Judaica 2 3518012630

Inhalt: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen »Gespräch« Noch einmal: das deutsch-jüdische Gespräch Juden und Deutsch

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Judaica 2
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Gershom Scholem

Judaica 2

Bibliothek Suhrkamp

SV

Band 263 der Bibliothek Suhrkamp

Gershom Scholem Judaica II

Suhrkamp Verlag

Erste Auflage: 1970 © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1970 Druck: Poesdiel 8c Sdiulz-Sdiomburgk, Esdhwege. Printed in Germany

Inhalt

I Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen »Gespräch« 7 Noch einmal: das deutsch-jüdische Gespräch 12 Juden und Deutsche 20 Rede über Israel 47 Israel und die Diaspora $ 5 Der Golem von Prag und der Golem von Rehovot 77

II S. J. Agnon - der letzte hebräische Klassiker? 87 Agnon in Deutschland. Erinnerungen 122 Martin Bubers Auffassung des Judentums 133 Walter Benjamin 193 Nachweise

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Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch*

Sehr geehrter Herr Schlösser, Ihre Einladung zu einer Festschrift für Margarete Sus­ man ehrt mich im selben Maße, wie sie mich in die ent­ schiedenste Verlegenheit versetzt. Ich sehe keinen anderen Weg, als Ihnen, und damit vielleicht den Lesern der von Ihnen geplanten Festschrift selber, die Natur dieser Ver­ legenheit zu erklären. Denn in der Ankündigung dieser Schrift, die Sie mir freundlicherweise haben zugehen las­ sen, heißt es, daß die Festschrift »nicht nur als Huldi­ gung, sondern auch als Dokument eines im Kern unzer­ störbaren deutsch-jüdischen Gespräches zu verstehen sein« soll. Niemand könnte über eine solche Ankündigung be­ stürzter sein als ich. Denn so bereit ich mich finde, der ver­ ehrungswürdigen Erscheinung Margarete Susmans zu huldigen, mit der mich Tieferes verbindet als Meinungen, in denen wir übereinstimmen oder auseinandergehen, so entschieden muß ich mich der Einladung versagen, jener mir unfaßbaren Illusion von einem »im Kern unzerstör­ baren deutsch-jüdischen Gespräch« Nahrung zu liefern, der diese Schrift nach Ihrer Bestimmung dienen soll. Ge­ statten Sie mir, mich darüber näher zu erklären. Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die auf­ einander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was * Aus: Auf gespaltenem Pfad. Zum neunzigsten Geburtstag von Mar­ garete Susman. Herausgegeben von Manfred Schlösser. Erato-Presse, Darmstadt, 1964, S. 229-232.

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er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern. Nichts kann irreführender sein, als solchen Begriff auf die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Juden in den letzten 200 Jahren anzuwenden. Dieses Gespräch erstarb in seinen ersten Anfängen und ist nie zustande ge­ kommen. Es erstarb, als die Nachfolger Moses Mendels­ sohns, der noch aus irgendeiner, wenn auch von den Be­ griffen der Aufklärung bestimmten, jüdischen Totalität her argumentierte, sich damit abfanden, diese Ganzheit preiszugeben, um klägliche Stücke davon in eine Existenz herüberzuretten, deren neuerdings beliebte Bezeichnung als deutsch-jüdische Symbiose ihre ganze Zweideutigkeit offenbart. Gewiß, die Juden haben ein Gespräch mit den Deutschen versucht, von allen möglichen Gesichtspunkten und Standorten her, fordernd, flehend und beschwörend, kriecherisch und auftrotzend, in allen Tonarten ergreifen­ der Würde und gottverlassener Würdelosigkeit, und es mag heute, wo die Symphonie aus ist, an der Zeit sein, ihre Motive zu studieren und eine Kritik ihrer Töne zu versuchen. Niemand, auch wer die Hoffnungslosigkeit dieses Schreis ins Leere von jeher begriffen hat, wird des­ sen leidenschaftliche Intensität und die Töne der Hoff­ nung und der Trauer, die in ihm mitgeschwungen haben, geringschätzen. Der Versuch der Juden, sich den Deutschen zu erklären und ihre eigene Produktivität ihnen zur Ver­ fügung zu stellen, sogar bis zur völligen Selbstaufgabe hin, ist ein bedeutendes Phänomen, dessen Analyse in zu­ reichenden Kategorien noch aussteht und vielleidit jetzt erst, wo es zu Ende ist, möglich werden wird. Von einem Gespräch vermag ich bei alledem nichts wahrzunehmen. Niemals hat etwas diesem Schrei erwidert, und es war diese einfache und ach, so weitreichende Wahrnehmung, die so viele von uns in unserer Jugend betroffen und uns bestimmt hat, von der Illusion eines Deutschjudentums

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abzulassen. Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, be­ ruhte solche Auseinandersetzung stets, von Wilhelm von Humboldt bis zu George, auf der ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden, auf der fortschreitenden Atomisierung der Juden als einer in Auflösung befindlichen Gemeinschaft, von der bestenfalls die einzelnen, sei es als Träger reinen Menschentums, sei es selbst als Träger eines inzwischen geschichtlich gewordenen Erbes rezipiert werden konnten. Jene berühmte Losung aus den Emanzipationskämpfen: »Den Juden als Individuen alles, den Juden als Volk (das heißt: als Juden) nichts« ist es, die verhindert hat, daß je ein deutsch-jüdisches Gespräch in Gang gekommen ist. Die einzige Gesprächspartnerschaft, welche die Juden als solche ernstgenommen hat, war die der Antisemiten, die zwar den Juden etwas erwiderten, aber nichts För­ derliches. Dem unendlichen Rausch der jüdischen Begei­ sterung hat nie ein Ton entsprochen, der in irgendeiner Beziehung zu einer produktiven Antwort an die Juden als Juden gestanden hätte, das heißt der sie auf das an­ gesprochen hätte, was sie als Juden zu geben, und nicht auf das, was sie als Juden aufzugeben hätten. Zu wem also sprachen die Juden in jenem vielberufenen deutsch-jüdischen Gespräch? Sie sprachen zu sich selber, um nicht zu sagen: sie überschrien sich selber. Manchen war dabei unheimlich zumute, viele aber taten so, als ob alles auf dem besten Wege sei, in Ordnung zu kommen, als ob das Echo ihrer eigenen Stimme sich unversehens in die Stimme der anderen verwandeln würde, die sie so be­ gierig zu hören hofften. Die Juden waren immer große Lauscher, eine edle Erbschaft, die sie vom Berge Sinai mitgebracht haben. Sie haben auf vielerlei Stimmen ge­ lauscht, und man kann nicht sagen, daß es ihnen immer 9

gut bekommen ist. Als sie zu den Deutschen zu sprechen dachten, da sprachen sie zu sich selber. Niemand als Ju­ den selber ist etwa von der jüdischen Produktivität eines Denkers wie Simmel angesprochen worden. Und Simmel ist in der Tat eine wahrhaft symbolische Erscheinung für all das, wovon ich hier spreche, weil eine Erscheinung, die die Substanz des Judentums noch höchst sichtbar an einem Manne zeigte, bei dem es auf dem reinen Nullpunkt völ­ liger Entfremdung angelangt war. Ich versage es mir, jenes erschütternde Kapitel abzuhandeln, das durch den großen Namen Hermann Cohens bezeichnet ist, und die Art, in der diesem unglücklich Liebenden, der den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen nicht gescheut hat, ge­ antwortet worden ist. Die angeblich unzerstörbare geistige Gemeinsamkeit des deutschen Wesens mit dem jüdischen Wesen hat, solange diese beiden Wesen realiter miteinander gewohnt haben, immer nur vom Chorus der jüdischen Stimmen her be­ standen und war, auf der Ebene historischer Realität, nie­ mals etwas anderes als eine Fiktion, eine Fiktion, von der Sie mir erlauben werden zu sagen, daß sie zu hoch be­ zahlt worden ist. Die Deutschen hat diese Fiktion, aus­ weislich einer nur allzu reichen Dokumentation, meistens ergrimmt und bestenfalls gerührt. Kurz bevor ich nach Palästina ging, erschien Jakob Wassermanns Schrift: Mein Weg als Deutscher und ]ude, gewiß eines der ergrei­ fendsten Dokumente dieser Fiktion, ein wahrer Schrei ins Leere, der sich als solchen wußte. Was ihm erwidert hat, war teils Verlegenheit, teils Grinsen. Vergebens wird man nach einer Antwort auf der Ebene des Redenden suchen, die also ein Gespräch gewesen wäre. Und wenn es einmal, direkt vor dem Einbruch der Katastrophe, in der Tat zu einem Gespräch in Wechselrede gekommen ist, dann sieht es so aus wie jenes Gespräch zwischen den Exwanderio

vögeln Hans Joachim Schoeps und Hans Blüher, bei des­ sen Lektüre noch heute dem Leser die Haare zu Berge stehen. Aber wozu Beispiele häufen, wo ja eben das Ganze jenes gespenstischen deutsch-jüdischen Gespräches sich in solchem leeren Raume des Fiktiven abspielte? Ich könnte unendlich davon sprechen und bliebe doch immer auf demselben Punkt. Es ist wahr: daß jüdische Produktivität sich hier ver­ strömt hat, wird jetzt von den Deutschen wahrgenom­ men, wo alles vorbei ist. Ich wäre der letzte zu leugnen, daß darin etwas Echtes - Ergreifendes und Bedrückendes in einem - liegt. Aber das ändert nichts mehr an der Tat­ sache, daß mit den Toten kein Gespräch mehr möglich ist, und von einer »Unzerstörbarkeit dieses Gespräches« zu sprechen, scheint mir Blasphemie. Ihr Gershom Scholem

Jerusalem, den r8. Dezember 1962

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Nodi einmal: das deutsch-jüdische »Gespräch« I Rudolf Kallner hat Widerspruch gegen meine Ausfüh­ rungen »Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Ge­ spräch« erhoben. Unter Widersprudi pflegt man gemein­ hin zu verstehen, daß die Thesen, die vorgetragen worden sind, angefochten werden. Meine These, daß die Rede vom deutsch-jüdischen Gespräch ein Mythos sei, hatte selbstverständlich zur Voraussetzung, daß ich den Sinn des Wortes »Gespräch«, wie ich es denn auch getan habe, klar definierte. Meinen Ausführungen im Sinne dieser De­ finition kann man zustimmen oder widersprechen. Das würde ich dann zum Beispiel ein Gespräch zwischen Kall­ ner und mir nennen. Statt dessen haben wir hier ein Mu­ sterbeispiel für ein gegenstandsloses Gesprädi, bei dem die Partner von verschiedenen Dingen reden. Und nicht nur das, sondern Kallner erklärt ausdrücklich, daß ein Ge­ spräch in dem Sinne, den ich mit diesem Begriff zu ver­ binden »scheine«, sicherlich nicht das sei, den dieser Be­ griff im modernen deutschen Sprachgebrauch hat. Nach­ dem er ihn also seines wohldefinierten Sinnes zugunsten eines verwaschenen und wesenlosen journalistischen Ge­ brauches, wie er in den deutschen Zeitungen üblich ist, entkleidet hat, geht er dazu über, vom Gespräch in die­ sem nichtssagenden Sinne zu handeln und damit meine Ausführungen zu »widerlegen«. Das Gespräch in Kallners Sinn besteht in der durchaus unleugbaren Tatsache, daß es zwischen Juden und Deut­ schen Beziehungen und Auseinandersetzungen gegeben hat. Daß historische Beziehungen leidenschaftlicher und vehementer Art zwischen den Deutschen und den Juden, wenn auch von beiden Seiten in gänzlich verschiedener 12

Weise, bestanden haben, wird natürlich niemandem zu be­ streiten einfallen, und wer meinen Brief an Herrn Schlös­ ser nachliest, wird sofort finden, daß ich zwischen einem Gespräch und Auseinandersetzungen dieser allgemeinen Art klar und deutlich geschieden habe. Die Einführung erhabener und feierlich klingender Termini wie »Ge­ spräch«, um gänzlich triviale Sachverhalte zu bezeichnen wie den der historisch gegebenen Beziehungen und Aus­ einandersetzungen zwischen zwei Gruppen, bringt wenig Segen mit sich. Ich habe das Wort in jenem erhöhten und auch vom Adressaten meines Briefes benutzten, leidlich präzisen Sinn verwendet, wie ihn die Philosophen des »Dialogs« für bestimmte geistige Auseinandersetzungen eingeführt haben. Es war gerade die pathetische Note, das existentielle, und daher in einem gewissen Sinn als »un­ zerstörbar« in Anspruch genommene Moment in diesem Dialog, das mich zu so leidenschaftlichem Protest veran­ laßte. Mir dadurch zu widersprechen, daß man von et­ was ganz anderem redet, ist ebenso leicht wie für eine Diskussion unfruchtbar. Wir reden aneinander vorbei. Mit einem Satz wie: »Geführt wurde das Gespräch vom deutschen Volk in seiner Gesamtheit und von dem jü­ dischen Sektor innerhalb des deutschen Reichsgebiets, ebenfalls in seiner Gesamtheit«, kann ich keinerlei Sinn verbinden. Und so geht es dann mit den ganzen aus sol­ cher »Definition« des Gesprächs fließenden Folgerungen, die ihren Gipfel wohl in der Behauptung erreichen, daß das historische Faktum der rechtlichen Emanzipation der Juden und der Gleichberechtigung de facto ein »schlüssi­ ger Beweis dafür« sei, »daß das Gespräch tatsächlich statt­ gefunden hat, und daß die Leugnung dieses Gesprächs eine Verkennung ist«. Da man wohl voraussetzen darf, daß mir diese Fakten bei der Abfassung meines Briefes be­ kannt und meinem Bewußtsein gegenwärtig waren, schei-

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nen mir diese und viele entsprechende andere faktische Belehrungen in Kallners Widerspruch gegenstandslos. Der springende Punkt meines Briefes an Herrn Schlösser war, daß die Deutschen, wo sie sich überhaupt auf ein Ge­ spräch (in einem nicht verwaschenen Sinne) mit den Ju­ den eingelassen haben, dies unter der Voraussetzung ta­ ten, daß die Juden bereit seien, sich in immer fortschrei­ tendem Maße als Juden aufzugeben. Es gehört zu den wichtigsten Phänomenen in den Beziehungen zwischen Ju­ den und Deutschen, daß die Juden selbst zu einem erheb­ lichen Teil dazu bereit waren, und daß dennoch sogar diese Bereitschaft, von der wir alle, die noch in Deutsch­ land aufgewachsen sind, in unserer Jugend die überwäl­ tigendsten und erschütterndsten Beweise erhalten haben, nicht zu einem wirklichen Gespräch zwischen den Part­ nern geführt hat. Daß es dabei unendlich viele Varianten und Schattierungen gab, und daß eine wirklich vollstän­ dige Analyse und Beschreibung dieser Verhältnisse, unter denen die Juden ihr, ach so hilfloses Gespräch mit den Deutschen versucht haben, die Bewältigung einer ganz großen Aufgabe darstellen könnte, die im Ernst noch nie­ mals unternommen worden ist, weil die Maßstäbe dafür fehlten - das soll dabei keineswegs in Abrede gestellt werden. Kallner spricht auch von der Situation, wie sie jetzt, nach der Katastrophe und der Entstehung des Staates Israel sich für die Fortsetzung solcher Beziehungen zwischen Deut­ schen und Juden oder für die Wiederaufnahme solcher Beziehungen, die er Gespräch nennt, darstellt. Ich gehöre nicht zu denen, die der Wiederaufnahme solcher Bezie­ hungen ablehnend gegenüberstehen. Um solche Wiederauf­ nahme in einem ernsten Sinne fruchtbar zu machen, be­ darf es aber nicht nur einer Erkenntnis dessen, was ist, sondern auch dessen, was war. Um dazu zu gelangen, be­ 14

darf es einer beträchtlichen »Anstrengung des Begriffs«. Es ist in dieser Generation, angesichts der Toten und Er­ mordeten, sehr schwer, zu einer Ebene vorzudringen, auf der nicht nur Kritik am Verhalten der Deutschen, son­ dern auch an dem der Juden möglich und formulier­ bar wäre. Um diese im wahrsten Sinne des Wortes hi­ storische Kritik werden wir, wenn anders die Atmosphäre zwischen den Deutschen und uns bereinigt werden soll, nicht herumkommen, und ich mache mir keine Illusionen über die Schwierigkeiten solchen Unternehmens und über die Emotionen, die dabei im Spiele sind. Es ist in den letz­ ten Jahren eine Tendenz sichtbar geworden, die von vie­ len Deutschen nur allzu begeistert aufgegriffen worden ist, wonach die Machtergreifung der Nazis in einem höheren Sinne eine Art historischer Betriebsunfall gewesen sei, ohne den sich eigentlich alles zwischen Deutschen und Ju­ den auf leidlich gutem Wege befunden hätte, eine Mei­ nung, deren Echo auch noch in dem Brief von Herrn Schlösser zu finden ist. Dem entspricht eine unendliche und kritiklose nachträgliche Begeisterung für die Epoche der jüdischen Assimilation in Deutschland, deren Doku­ mente einem oft genug die Rede verschlagen. Ich weiß nicht, ob es noch einmal zu einem produktiven Gespräch zwischen Deutschen und Juden kommen wird, über ganz oder halb ehrlich gemeinte »Beziehungen« und Bemühungen hinaus. Ich würde darin ein bedeutendes Ereignis sehen, einen wichtigen Neubeginn. Das setzt aber, wenn es nicht von vornherein den Keim der Zerstörung in sich tragen soll, von beiden Seiten den Willen zur vol­ len Wahrheit über das Gewesene und damit auch den Wil­ len zur furchtlosen Kritik an gangbaren Mythen über diese Vergangenheit voraus. Kallners Warnung, solchen Neu­ beginn nicht durch Aussprechen dessen, was ist und was war, zu gefährden, scheint mir fehl am Platz. Wenn das iS

»Gespräch« nur so möglich ist, wird es auch weiter nicht zustande kommen.

II

Mit dem Vorgehenden habe ich, wie ich hoffen möchte, auch klargemacht, was mich von Herrn Schlösser, an den mein Brief gerichtet war, über alles Verbindende hinaus, das er hervorhebt, trennt. Ich möchte, bevor ich einige Be­ merkungen zu seinem Brief an mich zufüge, ein Mißver­ ständnis beseitigen. Im Gegensatz zu Herrn Kallner sind Herr Schlösser und ich uns über den Sinn der Rede von einem deutsch-jüdischen Gespräch einig. Nur habe idi nicht bestritten, was ja töricht wäre, daß in den letzten anderthalb Jahrhunderten zwischen einzelnen Partnern, wie Schlösser selbst einschränkend schreibt, solche Ge­ spräche Aug in Aug, oder Brief zu Brief, mehr oder we­ niger leidenschaftlich stattgefunden haben. Mir sind einige denkwürdige Beispiele solchen Gespräches bekannt. Was ich bestritt und bestreite, war das Vorhandensein eines solchen Gesprächs »als historisches Phänomen«, das heißt doch eben nicht mehr auf einer rein persönlichen Ebene, nicht mehr als ein vereinzeltes biographisches Fak­ tum, sondern als eine Erscheinung von übergreifender Be­ deutung, die für das Ganze der deutsch-jüdischen Aus­ einandersetzungen, über deren Charakter ich mich in meinem Brief an ihn erklärt hatte, eine legitime Losung abgeben könpte. Und mehr als das: ich habe keinen Zwei­ fel daran gelassen, gleich zu Beginn meines Briefes, daß für das Nichtzustandekommen dieses Gesprächs als eines historischen Phänomens, meiner Überzeugung nach, zu einem wichtigen Teil die Liquidation der jüdischen Sub­ stanz durch die Juden selber verantwortlich zu machen ist. Diese Liquidation hat gewiß tiefe und weitreichende 16

Gründe, die nur zum Teil bisher zur Sprache gebracht worden sind, aber der dialektische Zusammenhang zwi­ schen dieser Liquidation und dem Schicksal der Juden in Deutschland im Guten und Bösen scheint mir evident. Es ist gerade diese Bereitschaft zur Selbstaufgabe, die das Irreale und Gespenstische an diesem Gespräche weit­ gehend mitbedingt. Es sind gar keine Juden mehr, im vol­ len Sinn eines ungebrochenen historischen Bewußtseins, die da sprechen, sondern Juden auf der Flucht vor sich selbst. Es ist das Gefühl der Panik, das diese Fliehenden, und oft gerade die bedeutendsten Figuren unter ihnen, bei ihren Partnern hervorrufen, welches die aus gutem Wil­ len, humanen Überlegungen und aus liberaler Gesinnung kommenden Äußerungen von deutscher Seite mit so zer­ störerischer Dialektik durchsetzt. Mit der Idealisierung der beiden Partner werden wir der Sache, um die es hier geht, am wenigsten dienen. Ich bin Jude und habe ein sehr genaues Ohr für jene, Herrn Schlösser in meiner Formulierung so anstößige »gottverlassene Würdelosig­ keit« in so vielen jüdischen Äußerungen, die Schlösser, mir gänzlich unbegreiflich, als durch die Emanzipationsgesetz­ gebung widerlegt findet. Natürlich konnte und sollte mein Protest gegen Herrn Schlössers Formulierung von dem »im Kern unzerstör­ baren deutsch-jüdischen Gespräch« nicht an die Stelle eines noch ausstehenden Werkes treten, das die Verhältnisse nicht nur historisch-faktisch, sondern auch geschichts­ philosophisch zu durchleuchten hätte. Ich stimme Herrn Schlösser durchaus darin bei, daß dies eine der wichtig­ sten Aufgaben künftiger Forschung sein muß. Ich wende mich nicht gegen die Errichtung eines zukunftweisenden Symbols, wenn ein solches eine echte Realität ausdrükken würde. Ich wende mich gegen die Errichtung falsch­ beschrifteter Wegweiser. Herr Schlösser meint, unzählige

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Beweise dafür zu haben, daß die Aufrechterhaltung einer Illusion schließlich zur Wirklichkeit führte, und unter dieser Devise spendet er den deutschen Juden, die von ihrer Illusion nicht ließen, hohes Lob. Nun, eine ironi­ schere Formulierung ließe sich in diesem Zusammenhang wohl schwerlich denken, und ich muß mir versagen, das Unironische und grauenhaft Falsche dieses Satzes, auf das hier zur Erörterung stehende Beispiel der deutschen Ju­ den angewandt, abzuhandeln. Der Faszination Herrn Schlössers durch die Errungenschaften und Leistungen der jüdischen Assimilation in Deutschland, deren Proble­ matik es ja gerade ist, die uns Juden so erschüttert, ent­ spricht es denn auch, daß er meint, der Zionismus habe bei all seinen Leistungen für die Juden doch auch dem Antisemitismus Material zur Entfaltung gegeben. Welche grandiose Verkehrung der Tatsachen! Man könnte wirk­ lich denken, der Antisemitismus habe Material nötig ge­ habt, um sich zu entfalten, und ausgerechnet der utopische Rückzug der Juden aus dem deutschen Geschichtszusam­ menhang nach Zion habe es ihm geliefert. Hier führt die idyllische Betrachtung der deutsch-jüdischen Verhältnisse sich selber ad absurdum. Ich habe Herrn Schlössers These nicht verstanden, wo­ nach seit der Berufung Spinozas an die Universität Hei­ delberg bis zur Ernennung Rathenaus als Außenminister immer wieder Versuche einer echten Integrierung, die nach ihm noch »viel mehr« sei als Emanzipation und Assimilation, unternommen worden seien. Ist das nicht reine Phantasie? Die Hoffnungen, die Herr Schlösser am Ende seines Brie­ fes ausspricht, in allen Ehren - aber sie haben mit dem, was zwischen uns so strittig ist, nichts zu tun, es sei denn, wir machen uns klar, daß in diesem Fall zukunftsträchtige Hoffnungen auf der Erkenntnis des Vergangenen allein 18

sich erheben können. Ohne solche Erkenntnis, welche zu­ gleich Eingedenken und Erinnerung ist, wird diese Hoff­ nung keine Schwingen haben.

Juden und Deutsche i

Über Juden und Deutsche und ihr Verhältnis in diesen letzten 200 Jahren zu sprechen, ist im Jahre 1966 ein me­ lancholisches Unterfangen. Noch immer ist die Belastung des Gefühls so groß, daß eine der Sache selbst zuge­ kehrte Betrachtung oder Analyse fast unmöglich scheint, und zu stark sind wir alle von dem Erlebnis dieser Gene­ ration geformt, als daß Unbefangenheit erwartet werden könnte. Es gibt heute viele Juden, die das deutsche Volk als einen »hoffnungslosen Fall« ansehen, und noch im besten Fall für ein Volk, mit dem sie nach dem Gesche­ henen im Guten und Bösen nichts mehr zu schaffen haben wollen. Ich rechne mich nicht zu ihnen, denn ich glaube nicht, daß es so etwas wie einen permanenten Kriegs­ zustand unter Völkern geben sollte. Ich halte es für rich­ tig, und mehr noch, für wichtig, daß auch Juden, gerade als Juden zu den Deutschen sprechen, im vollen Bewußt­ sein des Geschehenen und ohne Grenzverwischung. Vielen von uns hat die deutsche Sprache, ihre Muttersprache, un­ verlierbare Erlebnisse geschenkt und die Landschaft ihre Jugend bestimmt und ihr Ausdruck gegeben. Jetzt, wo es etwas wie einen Anruf von dort her, aus den Bereichen der Geschichte und von einer heraufziehenden neuen Ju­ gend her gibt, und gerade weil dieser Anruf unsicher und unschlüssig, ja verlegen ist, wohnt ihm etwas inne, dem manche von uns sich nicht entziehen wollen. Freilich, die Schwierigkeiten der Verallgemeinerung, wenn wir >die Deutschen« und >die Juden« sagen, schrecken den Betrachter ab. In Zeiten des Konfliktes sind solche Spezies dann leicht zu handhaben. So fragwürdig solche allgemei­ nen Kategorien sind, es hat das ihren stimmkräftigen Ge-

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brauch niemals gehindert. Viele Differenzierungen wären hier am Platz. Denn die Deutschen sind nicht alle Deut­ schen und die Juden nicht alle Juden - mit der einen un­ ausdenkbaren Ausnahme freilich: denn als diejenigen Deutschen, die wirklich, wenn sie die Juden apostrophier­ ten, alle Juden meinten, die Macht in den Händen hatten, haben sie sie benutzt, um, soweit es an ihnen lag, alle Juden zu ermorden. Seitdem fällt denen, die den Mord überlebt haben oder aus den Zufällen der Geschichte her­ aus ihm nicht ausgeliefert worden sind, es selber etwas schwer, zu differenzieren. Die Fallen, die jede Verallge­ meinerung, und gar schon in einer kurzen Rede, gefährlich machen, sind klar: Willkür, Widerspruchsfülle und Zusammenhanglosigkeit; zu vielfältig und individuell lie­ gen diese Verhältnisse, als daß nicht jeder allgemeinen Aussage sich eine leidlich ebensogut zu verteidigende ent­ gegensetzen ließe. Und doch will ich im vollen Bewußt­ sein solcher Hemmungen versuchen, klarzumachen, was mich bei diesem Thema bewegt - gewiß einem der erre­ gendsten Themen der jüdischen Welt seit mehr als 150 Jahren. Alfred Döblin, ein jüdischer Schriftsteller, der auf seine alten Tage katholisch geworden war, schrieb 1948 einem anderen Juden, er solle darauf achten, wenn er für Deut­ sche schreibe, das Wort »Jude« am besten nicht zu benut­ zen, denn es sei in Deutschland ein Schimpfwort geblieben, mit dessen Anwendung man nur den Antisemiten wohltue. Denn der Antisemitismus sitze den Deutschen tief und sei - im Jahre 1948 - bösartiger als vor 1933. In der Tat habe ich selber die Erfahrung gemacht, daß viele Deutsche, die sich von den Nazis (manchmal etwas nach­ träglich) distanzieren möchten, noch 1966 diese Bemer­ kung von Döblin durch ihre offenkundige Scheu, Juden, die nicht unbedingt darauf bestehen, als Juden zu apo­

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strophieren, einigermaßen rechtfertigen. Nachdem sie als Juden ermordet worden sind, werden sie nun in einem posthumen Triumph zu Deutschen ernannt, deren Juden­ tum zu betonen ein Zugeständnis an die antisemitischen Theorien wäre. Welche Perversion im Namen eines Fort­ schritts, der den Verhältnissen ins Auge zu schauen nach Möglichkeit vermeidet! Aber gerade das betrachte ich als unsere Aufgabe, und wir können gar nicht nachdrücklich genug von den Juden als Juden sprechen, wenn wir von ihrem Schicksal unter den Deutschen reden. Die Atmo­ sphäre zwischen den Juden und den Deutschen kann nur bereinigt werden, wenn wir diesen Verhältnissen mit der rückhaltlosen Kritik auf den Grund zu gehen suchen, die hier unabdingbar ist. Und das ist schwierig. Für die Deut­ schen, weil der Massenmord an den Juden zum schwersten Alpdruck ihrer moralischen Existenz als Volk geworden ist; für die Juden, weil solche Klärung eine kritische Di­ stanz zu wichtigen Phänomenen ihrer eigenen Geschichte verlangt. Wo die Liebe, soweit sie einmal bestanden hat, im Blut erstickt worden ist, sind historische Erkenntnis und Klarheit der Begriffe die Vorbedingungen für eine, vielleicht zukunftsträchtigere, Auseinandersetzung zwi­ schen Juden und Deutschen. Solche Auseinandersetzung kann im Ernst nur jenseits der politischen und wirtschaft­ lichen Faktoren und Interessen angefaßt werden, die zwi­ schen dem Staat Israel und der deutschen Bundesrepublik zur Diskussion stehen oder gestanden haben. Mir fehlt jede Zuständigkeit auf diesem Gebiet, und ich werde mich in keinem Punkte auf sie beziehen. Ich bin nicht einmal sicher, daß durch solche Einbeziehung irgend etwas für die Fragestellung oder ihre Beantwortung gewonnen wäre. Wir alle haben darüber viel gehört, und nicht im­ mer ist es uns, gerade als Juden, wohl dabei, wenn ein fal­ sches Junktim geschaffen wird.

