianismus fand nur einen Weg, das Leben der Nation zu erneuern: die herrschenden Werte mit Füßen zu treten. Es ist aber kein Wunder, daß eine neue Wendung den politischen Gehalt dieser Idee, den die sabbatianische Bewegung zunächst in Vergessenheit gebracht hatte, wieder auf­ brechen ließ und erneut zum Vorschein brachte. Wir werden auf diesen wichtigen Punkt zurückkommen. Ich will hier noch auf ein mit dieser Frage eng ver­ knüpftes Problem aufmerksam machen, das ein neues Beispiel für die besondere Dialektik dieser Bewegung und für ihre Paradoxie liefert: ihre Beziehung zum Lande Israel. Kurz nach dem Scheitern der Bewegung auf politi­ schem Gebiet wurden hier und da Stimmen laut, die gegen die Einwanderung nach Palästina sprachen. Wir wissen, daß Nathan von Gaza selbst behauptete, es sei »nun besser, nicht ins Land Israel zu gehen«.46 Aber die 46 Im Traumtagebuch des R. Mordechai Aschkenasi und des R. Abraham Rovigo, MS Schocken Library [vgl. in meinem Buch: Chalomothaw schel haSchabta'i R. Mordechai Aschkenasi, Jerusalem 1938, S. 64].

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Frage blieb umstritten. Im Gegenteil, manche Sabbatianer sprachen sich, besonders seit 1700, für eine Ein­ wanderung nach Palästina aus. Ihre verborgenen Mo­ tive für die Einwanderung stehen im Zusammenhang mit der Lehre des Sabbatianismus. R. Abraham Rovigo und der Kreis der »Chassidim«, an deren Spitze R.Jehuda he-Chassid stand, wurden durch sabbatianische Hoffnungen zur Einwanderung bewegt. Manche sag­ ten, das wahre Geheimnis Sabbatai Zwis werde sich in dieser Zeit nur im Lande Israel offenbaren, andere wollten zur Stunde, in welcher der Messias nach vier­ zigjähriger »Verbergung« zum zweiten Mal erscheinen würde, im Land Israel sein.47 Auch nihilistisch orien­ tierte Sabbatianer wie Chajim Mal’ach hatten damals ein positives Verhältnis zu Palästina und erwarteten von dort zweifellos besondere Offenbarungen. Viel­ leicht hielten sie es für notwendig, die Tora de-Beri’a gerade am heiligsten Ort aufzuheben, vergleichbar »der Königin, die in ihrem eigenen Hause erobert wird«. Die Anhänger der nihilistischen Sekte in Podolien besaßen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts Ver­ bindungen zu Gleichgesinnten48, und viele rabbinische Gesandte, die aus Palästina in die Länder der Diaspora geschickt wurden, waren sabbatianische Gelehrte, die auch als heimliche Propagandisten und Verbindungs­ männer zwischen den zerstreuten Gläubigen wirkten (vgl. zum Beispiel Torath ha-Kena'oth, S. 120). Sicher waren viele von ihnen »gemäßigte« Sabbatianer (so der Verfasser des Buches Chemdath Jamim, der zur Zeit 47 Auf ein solches erneutes Auftreten wartete man sowohl im Jahre 1806 (vier­ zig Jahre nach der Apostasie) als auch im Jahre 1816 (vierzig Jahre nach dem Verschwinden Sabbatai Zwis). 48 Die Bücher R. Jakob Emdens bieten dazu viel Material» das keineswegs als wertlos zu bezeichnen ist.

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der Abfassung seiner Schrift in Jerusalem lebte49, und das Geheimnis vieler anderer werden wir nie erfahren. Doch Mitte des 18. Jahrhunderts ändert sich dieses Verhältnis, und es gibt Sektenmitglieder, die eine deut­ liche Wendung gegen Palästina vollziehen. Ich bin nicht sicher, ob die gegen das Land Israel gerichtete Auslegung, die R. Jakob Emden in ‘Eduth be-Ja‘akov mitteilt (fol. 44b), nicht tatsächlich von R. Jonathan Ei­ beschütz stammt, gewiß aber ist sie keine Erfindung der Gegner, denn ähnliche Gedanken lesen wir auch in frankistischen Quellen, die der große Gelehrte Jakob Emden nie zu Gesicht bekommen hat.’° Die Frankisten entwickelten, wahrscheinlich aufgrund der persönlichen Ambitionen Franks, eine deutlich territorialistische Ideologie, die jeden Leser von Kraushars Frank i Frankisci Polscy erstaunen dürfte. Wird in ihr doch, kurz ehe neue politische Ideen in die Welt des religiösen Nihilismus eindrangen, das frühere Band zu Palästina zerschnitten. Zwar schließt der neue politi­ sche Gehalt auch die Erneuerung der Nation in einer weltweiten Revolution ein, doch ohne echtes Interesse an einer Zusammenführung der Nation gerade in Palä­ stina. Und der begeisterte Gläubige in Prag entdeckt das große Geheimnis, daß nicht gilt: um unserer Sün49 Es ist daher sehr zweifelhaft, ob dies Nathan von Gaza war, der die Jahre nach dem Übertritt Sabbatai Zwis außerhalb des Landes verbrachte.

50 Dies ist der Wortlaut der Auslegung des Verses - »Nicht durch Macht und nicht durch Stärke, sondern durch meinen Geist« (Sach 4,6): »Denn der Mes­ sias wird nicht Zeichen und Wunder tun, und Krieg gegen die Feinde Israels führen und die Zerstreuten sammeln, um sie nach Israel in ihr Land zurückzu­ bringen, sondern Gnade werden sie finden unter den Völkern durch die große Weisheit des Königs Messias ... Wohl wird es der Gemeinde Israel ergehen an allen Orten ihrer Wohnstatt unter den Nationen.« Daß es in Altona auch nach dem Tod von Eibeschütz Sabbatianer gab, steht außer Zweifel und wird durch eine interne frankistische Quelle gestützt, die von einem Brief der »Gläubigen« von Altona an Frank im Jahr 1777 berichtet (Kraushar: Frank i Frankisci Polscy, II.S.53).

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den willen sind wir aus unserem Land vertrieben wor­ den, sondern um die Kelippoth aufzuheben, nämlich die vier Königreiche, »und selbst, wenn einige Tau­ sende oder Zehntausende aus Israel nach Palästina zu­ rückkehren könnten, wäre dies nicht die Vollendung«. Diese neue Lehre vom Exil war, wie er schreibt, »ein allen Gelehrten verborgenes Geheimnis, bis es sich in Polen offenbarte«. Denn die Fragen nach dem Wesen der Galuth und dem Ort der Schechina in der Gegen­ wart stellten sich in den letzten Jahren der sabbatianischen Bewegung in veränderter Form. Die Gestalt Sabbatai Zwis selbst verblaßte mit der Zeit. Er wurde ganz zu einem Mythos, verlor zunehmend seine historischen Züge, und es blieb nur die Gestalt des mythischen Helden, der einen neuen Weg gebahnt und eine neue Epoche eingeleitet hatte. Schon R. Abra­ ham Jachini, einer der frühesten Anhänger Sabbatai Zwis, hatte in dem Buch Wawe ha-'Amudim geschrie­ ben: »wie die Tora in einem ihrer siebzig Gesichter nur von der Auferweckung der Toten spricht, was die Kommentare des Buches Sohar zu einigen Wochenab­ schnitten [der Tora] zeigen, während wir die anderen Wochenabschnitte allein aus mangelnder Einsicht nicht verstehen, genauso spricht die Tora in einem ihrer sieb­ zig Gesichter [nur] über den Messias, unseren Herrn und König, möge seine Majestät hoch erhaben sein.’1 Und wenn er sich bald in unseren Tagen offenbaren wird, wird uns auch dieser Sinn der Tora verständlich werden.« Es war also kein Wunder, daß die konkrete Gestalt Sabbatai Zwis sich genauso wie das Bild Jesu bei seinen Gläubigen veränderte - wenn nicht sogar noch mehr, da er sich noch vollständiger in eine mythologij i Dieser Ausdruck (‘adonenu malkenu jamm hodo> abgekürzt AMIRaH) ist feststehendes Attribut des Sabbatai Zwi in der Literatur der »Gläubigen«.

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sehe Gestalt verwandelte. Gerade bei den Radikalen wirkten hier noch einmal dieselben religiösen Fakto­ ren, die wir schon aus der Geschichte des frühen Chri­ stentums kennen: Diese »Gläubigen« brachten noch einmal die Lehre von der göttlichen Inkarnation her­ vor, die Sabbatai Zwi nicht nur zum »höheren Men­ schen«, sondern zum inkarnierten Gott erklärte. Diese Lehre verband sich mit der neuen Deutung des Sod ha’Elohuth durch die Radikalen, die alle Zirkel bis zu den letzten Frankisten kennen und teilen und die ihnen als tiefstes Geheimnis ihrer Lehre galt. Wir wissen nicht, aus welcher Quelle diese Lehre stammt. Vielleicht ent­ stand sie im Gedächtnis einiger tausend Marranen, viel­ leicht wurden Gedanken aus gedruckten Büchern, christlichen Werken oder anti-christlichen Polemiken, aufgegriffen, vielleicht entsprang sie den seelischen Verstrickungen der »Gläubigen« selbst, und ihre para­ doxe Erfahrung (ein apostasierender Messias!) provo­ zierte in ihrem Herzen die Gedanken und die paradoxe Lösung, die eine ähnliche Erfahrung (ein gehenkter Messias!) schon einmal im Herzen eines Juden, der sich in den Verstrickungen seines Glaubens verfing, hervor­ gebracht hatte. Und vielleicht wirkten auch alle diese Faktoren zusammen. Diese Lehre, die im Streit zwischen gemäßigten und radikalen Gläubigen zum Stein des Anstoßes wurde, galt zunächst nur für die Gestalt Sabbatai Zwis selbst. Nach einer verbreiteten Auffassung war, als die Zeit der Erlösung kam, »der Heilige, gelobt sei Er, nach oben entschwunden, und Sabbatai Zwi statt seiner zum Gott aufgestiegen«.fl Denn der Heilige, gelobt sei Er, ist in der Sprache des sabbatianischen »Mysteriums des 52 So Cardoso in seinem »Sendschreiben« (I. H. Weiss: Beth ha-Midrasch, S.65).

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Glaubens« und nach ihrem Verständnis des Begriffs der »Gott Israels«.’3 Der Gott Israels verschwand in den Tiefen der prima causa, und Sabbatai Zwi stieg jetzt auf zum »Gott Israels« oder zum »heiligen König«, Malka kaddischa. In dieser Gestalt hielt sich ihr Glaube aber nicht sehr lange, und schon bald entstand bei den Kon­ vertiten in Saloniki eine neue Version dieser Lehre: Der »heilige König« selbst war Mensch geworden und in den Leib des Königs Messias hinabgestiegen, um den Tikkun der Welt und die Aufhebung der Tora de-Beri’a zu vollziehen, eine Auffassung, die auch die nihili­ stischen Sabbatianer in Podolien akzeptierten. Ihr Ge­ bet hat sich uns erhalten: »Möge es Dein Wille sein, daß wir durch Deine Tora errettet werden und Deinen Geboten anhängen, und mögest Du meine Gedanken zum wahren Gottesdienst reinigen ... und mögen alle unsere Taten in der Tora de-’Aziluth nur um Deines großen Namens willen ge­ schehen, Señor Santo’4, und um Deine Größe zu erken­ nen, denn Du bist der wahre Gott und König der Welt, unser lebender Messias, der Du in dieser irdischen Welt warst, die Tora de-Beri’a aufgehoben hast und zu Dei­ nem Ort aufgestiegen bist, um alle Welten zu len­ ken.«” Aber man begnügte sich nicht mit dieser Lehre einer einmaligen Inkarnation. Anscheinend war man in den sephardischen Marranenkreisen der Auffassung, daß die Seele Sabbatai Zwis in den Anführer der Sekte der 53 S.o., Kap. 4,8.44. 54 Spanische Übersetzung von Malka kaddischa oder ha-’Adon ha-kadosch,

»der heilige Herr«. Diesen Namen legte sich auch Jakob Frank selbst bei. [In der engl. Übersetzung heißt es: »Mit diesem spanischen Ausdruck wurde Baruchja von Saloniki von seinen Anhängern bezeichnet, die in ihm den wieder * geborenen Sabbatai Zwi und inkarnierten Gott sahen.« A.d.Ü.] 5 5 R. Jakob Emden: Sefer Schimmusch, fol. 7a.

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»Gläubigen« hinübergewandert sei. Wir wissen aber nicht genau, ob sie auch ihnen - und besonders Baruchja, dem Hauptvertreter der neuen Lehre - Gött­ lichkeit zusprachen. Wir nehmen allerdings mit gutem Grund an, daß Frank zu Beginn seiner Wirksamkeit als Anführer seines Kreises die Lehre der sephardischen Konvertiten insgesamt und in allen Details übernahm und sie nur im Hinblick auf persönliche Einzelheiten veränderte: Er selbst hat sich dazu nicht geäußert, seine Schüler aber verstanden seine Andeutungen (zu Recht) so, als sage er selbst, er sei der lebendige, noch einmal inkarnierte Gott. Doch es entstand eine noch »konse­ quentere« Lehre: Den drei Gesichtern, Parzufim, der Gottheit wurden drei Inkarnationen oder Gewandun­ gen der Gottheit entgegenstellt, dies sind die drei Messiasse. Einer entspricht dem »heiligen Alten«, ’Attika kaddischa, dies ist Sabbatai Zwi, den Frank einfach »den Ersten« nannte; einer entspricht dem »heiligen König«, Malka kaddischa, dies ist Frank selbst; und der dritte Messias entspricht der Schechina, die in den kabbalisti­ schen Büchern Malchuth, »Königtum« genannt wird, oder Matronitha, »Herrin«, oder 'Olimtha, »Jung­ frau«, oder ’Ajaltha, »Hindin«. Was diese Neuerung betrifft, so muß sie wohl dem Einfluß mystischer christ­ licher Sekten in Osteuropa zugeschrieben werden: Der dritte Messias, der sich noch offenbaren und das Werk der Erlösung vollenden muß, wird eine Frau sein - in Franks Worten: die »Jungfrau«. Auch die christlichen »Häretiker« jener Zeit glaubten zunehmend an eine dreifache Erscheinung des Messias - entsprechend der göttlichen Trinität. Die Lehre von der Inkarnation der »Sophia« (der göttlichen Weisheit, wie sie den Heiligen Geist nannten) bildete ein zentrales Motiv in den slawi­ schen und deutschen Sekten jener Zeit. Und mit einer

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dieser Sekten, den »Philipoviciten« in Rumänien und der Ukraine, waren die Frankisten in direkte Berüh­ rung gekommen; dies ging soweit, daß einer ihrer ehe­ maligen Anführer die Frankisten vor den katholischen kirchlichen Autoritäten in Polen verteidigte. Folgt man dieser Auffassung, ist die Erlösung also ein Prozeß voll göttlicher Inkarnationen. Auch die »Gläu­ bigen« in Prag, die jüdisch blieben und sich bemühten, ihre Lehren durch jüdische Begriffe auszudrücken und aus jüdischen Quellen zu begründen, übernahmen diese Lehre, und das »Geheimnis der Inkarnation« ist trotz ihrer heftigen Feindschaft gegen das Christentum als institutionalisierte Religion in ihren Auslegungen allgegenwärtig. Der Vorwurf der »Verkörperlichung«, den alle Widersacher des Sabbatianismus gegen ihn er­ heben, ist berechtigt, aber die Sabbatianer selbst be­ trachteten als ihre Stärke, worin jene ihren wunden Punkt erblickten. »Da die Gottheit nun im Leibe lebt, weicht des Todes Bitternis«, so einer von ihnen. Die überhöhte Geistigkeit der Welt der ’Aziluth und die ra­ dikale Lehre der Verkörperlichung, die danach ver­ langt, die Gottheit im Leibe zu erkennen, stehen zwar anscheinend in Widerspruch zueinander, ich meine aber, daß nach allem Gesagten die gemeinsame Wurzel leicht zu erkennen ist: das neue Lebensgefühl, das sei­ nen Ausdruck mittels Formulierungen sucht, die sich ein anderes Lebensgefühl geschaffen hat. Nie wird es hier eine andere Lösung geben als das Paradox. Dies sind die fünf »Glaubenssätze«, auf denen, wie ich gezeigt habe, die Welt der radikalen Sabbatianer ruht: i. Der Glaube an die notwendige Apostasie des Mes­ sias und die Heiligkeit seines Weges zu den Pforten der Unreinheit; »7

2. der Glaube, dem Gläubigen sei verboten, sein Äu­ ßeres seinem Inneren entsprechen zu lassen; 3. der Glaube an die Erfüllung der Tora de-'Aziluth durch die Aufhebung der Tora de-Beri'a; 4. der Dualismus von prima causa und Gott Israels, worin die erste Emanation zum Gott der Religion er­ klärt wird, der im Gegensatz zur ersten Ursache aller Dinge, dem Gott der Ratio steht; 5. die Inkarnation des Gottes Israels sowie der telath kischre de-mehemanutha, der »drei Bänder oder Knöpfe der Gottheit«. Dies genügt meines Erachtens, um die These zu recht­ fertigen, daß in dieser Bewegung die Welt des Juden­ tums selbst in Trümmer gelegt wurde. Die radikale Revolution im Verhältnis dieser Menschen zu den tra­ ditionellen jüdischen Werten erzeugte bei ihnen zwangsläufig eine einzigartige Disposition zur Auf­ nahme neuer Werte. Und sollten die Kräfte und Ge­ fühle, die in jener inneren Destruktion freigesetzt wur­ den, sich auch künftig stets im Chaos verlieren? Sollten sie nur eingezwängt zwischen den Mauern jener Para­ doxien bestehen dürfen? Doch das Gesetz, unter dem die Bewegung angetreten, bestimmt auch ihren weiteren Verlauf. Und man darf hinzufügen: wie das Gesetz ihres Daseins so das Gesetz ihres Niedergangs und Absterbens. Sie waren im Be­ griff, die »Funken der Heiligkeit in der »Kelipath Noga * zu entzünden, und verirrten sich auf finsteren Pfaden, sie waren gekommen, um mit der »Anderen Seite«, der dunklen Seite des Lebens, »zu spielen«, und es kam der Satan und ließ sie tanzen.’6 Letztendlich wollten sie die Kraft des Erlösers mehren, »damit er sein Werk - ein 0 »Und sie gingen und beredeten, sich über Gott zu stellen, und der Satan fuhr in sie« (Lechischath Saraf, fol. 12a).