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Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, teilweise auch noch darüber hinaus, haben die Juden in Deutschland im wesentlichen dasselbe Dasein geführt wie die Juden überall. Sie waren als Nation klar erkennbar, besaßen eine unverwechselbare Identität und eine eigene Geschichte durch die Jahrtausende, wie immer sie selber oder die anderen Völker diese Geschichte beurteilt haben mögen. Sie hatten ein scharf ausgeprägtes Bewußtsein ihrer selbst und lebten unter einer Religionsverfassung, die ihr Leben und ihre Kultur auf überaus intensive Weise in allen Po­ ren ihres Daseins durchdrang. Soweit Einflüsse der deut­ schen Umwelt in die Judengasse drangen, und es hat kei­ neswegs an ihnen gefehlt, geschah das nicht im Wege einer bewußten Hinwendung und Aufnahme solcher Elemente, sondern großenteils in einem kaum bewußten Prozeß der Osmose. Dabei wurde oft genug deutsches Kulturgut einer Transformation ins Jüdische (und sprachlich ins Jiddische) unterzogen. Die bewußten Beziehungen der beiden Ge­ sellschaften waren heikler Natur, und gerade in den der Emanzipationsperiode vorangehenden zwei Jahrhunder­ ten. Die religiöse Kultur ihrer tragenden Schichten ruhte in sich selbst und blieb der deutschen Welt völlig fern. Aber die ökonomisch stärksten Elemente, wie sie damals in der Erscheinung des jüdischen Hoffaktorentums zutage traten, und die sozial am tiefsten stehenden Gruppen, die mit der deutschen Unterwelt kommunizierten, hatten mit den Deutschen auf eine, in beiden Fällen lebensge­ fährliche Weise zu tun. Sie bewegten sich auf besondere Weise unter ihnen und mußten den Preis dafür bei der geringsten Änderung der politischen oder sozialen Ver­ hältnisse zahlen. Nichts törichter, als von der Verwurze­ lung der deutschen Juden in Deutschland in diesen Jahr­

hunderten zu sprechen, in denen weder von den Juden noch von den Deutschen aus irgendeine Vorbedingung für solche Verwurzelung bestand. Jeder wußte, daß die Ju­ den im Exil waren, und wie immer man dies Exil beur­ teilte, an seiner unendlichen Bedeutung für den mensch­ lichen Stand der Juden war kein Zweifel. Die überwältigende Majorität der Juden, die zu den oben­ genannten beiden Randschichten nicht gehörte und von deren Wechselfällen relativ weniger betroffen wurde, hatte damals durchaus ihr traditionelles, von ihrer Ge­ schichte und Geistigkeit bestimmtes Gesicht, wie es sich in den langen Zeiten des Exils geprägt hatte. Zugleich ist freilich nicht zu verkennen, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine tiefe Schwäche in ihrem jüdi­ schen Wesen sichtbar wird. Es ist, als ob eine Phase ihrer historischen Existenz an einem Tiefpunkt angelangt wäre, von wo aus nicht sicher war, wohin der Weg führen würde. Als Moses Mendelssohn seine Laufbahn als eine Art konservativer Reformator im deutschen Judentum be­ gann, war diese Schwäche evident. Mit ihm und vor allem seiner Schule begann jener Prozeß der Hinwendung der Juden zu den Deutschen als ein bewußter Vorgang, der nun von gewichtigen historischen Faktoren befördert und begünstigt wurde. Es begann die Propaganda für den ent­ schlossenen Anschluß der Juden an die deutsche Kultur und nicht lange danach auch an das deutsche Volkstum. Es begann auch jener drei bis vier Generationen sich hin­ ziehende Kampf der Juden um ihre Rechte, den sie - täu­ schen wir uns darüber nicht! - gewannen, weil eine ent­ scheidende und siegreiche Schicht unter den Nichtjuden ihn für sie führte. Mit diesen Kämpfen, bei denen ihnen die deutsche Auf­ klärung und in nicht geringerem Grade die Französische Revolution zu Hilfe kamen, begann eine folgenreiche

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Wandlung im Judentum im deutschen Raum. Zuerst ist diese Wandlung zögernd und sehr unsicher, wie auch ihr Judentum oft unsicher und verlegen ist. Sie wußten noch immer um ihr jüdisches Volkstum, wenn auch oft schon nicht mehr um dessen Sinn, der ihnen verlorengegangen war oder im Begriff war verlorenzugehen. Es begann, um es deutlich zu sagen, jenes unendlich sehnsüchtige Schielen nach dem deutschen Geschichtsbereich, der den jüdischen ersetzen sollte, wie es für mehr als hundert Jahre der Be­ ziehungen zwischen Juden und Deutschen so charakteri­ stisch ist. Die Schichten im deutschen Judentum, die die­ sem Prozeß mit großen Bedenken gegenüberstanden, und das waren vor allem die ursprünglich numerisch noch sehr starken Kreise der Frommen der alten Schule, sind fast ausschließlich durch ein bedrücktes und auffallendes Schweigen vernehmbar, aus dem nur selten direkt war­ nende Stimmen, als ob sie vor ihrem eigenen Pathos zu­ rückschauerten, zu uns dringen. Bis 1820 etwa ist noch fast allgemein die Rede von der jüdischen Nation und ihren Angehörigen in Deutschland. In den nächsten zwei Generationen ändert sich dieser Sprachgebrauch vollstän­ dig und statt dessen treten - übrigens von beiden Seiten begünstigt - die Rede von der mosaischen Konfession und ähnliche Phraseologien ihre Laufbahn an. Die Wandlungen und Verrenkungen, die dieses Schielen nach den Deutschen hin schon von Anfang an mit sich brachte und die dann, in den fortschreitenden Stadien dieses Prozesses, zu so bitterer Problematik führten, wa­ ren beträchtlich. Die Emanzipation brachte die entschlos­ sene Verleugnung der jüdischen Nationalität als eines Partners in dieser Auseinandersetzung mit sich, eine Ver­ leugnung, die ebensosehr von den Deutschen gefordert wie von der Avantgarde der Juden und ihren federführenden Sprechern ebenso entschlossen zugestanden wurde. Aus

dem Schielen nach dem deutschen Geschichtsbereich wurde ein entschlossenes Hineinsteigen in denselben, und aus den Objekten aufgeklärter Duldung wurden nicht selten laut­ starke Propheten, die im Namen der Deutschen selber zu sprechen sich anschickten. Der aufmerksame Leser deut­ scher Reaktionen auf diesen Prozeß und seine Akrobatik nimmt bald den Ton des Erstaunens und der, teils freundlichen teils bösen Ironie wahr, der ihre Äußerungen durchzieht. Was vielen von uns heute als der von Anbe­ ginn falsche Start in den Beziehungen der Juden und der Deutschen erscheint, was aber in den Verhältnissen von 1800 eine immanente Logik hatte, war mit diesem Ver­ zicht auf die Totalität einer jüdischen Existenz in Deutsch­ land gegeben. Als die westlichen Nationen Israel emanzi­ pierten, haben sie es nicht - um mit Buber (1932) zu sprechen - »als Israel aufgenommen, sondern als eine Viel­ heit jüdischer Individuen«. Die entschlossensten Kämpfer für die Sache der Juden unter den Nichtjuden waren gera­ de die, die am bewußtesten und artikuliertesten mit dem Verschwinden der Juden als Juden rechneten, ja, dieses Verschwinden der jüdischen Volksgruppe als Gruppe für eine Vorbedingung ihres Eintretens für die Sache der Ju­ den hielten, wie etwa Wilhelm von Humboldt. Die Libe­ ralen erhofften eine entschlossene fortschreitende Selbst­ auflösung der Juden. Das Geschichtsbewußtsein der Konservativen machte sie diesen neuen Tönen gegenüber reserviert. Sie beginnen, den Juden die allzugroße Leichtig­ keit anzukreiden, mit der sie auf ihr eigenes Bewußtsein verzichten. Die Selbstaufgabe der Juden wird ebensosehr begrüßt, ja gefordert, wie zugleich häufig genug als Ar­ gument für ihre Substanzlosigkeit angeführt. Wir ha­ ben deutliche Zeugnisse dafür, daß zu der Mißachtung, mit der so viele Deutsche auf die Juden blidkten, auch die Leichtigkeit beigetragen hat, mit der deren kulturelle

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Oberschicht ihre eigene Tradition verleugnete. Was konnte schon ein Erbe wert sein, dessen berufene Träger sich in ihrer Elite beeilten, es zu verleugnen? So kam es hier zu einer unheimlichen und gefährlichen Dialektik. Breite Kreise der deutschen Elite verlangten von den Juden, ihr Erbe aufzugeben, und setzten geradezu eine Prämie auf den Abfall, zugleich aber verachteten viele die Juden für ebendiese allzu willige Breitschaft. Die Sozialisten, deren totaler Unernst und ebenso totale Unwissenheit in der Diskussion der Judenfrage durch die schmachvolle und groteske Invektive >Zur Judenfrage< von Karl Marx illu­ striert wird, standen der Frage dieser Wendung vollends hilflos gegenüber und konnten nur auf die Auflösung des jüdischen Volkes und seines historischen Bewußtseins drän­ gen, die im Aufstand und Sieg der Revolution sich vollen­ den würde. Sie konnten überhaupt keinerlei Sinn darin finden, die Juden als aktive Partner irgendeiner Ausein­ andersetzung anzusehen. Für sie waren die Juden, wie die Losung ging, nur »öl auf den Rädern der Revolution«. Ich sprach von einer gefährlichen Dialektik in diesem Prozeß. Die Juden führten den Kampf um ihre Emanzi­ pation - und das ist die Tragödie dieses Kampfes, die uns heute so bewegt - nicht im Namen ihrer Rechte als Volk, sondern im Namen ihrer Assimilation an die Völker, un­ ter denen sie wohnten. Sie haben damit, indem sie ihr Volkstum aufzugeben bereit waren oder es verleugneten, nicht etwa ihr Elend beendet, sondern nur eine neue Quelle ihrer Leiden eröffnet. Denn die Assimilation hat die Judenfrage in Deutschland nicht etwa beseitigt, wie ihre Verfechter erhofften, sondern von einer neuen Posi­ tion aus eher akuter gemacht. Je größer die Berührungs­ flächen zwischen diesen beiden Gruppen wurden, desto mehr nahmen auch die Reibungsmöglichkeiten zu. Das Abenteuer der Assimilation, in das sie sich so leidenschaft27

lieh (und wie verständlich!) stürzten, mußte auch die Ge­ fahren vermehren, die aus der wachsenden Spannung ent­ standen. Dazu kam, daß an den Juden, die dieser neuen Begegnung mit den Deutschen ausgesetzt waren, um mich eines Ausdruckes von Arnold Zweig zu bedienen, etwas »zerrüttet« war. Und zwar im doppelten Sinn: sowohl von ihrer Existenz unter ihnen aufgezwungenen unwür­ digen Bedingungen und deren Folgen im Persönlichen und Sozialen als auch von ihrer eigenen tiefen Unsicherheit her, die an ihnen von dem Moment an sichtbar wurde, wo sie das Getto verließen, um, wie die Losung hieß, Deutsche zu werden. Diese doppelte Zerrüttung der deut­ schen Juden gehört zu den Faktoren, die in dem Prozeß, der sich hier anbahnte - einem Prozeß im doppelten Sinn des Wortes -, retardierende Momente darstellten, die stö­ rend und bald auch zerstörend wirkten. Die Weigerung so vieler deutscher Juden, die Wirksamkeit dieser Fak­ toren und der sich in ihnen ankündenden Dialektik wahr­ zunehmen, gehört zu den trübseligsten Erfahrungen des heutigen Lesers solcher Auseinandersetzungen. Die Ge­ fühlsverwirrung der deutschen Juden zwischen 1820 und 1920 stellt eine wichtige Instanz für die Erkenntnis ihrer Gruppe dar, jenes >DeutschjudentumsErlebnis< stürzten, etwas

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aufgerufen, was in der alten Ordnung verschüttet oder unsichtbar geworden war. Diese Dinge sind tief aneinan­ der gebunden. Hier ziemt es uns kurz innezuhalten und uns über die positiven Momente klarzuwerden, die in die­ sem Prozeß gerade für die Juden, auch weit außerhalb der Grenzen Deutschlands, so bedeutungsvoll wurden. Die Intimität, die für die Juden die Beziehung zum Deut­ schen annahm, hängt mit der spezifischen historischen Stunde zusammen, in der sie entstand. Als die Juden aus ihrem Mittelalter sich in großen Scharen der neuen Zeit der Aufklärung und Revolution zuwandten, da war für ihre entscheidenden Massen in Deutschland, ÖsterreichUngarn und den Oststaaten, also für vier Fünftel des da­ maligen Judenvolkes unter den gegebenen geographischen, politischen und sprachlichen Bedingungen die deutsche Kultur eben diejenige, der sie zuerst begegneten. Und zwar gerade - und das ist das Entscheidende - an einem ihrer fruchtbarsten Wendepunkte, nämlich auf dem Hö­ hepunkt ihrer bürgerlichen Periode. Man darf sagen, daß es eine glückliche Stunde war, in der die neuerwachende Produktivität der Juden, die nach 1750 so bedeutende Formen annehmen sollte, gerade auf den Höhepunkt einer großen Produktivität des deutschen Volkes traf, die ein Bild des Deutschen hervorrief, das vor 1940 auch durch viele bittere und später auch bitterste Erfahrungen in sehr weiten Schichten nicht erschüttert worden ist. Diese Amal­ gamierung einer großen historischen Stunde, für die Juden durch die Namen Lessing und Schiller bezeichnet, hat ihrer Intensität und ihrem Umfang nach keine Parallele in den Begegnungen der Juden mit anderen europäischen Völ­ kern. Aus dieser Begegnung her, der ersten auf dem Weg nach Westen, von diesem neuen Bild her fiel ein großer Schein auf alles Deutsche. Noch heute, nach so viel Blut und Tränen, können wir nicht sagen, daß es nur ein trü­ 29

gerischer war. Er war auch mehr. Er enthielt Elemente von großer Fruchtbarkeit, Ansätze zu bedeutenden Ent­ wicklungen. Die Bedeutung, die Friedrich Schiller für die Beziehung der Juden zu Deutschland gehabt hat, ist schwer zu er­ messen und von den Deutschen selber selten gewürdigt worden. Schiller, der Sprecher des reinen Menschentums, der Pathetiker der höchsten Ideale der Menschheit, hat für Generationen von Juden in und fast noch mehr außerhalb von Deutschland das repräsentiert, was sie als deutsch empfanden oder empfinden wollten, selbst dann noch, als diese Sprache in Deutschland selbst, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, schon hohl klang. Die Be­ gegnung mit Friedrich Schiller war für viele Juden rea­ ler als die mit den empirischen Deutschen. Hier fanden sie, was sie am glühendsten suchten. Die deutsche Roman­ tik hat vielen Juden etwas bedeutet, Schiller allen. Er war ein Faktor im Glauben der Juden an die Menschheit. Schiller war der sichtbarste, eindrucksvollste und tönendste Anlaß zu den idealistischen Selbsttäuschungen, zu de­ nen die Beziehung der Juden zu den Deutschen geführt hat. Hier war das Programm, das dem neuen Juden, der seine Selbstsicherheit als Jude verloren hatte, alles zu ver­ heißen schien, was er suchte, und so fand er keine falschen Töne darin, weil das die Musik war, die ihn in der Tiefe ansprach. Auf Schiller, der zu den Juden niemals unver­ mittelt sprach, haben die Juden in der Tat geantwortet, und in dem Scheitern dieses Dialoges ist vielleicht eines der Geheimnisse des Scheiterns dieser Beziehung über­ haupt enthalten. Denn Schiller, an den sich ihre Liebe so leidenschaftlich geheftet hat, war ja kein Beliebiger, er war wirklich der Nationaldichter der Deutschen und wurde in der Zeit von 1800 bis 1900 als solcher von den Deutschen empfunden, so daß die Juden hier nicht, wie

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das oft genug vorgekommen ist, sich an eine falsche Adresse gewandt haben. Die unendliche Leidenschaft, die russische Juden, die den Weg zum Menschlichen in ihrem eigenen Volke suchten, veranlaßte, den Namen Schiller anzunehmen - einer der edelsten Figuren der zionistischen Bewegung, Salomo Schiller, ist dafür ein großes Exempel hat hier wirklich eine Brücke zu den Deutschen hin gebaut. Aber dieser Brückenschlag ist unglückseligerweise von den Juden aus allein erfolgt. Die Begeisterung der Juden für Schiller ist den späteren Deutschen nur noch komisch oder rührend erschienen. Selten nur regte sich (nicht ganz abwesend) in dem einen oder anderen ein Gefühl dafür, daß hier wirk­ lich einmal gemeinsamer Boden für vieles hätte gegeben sein können. 3

Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Periode der entschiedensten Annäherung. Die Juden fanden da­ mals auch auf deutscher Seite erstaunlich viel Hilfe und zahlreiche einzelne unter ihnen Entgegenkommen in ihrem stürmischen Bildungsstreben. Man kann keineswegs sagen, daß es damals an gutem Willen gefehlt hat, und wer Bio­ graphien der jüdischen Elite dieser Zeit liest, trifft immer wieder auf solches Verständnis auch in sehr christlich-be­ tonten Kreisen (wie den Herrnhutern). Bei diesem Bil­ dungsstreben aber blieb es nicht, der inneren Dynamik dieses Prozesses nach. Wir finden hier den radikalen Übergang der Juden aus dem alttraditionellen Lebens­ kreis, der bei ihrer Majorität noch überwog, zu einem Germanismus, dem »die deutschnationale Bildung der Ju­ den und ihre Teilnahme an den allgemeinen menschlichen und bürgerlichen Interessen als die wesentlichste Aufgabe 31

erschien, der ein jeder sich widmen müsse, welcher etwas von sich erwartet«, wie es der Herbartianer Moritz La­ zarus, ein ganz reiner Vertreter dieser Tendenz, formu­ liert hat, der den Übergang vom reinen talmudischen Ju­ dentum zu dieser neuen deutsch-jüdischen Lebensform in fünf Jahren vollbracht hat! Das unendliche Verlangen, nach Hause zu kommen, verwandelte sich bald in die ek­ statische Illusion, zu Hause zu sein. Daß der noch heute den Betrachter bestürzenden Schnelle dieser Verwand­ lung, der Eile dieses Aufbruchs der Juden keine ebenso schnelle Reaktion der Deutschen gegenüberstand, ist eben­ so bekannt wie begreiflich. Sie wußten nicht, mit wie tie­ fen Prozessen des Verfalls der jüdischen Tradition und des Selbstbewußtseins der Juden sie zu tun hatten, und schra­ ken vor diesem Prozeß sichtbar zurück. Sosehr sie das schließliche Resultat dieses Vorgangs begrüßt hätten, das mindestens der liberalen, und weitgehend sogar der kon­ servativen Ideologie entsprach, sowenig waren sie auf dieses Tempo vorbereitet, das ihnen überhitzt erschien, dessen Aggressivität sie in Abwehrstellung versetzte. Und diese wiederum verband sich früher oder später mit den Strömungen, die von vornherein diesen ganzen Prozeß mit Abneigung aufnahmen und denen es an beredten Spre­ chern seit der nachmendelssohnschen Generation nie ge­ fehlt hat. Die Rede vom > Wirtsvolk«, bei dem wir zu Gaste waren, hatte guten Sinn. Auch im besten Fall war es eine Auf­ nahme des Gastes in die Familie - auf Widerruf, wenn wir etwa den Bedingungen nicht entsprachen. Das wird oft gerade bei den Liberalen besonders deutlich. Die heut­ zutage manchmal gehörte Rede vom Verschmelzungspro­ zeß der beiden Gruppen, der angeblich ohne das Ein­ greifen des Nationalsozialismus zwischen der großen Mehrheit der deutschen Juden und den »andersgläubigen

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Bürgern« - das ist von einem Juden in Deutschland 1965 gedruckt worden! - auf dem besten Wege gewesen wäre, ist ein zurückprojizierter Wunschtraum. Gewiß, die völli­ ge Hingabe so vieler Menschen ans deutsche Volk, die sich in ihren (zahlreich vorhandenen) Autobiographien als »von jüdischer Abstammung« bezeichneten, weil sie sonst in­ nerlich nichts mehr mit der jüdischen Tradition, ge­ schweige denn mit dem jüdischen Volk verband, gehört zu den erschütterndsten Phänomenen dieses Entfrem­ dungsprozesses. Unendlich lang ist die Liste der Verluste der Juden an die Deutschen, eine Liste großer und oft erstaunlicher Begabungen und Leistungen, die den Deut­ schen dargebracht wurden. Wer kann ohne Ergriffenheit ihre Geschichte lesen, wie die jenes Otto Lippmann aus Hamburg, die bis in den Freitod hinein ihren Anspruch aufrechterhielten, bessere Deutsche zu sein als die, die sie in den Tod trieben, und es ist kein Wunder, daß jetzt, wo alles vorbei ist, viele diesen Anspruch als berechtigt an­ erkennen wollen. Diese Menschen haben gewählt, und wir sollten sie den Deutschen nicht streitig machen. Und den­ noch wird uns oft dabei nicht wohl, denn unser Gefühl weist auf den inneren Zwiespalt auch dieser Lebensläufe hin. Noch in der völligen Entfremdung von allem jü­ dischen« in ihrem Bewußtsein wird in vielen von ihnen etwas sichtbar, was von Juden und Deutschen gleicher­ weise - nur von den Betreffenden selber nicht! - als jü­ dische Substanz empfunden wurde, wie das für so viele bedeutende Köpfe von Karl Marx und Lassalle bis Karl Kraus, Gustav Mahler und Georg Simmel gilt. Niemand hat diesen Prozeß des Aufbruchs der Juden von sich selbst hinweg tiefer bezeichnet als Charles Péguy, der eine unter Nichtjuden selten erreichte oder gar über­ troffene Einsicht in die jüdische Situation hatte. Von ihm stammt der Satz: »Être ailleurs, le grand vice de cette

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race, la grande verrue secrète, la grande vocation de ce peuple.« Dieses »Woanderssein« war es, das sich mit dem verzweifelten Wunsch, zu Hause zu sein, so intensiv, fruchtbar und zerstörerisch zugleich verband. Es ist das Stichwort für das Verhältnis der Juden zu den Deut­ schen. Es ist zugleich das, was für den heutigen Betrach­ ter ihre symbolische Stellung so anziehend, ergreifend und in einem bedeutenden Sinn positiv macht, wie es das ist, was sie damals beunruhigend, unter falschen Masken agie­ rend und den Widerspruch herausfordernd erscheinen ließ. Den Juden in Deutschland kam nicht zugute, was heute, unter sehr veränderten Verhältnissen, in einem wichtigen Teil der Gesellschaft ihnen gerade positive Be­ deutung gibt und Berücksichtigung zuteil werden läßt: ich meine ihre Würdigung als klassische Repräsentanten des Phänomens der Entfremdung des Menschen in der Ge­ sellschaft. Die Entfremdung des Juden von seinem eige­ nen Nährboden, seiner Geschichte und Tradition, und noch mehr seine Entfremdung in der sich bildenden bür­ gerlichen Gesellschaft wurde ihm verübelt. Daß er nicht recht zu Hause war, wie sehr er auch seinen Anspruch darauf nachdrücklich anmeldete, also was jetzt manchmal als ein Gleichnis der condition humaine« ihm zum Ruh­ mestitel angerechnet wird, das bildete in der Geschichte dieser Beziehungen, als Entfremdung noch ein Schimpf­ wort war, eine Anklage. Und es entspricht diesem ver­ trackten Zustand, daß die Juden selber in ihrer großen Mehrheit diese Wertung ihrer Umgebung teilten, gerade in ihrem bewußten Stande, und eine Verwurzelung, ein Zuhausesein im Deutschen anstrebten oder behaupteten, das ihnen die größte Mehrheit ihrer Umgebung nicht recht glaubte. (Der laute Hohn, den die Erscheinung der soge­ nannten nationaldeutschen Juden in den 1920er Jahren auf beiden Seiten weckte, ist sehr charakteristisch!) 34

So war denn von vornherein in diesen Verhältnissen ein Zündstoff angehäuft, der gefährlich genug war. Der Pro­ zeß des Hineinwanderns der Juden in die deutsche Ge­ sellschaft hatte sehr verschiedene Aspekte. Die wichtige Tatsache, daß die Juden ihre eigene Elite weitgehend durch Taufe und Mischehe in diesen Generationen verlo­ ren haben, weil sie selber diesen Losungen in solcher Radi­ kalität gar nicht zu folgen bereit waren, weist auf folgen­ reiche Differenzierungen in diesem Vorgang selber hin. Sehr breite Schichten der deutschen Juden waren zwar bereit, ihr Volkstum zu liquidieren, wollten aber, in frei­ lich sehr verschiedenen Ausmaßen, ihr Judentum, als Erbe, als Konfession, als ein Ichweißnichtwas, ein undefi­ nierbares und doch im Bewußtsein deutlich vorhandenes Element bewahren. Sie waren, was oft vergessen wird, zu jener totalen Assimilation, welche die Mehrheit ihrer Elite mit dem Verschwinden zu bezahlen bereit war, nicht bereit. Sie waren in ihrem Gefühl unsicher und verwirrt, aber das Schauspiel ihrer eigenen Avantgarde, die ihnen davonrannte, war ihnen zuviel. Diese unaufhörlichen Aderlässe, durch die die Juden die Majorität ihrer fort­ geschrittensten Schichten an die Deutschen verloren, bilden einen wichtigen, von jüdischer Seite aus sehr melancho­ lisch stimmenden Aspekt der sogenannten deutsch-jüdi­ schen Symbiose, von der jetzt so gern und in reichlich fahrlässiger Weise gesprochen wird. So blieben die klei­ nen und kleinsten Bürger beim sozialen Aufstieg im Laufe des 19. Jahrhunderts das eigentliche Gros der Ju­ den und mußten in jeder Generation eine ganz neue Füh­ rerschicht aus sich hervorbringen. Es ist eine seltene Aus­ nahme, Nachkommen jener Familien, die nach 1800 beim »Aufbruch« ins Deutsche hin führend waren, noch im 20. Jahrhundert unter den Juden zu finden. Andererseits blieben die Schichten darunter jeweilig dem Judentum 35

fast geschlossen erhalten, freilich einem verwässerten oder eher vertrockneten, entleerten Judentum, das aus einer sonderbaren Mischung einer rationalen Vernunftreligion mit starken, nicht selten abgeleugneten und dennoch höchst wirksamen Gefühlsmomenten zusammengesetzt war. Die Stellung der Juden zu den Überläufern aus ihrer eige­ nen Mitte war dabei sehr schwankend, wie das etwa in ihrer Haltung zu der Erscheinung Heinrich Heines sehr deutlich wird. Sie geht von tiefer gefühlsmäßiger Ableh­ nung bis zur halb billigenden Gleichgültigkeit. Heine freilich war ein Grenzfall. Er konnte von sich sagen, daß er zum Judentum nicht zurückgekehrt sei, da er es nie ver­ lassen habe. Dabei dürfen auch die inneren Spannungen in der jüdi­ schen Gesellschaft selber nicht unberücksichtigt bleiben, die das Verhältnis zur deutschen Umwelt nicht wenig be­ einflußten. Deutschland war ja der Schauplatz besonders erbitterter Auseinandersetzungen zwischen den Frommen der alten Schule, den Landjuden und ihren Führern einer­ seits, und den >NeologenAssimilanten< angesprochen zu werden. Diese in vielen Variationen sich manifestierende Tendenz zur As­ similation war gewiß ein bedeutender Faktor. Es ist aber nicht eindeutig zu sagen, wie weit jeweils die Fürsprecher dieser Tendenz zu gehen bereit waren, und nicht alles läßt sich hier über einen Kamm scheren. Jedenfalls war hier von jüdischer Seite selber eine starke Note der Kritik an Juden und an dem alten Judentum vorhanden, und es ist

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bekannt, wie oft sich das bei einzelnen bis zu jenen ex­ tremen Formen steigerte, die wir als jüdischen Antisemi­ tismus kennengelernt haben. Verdankt man doch einem deutschen Juden, der das Judentum verlassen hatte, ob­ wohl er, wie er schrieb, natürlich wußte, daß man das nicht kann, die (wie ein Kritiker es genannt hat) »erbar­ mungslosesten Nachtaufnahmen« der Berliner jüdischen Bourgeoisie, die überhaupt existieren und die als ein un­ heimliches Dokument der jüdisch-deutschen Realität blei­ ben werden — ich meine die von Kurt Tucholsky verfaß­ ten Monologe des Herrn Wendriner. Die Antisemiten haben sich bemüht, die Juden so schlechtzumachen, wie sie konnten, aber ihre Sachen lesen sich merkwürdig über­ spannt und hohl. Der Haß ist da, aber keine Sachkennt­ nis und kein Gefühl für die Atmosphäre. So kommt es kaum verwunderlich -, daß es einem der begabtesten und widerwärtigsten jüdischen Autoren Vorbehalten blieb, auf einem hohen Niveau das zu leisten, was die Antisemiten selber nicht fertigbrachten. Oft finden wir in derselben Familie Repräsentanten ex­ tremer Möglichkeiten. Das gilt etwa für die Brüder Jakob und Michael Bernays (deren Nichte die Frau von Sig­ mund Freud wurde). Der eine, ein klassischer Philologe höchsten Ranges, blieb der strengsten jüdischen Ortho­ doxie, bis ins Neurotische hin, treu; der andere verließ das Judentum, um eine noch glanzvollere Karriere als Germanist und Deuter Goethes einzuschlagen. Die Brü­ der haben nie wieder ein Wort miteinander gewechselt. Das gilt auch für die Vettern Georg Herrmann aus der Familie Borchardt, der die Berliner jüdische Bourgeoisie mit ebensoviel Kritik und Ironie wie auch Liebe in un­ übertroffener Weise geschildert hat, und dessen unerhört begabten Vetter Rudolf Borchardt, der, nachdem er das Jüdische in sich vernichtet zu haben glaubte, zum beredte-

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sten Sprecher eines kulturkonservativen deutschen Tradi­ tionalismus wurde, dessen schiere Paradoxie jeden seiner Hörer oder Leser, nur nicht ihn selber erschreckte. Die Majorität war aber nicht bereit, bis ans Ende zu gehen, und viele suchten nach einem mittleren Weg. Ihre größten Begabungen sind aber nur selten der Sache der Juden zugute gekommen, wie etwa in so bedeutenden und zu­ gleich problematischen Figuren wie Leopold Zunz, dem Begründer der Wissenschaft vom Judentum, Salomon Ludwig Steinheim und Herrmann Cohen, ihren besten re­ ligionsphilosophischen Köpfen, oder etwa Abraham Gei­ ger und Samson Raphael Hirsch, den zwei bedeutendsten Gestalten und, in ihrer Stellung zur Tradition, extremen Gegenpolen des jüdischen Rabbinats in Deutschland. Das Gros ihrer fähigsten Köpfe ist aber in einem erstaunlich reichen Ausbruch von Produktivität der deutschen Gesell­ schaft zugute gekommen, in Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur und Kunst. Der große amerikanische Soziologe Thorstein Veblen hat in einem berühmten Essay über die intellektuelle »Preeminence of Jews in modern Europe« geschrieben. Es ist gerade diese >PräeminenzPräeminenz< 38

ist ihnen zum Unheil ausgeschlagen. Denn die Deutschen standen in ihrer großen Majorität diesem Anmarsch der jüdischen Intelligenz, wie überhaupt dem Phänomen des Eintritts der Juden in die deutsche Gesellschaft, mit gro­ ßer Reserve gegenüber. Sie waren, wie ich schon gesagt habe, auf das stürmische Tempo dieses Vorgangs, das ihnen unheimlich vorkam, nicht gefaßt. Der politischen Emanzipation, zu der sie in der Mitte des 19. Jahrhun­ derts schließlich endgültig bereit waren, stand keine glei­ che Bereitschaft zur rückhaltlosen Aufnahme in die kul­ turell aktive Schicht gegenüber. Und die Juden, mit ihrer langen intellektuellen Tradition, fanden sich freilich für eine solche aktive Rolle, als sie nun ins deutsche Volk einzugehen suchten, wie geschaffen. Aber gerade das erregte den Widerstand, der aktiv und virulent wurde, bevor die­ ser Prozeß der Rezeption sich hätte vollenden können. Die Liebesaffäre der Juden mit den Deutschen blieb, aufs Große gesehen, einseitig, unerwidert und weckte im besten Fall etwas wie Rührung (wie z. B. bei Theodor Fontane, um nur ein sehr berühmtes, wenn auch keineswegs ein­ deutiges, Beispiel zu nennen) oder Dankbarkeit. Dank­ barkeit haben die Juden nicht selten gefunden, die Liebe, die sie gesucht haben, so gut wie nie. Es hat unter den Juden verkannte Genies gegeben, Pro­ pheten, die ungern gehört wurden, Männer von Kopf, die sich für Gerechtigkeit, und nicht weniger Männer, die sich für große Geister unter den Deutschen eingesetzt ha­ ben. Das letztere geradezu in erstaunlichem Maß, für das es keiner Dokumentation bedarf. Sind doch fast sämtliche der bedeutendsten Interpretationen Goethes von Juden verfaßt! Aber keiner unter den Deutschen hat sich je für einen Juden aus jener ebenerwähnten Gruppe engagiert. Nichts in der deutschen Literatur entspricht den unver­ geßlichen Seiten, auf denen der katholische Franzose 39

Charles Péguy das Porträt Bernard Lazares, eines jü­ dischen Anarchisten, als eines der wahren Propheten Is­ raels festgehalten hat, und das zu einer Zeit, als die fran­ zösischen Juden nichts Besseres wußten, als einen ihrer größten Männer verlegen oder bösartig, aus Ranküne oder aus Dummheit, totzuschweigen. Hier sah ein Franzose einen Juden, wie ihn die Juden selber nicht zu sehen ver­ mochten. Etwas Entsprechendes für den vielberufenen deutsch-jüdischen Dialog, der als historisches Phänomen in Wahrheit nie stattgefunden hat, steht aus. Kein Deut­ scher hat Kafka, Simmel, Freud oder Benjamin erkannt, als kein Hahn nach ihnen krähte - geschweige denn als Juden erkannt. Die verspätete Geschäftigkeit verschlägt hier nichts. Nur sehr wenige Deutsche, freilich einige ihrer edelsten Geister, haben die Unbefangenheit wirklicher Humanität gehabt, die den Juden als Juden sah und gelten ließ, wie man sie etwa bei Johann Peter Hebel findet. Hier wurde am Juden das gesehen, was er zu geben, und nicht, was er aufzugeben hatte. Aber gerade bei den Liberalen sind die Vorbehalte oft unverkennbar. Fritz Reuter, einer der cha­ rakteristischsten Köpfe der norddeutschen liberalen In­ telligenz, wußte, als er 1870 eine Rede zur Feier der Eini­ gung Deutschlands hielt, nichts Besseres zu tun, als gegen »die elenden Judenbengels wie z. B. Heinrich Heine< los­ zuziehen, die des Patriotismus ermangelt hätten. Das Ge­ fühl, daß der Liberalismus der Juden von radikalerer Natur war, daß sich in ihm subversive Tendenzen ankün­ digten, war weit verbreitet. In der Tat ist der Anteil der Juden an der Kritik öffentlicher Angelegenheiten in Deutschland in den hundert Jahren ihres publizistischen Auftretens höchst sichtbar, ganz anders als ihr, ebenfalls vorhandener, an gegenteiligen Bestrebungen, die fast nur, freilich besonders eindrücklich, von Getauften wie Fried-

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rieh Julius Stahl oder Rudolf Borchardt vertreten wur­ den. An dem Widerspruch zu dieser, in der Geschichte der Juden und ihrer gesellschaftlichen Stellung und Funktion tief begründeten Haltung rankte sich das von ihnen mit besonderer Blindheit aufgenommene Phänomen des Anti­ semitismus empor, der in dem nun immer kritischer wer­ denden Verhältnis der Juden und der Deutschen eine un­ fruchtbare und zerstörerische Bedeutung annahm. Es braucht hier nicht besonders betont zu werden, daß es spe­ zifische gesellschaftliche und politische Bedingungen wa­ ren, unter denen schließlich die radikalsten Formen des Antisemitismus zur Herrschaft in Deutschland gelangten. Aber nichts ist törichter als die Meinung, der National­ sozialismus sei sozusagen vom Himmel gefallen oder aus­ schließlich ein Produkt der Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg. Es gehört auf die Debitseite der jüdischen Er­ forschung dieser Verhältnisse, daß die sehr komfortable Theorie, wonach der Nationalsozialismus sozusagen ein historischer Betriebsunfall gewesen sei, von Juden erfun­ den worden ist — von Juden freilich, die nichts gelernt und viel vergessen haben. Daß er in allen seinen mörderi­ schen Folgen virulent werden konnte, verdankt er einer langen Vorgeschichte. Nicht wenige der Schriften gegen die Juden aus dem 19. Jahrhundert lesen sich wie ganz unverstellte Dokumente des späteren Nazitums, keine wohl unheimlicher als Bruno Bauers >Das Judentum in der Fremde« von 1869, in dem man schon alles lesen kann, und in nicht weniger radikaler Formulierung, was im «Tausendjährigen Reich« gepredigt wurde. Und das aus der Feder eines Führers der ehemaligen Hegelschen Lin­ ken. Daneben hat es an sublimen Formen des Antisemi­ tismus nie gefehlt, wie sie etwa in den zwischen Haß und Bewunderung hin- und hergeworfenen Formulierungen in Hans Blühers «Secessio Judaica« kurz nach dem Ersten 4i

Weltkrieg ihren Ausdruck gefunden haben. Hier gab die auf den Hund gekommene Metaphysik in Gestalt des fei­ nen Antisemitismus dem mörderischen das Stichwort. Und nichts bedrückt uns heute vielleicht mehr als das Schwan­ ken vieler Deutschen, auch unter ihren bedeutendsten Köpfen, angesichts der dunklen Welle. Max Brod hat von der »Distanzliebe« gesprochen, die als die ideale Beziehung zwischen Deutschen und Juden hätte herrschen sollen, einem dialektischen Begriff, wo das Be­ wußtsein der Distanz allzu grobe Intimität verhindert, zugleich aber aus dem Gefühl der Entfernung heraus den Wunsch schafft, eine Überbrückung zu vollziehen. Gewiß wäre dies für die hier in Frage stehende Periode eine Lö­ sung gewesen, hätten beide Parteien sich zu ihr verstan­ den. Aber Brod selber hat erkannt: wo Liebe ist, schwin­ det das Gefühl für Distanz - und das galt für diejuden -, und wo Distanz ist, kommt keine Liebe auf, und das galt für das Gros der Deutschen. Der Liebe der Juden zu Deutschland entsprach die betonte Distanz, mit der die Deutschen ihnen gegenübertraten. Gewiß, aus »Distanz­ liebe« heraus hätten diese Partner mehr Güte, Aufge­ schlossenheit, Verständnis füreinander aufbringen können. Aber historische Konjunktive sind immer illegitim, und wenn Distanzliebe die, wie wir jetzt wahrnehmen kön­ nen, zionistische Antwort auf die unaufhaltsam sich an­ bahnende Krise zwischen Juden und Deutschen gewesen wäre, so kam diese Losung der zionistischen Avantgarde zu spät. Die deutschen Juden, die durch ihren Sinn für Kritik bei den Deutschen ebenso berühmt wurden, wie sie ihnen dadurch auf die Nerven gingen, haben sich in die­ sen, der Katastrophe vorausgehenden Generationen durch einen erstaunlichen Mangel an Einsicht und Kritik ihrer eigenen Lage ausgezeichnet. Die erbauliche und apologe­ tische Haltung, der Mangel an kritischem Freimut ver-

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dirbt fast alles, was man von ihrer Seite über die Stellung der Juden in der deutschen Geisteswelt, in Literatur und Politik und Wirtschaft lesen kann. Die Bereitschaft vieler Juden, eine Theorie für das Opfer ihrer jüdischen Existenz zu erfinden, ist ein erschüttern­ des Phänomen, von dem es ungezählte Varianten gibt. Unübertrefflich in ihrem schieren Selbstwiderspruch und in der gläubigen Forderung nach Selbstaufgabe, die von niemandem sonst verlangt werden dürfe außer gerade von uns Juden, scheint mir die Formulierung zu sein, die Margarete Susman noch 1935 niederschreiben konnte, im vollen Bewußtsein, daß »das furchtbarste Schicksal, das Juden je traf«, eingetroffen sei: »Die Bestimmung Israels als Volk ist nicht Selbstverwirklichung, sondern Selbst­ aufgabe um eines höheren, übergeschichtlichen Zieles wil­ len.« So weit ging die Verblendung, daß uns hier, im Namen der Propheten, die in der Tat nicht wollten, daß Israel ein Volk sei wie alle anderen Völker, zugemutet wurde zu glauben, »der ursprüngliche Inhalt der jüdi­ schen Idee sei das Aufgehen dieses Volkes in den anderen Völkern«. Nicht das ist das Schreckliche, daß dieser Satz von der Geschichte so schlagend widerlegt worden ist, son­ dern daß er nie einen anderen Sinn gehabt hat als den der Perversion, in der christliche Ideen, die wir abge­ lehnt haben, solange wir atmen konnten, uns nun als an­ gebliche jüdische Forderungen unserer größten Männer entgegentraten. In solchen Losungen, wie sie von manchen Seiten immer wieder, auch heute noch, angeboten werden, liegt eine große innere Demoralisierung, ein Enthusias­ mus für das Selbstopfer, der für eine Gemeinschaft ganz im Leeren bleiben mußte und von niemand ernstgenom­ men wurde als den Antisemiten, die darin einen beson­ ders verruchten Trick der Juden, eine besonders konspi­ rative Note fanden. Denn gerade dieser Wunsch der 43

Juden, in den Deutschen aufzugehen, wurde vom Haß als zerstörerisches Manöver gegen das Leben des deutschen Volkes aufgefaßt, eine These, die die Metaphysiker des Antisemitismus zwischen 1830 und 1930 unermüdlich wiederholt haben. Die Juden sind hier, um einen dieser Philosophen zu zitieren, »die dunkle Macht der Vernei­ nung, die tötet, was sie ergreift. Wer sich ihr ergibt, ist dem Tode verfallen«. Dies also ist, auf kurze Weise zusammengefaßt, eine Ana­ lyse des von Anbeginn an falschen Starts« in den Bezie­ hungen der zwei Gruppen, der die Krisen-Elemente, die in diesem Prozeß gegeben waren, zu immer deutlicherer Entwicklung trieb. 4

Wo stehen wir nun, nach dem unsagbaren Grauen jener zwölf Jahre? Die Juden und die Deutschen haben nach dem Krieg einen sehr verschiedenen Weg genommen. Die Juden haben, in ihrem vitalsten Teil, versucht, sich eine eigene Gesellschaft im eigenen Lande aufzubauen. Nie­ mand kann sagen, ob es ihnen gelingen wird, aber jeder weiß, daß die Sache Israels für die Juden lebenswichtig ist. Die Dialektik ihres Unternehmens ist augenfällig. Sie leben auf einem Vulkan. Ihrem großen Aufschwung, der von der Erfahrung der Katastrophe, sagen wir’s rund heraus: ihrer Erfahrung mit dem deutschen Judenmord und mit der Stumpfheit und Herzensträgheit der Welt bestimmt war, ist auch eine tiefe Müdigkeit gefolgt, deren Zeichen unverkennbar sind. Aber noch immer wirkt jener Antrieb, der von ihrer ursprünglichen Einsicht in ihre wahre Lage bestimmt war. Die Deutschen haben ihre Ka­ tastrophe mit der Teilung ihres Landes bezahlt und an­ dererseits einen materiellen Aufschwung erlebt, der die 44

vergangenen Jahre in den Schatten stellte. Ob es zwischen den zwei Bergen, die aus dem vulkanischen Ausbruch her­ vorgekommen sind, wohl eine, wie immer schwankende, Brücke geben kann? Der Abgrund, den die Ereignisse zwischen ihnen aufgeris­ sen haben, kann nicht ergründet und ausgemessen werden. Ich glaube nicht, daß nur die völlige Aufnahme dieses Abgrunds in unser Bewußtsein nach allen seinen Dimen­ sionen und in allen seinen Bedeutungen es möglich ma­ chen wird, ihn zu überwinden - eine Meinung, die man in Israel oft hört. Es wäre eine trostlose Prognose, die frei­ lich nur in Worten besteht. Denn in Wahrheit gibt es diese Möglichkeit gar nicht, das Geschehene, dessen Unfaßbar­ keit ja gerade sein Spezifikum ist, zu erfassen, voll zu erkennen und so durchdrungen in unser Bewußtsein auf­ zunehmen. Es ist eine Forderung, die ihrer Natur nach unerfüllbar ist. Ob wir in diesem Abgrund uns begegnen können, weiß ich nicht. Und ob der Abgrund, den unsag­ bares, unausdenkbares Geschehen aufgerissen hat, ge­ schlossen werden kann, wer möchte sich vermessen, es zu sagen? Abgründe werden vom Geschehen aufgerissen, Brücken werden vom reinen Willen gebaut. Brücken sind notwen­ dig, um über Abgründe zu führen, sie werden konstruiert, sie sind ein Erzeugnis bewußten Denkens und Wollens. Moralische Brücken, ich wiederhole es, sind Erzeugnisse eines reinen Willens. Sie müssen von beiden Seiten her fest verankert und gegründet werden, wenn sie Bestand haben sollen. Israel hat bei fast allen Völkern Europas Fürchterliches durchgemacht. Die Brücken, auf denen wir uns mit anderen Völkern treffen, sind schwankend genug, auch wenn sie nicht von der Erinnerung an Auschwitz belastet sind. Aber - ist diese Erinnerung nicht auch eine Chance? Brennt in diesem Dunkel nicht auch ein Licht, das

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Licht der Einkehr? Anders gesprochen: Fruchtbare Bezie­ hungen zwischen Juden und Deutschen, in denen eine be­ deutende und ebensosehr eine die Sprache lähmende grauenhafte Vergangenheit aufbewahrt und neu verar­ beitet werden soll, sie müssen, wenn anders sie noch ein­ mal aktuell werden können, im verborgenen vorbereitet werden. In solchem neuen Wirken liegt die einzige Ga­ rantie, daß die öffentlichen Beziehungen unserer Völker nicht von gefälschten Losungen und Forderungen vergif­ tet werden. Schon nagt der Wurm der Heuchelei an den zarten Wurzeln! Zu einem neuen Verständnis bedarf es, wo Liebe nicht mehr aufgebracht werden kann, anderer Ingredienzen: der Distanz und des Respektes, der Offen­ heit und Aufgeschlossenheit, und mehr als alles, des rei­ nen Willens. Ein junger Deutscher schrieb mir, er hoffe, die Juden mö­ gen, wenn sie an Deutschland denken, sich des Wortes Je­ sajas erinnern: »Gedenket nimmer des Frühem, dem Vor­ maligen sinnt nimmer nach.« Ob die messianische Zeit den Juden Vergessen schenken wird, weiß ich nicht. Es ist ein heikler Punkt der Theologie. Aber von uns, die illusions­ los in einer unmessianischen Zeit leben müssen, wird mit solcher Hoffnung das Unmögliche verlangt. So erhaben das sein mag, wir können es nicht liefern. Nur im Einge­ denken des Vergangenen, das niemals ganz von uns durch­ drungen werden wird, kann neue Hoffnung auf Restitu­ tion der Sprache zwischen Deutschen und Juden, auf Versöhnung der Geschiedenen keimen.

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Rede über Israel

Ich spreche hier zu Ihnen als einer, der seit fünfundvier­ zig Jahren in Israel lebt und sein Leben mit der Sache des Aufbaus und der Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seiner alt-neuen Heimat, dem Lande Israel, verbunden hat. Wir haben in dieser, ich weiß nicht, ob ich sagen soll: langen oder kurzen Zeit, mehr als genug erlebt, und jeder von uns hat Zeit gehabt, sich Rechenschaft über das zu ge­ ben, was er von diesem Land und von unserem Volk in diesem Land erwartet hat und was davon in Erfüllung gegangen ist. Es hat viele Gründe gegeben, warum in den letzten Generationen Menschen sich für die Sache des Zio­ nismus eingesetzt haben, und es kann gewiß nicht Auf­ gabe dieser wenigen Minuten sein, sie alle zu ergründen. Unendlich komplex scheint die Judenfrage und doch ir­ gendwie unendlich einfach. Wenn ich für mich selber und viele, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in ähnlicher Si­ tuation befunden haben, sprechen darf, so war das für uns, Juden aus Mitteleuropa, die sich dem Anruf des jü­ dischen Volkes und dem Aufruf zu seiner Wiedergeburt in ihrer Jugend verschrieben und mit dieser Sache ernst gemacht haben, nicht so sehr eine politische als vielmehr eine moralische Entscheidung. Wir fühlten uns verpflichtet, uns mit unserer ganzen Per­ son und den Entscheidungen unseres persönlichen Lebens für eine Sache einzusetzen, von der wir erkannt hatten, daß sie für das jüdische Volk lebensnotwendig sei. Wir konnten nicht wissen, ob dieser Sache Erfolg beschieden sein würde. Keiner von uns hat wohl Illusionen über die Schwierigkeiten und die Widerstände, die zu überwinden sein würden, gehabt. Gewiß haben viele, ja wohl die mei­

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sten von uns gehofft, daß dieser Erfolg durch Verständi­ gung, friedlichen Aufbau und ohne blutige Konflikte er­ reicht werden könne. Worum ging es damals, und was war der entscheidende Faktor, der sich dann im Verlauf der letzten Generation, unter dem Eindruck der grauenhaften Erfahrungen des jüdischen Volkes in Europa, mit immer größerer Gewalt durchgesetzt hat? Es war der Entschluß, zu uns selber zu kommen, uns mit unserem vollen Bewußtsein in den Zusammenhang der jüdischen Geschichte wieder hinein­ zustellen und die Verantwortung für unser Leben als Gemeinschaft auf allen Ebenen, sei es weltlicher, sei es sa­ kraler oder religiöser Natur als Juden, und als nichts an­ deres als Juden, zu übernehmen. Es gibt viele, die glauben, daß die Juden deswegen Juden seien, weil die Antisemiten sie dazu gemacht haben. Ich bin überzeugt, daß es nicht wenige solcher Juden gegeben hat und gibt. Der Druck von außen erzeugt Gegendruck und Zusammenschluß von innen. Wichtiger aber und ent­ scheidender waren die, die Juden sein wollten, weil sie in sich selber hineingeschaut und dort ihre Verbundenheit mit ihrer Vergangenheit und nicht weniger mit ihrer Zu­ kunft entdeckt haben. Man kann darüber streiten, was Judentum, die historische Gestalt, unter der dieses Volk sich in der Weltgeschichte vorgestellt hat, eigentlich sei, ob es eine abgeschlossene, unveränderliche oder eine leben­ dige und sich wandelnde Wesensart besitze. Ich gehöre zu denen, die glauben, daß es etwas Lebendiges, in all seiner reichen Geschichte noch unendlich Zukunftsträchtiges ist, ein Phänomen, an dem das noch nicht Zutagegetretene, das noch im verborgenen Liegende und Zukünftige eben­ so reich ist wie das Vergangene und auch in der Vergan­ genheit uns noch Gegenwärtige. Von einem großen deut­ schen Dichter stammt der Vers, es sei »Herr der Zukunft,



wer sidi wandeln kann«. Das jüdische Volk hat eine Ge­ schichte sui generis, und es dürfte ein müßiger Streit sein, darüber zu diskutieren, ob wir nun alle Qualifikationen besitzen, die nach irgendwelchen Definitionen ein Volk ausmachen sollen oder nicht. Die Sache Israels ist von jenen aufgenommen und unter großen Opfern verfochten worden, die ihre Entscheidung getroffen hatten. Das wa­ ren die, die ihr jüdisches Erbe, wie immer verwandelt es auch in unsere Gegenwart eingehen möge und in welchen neuen Erscheinungsformen es sich darstellen würde, in erneuter Produktivität aufnehmen wollten und die zum Aufbau einer lebendigen Gemeinschaft der Juden als Volk entschlossen waren. Der Aufbau in dem Lande der Bibel und die Gründung des Staates Israel stellen, wenn Sie mir erlauben, eine kühne Formulierung zu benutzen, einen utopischen Rück­ zug der Juden in ihre eigene Geschichte dar. Viele Völ­ ker haben einmal in Ländern gesessen, aus denen sie seit langem fort sind und an die sie keine oder nur die nebel­ hafteste Erinnerung bewahrt haben. Die Juden haben nie vergessen, woher sie kamen und wo ihre Wurzeln lagen. Dr. Weizmann, der erste Präsident des Staates Israel, hat einmal vor vielen Jahren, als er vor einer englischen Re­ gierungskommission gefragt wurde, was denn das Recht der Juden auf dieses Land begründe, gesagt: »Wer sich erinnert, hat ein Recht.« Erinnerung war eine der stärk­ sten Mächte im Leben der Juden. Dazu ist nun der große Antrieb zum Wiederaufbau, zur Rekonstruktion unseres Landes getreten. Unsagbares haben die Juden gelitten, und zugleich doch in den letzten Generationen Unend­ liches für die Entwicklung von Kultur und Zivilisation in allen Ländern geleistet. Sie haben ihren Anteil geleistet und mehr als geleistet, einen Anteil freilich, der uns selten gutgeschrieben worden ist, ja, der uns mehr als einmal 49

zum Unheil ausgeschlagen ist. In Israel haben die Juden sich entschlossen, ihre Lebenskräfte, ihre Leistungen und ihre Hoffnungen in den Dienst an einer gemeinsamen Zu­ kunft zu stellen, in der wir selber, vor Gott und der Mitwelt, für unser Tun und Lassen, für unsere Errungen­ schaften und unser eventuelles Versagen die Verantwor­ tung zu übernehmen bereit seien. Das ist es, letztlich, was Israel für uns selber bedeutet. Es ist wahr: aus der Sphäre einer nur allzuoft ganz un­ deutlich gewordenen Konfessionalität in das ungedeckte Licht der Weltgeschichte hinauszutreten, bedeutete einen Einsatz, der, wie wir wissen und an uns selber erfahren haben, auch seine Fährnisse hat. Was von uns verlangt wird, ist der moralische Mut, diese Gefahren im Bewußt­ sein eines lebendigen Erbes auf sich zu nehmen. Die äu­ ßeren Geschicke eines Volkes werden nicht nur von ihm selbst bestimmt. Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem Nachbarn nicht gefällt. Für ein Volk aber, das das Grauen der Hitlerjahre durchgemacht und aus seiner Lebenssubstanz hat bezahlen müssen, werden diese Gefahren noch immer geringfügig sein, an dem ge­ messen, was für das Leben des jüdischen Volkes auf dem Spiele steht. Wir brauchen äußere, auf der politischen Ebene zu erringende Bedingungen, um das innere Ge­ schick unseres Volkes, für das wir selbst allein verant­ wortlich sind, zu bestimmen. In den Momenten der Krise und Bedrohung des Ganzen, wie wir sie nun mehrfach durchgemacht haben, bleibt uns keine Wahl. Wir müssen uns behaupten. Aber darüber hinaus ist es an uns, die Kräfte in Bewegung zu setzen und ihnen Gestalt zu ver­ leihen, die auf den Aufbau einer besseren Zukunft, auf Selbstverantwortung, auf Besonnenheit, Klarheit und friedliches Nebeneinander im Leben der Menschen gerich­ tet sind. Dieser Aufgabe werden und können die Juden

in Israel sich nicht entziehen. Audi in einer Krise wie der gegenwärtigen steht sie uns unverrückbar vor Augen. Unser Volk hat gezeigt, daß es kämpfen kann. Wie trau­ rig ist es aber um eine Welt bestellt, in der ein solcher Be­ weis uns größeren Respekt und größeres Ansehen ver­ schafft hat als die Ausübung jener friedlichen Tugenden, zu deren Meisterung der Judenstaat gegründet und auf­ gerufen worden ist. Wir in Israel haben keinen Zweifel daran, daß die Tu­ genden des Friedens größer und letztlich entscheidender sein werden als die Tugenden, die in diesem uns aufge­ zwungenen Kampf bewiesen werden mußten. Vielleicht sind es im Grunde die gleichen Tugenden, nur in verschie­ denen Konzentrationen und Konstellationen. Israel hat bewiesen, daß es bereit ist, für seine Sache einzustehen; hoffen wir, daß es uns vergönnt sein möge, nun im Frie­ den dafür einzustehen statt im Kriege. Der Aufbau der neuen Gesellschaft, den wir uns vorge­ setzt haben, verlangt den Zusammenschluß von Menschen aus den verschiedensten Ländern und Traditionen, die doch durch gemeinsame Erinnerung und gemeinsame Hoffnung zusammengehalten werden. Von den Spannun­ gen, die diese Verschiedenartigkeit der am Leben Israels beteiligten Gruppen hervorruft, und gerade von der zwi­ schen Juden europäischer und orientalischer Herkunft, ist viel, und gerade auch bei uns selber, die Rede gewesen. Ja, es ging die Rede von den zwei Israel, zwischen denen angeblich eine Kluft sich immer breiter auftue. Die Ereig­ nisse dieser Tage haben bewiesen, daß diese Befürchtun­ gen grundlos waren. Gewiß, Israel ist ein spannungsrei­ ches Land, aber im entscheidenden ist die Einheit, die diesen Spannungen zugrunde liegt, doch überwältigend. Der größere Teil der Armee Israels besteht jetzt wohl aus Menschen des sogenannten zweiten Israel. Vielleicht wird