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befremdliches Werk - tue und seinen Gottesdienst einen fremden Gottesdienst - vollziehe« und gaben sich in die Hände eines Jakob Frank.

7 Jakob Frank (1726-1791) gehört zweifellos zu den ab­ stoßendsten Erscheinungen der jüdischen Geschichte. Ein religiöser Anführer, der, ob nun Scharlatan oder Schurke, tatsächlich korrupt und verdorben war. Viel­ leicht konnte die hochkomplexe sabbatianische Bewe­ gung zu einer Vollendung ihrer Welt, einer »Welt der Temuroth«, der Vertauschungen und der Widersprü­ che, nicht gelangen, ohne an diesem Despoten zu schei­ tern, der die Kraft besaß, das verborgene Licht zu ver­ dunkeln und die Aufrichtigkeit des Willens und der Absicht zu fälschen, die trotz der seelischen Destruk­ tion, des Zusammenbruchs und des Chaos inmitten der Seele der »Gläubigen« verdeckt lag. Selbst wenn wir sagen wollten, daß sogar die Lehre von der Heiligkeit der Sünde und »dem Gebot, das durch Übertretung er­ füllt wird«, etwas Wahres enthält, so hat doch die Ge­ stalt Franks auch dieses Wahre entheiligt. Auf dem ge­ fährlichen Weg, den die Gläubigen gewählt hatten, war jede Überraschung möglich. Vielleicht gewann Frank ihr Herz, gerade weil sie in ihm die Bereitschaft wahr­ nahmen, bis zum Äußersten zu gehen und auch noch den letzten Schritt auf dem Weg in den Abgrund zu tun: Der »Kelch des Entsetzens und der Erstarrung« (Ez 23, 33) ist nicht eher gefüllt, als bis auch der letzte Rest dieser Heiligkeit in Trug verkehrt ist. Und seine Bewunderer, die diese Stufe nicht erreichten, wurden durch den Wagemutigen verführt, der nicht die Schrek-

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ken Gottes und nicht die des Abgrunds fürchtete. Sie betrachteten ihn als den wahren Heiligen, als neuen Sabbatai Zwi und inkarnierten Gott. Und wirklich - trotz des abenteuerlichen Umherirrens, des mutwilligen Betrugs und aller persönlichen Ambi­ tionen (die nicht hierhergehören) - hat dieser Mann noch ein Geheimnis, eine gewaltige - und sei es satani­ sche - Kraft. Die Versprechungen und Verheißungen, mit denen er seine Anhänger mästete, die Träume von einem großen Bau, der aus Zerstörung und allgemeiner Entheiligung hervorgehen werde - bedeuten nicht viel, wenn auch sein Territorialismus mehr als bloße Macht­ gier ist: ein seltsamer, aber deutlicher Ausdruck der Sehnsucht seiner Anhänger nach einer Erneuerung des Lebens der Nation, ja sogar nach Steigerung der wirt­ schaftlichen Produktivität.’7 Aber in der Negativität seiner Lehre steckt auch echter Glaube: Frank wär, wie nur wenig andere, echter Nihilist. Die primitive Wildheit dieses Nihilismus ist erschreckend. Gewiß, dieser Mann war kein Toragelehrter und ver­ zichtete nirgends darauf, sich seines Mangels an Bil­ dung zu rühmen. Aber - und dies ist viel bedeutsamer hier tritt in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein willens­ starker und tyrannischer Charakter vor uns, der doch ganz in der Welt der Mythologie lebt und aus sämtli­ chen Ideen des Sabbatianismus (in dessen Geist er, wie es scheint, von Anfang an aufgewachsen und erzogen worden ist) einen Mythos des religiösen Nihilismus ge­ woben hat. Dem wollen wir uns zuwenden. Frank ist kein Theoretiker oder spekulativer Geist, aber er besitzt eine große Begabung für anschauliche 57 In den Petitionen der Frankisten an den König und den Bischof von Lern * berg 1759 wurden diese Töne zuerst laut und kehrten dann in den zahlreichen •territohalistischen« Lehrworten im Buch der Worte des Herrn wieder.

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Schilderungen, für das einfache, einprägsame Bild und den pointierten symbolischen Ausdruck, der die Phan­ tasie anstachelt. Die Form seiner »Lehren«, wie sie im Buch der Worte des Herrn überliefert sind, unterschei­ det sich nicht sonderlich von den Worten vieler chassi­ discher »Zaddikim« - bis auf den nihilistischen Gehalt, der sie voneinander trennt. In dieser despoti­ schen Seele wirkte trotz allem ein verborgener poeti­ scher Trieb, dessen Ausdruck unter der ihm sonst ge­ läufigen Wildheit um so erstaunlicher ist. Kraushar, der Historiograph Franks, geht in seiner Betrachtung dieser Bewegung Wege, die von unseren weit entfernt liegen, und wie alle seine Vorgänger betont er das un­ verständliche Gestotter und Geschwätz in den Worten Franks. Doch gibt auch er wider Willen zu, daß diesen Worten manchmal Flügel wachsen. Ich frage mich, ob einer, der dieses Gestotter versteht - es ist keineswegs sinnloses Gerede, sondern durchaus verständlich und der dabei wachen Herzens ist, die vielen bei Kraushar abgedruckten Kapitel aus dem Buch der Worte des Herrn wohl ohne Bewegung wird lesen können. Wie viele aber haben sich dieser Mühe unter­ zogen?’8 Frank besitzt eine große Gabe, Begriffe neu zu prägen, oder besser: Symbole und Bilder neu zu erfinden. Er ist ganz von Geheimnis umgeben, und doch ist seine Spra­ che populär. Die Sprache der Kabbalisten ist ihm nicht sonderlich geläufig, und es geschieht, daß er an sämtli­ chen Anschauungen und am gesamten Begriffsschatz $8 In der hebräischen Übersetzung fehlt die Sammlung der Lehren aus dem Buch der Worte des Herrn. Sie sollte in Kraushars Werk am Ende des zweiten Bandes erscheinen, der nicht publiziert wurde, da Kraushar während der Drucklegung zum Katholizismus übertrat. Ich schulde Frau Hadassah Goldgart großen Dank für ihre Bemühungen, mir eine genaue Übersetzung dieser

Lehrworte aus dem polnischen Original bereitzustellen.

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der Sektenanhänger in Podolien Kritik übt und sie als wahnsinnig bezeichnet.” Aber der Interessierte, der die Grundthesen des radikalen Sabbatianismus kennt, kann auch bei ihm ohne weiteres in den neuen Worten die alte Absicht erkennen. Das sabbatianische »Myste­ rium der Gottheit« wird hier nirgends in den früheren Termini (der »drei Bänder«) erwähnt, doch statt dessen erscheinen nun »der gute Gott«, »der große Bruder, der vor Gott steht« und die »Jungfrau«, Begriffe und Bilder, die bei aller Anschaulichkeit der Phantasie wei­ ten Raum geben. Die Kelipa, die Tora de-Beri’a und die Tora de-’Aziluth, das Hintere der Heiligkeit und die Funken, sowie alle anderen Termini, die uns aus den Äußerungen der Sabbatianer vertraut sind, verschwin­ den völlig. An ihre Stelle treten allgemein geläufige Ausdrücke. Die Bedeutung Sabbatai Zwis selbst nahm stark ab, die Welt des Sabbatianismus aber steht fest, mehr noch: Die Radikalität des Sabbatianismus stößt bei Frank an ihre Grenze - und nähert sich der Selbst­ aufhebung. Wir wollen hier Franks Grundanschauung darstellen, wie sie aus der Fülle seiner Lehren sich zusammenset ­ zen läßt und wie sie sich, allem Anschein nach, in voller Gestalt erst nach seinem Übertritt zum Christentum entfaltet hat. In manchen Lehrworten mag er sich zwar widersprechen, doch in seinen Grundthesen ist er kon­ sequent. Die Verfinsterung der Welt (oder eher: der zerstörten Welt) erlaubt keinen großen Farbenreich­ tum. Aber die »Gläubigen«, und sogar die Gesetzes­ treuen in Prag, entdeckten auch in der Finsternis einen zwielichtigen Zauber, den Frank in einem einzigen kurzen, brutalen Satz zusammenfaßte: »Gott zu die$9 Buch der Worte des Herrn, Nr. 12t i. Die dort geäußerten Ansichten sind spezifisch sabbatianisch.

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nen und anzubeten - ist eine Sache; eine ganz andere ist es, den Weg zu gehen, den ich gehe.«60 Die Welt, die tevel, »Kosmos«, genannt wird (oder »ir­ dische Welt« bei den Sektenanhängern in Saloniki), ist keine Schöpfung des »guten Gottes«, des lebendigen Gottes. Wäre sie es, so bestünde sie in Ewigkeit, und auch der Mensch lebte ewig, der Tod aber zeigt, daß sie nicht vom guten Gott erschaffen ist.6' Auch der gute Gott hat »Welten« erzeugt, sie offenbaren sich aber nur den »Gläubigen«. Im Innersten dieser Welten wirken göttliche Kräfte, darunter der »König der Könige«61, der auch der »große Bruder« oder jener, »der vor Gott steht«6’, ist. Den Kosmos hingegen hat eine böse Macht geschaffen, die mit dem Weiblichen, das den Tod in die Welt brachte, in Verbindung steht. Auch möglich, daß der Kosmos durch die drei »Götter«, die »Weltenlen­ ker«, zu denen der Tod zählt, geschaffen wurde [wenn dies auch zweifelhaft ist (§ 637)]. Alle diese Weltenlen­ ker verstellen den Weg, der zu dem guten Gott führt64, und alle verkörpern sich in dieser Welt im Menschen.6’ Der gute Gott dagegen ist noch unbekannt, sein Ge­ heimnis hat sich keinem Menschen offenbart - und die »Seele«, die von ihm ausgeht, wohnte noch in keinem Geschöpf, nicht einmal in Sabbatai Zwi.66 In dieser Epoche lenken drei Mächte die Welt: Leben, Reichtum und Tod, an die Stelle des Todes aber ist Weisheit zu 60 Nr. ii$7. Ich zitiere nach der Zählung bei Kraushar. Im allgemeinen bringe ich jeweils nur ein Beispiel, um den Text nicht mit Zitaten zu über­ laden. 61 Nr. 1173, vgl. $637. Dieses Motiv kehrt häufig wieder: vgl. $86, 1419, 1429. 62 Nr. 1565. 63 Nr. 406. 64 Vgl. Kraushar, II, S. 47-50. 65 Nr. 2164. 66 Nr. 1790. Vgl. Graetz, Frank und die Frankisten, S. 71.

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setzen67 - dies freilich ist nicht leicht. »Weisheit«, Chokhma, ist durch ein geheimes Band mit dem guten Gott verbunden, der sich jetzt jedoch nicht offenbaren kann, »da die ganze Welt unwürdigen Gesetzen unter­ worfen ist« (zweifellos eine Anspielung auf Ez 20, 25: »Und ich gab ihnen wohl Satzungen, die nicht gut sind«).68 Daher muß die Herrschaft dieser unwürdigen Gesetze, der Gesetze des Todes, die dem Menschen schaden, aufgehoben werden. Darum sandte der gute Gott seine Boten, die Patriarchen, die »Brunnen gruben«6’, Mose, Jesus und andere. Mose zeigte ihnen den Weg, aber er war zu schwer für sie; was also tat er? Er wandte sich einer »anderen Religion« zu, und Israel erhielt die »7brath Moshe», die Tora des Mose, deren Gesetze schäd­ lich und nutzlos sind - aber die »Tora Gottes ist ohne Fehl« (Ps 19, 8) und wurde noch keinem Menschen zu­ teil.70 Dann sandte Er Sabbatai Zwi, aber auch der voll­ brachte keinen Tikkun7', da er den Weg nicht fand.7273 »Mein Wunsch aber ist, voranzugehen und zum Leben zu führen.«71 Dieser Weg zum Leben ist jedoch äußerst schwer, es ist der Weg des Nihilismus, der bedeutet, sich von allen Gesetzen, Satzungen und Religionen frei zu machen, alle Gewänder anzulegen und alle zu ver­ achten, und hinter dem Anführer Schritt für Schritt bis in den Abgrund zu gehen.74 Wir müssen zum Christen­ 67 Nr. 1892. 68 Nr. 1825 [ebenso im Manuskript Krakau 322: Der Gott der Wahrheit kann sich in dieser ganz verdorbenen Welt nicht offenbaren.] 69 Nr. 851. 70 Nr. 2190. 71 Nr. 1776 (II, S. 50). An manchen Stellen aber beurteilt er Sabbatai Zwis Tätigkeit günstiger, vgl. besonders Nr. 1267. 72 Nr. 211. 73 Nr. 561. 74 Nr. 219 (II, S. 68).

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tum übertreten, »da die christliche Religion uns einen Weg gebahnt hat«, wie Frank noch vor seinem Über­ tritt äußerte.7’ »Dies sage ich euch: Christus, von dem Ihr wißt, sagte, er sei gekommen, die ganze Welt vom Satan loszukaufen; ich aber bin gekommen, sie von al­ len bis jetzt gültigen Gesetzen und Satzungen zu lösen. Meine Aufgabe ist es, dies alles aufzuheben, dann wird der gute Gott sich offenbaren« - so lauten die Worte dieses »Christen« mehr als dreißig Jahre nach seinem Übertritt.75 76 Aufhebung jeder Lehre und Religion - ist der »Weg«, den die Gläubigen gehen würden. Franks Phantasie kennt im Hinblick auf die lösende Macht der Zerstö­ rung und Vernichtung keine Grenzen. »Wo immer der erste Adam, 'Adam ri’schon, hinkam, da wurde eine Stadt erbaut77, aber wo ich gehe, wird alles zerstört, denn ich bin nur gekommen, um alles zu zerstören was ich aber bauen werde, das wird ewig stehen.«7’ Wir befinden uns in einem Krieg der Zerstörung gegen die unwürdigen Gesetze, die heute herrschen, »aber ich sage euch, daß alle Soldaten ohne Religion sein müssen. Das heißt, daß sie aus eigener Kraft zur Freiheit gelan­ gen und den Baum des Lebens ergreifen müssen.«79 Dieses Ringen um die Aufhebung ergreift alle Schich­ ten unserer Seele. Der Abstieg ist notwendig um des Aufstiegs willen. »Kein Mensch kann auf einen Berg hinaufsteigen, ohne zuvor bis an seinem Fuß hinabge­ langt zu sein. Daher müssen wir hinabsteigen und de­ mütig sein, bis die unterste Stufe erreicht ist, denn dann 75 76 77 78 79

Bd. 2, S. 25. Nr. 2146 (II, S. 132). Vgl. Berachoth 31a. Nr.2152. Nr. 1419.