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der gemeinsame Kampf und Einsatz mehr für die Verbin­ dung unter all diesen Menschen und den von ihnen ver­ tretenen Gruppen tun als Jahre sozialen Wirkens und gemeinsamer Arbeit. Audi in seinem sozialen Charakter wird das Israel nadi diesem Krieg nicht mehr das gleiche sein wie vorher. Der ungeheure Hochdruck entscheiden­ der Tage wird in seinen gesellschaftlichen und morali­ schen Folgen noch wirksam werden. Und mehr als das, auch die Verbindung zwischen Israel und den Juden der Diaspora wird eine neue Lebendigkeit und Verantwor­ tungsfülle erfahren, wie sie vorher kaum je in diesem Maß bestanden hat. Zu deutlich war, was Israel für die Juden der ganzen Welt bedeutet und wie lebenswichtig es für alle ist, als daß dies Wissen leicht wieder in Verges­ senheit geraten könnte. Man hat viel von dem mißglück­ ten Dialog zwischen Israel und den Juden der Diaspora gesprochen. Ich glaube, dieser Dialog ist in ein neues und produktiveres Stadium getreten. Denn die Juden in Is­ rael haben ihr Werk nicht nur für sich selber unternom­ men, sondern für alle. Wir wollten eine neue und freiere Beziehung der Juden zu sich selber und zu ihrer Umwelt herstellen und die Verkrampfung lösen, die so vieles in diesen Beziehungen beherrscht. In dieser Sache ist, glaube ich, jeder Jude mit seinem Einsatz beteiligt, und weit über den Rahmen des jüdischen Volkes hinaus wird jeder Mensch, dem Freiheit und menschlicher Einsatz etwas be­ deuten, wissen und verstehen, was dieser Staat der Juden und das große Aufbauwerk, das hinter ihm steht, bedeu­ ten. Es gibt Stunden, in denen über alle Dialektik und Vertracktheit der menschlichen Verhältnisse hinaus ein­ fache und oft entstellte und mißbrauchte Worte wieder ihren ursprünglichen vollen Sinn erhalten. Solche Stun­ den sind uns allen in diesen Tagen vergönnt gewesen. Erlauben Sie mir zum Abschluß ein Wort über unsere Be­

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Ziehungen zu den Arabern. In den langen Jahren, die ich in Israel lebe, habe ich kaum je Haß gegen unsere Nach­ barn gefunden. Es hat nie an Versuchen gefehlt, auf den verschiedensten Ebenen, von der hochpolitischen bis zur persönlichen, positive Beziehungen herzustellen und für gegenseitiges Verständnis zu wirken. Ich habe mich selbst jahrelang an solchen Versuchen beteiligt. Es gehört zu den Tragödien unseres Unternehmens, daß die Stimmen, die uns von der arabischen Seite her hier und da entgegen­ kamen und mit denen ein Gespräch fruchtbar schien, fast durchweg durch nachten Terror, um es rundheraus zu sa­ gen: durch Mord zum Schweigen gebracht worden sind. Die jetzt in den arabischen Ländern das Wort führen, sind Gefangene ihrer eigenen blutrünstigen, radikalen, aber leeren Phraseologie. Wir sind überzeugt, daß es jen­ seits dieser Losungen des Hasses und der Vernichtung, die uns täglich zugeschleudert werden, auch noch andere Kräfte gibt. Sie zu aktivieren und eine Brüche zu ihnen zu schlagen, wird nicht leicht sein. Es zu versuchen, wird immer wieder unsere Aufgabe sein, denn wir glauben, daß wir miteinander nicht nur leben müssen, sondern auch leben wollen und leben können. Das jüdische Volk weiß aus seiner langen Geschichte, was es heißt, zu den Besieg­ ten zu gehören. Seit zwanzig Jahren hat es in drei Krie­ gen, die es nicht gesucht hat, zum erstenmal erfahren, was es bedeutet, Sieger zu sein. Die lange und die kurze histo­ rische Erfahrung, das Gedächtnis an den Stand des Be­ siegten und das lebendige menschliche Gefühl des Siegers müssen in unserer Erfahrung einen Ausgleich Enden. Friede für Israel ist zugleich auch Friede mit den Arabern. In alten Zeiten saßen in stillen Stuben die Alchemisten, um zu versuchen, die Kräfte ausfindig und wirksam zu machen, die die Elemente ineinander verwandeln. Das

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große Werk im Lande Israel, mit dem die Juden sich selbst bewährt und verwandelt haben, ist zugleich ein Ver­ such großer menschlicher Alchemie, in dem Haß und Feindschaft sich einmal in Verständnis, Respekt und Freundschaft transformieren werden. Das ist unsere Hoffnung.

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Israel und die Diaspora

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Wenn ich über Israel und die Diaspora, und im genaue­ ren über ihr gegenseitiges Aufeinanderangewiesensein sprechen soll, so kann ich kaum die Illusion hegen, über diesen Gegenstand wirklich Neues zu sagen. Kein ande­ rer ist in den letzten Jahren, ja seit der Gründung des Staates Israel mit größerer Intensität und Leidenschaft behandelt worden als dieser. Was, von welchen Stand­ punkten aus immer, irgendwie gesagt werden konnte, ist schon längst gesagt. Ich glaube fast, ungefähr der einzige Jude von einigem Artikulationsvermögen zu sein, der darüber noch nicht gesprochen hat. Meine Zurückhaltung, mich zu dieser Frage zu äußern, hat freilich ihren guten Grund: ich habe keine feste, zu­ verlässige und eindeutige Antwort anzubieten. Meine eigenen Gedanken - und wer von uns hätte sich keine Ge­ danken über dies Thema gemacht? - waren widersprüch­ licher Natur, und ich konnte mit mir selber nicht zu Rande kommen. Ich wurde mein Leben lang von Erwartungen und Enttäuschungen hin und hergerissen, Erwartungen vom jüdischen Volk überhaupt und von uns, die wir im Lande Israel an der Arbeit waren, im besonderen. Ich habe viele Stadien dieses Prozesses, von höchster Erwar­ tung bis zu tiefster Enttäuschung, ja Verzweiflung kennengelerat und an mir selber durchgemacht. Das hat mir die Lust genommen, mich mit einem Anschein von Auto­ rität zum Worte zu melden, die in diesem Falle nur eine Anmaßung und Vorspiegelung hätte sein können. Den­ noch will ich einige Erwägungen vortragen und zu be­ denken geben, die mir bei der Diskussion dieses kom­ 55

plexen Problems von besonderer Relevanz scheinen. Gewiß, ich habe mein Leben lang an die Wiedergeburt des jüdischen Volkes durch die zionistische Bewegung ge­ glaubt, aber im Rahmen dieses Glaubens, der mir, ach in vielen Stunden doch auch als trügerisch zu zerfließen drohte, habe ich viel eher zu der Gruppe derer gehört, die Fragen gestellt als zu denen, die Antworten zu geben wußten. Bei der Vielfalt der Aspekte, die sich bei der Betrachtung des Verhältnisses von Israel und der Dia­ spora eröffnen und von denen ich hier sprechen will, kann eine Antwort ja auch nur eine Affirmation eines Glaubens und einer Hoffnung sein - und vielleicht darf man sagen, daß auch das schon sehr viel wäre. Es gibt ein altes und vielen jüdischen Legenden zugrunde liegendes Wort: Am Tage der Tempelzerstörung wurde der Messias geboren. Dieser kühne Satz, der im Munde der Rabbinen gewiß zu denken gibt, spricht wohl auf pa­ radoxe Weise das Gefühl, um nicht zu sagen die Erkennt­ nis aus, daß die große historische Katastrophe des jüdi­ schen Volkes und die Erlösung untrennbar verbunden, ineinander dialektisch verzahnt sind. Als der Tempel zer­ fiel, das Zentrum eines Volkes, das sich als Gottesvolk verstand, eröffnet sich, auf einer anderen Ebene und von einem noch nicht bestimmbaren Zentrum her, die Chance der Erlösung. Worin diese »Erlösung« bestand, darüber gibt es in der Geschichte des Judentums und seiner Theo­ logie die verschiedensten und auch widersprechendsten Ansichten. Es ist nicht hier der Ort, darüber zu sprechen. Aber auch, wo sie, welcher Art immer, in der Sprache der Gläubigen und der Mystiker formuliert wurde, lief sie auf die Restitution des zerstörten Zentrums hinaus, die ihre Kräfte nicht nur aus dem Eingreifen überirdi­ scher, göttlicher Macht, sondern aus der Tiefe der Kata­ strophe selber, aus der Erfahrung des Exils bezog, das die

Erfahrung der Heimatlosigkeit Israels in der Welt der Geschichte war. Die religiösen Kategorien, unter denen diese Erfahrung beschrieben wird, haben sich in den letzten Generationen, gewiß nicht für alle, aber für sehr viele unter uns ver­ wandelt. Aber auch in den säkularisierten Formen, in denen sich für weite Kreise derer, die ihre jüdische Iden­ tität nicht verleugnen, ja sie leidenschaftlich bejahen, diese Erfahrung präzisiert, schwingt noch immer ein heimlicher Ton des Religiösen mit. Hat doch der alte Satz Dosto­ jewskis, gewiß keines großen Verehrers der Juden, daß er sich keinen Juden vorstellen könne, der keinen Gott hätte, sich an der religiösen Leidenschaft bewährt, mit der die jüdischen Sozialisten und Kämpfer für die soziale Revolution sich für ihre Sache eingesetzt haben. Es ist dieser Punkt, das Auseinanderfallen, ja auch der Konflikt der religiösen, traditionalistischen, und der sä­ kularisierten und auf die Metamorphose des Judentums in erneuten Gestalten gerichteten Auffassungen, der auch für die Auseinandersetzungen, die uns hier beschäftigen, eine höchst bedeutende Rolle spielt. Das Verhältnis zwi­ schen Israel und der Diaspora, der Judenheit in der Galuth kann nicht erhellt werden, wenn wir uns nicht über die Vorgänge und Differenzierungen Rechenschaft able­ gen, die mit dem Aufkommen des Zionismus und beson­ ders nachhaltig mit der Begründung des Staates Israel verbunden sind. Was ich damit meine, läßt sich klar um­ schreiben. Die jüdischen Gemeinden der Diaspora stellten beim Auf­ treten der zionistischen Bewegung Institutionen dar, in denen ein Judentum, das von den Kämpfen um die Emanzipation geprägt war, sich in rein religiösen Katego­ rien definierte, die der Weiterführung religiös orthodoxer oder auch deren Umdeutung in liberalen Gedankengän­ 57

gen entstammten. Gemessen an der Totalität des jüdi­ schen Lebens in der voremanzipatorisdien Periode war es ein sehr verdünntes Judentum. In Wahrheit wirkten hier auch schon viele Menschen, die religiös durchaus indiffe­ rent waren, die sich aber für die sozialen Aufgaben der Gemeinden nachdrücklich einsetzten. Dabei war viel we­ niger die religiöse Tradition, die solche Tätigkeit bejahte, als vielmehr eine durchaus irrationale, mit ihrer eigenen Ideologie oft genug in Widerspruch stehende Gefühlsbin­ dung und Bereitschaft zur Verantwortung für die jüdi­ sche Gemeinschaft wirksam. Dahinter stand noch keine bewußte Bejahung sozusagen profaner Aufgaben durch Menschen, die ängstlich darauf Wert legten zu betonen, daß nur religiöse Überzeugungen (die sie oft gar nicht mehr hatten) sie von ihren Mitbürgern schieden. Der Zionismus brach mit alldem und suchte, an die Stelle von Fiktionen und Versteckspiel im jüdischen Leben ehr­ liche und offene Verhältnisse zu setzen. Er war, wenn ich mich einmal eines Modewortes bedienen darf, eine avant­ gardistische Bewegung, von einer kleinen Minderheit ge­ tragen, die gerade durch ihre Verachtung des fiktiven Elements in den Konventionen der jüdischen Gemeinden deren Gegnerschaft erwecken mußten. Es ist auch kein Wunder, daß der Durchbruch zu einem freieren und von den damaligen Wortführern als umstürzlerisch empfunde­ nen Auftreten gerade nicht wenige der aktivsten Elemente unter der Jugend ansprach. Wenn der Zionismus gesiegt hat - mindestens auf der Ebene historischer Entscheidungen in der Geschichte der Juden - so hat er das vor allem drei Faktoren zu ver­ danken, die seinen Charakter prägten: er war, alles in allem, eine Bewegung der Jugend, in der, wie es nicht an­ ders sein konnte, auch starke romantische Momente mit­ spielten; er war eine Bewegung des sozialen Protestes, die

ihre Inspiration ebensosehr aus dem uralten und noch immer lebendigen Anruf der Propheten Israels wie aus den Losungen des europäischen Sozialismus schöpfte; und er war bereit, sich mit dem Schidcsal der Juden in allen, ich sage allen Aspekten, den religiösen und den weltlichen gleichermaßen, zu identifizieren. Es waren diese Eigenschaften, die den Mut zum Auf­ bruch und zum Neuanfang, zum Aufbau eines nicht mehr fiktiven Lebens im eigenen Land hervorriefen und dann, als die Stunde schlug, jene Kräfte frei zu machen und zu organisieren halfen, die zur Gründung von Israel geführt haben. Gewiß, niemand vermag zu sagen, ob es dazu auch ohne jene ungeheure Katastrophe gekommen wäre, die alle Juden, ob sie sich nun als Volk, Religionsgemeinschaft oder was immer empfanden, in gleicher Weise anging, so­ gar wo sie den einzelnen nicht physisch betraf. Es ist mü­ ßig, über diese Frage zu spekulieren. Daß aber in dieser Periode ein Kraftzentrum vorhanden war, in dem der Lebenswille der Juden und ihr Einsatz für ihre eigene Sache nicht mehr im Versteck, sondern auf der offenen und ungedeckten Ebene der Geschichte, und wenn es un­ bedingt sein mußte, auch der Kriegsgeschichte sich kri­ stallisieren konnte - das ist die große, einmalige Leistung des Zionismus. In diese große Leistung sind aber, von ihren eben erwähn­ ten Ursprüngen her, Widersprüche eingebaut, die gerade für die uns hier beschäftigende Fragestellung von emi­ nenter Bedeutung geworden sind und über die hinwegzu­ gehen durchaus unmöglich ist. Die verschiedenen Tenden­ zen, deren oft extreme Konfrontation das Leben in Israel in so vielen Hinsichten beherrscht, sind Ausdruck dieser Widersprüche. Im Mittelpunkt dieser Widersprüche aber steht die Frage, die in der zionistischen Bewegung nie­ mals zu klarem Austrag gekommen ist, weil eben ihre ein­ 59

deutige Beantwortung nicht möglich war. Ich meine die Frage: war der Zionismus eine Revolution im Leben des jüdischen Volkes, ein Aufstand gegen seine Existenz in der Galuth, die er radikal verneinte, um einen ebenso radika­ len Neuanfang im Lande Israel auf seine Fahne zu schreiben, oder war er vielmehr aus dem Bewußtsein hi­ storischer Kontinuität zu verstehen, als eine Fortsetzung und Evolution der Kräfte, die die Existenz und Dauer des jüdischen Volkes auch in den langen Zeiten der Zer­ streuung bestimmt haben? Stellte er nur eine neue Meta­ morphose dieser Kräfte dar, die sich unter anderen hi­ storischen Bedingungen und in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen zu bewähren hatten, und würde daher die Physiognomie dieser Gemeinschaft oder Gesellschaft im Grunde nicht viel von der abweichen, die das Judentum in den Zeiten des Exils trug? Oder handelte es sich nicht eher um einen Bruch mit eben dieser Vergangenheit, um einen Aufruf völlig neuer Kräfte, die nicht so sehr in unserm historischen Erbe als in dem Entschluß zum völligen Einsatz für ein neues Menschentum ihre Wurzeln suchen würden? Konnte es zwischen den konservativen, ja restaurativen und den revolutionären, ja aufs Utopische hin ausgerichteten Tendenzen eine Verständigung oder zu­ mindest etwas Verbindendes geben, in dem sie sich be­ gegnen konnten, ohne sich gegenseitig aufzuheben und zu negieren? Die zionistische Bewegung war der Schauplatz lebhafter Auseinandersetzungen um diese Fragen. Sie spielten sich im wesentlichen jenseits der eigentlichen politischen Zielset­ zungen und des politischen Partei-Getriebes ab, die nach außen hin die Geschichte der Bewegung bestimmten. Denn auch im Rahmen gemeinsamer politischer Ideen gingen die Meinungen über diese Haupt- und Grundfrage weit aus­ einander und waren in hohem Maße Sache des Tempera­

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ments und der persönlichen Entscheidung. Dazu kam, daß die profiliertesten Exponenten dieser Auffassungen auf der politischen Ebene kaum eine Rolle gespielt haben, sich ihr gegenüber sogar völlig abweisend oder doch mit größ­ ter Reserve verhalten haben. Das gilt ebenso für Achad Ha’am, den einflußreichsten Sprecher einer eher konser­ vativen Auffassung von der Wiedergeburt und Erneue­ rung des jüdischen Volkes, wie für Micha Josef Berdiczewski und Josef Chajim Brenner, die die wichtigsten Mentoren der den Bruch des neuen Juden mit seiner Ver­ gangenheit bejahenden Tendenzen waren. Gerade sie haben in der sozialistischen Cta/wz-Bewegung einen be­ trächtlichen Einfluß ausgeübt. In ihr, wo es um die kon­ krete Gestaltung neuer Lebens- und Gemeinschaftsfor­ men ging, die aus den sozialistischen Kommunen der Landarbeiter erwachsen sollten, war das Bewußtsein des Bruches mit der Vergangenheit besonders ausgeprägt. Es wird stets denkwürdig bleiben, wie stark hier oft so un­ vereinbare Elemente wie die der sozialistischen, der tolstoianischen und, paradoxerweise, der nietzscheanischen Kritik an der Gesellschaft nebeneinander wirksam waren. Das bewußte Überspringen der Geschichte Israels im Exil, in der Galuth, der Rückgriff auf die Urzeiten der Bibel, der später Bedeutung erlangen sollte, spielte hier noch kaum, oder höchstens in romantischen Phantasien, eine Rolle. Da aber die historischen Verhältnisse zu kei­ ner Entscheidung drängten, konnten die verschiedenen Tendenzen, jede in ihrem Kreise, ziemlich ungestört ko­ existieren. War doch die Vorläufigkeit dessen, was im Rahmen der Avantgarde sich abspielte, die vor dem Zweiten Weltkrieg das Herz des neuen Jischuw, der jü­ dischen Siedlung, bildete, allen Beteiligten klar. Da sie sich als Avantgarde, als Chaluzim, empfanden, erwarte­ ten sie den großen Nachschub, die Massen, die ihren Vi­

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sionen erst zur wirklichen Verkörperung verhelfen würden. Charakteristisch für diesen Zustand war auch, daß die Vorstellung Achad Ha’ams, für den das Verhältnis zwi­ schen dem neuen Zentrum und der Diaspora von vorn­ herein im Mittelpunkt seiner Gedanken stand, d. h. die Vorstellung von der Errichtung eines geistigen Zentrums für die ganze Diaspora, das sich auf einem neuen gesell­ schaftlichen Unterbau erheben sollte, neben den eigentli­ chen politischen Konzeptionen sich fast konfliktlos behaup­ ten konnte. Nur eine Handvoll radikaler Anhänger achadha’amistischer Gedanken, zu denen ich selber viele Jahre hindurch gehört habe, sah einen unausweidilichen Kon­ flikt zwischen diesen Konzeptionen voraus. Aber welcher Art immer die Auffassungen waren, die ich hier kurz ge­ kennzeichnet habe - ihre Anhänger schöpften ihre Kraft unterschiedslos aus dem großen Reservoir der noch un­ erweckten Diaspora, ganz gleich ob sie sie nun in ihren Theorien »bejahten« oder »verneinten«.

2 Freilich, als dann die historische Stunde kam und im Ver­ folg des Zweiten Weltkrieges, des Untergangs der Juden gerade in den Ländern, aus denen der Zionismus seinen stärksten Impetus bezogen hatte, und der Errichtung Is­ raels als Staat, die große Einwanderung einsetzte, von der wir alle so lange geträumt hatten, war alles anders. Mil­ lionen der Juden, auf die wir am meisten gezählt hatten, die uns mehr als alle andern die ungeheuren Möglichkei­ ten des jüdischen Volkes und seiner Fähigkeiten verkör­ perten, waren tot, tot auf eine Weise, die das Kollektiv­ bewußtsein der Juden noch in seinen tiefsten Schichten mit einem Schock, einem Trauma belastet hat, das keine

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Analyse auflösen wird. Alles, was von jetzt an unter den Überlebenden sich abspielte, stand und steht im Schatten dieses Traumas. Das gilt ebenso für Israel, wo alle jene Tendenzen, von denen ich hier sprach, von den Versuchen, dieses Trauma zu bewältigen, tief affiziert und verwan­ delt wurden, wie für die Juden in der Diaspora. Alle waren vor ein Faktum gestellt, mit dem sie nie gerechnet hatten, das alle Vorstellungen überstieg und auf das zu reagieren eine ebenso dringliche wie für das Bewußtsein unlösbare Aufgabe involvierte. Es ist diese Gemeinsam­ keit des Erlebnisses, das uns alle so unmittelbar anging und erschütterte, welche - weit über alle Theorien oder gar Theologien hinaus - das stärkste Gefühlsband zwi­ schen Israel und der Diaspora darstellt. Ich will nicht etwa sagen, daß die Fragen nach unserm Verhältnis zur Tradition und zur Geschichte des Judentums als einer unter religiöser Inspiration stehenden Gesellschaft etwa bedeutungslos oder gar hinfällig geworden seien. Aber geben wir uns keiner Täuschung hin: gegenüber dem un­ faßbaren, unausdenkbaren Konkreten, das so zerstörend in unser Leben als Juden eingegriffen hat, treten diese Dinge in den Hintergrund. Die, wie man hier vielleicht sagen darf, »existentielle Situation« der Juden hat sich in unserer Generation verändert. Die Gründung des Staates Israel ist unter durchaus ein­ maligen, unwiederholbaren Bedingungen erfolgt. Die un­ gelösten Fragen, die in diese Gründung mit eingingen und mit denen wir uns in diesen Jahrzehnten auseinanderzu­ setzen haben werden, waren nicht weniger ernst und dringlich als die Notwendigkeit dieses positiven Aktes, der die Antwort auf die Situation darstellte, in der wir uns fanden. Wenn diese Gründung Israels von der voran­ gegangenen Geschichte der Juden unabtrennbar ist, so spielte doch dabei sicher auch eine Vorstellung eine be­ «3

stimmende Rolle, die mit der Unfähigkeit der Diaspora zusammenhing, das Leben der Juden und ihr Dasein als Juden zu sichern, ganz gleich, wie diese Juden sich selber und ihren Zusammenhang mit dem Judentum verstanden. Jenes Trauma, von dem ich eben sprach, nahm in Israel die Form der Losung an: Nicht noch einmal! Das heißt: Nicht noch einmal unter Bedingungen leben, wo unsere Existenz, ihr Ja oder Nein, von andern bestimmt wird und wir passive Empfänger unseres Schicksals sind. Wir wollten die Verantwortung für die lebenswichtigen Ent­ scheidungen, denen wir nicht entgehen können, selber tra­ gen. Das führte zu Reaktionen, wie sie vorher kaum in unserer Gemeinschaft, und gewiß nicht als zentrale Phä­ nomene dieser Gemeinschaft selber erlebt wurden. Die Leidenschaft, dafür Sorge zu tragen, daß die Tragö­ die der Juden sich nicht noch einmal, unter dem zweideu­ tigen Schweigen der Mächtigen, wiederholen solle, hat vieles in Israel determiniert. Das Problem der Gewalt, das vorher in unserm Leben nur eine Rolle am Rande spielte, ja von sehr vielen von uns als solches abgelehnt oder nicht in ihr Bewußtsein aufgenommen wurde, stellte sich nachdrücklich und unausweichlich. Und zwar auch vor und jenseits der uns aufgedrungenen Verteidigung in den Kämpfen mit den Arabern. Die Diskussion über die Be­ dingungen und die Grenzen der Gewalt, über die Bedeu­ tung der Armee, des bewaffneten Einsatzes für die Kon­ stitution und den Fortschritt unseres Lebens ist weitgehend von dieser Losung, nicht noch einmal wehrlos und passiv unserm Schicksal ausgesetzt zu sein, getragen. Die tiefe Abneigung der Juden gegen die Verherrlichung des Mili­ tärischen, die auch in Israel zu spüren ist, hatte den Er­ fahrungen unserer jüngsten Geschichte ins Gesicht zu sehen. Tendenzen zur Überbetonung des Elementes der Gewalt haben in den letzten 25 Jahren nicht gefehlt, aber 64

es ist sichtbar, daß die Beziehung zur israelischen Armee in ganz ungewöhnlichem Grade nicht die zu einem militä­ rischen Stand, der sein eigenes Leben führen könnte, son­ dern die zu einer Volksmiliz ist. Aber es wäre trügerisch, sich darüber zu täuschen, daß die Bejahung der Gewalt, wo es um unsere Existenz geht, in unserer Generation nicht nur in Israel, sondern auch in den weitesten Kreisen der Diaspora unter einem ganz anderen Aspekt erscheint als vorher. Es ist sehr bemerkenswert, daß gerade in einer Frage, die so weit von den traditionellen Lebensberei­ chen des Judentums ablag und die doch eine entscheidende Wandlung in unserer Haltung erzwang, kein Konflikt zwischen Israel und der Diaspora entstanden ist, sondern gerade in diesem Punkte, ich hätte fast gesagt dem un­ erwartetsten, eine überwältigende Einmütigkeit sich ganz spontan hergestellt hat. Angesichts des starken quieti­ stischen Elements in der Haltung der Juden - und be­ sonders der Sprecher der jüdischen Gemeinden - zu ihrer Umwelt, wie wir es aus der Vergangenheit kennen, ist das keine Kleinigkeit. Schauen wir auf die letzten Generationen und ihr Ver­ hältnis zur jüdischen Welt zurück, so waren es, glaube ich, zwei Ideale oder Leitbilder, die eine formende Rolle ge­ spielt haben und in einen eher fruchtbaren als zerstöre­ rischen Konflikt miteinander geraten mußten. Ich meine das des Talmid Chatham und des Chaluz. Zweitausend Jahre lang bildete das Ideal des Talmid Chatham, des Schriftgelehrten, des Meisters und Bewahrers der Tradi­ tion, der sie lebendig weiterzugeben vermag, das Ziel der jüdischen Erziehung. An seine Seite, und in Konkurrenz mit ihm, trat mit dem Ende des Ersten Weltkriegs vor 50 Jahren das Ideal des Pioniers, des Chaluz, der das neue Leben auf alter Erde in einem neuen Geist zu begründen und zu verwirklichen unternahm und der sich als Vorhut ¿5

jener großen Massen, die folgen sollten, verstand. Neben ein kontemplatives geistiges Ideal trat ein aktives, auf Verwandlung unseres Lebens gerichtetes, das auch sehr viele unter denjenigen, die sich nicht selber dieser Vorhut anschlossen, tief beeinflußte und ergriff. Der Begriff der Vorhut selber schließt zwei Momente ein, sowohl das nach vorne, aufs Neue gerichtete Bestreben als die bewußte Rückbeziehung auf das Ganze, für das sie sich einsetzt. Es war nie die Absicht der Chaluzim, der Pioniere, ihrem Volk davonzurennen und ein neues zu bilden. Sie wußten von ihrer Verbundenheit mit ihrem Volk durch gemein­ same Geschichte und gemeinsame Hoffnung. Sich ihm zu versagen - wie das ein Großteil der »arrivierten« Juden des 19. Jahrhunderts tat -, wäre ihnen bei aller bit­ teren und radikalen Kritik an der Existenzform der Ju­ den in der Galuth nicht in den Sinn gekommen. Ihre Erziehung bestand nicht in einer Lehre, sondern, wie pro­ blematisch das immer sein mag, sie richtete sich am le­ bendigen Beispiel aus. Was bedeuteten diese zwei Ideale für die Diaspora und für Israel? Das Ideal des Talmid Chach am war an sich unabhängig von der Ausrichtung auf Israel und konnte, innerhalb der Kontinuität der jüdischen Gemeinschaft, auch in der Diaspora restlos verwirklicht werden. Aber gerade in der Diaspora ist es heute in seiner Wirksamkeit, geschweige denn als Realität, durchaus verblaßt. Menschen dieses Typus und Institutionen zu seiner Heranbildung (Jeschiwoth genannt) finden sich dort nur noch an ganz wenigen Stellen. Aber gerade in Israel, wo das Ideal des Chaluz seinen natürlichen Ort und seine Erfüllung fand, ist paradoxerweise in nicht geringem Maße die Wieder­ belebung auch dieses Ideals geglückt. Die Pflanzstätten der Tora erfreuen sich einer beträchtlichen Blüte und üben im Lande selber und auf für uns vital wichtige Kreise