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erst werden wir zum Unendlichen aufsteigen; dies ist das Geheimnis der Jakobsleiter, deren Form ich in ei­ nem Gesicht erblickte: Sie gleicht einem V.«8° Und ebenso: »Ich bin nicht gekommen, um euch zu erhe­ ben, sondern um euch zu erniedrigen bis auf den Grund des Abgrunds, wo es keinen weiteren Abstieg mehr gibt und wo kein Mensch aus eigener Kraft wird aufstehen können, allein Gott wird ihn mit mächtiger Hand aus der Tiefe erheben.«80 81 Dieser Abstieg schließt nicht nur die Aufhebung aller Gesetze und Religio­ nen ein, sondern auch ma'assim sarim, »befremdliche Taten«.8283 85Ma'assim sarim und die Erniedrigung des 84 Gefühls menschlicher Würde sind nicht verschiedene Dinge, sondern ein und dasselbe, daher die Lehre der Gesetzlosigkeit und die Aufhebung aller Scham um des Tikkun willen. »Wir alle müssen nun in den Abgrund hinabsteigen«8’, wo wir sämtliche Lehren und Satzungen aufheben müssen.8* Dieser »Weg« ist jedoch voller Gefahren, denn dort begegnen Kräfte und »Götter« - die drei »Weltenlenker« -, die uns den Weg versperren. Man muß ihnen ausweichen und weitergehen, was aber den Früheren nicht gelang: weder Salomo8’ noch Jesus, noch Sabbatai Zwi. Dort zu passieren, das heißt, die widerstreitenden Kräfte, die Götter der anderen Reli­ gionen, zu überwinden, das kann nur in »vollkomme­ ner Stille«86 geschehen, ja nur durch List und Täu80 Nr. 1974, ebenso $42, 1267. 81 Nr. 1279. 82 Nr. 157, 159. 83 Nr. 685, 1294. 84 Nr. 1432. 85 Nach Frank angedeutet in dem Vers: »Drei sind mir unbegreiflich« (Spr jo, 18). 86 Nr. 1776.

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schung. Dies ist das große Geheimnis der »Last des Schweigens« [wie man massa’ duma (Jes 21, 11), etwa »Orakel oder Vortrag über Duma (Edom)«, las, A.d.U.], nämlich des großen Schweigens, das den »Gläubigen« angemessen ist.’7 (Dies ist die neue Ver­ sion des ersten Gebots der Sabbatianer, das Außere ei­ nes Menschen dürfe nicht seinem Inneren entspre­ chen!) Das Geheimnis des wahren Weges aber ist dies: »Wer eine Festung erobern will, wird dies nicht durch Reden tun, sondern er muß mit seinem ganzen Heer dorthin ziehen. So müssen auch wir gehen und den Weg bahnen, ohne ein Wort zu sprechen.«87 8889 92 91 90 »Sehen ist besser als die Rede des Mundes, denn das Herz teilt es dem Munde nicht mit.«8’ »Hier werden keine Gelehr­ ten gebraucht, hier geht es um die Last des Schwei­ gens«’0: »Als ich in Lemberg zur Taufe ging, sagte ich euch: bis hierher! Aber von nun an: die Last des Schweigens! Versiegelt eure Münder!«’1 »Unsere Väter haben geredet und geredet, und was haben sie durch ihr Reden erreicht, welchen Tikkun haben sie vollbracht? Hier aber gilt die Last des Schweigens, hier müssen wir schweigen und das Notwendige auf uns nehmen, denn eine Last ist es.«’2 »Wandert jemand von Ort zu Ort, soll er schweigen. Dies gleicht einem Mann, der seinen Bogen spannt. Je länger er den Atem anhält, desto wei­ ter fliegt sein Pfeil. So auch hier: Je länger er seinen 87 Noch R. Israel Chasan, ein Schüler R. Nathans, gibt eine andere Deutung des Geheimnisses des Schweigens! 88 Nr. 1122. 89 Nr. 2043. 90 Nr. 1109. 91 Nr. 1446. 92 Nr. jj8.

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Geist bezwingt und schweigt, desto weiter wird sein Pfeil fliegen.«” In diesem Abgrund, der »Last des Schweigens«, wird sich einst die »heilige Erkenntnis« auftun! »Zur Er­ kenntnis zu gelangen« - ist unsere Aufgabe. »Und die Pforte zur Erkenntnis - ist die Verbindung mit den Na­ tionen«’4 (natürlich ohne sich mit ihnen zu vermi­ schen). Wer an diesem Ort steht, ist ein freier Mensch in der Ungebundenheit des anarchischen Lebens. »Der Ort, zu dem wir gehen, duldet kein Gesetz, denn dies alles kommt von der Seite des Todes, wir aber gehen zum Leben.«” Der Ort, der sich in der »Erkenntnis« offenbart, wird »Edom« oder »Esau« genannt. Der Weg nach Edom durch die Tiefen des Abgrunds unter der Last des Schweigens heißt »der Weg zu Esau«’6, den auch unser Vater Jakob, »der erste Jakob« ging - seine Taten sind »Zeichen« für den zweiten Jakob, nämlich für Jakob Frank. Dieser Esau ist zwar nicht mit dem Esau der Bibel identisch, aber sein Geheimnis ist doch in ihr verborgen: »Esau, der Sohn Isaaks war nur der Vor­ hang vor dem Eingang zu den inneren Gemächern des Königs.«’7 Dies ist das Geheimnis der Brunnen, die die Patriarchen gruben, und es ist das Geheimnis Ja­ kobs, der zum Brunnen kam, als dieser schon gegra­ ben war, und den Stein von der Öffnung des Brunnens wälzte und der dort Rachel und ihren Vater Laban 93 Nr. 8j8. 94 Nr. 2091. Das oder Daas bedeutet nicht »Religion«, wie Graetz dachte. In den frankistischen Manuskripten zu den Aggadoth steht dieses Wort stets für »heilige Erkenntnis«. In den Roten Briefen, 'Iggroth ’adumoth (s.u.), dage­ gen steht immer: »Religion«. 95 Nr. 805. 96 Nr. 1743. 97 Nr. 1784.

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fand. Auch Bileam, der Wahrsager, fand die Öffnung zu Esau.’8 Dieser Ort, wo die Macht des Todes aufge­ hoben ist, liegt im Reich des guten Gottes, und dort steht auch »sie«: die Jungfrau, die in den Jakobsge­ schichten Rachel genannt wird", aber auch »das schöne Mädchen ohne Augen«98 100 heißt. Sie ist der 99 wahre Messias, der unmöglich, wie früher angenom­ men101, ein Mann sein kann, und alle Waffen des Kö­ nigs werden in ihre Hand gelegt.101 Diese Jungfrau ist nichts anderes als die göttliche Weisheit, der wir nach­ jagen10’, und die statt des Todes zu den »Weltenlen­ kern« treten wird. Sie ist in einem Turm verborgen und vor den Augen aller Lebenden versteckt.104*Alle »befremdlichen Taten« (gegen die das fremde Feuer, das die beiden Söhne Aarons opferten, eine unbedeu­ tende Kleinigkeit war) geschehen nur, um sie zu erjagen,os, denn sie ist »die heilige Schlange«, die den Gar­ ten bewacht.106 Und wer da gefragt hat, was die Schlange im Garten Eden zu suchen habe - der wußte rein gar nichts.107 Noch haben wir jenen Ort Esaus, der Jungfrau und der wahren Erlösung nicht erreicht, aber ihr verborgenes Licht wird sich zuerst unter den »Gläubigen« offenba­ 98 99 100 101

Nr. 772, vgl. auch Nr. 2164. Nr. 240. Nr. 154. Der Ausdruck stammt aus dem Sohar II, fol.9ja. Nr. i $06: Möget ihr nur nicht auf einen Messias hoffen, der ein Mann ist.

102 Nr. 1046. 103 Nr. 1776. 104 Nr.255. ioj Nr. 1185. 106 Nr. 1271. 107 Nr. 1755. Diese Frage, die in Nr. 1271 Toragelehrte unter seinen Schülern stellten, stammt aus dem Sefer Peli’a, fol.9$d (1784) und war von dort bereits in das Sefer Jalkut ha-Re'nveni, Abschnitt Bere$chithy gelangt, das sich im 18. Jahrhundert in den Händen der Sabbatianer befand.

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ren‘°8, die seiner bedürfen, um sich in wirkliche Solda­ ten seines Krieges zu verwandeln.109 Dies ist die Hauptlinie der Äußerungen Franks, und ich denke, man kann, wie erwähnt, behaupten, daß es sich hier um einen religiösen Mythos des Nihilismus handelt. Wer so denkt, lebt nicht in der Welt von These und Antithese, sondern in der Welt des Mythos. Mehr noch: Wer in der Religionsgeschichte bewandert ist, könnte ohne weiteres vermuten, daß es sich hier um einen torafeindlichen Mythos aus dem zweiten Jahr­ hundert handle, aus der Zeit solcher Gnostiker und Ni­ hilisten wie Karpokrates und seiner Genossen; und wirklich ist kaum zu glauben, daß diese Worte gegen­ über polnischen Juden am Vorabend der französischen Revolution geäußert wurden, ohne daß der »Rabbi«, der Meister, oder seine »Chassidim«, seine Schüler, ge­ wußt hätten, welch alte Tradition sie wiederbelebten und welche Vorwelt bei ihnen wieder auferstand! Nicht nur die Gedankengänge, sogar die Begriffe sind dieselben. Dies ist allerdings nicht ganz so erstaunlich, wenn man bedenkt, daß letztendlich auch jene frühen religiösen Nihilisten in tannaitischer Zeit ihre Vorstel­ lungen innerhalb der biblischen Welt entwickelten, ob­ gleich sie diese pervertierten. Auch bei ihnen wurden Esau und Bileam zu Anbetern des guten Gottes, auch bei ihnen ist die Schlange im Garten Eden Symbol der Erlösung, der »Erkenntnis« und der wahren »göttli­ chen Weisheit«, die den Menschen lehrt, sich aus der Herrschaft des bösen »Weltenschöpfers«, dem er un­ terworfen ist, durch die Aufhebung seiner Gebote und Gesetze zu befreien. Auch sie stellen eine Lehre des guten, des »fremden« Gottes auf, der »befremdliche 108 Nr. 1810 109 Nr. 126), i $4), 1751.

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Taten« verlangt, eine Lehre, die im Gegensatz zur Tora des Mose steht, die in weiten Stücken die Tora des un­ berechenbaren »Weltenschöpfers« sei. Das positive »Gebäude«, das Frank seinen Schülern versprochen hatte, nachdem sie »zu Esau gelangt sein würden«, gleicht der Tora de-’Aziluth, deren Gesetze ebenfalls noch nicht offenbart sind. Jetzt, zur Zeit der Durchquerung des »Abgrunds«, gibt es für uns nur die Negation, Zerstörung und vollständige Vernichtung. Mir scheint, niemand hat die Lehre von der Gesetzlo­ sigkeit, die Frank seinen »Gläubigen« verkündete, bes­ ser erklärt als der Philosoph H. Jonas. Er analysiert in seinem ausgezeichneten Buch über die Gnosis die anar­ chische Moral, die jene religiösen Nihilisten, die sich selbst als »Pneumatiker« betrachteten, im zweiten Jahrhundert entwickelten“0: »Diese [pneumatische Moral] trägt nun den revolutio­ nären Charakter am sinnfälligsten, weil praktisch, an sich: in Gestalt des Libertinismus erweist sich die voll­ kommenste Auflösung der überlieferten Bindungen menschlichen Verhaltens und der Exzeß eines Frei­ heitsgefühls, das sich die Zuchtlosigkeit als Selbstbe­ weis, ja als Verdienst und Tat anrechnet... Der ganze Gedanke kreist um die Konzeption des Pneuma als des Adelsprivileges einer neuen Menschenart, die weder den Verbindlichkeiten noch auch nur den Kriterien der bisherigen Schöpfungswelt unterworfen ist. Der Pneu­ matiker ist im Gegensatz zum Psychiker frei vom Ge­ setz ... - und der hemmungslose Gebrauch dieser Frei­ heit ist nicht nur Sache einer negativen Erlaubnis, son­ dern positive Verwirklichung dieser Freiheit selbst. Es bekundet sich darin einmal die Anarchie des Bruches i io Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil I (1934)» S. 234.

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und Überganges als solchen, der Nihilismus des »Zwi­ schen den Zeiten«, der die Pause der Gesetzlosigkeit zwischen den Gesetzen mit der selbstherrlichen Will­ kür des freigelassenen Ich ausfüllt und sich in Maßlo­ sigkeit und der Heiligung des Frevels besonders gefällt. Ihre Richtung erhält sodann die allgemeine Anarchie durch das bestimmte Ressentiment gegen die bishe­ rige Lebenssatzung; zugleich durch das Bedürfnis, den Unterschied gegen die übrige Menschheit sinnfällig zu machen; und schließlich durch den Trotzgedanken derHerausforderung der weltgöttlichen Gewalten, die die Hüter der alten Moralordnungen sind. Es kommt also ein inhaltliches Motiv zu dem formalen des Wertezerfalls an sich hinzu, und in diesem Gesichts­ punkt der Aufkündigung alter Pflichtverhältnisse, die mit der Beleidigung ihrer Instanzen zugleich eine Art Kriegserklärung und schon den tätigen Aufstand selbst enthält, offenbart sich die Revolution ohne alle speku­ lativen Hüllen. Insofern gehört der Libertinismus ins Zentrum des gnostischen Umschwunges. (Übrigens mag auch die Eitelkeit beteiligt gewesen sein, die eigene »Kühnheit« in Gedanken und Tat auszukosten, deren der Gnostiker sich in der Sicherheit seiner pneumati­ schen Qualität vermißt; wie ja zu allen Umsturzzeiten die starken Worte der Selbstberauschung beliebt sind.)« Diese Worte treffen den radikalen Sabbatianismus im allgemeinen und die frankistische Bewegung im beson­ deren. Der nihilistische Mythos Franks ist die radikal­ ste Form, die solche Lehren annehmen konnten. Frag­ los waren der Mythos und die Lebenswirklichkeit in jener Generation nicht immer und in allen Details iden­ tisch: Gewiß war der Mythos radikaler als die Praxis, auch wenn Frank selbst nicht weit davon entfernt war, 102

ihn in seinem Leben zu verwirklichen, wie aus der Handschrift einer Chronik des Herrn, Divre jemeha’adon, die Kraushar noch besaß und die seither ver­ schollen ist, hervorgeht. [Eine Handschrift davon Lublin - ist jedoch 1984 von Hillel Levine veröffent­ licht worden: The Kronika - On Jacob Frank and the Frankist Movement (poln. - hebr.), Jerusalem. A.d.Ü.J Für uns aber ist nicht dies der Hauptpunkt, sondern die Tatsache, daß ein solcher Mythos über­ haupt entstehen konnte und gar nicht kleinen Kreisen unter den Juden des Ghettos als neue Botschaft galt, die ihnen die »Befreiung vom politischen und geistigen Joch« bringen würde. So erklärte noch nach Franks Tod ein frankistischer Toragelehrter, Gabriel Porges, seinem Sohn das Ziel der Bewegung. Wer in diesem Mythos eine Antwort und Heilung für seine Bedräng­ nis erblicken konnte, dem zerfiel die Welt des Juden­ tums im Innersten, selbst wenn er nicht den ganzen »Weg« ging, ja selbst wenn er ihn in der Praxis gar nicht betrat, sondern streng gesetzestreu blieb.