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der Diaspora eine starke Anziehung aus. Sie bilden ein wirksames Bindeglied zwischen Israel und der Diaspora. Freilich, in vielen von ihnen - durchaus nicht in allen tritt eine Tendenz zur Abschließung, zum Separatismus, zur Bildung einer sich vom Leben in Israel und von der Wirkung auf dies Leben abkehrenden Kaste zutage, die in scharfem Kontrast zu ihrer früheren Funktion steht. Die jeschiwa war ja stets zum jüdischen Leben und zur jüdischen Gemeinde hin offen und versagte sich deren An­ forderungen nicht. Sie fing nicht nur Menschen auf, sie schickte sie auch wieder zurück. Es wird, glaube ich, für die künftige Entwicklung wichtig sein, ob diese Tendenz zur Absperrung, die viele von uns alarmiert, überwunden werden kann, was nur von innen her möglich sein wird. Es gibt auch ein Leben der Überlieferung, das nicht nur in der konservativen Bewahrung, der stetigen Fortsetzung des geistigen und kulturellen Besitzes einer Gemeinschaft besteht. Gewiß ist Überlieferung auch das, und Erziehung beruht zum großen Teil auch darauf. Aber sie ist auch et­ was anderes. Es gibt Bereiche der Tradition, die im Schutte der Jahrhunderte verborgen sind und bereitliegen, ent­ deckt und ergriffen zu werden. Es gibt einen Wieder­ anschluß an Vergessenes oder an noch nicht zum Zuge Ge­ kommenes. Es gibt eine Schatzgräberei innerhalb der Tradition, die eine lebendige Beziehung schafft, der vie­ les vom Besten des gegenwärtigen jüdischen Bewußtseins zu verdanken ist, auch wo sie außerhalb des orthodoxen Rahmens sich vollzog und vollzieht. Aber auch innerhalb des chaluzischen Ideals sind Verände­ rungen vor sich gegangen. Mit dem Einsetzen der großen Einwanderung und der Enttäuschung, daß diese Einwan­ derung doch bei weitem nicht groß genug war, um den Erwartungen, die wir an sie knüpften, zu entsprechen, hat sich auch hier vieles verwandelt. Die Chaluzim sind

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nicht mehr unter sich; das neue Leben wirkt sich auf Ge­ bieten aus, die oft weit weg von der ursprünglichen In­ tention auf die radikale Umschichtung der jüdischen Ge­ sellschaft lagen. Mit dem Aufbau des Staatsapparates, der Industrialisierung, der Eingliederung großer Massen von Menschen, die unmittelbar aus fast mittelalterlichen und quasi feudalen Verhältnissen kamen, stellten sich aus der Wirklichkeit heraus ganz neue Aufgaben, denen mit den aristokratischen und puritanischen Leitbildern der chaluzischen Elite nicht mehr beizukommen war. Die Entfremdung zwischen Israel und der Diaspora be­ gann nach 1950 von zwei Punkten her: die Israelis waren der Diaspora, die in ihnen Musterjuden sehen wollte, die überlieferten Vorstellungen entsprachen und sie undialek­ tisch fortsetzen würden, nicht »jüdische genug, und die Juden der Diaspora enttäuschten die Israelis nicht minder, weil sie nicht in Massen kamen, als die Tore und die Her­ zen offen standen. Beides beförderte Tendenzen zur Po­ larisierung der Gegensätze und hat nicht wenig Bitterkeit erzeugt. Beides beruhte auf einer zu starken Verein­ fachung der Vorgänge in der jüdischen Welt, denen so nicht beizukommen war. Beide Teile waren unfähig oder unbereit, die Vorgänge, die sich in dem anderen Teil ab­ spielten und widerspruchsvoll genug waren, wahrzuneh­ men. Das Ausbleiben der großen Einwanderung aus den Ländern der freien Welt hat bedeutenden Anteil an den Tendenzen gehabt, die hier und da nachdrücklich ver­ treten wurden, Israel auf sich selber zu stellen und die Brücken zur Diaspora, die ihre Stunde nicht wahrnahm, abzubrechen. Es war viel von Verzweiflung und Trotz der Enttäuschten in diesen bald sichtbar werdenden Phä­ nomenen. Damit ist aber zugleich auch die alte Frage der Beziehung zwischen Israel und der Diaspora in ein neues Stadium 68

getreten. Tendenzen, die vorher nur unbestimmt und un­ scharf erkennbar waren, sowohl im Positiven wie im Ne­ gativen, sind nun viel klarer bestimmbar. Das betrifft sowohl den Wandel in der Haltung der Juden in der Dia­ spora, der einzelnen und noch mehr der Gruppen, zu dem großen Unternehmen in Israel als auch die Haltung Is­ raels zur Diaspora. Nicht nur die Erfahrungen seit dem Abzug der Engländer, sondern vor allem die der letzten zwei Jahre, seit dem Sechstagekrieg, haben eine Klä­ rung und Entscheidung in diesem Verhältnis befördert. Es ist nur natürlich, daß auf beiden Seiten eine lebhafte Ent­ wicklung erkennbar war, in der zentripetale und zentri­ fugale Tendenzen sich voneinander abhoben und mitein­ ander in Konflikt geraten mußten. Das gilt, wenn auch auf verschiedene Art, für uns alle. Lassen Sie mich zuerst von der Diaspora sprechen. Es hat an Auflösungserscheinungen hier keineswegs gefehlt. Gerade individuell haben es viele einzelne Juden vorgezogen und leichter gefunden, in der Nachkriegswelt ihre Bindung an alles Jüdische aufzugeben und in einem entschlossenen Ab­ bau ihrer Verbindung mit der jüdischen Welt ihr Heil zu suchen. Sie waren sich vielleicht ihrer Vergangenheit bewußt, wollten aber mit der Zukunft der Juden nichts mehr zu tun haben. Wir haben dieses Lied von den großen Menschheitsaufgaben, denen gegenüber die parochialen In­ teressen des Judentums angeblich verschwindend und von geringem Gewicht seien, unser Leben lang gehört. Wir haben in der ersten Hälfte des Jahrhunderts damit in oft leidenschaftlicher Diskussion gestanden und waren uns stets über die Antriebe klar, die zu dieser Flucht in die Selbstaufgabe geführt haben. Es ist heute leichter, diesen Tendenzen ins Gesicht zu sehen. Wir wissen, daß auch aus der tiefsten Entfremdung immer wieder, spontan und die davon Betroffenen verwandelnd, eine Hinwendung, ob 69

wir sie nun als Rückwendung oder sonstwie qualifizieren, möglich ist. Wer etwa mit französischen Juden in Ver­ bindung gekommen ist, weiß, wie dünn der angeblich so feste Boden ist, der die Wegwendung, die zentrifugale Tendenz begünstigt. An den unerwartetsten Stellen bricht dann doch durch diesen Boden und durch die Atmosphäre der Deklarationen, die sich oft genug in einem Vakuum bewegen, ein tieferes Gefühl der Identität durch. Diese Dinge lassen sich nicht organisieren, sosehr gewiß nicht nur die Vorgänge in der Umwelt, sondern auch bei uns selber, in dem was wir uns vorsetzen und leisten, in mit­ telbarer Weise daran Anteil haben. Zugleich steht aber diesen auflösenden Tendenzen ein außerordentlich starker zentripetaler Drang gegenüber, der die Juden der Diaspora erfaßt hat. Der Wunsch, den Aufgaben, die die Gegenwart und noch mehr unsere Zukunft als Juden uns stellen, sich nicht zu entziehen, das Bewußtsein von der Unauflöslich­ keit der Bande zwischen Israel und der Diaspora prägt die Physiognomie dieser Generation und bestimmt ihre Entscheidung. Die jüdische Gemeinde von heute sieht an­ ders aus als die, mit der wir in unserer Jugend zu tun hatten. Sie hat die nur ängstliche Rücksicht auf das Run­ zeln fremder Augenbrauen verloren und hat sich als Glied eines Ganzen erkannt, das weit mehr als nur reli­ giöse und philanthropische Aufgaben zu erfüllen hat. Sie hat die Wechselwirkung zwischen sich und Isarel als be­ stimmende Kraft in ihr Leben aufgenommen. Daß es da­ bei Spannungen zwischen den zwei Polen geben wird, um die ihre Tätigkeit kreist, ist unausbleiblich. Denn die Si­ cherung der Dauer und die Erfüllung der Aufgaben, die sich in der Diaspora stellen, erfordern eine andere Aus­ richtung als die nun als notwendig gesehene Öffnung nach Israel hin. Diese Spannung aber findet nicht nur bei den Juden der 7°

Diaspora statt. Sie gilt noch viel mehr für das, was sich in Israel selber abspielt. Auch hier haben wir es mit zen­ trifugalen und zentripetalen Kräften zu tun. Ich möchte, um was es dabei geht, an zwei Metaphern verdeutlichen. Ist Israel und seine Funktion mit einer Rakete vergleich­ bar, etwa jener »Apollo 11« von der wir letzthin soviel gelesen haben, von der sich Teile loslösen und ins Unbe­ kannte hinausschießen, in die gelobte Mondlandschaft oder zu neuen Sternen? Die Astronauten sind zwar von der Erde aus dirigiert, müssen aber selber sehen, wie sie weiterkommen, sie ringen um Luft, haben sich mit ihrem Gewicht und der Schwerelosigkeit auseinanderzusetzen und können zuerst nur das Wissen benutzen, das sie auf der Erde gelernt haben. Aber muß es nicht zu einer all­ mählichen Verselbständigung im Fortschreiten ihrer Mis­ sion kommen? Wird sich ein Teil der Rakete nicht ganz ablösen und ein eigenes Leben führen? Ist Israel, das aus den Kräften des jüdischen Volkes und dem Mutterboden der Diaspora geschaffen wurde, nicht dazu bestimmt, sich von diesem Mutterboden endgültig zu lösen und sein eigenes Leben als eine neue Nation, mit neuer Verwurze­ lung in den Geschehnissen dieser Jahre, zu führen? Oder haben wir es vielmehr, um der technologischen eine bio­ logische und historische Metapher gegenüberzustellen, mit einem Ganzen zu tun, dessen Teile alle aufeinander angewiesen sind, wo die Isolierung eines, und sei es noch so zentralen Gliedes oder Bestandteils zum Absterben des Ganzen führen muß? Wir alle kennen die Frage, die uns so oft gestellt wird und die wir uns selber stellen: was sind wir in erster Linie, Juden oder Israelis? An dieser Fragestellung scheiden sich auch in Israel die Geister. Seit zwanzig Jahren haben sich die zentrifugalen Tendenzen, die den Zusammenhang mit der Diaspora abzubauen streben, in unverkennbarer Deut7i

lichkeit kristallisiert. Ihre Sprecher haben die Geschichte der Juden und ihre Verwurzelung in ihr für sich sel­ ber liquidiert, jedenfalls behaupten sie es. Anstelle der Rüdcbeziehung auf das jüdische Volk und seine Tradi­ tion empfehlen sie uns, den Zionismus, das heißt die Orientierung auf ein »Zion« hin, das heißt: eine Erfül­ lung einer sich als jüdisch verstehenden Wertskala auf­ zugeben. Sie empfehlen uns die Eingliederung in einen angeblichen »semitischen Raum«, eine Vokabel, deren Tal­ miglanz ihre vollständige Inhaltlosigkeit kaum verdeckt. Die romantischen Gemüter unter ihnen, und es mangelt an ihnen nicht, haben uns, falls wir uns nicht mit der reinen Säkularisierung behelfen können, den Kult des Baal und der Astarte angepriesen, die die »lebensfeindlichen« Lo­ sungen des Monotheismus zu überwinden bestimmt sein sollen. Die Reklame, die weithin für solche Losungen ge­ macht worden ist, steht in schreiendem Widerspruch zu ihrem völligen Unernst. Es ist aber wahr, daß hinter die­ sen Extravaganzen der sogenannten »Kana’aniter«, die sich bei uns zu Worte melden, jenes echte Problem steht, von dem ich hier gesprochen habe. Die Frage, auf die es sich reduzieren läßt, und der wir allerorts begegnen, lau­ tet wie gesagt: Was sind wir in erster Linie, Juden oder Israelis? Daß diese Frage für das Verhältnis zwischen Is­ rael und der Diaspora von entscheidender Bedeutung ist, ist evident. An ihr scheiden sich die Geister. Ich bin überzeugt, daß die Existenz Israels, nicht weniger als die der Diaspora, davon abhängt, daß wir das Pri­ mat unserer Verbindung mit dem jüdischen Volk, seiner Geschichte und Gegenwart in das Zentrum unserer Ent­ scheidungen stellen. In der Tat, auf jene zugespitzte Frage antworte ich ohne Bedenken: Wir sind Juden zuerst und Israelis als eine Manifestation unseres Judentums. Der Staat Israel und sein Aufbau ist ein Unternehmen, das 72

dem jüdischen Volk dienen soll, und wenn diese Zielset­ zung ihm entzogen wird, verliert er seinen Sinn und wird sich in den Stürmen dieser Zeitläufte nicht lange be­ haupten. Die Ideologie eines sich von seinen historischen Wurzeln und Zusammenhängen lösenden Israel, die uns angeblich politischen Frieden erkaufen soll, läuft mit in­ nerer und grausamer Logik auf die Liquidation des Gan­ zen hinaus, wie das aufs klarste aus dem, mit großem Ge­ räusch unlängst in Europa lancierten Pamphlet von Uri Avneri »Israel ohne Zionisten«, freilich sehr gegen den Willen des Autors, sichtbar wird. Jenseits des physischen Überlebens in extremen Situatio­ nen, dessen Wichtigkeit wir alle kennengelernt haben und in dessen Realisierung sich selber große menschliche und gesellschaftsbildende Kräfte manifestieren, wird mit Recht gerade an uns stets die Frage gestellt werden, ob wir unserm Volk mehr zu bieten haben werden als dieses Über­ leben. Der Anschluß an ein vorexilisches Israel der biblischen Zeit unter bewußter Überspringung oder Aus­ schaltung der uns alle formenden Geschichte des Juden­ tums in mehr als zweitausend Jahren läßt sich nur in Proklamationen und in abstracto vollziehen, aber nicht in der geschichtlichen Wirklichkeit. Die Rückkehr nach Zion - die nicht identisch ist mit dem Aufgehen in der Levante - wird für die Gestaltung unserer Zukunft von unabseh­ baren Folgen sein, wenn sie sich der. fruchtbaren Span­ nung zwischen den in ihr zum Ausdruck kommenden Kräften nicht zugunsten einer einseitigen und allzu bil­ ligen Entscheidung für nur eine dieser Kräfte entzieht. Das gilt ebenso für eine Orientierung, die auf eine un­ verwandelte Bewahrung der Tradition ginge wie für eine, die uns von deren Wurzeln abzuschneiden sucht. Der Zio­ nismus war und ist der utopische Rückzug der Juden in ihre eigene Geschichte und damit freilich eine fruchtbare 73

und nach Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen ge­ öffnete Paradoxie. Dieser Rückzug ist mit der Gründung des Staates Israel nicht vorbei. Er ist vielmehr in eine Phase getreten, die seine zentrale Bedeutung für das Schicksal der Juden aufs grellste erhellt hat. Das Juden­ tum der Diaspora wird ohne die Impulse, die aus dem neuen Leben in Israel kommen werden, verkümmern. Aber auch Israel bedarf der bewußten Verbindung und Rück­ beziehung zu dem Ganzen, dem zu dienen und das zu ver­ wandeln letzten Endes die Rechtfertigung seines Daseins, seine ratio essendi ausmacht. Daß die Berührung mit dem alten und neuen Lande, die Konfrontation mit einer neuen historischen und gesell­ schaftlichen Situation und die Notwendigkeit, sich aktiv in ihr einzusetzen, außerordentliche Energien geweckt haben, steht außer Zweifel. Nicht weniger aber bleibt der alte Satz wahr, daß alle Juden füreinander einzustehen haben, ob sie es nun wollen oder nicht: Wir sind alle im selben Boot, und die handgreiflichste Erfahrung noch der jüngsten Zeit lehrt uns das immer wieder. Gewiß, es ist möglich, aus dem Boot herauszuspringen und der gemein­ samen Verantwortung zu entsagen. Das ist der Sinn jener zentrifugalen Tendenzen, von denen ich hier gesprochen habe, sowohl in Israel als in der Diaspora. So gefährlich sie sind - für unsern Bestand und für das Urteil der Ge­ schichte über uns sind sie bedeutungslos. Wie tief das Bewußtsein von dieser Einheit unseres Schicksals gerade die junge Generation in Israel ergriffen hat, von der man so oft oder in deren Namen man so gern das Gegenteil behauptet hat, davon legt jene Sammlung von Gesprächen mit Soldaten aus den Kibbuzim mensch­ lich ergreifendes Zeugnis ab, die kurz nach dem Sechs­ tagekrieg erschien und die bei aller Unbeholfenheit der spontanen Formulierung doch weitaus das erhellendste 74

Dokument unserer geistigen Existenz ist, das Israel bisher hervorgebracht hat. Nie sind die Besinnung auf uns selbst, die Zweifel über uns selbst und das Staunen über die Er­ fahrung unserer Einheit auf eine redlichere, unprätentiö­ sere und differenziertere Weise dargelegt worden als in diesen Gesprächen junger Menschen, von denen kaum einer die Diaspora je gesehen oder erlebt hat. An diesem Zeug­ nis gemessen sind die zahlreichen Symposien der jüdischen Intellektuellen, die in Jerusalem, Paris und New York stattgefunden haben, bei aller Überartikuliertheit oft von gespenstischer Irrealität. Für uns, die »Alten«, war es wohl immer klar, daß mit unserer Identifikation mit dem jüdischen Volk Israel steht und fällt. Hier haben wir unsere wahre Identität gesucht, die Quelle unserer Erneuerung, über alle Formeln und Formen hinaus. Daß aber die »Jungen«, für die dies alles viel problematischer sein mußte, in einer plastischen Stunde unserer Geschichte dieselbe Erfahrung gemacht haben, begründet unsere Hoffnung, daß die Brücken zwi­ schen uns, zwischen der Galuth und Israel nicht abbrechen werden. Israel und die Diaspora stehen beide in einer Krise, die ihre Existenz bedroht. Die Wetterzeichen ste­ hen fast überall auf Sturm. Um die Aufgaben zu bewäl­ tigen, die sich aus dieser Krise ergeben, können wir nicht aufeinander verzichten. Die wichtigste dieser Aufgaben dürfte wohl auf dem Gebiet der Erziehung liegen, die eine Synthese schaffen muß zwischen der Tradition und den neuen Werten, die aus der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit unseres Lebens, mit der Realität des jüdischen Volkes in Israel erwachsen. Sie ist nicht von heute auf morgen zu lösen und wird auf Jahre hinaus unsere ge­ meinsame Sache bleiben. Der Brückenschlag zwischen uns und der Diaspora, der Wunsch, keinen Abgrund zwischen den Partnern sich bilden zu lassen und ihn, wo er zu ent-

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stehen droht, zu überwinden, ist für die gemeinsame Sache der Juden lebenswichtig. Ich möchte aber zum Abschluß dieser Betrachtungen eines sagen: Es ist das persönliche Moment der gegenseitigen Betroffenheit, das letzten Endes entscheidend sein wird. Täuschen wir uns nicht! So nützlich und anregend Pilger­ fahrten, Besuche, erzieherische Aktivität zur Bewahrung und Entfaltung des uns Gemeinsamen, und was sonst wir uns ausdenken, sein mögen — sie werden nicht über unser Verhältnis entscheiden. Es wird das persönliche, das ganz intime Moment sein, das entscheidet. Worauf es ankommt, ist, ob wir persönlich angesprochen werden, ob wir eine direkte Verbindung entdecken, die über das Institutionelle hinausgeht, das heißt, ob wir die Einheit in unserer Dif­ ferenz entdecken, auch wo diese Einheit des Gefühls und der Hoffnung sich noch nicht in zureichenden Begriffen formulieren läßt.

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Der Golem von Prag und der Golem von Rehovot i

Es war einmal ein großer Rabbi in Prag. Er hieß Rabbi Juda Löw ben Bezalel und ist in der jüdischen Tradition als der »Hohe Rabbi Löw« berühmt. Er starb 1612. Er war ein großer Gelehrter und Mystiker, aber die jüdische Volksüberlieferung schreibt ihm vor allem die Schaffung eines Golem zu, das heißt eines Geschöpfes, das durch die magische Kraft des Menschen und in menschlicher Form produziert werden kann. Der Golem des Rabbi Löw war aus Lehm gemacht, aber durch die konzentrierte Macht des Geistes seines Schöpfers, die sich auf ihn rich­ tete, erhielt er eine Art von Leben. Freilich stellt diese große menschliche Schöpfermacht nur einen Reflex von Gottes eigener schöpferischer Kraft dar. Diese äußert sich darin, daß der Rabbi, nachdem er alle Vorschriften zum Aufbau seines Golem erfüllt hatte, einen Zettel mit dem mystischen und unaussprechlichen Namen Gottes in seinen Mund steckte. Solange dieses Siegel unversehrt in seinem Munde blieb, war der Golem am Leben, wenn man diesen seinen Zustand als Leben bezeichnen darf. Denn der Golem konnte arbeiten und dem Befehl sei­ nes Meisters folgen und alle möglichen Aufträge für ihn erfüllen, dabei sogar ihm und den Juden von Prag auf manche Weise behilflich sein - aber die Fähigkeit der Sprache war ihm nicht verliehen. Er konnte Befehle be­ folgen und sie irgendwie sich zurechtlegen, das war aber auch alles. Eine Zeitlang ging das alles gut; der Golem, als ein Helfer des Rabbi, erhielt sogar seinen Ruhetag am Sabbat, wo Gottes Geschöpfe keine Arbeit verrichten sollen. Vor 77

Eingang des Sabbat nahm der Rabbi den Zettel mit dem belebenden Namen Gottes wieder fort, und der Golem wurde für diesen Tag eine leblose Lehmfigur. Einmal je­ doch vergaß der Hohe Rabbi Löw, am Freitagnachmittag den Namen Gottes zu entfernen, und ging in die Syn­ agoge von Prag, um mit der Gemeinde zu beten und den Sabbat zu empfangen. Der Tag war fast vorüber und der Sabbat hatte noch nicht eigentlich begonnen, als der Golem unruhig wurde, immer größer aufwuchs, mit un­ geheurer Kraft zu toben begann, an den Häusern rüt­ telte und alles zu vernichten drohte. Die Leute wußten nicht, wie ihn in seinem Amoklauf aufzuhalten. Bald er­ reichten Gerüchte von der Panik die Alt-Neuschul, wo der Rabbi betete. Der Rabbi stürzte auf die Straße, dem rasenden Golem entgegen, der, auf sich selbst gestellt, eine zerstörende Gewalt entwickelte. Mit letzter Anstrengung warf er sich auf den Golem und riß den heiligen Namen aus seinem Mund, der Golem fiel zu Boden und wurde wieder ein Klumpen lebloser Erde. In einer anderen Version derselben Legende, deren Held ein großer polnischer Rabbi des 16. Jahrhunderts ist, ge­ lingt es diesem zwar, den Golem aufzuhalten, aber der riesige Lehmklumpen fällt auf ihn und tötet ihn. Die be­ rühmteste Fassung der Legende vom Golem als einer fast menschlichen Kreatur ist aber die über den Hohen Rabbi Löw, der nach jenem Ereignis den Golem nicht wieder zum Leben erweckt und seine Reste auf dem Dachboden der uralten Synagoge begraben haben soll, wo sie jetzt noch liegen. Hier darf ich wohl anmerken, daß der Hohe Rabbi Löw nicht nur der geistige, sondern auch der leib­ liche Urahn des großen Mathematikers Theodor von Kärman war, der, wie ich mich gut erinnere, äußerst stolz auf diesen Ahnen war, in dem er den ersten Genius der angewandten Mathematik in seiner Familie sah. 7»

Außerdem dürfen wir aber sagen, daß Rabbi Löw auch der geistige Urahn von zwei anderen großen Mathema­ tikern jüdischen Ursprungs war - Johann von Neu­ mann und Norbert Wiener die mehr als irgend jemand sonst die theoretischen Grundlagen zu jener mathema­ tischen Magie gelegt haben, die den Golem unserer Tage, den modernen Computer, produziert hat. Es ist die zur Zeit letzte Verkörperung dieser Magie, die uns an diesem Tage einzuweihen vergönnt ist - der Golem von Rehovot. Und in der Tat, der Golem von Rehovot kann nicht übel mit dem Golem von Prag in Konkurrenz treten. Diese Vorstellung vom Golem ist aber tief im Denken der jüdischen Mystiker des Mittelalters, der Kabbalisten, ver­ wurzelt. Ich möchte Ihnen wenigstens eine Andeutung von dem geben, was hinter dieser Idee steckt. Das scheint weit­ ab von dem zu liegen, woran der moderne Ingenieur für Elektronik und der angewandte Mathematiker denken, wenn sie ihre eigene neue Spezies von Golems zusam­ menbrauen - und doch läuft, aller theologischen Fallen ungeachtet, eine direkte Linie zwischen diesen Entwick­ lungen. Letzten Endes ist der Golem nichts als eine Reproduktion von Adam, dem ersten Menschen selber - ein Wesen, das durch menschliche Intelligenz und Konzentration ge­ schaffen ist, das zwar unter der Kontrolle seines Schöp­ fers steht und Aufgaben erfüllt, die dieser ihm stellt, das aber zugleich eine gefährliche Neigung entwickeln kann, dieser Kontrolle zu entwachsen und zerstörerische Fä­ higkeiten zu entfalten - wie der Mensch selber. Gott konnte den Menschen aus einem Haufen Lehm schaffen und ihn mit einem Funken seiner göttlichen Lebenskraft und Intelligenz versehen. Das ist im Grunde das »Eben­ bild Gottes«, in dem der Mensch geschaffen ist. Ohne diese Intelligenz und die Spontaneität des menschlichen Geistes

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wäre Adam nichts als ein Golem gewesen, wie er denn in der Tat in einigen der alten rabbinischen Geschichten, die den biblischen Bericht ausdeuten, auch genannt wird. Solange es sich bei ihm nur um die Kombination natür­ licher und materieller Faktoren und deren höchste Stei­ gerung handelte und bevor jener entscheidende göttliche Funke ihm eingehaucht wurde, war Adam wirklich nur ein Golem. Erst als ein ganz klein wenig von Gottes schöpferischer Kraft in ihn überging, wurde er Mensch, in Gottes Ebenbild. Kann es danach überraschen, daß der Mensch in seinem eigenen, so unendlich kleineren Bereich das versucht, was Gott auf seine Weise am Anfang unter­ nahm? Die Sache hat aber einen Haken: der Mensch kann die Kräfte der Natur - von ihm als die Grundkräfte der ma­ teriellen Schöpfung bestimmt - zusammenfassen und zu etwas kombinieren, was den Anschein von Menschlichem hat. Aber eines kann er diesem seinem Produkt nicht ge­ ben: Sprache, die für den biblischen Autor identisch mit Vernunft und Intuition ist. Der Talmud erzählt eine kleine Anekdote: »Raba schuf einen Menschen und schichte ihn zu Rabbi Sera. Der sprach zu ihm, aber er antwor­ tete nicht. Daraufhin sagte der Rabbi: Du mußt von mei­ nen Kollegen von der Akademie gemacht worden sein; kehre zu deinem Staub zurück.« Im Aramäischen, der Sprache des Talmud, wird für »akademische Kollegen« dasselbe Wort wie für »Magier« gebraucht, keine üble Doppeldeutigkeit. Wie der menschliche Geist der allum­ fassenden Einsicht Gottes gegenüber unendlich unterlegen bleibt, so bleibt die Intelligenz des Golem hinter der menschlichen zurück - es fehlt ihr seine Spontaneität, die den Menschen erst zu dem macht, was er ist. Und doch - selbst auf dieser subhumanen Ebene stellt sich im Golem etwas von der schöpferischen Macht des Men-

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sehen dar. Die Welt ist, der Ansicht der Kabbalisten zu­ folge, im wesentlichen aus den Urelementen der Zahlen und Buchstaben aufgebaut, denn die Buchstaben der Sprache Gottes, von der die menschliche Sprache nur einen Reflex darstellt, sind ja nichts als konzentrierte schöpfe­ rische Energie. Wenn der Kabbalist also diese Grundele­ mente in allen ihren möglichen Kombinationen und Per­ mutationen durch seinen Geist gehen läßt, während er über die Mysterien der Schöpfung meditiert, strahlt et­ was von dieser Urkraft in den Golem aus. Die Schöpfung eines Golems bestätigt also in gewisser Weise die produk­ tive und schaffende Kraft des Menschen. Sie wiederholt, wenn auch in kleinstem Maßstab, das Schöpfungswerk. Das hat aber auch einen eher unheimlichen Aspekt. In einem der ältesten Texte, die wir über den Golem haben, wird erzählt, daß der Prophet Jeremia sich allein mit dem »Buch der Schöpfung« - dem ältesten hebräischen Text über den Aufbau der Welt aus Buchstaben und Zah­ len - beschäftigte. Da erging eine himmlische Stimme an ihn und sprach: Nimm dir einen Genossen. Jeremia nahm sich seinen Sohn Sira, und sie studierten das Buch drei Jahre lang zusammen. Danach gingen sie daran, die Al­ phabete nach den kabbalistischen Prinzipien der Kombi­ nation, Zusammenfassung und Wortebildung zu kom­ binieren. Daraus wurde ihnen ein Mensch geschaffen, auf dessen Stirne stand: JHWH Elohim Emeth, was bedeu­ tet: Gott der Herr ist Wahrheit. Der neuerschaffene Go­ lem hatte aber ein Messer in der Hand, mit dem er den ersten Buchstaben des Wortes Emeth (Wahrheit) aus­ löschte. Da blieb nur das Wort meth, das heißt: »ist tot«. Da zerriß Jeremia seine Kleider - der Blasphemie we­ gen -, die nunmehr in der Inschrift steckte, die ja besagt: Gott der Herr ist tot. Er sagte zu dem Menschen: Warum löschst du das Aleph von Emeth aus? Er antwortete: Ich 81

will dir das Gleichnis erzählen. Ein Architekt baute viele Häuser, Städte und Plätze, niemand aber konnte ihm seine Kunst ablauschen und es mit seinem Wissen und sei­ ner Handfertigkeit aufnehmen, bis ihn zwei Leute über­ redeten, ihnen das Geheimnis seiner Kunst beizubringen. Als sie alles richtig erlernt hatten, begannen sie ihn mit Worten zu provozieren, bis sie mit ihm brachen und sel­ ber Architekten wurden. Nur machten sie alles billiger: wofür er einen Taler nahm, das machten sie für 6 Gro­ schen. Als die Leute das merkten, hörten sie auf, den Künstler zu ehren und gingen zu den aufsässigen Schü­ lern. So hat euch Gott in seinem Ebenbilde, in seiner Gestalt und Form geschaffen. Nun aber, wo ihr wie Er einen Menschen erschaffen habt, wird man sagen: es ist kein Gott in der Welt außer euch beiden. Jeremia sagte: gibt es einen Ausweg? Er antwortete: schreibt die Al­ phabete von hinten nach vorn in jene Erde, die ihr mit gesammelter Konzentration hingestreut habt, um einen Golem aus ihr zu machen. Nur meditiert darüber nicht in der Richtung des Aufbaus, sondern vielmehr umge­ kehrt. Das taten sie, und jener Mensch zerfiel vor ihren Augen zu Staub und Asche. Es ist schon einigermaßen bemerkenswert, daß Nietzsches berühmter Ausruf »Gott ist tot« zuerst in einem kabba­ listischen Text, als eine Warnung vor der Golemschöpfung auftaucht. Eine gelungene Golem-Schöpfung, die nicht nur im Symbolischen sich vollzieht, würde den »Tod Gottes« einleiten! In der historischen Entwicklung dieser Vorstellung hat der Golem immer auf zwei ganz verschiedenen Ebenen existiert. Die eine war die Ebene der ekstatischen Erfah­ rung, auf der die Lehmfigur, in die alle Ausstrahlungen des menschlichen Geistes, die die Kombinationen aller möglichen Alphabete sind, einfließen, für einen Moment 82

der Ekstase, aber nicht außerhalb von ihr, lebendig wird. Die andere war die Ebene der jüdischen Legende, auf der das Gerücht von den kabbalistischen Spekulatio­ nen, die sich auf eine geistige Ebene bezogen, nun in hand­ feste Erzählungen wie die, die ich hier eingangs vom Hohen Rabbi Löw zitiert habe, umgesetzt wurde. Der Golem wurde aus einer geistigen Erfahrung mittelalter­ licher Mystiker der technische Diener menschlicher Be­ dürfnisse, der von seinem Schöpfer in einem unsicheren, labilen Gleichgewicht gehalten wird.