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Wahrscheinlich werden wir niemals das Rätsel lösen, warum ein großer Teil der Sabbatianer in Podolien nach dem Vorbild ihres Meisters von ihrer Religion ab­ fielen, während die Sabbatianer im Westen innerhalb des Judentums verblieben, obwohl auch sie größten­ teils Frank als ihren geistigen Lehrer akzeptiert hatten. Wir wissen nichts darüber, obwohl dessen Folgen für die Geschichte der Juden in jenen Ländern sehr bedeut­ sam waren. Wir können nur Vermutungen anstellen, aber wir haben keine Beweise. Möglich, daß die unter103

schiedliche soziale Struktur der sabbatianischen Grup­ pen hier entscheidend war. Viele Sabbatianer in Podolien gehörten zur Unterschicht, und fast alle, die über­ traten, waren keine Toragelehrten (obgleich es unter den Abtrünnigen auch solche gab). Die meisten Sabba­ tianer im österreichischen Kaiserreich waren bürger­ lich, und viele von ihnen besaßen eine ausgezeichnete rabbinische Bildung. Wie jede Sekte stützte sich auch der Sabbatianismus auf die Familie, nicht auf den Ein­ zelnen. Wir können noch heute nachweisen, daß - auch anerkannte und bedeutende - Familien, die im Jahre 1740 als sabbatianisch bekannt waren, dem »heiligen Glauben« noch über sechzig Jahre später anhingen. Ih­ nen wurde das historische Judentum selbst zum Ge­ wand des »Glaubens«, und gewiß gab es unter ihnen auch Meinungsverschiedenheiten. Nicht alle gingen den Weg Franks, obgleich die frankistische Gruppe in Prag geistig sehr stark und propagandistisch äußerst rege war. Wahrscheinlich waren viele Sabbatianer, die früher Schüler des R. Jonathan Eibeschütz gewesen waren, ihrer alten Lebensweise treu geblieben. Es ist jedenfalls eine Tatsache, daß die Zahl der Abtrünnigen in diesen Kreisen sehr gering blieb, ja fast gegen Null ging. Viele wollten »zur heiligen Erkenntnis Edoms« gelangen, doch ohne die Pforten des Christentums zu durchschreiten. Dennoch verlief nach Franks Tod die Entwicklung in den verschiedenen Kreisen parallel. Die vier wichtig­ sten Zeugnisse, die wir zu diesem letzten Stadium des Sabbatianismus besitzen, sind folgende: die Prophetie Jesajas (Nevu'ath Jeschaja), verfaßt von einem konver­ tierten »Gläubigen« in Offenbach111; die große Predigt i! i Auszüge finden sich bei Kraushar, II, S. 186-218. IO4

über das Gebet »‘Alenu leschabbeach , * die von Wes­ sely aus einem umfangreichen frankistischen Manu­ skript publiziert wurde“1; die Briefe, deren Inhalt uns durch Peter Beer"5 überliefert wurden, und der Kom­ mentar zu ‘En Ja'akob, der sich bei Ch. Brody fand. Ihre Welt ist ein und dieselbe, nichts trennt sie, allein der Konvertit ergeht sich noch in überschwenglichem Lob der Taufe und in »prophetischen« Schmähungen des Volkes Israel, seiner Vorsteher und Rabbiner, wäh­ rend die jüdischen Quellen ihre Welt darstellen, ohne diese Punkte zu berühren. Doch überall erstaunt die Gewißheit ihres Glaubens und die echte Begeisterung für ihre Lehre. Sie »glauben« mit ganzem Herzen und leben in ihrem Glauben. In dem Band, der den Kom­ mentar zu ‘En Ja'akob enthält, findet sich auch ein frankistischer Kommentar zum Hallei-Gebet, der in Prag geschrieben wurde, und die Glaubensfreude, das hingerissene Gefühl, das aus diesen wenigen Seiten spricht, berühren tief. Wir haben hier eine reine Seele vor uns, und der Jubel ihres Bekenntnisses »über die Erlösung und die Befreiung der Seele« kommt aus der Tiefe ihres Gefühls. Vielleicht wurden diese Worte von einem Mann geschrieben, der, wie die meisten Sabbatianer im österreichischen Kaiserreich, Frank nicht persönlich kannte. Der Autor der »Prophetie« aber kannte ihn und sah in ihm eine Inkarnation des lebendi­ gen Gottes, »den wahren Jakob, der nicht starb«, und auch er hing an diesem Gefühl der Erlösung mit allen Fasern seiner Seele. Der frankistische Mythos verlor hier viel von seiner Radikalität und Wildheit. Die meisten seiner Bestand112 Veröffentlicht in Orient XII (1851), S. $43 *574, 568-574. 113 Peter Beer, Geschichte, Lehren und Meinungen aller... Sekten derJuden, Bd. 2 (1823), S. 343-401.

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teile waren noch bekannt und kehren jetzt als »tiefe Ge­ heimnisse« wieder, die sich nur den Demütigen enthül­ len - doch erscheinen sie in gewisser Weise abgemil­ dert. Auch die Lehre Franks von der Verwandlung der »Gläubigen« in Soldaten im wörtlichen Sinne wurde vielerorts wieder zum Gleichnis und verlor dadurch so­ wohl ihre Logik als auch ihr Paradox. Ein grundsätzli­ cher Wandel vollzog sich: Die Lehre von den ma'assim sarim, den »befremdenden Taten«, verschwand nicht völlig, sondern verband sich auch hier mit der Erlan­ gung der Erscheinung der »Herrin« oder »Jungfrau«, doch gibt es keine Spur mehr von einer Theorie der Ge­ setzlosigkeit. Die Radikalität kehrt aus der Moral in die Geschichte zurück. Auch wenn wir annehmen, daß nicht alle Geheimnisse ihrer Seele schriftlich offenbart wurden - und viele Andeutungen in den uns bekannten Schriften verweisen darauf -, wird doch deutlich, daß es keine religiöse Forderung nach anarchischen Hand­ lungen mehr gibt. Man bemühte sich, die ma'assim sa­ rim der Großen, besonders der biblischen Großen, zu verstehen, denn auch der »Gläubige« betrachtete die Bibel als höchste Autorität; man wollte jene theoretisch rechtfertigen, aber ein praktisches »Gebot«, zu den Toren der Unreinheit hinabzusteigen, gibt es nicht mehr. Die befremdlichen Taten werden in jedem Sinn bescheidener. In Offenbach selbst beging man zwar noch verbotene und anstößige Handlungen, und zwar ausgerechnet an Jom Kippur“4, doch war dies schon bloße Täuschung, denn untereinander hatten die Gläu­ bigen diese Praktiken »in gutem Glauben« aufgegeben. Das Geheimnis der »Paarungen« zwischen Männli114 Nach Zeugenaussagen vor dem rabbinischen Gericht in Fürth im Jahr 1800, die N. Gelber in Historishe Shriftn (YIVO, Wilna 1929, S. 290) vollstän­ dig veröffentlicht hat.

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chem und Weiblichem in den oberen Welten, das gro­ ßen Raum in der »blasphemischen Kabbala« der Ra­ dikalen und Nihilisten eingenommen hatte, erhielt je­ denfalls in den uns zugänglichen Quellen eine weniger »gefährliche« Deutung."’ Die »Aufhebung der Tora de-Beri’a«, die ein Glaubensgrundsatz blieb, fand nun in einem anderen Bereich statt: in den Träumen von einer allgemeinen Revolution und von der Erneuerung der Welt. Denn die Hoffnung auf die Negation aller Gesetze und Satzungen, mit der Frank spielte, verwandelte sich am Ende seines Lebens in einen sehr realen geschichtlichen Gehalt. Die Sabbatianer und Frankisten dachten an eine Revolution auf religiösem und moralischem Ge­ biet, doch dann kam die Französische Revolution und lieferte diesen Gedanken einen konkreten Hinter­ grund - und vielleicht mehr als nur einen Hinter­ grund. Wir wissen, daß Neffen Franks als »Gläubige« oder schlicht als Abenteurer »Vertraute der Regie­ rung« in Paris und Straßburg wurden. Die Revolution wurde gewissermaßen zum Zeichen, daß der frühere Nihilismus einen Anhaltspunkt in der Wirklichkeit besessen hatte: Nun wankten die Säulen der Welt, und die Schöpfungsordnung wollte Wandel. Die Gläubi­ gen sahen in diesen Ereignissen zweierlei: vor allem (in dem für die Erwählten und für die Psychologie der Sekten so charakteristischen Hochmut) den Tikkun durch Gott, denn im allgemeinen Chaos konnten die innere Erneuerung und das Wirken der »Gläubigen« unbemerkt bleiben. Dies steht schon bei Frank selbst"6 und kehrt in den Auslegungen seiner Schüler 115 Vgl. Beer, a.a.O., S. 374. 116 Vgl. im Buch der Worte des Herrn, Nr. 198). IO7

in Prag wieder.1*'7 Aber es handelte sich ihrer Meinung nach nicht nur darum, die Blicke von dem, was sich in der inneren Welt abspielte, abzulenken und fernzuhal­ ten, sondern auch um positive Ziele: »der Sturz aller Regierungen und Königreiche, insbesondere aber der Herrschaft des Klerus«. Letzteres interessierte vor al­ lem die Gläubigen im österreichischen Ghetto. Ihre positive Haltung gegenüber großen religiösen Werten des Christentums"8 verband sich bei ihnen mit einem tiefwurzelnden Haß gegen seine Institutionen und den Klerus. Die antiklerikalen und »aufgeklärten« Mei­ nungen der Zeit fanden hier in die Herzen der Gläu­ bigen leicht Eingang. Der Verfasser der frankistischen Paraphrase des Jesajabuches schildert mit großem Entzücken jedes Detail des apokalyptischen Krieges und des Weltkrieges, der in dieser Zeit aus­ brechen wird, und alles um der Erneuerung der jüdi­ schen Nation willen, die schließlich ihren Rabbinern und ihren Irrlehren den Rücken kehren wird, um den Glauben »des wahren Jakob« anzunehmen, wie es dem »Volk des Gottes Jakobs« zukommt. Und nach Ansicht des Kommentators zum Hallel bedeutet »Die Rechte des Herrn ist hoch erhoben« (Ps 118, 16): Wenn die Rechte sich zu strecken beginnt, wer­ den das lügnerische Schwert und die lügnerische Linke Esaus und seiner Priester weichen« - das heißt, weltliche und kirchliche Herrschaft zugleich. Apoka­ lyptische Ideen vermischten sich mit den politischen Ideen der Revolution, die ebenfalls die »Befreiung vom politischen und geistigen Joch« anstrebt, was, 1 !7 Vgl- zum Beispiel die Predigt überdas »MZen««-Gebet, die 1803 bei einem Fest der Gläubigen in Prag gehalten wurde (Orient, XII, S. $38 und 540). 118 Besonders rechneten sie ihnen den Glauben an die Inkarnation hoch an (Beer, S. 383).

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wie gesagt, in den Augen der Gläubigen in Prag auch das Ziel ihrer Bewegung war - eine sehr aufschlußrei­ che Festlegung, die keineswegs angemessen berück­ sichtigt worden ist. Und o Wunder: im Jahr 1800 versandten die Franki­ sten, nachdem sich die Gläubigen in Offenbach mit de­ nen in Prag beraten hatten, die berühmten »roten Briefe«, die (mit roter Tinte) an viele jüdische Gemein­ den geschrieben wurden, um sie aufzufordern, »zur heiligen Religion Edoms« zu kommen. [Die hebräi­ schen Wörter ’Edom und ’adom, »rot«, unterscheiden sich nur im ersten Vokal. A.d.U.] Der theoretische Teil dieses Sendschreibens (das letzte Drittel) ist von gro­ ßem Interesse. Die Autoren fassen hier auf einer Seite ihre Auffassungen zusammen, ohne die Konversion zum Christentum ausdrücklich zu erwähnen, besitzt doch, wie gezeigt, das Wort »Edom« für sie eine beson­ dere Bedeutung. Dieses Dokument ist ganz im Stil des frankistischen Mythos verfaßt, und es kehren dort noch einmal alle charakteristischen Elemente der sabbatianischen Auslegungen wieder: der äußerst kühne Umgang mit biblischen Erzählungen, aggadischen Auslegungen, dem Sohar und den Kabbalisten. Einge­ faltet ist hier die ganze mystische Theorie der Revolu­ tion, und ich zitiere den Text als Beispiel für Gedan­ kenwelt, Ausdrucksweise und das kunstvolle Gefüge von Andeutungen, das diese Literatur auszeich­ net"’:

119 Porges veröffentlichte diese Briefe in der Revue des Études Juives XXIX, S. 283-286. Ein zweites Mal wurden sie von Wischnitzer in Mémoires de l'aca­ démie impériale des sciences (St. Petersburg 1914) veröffentlicht, der von der ersten Publikation nichts wußte.

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»Wisset, daß >es Zeit ist zu handeln für den Herrn, sie haben Deine Lehre gebrochen< (Ps 119, 126), und so haben auch die Rabbinen, Segen ihrem Andenken, ge­ sagt110, »bis das Königreich der Ketzerei verfallen sein wird«, »ist er überall weiß geworden, so ist er rein«111, und seine Diener sind auch rein, wie das Buch Zeror ha-Mor erklärt111: und die Zeit ist da, die Jakob meinte, als er versprach: »daß ich komme zu meinem Herrn nach Seir«113, denn wir haben noch nicht gefun­ den, daß er gegangen wäre114, aber in unserer Zeit wird Jakob, unser heiliger Herr, »der vollkommenste unter allen«11’, der Erwählte unter den Vätern, »beide Seiten ergreifen116, und er wird ein Äußerstes mit dem anderen verbinden117 bis zum Allerletzten, dem Lieb­ sten118, der aufstehen wird und sprechen: »Erhebe dich, Jungfrau Israels«, und er ist gewiß nicht gestor­ ben11’; er wird uns den Weg der Wahrheit in der hei120 Sanhedrin 972. 121 Lev 13, 13, auf diesen Vers stützt sich die Getnara. Vgl. den Kommentar zu Scha'are ’Ora (1713), fol. 60a. 122 Dort heißt es zu Lev 13, 13: »Und darin ist angedeutet: wenn die Kinder der Welt durch ihre Taten sich wandeln und schlechte Sitten annehmen, so daß das Weiße rot wird vor Sünde, dann ist er rein, und seine Knechte sind rein, denn er ist ihr Messias.« Dies bezieht sich nicht auf den Anfang des Wochenab­ schnittes Wajeze (Gen 28, 10). 123 Gen 33, 14. Die Tora erwähnt nirgends, daß er wirklich dorthin gegangen

sei. 124 Talmud Jeruschalmi, ‘Avoda Sara II, 1: »R. Huna sagte: wir haben nicht gefunden, daß unser Vater Jakob nach Seir gegangen ist. Rabbi Judan sagte: in Zukunft.« 12$ Sohar II, 23a. 126 Sohar I, 147a. 127 In der kabbalistischen Literatur werden Jakob diese Attribute zugeschrie­ ben, weil er sowohl die göttliche Eigenschaft der Gnade als auch die der rich­ tenden Strenge umfaßt und als Mittler zwischen beiden Extremen gedient habe; hier aber ist gemeint, daß Jakob Frank sowohl Judentum als auch Christentum zu ergreifen und zu verbinden wußte. 128 Teurer und wichtiger als der erste ist der letzte Jakob. 129 Ta'anith 5b: »Unser Vater Jakob starb nicht.«

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ligen Religion'30 Edoms führen, so daß einer der Nach­ kommen Abrahams, Isaaks und Jakobs ihrem Weg fol­ gen müsse, denn diese zeigten den Weg, auf dem ihre Söhne am Ende der Tage'3' gehen sollten, wie Abra­ ham, der nach Ägypten ging, und Isaak, der zu Abimelech ging, und Jakob, der Erwählte unter den Vätern, der aus Be’er Scheba wegging, heraus aus Glauben und aus Israel, und er ging nach Haran, in einen anderen Machtbereich, wie im Sohar gezeigt'31, denn >gerade am bösesten Ort unter allen, dort werden sie die Erlö­ sung finden«, wie im Sohar gezeigt'33, und dort kam er zum Brunnen'34, fand dort Rachel und wälzte den Stein von der Brunnenöffnung'3’, und er kam zu Laban, diente ihm und nahm seinen Anteil'36, und danach ging er zu Esau, aber kam damals nicht zum Ende, denn obwohl er den Stein weggewälzt hatte, schoben sie ihn zurück'37, und er ging nicht nach Seir, denn 130 Statt »Erkenntnis«; da hier alle Handschriften übereinstimmen, liegt of­ fensichtlich eine veränderte Auffassung vor. Vgl. dazu im vorigen Kapitel, S.98. 131 Ebenso im Manuskript zu 'En Ja'akob, Traktat »Schabbath *. [32 Hier wurden zwei Abschnitte des Sohar zusammengezogen: I, 147a (aus dem Sohar selbst) und 147b und 148a (aus Sithre Tora). Daher stammt auch die Auslegung zu Abraham und Isaak. 133 Ein solcher Ausspruch findet sich, soviel ich weiß, nicht im Sohar, er erinnert aber an den Gedanken des Sohar, der Auszug aus Ägypten sei die

erste Erlösung gewesen. Im Manuskript (Krakau), Nr. 3p, bringt Frank die­ sen Ausspruch ebenfalls im Stil eines Zitates: »Ihr habt nicht beachtet, was bei euch ausdrücklich geschrieben steht, am [bösesten] Ort usw.« Angedeutet auch in Nr. 917. 134 Nach Auffassung des Sohar ist der Brunnen der Ort der Schechina. Und wer von diesem Ort die Last des »Steines«, das heißt (nach Meinung der Ver­ fasser des Schreibens) die Gesetze und Vorschriften entfernt, findet dort die »Jungfrau«. 135 Ein Symbol aus den Hymnen der Dönmeh, Nr. 189 [über Jakob], »der Stein ist weggenommen - ein Zeichen der Erlösung«. 136 Sohar I, 161b (Sithre Tora). 137 Gen 29, 3. Das heißt: dennoch entstand die Herrschaft der Gesetze und Vorschriften.

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dies war nur, um den Weg zu zeigen, wie ihn Jakob, der vollkommenste von allem am Ende der Tage gehen würde, wie der Sohar zeigt1’8, Jakob, Jakobich führe Blinde auf einem Wege, den sie nicht gekannt, auf unbekann­ ten Bahnen leite ich sie, wandle Finsternis vor ihnen in Licht und Krümmungen in Ebenen«, und darin ehrte Jakob ihn als Meister usf., vergleiche im Sohar.'41 Und daher auch >Herr, bei deinem Auszug von Seir, bei dei­ nem Einherschreiten vom Gefilde Edom« (Ri 5, 4) und auch >wer ist es, der kommt von Edom« (Jes 63, 1), wie es in Tanna de-be-’Elijahu heißt'43: Einmal werden die Engel den Herrn suchen, und das Meer wird sagen: 1)8 Im Sohar (III, 138a) steht zu Gen 46, 2: »Jakob, Jakob - der letzte Jakob war vollkommen, der erste war nicht vollkommen, denn er hatte die Erzählun­

gen von Josef noch nicht gehört.« 139 Im Sohar I, 145b: »Als die Schlange Adam und seine Frau irreführte und sich der Frau näherte und Unreines auf sie warf und den Mann verführte, damit die Welt unrein würde und die Erde verflucht sei, deswegen besteht die Welt, bis eine Frau wie Eva und ein Mann wie Adam kommt und sie die böse Schlange täuschen und überlisten.« Dieser Ausspruch des Sohar wird auch in Nr. 666 (Ms.), Nr. 518 und Nr. 1291 zitiert. 140 Vgl. im vorigen Kapitel, S. 97. 141 Jes 42,16. Die frankistische Intention dieser Erklärung des Verses ist deut­ lich. 142 Das heißt: Jakob ging insgeheim, als er »nach Haran« ging, an jenen Ort der Finsternis, und er ehrte seinen »Meister der Welt« auch am Ort der Unrein­ heit, was dem oben zitierten Abschnitt des Sohar zu diesem Vers entspricht. 143 Seder *Elijahu Sutat Kap. 19, teilweise absichtlich falsch zitiert.

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nicht in mir ist er, und der Abgrund: nicht in mir - und wo werden sie ihn finden? In Edom, denn es heißt: >wer ist es, der kommt von Edomin seinem Schatten werden wir leben unter den Völkern« und'4’: »laßt uns hinaufgehen zum Berge des Herrn und zum Hause des Gottes Jakobs, daß er uns lehre von seinen Wegen und wir wandeln auf seinen Pfaden«, denn sie sind denen, die sie finden, Wege des Lebens die werden dem Herrn anhängen, wie gesagt ist146, >und ihr werdet suchen von da an den Herrn, deinen Gott und du wirst ihn finden« - »von da an«, denn aus der Finsternis wird Licht leuchten147, wie geschrieben ist148: »sitze ich auch im Finsteren, der Herr wird mir Licht sein«.« Die Regierungen, die diese Briefe aufgriffen, verdäch­ tigten die Absender revolutionärer Absichten. Und weil dort in vielen »nebulösen« Wendungen von »Ja­ kob« die Rede war, fürchteten sie, daß in Wirklichkeit - die Jakobiner gemeint seien, französische Revolutio­ näre, die unter den Juden des Ghettos agitierten ... Daher ordneten sie an, der Sache auf den Grund zu ge­ hen. Die Beamten, die diese Untersuchungen vorneh­ men sollten, gewannen aufgrund ihrer Nachfragen in Frankfurt und Offenbach nur den oberflächlichen Ein­ druck, es handle sich um Betrug und um einen finan­ ziellen Erpressungsversuch gegenüber einfältigen Ju■44 145 146 147 148

Klgl 4, io. Micha 4, 2. Dtn 4« 19. Sohar II, 47b (vgl. ibd. 101a). Micha 7, 8.

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den, und faßten in diesem Sinne ihren Untersuchungs­ bericht ab. Ein Historiker, der vor kurzem dieses Do­ kument veröffentlicht hat'49, schließt recht naiv: »So erwiesen sich schließlich die lächerlichen Vorstellun­ gen der kaiserlichen Bürokraten über die ihnen so be­ drohlich erscheinenden Absichten der frankistischen Bewegung als haltlos.« Er hatte nicht begriffen, daß auf einer tieferen Ebene ihr Mißtrauen berechtigt war und sie prophezeiten, ohne zu wissen, was sie prophezei­ ten! Hätten sie damals nicht nur die Schuldbriefe der Mitglieder des Offenbacher »Hofes« bei den Kreditge­ bern und Bankiers gelesen und verstanden, sondern auch das »Buch der Prophezeiungen«, das damals am »Hofe« verfaßt wurde, wären sie sicher erstaunt gewe­ sen über den heimlichen Wunsch dieser »Jakobiner« nach einem Sturz ihrer Regierungen ... Ihre Hoffnungen und Lehren bewegten die letzten Sabbatianer dazu, ihr Herz diesem Geist der »Endzeit« zu öffnen. Sie näherten sich den Gedankengängen der Haskala, der jüdischen Aufklärung, noch während sie und gerade weil sie »Gläubige« waren. Als aber das Feuer des Glaubens verlosch, blieben Aufklärer, reli­ giöse Reformer, zutiefst Gleichgültige und treue Skep­ tiker. Die Gleichgültigkeit gegen die praktischen Ge­ bote und viele Gebräuche hatte tiefe Wurzeln, und selbst die Gemäßigten unter ihnen glaubten, daß die Gebote vor allem im Lande Israel Gültigkeit besäßen, während es »im Exil keine Strafe gibt, obgleich die Ge­ bote Lohn nach sich ziehen wie früher«'s° - ein sehr verhängnisvoller Glaube, der allen Seiten Tür und Tor öffnete und der Assimilation den Weg bahnte. Jonas Wehle, der geistige Kopf und Lehrer der Sabbatianer in 149 E. Ringelblum, Magazin zu »Davar * vom 7. Shevat 69$ (11.1. 1935). i $0 Kommentar zu 'En Ja'akob (Manuskript Brody, II, fol. 42b.)

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Prag, bringt Sabbatai Zwi und Moses Mendelssohn miteinander in Verbindung, und was uns schriftlich von den Resten seiner Lehre erhalten ist, gibt seinem Gegner recht, der von ihm schrieb: »Er nahm von den Lehren Kants, des Philosophen, und kleidete sie in die Lehren des Sohar und der lurianischen Kabbala.«1’1 Der Sabbatianer behauptet, sich der Sprache der Haskala für seine eigenen Ziele zu bedienen - was deutlich aus allen Briefen, die Peter Beer noch besaß, und aus den Kommentaren zu 'En Ja'akob hervorgeht, indes­ sen aber bricht die Haskala in seine Welt ein und durch­ dringt sie. Selbst solche Kreise, die nicht den Weg des Prager Kreises gingen und keine Sympathien für die »Berli­ ner« hegten, da sie noch an ihrem früheren Glauben festhielten, fanden ohne weiteres den Weg zur Has­ kala. Es ist kein Wunder, daß Proßnitz, Hauptstadt der sich in Mähren ausbreitenden Haskala, auch ein Zen­ trum der Sabbatianer war. Die führenden Köpfe der »Berliner Haskala«, die natürlich weder Sabbatianer noch überhaupt von mystischen Ideen, geschweige denn von mystischen Häresien beeinflußt waren, fan­ den in jenen Kreisen leicht »Soldaten« für ihren neuen Kampf. Die Welt des rabbinischen Judentums wurde hier von innen heraus zerstört, unabhängig von jeder »aufge­ klärten« Kritik, und das bis auf den Grund. Ihre Her­ zen waren offen für jede Reform und für jeden neuen Geist, der ihnen in ihren Trümmern Heilung ver­ sprach. Als aber das »Phantasma« seine Macht verlor, 151 In der Polemik gegen die Sektenmitglieder in Prag: »Gespräch zwischen dem Jahr 1800 und dem Jahr 1801- (hebr.), S. 23. Der Name des Jonas Wehle wird nur angedeutet: »der törichte Prophet«, »‘evil ba-navi *!, und »Mann der Torheit«, »'isch *\baiweletb

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wandten sich die darin verborgenen positiven Kräfte und Sehnsüchte hin zur Haskala und zur Assimilation, die ohne Paradox, ja überhaupt ohne Religion das tat, was die Anhänger jener »verfluchten Sekte«, leiden­ schaftlich und redlich ringend, aus dem Elan eines Glaubens voller Widersprüche getan.

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Ursprünge, Widersprüche und Auswirkungen des Sabbatianismus

Einleitung zu Sabbatai Zwi aus dem Nachlaß *

* [Scholem hatte auf dem unveröffentlichten Titelblatt vermerkt:] »Die Einlei­ tung wurde 1942-194$ geschrieben, blieb einige Jahre verschollen und stand mir deshalb als Einleitung zu meinem Buch 195 5 nicht zur Verfügung.«

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Nichts wäre irriger als zu denken, die Wahrheit sei ein­ fach. Lassen wir uns durch diesen leichtfertigen und nur allzu geläufigen Ausspruch nicht täuschen. »Ein­ fach« ist wohl manchmal die Wahrheit, die sich noch nicht im Schmelztiegel der Geschichte behauptet und um ihre Bewährung noch nicht gekämpft hat, die ab­ strakte Wahrheit. Einfach war die Wahrheit zur Stunde ihrer ersten Offenbarung, als sie auf den »Bergen des Herzens« entsprang. Und vielleicht auch noch zur Stunde ihres Abstiegs in Rede und Ausdruck der menschlichen Sprache. Die Wahrheit, die zur Parole wird, um die Menschen und die Menge aufzurütteln und zu begeistern - ist einfach, wie Parolen es sind. Und doch, wie armselig ist diese Wahrheit, die auf den Lippen der Menschen und auf ihren Fahnen geschrie­ ben steht! Ihre vielgepriesene Einfachheit ist nur Schein. Sie gleicht einem Wegzeichen, das mehr ver­ steckt als es kundgibt. Einfach ist diese Wahrheit, weil ihre Verstrickungen und Widersprüche noch nicht deutlich genug hervorgetreten sind. Eine streitbare Wahrheit, eine Wahrheit, die das zu wecken und aufzustören vermag, was in unseren Tiefen schlummert, ja die unsere Finsternis aufzuhellen ver­ möchte, kurz: eine Wahrheit, die lebt und bereit ist, unter die Lebenden hinauszutreten - bewahrt nicht lange ihre vornehme Einfachheit. Ihre innere Vitalität wird das Einfache sprengen, und was noch gestern und vorgestern als glatte, in sich verschlossene Kugel er­ schien, erweist sich heute als Knäuel von Problemen und Widersprüchen, die an den Abgrund führen. Die verborgene Seite der Wahrheit ist das Hervortreten ih­ rer inneren Widersprüche - dieses große und grundle-

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gende »Geheimnis« nennen wir in der Sprache der gro­ ßen Philosophen die »Dialektik der Wahrheit«. Eine Wahrheit ohne eigenes Leben, eine Wahrheit, deren Leben abgestorben ist, die zur toten Wahrheit wurde, mag dem dialektischen Prozeß nicht unterworfen sein. Die Welt lebendiger Geschichte aber und die Welt der großen historischen Ideen gehorchen diesem Gesetz. Es heißt, daß selbst Begriffe in ihrer verborgenen Le­ bendigkeit eine eigene Dialektik entfalten und daß ihre starre Bestimmtheit und ihre Einfachheit nur Täu­ schung seien. Und was für die Begriffe in der Welt des Intellekts zutrifft, gilt erst recht für die lebendigen Ideen, die menschlicher Anstrengung bedürfen, um ihre Wahrheit auf Erden konkret zu erweisen. Jede Ka­ tegorie, deren Tiefe wir auszuloten und auszuschöpfen suchen, stellt, indem sie sich vollständig offenbart, ihr Gegenteil aus sich heraus. Alles, was in diesem Buch erläutert und dargestellt werden wird, ist nur ein be­ deutsames Beispiel für dieses mächtige Gesetz histori­ scher Dialektik. Nichts aber scheint einfacher als die messianische Idee, die Vision der Erlösung und der Befreiung, welche die Propheten Israels den Menschen in Israel, allen Ge­ schöpfen in Seinem Bilde und dem ganzen Kosmos ver­ kündeten. Wie »einfach« erschien die erhabene Wahr­ heit dieser Botschaft - und wie komplex, umstritten, ja tragisch erweist sie sich, sobald sie hevortritt und sich entfaltet. In der Idee öffneten sich Abgründe, sobald man versuchte, sie auszuschöpfen und ihre Bedeutung ganz zu ergründen. Werden doch solche Versuche, wenn es sich um eine für Geschichte und Menschheit bedeutende Idee handelt, nicht nur in der Welt des In­ tellekts unternommen, sondern indem die Idee auf dem ihr bestimmten Gebiet aktiviert und ihre Verwirkli­

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chung angestrebt wird. Ohne solche Bestrebungen würden die visionären Gesichte verblassen und der Glanz der Idee sich verdunkeln, denn ihre Kraft wäre gewichen, verschwunden im leeren Raum, wie der Funke, der auf der Kohle verglimmt. Möglich, daß im Munde verschiedener Prediger und Homileten, die sich gern der erhabenen Güter des »al­ ten Geistes Israels« rühmen, die messianische Idee und die apokalyptische Vision zu Phrasen werden und daß ihre glatte Rede von der »Heilung der Welt durch die Herrschaft des Allmächtigen« das Herz der Dinge nicht mehr berührt; dies sind Träume und Erinnerun­ gen an Träume, die sich der Wirklichkeit nicht einprä­ gen noch sie erschüttern. Doch lag in diesen Worten und Phrasen ein lebendiges Ferment, das den Horizont von Millionen von Menschen erhellte und ihre Grund­ haltung zur historischen Wirklichkeit bestimmte. Eine aufrüttelnde, ja mehr noch: eine erschütternde Kraft wohnte in ihnen. Die Vision der Erlösung und der erlö­ sten Welt bestimmte ihr Verhältnis zur unerlösten Welt, zur Welt der historischen Realität. Man weigerte sich, die bestehende Wirklichkeit und Weltenordnung anzuerkennen. Die Idee der Erlösung erschütterte diese Welt in ihren Grundfesten und stellte ihr eine an­ dere Ordnung und andere Werte entgegen. Die messia­ nische Idee als lebendiger Faktor erzeugte eine gewal­ tige Spannung zwischen dem Menschen und seiner Welt, eine fruchtbare und gefährliche Spannung zu­ gleich, die das Geschick der messianischen Unterneh­ mungen in der Geschichte Israels wie der Völker be­ stimmte.