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Hier dürfen wir nun einige Fragen aufwerfen, die sich beim Vergleich des Golems von Prag mit dem von Rehovot, dem Werk des Hohen Rabbi Löw mit dem Werk des Professor - oder sollte ich lieber sagen Rabbi? - Chajm Löw Pekeris ergeben. 1. Haben sie eine gemeinsame Grundkonzeption? Ich würde sagen, ja. Der alte Golem beruhte auf einer my­ stischen Kombination der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets, die zugleich die Elemente und Bausteine der Welt sind. Der neue Golem beruht auf einem viel einfa­ cheren, und doch zugleich viel verwickelteren System. Statt 22 Elemente kennt er nur zwei, die beiden Zahlen o und 1, die das binäre Zahlensystem ausmachen. Alles kann in diese zwei Grundzeichen übersetzt oder trans­ poniert werden, und was sich durch dieses System nicht ausdrücken läßt, kann dem Golem nicht als Information zugeführt werden. Ich würde sagen, daß die alten Kab­ balisten mit Vergnügen von dieser Vereinfachung ihres eigenen Systems Kenntnis genommen hätten. Das ist Fort­ schritt! 2. Was bringt den Golem in Gang? In beiden Fällen ist 83

es dasselbe: Energie. Im alten Golem war es die Energie der Sprache, im neuen ist es die der Elektronik. Im Fall der Kabbalisten war es der Sehern ha-meforasch, der un­ verstellte, ausdrückliche und differenzierte Name Gottes, der aller Sprache zugrunde liegt. Heute ist es die Diffe­ renzierung nach einem vorgegebenen System von Zeichen und Chiffren sowie deren Deutung, die den Golem funktionabel macht. 3. Wie steht es um die menschliche Gestalt? hier muß ich einige Bedenken anmelden. Gewiß, der Prager Golem war als menschliches Wesen nicht sonderlich attraktiv, aber im­ merhin scheint er eine ausgesprochene Ähnlichkeit mit menschlicher Erscheinung gehabt zu haben. Leider läßt sich das von unserem jetzigen Golem von Rehovot nicht gerade sagen. Natürlich könnte man einwenden, daß solche äußerlichen Formen nurmehr optische Täuschungen und Illusionen sind, und worauf es schließlich ankäme, sei der Geist, der hier am Werke ist. Und hier mag der Golem von Rehovot einen Vorteil zu verzeichnen haben. Äußer­ liche Schönheit ist ihm versagt. Welche spirituellen Schön­ heiten in seinem Innern darauf warten, aufgerufen zu werden, das werden wir, möchte ich hoffen, zur gegebenen Zeit erfahren. 4. Kann der neue Golem an Gestalt und Produktivität zunehmen? Gewiß, würde ich sagen, obwohl wir vom Go­ lem von Rehovot eigentlich erwarten, daß er bei wach­ sender Leistung gerade im Ausmaß immer mehr zusam­ menschrumpfen und ein attraktiveres und gefälligeres Äußere annehmen wird. Ob der Golem von Prag imstande war, seine Irrtümer zu korrigieren, muß ich bezweifeln. Der neue Golem aber scheint auf manche Weise fähig zu sein, zuzulernen und sogar in gewissem Umfang sich sel­ ber zu verbessern. Das macht die heutigen Kabbalisten und Magier der Elektronik erfolgreicher als die alten, und 84

ich darf ihnen dazu gratulieren. Ja, noch mehr: der alte Golem, lernen wir in Goethes »Zauberlehrling«, diente seinem Meister, indem er Wasser heranschaffte. Der neue dient dem seinigen, dem Rabbi Chajim Pekeris, in­ dem er ihm hilft, die Meeresgezeiten zu berechnen - für einen Golem, der mit Wasser umgeht, immerhin eine eher fortschrittliche Art von Aktivität. $. Wie steht es mit dem Gedächtnis und der Fähigkeit zu sprechen? Welche Gedächtnisleistungen - wenn überhaupt - der alte Golem vollbringen konnte, wissen wir nicht. Der neue weist zweifellos in dieser Hinsicht eine große Verbesserung auf, wenngleich er, wie ich leider sagen muß, an gelegentlichen Gedächtnisstörungen und anderen är­ gerlichen, wenn auch vorübergehenden Schwächen leidet, welche seinen Meistern zu schaffen machen. Der Fort­ schritt im neuen Golem hängt also in gewisser Weise mit einem Rückschritt seinem früheren Zustand gegenüber zu­ sammen. Adam war, wenn wir den Rabbis glauben dür­ fen, niemals krank, und dasselbe gilt für den alten Golem der Kabbalisten. Der neue jedoch scheint, Gott seis geklagt, eine trübselige Neigung in dieser Richtung zu haben. Und was gar die Sprache betrifft und alles, was darin steckt - die Spontaneität der Intelligenz -, so erweist sich, daß es dem alten und dem neuen Golem in gleicher Weise daran merklich fehlt. Alle Welt ergeht sich in Spe­ kulationen darüber, wie es mit den fortgeschritteneren Formen des Golem gehen wird. Vorerst scheint es jedoch, daß wir uns auch noch für lange Zeit mit einem Golem abfinden müssen, der nur tut, was man ihm sagt, und keine eigene Initiative entwickelt. Es ist noch ein langer, langer Weg bis zu jener utopischen Gestalt eines Golem, von der eine berühmte Karikatur im »New Yorker« handelte. Da waren zwei Wissenschaftler zu sehen, die in größter Verlegenheit vor diesem »endzeitlichen« Golem 8j

stehen, während sie gebannt auf den Bandstreifen star­ ren, der seine letzte Information preisgibt. Unter dem Bildchen stand: »Das verfluchte Ding sagt: Cogito, ergo sum.* 6. Das bringt mich auf meine letzte Frage: Kann der Go­ lem lieben? In einem alten hebräischen Buch - das frei­ lich nicht ganz so alt ist, sondern sich nur so stellt - sind einige Aussprüche über den Golem zu lesen, die dem Ho­ hen Rabbi Löw zugeschrieben werden. Einer davon lau­ tet: »Der Golem war niemals krank, denn er war gegen jeden Impuls zum Bösen, aus dem alle Krankheit stammt, immun. Und er mußte ohne den sexuellen Trieb erschaffen werden; denn hätte er ihn mitbekommen, wäre kein Weib vor ihm sicher gewesen.« Ich muß es Ih­ nen überlassen, diese Frage für den neuen Golem zu be­ antworten, denn ich weiß wirklich nicht, was ich gerade in diesen Zeitläuften davon denken soll. Mein Leben lang habe ich darüber Klage geführt, daß das Weizmann-Institut nicht die Mittel aufgebracht hat, um ein Institut für experimentelle Dämonologie und Magie zu errichten, dessen Begründung ich schon lange vorge­ schlagen habe. Sie zogen etwas, was sie angewandte Ma­ thematik nennen, und deren sinistre Möglichkeiten der direkteren Magie vor, mit der ich an die Sache heran­ gehen wollte. Als sie Chajim Löw Pekeris mir vorzogen, hatten sie wohl keine Ahnung, auf welches moderne Abenteuer sie sich einließen. So gebe ich denn auf und sage nur zum Golem und seinem Schöpfer: entwickelt euch friedlich und zerstört die Welt nicht. Schalom.

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S. J. Agnon - der letzte hebräische Klassiker?

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Um das Ingenium eines zeitgenössischen hebräischen Schriftstellers wie Agnon zu verstehen, muß man sich den Stand des Hebräischen und der hebräischen Literatur ver­ gegenwärtigen, bevor Hebräisch wieder eine Sprache wurde, die Kinder auf dem Knie ihrer Mutter, beim Spie­ len auf der Straße und durch den Gebrauch als natür­ liches Ausdrucks-, Verständigungs- und Erziehungsmittel erlernten. Die hebräische Literatur vor unserer Genera­ tion hatte keinen dieser Vorteile. Sie nährte sich aus einer anderen Quelle. Hebräisch war die Sprache einer großen religiösen Tradition, in der fast alles abgefaßt war, was im Zusammenhang solcher Tradition wertvoll und bedeutsam war. Selbst nachdem das Hebräische (oder das Aramäische, das mit dem Hebräischen so eng ver­ wandt ist, daß es für das Bewußtsein der Juden so etwas wie einen jüngeren Zwilling darstellte) nicht länger als Umgangssprache der jüdischen Gemeinden gebraucht wurde, konnte es sich noch immer als Schriftsprache hal­ ten, weil es, über viele Generationen hin, in der Erzie­ hung und im Studium der Bibel und des Talmud einen zentralen Platz einnahm. Hebräisch blieb aber wichtig, nicht nur für eine numerisch wenig zahlreiche Elite, wie das etwa für das Lateinische galt, sondern für einen sehr beträchtlichen Teil der Ge­ meinschaft. Von jedermann wurde eine gewisse Kenntnis des Hebräischen erwartet, und das Studium von Bibel und Talmud war keineswegs etwa auf die beschränkt, die Rabbis oder Richter werden wollten. In manchen Ländern, wo das intellektuelle und religiöse Leben besonders inten­

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siv war, wie in Polen, Italien oder der Türkei, stellte He­ bräisch das hauptsächliche Ausdrucksmittel für das geistige Leben eines bedeutenden Sektors der männlichen Bevöl­ kerung dar. Freilich fehlte hier der Funke jener besonderen Vitali­ tät, der der Sprache von den Frauen her zufließt, und dieser Mangel macht sich in der Tat sehr fühlbar. Was aber blieb, war noch immer von außerordentlichem Reich­ tum. Hebräisch wurde die Sprache der literarischen Über­ lieferung, soweit sie einen Anspruch auf höhere Bedeu­ tung stellte. Bücher für das Frauenzimmer wurden mei­ stens in der jeweiligen Landessprache abgefaßt, fast alles andere aber, nicht nur Gelehrtes, sondern auch Chroni­ ken, Poesie und sogar Parodien, wurde hebräisch ge­ schrieben. Die Sprache war in allen Fasern von biblischen und talmudischen Assoziationen durchsetzt; es gab einen nie abreißenden Strom witziger und überraschender An­ wendungen alter Redensarten, Zitate oder deren spiele­ rische Variationen. Sehr oft wurde der Erziehungsgrad eines Juden nicht nur nach seiner Beherrschung von Bibel und Talmud bemessen, sondern nach seiner Fähigkeit, diese Quellen auf geistreiche Weise auch für weltliche Zwecke zu benutzen. Als die moderne hebräische Literatur sich zu entwickeln begann, vor allem im 19. und dem frühen 20. Jahrhundert, beruhte sie von vornherein auf einem Paradox: sie nährte sich von einer Sprache, die sich aus einer im wesentlichen religiösen Tradition herschrieb, aber nach profanen Zie­ len strebte. Schriftsteller von großem Talent und in ver­ einzelten Fällen von Genie taten ihr Bestes, um diese Ver­ wandlung des Hebräischen in eine Sprache der Profan­ literatur zu bewerkstelligen. In ihren früheren Stadien wandte sich diese neue Literatur vor allem gegen den ver­ steinerten Zustand der jüdischen Tradition und verlegte 88

sich auf die Kritik der vielen Mängel und Grundfehler in der Struktur der osteuropäischen jüdischen Gesellschaft. Später aber, besonders mit dem Heraufkommen der zio­ nistischen Bewegung, erhielt die Renaissance des Hebrä­ ischen einen positiveren Inhalt. Ein neues Leben kam in dem alten Lande Israels hoch, und die hebräische Literatur nahm sich vor, als das Verbindungsglied zwischen dem sich auflösenden Leben der Diaspora mit allen seinen innern Widersprüchen und der neuen Gesellschaft, die in Palä­ stina entstand, zu dienen. Aber selbst diese Renaissance und solche hervorragenden Schriftsteller, wie Bialik, Tschernichovsky oder Schneür, waren immer noch ge­ zwungen, Beschränkungen in den ihnen zur Verfügung stehenden Ausdruchsmitteln in Kauf zu nehmen. Hebrä­ isch blieb eine Sprache der literarischen Überlieferung, und selbst wo die großen Schriftsteller, die ich erwähnt habe, ihr späteres Leben in Israel verbrachten, hatte das gesprochene Hebräisch der heranwachsenden Generation keinen prägenden Einfluß mehr auf ihre Sprache. Agnon nimmt eine Stellung am Kreuzweg des Hebräischen ein. Das freilich ist eine Stellung, die einen Schriftsteller von Genie instand setzt, den Rang eines Klassikers zu er­ reichen. Er kann der Erbe der jüdischen Tradition in ihrer Totalität sein und hat die Chance, das Leben des jüdischen Volkes unter der Herrschaft der Überlieferung und unter dem Anprall der historischen Kräfte, die deren Auflösung bedingen, zu künstlerischer Gestalt zu bringen. Ist er ein großer Künstler, wird er unvergleichlich blei­ ben. Er kann ein klassischer Meister werden - aber er wird wohl der Letzte in dieser Linie sein. Agnon, der den Großteil seiner produktivsten Jahre in Israel verbracht hat, hat die Entwicklung des Hebräischen zur gesprochenen Sprache miterlebt, zu einer Sprache, die zuerst im Verfolg einer moralischen Entscheidung einer

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kleinen Gruppe von Utopisten gesprochen wurde, später von einer immer wachsenden Zahl junger Menschen, die in Israel aufwuchsen und keine andere Sprache kannten. Er besaß ein deutliches Bewußtsein dieses Prozesses, und er wußte, daß diese Metamorphose des Hebräischen auch einen entscheidenden Formverlust mit sich brachte. Es liegt auf der Hand, daß eine Sprache leicht chaotisch wer­ den kann, die nicht länger aus dem Studium alter Texte und aus bewußter Reflexion sich bildet, sondern aus un­ bewußten Prozessen, bei denen die Macht der Tradition nur eine nebensächliche Rolle spielt. Dieser chaotische Zug am gegenwärtigen Hebräisch wurde schon vor etwa vier­ zig Jahren, als Agnon sich endgültig in Israel niederließ, deutlich. Künftig könnte daraus sehr wohl sich ein Me­ dium bilden, in dem ein neues Genie seinen Ausdruck finden kann, aber diese Sprache wird dann in ihren Mit­ teln und Möglichkeiten wesentlich von der alten verschie­ den sein. Agnon, mit seinem hochentwickelten Sinn für Form, war offensichtlich von dieser Aussicht auf ein Hebräisch, das aus den Ketten der Tradition sich frei gemacht haben würde, alarmiert. Auch er erstrebte die Renaissance des Hebräischen, aber er arbeitete an ihr in den Steinbrüchen der Überlieferung und durch das Potential großer For­ men, das in ihr angelegt war. Da er ein Schriftsteller von höchsten Gaben war, geriet ihm die Form, um die er rang. Aber er wird möglicherweise, wie schon gesagt, der letzte große Autor in diesem Medium sein. Ist es doch eines der am meisten in die Augen springenden Ergebnisse der Wiedergeburt des Hebräischen als einer natürlichen Spra­ che, daß die Wörter den schweren Ballast historischer Töne und Obertöne abwerfen, der sich im Laufe von drei­ tausend Jahren heiligen Schrifttums angesetzt hat. Die Wörter haben eine neue Jungfräulichkeit erworben und

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können in einen neuen Zusammenhang treten, aus dem der alte und zuweilen stickige und bedrückende Geruch von Heiligkeit verdunstet ist. Natürlich haben die Schriftsteller der letzten beiden Ge­ nerationen gerade dies zu leisten versucht, aber schließlich lag ihnen die Last der Geschichte in den Knochen und brachte sich noch in ihrer Revolte zur Geltung. In dieser Hinsicht sind die neuen »Ignoranten«, für die die Bibel kein heiliges Buch mehr ist, sondern eine nationale Saga, und für die rabbinische und mittelalterliche Literatur ein Buch mit sieben Siegeln sind, in einer viel glücklicheren Lage als Agnon und seine Zeitgenossen. Sie können mit den Wörtern in einem Niveau bisher unerhörter Freiheit ringen. Freilich, die Gefahren der Wiedergeburt, die keineswegs geringer sind als die der Geburt, bedrohen auch sie. Niemand kann vorher sagen, was, von der Lite­ ratur her gesehen, aus diesem Wirbel und Chaos hervor­ kommen wird. Vorläufig ist nur mehr ein Stammeln zu vernehmen. Vieles in Agnons Werk stammt aus der glei­ chen Zeit wie diese ersten Stammelversuche junger isra­ elischer Autoren, und man darf von einer geheimen ge­ genseitigen Faszination sprechen, die zwischen diesen beiden herrscht, dem Inhaber des vorgeschobensten Po­ stens der hebräischen Sprache im alten Sinne und den Pionieren des Neulands, das sich jenseits davon erstreckt. Die anarchische Lebendigkeit, Gesetzlosigkeit und Rauh­ beinigkeit der neuen Sprache erschreckte Agnon und bil­ det in nicht wenigen seiner Geschichten einen Gegenstand seiner Ironie und seines Hohns. Aber der Leser kommt nicht von dem Gefühl los, daß immer mehr von diesem Werk als eine Art verzweifelter Beschwörung, als ein An­ ruf an die, die nach ihm kommen würden, entstand. Er scheint zu sagen: »Da ihr die Stetigkeit der Tradition und ihrer Sprache in ihrem ursprünglichen Zusammenhang

nicht mehr akzeptiert, so nehmt sie wenigstens in der Verwandlung an, die sie in meinem Werke durchgemacht hat, nehmt sie von einem an, der am Kreuzweg steht und nach beiden Richtungen schaut. < 2 Ich habe versucht, die Lage der hebräischen Literatur dar­ zulegen, soweit sie für eine Ortsbestimmung von Agnons Werk in unserer Zeit relevant ist. Um dieses Werk zu begreifen, müssen wir aber einen Blick auf seinen Urheber werfen. Beide sind, um das mindeste zu sagen, einiger­ maßen rätselhaft. Kein Wunder, daß im Laufe der letzten vierzig Jahre eine ziemlich umfangreiche Literatur zur Deutung der Agnonschen Schriften entstanden ist, in der sehr weit auseinanderliegende und sich geradezu aus­ schließende Gesichtspunkte vorgebracht worden sind. Manche dieser Kommentatoren haben sich in weit über das Ziel schießenden Interpretationen ergangen und vieles in Agnon hineingelesen, was mehr ihrem eigenen Sinn ent­ spricht. Freilich laden die offenkundigen Widersprüche in seinen Schriften zu solchen Exzessen geradezu ein. Diese Deu­ tungen kreisen vor allem um einen zentralen Punkt, näm­ lich Agnons Stellung zur historischen, ja zur religiösen Tradition des Judentums. Ist er als ein Sprecher dieser Tradition aufzufassen, als ein Bote, der seine Botschaft in einer besonders ausdrucksmächtigen künstlerischen Form abgibt, oder muß er eher als ein vollendeter Künst­ ler angesehen werden, der die Überlieferung zwar benutzt, um in ihrem Medium alle Verwicklungen des Lebens eines Juden in unserer Zeit zum Ausdruck zu bringen, der aber keine handliche Antwort auf die alte Frage: Wohin gehen wir? bereithält? Ist er ein großer Verteidiger des

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Glaubens, als den die Orthodoxen ihn in Anspruch ge­ nommen haben? Oder ist er eine Art existentialistisches Genie, das die Leerheit in aller Fülle und die Fülle der Leerheit aufzeigt? Gleicht er etwa eher jenem Mohren­ könig, der seinen Palast mit Gemälden weißer Menschen füllte, der ein Ideal aufstellt, über dessen Unerreichbar­ keit in unseren Zeitläuften er sich völlig klar ist? Obwohl Agnon ein großer Dialogist ist, war er, wenn es um diese Fragen ging, stets von größter Zurückhaltung. Er legt sich nicht gern fest. Er hat sein Werk produ­ ziert und überläßt es den Lesern, sich einen Reim darauf zu machen, und seinen Kommentatoren, sich gegenseitig in die Haare zu fahren. Ich würde sogar sagen, daß ihm dieses Schauspiel sichtlich Vergnügen macht. Ich kenne Agnon seit mehr als fünfzig Jahren und kann bezeugen, wie sehr sich im Laufe der Jahre seine eigene Perspektive verändert hat, und es scheint mir zweifelhaft, ob eine harmonisierende Deutung ihm gerecht werden kann. Als ich ihn kennenlernte, war er alles andere, als was man einen gesetzestreuen Juden nennen könnte, aber auch da­ mals ging man von ihm mit dem Eindruck weg, dem Träger einer großen geistigen Überlieferung begegnet zu sein. Und umgekehrt: Auch als er, in seinen späteren Jahren, ein gesetzestreuer Jude wurde, hinterließ er noch immer den Eindruck eines Mannes von vollkommener in­ tellektueller Freiheit und von gänzlich unorthodoxer Geistesart. Dies bestätigt sich auch aus seiner Biographie. Er begann noch als ein junger Bursche, vor mehr als sechzig Jahren, zu schreiben. Er wuchs in Buczacz in Ostgalizien (der jetzigen Westukraine) auf, einer alten und in sich ruhen­ den Gemeinde von nicht mehr als achttausend Juden, die zugleich auch ein Zentrum rabbinischer Schriftgelehrsam­ keit war. Er stammte aus einer Gelehrtenfamilie, und 93

einige seiner Vorfahren waren entschiedene Gegner des Chassidismus und alles dessen, wofür er einstand, andere aber hatten sich der Bewegung angeschlossen. Seine frü­ hesten Jugenderfahrungen spiegeln diese beiden Welten des Chassidismus und seiner Gegner wider, die die Phy­ siognomie der jüdischen Frömmigkeit in dem Galizien des 19. Jahrhunderts bestimmten. Außerhalb der traditionel­ len talmudischen Erziehung, vor allem bei seinem Va­ ter, erhielt er kaum eine ins Gewicht fallende formale Bildung. Als er heranwuchs, verbrachte er die meisten Jahre in dem alten Lehrhaus seiner Stadt, das sich einer groß­ artigen hebräischen Bibliothek rühmen durfte, die er un­ terschiedslos und glühend verschlang. Er wurde schon früh ein Bücherwurm, aber die alten Bücher taten das Ihre, seine Imagination anzufeuern. Er schrieb Anmerkungen und Deutungen zu den alten talmudischen Wälzern, zu­ gleich aber begann er Geschichten und Gedichte im Stile der Hasfea/a-Schriftsteller zu produzieren, das heißt jener Bewegung, die im 19. Jahrhundert Aufklärung und euro­ päische Kultur ins Hebräische zu verpflanzen unternahm. Galizien bildete damals eines der Zentren der neuhebrä­ ischen Literatur, und die dortigen Schriftsteller galten weithin als Meister des hebräischen Stils. Noch in seiner Jugend schloß sich Agnon den Zionisten an. In verschollenen Lokalblättern des hebräischen und jid­ dischen Zeitungswesens begann Agnon, um 1904, seine li­ terarische Laufbahn. Einer seiner ältesten Freunde, Elie­ ser Mei'r Lipschitz, mit dem er bis zu dessen Tod eng befreundet blieb, sagte damals in Lemberg zu ihm: »Wer­ de dir darüber klar, was du eigentlich werden willst, ein talmudischer Schriftgelehrter oder ein Erzähler und Dich­ ter.« Agnon traf seine Wahl schon früh. Das Jiddische freilich, dessen unvergleichliche anarchische Lebendigkeit

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seinem Sinn für Form weniger entgegenkam als das He­ bräische, gab er bald auf, und seitdem er 1907 nach Pa­ lästina ging, benutzte er es nie wieder als literarisches Medium. Sein lebenslängliches Ringen mit dem Hebräischen als Ma­ terie und Form seiner Inspiration nahm schon in jenen ersten Emanationen seines literarischen Genius als Erzäh­ ler, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Pa­ lästina veröffentlicht wurden, großartige Gestalt an. Ihre Wirkung war unmittelbar. Seine erste Erzählung, die er drüben schrieb, ein sehr ly­ risches und melancholisches Stück, mit dem Titel »Agunot« (»Verlassene Seelen«) steht noch heute als ein klassisches Stück phantasievoller Prosa da. Wer ein Ohr für he­ bräische Prosa hatte - und deren gab es damals nicht we­ nige in Palästina -, wußte sofort, daß man es hier mit einem ganz neuen Phänomen zu tun hatte. Ein Kritiker schrieb damals, 1913, von dieser Erzählung: »Bei ihrer Lektüre lief ein elektrischer Strom durch die Leser­ schaft.« Kein hebräischer Schriftsteller vor ihm hätte ge­ wagt, eine Kurzgeschichte mit einem langen Zitat aus einem der alten und vergessenen Bücher, mutmaßlich aus einem kabbalistischen, als Leitmotiv zu eröffnen. Und welch größeres Paradox läßt sich denken als der Er­ scheinungsmodus von Agnons erstem Buch »Und das Krumme wird gerade*, das in vielen Fortsetzungen in der Wochenschrift der sozialistischen Gruppe »Hapoel Haza’ir* erschien, einer Gruppe, die sehr stark unter dem Einfluß Tolstois und der russischen Narodniki stand. Die Geschichte behandelt ein Enoch-Arden-Motiv, wel­ ches hier innerhalb eines streng traditionellen chassi­ dischen Rahmens entwickelt wird. Sie ist nicht geradezu in dem Stil der alten Andachtsbücher geschrieben, wohl aber in dem Stil, den deren Autoren, falls sie große

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Künstler gewesen wären, benutzt hätten. Joseph Chajim Brenner, der als erster Agnons literarisches Genie er­ kannte und seine letzten Schillinge zusammenkratzte, um diese Geschichte in Jaffa 1912 als Buch zu veröffentlichen, war ein überzeugter Atheist, während, um das beiläufig zu erwähnen, der Setzer des Buches ein ebenso überzeug­ ter Anhänger des Rabbi Nachman von Brazlaw war, eines der letzten großen Heiligen des Chassidismus. Wir wissen zuverlässig, daß beide Männer von dem Buch aufs höchste hingerissen waren und damit sozusagen alle spä­ teren gegensätzlichen Haltungen der Bewunderer Ag­ nons einnahmen. Für Brenner stellte es das erste Werk profaner hebräischer Literatur dar, wo jüdische Tradi­ tion ein reines künstlerisches Medium geworden war und nicht mehr von kunstfremden Faktoren wie Kritik oder Apologetik der jüdischen Gesellschaft bestimmt wurde. Für Meir Brazlawer, den ich viele Jahre lang gut gekannt habe, eine ganz reine Seele, stellte es eine authentische Verkörperung chassidischer Lehre und chas­ sidischen Lebens dar. In jenen Lehrjahren während seines ersten palästinen­ sischen Aufenthalts konnte sich Agnon in der Tat in bei­ den Lagern zu Hause fühlen. Er bewegte sich mit der glei­ chen Leichtigkeit unter den ersten Pionieren der zweiten Einwanderungswelle, die die Erneuerung des jüdischen Volkes statt durch Sozialrevolution durch die Tolstoianische Religion der Arbeit und durch eine humanistische Erneuerung der Herzen bewerkstelligen wollten. Er machte sich ihre Vision des Zionismus als der einzigen Hoffnung für eine jüdische Zukunft zu eigen, wenn auch dieser Zionismus in seinen Schriften stets eine auffallende Blässe hat. Zugleich aber konnte er enge Beziehungen mit den Ver­ tretern traditioneller Frömmigkeit herstellen. Zweifellos