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Welches Problem stellt sich uns in den folgenden Kapi­ teln? Meine Absicht ist es, die sabbatianische Bewe­ gung von Anfang bis Ende darzustellen und zu analy­ sieren: von ihren Ursprüngen in der Epoche nach der Vertreibung aus Spanien und dem Auftreten der neuen Prophetie in Gaza bis zum letzten Taumel des Unter­ gangs, den Frankisten im letzten Jahrhundert und der Verwandlung der Frankisten in Aufklärer. Zwischen stolzer Erhebung und Niedergang durchlief der Sabbatianismus in seiner langen Geschichte ver­ schiedene Stadien: paradiesische Zustände, sicherlich aber auch die sieben Kreise der Hölle. Der Sabbatianis­ mus wechselte seine äußere Gestalt und blieb dennoch, allem Wandel und Wechsel zum Trotz, eine Einheit. Sein Ziel war im Beharren auf sich selbst und dem einen historischen Gesetz seines Auftretens, seiner Entwick­ lung und seiner Krise stets dasselbe. Sein Daseinsgesetz wird uns hier verständlich: die Vorzeitigkeit, der Pio­ niercharakter gewissermaßen, des Versuches, das Ju­ dentum von innen heraus zu erneuern; es der Kleider des Exils zu entledigen und ihm das Kleid der Freiheit anzulegen. Ein Versuch, den positiven Gehalt der mes­ sianischen Freiheit zu bestimmen, ohne das Vermögen, die Schwingen dieser Freiheit wirklich zu ergreifen. Es war ein tragischer Versuch: obwohl er rückblickend in seiner Zeit zum Scheitern verurteilt war, - wagte man ihn dennoch. In anderen Worten: Geburt und Dasein des Sabbatianismus stehen unter dem Gesetz messiani­ scher Beschleunigung und Herbeizwingung des Endes. Ein neues Leben in einer neuen, einer geläuterten Welt, eine neue Statur des jüdischen Menschen und ein neues religiöses Denken, das sich aus neuer, tief menschlicher 122

Erfahrung nährt - aus der Erfahrung der Freiheit: dies sind die Werte und Ziele, die der Sabbatianismus auf seine Fahnen schrieb, dies sind die Lehren, in deren Umgrenzungen er sich verstrickte und in deren Wider­ sprüchen er zerfiel. Also der Versuch einer Revolution im traditionellen Judentum, noch ehe die verschiedensten Aufklärer und Reformer sich erhoben? Wir haben es hier gewiß mit dem Versuch einer Revolution im Herzen des Juden­ tums zu tun, und dieser Versuch lehrt uns ein großes Kapitel historischer Dialektik. Wir lernen Aspekte der messianischen Idee kennen, die viele der Frommen Is­ raels zu ignorieren pflegten, die sie nicht bemerkten und vielleicht gar nicht bemerken konnten -, da sie sich erst in der Stunde der Prüfung enthüllten. Die revolu­ tionären Aspekte dieser Idee konnten verdeckt und un­ deutlich bleiben, solange der Gedanke fern und unver­ wirklicht im Raum der Ideologie (oder Theologie) schwebte, ohne direkte Berührung oder direkten Ein­ fluß auf das Leben der Nation. Als jedoch eine breite Öffentlichkeit, ja eine ganze Nation, sie als wegwei­ sende Idee begriff und sie zu verwirklichen begann - da offenbarte sich der ihr zugrundeliegende revolutionäre Gehalt mit Macht. Wir kennen diese bedeutende Wahrheit aus der Ge­ schichte des Christentums unter den Völkern der Welt. Diese Geschichte beweist durch zahlreiche Beispiele das revolutionäre Prinzip in der messianischen Idee. Es tritt in der christlichen Welt möglicherweise noch auf­ fälliger hervor. Diese Welt ist auf die Annahme gebaut, daß die Erlösung bereits stattgefunden habe, der Erlö­ ser schon erschienen sei, und auch wenn das Werk der Erlösung nicht vollendet ist, es doch jedenfalls begon­ nen habe und keine ferne Zukunftshoffnung sei. Schon

jetzt geschehen Zeichen und Wunder. Der Erlöser wird bei seinem zweiten Auftritt sein Werk vollenden, die Lebenden richten und die Toten. Die Fülle der Gnade aber ist schon auf Hohe wie Niedrige ausgegossen, und das Heil der Welt durch das Reich Gottes ist schon jetzt möglich, nicht wie im Judentum erst in der Zukunft. Kein Wunder also, daß innerhalb der europäischen Na­ tionen Bewegungen zugleich religiösen und politischen Charakters entstanden, welche die messianische Idee, den verschiedenen christlichen Strömungen entspre­ chend, verwirklichen wollten. Alle diese Bewegungen sind im Grunde revolutionär und als solche in der Ge­ schichte des Christentums gut bekannt. Ich nenne nur die Namen dreier solcher Bewegungen, die großen Einfluß auf ihre Umwelt gewannen und die Gestalt der sie umgebenden Gesellschaft in ihrer Epoche verän­ dern konnten: der radikale Flügel des Franziskaneror­ dens im 13. und 14. Jahrhundert, die Bewegung der »Wiedertäufer« oder »Anabaptisten« im 16. Jahrhun­ dert, deren Geschichte hinsichtlich der Entwicklung des revolutionären Messianismus ausgesprochen lehr­ reich ist, sowie die puritanische Bewegung in England, die ihre Kämpfe in der ersten Hälfte des 17. Jahrhun­ derts ausfocht (eine Generation vor dem Beginn der sabbatianischen Bewegung im Judentum). Auch in die­ sen Bewegungen traten unterschiedliche religiöse und geistige, politische und gesellschaftliche Grundlagen des Messianismus hervor, die sich untereinander ver­ banden. Auch hier zog man aus dieser Idee weitrei­ chende und radikale Konsequenzen erst, als sie sich aus einem reinen Glaubensgrundsatz in einen lebendigen historischen Faktor verwandelt hatte. Erst da ent­ deckte man, was latent in ihr steckte. In der sabbatianischen Bewegung aber stehen wir vor 124

einem jüdischen Beispiel für die Explosion des revolu­ tionären Gehalts im Messianismus - ja vor dem jüdi­ schen Beispiel schlechthin. Dennoch darf man einen auffallenden Unterschied nicht außer acht lassen: den Unterschied in den Dimensionen des historischen Schauplatzes. Diese Bewegungen wirkten in der gro­ ßen Welt, in Merchav-Jah, der Weite Gottes, sie ent­ wickelten und vollendeten ihr Gesetz trotz aller Ver­ folgungen und Kämpfe in einem breiten historischen Kontext. Die sabbatianische Bewegung dagegen ent­ stand im Ghetto, wirkte im Ghetto und ist in verschie­ dener Hinsicht durch das Ghetto gezeichnet. Die Weite ist beschränkt und die Selbstentfaltung durch das konspirative Leben eingeengt. Nicht alles, was die Wortführer der Bewegung sagen wollten, wurde gesagt, und natürlich wurde nicht alles offen ausgesprochen. Die zeitlichen und örtlichen Umstände waren entschei­ dend, und der Widerspruch zwischen den einge­ schränkten Möglichkeiten und der umfassenden Inten­ tion prägte die historische Gestalt des Sabbatianismus in vieler Hinsicht. Noch mehr aber als zur Herausbildung seines Profils nach innen trug dieser Widerspruch zur Verschleierung seines Bildes nach außen bei. Dies bedarf der Erklärung.

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Die sabbatianische Bewegung unterscheidet sich in Umfang und Wirkung, räumlich wie zeitlich, von allen anderen messianischen Bewegungen. Im Hinblick auf die allgemeine Geschichte ist ihr Ausmaß, wie gesagt, begrenzt. Doch innerhalb der Nation und ihrer Ge­ schichte und aus unserer historischen Perspektive bei*5

trachtet, gewann sie gewaltige Dimensionen. Anders als ihresgleichen ist sie hier weder räumlich noch zeit­ lich begrenzt. Ist doch in Israel in den Tagen des Exils mehr als ein Messias aufgestanden, stets aber bot sich dasselbe Schauspiel: Hier oder da tritt ein Gesandter oder Messias hervor, versammelt um sich Gläubige und Anhänger seiner Botschaft, stets aber sind jene Erhe­ bungen örtlich begrenzt: in einer Region, einem Staat breitet sich die Bewegung aus, während sie in anderen Ländern nicht die geringste Wirkung zeigt. Messiani­ sche Bewegungen im Osten riefen im Westen kaum ein Echo hervor. Mehr noch: sie verschwanden, wie sie ge­ kommen waren. Die Herzen gerieten in Erregung, Ge­ rüchte griffen um sich, aber die Hoffnungen erfüllten sich nicht, der Messias enttäuschte, und die Bewegung geriet so schnell, wie sie entstanden war, wieder in Ver­ gessenheit. Gäbe es nicht hier und da verstreut Äuße­ rungen in Büchern und Chroniken, wäre kein Echo dieser Ereignisse zu uns gedrungen, da sie nicht in das lebendige Gedächtnis der Nation eindrangen. In äu­ ßerst seltenen Fällen umfaßte eine solche Bewegung verschiedene Länder - so die des syrischen Messias Sonoria oder Saura zu Beginn des 8. Jahrhunderts, die auch unter den sephardischen Juden zahlreich Anhän­ ger besaß. * Aber 1500 Jahre lang erhob sich keine Be­ wegung, die das ganze Haus Israel in allen Ländern sei­ ner Zerstreuung erfaßt hätte. Doch der Sabbatianismus erfaßte in seiner Blütezeit die gesamte Nation, von Jemen bis Litauen, von Persien bis England. Hier handelt es sich nicht um eine regio­ nale, durch lokale Gegebenheiten ausgelöste Erhe* Vgl. A.S. Aeshcoli, Die messianische Bewegung im Judentum (Ha-tenua* ha-meschichith be-Jisra’el), Mossad Bialik, 1956, S. 102-ioj, 130-132 [d. Hrsg.].

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bung, sondern um eine in unserer Geschichte beispiel­ lose, umfassend nationale Bewegung - keine Angele­ genheit einer Sekte und noch nicht einmal die einer be­ stimmten Schicht oder Klasse. »Das Haus Jakob - ein Feuer, und das Haus Josef - eine Flamme« (Obd i, 18). Werden wir begreifen können, was hier geschah? Warum gelang es dieser Bewegung, die Massen an sich zu ziehen, nicht nur an diesem oder jenem Ort, son­ dern überall? Warum fand ihre Botschaft Gehör und Zugang zu den Herzen? Worauf konnte sie bereits bauen, und was bewirkte sie erst? Haben die Umstände sie geformt oder die besondere Kraft ihrer eigenen Worte und Persönlichkeiten? Dies sind Fragen, die dem Historiker aufgegeben sind. Doch nicht nur der Umfang der Bewegung wirft hier Probleme auf wie keine andere messianische Bewegung in Israel (außer dem Christentum selbst), auch ihre Wirkung in der Ge­ schichte ist außerordentlich. Alle anderen Bewegungen wurden mit der Enttäu­ schung, die ihnen folgte, hinfällig und verschwanden. Die sabbatianische Bewegung aber brachte eine Ent­ täuschung mit sich, die schrecklicher und grausamer war als alles bisher Gekannte: Der Messias verriet sei­ nen Glauben in der Stunde der Prüfung. Eine grenzen­ lose Schmach und Schande, und ein unermeßlicher Hohn. Keine andere Bewegung hätte diesen tödlichen Schock überstehen und weiterleben können - aber der Sabbatianismus lebte fort und behauptete sich trotz al­ lem, er verließ den Schauplatz der Geschichte nicht, sondern stritt weiter um die Vision seiner Erlösung: als eine konspirative Bewegung, die schnell in verschie­ denste Gruppen zerfiel. Einhundertfünfzig Jahre dau­ erten ihre inneren Konflikte, bis sie unterging. Bedarf es noch anderer Beweise, um zu zeigen, daß sie sich aus

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tiefen Wurzeln speiste und ihren Anhängern etwas ge­ ben konnte, was sich den Frommen Israels in den Ghettomauern entzog? Die erschütternde Erscheinung des Sabbatianismus nach der Apostasie Sabbatai Zwis verlangt insgesamt nach Erklärung. Sie unterscheidet sich so sehr von allem, was wir sonst in unserer Ge­ schichte gewohnt sind, daß sie zum Rätsel wurde. Alles daran ist dunkel und höchst merkwürdig: die Äuße­ rungen der Menschen, die in ihr den Ausdruck für ihre Herzensregungen fanden, ihre Taten, Meinungen und Lehren - das alles ist in dichten Nebel gehüllt. Was Wunder, daß ihre Gestalt unklar blieb? 4 . * [•••]

Für die Verlegenheit gegenüber dem Sabbatianismus gibt es einen weiteren sehr wichtigen Grund: Die Äu­ ßerungen und Lehren der Sabbatianer sind in der Spra­ che der Kabbala verfaßt! Die Art der Beziehung (oder der Beziehungslosigkeit) von Haskala und »Wissen­ schaft des Judentums« zur Kabbala aber ist weithin be­ kannt. An ihr scheiterten mehrere Generationen jüdi­ scher Historiker. Diese Welt blieb ihnen verschlossen. Der historischen Bedeutung der Kabbala im Leben der Nation und dem religiösen Denken, das aus ihren Quellen entsprang, standen sie verständnislos gegen­ über. Man kennt das Vorurteil: Alles, was die Kabbala betrifft, ist unsinnig und irrational. Hier ist alles »Gematria und Notarikon, lächerlich und nichtssagend«, sinnlose Kombinationen von »Namen«, leeres Gerede * Auslassungen des 4. Teils kennzeichnen Partien, die in »Erlösung durch Sünde« unverändert oder nur mit geringen Abweichungen abgedmckt sind. [A.d.Hrg.]

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und aberwitziges Träumen ohne jeden Sinn. Die Schriftsteller der Kabbala verstehen zu wollen ist nicht notwendig, da diese weder Einsicht noch Tiefe bewei­ sen. Wer fände sich schon im Gestammel der kabbali­ stischen Bücher zurecht, die von der Reinheit der Spra­ che nichts wissen? Wer brächte Ordnung und System in ihr nebulöses Denken? So Graetz’ Worte, die David Kahana wiederholt und die auch weiterhin nachgeplap­ pert werden. Und dennoch: Diese Kabbala birgt einen der wichtig­ sten und unentbehrlichsten Schlüssel zum Verständnis der sabbatianischen Bewegung - wie auch die Schlüssel zu manch anderen wichtigen Erscheinungen der jüdi­ schen Geschichte. Ohne die Kabbala verstehen wir we­ der die Wurzeln der Bewegung noch das Ausmaß ihres Erfolges, weder die Erfahrung in den Herzen ihrer An­ hänger noch die Bedeutung der neuen Ideologie, die auf sie folgte. Die »häretische« Wendung im religiösen und historischen Denken der Sabbatianer ist nichts an­ deres als eine Wendung im Herzen der zentralen Be­ griffe der Kabbala selbst, obgleich sie auch durch diese Begriffe noch ausgedrückt wurde. Zwar ist richtig, daß diese Bücher, die der »orthodoxen« Kabbalisten wie die der »häretischen« Sabbatianer, in der geheimnisvol­ len Sprache der Eingeweihten geschrieben sind. Aber es ist die Aufgabe des Historikers, die geheimnisvolle Sprache vergangener Generationen zu entschlüsseln und die historische Bedeutung, die sich auch in den my­ stischen Begriffen verbirgt, zu entdecken. Um der Wahrheit willen muß gesagt werden, daß an dieser Aufgabe in den Generationen vor uns fast alle, die sich ihr zuwandten, gescheitert sind. Sie scheiterten an ihrer Empörung und an ihrem mangelnden Interesse für die Kabbala und alles, was mit ihr zusammenhing. 129

[•:•] Die Methode, auf der die folgenden Kapitel beruhen, ist deutlich: Ein Verständnis der sabbatianischen Be­ wegung hängt meiner Ansicht nach davon ab, ob der Versuch gelingt, das irdische Reich - das Gebiet der Geschichte - mit dem himmlischen Reich - dem Gebiet der Kabbala - zu verbinden und das eine im Licht des anderen zu deuten. Denn »das irdische ist wie das himmlische Reich«. Beide bilden ja in Wahrheit ein ein­ ziges »Reich« - das Reich der Bewegung, in der die menschliche Erfahrung sich entfaltet, die sich weder al­ lein »geistig« noch allein »gesellschaftlich« verstehen läßt, sondern viele Gesichter hat und in jedem ihrer Ge­ sichter dieselbe Grundbewegung offenbart. Eine ein­ zige kontinuierliche, klare, fortschreitende Bewegung führt vom Messianismus, der sich im Anschluß an die Vertreibung aus Spanien herausbildete, zur sabbatiani­ schen Bewegung, die die ganze Nation erfaßte, und vom Glauben an Sabbatai Zwi zum religiösen Nihilis­ mus des radikalen Sabbatianismus und des Frankismus, zu jener Lehre, die mit ihrer »Aufhebung der Tora als deren wahrer Erfüllung« die jüdische Seele zutiefst er­ schütterte. Und vom Nihilismus als religiöser Haltung, die sich aus den Quellen der Religion selbst speist, führte sie zur neuen Welt der Haskala. Dies ist nichts anderes als die dialektische Bewegung der messiani­ schen Idee und der Erlösungssehnsucht im jüdischen Menschen und in den historischen Verwicklungen, die entstehen, wenn eine ganze Nation und später Grup­ pen und Einzelne um ihre Befreiung ringen. »Und sie ruderten und rangen ... und vermochten es doch nicht; denn das Meer stürmte fort und fort um sie.«

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Nachwort

Gershom Scholem schrieb 1937 in Jerusalem einen Es­ say unter dem Titel »Mizwa haba’a ba'awera«, d.h. »ein Gebot, das durch (eine) Übertretung erfüllt wird«. Für dieses rabbinisch-rechtliche Konzept haben weder Scholem selbst noch seine Übersetzer ins Englische oder jetzt ins Deutsche eine juristisch knappe Wieder­ gabe gefunden, üm diesen halachischen Begriff aus dem babylonischen Talmud hat sich eine ganze Litera­ tur gebildet, die sich um seine Definition und Eingren­ zung bemüht. Das Gemeinte ist schnell umrissen: Was ist mit einer mizwa, einem Gebot, das mittels einer Übertretung ausgeführt wird? Ist das Gebot des Fest­ straußes am Laubhüttenfest erfüllt, wenn, sagen wir, der Palmzweig darin gestohlen worden war? Scholem hat die Wendung dem scharfen Gegner der Sabbatianer, R. Jakob Emden, entlehnt, der damit deren Praxis treffen wollte. Ihnen ging es aber um weit mehr als um dieses oder jenes einzelne Gebot, denn sie sahen in der Umwertung der Tora überhaupt die wahre, messia­ nisch gebotene Erfüllung eben der Tora. Versündigung wird heiliges Tun, die Übertretung ihrer Verbote macht den Beginn der Erlösung manifest. Die Wieder­ gabe des Titels mit »Erlösung durch Sünde« oder mit »Die Heiligkeit der Sünde« stammt von Scholem selbst bzw. ist von ihm autorisiert worden - denn so erhält die alte talmudische Wendung ihre unerhört neue Qualität. Sie dient nunmehr dazu, eine Verkehrung rechtlicher Ratio und das messianische Umpolen von göttlichem wie traditionellem Gebot und Verbot zu charakterisie­ ren. »Erlösung durch Sünde« trifft das Judentum bis ins Mark. Muß es verwundern, wenn dieser fulminante Essay zu Scholems bekanntesten Werken in der nicht 133

leicht zu überschauenden Produktion seines langen Forscherlebens zählt und auch heute stets mit dem da­ zugehörigen magnum opus, der 1957 erschienenen Biographie Sabbatai Zwis, in einem Atemzug genannt wird?

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Kein anderes Werk Scholems hat einen vergleichbaren Schock ausgelöst, und wenige andere nur haben einen ähnlich dauerhaften Einfluß auf die jüdische Welt und die Veränderungen ihres Selbstverständnisses ausge­ strahlt wie seine hiermit deutsch vorgelegte phäno­ menologisch-historische Skizze der sabbatianischen messianischen Bewegung, ihrer sektiererischen Ent­ wicklungen und ihrer weitreichenden Folgen nach der Apostasie und dem Tod ihres Messias. Gewiß, die erst zwei Jahrzehnte nach diesem Aufsatz erschienene Biographie der den Aufruhr auslösenden messianischen Figur Sabbatai aus Smyrna und ihres »Propheten« Nathan von Gaza ist um ein Vielfaches umfangreicher und enthält, besonders in der revidier­ ten englischen Fassung von 1973 (der die kürzlich er­ schienene deutsche Übersetzung folgt) zahlreiche Quellen und Dokumente, die zu einem so detaillierten Wissen gebündelt sind, wie man es wahrlich für keinen anderen Messiasprätendenten finden wird. Es fehlt darin auch nicht an grundsätzlichen Erwägungen und Auseinandersetzungen Scholems und an Schlaglichtern etwa auf die Vergleichbarkeit mit der Entstehung des Christentums. Und auch an scharfen Attacken darauf ist kein Mangel. Doch gibt es zwei Gründe dafür, warum die große Bior34

graphie wie auch die anderen einschlägigen Arbeiten dem Aufsatz nicht den Rang streitig machen: Indem Erlösung durch Sünde die Geschichte des Messias und seiner Anhänger nach seinem Abfall zum Islam und nach seinem Tode weiterschreibt, ist es die früh vor­ weggenommene Fortsetzung von Sabbatai Zwi. Ur­ sprünglich sollte Sabbatai Zwi nur den ersten Teil einer großen Trilogie bilden, deren zweiter und dritter Teil die vielfach verschlungenen Wege der sabbatianischen und frankistischen Bewegungen bis zu ihrem Nieder­ gang und Absterben nachgehen sollten. Diese Teile sind jedoch nie erschienen, so daß unser Essay heute als die noch nicht überholte konzise Gesamtdarstellung des langen Zeitraums nach Apostasie und Tod Sabbatai Zwis dient. Der zweite Grund für die Vitalität der Studie liegt in der Überraschung, in der Verstörung, die sie auslöste, aber auch in der Bewunderung, die sie erfuhr - eine Wirkung, die ebenso schnell einsetzte wie lange an­ hielt. Hier wurde eine souverän urteilssichere, atembe­ raubend neue Sicht auf die jüdische Geschichte von fast fünf Jahrhunderten vor die Leser gestellt. Ihr Erschrekken vor den »dämonischen« Kräften in der eigenen Vergangenheit ging tief, um so mehr als ihr Geschichts­ bild von der Rationalität und dem Fortschrittsglauben des emanzipierten und assimilierten europäischen Ju­ dentums bestimmt war - das Bild eines rein rationalen und von irrationalen Ausbrüchen unberührten Juden­ tums. Dieses Selbstbild war nicht zu vereinen mit der my­ thisch-apokalyptischen Eruption, deren Kräfte unter der Bewußtseinsschwelle der Geschichte schwelen konnten, bis sie sich in Sabbatai Zwi und erneut in Ja­ kob Frank Ausdruck verschafften. Wer sie dennoch U5

übersehen wollte, dem wurden sie hier höchst lebendig vor die Augen gestellt. Denn Scholems Analyse bietet nichts weniger als eine Revolution des jüdischen Ge­ schichtsbildes und eine Erweiterung des jüdischen Selbstverständnisses, wie sie anstößiger und weitrei­ chender kaum gedacht werden können.

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Wenn man nach mehr als fünf Jahrzehnten sowohl den anfänglichen Schock als auch die nunmehr von vielen wie selbstverständlich angenommenen Einsichten und Thesen Scholems recht verstehen will, d.h., um ihre Bedeutung für das Selbstverständnis des modernen Ju­ dentums, indirekt auch des ihn ablehnenden, erfassen zu können, halte man sich zunächst vor Augen, was der junge Gerhard Schölern zu Beginn seiner Hebräisch­ studien und mit seiner frühen Entscheidung, Zionist zu werden, von Sabbatai Zwi, seiner messianischen Bewe­ gung und ihren Nachwehen in Erfahrung bringen konnte. Das ist leicht von ihm selbst zu erfahren: die erste Quelle seines Wissens zählt zu den Klassikern des deutschen Judentums: Heinrich Graetz’ Geschichte der Juden. Graetz verabscheute die Kabbala tief und verurteilte die Auflösung des Judentums durch Sabbatai und seine »Apostel« (7. Kapitel des 10. Bandes der Geschichte, 1868, 3. Auflage 1896). Aber zugleich war hier eine eminente Gelehrsamkeit am Werk, die sich um die mühsame Erschließung der Quellen und der Bibliogra­ phie verdient gemacht und damit den Grundstein für die spätere Forschung, nicht zuletzt auch für die An­ fänge Scholems gelegt hatte. Eine Gelehrsamkeit aller-

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dings, die einem rationalistischen Irrtum zu Diensten war und damit historiographischer Fairneß ermangeln mußte. Im 19. Jahrhundert mochte die Vorstellung von der alleinig authentischen Rationalität allen Juden­ tums, von dem Irrationales verbannt werden müsse, vielleicht verständlich sein; Schölern sah darin einen ge­ fährlichen Irrtum. Der junge Schölern hat diese Ge­ schichte der Juden begeistert verschlungen; in Sachen Kabbala ist ihr Verfasser zur repräsentativen Gegenfi­ gur seiner Kritik an den Vätern und Vorläufern in der »Wissenschaft des Judentums« geworden. Graetz hatte hier nur das untermauert und eloquent festgeschrieben, was zum zweifelsfreien historischen Urteil über den »Lügenmessias« Sabbatai Zwi und die mit seiner Bewe­ gung verbundene häretische Katastrophe geworden war. Schölern mag aber auch Theodor Herzls utopischen Roman Altneuland (Berlin 1902) gekannt haben, in dem Sabbatai Zwi auf eine ganz andere Weise gebannt ist - als umschwärmter Held einer zukünftigen natio­ nalen Oper, aufgeführt im Haifaer Opernhaus. Zwar eine nebensächliche Episode in »Altneuland«, und ihr Erzähler vorsichtig genug, in der Inhaltsangabe dieses »Sabbatai Zwi« nicht über den zweiten Akt hinauszu­ gehen, dennoch liest man daran ab, daß die negative Haltung zu Sabbatai Zwi und den mit diesem Namen verbundenen Bewegungen sich mit dem Aufleben des politischen Zionismus Ende des 19. Jahrhunderts zu lockern und zu verändern begann. Das radikale Er­ neuerungsstreben der Sektierer aus der aktiven Vernei­ nung des endlos erscheinenden Exil- und Ghettoda­ seins, ihr Drang zum Aufbruch nach Eretz-Israel, der in die Leere gehen mußte, da ihm die politischen Bedin­ gungen zur Verwirklichung noch fehlten, ließen die 137

lang verfemte »Episode« in einem anziehenderen Licht erscheinen. Für Theodor Herzl stellte sich damit die mehrmals dem Tagebuch anvertraute - Frage nach sei­ nem Verhältnis zu dem gescheiterten Apostaten, Zwei­ fel an seiner eigenen »Sendung« wurden geweckt und die Sorge, von den jüdischen Massen Mittel- und Ost­ europas für einen zweiten Sabbatai Zwi gehalten zu werden und - vielleicht auch nicht mehr als jener zu sein? Zwischen den Gegenpolen der krassen Ablehnung durch den größten jüdischen Historiker des 19. Jahr­ hunderts einerseits und der sentimental faktenarmen Sabbatai Zwi-Romantik der Schriftsteller mitsamt Theodor Herzl andererseits entstand in den ersten bei­ den Jahrzehnten dieses Jahrhunderts eine nüchternere Haltung zum akuten und zum nachwirkenden Sabbatianismus, auf der der junge Schölern mit weitaus an­ spruchsvollerer Systematik aufbauen konnte, so daß die Grundlage für seine radikale Geschichtsphiloso­ phie, in der die Ära Sabbatai Zwi eine Hauptrolle spie­ len würde, gelegt war. Dabei waren weniger die Veröffentlichungen D. Kahanas, A. Freimanns oder Shai Hurwitz’ entscheidend für ihn als vielmehr die Begegnung mit dem acht Jahre älte­ ren russischen Intellektuellen Salman Rubaschow in Berlin 1917, der damals als der Experte galt, der auch zu wirklicher Neubewertung des Sabbatianismus fähig war. Schölern schilderte 1960 bei der Überreichung ei­ ner Festschrift für Rubaschow (der seinen Namen spä­ ter zu Schasar zusammenzog und Israels dritter Staats­ präsident wurde), wie viel er ihm verdanke. Er habe Jahre gewartet, bevor er sich an die eigenen Studien zu Sabbatai Zwi und den Sabbatianern gemacht habe, zum einen aus Rücksicht auf den älteren Freund, zum ande­

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ren aber, weil er damals wie alle anderen auch der Mei­ nung war, daß sämtliche einschlägigen noch erhaltenen Quellen und Dokumente aufgefunden und zugänglich seien und es nurmehr darauf ankomme, sie in histori­ scher, also in der ihnen einzig angemessenen Perspek­ tive zu prüfen und zu interpretieren. (Im Vorwort zu Sabbatai Zwi kommt er darauf zu sprechen.) Erst mit seinen Handschriftenfunden in Oxford und vielen an­ deren Bibliotheken seit den späten zwanziger Jahren konzentrierte sich Scholems Interesse auf das Studium des Sabbatianismus, dessen erster Markstein mit einer Skizze der Theologie des Sabbatianers Abraham Mi­ chael Cardoso in der Festschrift für Martin Buber 1928 gesetzt wurde (Judaica 1, 1963), gefolgt von einem nicht abreißenden Strom der Veröffentlichungen von und über Handschriftenfunde und seltene Bücher, De­ tailstudien, die Schölern bis an sein Lebensende fort­ setzte und deren Umfang dem der monumentalen Bio­ graphie Sabbatais gleichkommt. Schließlich hätten, so Schölern, alle diese Funde, die eigenen wie die der an­ deren, ihm ein noch größeres Vergnügen bereitet als das Schreiben der Biographie selber. Es ist zu spüren, daß die Anziehungskraft einer beweg­ ten und dunklen Epoche neuerer jüdischer Geschichte Schölern faszinieren mußte, so daß er das noch kaum beackerte Feld der Erforschung der kabbalistischen Welt, auf dem er bereits ein Jahrzehnt gearbeitet hatte, mächtig erweiterte. Die apokalyptisch-messianischen und apostatischen Bewegungen sah er nunmehr als de­ ren konkrete geschichtliche Manifestation, ja geradezu als eine Klimax der Kabbala an. Dank dieser nicht unproblematischen Ausweitung vor allem löst Schölern in seiner Analyse das rationalisti­ sche, antikabbalistisch und antimystisch gestimmte 139

»Dogma« von der zutiefst und »im Wesen« rationalen Grundbestimmtheit des Judentums auf und greift mit der Theologie und Ideologie des Sabbatianismus die Einheitlichkeit, ja prinzipielle Gleichförmigkeit durch die Zeiten scharf an, die man bis dahin für selbstver­ ständlich gehalten hatte. Schölern hat dabei vor allem die Auffassung des 19. Jahrhunderts vor Augen, das Judentum stelle eine letztlich sich linear entwickelnde, vom Dunkel ins Licht fortschreitende, stets an bestimmten eindeutigen Kriterien erkennbare große Einheit über die Jahrhun­ derte und Jahrtausende hinweg dar, in der klar und un­ zweifelhaft feststellbar sei, was als »jüdisch« (einmal von Schölern in Anführung gesetzt) und was als nicht jüdisch zu gelten habe. Dieser falschen Sicherheit be­ reitet Schölern das Ende, indem er ihr nicht ohne pro­ vokative Züge seine historische Forschung und seine daraus gewonnene Geschichtsphilosophie entgegen­ hält. Er zeigt die Ignoranz und Mißachtung der esoteri­ schen und irrationalen, mystischen und gnostischen Strömungen im Judentum, kurz aller seiner »anarchi­ schen« Elemente, die schon bald ihrerseits in Scholems Deutung zu den eigentlich lebendigen Kräften der jüdi­ schen Geschichte werden. Sie müssen endlich die ihnen zukommende Beachtung in Wissenschaft und Leben finden. Mit diesem »anarchisch frischen Wind« geht Schölern an die Neueinrichtung der jüdischen Geschichte, be­ ginnend mit den Folgen des »Traumas von 1492«, durch die Knüpfung seines spannungsreichen, wie immer dialektischen Kausalnexus von den Wirkungen der aus jenem Trauma gespeisten lurianischen Kabbala des 16. Jahrhunderts auf das Entstehen der messiani­ schen Massenbewegung im 17. Jahrhundert und ihrer

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schließlichen Verwandlung wieder zurück in die Inner­ lichkeit der nach der Apostasie Sabbatai Zwis an der Erlösung festhaltenden »Gläubigen« hin zu dem nihili­ stischen Aufbegehren Jakob Franks, der Konversion vieler Anhänger einerseits oder ihrem Aufgehen in der jüdischen Aufklärung, der Haskala, andererseits. Doch damit nicht genug: Wie die Kraft der Kabbala die messianische Massenbewegung aus sich selbst hervor­ gebracht hat, so erstirbt sie auch nicht mit dem Erster­ ben der Hoffnungen auf Sabbatai Zwi, sondern wirkt in deren Verwandlungen weiter, wirkt auf die Haskala und in die Reform des 19., ja mündet sogar in letzter Konsequenz in den Säkularismus des 20. Jahrhunderts. Der Sabbatianismus bildet ein wichtiges, wenn nicht das zentrale Glied in jener Wendung nach außen der (lurianischen) Kabbala und ihrer erneuten Wiederver­ innerlichung. Einer der »Zehn unhistorischen Sätze über die Kabbala« (vor 1938) drückt dies, in den noch tieferreichenden Zusammenhang des Gesetzes gestellt, auf die für den jüngeren Schölern charakteristische Weise aus: »Wie die Natur, kabbalistisch gesehen, nichts ist als der Schatten des göttlichen Namens, so kann man auch von einem Schatten des Gesetzes, den es immer länger und länger auf die Lebenshaltung der Juden wirft, spre­ chen. Aber die steinerne Mauer des Gesetzes wird in der Kabbala allmählich transparent, ein Schimmer der von ihm umschlossenen und indizierten Wirklichkeit bricht hindurch. Diese Alchimie des Gesetzes, seine Transmutation ins Durchsichtige, ist eines der tiefsten Paradoxe der Kabbala, denn was im Grunde könnte undurchsichtiger sein als dieser Schimmer, diese Aura des Symbolischen, die nun erscheint. Aber im Maße der immer steigenden, wenn auch immer unbestimmter 141

werdenden Transparenz des Gesetzes lösen sich auch die Schatten auf, die es auf das jüdische Leben wirft. So mußte am Ende dieses Prozesses logischerweise die jü­ dische >Reform< stehen: die schattenlose, unhinter­ gründige, aber auch nicht mehr unvernünftige, rein ab­ strakte Humanität des Gesetzes als ein Rudiment seiner mystischen Zersetzung.« Hier läßt sich ein wichtiges Element des säkularen Judentums Scholems deutlich erkennen - seine Auffas­ sung, die eine im liberalen Judentum des 19. Jahrhun­ derts verbreitete Haltung gegenüber der Halacha spie­ gelt: Es gebe eine »steinerne Mauer« (der »Zaun um das Gesetz« der rabbinischen Tradition?), ja eine »Verstei­ nerung« des Lebens in der Halacha und durch die Hala­ cha, das alles Leben einbegreifende Recht und Gesetz. Allein die Macht der geheimen anarchisch-messiani­ schen, utopisch-mystischen Tradition könnte sie auf­ lösen. Zwar gab es in der alten Kabbala antinomistische, d. h. gegen die Tora gerichtete Elemente, doch waren diese theologisch und theoretisch geblieben; erst der prakti­ sche, Verbot zu mizwa machende Antinomismus der Sabbatianer überführt latenten Antinomismus in die Wirklichkeit der fraglos noch von der rabbinischen Halacha bestimmten Welt des Tuns, die durch eine hö­ here Welt ersetzt werden will. Nach dem Scheitern oder dem Versiegen dieser Verwandlungen ist die Indifferenz dem Gesetz gegenüber ein folgerichtiges weiteres Stadium, bis schließlich in der Reform der »Schatten des Gesetzes« in rein abstrakte Humanität geschwunden ist. Die letzte und tiefste Konsequenz je­ ner anfänglich in der Kabbala nur schlummernden Ele­ mente aber wird die säkularisierte, die entleerte Welt sein. 142