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gab es in seiner Haltung zu den beiden Lagern einen deut­ lichen Tonunterschied. Er hatte die Welt der Überliefe­ rung, wie er sie in seiner Jugend kennengelernt hatte, be­ wußt verlassen, war aber dennoch von dieser Welt ganz durchdrungen und fasziniert. Von der günstigen Position einer großen Bewegung, die dieses Leben zu verwandeln unternahm, her gesehen, schienen die Tradition und ihre Vertreter nach künstlerischer Gestaltung zu rufen. Gewiß, die verzauberte Welt der alten, orthodoxen Einwohner, die noch vor den Zionisten an die heiligen Stätten gegan­ gen waren, konnte in jenen Jahren für den jungen Agnon keine gültige Botschaft von der Wiedergeburt des jü­ dischen Volkes enthalten. Wohl aber versah sie ihn mit einem großen Vorrat seltsamer und sonderbarer Figuren und mit Anregungen, die nur aus dieser Atmosphäre her­ kommen konnten. Schien doch hier das Leben von Jahr­ hunderten in einer überaus merkwürdigen Mischung von Unsterblichkeit und Verfall stillzustehn. Die Begegnung mit dieser Welt des alten Jerusalem stellte einen jungen Künstler, der auch in ihr einen untergründigen Teil seiner selbst wiedererkannte, vor große Aufgaben. Agnon hatte das Leben des jüdischen Palästina in jenen Vorkriegsjahren in sich aufgenommen und suchte sich für einige Zeit von diesen beiden Zentren, die sein Leben bis dahin bestimmt hatten, Galizien und Palästina, zu lösen. Er suchte einen Ort zur weiteren Entwicklung und für die Kristallisation seiner künstlerischen Erfahrungen. So ging er 1913 eigentlich nur für ein paar Jahre nach Deutschland, wo ihn aber der Krieg festhielt, so daß er dort bis 1924 blieb, als er endgültig nach Jerusalem zu­ rückkehrte. Diese Jahre in Deutschland sollten sich für sein Werk als sehr folgenreich erweisen. Er traf hier eine neue Spezies von Juden, die ihn in Staunen setzte. Sosehr sie 97

seine Neugierde erregten, war er doch in keinem tiefem Sinn in ihre Angelegenheiten, wie etwa in die der Galizianer, verstrickt. Er konnte sich hier ungehindert im Exil fühlen und zugleich die unbeteiligte Heiterkeit eines Mannes spüren, der weiß, wohin er gehört. Er war noch immer ein unverwüstlicher Leser, und als ich ihn zuerst sah, war das in der ausgezeichneten Bibliothek der jü­ dischen Gemeinde in Berlin, wo er, wie er behauptete, nach Büchern Ausschau hielt, die er noch nicht gelesen hätte. Um diese Zeit kam er auch in engen Kontakt mit europä­ ischer Literatur und war besonders ein großer Leser von Hamsun. Er hatte schon damals eine ausgesprochene Neigung zum Perfektionismus und schrieb seine Geschich­ ten sechs- oder siebenmal um, ein Zug an ihm, der bald zum Alpdruck seiner Verleger wurde, da er auch noch während der Korrekturen seine Schriften unermüdlich umzuschreiben pflegte. In jenen deutschen Jahren ver­ öffentlichte er relativ wenig, arbeitete aber ausdauernd an Umarbeitungen seiner älteren Erzählungen und an neuen. Er schrieb damals auch viel Gedichte und einen langen autobiographischen Roman, in dem er kritische Abrech­ nung mit seinen Jugendjahren und den Bewegungen, die sie geformt hatten, hielt. Das einzige Kapitel daraus, das erhalten und veröffentlicht ist, zeichnet ein bitteres und geradezu vernichtendes Bild des galizischen Zionismus in seiner Jugend. Ich sagte: das einzige Kapitel, denn im Juni 1924 fielen alle seine Manuskripte und sonstigen Papiere, mit seiner sehr wertvollen hebräischen Bibliothek, einem Feuer zum Opfer, das in seinem Hause in Homburg vor der Höhe ausbrach. Diese Katastrophe bildete einen Wendepunkt in Agnons Leben. Er war nie wieder derselbe, und wer vermag in der Tat die Wirkung eines solchen Schlages auf die Persönlichkeit eines großen Künstlers zu ermessen?

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Agnon mußte von Grund auf wieder anfangen. Er gab das Gedichteschreiben auf und versuchte auch nie, seinen verlorenen Roman zu rekonstruieren. Er leistete auf das Verlorene Verzicht und ging von dem aus, was er hatte, seiner eigenen schöpferischen Phantasie. Einige Monate nach dem Brand kehrte Agnon nach Je­ rusalem zurüdc. Er fühlte sich immer tiefer und unlös­ licher an diese Stadt gebunden und nahm eine konser­ vative Lebenshaltung im Rahmen der jüdischen Tradition an. Im Laufe von mehr als fünfundzwanzig Jahren ist er nur einmal in die Diaspora zurückgekehrt, und zwar nach einem anderen Schock, als nämlich sein Haus in einer Vor­ stadt Jerusalems während der Unruhen von 1929 von Arabern geplündert wurde. Er machte einen kurzen Be­ such in seiner Geburtsstadt und hielt sich fast ein Jahr in Deutschland auf, wo die ersten vier Bände seiner ge­ sammelten Schriften erschienen, an deren Redaktion er fünf Jahre Arbeit gewandt hatte. Diese Reise war seine letzte Begegnung mit Europa und den Juden Europas, eine Begegnung, die ihren Eindruck in seinem Bewußtsein hinterließ und ein Ferment in eini­ gen seiner bedeutendsten späteren Schriften bildete. Frei­ lich bestand kaum eine weitere Notwendigkeit für ihn, die Diaspora aufzusuchen - kam doch die Diaspora nun zu ihm, in den immer mehr anschwellenden Wellen der Ein­ wanderung nach Palästina. Sein Schäften nahm in diesen Jahren immer breitere Dimensionen an. Es ist in diesem Zusammenhang keineswegs überflüssig, von Agnons besonderer Begabung als Anthologist zu sprechen. Sie stellt viel mehr als eine Nebenlinie seiner Schriftstellerei dar. Er war zwar nie ein Gelehrter im Sinne einer Leidenschaft für historische und kritische Ana­ lysen oder eines Studiums der Erscheinungen in einem be­ grifflich durchdachten Rahmen. Dennoch besaß er eine

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ausgesprochene Neigung zu gelehrter Arbeit, die seiner Liebe für das Studium der Originalquellen entsprach. Er hatte einen wachen Sinn für das Bedeutende und Sonder­ bare, das in den weiten Gefilden der hebräischen Literatur anzutreffen war, und eine Begabung zur Synthese. Schon während seiner ersten deutschen Jahre gab er, auf deutsch, zwei Anthologien heraus, Das Buch von den pol­ nischen Juden* und »Maos Zur, ein Chanukkah-Buch*. In Jerusalem verwandte er viel Arbeit und Zeit auf drei Anthologien, in die er ein großes Stück von sich selber hineinsteckte. Sie stellen eine vollendete Mischung seiner Gaben als Gelehrter und Kenner mit seinen Ansprüchen als Schriftsteller und Meister der Form dar. Es sind in ih­ rer Art hervorragende Werke. Das eine ist eine Antholo­ gie der Traditionen, Legenden, Gebräuche und gelehrten Erklärungen über alles, was in den zehn Tagen zwischen dem Neujahrsfest und dem Versöhnungstag sich bei frommen Juden abspielt, »aus dreihundert Bänden, alten und neuen, zusammengestellt«, und es existiert auch eine abgekürzte englische Ausgabe davon. Agnon war sich des Wertes dieser Anthologie über die höchsten Feiertage der Juden sehr bewußt und war sich auch klar darüber, daß man ihn rechts und links bestehlen würde (woran es nicht gefehlt hat). Mit seinem etwas sarkastischen Hu­ mor nahm er eine Anzahl besonders großartiger Stücke eigener Produktion auf, die er einem erfundenen Buch Kol Dodi, »Die Stimme meines Freundes«, zuschrieb, das in der Bibliographie am Ende ganz harmlos und unschuldig als ein »Manuskript im Besitze des Autors« figuriert. Eine andere Anthologie, »Bücher und Autoren*, enthält Geschichten und Anekdoten über hebräische Bücher und deren Autoren und entsprang Agnons unlöschbarem In­ teresse für die Geschichte des jüdischen Buchwesens. Es ist ein wundervolles Buch, das aus völlig unerfindlichen Grün-

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den bisher nur in einem Privatdruck vorliegt. Die letzte dieser Anthologien ist eine Sammlung von Aussprüchen aus der jüdischen Literatur über die Zehn Gebote. Diese Bücher, an deren Vorbereitung er Jahre gearbei­ tet hat, müssen ihm selbst sehr viel bedeutet haben. Er machte sich in ihnen zu einem Instrument, durch das die reine Stimme der Überlieferung in all ihrem hochgezüch­ teten Lakonismus vernehmbar werden würde, und oft ge­ nug mischt sich dabei seine eigene Stimme ununterscheid­ bar in die der Originalquellen. Vor mehr als vierzig Jahren hatte er auch einen großen Thesaurus chassidi­ scher Geschichten geplant, zu dem er sich mit Martin Buber zusammengetan hatte. Er hatte die Arbeit begonnen, als die ersten Stöße des Manuskripts den Flammen zum Opfer fielen, und der Plan wurde dann aufgegeben. Diese gelehrten Neigungen Agnons zeigen seinen Genius im Dienst des Handwerks. Er kommt in diesen Arbeiten unauffällig, aber wirksam zur Geltung. Es ist dabei be­ merkenswert, daß der einzige große hebräische Schrift­ steller, mit dem Agnon sich auch persönlich vollkommen verstand, Chajim Nachman Bialik war, der große Dich­ ter, der die gleiche Neigung und Befähigung zum schöp­ ferischen Anthologisten hatte. Man darf sagen, daß Agnon sich in der Gesellschaft von Schriftstellern nie so wohl fühlte wie in der von Ge­ lehrten, die übrigens, einigermaßen überraschend, als zen­ trale Gestalten in einigen seiner erstaunlichsten Erzäh­ lungen aus der Gegenwart auftreten. Der Beruf des Schriftstellers oder Künstlers als solcher zog seine Phan­ tasie kaum besonders an, ganz anders der des Gelehrten, dessen unabgelenkte und weitgehend aussichtslose Kon­ zentration auf einen Gegenstand der Erkenntnis eine dunkle Faszination auf ihn ausübte, wie sie etwa in der Erzählung >Iddo und Einamt zutage tritt, einer hinterIOI

grundigen Geschichte über Größe und Scheitern der Wissenschaft.*

3 Das Œuvre Agnons in diesen sechzig Jahren reicht von kurzen Geschichten, manchmal ungewöhnlich kleinen Um­ fangs, bis zu umfangreichen Chroniken und Romanen, die das jüdische Leben vor allem der letzten vier oder fünf Generationen widerspiegeln. Mit Recht haben viele Kri­ tiker auf die offenkundige Spannung zwischen dem Künst­ ler und Traditionalisten in Agnon hingewiesen. Sie gehört zu seinem Wesen. Er ging von der Tradition aus, aber eher, indem er sie als sein Material verwandte. Von da verlief sein Weg doppelgleisig: Einmal, indem er immer tiefer in diese Tradition, ihre Größe und ihre Vertrackt­ heiten eindrang; zum andern, indem er ihre Zweideutig­ keiten freilegte, sie dabei gleichsam im Unbestimmten hinter sich ließ und statt dessen von der Unsicherheit und Verlorenheit des modernen Juden ausging, der mit sich selber zu Rande kommen muß, oder aber bei diesem Un­ ternehmen scheitert, ohne das wegweisende Licht einer Überlieferung noch zur Verfügung zu haben, die aufgehört hat, sinnvoll zu sein. Im Jüdischen kreist die Ellipse seines Werkes im wesent­ lichen um zwei Pole, die Welt von Buczacz und des pol­ nischen Judentums überhaupt, und die Welt des neuen Le­ bens, das im alten Mittelpunkt, in Israel, heranwächst. Beide Welten werden in jener eben gekennzeichneten Zweigleisigkeit, die für Agnon so charakteristisch ist, an­ gegangen, was manche seiner Leser einigermaßen in Ver­ wirrung gestürzt hat. * Eine deutsche Übersetzung dieser Novelle ist in dem in Zürich 1964 erschienenen Sammelband »Hebräische Erzähler der Gegenwart« ent­ halten.

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Die Welt fester jüdischer Werte und die Welt äußerster Konfusion scheinen bei ihm oft durch zwei oder drei Ge­ nerationen getrennt zu sein, aber dieser erste Eindruck ist irreführend. Denn große Spannungen machen sich sogar innerhalb der Welt der Überlieferung geltend, ihrer scheinbaren Einfachheit zum Trotz, und der Dualismus von Harmonie und Auflösung wird auch in den Kämp­ fen, um die es in der Epoche des Autors selber geht, sicht­ bar. Jetzt scheint das Durcheinander, die Konfusion, vor­ zuherrschen, aber noch immer besteht ein labiles Gleich­ gewicht zwischen den beiden Kräften. Ein vergessener Winkel wie die kleine Stadt Buczacz konnte noch immer die ganze Welt menschlicher Leidenschaften und Ambi­ tionen, unendlichen Reichtums und abgründiger Trauer­ spiele in sich fassen, und genauso hätten sich im Ringen um ein neues Leben im alten Lande die unendlichen Zwei­ deutigkeiten und inneren Probleme des Zionismus deutlich abgezeichnet, hätte Agnon seinen Plan ausgeführt und die versprochene Fortsetzung seines Romans über das Le­ ben in Palästina vor dem Ersten Weltkrieg geliefert. Agnon begann mit kurzen Erzählungen und erreichte in dieser Form fast sofort eine Vollendung, die den Leser atemlos läßt. Mehr als zwanzig Jahre intensiver Produk­ tivität vergingen, bevor er sein erstes wirklich langes Buch veröffentlichte, eine Chronik des jüdischen Lebens im chassidischen Galizien vor hundertfünfzig Jahren, die in vieler Hinsicht auf der Grenzscheide zwischen einer No­ velle und einem Roman steht und selber einen Rahmen für viele andere kleinere Erzählungen abgibt. Viele dieser ersten Erzählungen, die ihn weithin bekannt machten und die als klassische Produkte ihrer Art be­ trachtet werden müssen, sind Legenden aus der jüdischen Vergangenheit. Das Geheimnis ihrer Vollendung beruht darin, daß sie auf kleinstem Raum einen unendlich rei-

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dien Inhalt zum Ausdruck brachten. Unübertroffen sind in dieser Art die Meisterstücke im dritten Band seiner Ge­ sammelten Schriften, von denen viele von einem Geist un­ endlicher Trauer durchzogen sind und doch zugleich etwas ebenso Trostreiches an sich haben. Dies Ineinander von Trost und Trauer ist ein tief jüdi­ scher Zug in Agnons Schaffen. Hierher gehört etwa die ungeheuer verhaltene Geschidite von Asriel Mosche, dem Lastträger, einem ganz ungebildeten Mann, der sich so in die Bücher in der großen Bibliothek des Lehrhauses verliebte, daß er die Titel aller Bücher aufschrieb und auswendig lernte, deren Inhalt er nie imstande sein würde zu verstehen, und schließlich der Büdierwart im Lehr­ haus wurde und die alten Bände mit seinem Körper deckte, als er während einer der Verfolgungen den Mär­ tyrertod starb. Oder da ist die Geschichte von dem Boten aus dem Heiligen Land, der vor einer hochgelehrten jüdi­ schen Gemeinde in Polen einen talmudischen Vortrag hielt, aber von den Gelehrten dort derartig mit Einwänden und Spitzfindigkeiten bedrängt und ad absurdum geführt wurde, daß er nicht weiterkonnte und die Stadt unter Trä­ nen verließ, worauf die Synagoge, die Zeuge seiner Beschä­ mung gewesen war, sich ihm nach in Bewegung setzte. Manche dieser Legenden sind von irgendeinem eindrucks­ vollen talmudischen Satz inspiriert. Wir haben hier auch die Geschichte von dem armseligen Essigmacher, der ganz allein in dieser Welt stand und Pfennig um Pfennig zu­ sammentrug, um ins Heilige Land zu fahren, und der, auf der Suche nach einem sicheren Hort für seine Ersparnisse, sein Geld in den Opferstock unter dem Christus am Kreuzweg tat. Als er schließlich sein Geld holen wollte, wurde ihm für den Raub an Kirchengeldern der Prozeß gemacht. »Jener Mann«, wie Jesus im Hebräischen heißt, kam aber in seine Zelle und trug ihn am Saume seines Ge­ 104

wandes nach Jerusalem, wo ihn seine Landsleute tot vor ihrem Versammlungslokal fanden. - Agnon, der von Narren (an denen es auch in Israel keineswegs fehlt) da­ für angegriffen wurde, Christus hier glorifiziert zu haben, behauptete später, diese Geschichte sei eine bittere Alle­ gorie auf das Versagen des politischen Zionismus, der sich an die Rockschöße der leeren Versprechungen der Englän­ der geheftet habe, mit denen man bestenfalls im Heiligen Lande anlangt, aber dabei, auf den harten Boden der Wirklichkeit stürzend, ums Leben kommt. Ich glaube nicht an diese listige Deutung. Agnon hat im Laufe der Jahre eine große Anzahl solcher Geschichten kleinsten und mittleren Umfangs geschrieben. Manche davon erzählen just eine Episode, andere drän­ gen eine hochdramatische Entwicklung dicht zusammen. Einige solcher Episoden habe ich schon erwähnt. Von den mehr dramatischen Geschichten läßt sich schwer entschei­ den, welche davon das größte Lob verdienen. Ich will nur drei nennen, die mir von höchstem Rang scheinen und die auch in deutscher Übersetzung vorliegen. Es sind »Die Erzählung vom Toraschreiber*, »Die Scheidung des Dok­ tors* und »Zwei Gelehrte aus unserer Stadt*. Die erste Geschichte erzählt von einem Toraschreiber, dessen Weib nach einem Kinde schreit und ihren Gatten, einen Mann von untadeliger Frömmigkeit, anfleht, beim Himmel zu intervenieren. Aber sie stirbt jung, bevor ihr Wunsch erfüllt wird. Ihr Mann, dessen Handwerk mit vielem chassidischen und kabbalistischen Detail geschil­ dert wird, schreibt eine Torarolle zu ihrem Gedächtnis und stirbt, nachdem er sie beendet hat, nach dem Fest der »Torafreude«, des letzten Tages des Herbstfestes, in einer ekstatisch-erotischen Vision seiner toten Frau. Der Erzäh­ ler verzichtet auf alle psychologische Instrumentation und gibt doch ein volles Bild von der dramatischen Spannung

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in dem Leben Raphaels, des Toraschreibers. Dies ist eine der nicht sehr zahlreichen Geschichten Agnons, die in hoch­ feierlichem Stil geschrieben sind, ja man würde fast erwar­ ten, sie auf einer Pergamentrolle in den monumentalen Buchstaben, die die Toraschreiber benutzen, zu lesen. Ganz anders stellen sich die beiden andern Erzählungen dar, wo ein einzelnes Geschehnis den Lauf eines ganzen Lebens bestimmt. Der Arzt in Wien heiratet eine Kran­ kenschwester, die ihm, als sie seine Werbung annahm, ge­ standen hat, ein Verhältnis mit einem andern Mann ge­ habt zu haben, bevor sie ihn kennenlernte. Dies Wissen aber zerstört die Ehe von Anfang an. Er bringt es nicht fertig, mit diesem Wissen zu leben, und eine tiefe und echte Liebe wird so von innen heraus ruiniert. Im Gegensatz zu dem ausgesprochenen Lakonismus die­ ser Seiten steht die ausführliche Beschreibung der Lebens­ läufe zweier Freunde, die sich unter dem immer längeren und düsteren Schatten einer leicht hingeworfenen, mali­ ziösen Bemerkung abspielen, die der eine einmal in einer sonst freundschaftlichen Unterhaltung hat fallenlassen. Sein Freund hat diese Bemerkung in sich hineingefressen, und sie zehrt an der Wurzel seines Lebens. Rabbi Schlomo, dem die böse Bemerkung entschlüpft war, steigt offenkundig von Erfolg zu Erfolg und sucht zugleich ver­ geblich die stumme, aber unerbittliche Feindseligkeit sei­ nes früheren Freundes, des Rabbi Mosche Pinchas, zu be­ sänftigen. Dessen Herz ist aber unheilbar angeschlagen, und jeder neue Schritt, den der Freund zu einer Wieder­ versöhnung tut, macht seine Bitterkeit nur noch größer. Beide sind talmudische Gelehrte höchsten Ranges, aber es gibt auf der Welt keinen Platz für sie zusammen. Die Geschichte wird mit einer unheimlichen Logik und groß­ artigen psychologischen Einsicht erzählt. Das Licht der Tora reicht nicht aus, um ein erfrorenes Herz zu wärmen. 106

Diese bittere Wahrheit wird hier aber nicht mit der pole­ mischen Leidenschaft eingehämmert, die jeder frühere he­ bräische Autor in sie hineingelegt hätte, sondern mit einem tiefen Verständnis und einer überlegenen Ruhe und Unbeteiligtheit, die daraus eine der größten Erzählungen der hebräischen Literatur überhaupt gemacht haben. Ich habe von den menschlichen Leidenschaften geprodien, die in Agnons Werken ihre natürliche Stelle einnehmen. Von einigen seltenen und freilich denkwürdigen Ausnah­ men abgesehen, zeichnet sich aber Agnons Erzählungsstil durch eine ganz ungewöhnliche Verhaltenheit, durch das Fehlen von Pathos und Gefühlsausbrüchen aus. Kaum je erhebt er seine Stimme, und es gibt in allen seinen Schriften nicht eine Spur von expressionistischer Hysterie. Oft genug beschreibt er Situationen, die wohl ein bißchen davon vertragen könnten, aber er läßt es sich immer ange­ legen sein, sie mit ruhiger, ja leiser Stimme zu über­ mitteln. Zweifellos kam ihm dabei die außerordentliche Nüch­ ternheit der rabbinischen Prosa, des Stiles der Mischna und des Midrasch, die auf seine Schreibweise so tiefen Ein­ fluß gehabt haben, zu Hilfe. Diese Prosa liebt keinen Ge­ fühlsüberschwang, und ihre strenge Zurückhaltung macht sich gerade da geltend, wo Agnon es mit Situationen ho­ her emotionaler Spannung zu tun hat. Dies gilt besonders auch von seinen chassidischen Erzäh­ lungen, einem Genre, in dem die Darstellung der Einwir­ kung der Mystik auf das Leben der Juden fast jeden anderen hebräischen Schriftsteller, der sie zu schildern un­ ternommen hat, zur Sentimentalität zu verführen drohte. Agnon, der tief in die sachliche Prosa der kabbalistischen Literatur, in der die Juden mystische Verhältnisse dar­ gestellt haben, eingedrungen war, hat einen anderen Weg gefunden, um den von solchen Situationen gestellten An­

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forderungen gerecht zu werden. Ein langer Weg führt von der häufig schrillen Sentimentalität der bedeutenden chassidischen Geschichten von Juda Leib Perez zu Agnons Beschreibungen der Welt des Chassidismus. Auch in die­ sen Teilen seiner Schriften herrscht eine Art perfekter Bonhomie und Urbanität. Das Wunderbare verwebt sich bei ihm aufs engste mit der nackten Wirklichkeit, ja es ist ein Teil von ihr. Und es sind, darüber hinaus, nicht etwa die Heiligen und deren ekstatische Entrückungen, die die eigentlichen Gegenstände eines Interesses bilden - sie kommen fast nur in Zitaten oder in Geschichten, die andere von ihnen erzählen, vor sondern der kleine Mann, das Glied der chassidischen Gemeinde, für den das Leben auf allen Ebenen zugleich von vollendeter Realität als auch voll unausschöpfbarer Mysterien ist. Er gibt den eigentlichen »Helden« dieser Erzählung ab. Der Boden, auf dem selbst der fromme Jude sich bewegt, ist dünn genug. Dunkle Mächte lauern überall, und die Magie des Gesetzes scheint gerade noch ausreichend, um sie in Schach zu halten. Nur ganz wenig, ein kleiner Ruck, gehört dazu, daß dieser Boden nachgibt und den Men­ schen, sogar innerhalb des Bereiches des Gesetzes, ge­ schweige denn außerhalb, als eine Beute der Dämonen zu­ rückläßt, die möglicherweise nichts anderes sind als seine eigenen Unsicherheiten und Verworrenheiten. Agnon, der dieser Seite der menschlichen Erfahrung große Aufmerk­ samkeit zugewandt hat, hat sich nicht darauf festgelegt, was nun der wahre Charakter des Schauplatzes, auf dem diese seltamen Vorkommnisse sich abspielen, sei. Seine Geschichten über solche unheimlichen Erfahrungen, mit größter Durchsichtigkeit und realistischer Einfachheit er­ zählt, sind in seinem »Buch der Geschichten* oder »Buch der Vorkommnisse* gesammelt, das der kafkaesken Na­

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tur der dort beschriebenen Erfahrungen halber viele Kon­ troversen nach sich gezogen hat.* Vielen erscheinen diese Erzählungen geradezu als ein Ge­ genpol zu seinen andern Schriften, in denen er sich von der Welt der Überlieferung, deren Bruchstellen und Zwei­ deutigkeiten bei ihm so oft unverstellt zum Vorschein kommen, weit entfernt hat. Andere verstehen sie vielmehr als eine komplementäre Ergänzung zu seinem früheren Œuvre, und viele zogen es einfach vor, nicht hinzu­ schauen und von der Existenz dieses recht beunruhigen­ den Buches keine Notiz zu nehmen. Dabei ist offensicht­ lich, daß hier etwas gestaltet werden sollte, was für Agnons künstlerisches Vorhaben von größtem Gewicht war. Das Paradox, das jedem Schritt, den der Mensch in der Welt unternimmt, innewohnt, spricht sich schon in der völligen Unangemessenheit des Titels aus - das hebräische Wort ma’assim bedeutet zugleich Taten, Geschichten und Vorkommnisse -, denn gerade die Unmöglichkeit, auch nur die kleinste Tat zu vollziehen, ist es, um die es sich in diesem Buche dreht. Mit jedem Versuch zu solchem Vollzug tut sich ein unentwirrbares und trostloses Durcheinander auf, aus dem es kein Entrinnen gibt, es sei denn durch eine Art von Deus-ex-machina-Lösung oder durch ein Aufwachen aus einem Alptraum. In der Tat würde ich sagen, daß viele dieser Geschichten einfach Beschreibungen von Träumen darstellen. Dieses * Unter den vielen charakteristischen Zügen, die Kafka und Agnon gemeinsam sind, will ich hier nur einen erwähnen. Max Brod sagt über Kafka: »Es war so gut wie unmöglich, mit Kafka über abstrakte Dirige zu spredien. Er dachte in Bildern und sprach in Bildern. Was er fühlte, suchte er auf die einfachste und direkteste Weise auszu­ drucken, das Resultat war aber nichtsdestoweniger meistens sehr kom­ pliziert und führte zu endlosen Spekulationen ohne irgendeine wirkliche Entscheidung.« Dies gilt im genauesten Verstand auch für Agnon, wovon ich midi immer wieder habe überzeugen können.

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Traumelement steckt aber auch in den einfachsten Vor­ kommnissen des täglichen Lebens. Der Erzähler will etwa einen Brief einwerfen oder einen Freund aufsuchen, aber auch das erweist sich als ein ganz aussichtsloses Unter­ nehmen. Was diese Aussichtslosigkeit bedingt, läßt sich nicht eindeutig festlegen. Es können ebensogut die ein­ fachsten Hindernisse und Hemmungen des täglichen Le­ bens sein, die sich dem Menschen in den Weg stellen, oder etwas wie die »Tücke des Objekts«, um mit Friedrich Theodor Vischer zu sprechen; es kann sich aber gleicher­ maßen um einen Alptraum surrealistischen Charakters handeln. Auf jeden Fall wird völlig klar, daß es auch beim geringsten Schritt in der Wirklichkeit nicht die lei­ seste Sicherheit gibt, um wieviel weniger noch in den Be­ reichen der Transzendenz. Gewiß sollte es uns nachdenklich stimmen, daß all dies gerade von einem Autor kommt, der sich im vollen Besitz der Erbschaft jener Überlieferung weiß, deren Abwesen­ heit oder Unzugänglichkeit oft, und mit Recht, als ein entscheidender Faktor in der Welt Kafkas erscheint. Agnon war freilich keineswegs der erste, der die Löchrigkeit oder sollte ich sagen: Durchlässigkeit der Überlieferung wahrnahm. Er konnte - und tat es wohl auch - über die­ sen Stand der Dinge viel aus den Lehren und den bei den Juden berühmten Erzählungen des Rabbi Nachman aus Brazlaw (aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts) lernen, die aus derselben Inspiration stammen. Wäre die »Geschichte von den sieben Bettlern« nicht schon von Rabbi Nachman erzählt worden, hätte sie eine Agnonsche Geschichte werden können und hätte dann eine vollendet kafkaeske Aura um sich gehabt.