So spricht es die hebräische Eulogie auf Franz Rosen­ zweig 1930 aus: »Der Gott, der in der Psychologie vom Menschen und in der Soziologie von der Welt weggetrieben wurde, wollte nicht länger ausgerechnet in den Himmeln woh­ nen, übergab den Thron des strengen Gerichts dem dialektischen Materialismus und den Thron des lieben­ den Erbarmens der Psychoanalyse, verschränkte sich ins Geheimnis und offenbarte sich nicht. Offenbart er sich wirklich nicht? Liegt nicht vielleicht gerade in die­ ser seiner letzten Selbstverschränkung seine Offenba­ rung? Vielleicht war das Verschwinden Gottes bis zum Punkt des Nichts von höherer Notwendigkeit und wird sich sein Königtum nur einer Welt, die entleert ist, offenbaren?« Die Theosophie der Kabbala dient der letzthinnigen Begründung der säkularen Welt und eben darin einer neuen Hoffnung am Nullpunkt der Offenbarung. Damit bezeichnet Schölern säkulares Judentum als legi­ time, wenn nicht gar als die legitime jüdische Existenz­ weise der Moderne. (Das Studium aber dieser verbor­ gen offenbaren Tradition läßt den, der ihre Quellen studiert, wiederum zu ihrem Teil werden.) Und aus diesen Quellen geht unabweislich hervor, daß die radikalen Veränderungen der jüdischen Welt nicht, wie es jüdische und nichtjüdische Allgemeinbildung des 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts wissen wollte, der neuen Duldung der christlichen und der Toleranz der nichtchristlichen Welt des siècle des lumières verdankt werden. Die Auflösung alther­ gebrachter jüdischer Einheit ist nicht allein der Eman­ zipation und der Assimilation zuzuschreiben. Erschüt­ terungen und Errungenschaften entspringen nicht vorrangig dem Einwirken der nichtjüdischen Umwelt H3

und den unterschiedlichen Reaktionen der Juden dar­ auf. Vielmehr haben sich das Zerbrechen des alten Ju­ dentums und die Freisetzung des jüdischen Pluralismus seit langem tief innen vorbereitet. Sie entstammen der Kabbala, die sich in Sabbatai Zwi und dem Sabbatianismus den Weg vom Innen ins Außen gebahnt hat. Die jüdische Geschichte hat ihre neue Lebendigkeit jenseits der steinernen Mauer gewonnen, wie gefährlich und gefährdet auch immer. Die jüdische Moderne bereitet sich also innerhalb der Mauern des Gesetzes vor und entspringt der dialekti­ schen Explosion im Innersten der alten Begriffe, wie Schölern es ausdrückt, zieht ihr Leben aus dem lange unterdrückten und dem des wohlgeordneten Hauses verwiesenen anarchisch-apokalyptischen Luftzug, den Schölern endlich wieder durch das ganze Haus Israel wehen läßt - ist doch gerade ein wohlgeordnetes Haus etwas sehr Gefährliches. Mit dieser kraftvollen, auf die Generation der äußer­ sten Katastrophe treffenden, rhetorisch und historisch paradoxen Behauptung und Legitimation eines vorsä­ kularen und säkularen jüdischen Pluralismus von bis­ lang unbekannter Reichweite bis in die Anfänge zurück und mit der Reintegration einer dunklen, beschämen­ den und gern in ihrer Bedeutung verkleinerten Episode zwingt der Historiker Schölern nicht nur das traditio­ nelle Judentum zu einer nur schwer zu meisternden Zerreißprobe des Selbstverständnisses. Auch noch den die schriftliche und die mündliche Tora in ihr Gegenteil verkehrenden und sie pervertierenden Manifestationen des radikalsten Sabbatianismus und des Frankismus wohnt eine Logik inne, vor der die historische Er­ kenntnis nicht aufgeben darf und die als eigene zu ver­ stehen ihre Aufgabe ist.

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Scholems gefährliche Gratwanderungen zwischen Po­ lemik und Apologetik, moralischer Verurteilung und prosabbatianischen Neigungen, die kühl bewahrte Di­ stanz zum Verrat ihres Judentums durch die Protagoni­ sten der Bewegungen und Sekten haben viele Kritiker auf den Plan gerufen, die nicht nur Scholems Empathie und auch seine Sympathien wahrnehmen wollten, son­ dern ihm unterstellten, seine Thematisierung des Sabbatianismus könne geradezu Ersatz sein für sabbatianisch »befremdliche Taten« selbst. Solche Kritiken sind längst verstummt. Es bleibt aber unsere Unsicher­ heit gegenüber der »wirklichen« Haltung des großen Judaisten zur »Erlösung durch Sünde« und zu seinem eigenen Judentum überhaupt, dessen Verständnis Schölern nie systematisch zur Darstellung gebracht hat. Diese Unsicherheit fand ihren Ausdruck nicht zuletzt in einem Jerusalemer Streit bald nach seinem Tod 1982: hie Schölern als der entlarvte Historiosoph, dort Schö­ lern als Historiker gerettet, aber auch nur Historiker. Diese Dichotomie kann schon als solche der Persön­ lichkeit Scholems nicht gerecht werden. Es ist wohl möglich, daß sich das Paradox in seiner Persönlichkeit selbst nicht auflösen läßt und ausgehalten werden muß. Noch die persönlichsten Zeugnisse aus seinem Nachlaß bleiben paradox genug. Und es bleibt die Tatsache, daß das Selbstbild des tradi­ tionellen Judentums, ja des Judentums überhaupt hier aus dem Inneren einer diesem Judentum wieder inte­ grierten »Häresie« tangiert, und wenn nicht gänzlich zerstört, so doch zutiefst verändert wurde. Dies mit unterschiedlicher Intensität und Absicht festzustellen reicht zur Kritik an Schölern nicht mehr aus. So verla145

gert sich die Kritik zusehends auf die Untersuchung der einzelnen Scholems Geschichtskonstruktion konstitu­ ierenden Elemente, ihre Verknüpfungen und Wechsel­ wirkungen. Wenn für Schölern der Sabbatianismus die sichtbarste Kulmination der Macht der Kabbala ist (und dialek­ tisch zugleich in dieser Veräußerlichung auch ihren Tiefpunkt bildet), nimmt es nicht wunder, daß die Kri­ tik sowohl vor dem Auftreten des Sabbatai Zwi als bei den Nachwehen der akuten Bewegungen ansetzt innerhalb ihrer selbst sind noch immer neue Entdekkungen vor allem im orientalisch-jüdischen Raum zu machen und zu verarbeiten, so daß es leichter ist, die Angelpunkte und Scharniere der Scholemschen Ge­ schichtssicht anzugehen und nicht vorrangig das Phä­ nomen Sabbatianismus selbst - das dadurch eher wie­ der isoliert wird. Angelpunkte sind die von Schölern stets verfochtene Verknüpfung des Sabbatianismus mit der lurianischen Kabbala einerseits und der Haskala andererseits. Die Kritik hieran ist für das tiefere Verständnis der Bedeu­ tung der Scholemschen Geschichtsschreibung und -philosophie wichtig, gleichviel ob eines Tages das letzte Wort über die Verifizierung seiner Thesen ge­ sprochen sein wird oder nicht. Die Zweifler an der von Schölern behaupteten durch­ gängigen Verbreitung und tiefgehenden Aufnahme der lurianischen Kabbala vor Ausbruch des Sabbatianis­ mus verweisen auf den unterschiedlichen Charakter des Messianismus in beider Theorie und Praxis. Die messianischen Züge der lurianischen Kabbala werden als eher introvertiert, das Tun des Einzelnen aktivie­ rend und als von progressiver Natur charakterisiert ganz anders die des sabbatianischen Aufbruchs: Sie gel146

ten als apokalyptisch-eruptiv, dementsprechend passiv bleibt der einzelne Mensch. Man geht soweit, der lurianischen Kabbala die messianische Erwartung abzu­ sprechen, und sucht sie als »entmessianisierte« Kabbala zu definieren. Wie denn überhaupt der Streit um die messianische Temperatur auch anderer jüdischer Gei­ stesströmungen, etwa des Chassidismus, in der For­ schung immer wieder neu entbrennt. Als Folge dieser Bestreitung der messianischen Substanz der lurianischen Kabbala fragt sich, wie aus dieser so anders oder nur schwach messianischen Lehre »dialektisch« die so akut-apokalyptische Inbrunst der »Schwärmer« um Sabbatai Zwi entstehen konnte. Vielleicht war die lurianische Kabbala des ausgehenden 16. Jahrhunderts nur das adäquate Medium, in dem sich das mit dem Auftreten Sabbatais und Nathans un­ erhört Neue seinen einzigen oder seinen bestmöglichen Ausdruck geben konnte? Mit ihrer theosophischen und mythopoieischen Sprache und Bilderwelt mag diese jüngere Kabbala nur dazu gedient haben, Wort und Le­ gitimation des tief innen Geschehenden und des Glau­ bens daran zu sein. Sie wäre damit nicht notwendiger­ weise das entscheidende oder auch nur ein wichtiges Moment zur Auslösung des Sabbatianismus im 17. Jahrhundert. Verwirrend kommt neuestens hinzu, daß einige der Phänomene, Ausdrucksweisen oder theolo­ gischen Akzentuierungen, die von Schölern als charak­ teristisch sabbatianisch definiert wurden, bereits ge­ raume Zeit früher aufgetreten sein sollen. Die zweite, leichter zu treffende Angriffsfläche bietet die von Schölern durchforschte Verbindung von Sabba­ tianismus und Haskala, die er vor allem für Prag und an einzelnen Persönlichkeiten aufzeigen konnte. Dieser Nexus ist ihm nicht zuletzt deshalb wichtig, um die

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Entwicklungslinien vom theoretischen »Antinomismus« der Kabbala zur Torakritik der Haskala und zum praktischen Antinomismus bzw. der halachischen In­ differenz der sich wiederum aus der Haskala herlei­ tenden Reform festschreiben zu können. Die neuere Forschung, die, über Scholems Verweise auf Prag, Böhmen und Mähren, Proßnitz und Dresden hinaus­ gehend, die gesamte mittel- und osteuropäische he­ bräische Haskala untersucht hat, nimmt allerdings in der jüdischen Aufklärung allgemein eine äußerste Empfindlichkeit und bewußte Gegnerschaft gegen den Sabbatianismus wahr. Wenn im 18. Jahrhundert der Kampf gegen den Sabbatianismus vor allem vom alt­ frommen, dem sogenannten »orthodoxen« Judentum geführt wurde, so haben im 19. Jahrhundert die Maskilim diese Auseinandersetzung von ihm übernommen und fortgeführt, und das nicht selten unter Berufung auf den schon für die Orthodoxie bewährten Gewährs­ mann, den großen Eiferer R. Jakob Emden. Die enge kausale Bindung der Haskala an den Sabbatia­ nismus wird sich nicht gut halten lassen; die Verhältnis­ bestimmung sieht komplexer aus; so zeigten sich bei­ spielsweise umgekehrt einzelne Aufklärer ihrerseits für die mythischen Visionen von Sabbatianern oder Fran­ kisten aufgeschlossen. Und wenn die »Gläubigen« ver­ langten, man solle sich zwar nach außen hin als Jude zeigen, innen aber frei und erlöst sein, die Maskilim hingegen nach dem berühmten Wort Mendelssohns charakterisiert werden könnten: Zu Hause Jude, drau­ ßen aber Mensch - dann, so ein Kritiker Scholems, fehle doch noch eine dialektische Kehrtwendung. Anderer Natur ist der Mangel an sozial- und wirt­ schaftsgeschichtlicher oder nur allgemein soziologi­ scher Profilierung dieser Bewegungen in Scholems 148

Darstellung. Nicht, daß Scholems energisches Eintre­ ten für die bedingungslose Berechtigung des rein reli­ gionsgeschichtlichen Zugangs abgelehnt würde. Auch wird nicht übersehen, daß Scholem selbst soziologi­ schen Fragestellungen durchaus offen war. Doch habe er sie, so der Vorwurf, nicht konsequent angewandt, ja ihre sich abzeichnenden Antworten eher verworfen. Antworten auf die Fragen nach dem sozialen Status und dem schichtenspezifischen Verhalten der »Gläubi­ gen epater le bourgeois< nachgesagt. Nachdem dies un­ schwer zu erreichen war, es aber, allerdings ohne Zu­ tun Scholems, diesen geruhsamen jüdischen Bürger nicht mehr gibt, darf man sich heute, wenn auch unter sehr anderen Voraussetzungen, von seinen geschliffe­ nen Paradoxen und der Spannkraft seiner Dialektik gefangennehmen lassen und sie an diesem Beispiel geschult aushalten und in Frage stellen. Wenn es in Er­ lösung durch Sünde einmal heißt: »Nie wird es hier eine andere Lösung geben als das Paradox«, so mag Triumph, aber auch die Resignation in Scholems Stimme vernehmlich sein. 151

Und nicht zuletzt beeindruckt Scholems Werk auch darin, daß sich in ihm das Ideal der Vereinigung inten­ sivster Arbeit an der Einzelheit mit dem scharfen Weit­ blick über ganze Epochen und Forschungsfelder dar­ stellt. Das Vergnügen an dem Wort Aby Warburgs, daß »der liebe Gott im Detail« wohne, und die Detail­ besessenheit selbst sind in eine historisch weiträumige Architektur eingegangen, deren Perspektiven und Pro­ portionen ihren Eindruck nicht verfehlen.

7.U dieser Übersetzung Schriften von Gershom Schölern, der ebenso gut deutsch wie hebräisch schrieb, aus dem Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen ist nicht nur den Inhalten nach schwierig, sondern verlangt auch nach seinem ei­ genen deutschen Wort. Frau Andrea Schatz, Berlin, hat dankenswerterweise die erste Fassung der Überset­ zung erstellt. Wir haben uns darum bemüht, Scholems eigenen Ausdruck vom einzelnen Begriff bis zur größe­ ren syntaktischen Einheit aufzusuchen und unserer Übersetzung zu integrieren. M.B.

Nachweise Mizwa haba’a ba'awera (hebr.), Knesset 5697/1937, S. 347-392, sowie überarbeitet in Gershom Schölern, Studies and Texts concerning the history of Sabbetianism (sic) and its metamorphoses (hebr.), Jerusalem 1974. S.9-67.

Die »erste Einleitung« zuerst in: Gershom Scholem, Shabbtai Zwi weha-tenu‘ah hashabbetha’ith bi-jemei chajjaw. 2. Auflage, Tel Aviv 1987, S. 15-26.

Zwanzig Jahre vor dem monumentalen Sabbatai Zwi, dessen deutsche Erstausgabe 1992 im Jüdischen Verlag erschienen ist, erschütterte Gershom Schölern 1937 mit seinem Aufsatz Erlösung durch Sünde die traditionelle jüdische Weitsicht und ihre Geschichts­ schreibung. Schölern schildert die Geschichte der Anhänger des jüdischen Mystikers und Messias Sabbatai Zwi (16261676) nach Konversion und Tod ihres Gründers. Erlösung durch Sünde verlängert die historische Linie von Scholems großer Monographie und hebt deren Grundmoment hervor: daß nämlich die Sünde die Erlösung vorbereite, daß der Messias durch alle Verderb­ nisse und Unzulänglichkeiten der Welt hindurchmüsse.

Gershom Schölern in der Bibliothek Suhrkamp

Judaica i Band 106

Judaica 2 Band 263

Judaica 3 Band 333

Judaica 4 Band 831

Judaica 5 Erlösung durch Sünde Band im

Judaica 6 Die Wissenschaft vom Judentum Band 1269

Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft Band 46p

(ISBN

j-j 18-21111-6)

Umschlag: Willy Fleckhaus Umschlag geschützt: DBGM i 827026

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So geht es in diesem Essay allein darum, die Ideologie des Sabbatianismus und ihre Entwicklung darzustellen, ein Kapitel, das bisher ganz besonders vernachlässigt wurde.