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4 Nach seiner Rückkehr nach Jerusalem schrieb Agnon eine Reihe langer Romane, von denen die bedeutendsten eher als Chroniken zu kennzeichnen wären. Als Chroniken des jüdischen Lebens in dem Jahrhundert zwischen 1830 und 1930 bilden drei davon eine Art Trilogie, deren Teile, all ihrer Verschiedenheit ungeachtet, durch die Ein­ heit historischer Dynamik zusammengehalten werden. Ich habe dabei die Bücher »Verheiratung einer Braut* (1931), »Wie ein Gast zur Nacht* (1939) und »Gestern, vorge­ stern* (1946) im Auge. In der Zeitfolge steht dabei der dritte (nach Agnons eigener - vielleicht nicht ganz ernst­ gemeinter - Schlußbemerkung noch unvollständige) Teil der Trilogie eigentlich an zweiter Stelle. Vorläufig sind nur »Wie ein Gast zur Nacht« und »Gestern, vorgestern« in deutscher Übersetzung erschienen, während von dem ersten Buch eine englische Übersetzung vorliegt. »Verheiratung einer Braut« schildert die Wanderungen und Abenteuer des Rabbi Jüdel Chassid in Ostgalizien, der sich auf den Weg gemacht hat, um eine Mitgift für die Verheiratung seiner Tochter zusammenzubringen. Ohne irdische Güter hat er die Reise mit einem Empfehlungs­ brief des Rabbi von Apta, einer der großen Figuren des Chassidismus, unternommen. R. Jüdel ist eine vollendete Inkarnation des Chassidismus in seiner Blütezeit, als er um 1830 einen sehr großen Teil der galizischen Juden­ schaft erobert hatte. Er ist in den heiligen Büchern und den Aussprüchen und Erzählungen der großen Zaddikim zu Hause, die für ihn die eigentliche Wirklichkeit bil­ den, und was immer ihm auf seinen Reisen zustößt, kann nur dazu dienen, sie zu bestätigen. Er ist von einer Ge­ lassenheit und Heiterkeit des Gemüts, die durch nichts ins Wanken gebracht werden kann, denn alles fügt sich ihm

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in den heiligen Rahmen, wie er in den Schriften vorge­ zeichnet ist. Die unglaublichsten Dinge widerfahren ihm und seinem Kutscher, einem nüchternen jüdischen Sancho Pansa, und um die Aussichten seines Unternehmens scheint es mehr als trübselig bestellt. Aber all das berührt ihn gar nicht. Die Garantie des heiligen Rabbi von Apta, der ihn auf den Weg geschickt hat, bedeutet für ihn viel mehr als alle Schicksalsschläge und Widerwärtigkeiten des Lebens. Ich habe gesagt, daß Agnons Erzählungen, besonders die aus seinen früheren Jahren, oft eine unendlich traurige Atmosphäre um sich haben. In diesem Buch aber bricht Agnons Humor durch. Nie äußert er auch nur die leiseste Kritik an dem Verhalten seines Helden, das ihn in eine unabsehbare Kette absurder Situationen verwickelt. Er erzählt die Geschichte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und läßt Dialog und Situationen für sich selber sprechen. Die ersten Erzählungen aus Agnons »Buch der Geschehnisse« stammen aus etwa der gleichen Zeit wie die »Verheiratung einer Braut«. Sie bilden, darf man sagen, zwei Seiten derselben Münze, wäre aber R. Jüdel die Zentralfigur von Kafkas »Prozeß« gewesen, was durch­ aus denkbar ist, so hätte er in Ruhe dessen Revision ab­ gewartet. Denn um die Revision des Kafkaschen »Pro­ zesses« geht es in nicht wenigen von Agnons Schriften. Vieles von der unverstellten Absurdität des »Buchs der Geschehnisse« liegt auch in dem Roman zutage, wird aber durch Humor und schließlich durch ein Wunder zur Lö­ sung gebracht, von dem Kafka selber sich am allerwenig­ sten überrascht gezeigt hätte. Dabei wird nun, mit genauen und farbigen Details, ein Bild des jüdischen Lebens entworfen, wie es vor dem Ein­ bruch der modernen Zeit auch in diesem Kreise aussah. Agnon gehört zu den Künstlern, die es mit dem Hand­ 112

werk des Schreibens in jedem Detail ernst nehmen; R. jüdel wird nie einen Schritt machen, für den es keinen Grund in den heiligen Büchern gibt, und auch jedes Ri­ tual, ja jeder abergläubische Hokuspokus entspricht ge­ nauestens den literarischen Quellen. Die großen Rabbis, die zitiert werden, haben existiert und sind Fleisch und Blut, und man kann ihre Bücher nachschlagen. (Diese handwerkliche Präzision gilt überhaupt für Agnons Ver­ fahren in seinen Erzählungen, und noch die kleinsten Ein­ zelheiten über die Trambahn in Berlin stimmen.) Achtzig Jahre später aber hat sich der Schauplatz, und weit mehr als der Schauplatz, tief verwandelt. Jizchak Kummer, der Held von »Gestern, vorgestern«, ist R. Jüdels Enkel. Mit dem Chassidismus, und der jüdischen Tradition überhaupt, ist es bergab gegangen. Der groß­ artige Antrieb ist zum Stillstand gekommen, und ein neues Ideal, die Wiedergeburt des jüdischen Volkes in sei­ ner alten Heimat, befeuert nun den Enthusiasmus der Jugend. Es ist ein revolutionärer Neubeginn, der doch zugleich eine Fortführung des Alten, freilich in verwan­ delter Gestalt, sein will. Was eigentlich die Stellung der religiösen Überlieferung dabei ist oder sein sollte, wird nie ganz klar. Denn auch diese Überlieferung ist zerschlis­ sen und befindet sich offenkundig in einem Zustand der Auflösung und noch im besten Fall in dem einer lebens­ gefährlichen Krise. Wo sie noch fortlebt - und sie tut das in keinem geringen Maße -, bleibt sie in einem abgeschlos­ senen, verzauberten Zirkel und vermag kaum mehr le­ bendige Anziehung auf einen, der außerhalb von ihr steht, auszuüben. Der Chassidismus war schließlich die letzte große gesellschaftliche Realität, in der, unter dem Lichte einer großen Idee, Judentum als eine lebendige Form, die ihren Antrieb von ihnen bekam, Ausdruck ge­ funden hatte. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war aber IO

der Zionismus die treibende Kraft, die der Krise des jü­ dischen Lebens in der Diaspora entsprungen war, das nach einer neuen Verwandlung rief. Ich sage, dieses Leben rief nach einer Verwandlung, ohne sie doch schon hervorge­ bracht zu haben, und man darf wohl sagen, daß die Ge­ burtswehen der neuen jüdischen Gesellschaft grausam und lebensgefährlich sein sollten. Dies ist die Atmosphäre, die in Agnons Meisterwerk le­ bendig wird. Kummer geht als ganz junger Mensch, wie Agnon selber, nach Palästina, wo alles in einem Über­ gangsstadium ist. Er findet seinen Platz dort nicht, ob­ wohl er bereit ist, jede Arbeit auf sich zu nehmen, die das Leben in der neuen Siedlung erfordern würde. So bewegt er sich zwischen zwei Gesellschaftskreisen, dem alten in Jerusalem und dem neuen in dem gerade gegründeten Tel Aviv und in den landwirtschaftlichen Siedlungen. Die positive Seite des neuen Lebens, auch in seinen fragwür­ digen Aspekten, wird mehr oder weniger nur als Hinter­ grund sichtbar und ohnehin nur skizziert. Agnon beabsichtigte zeitweise, das Leben der jungen Pio­ niere, die sich an die Arbeit in den neuen Siedlungen und gerade entstehenden Kibbuzim anklammerten und dort aushielten, zum Zentrum eines anderen Romanes zu ma­ chen, der aber bis heute nicht erschienen ist. So haben wir es hier nur mit den Nöten, den im Scheitern endenden Lehrjahren einer verlorenen Seele zu tun, die mit einer Mischung aus Melancholie und Humor sehr detailliert beschrieben werden. Agnon besitzt einen wachen Sinn für die melancholische Leere, die sich auch in dem geschäftigen Betrieb des neuen Lebens auftut. Sein Held ist stets auf der Suche nach einer Erfüllung, deren Natur er nicht zu bestimmen vermag. Er kommt schließlich nach Jerusalem hinauf und wird von der verwunschenen Atmosphäre angezogen. Seine dortigen

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Abenteuer - Abenteuer eines, der in einem stagnierenden Lebensbereich ruhelos nach Erlösung sucht - bilden den Kern des Buches. Er bemüht sich um die Wieder­ herstellung einer echten Beziehung zur Welt der Über­ lieferung, die ihm in immer wachsender Weise irgendwo eine große Verheißung, nach Hause zu finden, zu enthal­ ten scheint. Aber es ist alles umsonst. Von Anfang an ist etwas nicht in Ordnung. Dies Etwas wird in den surrea­ listischen Begebnissen zwischen ihm und einem herren­ losen Hund zur symbolischen Klarheit gebracht. Alles fängt mit einem zufälligen Scherz an und endet als Trauerspiel. Kummer weiß nicht, was er dem Hunde an­ getan hat, auf dessen Rücken er - der gerade als Anstrei­ cher arbeitet - mit dem Rest der ihm verbliebenen Farbe im Scherz die Worte »toller Hund< aufgemalt hat. Der Autor entwickelt aufs großartigste, wie diese dem Hund selbst unbekannte Inschrift das Instrument wird, das das Leben der Zentralfigur ebenso wie das des Hundes zer­ stört. Die Forschungen dieses Hundes, wenn ich seine Überlegungen einmal so nennen darf, stehen im Kontra­ punkt zu den Erlebnissen und der Suche des Jizchak Kummer, die auch kein gutes Ende nehmen. Zwar hat der Zionismus den Aufbau eines neuen Lebens proklamiert, es wäre aber viel zuviel gesagt, wollte man meinen, daß dieser Aufbau auch nur an irgendeiner Stelle in Agnons Werk als gelungen dargestellt würde. Man könnte vielmehr sagen, daß im Grunde der Zionismus bei Agnon als ein zwar edles, aber zum Scheitern verurteiltes Unternehmen erscheint, während freilich alles andere noch viel schlimmer, nämlich Lug und Trug ist. Und auch zu dem alten Leben gibt es in unserer Zeit, was immer seine vergangene Glorie gewesen sein mag, keinen Weg zurück. Soweit Agnons Erzählungen und Romane in un­ serer eigenen Zeit spielen, bewegen sie sich zwischen die"5

sen beiden Unmöglichkeiten. Heimweh ist keine Lösung. Der Größe unserer Vergangenheit innezuwerden, bedeu­ tet noch lange nicht, daß sie einen brauchbaren Schlüssel zu unsern eigenen Problemen enthält. Irgendwo ist da vielleicht ein Schlüssel, aber er ist nicht verwendbar, und der Schlosser, der ihm die richtige Form geben könnte, muß erst noch gefunden werden. Nirgends wird dieses Verlorensein zwischen Vergangen­ heit und Zukunft mit größerer Genauigkeit abgemalt als in dem letzten Band von Agnons Trilogie, dem Roman »Wie ein Gast zur Nacht«, dessen ausgezeichnete deutsche Übersetzung zweifellos eine große Rolle bei der Entschei­ dung des Nobelpreiskomitees gespielt hat. Während »Gestern, vorgestern« in den Jahren vor dem Ersten Welt­ krieg spielt, haben wir es hier mit der Chronik eines Be­ suches zu tun, den der Erzähler nach zwanzigjähriger Abwesenheit in seiner Geburtsstadt macht. Unter den melancholischen Arbeiten, an denen Agnons Werk reich ist, bildet es die bei weitem melancholischste. Der hebräische Text erschien 1939, zwei Jahre bevor der deutsche Judenmord einsetzte, der die Gemeinschaft, die in diesem Buch porträtiert wird, auch physisch vernich­ tete. Der Gegenstand dieses Buches ist der Untergang einer jüdischen Stadt, bevor sie noch in Blut versank. Der Erzähler ist aus dem Land Israel zu Besuch gekommen. Daß er der Botschaft des neuen Lebens gefolgt ist und seine Geburtsstadt verlassen hat, war seinerzeit selber ein Zeichen des jüdischen Lebens in seinen positiven Aspek­ ten. Denn der Kampf und die Polemik hatten damals eine Adresse und einen Sinn. Nun aber ist das Leben in seiner Stadt träge, leer und verelendet. Es versinkt in Resigna­ tion und Ressentiment, und selbst die Verheißungen des Zionismus sind fragwürdig geworden. Wir sind im Jahre 1930, und der Erzähler selber hat wäh-

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rend der arabischen Unruhen von 1929 zu leiden gehabt. Was eigentlich der Zwedc seines Besuches ist, wird nicht klar. Im Grunde ist er da »nur wie ein Gast zur Nacht«, obwohl er schließlich fast ein Jahr dort sitzt. Das Bild seiner Stadt hat ihn offenbar nie verlassen, und während einer Pause seines Lebens in dem neuen Land will er die Stadt wiedersehen, in der so viel von seinen Wurzeln steckt. Aber er findet nicht mehr, was er zu suchen kam. Statt dessen trifft er auf das Grauen des Verfalls und Untergangs, ein Grauen, das deswegen keineswegs weni­ ger dunkel ist, weil es noch nichts von dem Mord weiß, der an seinem Ende stehen wird. Der Erzähler ist bei sei­ ner Ankunft von dem lebendigen Bild der Stadt erfüllt, wie sie in seiner Jugend aussah. Die völlige Unvereinbarkeit der alten und der neuen Erfahrung, des Lebens in der Fülle und des Lebens in sei­ nem vollen Verfall, bilden das eigentliche Zentrum des Romans. Die Erinnerung ans Vergangene durchdringt sich bei jedem Schritt mit der gegenwärtigen Erfahrung des Besuchers. Die trübselige Wirklichkeit seiner Stadt tritt ihm entgegen, er aber sucht eine Kontinuität mit einer Vergangenheit herzustellen, die für immer dahin ist. Wenn Kummers Bemühungen in Jerusalem scheiterten, so gilt das noch viel mehr und zwangsläufiger von dem Ver­ such des Erzählers in seiner Heimatstadt. Er beginnt hier ein Leben, dessen durchaus illusionärer und gegenstands­ loser Charakter im Laufe der Erzählung ironisch sichtbar wird. Das Buch ist von Anfang bis zu Ende von Ironie durch­ zogen. Im Zentrum seines Heimwehs steht das alte Lehr­ haus, dessen Schlüssel seine letzten Insassen ihm mit einem höhnischen Achselzucken überreichen, da sie sich selber anschicken, in die weite Welt hinauszugehen, vermutlich nach Amerika. Die einzigen, die er dazu bringen kann, 117

das alte Haus wieder zu füllen, sind die, die viel zu arm sind, um ihre eigenen Wohnungen während des langen Winters zu heizen, und die nun in das alte Lehrhaus kom­ men, um es dort warm zu haben, wo der Erzähler für die Heizung bezahlt. Der Schlüssel zum alten Lehrhaus geht, nicht so ganz unsymbolisch, verloren, und der Er­ zähler muß sich einen neuen machen lassen, den er schließ­ lich bei der Abreise an den einen Kommunisten gibt, der zehn Jahre vorher als glühender Zionist nach Palästina gegangen war und alle Opfer und Enttäuschungen auf sich genommen hatte, bis er schließlich aufgab und in seine Heimatstadt zurückkehrte. In der Auseinandersetzung mit dem Zionismus hat dessen »Soll«-Seite in ihm ihren Sprecher gefunden. Worin besteht, letzten Endes, nach Agnon diese Sollseite? Es ist die Herrschaft der leeren Phrase und der hoch­ trabenden Oratorik, der keine wirkliche Tat folgt, die sich auch hier geltend macht und die in so vielen Schrif­ ten Agnons über die Juden unserer Zeit mit Hohn über­ gossen wird. So wird der neue Schlüssel zum alten Lehr­ haus, den Agnon dem zum Kommunisten gewordenen Exzionisten überläßt, selber ein ironisches Symbol, und es ist nicht gerade erstaunlich, daß der verlorengegangene alte Schlüssel dann noch einigermaßen überraschend - oder vielleicht doch nicht ganz so überraschend? - in des Er­ zählers eigenem Gepäck bei der Rückkehr nach Jerusa­ lem auftaucht. Im Gegensatz zu »Gestern, vorgestern« gibt es hier einen Schlüssel - aber er paßt nirgends zu dem neuen Land. Freilich schwingt hier, wenn auch leise, eine geheime Hindeutung auf eine messianische Wiederher­ stellung und Integration mit, wie sie etwa in dem alten talmudischen Worte bezeichnet wird: »Sogar die Lehr­ häuser und Synagogen im Exil werden dereinst in das Land Israel verpflanzt werden.«

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Die Bemühungen des Erzählers um eine echte und leben­ dige Beziehung zu den Leuten seiner Stadt, besonders zu denen, die er von seiner Jugend her kannte, oder deren Verwandten, sind also im Grunde erfolglos. Das liegt wohl daran, daß es in der Stadt keine wahre Wirklich­ keit mehr gibt und das Leben dort eine einigermaßen ge­ spenstische Färbung angenommen hat. Aber auch ein an­ derer Faktor spielt bei diesem Scheitern mit: Überra­ schenderweise ist der Sinn des Erzählers nämlich auf Re­ stauration des Vergangenen gerichtet. Zwar kommt er als ein Besucher aus dem Bereich des neuen Lebens, aber er bringt keine Botschaft mit sich, die ihn wirksam machen könnte. Nicht nur die Menschen, die er trifft, sind schwerfällig und träge, sondern er selber wird von dieser Atmosphäre angestedtt. Er schließt eine kurze Freundschaft mit einer Gruppe junger Pioniere, die sich auf einem benachbarten Dorf für die landwirtschaftliche Arbeit in Palästina vorbereiten, aber sein Besuch bei ihnen bleibt eine romantische Episode. Das Verstummen, die Reaktionsunfähigkeit der meisten anderen, die er trifft, zieht ihn viel stärker an, und sein Herz schreit nach ih­ nen. So entfaltet sich ein Bild des polnischen Judentums in einer kleinen Stadt am Vorabend der Katastrophe, das mit ebenso großer Sympathie wie mit vollkommener Auf­ richtigkeit geschrieben ist. An einer Stelle sagt der Er­ zähler: »Als ich jung war, konnte ich im Geiste alles, was ich wollte, sehen; jetzt aber sehe ich weder, was ich sehen will, noch selbst das, was man mir zeigt.« Was also sieht er? Davon handelt das Buch. Dies sind einige Höhepunkte von Agnons Œuvre, bevor ihm die volle Wucht des Schlages zum Bewußtsein kam, den die Zerstörung der europäischen Judenheit bedeutet. Der Hauptteil seines späteren Werkes liegt noch nicht gesammelt vor, sondern ist über alle möglichen Zeit­ ig

Schriften und Zeitungen verstreut, ja vieles davon ist offenbar noch unveröffentlicht. Ich will hier nur zwei Tendenzen hervorheben, die sich in vielen dieser Spätschriften geltend machen. Da ist einmal der überwältigende Drang, gerade die ritu­ ellen Aspekte des jüdischen Lebens zu unterstreichen, die er früher eher als selbstverständlich hingenommen hatte. Jetzt wird ein fast krankhaftes Bemühen sichtbar, jedes Detail des Rituals zu bewahren, was dem Fortschritt der Erzählung selten zustatten kommt. Trotz der atemberau­ benden Vollendung der Sprache ist vieles an diesen Schrif­ ten eher für Liebhaber der Folklore und des hebräischen Stils von Gewicht als für Leser des erzählenden Schrift­ tums. Wir haben es mit einem fast hysterischen Ver­ such zu tun, die Formen eines zum Erlöschen verurteilten Lebens für die Nachwelt aufzuheben. Es ist ein einiger­ maßen trauriges Schauspiel, denn man merkt die Absicht und wird verstimmt. Die zweite, nun hervortretende Tendenz hängt mit einer merkwürdigen Erweiterung von Agnons Rückblick zu­ sammen. Er erzählt nicht mehr Geschichten aus den letz­ ten vier oder fünf Generationen, sondern greift viel wei­ ter zurück. So gibt er etwa vor, alte Familienpapiere sei­ ner Vorfahren herauszugeben, in denen bedeutsame Epi­ soden aus der jüdischen Geschichte der letzten vierhundert Jahre behandelt werden. Oder er unternimmt es gar, die Geschichte seiner eigenen Seele in ihren Wanderungen seit den sieben Tagen der Schöpfung zu erzählen, eine höchst seltsame Autobiographie. Er war überall dabei, auf allen Stadien der biblischen und nachbiblischen Ge­ schichte, und gibt aus einem tiefen Gefühl der Identifizie­ rung mit dem jüdischen Volk gleichsam einen Augenzeu­ genbericht über all die Vorgänge in Jahrtausenden, die seinen Sinn am meisten fesseln. Diese metahistorische 120

Autobiographie steht in einem Buch »Schemel und Thron*, von dem in den letzten Jahren umfangreiche Fragmente veröffentlicht worden sind. Während sich von allen seinen früheren Schriften sagen läßt, daß in ihnen niemals eine vollständige Identifizierung des Autors mit dem Er­ zähler stattfindet, so ist diese Spannung, die sich aus dem Sich-nicht-ganz-Identifizieren ergab, nun dahin. Auch das eigentlich romanhafte Element hat sich verflüchtigt, und die Erzählung ist nur mehr eine Chronik dessen, was dem Selbst des Autors zugestoßen ist. Es handelt sich nicht mehr um die Entfaltung einer Erzählung, sondern um das undialektische Nebeneinander von Ereignissen, deren je­ des, unter eigener Überschrift, in einem besonderen Ab­ schnitt erzählt wird. Es scheint ein höchst seltsames Buch zu sein, ohne daß ich, bevor das Ganze veröffentlicht ist, mir ein Urteil über sei­ nen Rang als Schriftwerk anmaßen möchte. Die dialek­ tische Haltung des Autors seiner eigenen Erfahrung und der Überlieferung gegenüber, die seinen andern Schriften ihr außerordentliches Gepräge verlieh, ist hier aufgegeben, und das, möchte ich fast sagen, ist sehr schade. Denn wenn ich mit einem Wort zusammenfassen sollte, was ich für den Kern von Agnons Genie halte, würde ich sagen: Es ist die Dialektik des Einfachen.

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Agnon in Deutschland. Erinnerungen

Ich lernte Agnon in den Tagen unserer Jugend, während und nach dem Ersten Weltkrieg kennen, als er in Deutsch­ land lebte, und unsere freundschaftlichen und engen Be­ ziehungen entstammen dieser Zeit. Schon damals ging Agnon im Kreis der zionistischen Ju­ gend, soweit sie sich mit der hebräischen Sprache und Li­ teratur näher zu befassen suchte, ein großer Ruf voraus. Freilich, dieser Hunger nach dem Hebräischen und nach der Kenntnis der ursprünglichen Quellen unseres Schrift­ tums war auf eine ziemlich enge Gruppe beschränkt. Die­ sen seltenen Vögeln kam Agnon aber mit großer Herz­ lichkeit entgegen. Wir lasen über ihn zuerst in einer klei­ nen literarischen Sammelschrift, die die Zionistische Ver­ einigung für Deutschland im Jahre 1916 herausgab und die für die jungen Zionisten bestimmt war, die im Felde standen. Das Buch hieß »Treue« und enthielt verschiedene Erzählungen von Agnon, darunter auch ein großes Stück aus der Übersetzung seines ersten Buches »Und das Krum­ me wird grade«, zusammen mit einleitenden Worten über Agnon aus Martin Bubers Feder und in Bubers charak­ teristischem, leicht erhabenem Stil. Es hieß dort von Ag­ non, er habe »die Weihe zu den jüdischen Dingen«. Weihe war im Munde Bubers ein Wort der höchsten Anerken­ nung, wenn uns auch nicht völlig klar war, was er eigent­ lich damit meinte. Noch bevor ich Agnon persönlich kennenlernte, hatte ich ihn oft im Lesesaal der Bibliothek der Jüdischen Ge­ meinde in Berlin gesehen, wo er unermüdlich in der Kar­ tothek des hebräischen Kataloges blätterte. Ich fragte ihn 122

später, was er dort so intensiv gesucht habe. Er antwor­ tete mit treuherzig-ironischem Augenaufschlag: »Bücher, die ich noch nicht gelesen habe.« Denn er kam aus einer Stadt in Galizien, in deren Lehrhaus viele Tausende he­ bräischer Bände gestanden hatten, die er in seiner Ju­ gend verschlungen hatte, und wußte über jedes Buch und seinen Autor irgendeine Geschichte zu erzählen. Er war damals ein sehr schlanker, fast ausgemergelter junger Mann mit scharfen Gesichtszügen. Erst etwas später, etwa um die Zeit, als wir einander kennenlernten, rundeten sich sein Gesicht und seine Figur. Ich traf ihn bei seinem ersten Übersetzer, dem Rechtsanwalt Max Strauss (dem Bruder des Dichters Ludwig Strauss), einem ungewöhn­ lich begabten, sehr sensiblen und großartig aussehenden jungen Mann. Er war mit Agnon gleichaltrig, behandelte ihn aber mit größer Zuvorkommenheit und Verehrung, wie ein seltenes Exemplar der Gattung Mensch. Strauss hatte ein sehr feines Sprachgefühl, war aber seiner hebrä­ ischen Kenntnisse nicht ganz sicher und konsultierte man­ che Bekannten, darunter auch mich (der einen wilden Ar­ tikel gegen eine gerade veröffentliche Übersetzung aus dem Jiddischen geschrieben hatte) in Fragen des hebrä­ ischen Stils und jüdischer Realia. Agnon war von einer Aura von Einsamkeit und nicht wenig Weltschmerz umgeben, einer zarten Melancholie, wie sie empfindsamen jungen Menschen anstand. Er schrieb damals viele Gedichte, über denen ein Geist unendlicher Vereinsamung hing. Als wir einige Jahre später, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in München lebten, las er mir eine ganze Zahl davon vor. Sie sind alle verbrannt. Nur eines davon, das ich in deutsche Verse übertragen hatte, liegt noch im Urtext und der Übersetzung unter meinen Papieren. Andererseits konnte man Agnon oft in der Gesellschaft I23

junger Männer und Mädchen finden. Er suchte aus sich herauszutreten. Nicht immer gelang ihm das, und er saß dann oft schweigend dabei, wenn er sich aber in ein Ge­ spräch einschaltete, floß er von alten Geschichten, Anek­ doten und Worten der alten Weisen über, und wir, junge Juden mit deutscher Erziehung, waren von ihm be­ zaubert. Natürlich sprachen wir damals deutsch mit ihm, wenn auch Agnons Deutsch einigermaßen eigenartig war, mit galizischem Akzent und im Tonfall chassidischer Anekdoten. Manchmal sprach er mit größter Scheu und Zurückhaltung, manchmal aber auch mit einer gewissen festen Bestimmtheit. All das hob sein Ansehen bei uns sehr. War dies doch die Zeit, wo unter den Zionisten in Deutschland ein wahrer Kultus der »Ostjuden« herrschte, der einen demonstrativen Rückschlag gegen den Hochmut und die Überheblichkeit darstellte, die damals im Kreise der assimilierten deutschen Juden, aus dem wir stamm­ ten, den »Ostjuden« gegenüber gang und gäbe war. Für uns war im Gegensatz dazu jeder Ostjude gleichsam ein Träger des jüdischen Mysteriums, und der junge Agnon schien uns eine von dessen vollkommensten Inkar­ nationen. Ich entsinne mich eines Abends im Mai 1917 im Hebrä­ ischen Klub in Berlin, der fast ausschließlich von rus­ sischen, polnischen und palästinensischen Juden besucht wurde. Ein geborener Berliner wie ich fiel dort auf wie ein bunter Hund. Agnon las an diesem Abend eine sei­ ner vollendetsten Geschichten, die »Erzählung vom Tora­ schreiber«, die damals noch nicht im Druck vorlag. Noch jetzt ist mir der tiefe Eindruck gegenwärtig, den Agnons Geschichte machte, und ich höre noch den Nachklang von Agnons zarter und klagender Stimme, wie er seine Ge­ schichte in einer Art nach innen gekehrten, monotonen Singsangs vorlas. Es war wie eine Illustration des Wortes

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der Dichterin von den »Sprachen, die wie Harfen einge­ schnitten sind.« Er legte damals großen Wert darauf, zwischen dem Künstler und dem Menschen Agnon scharf zu unter­ scheiden. Charakteristisch dafür ist, daß er sofort prote­ stierte, wenn ich ihn mit seinem hebräischen nom de plume »Agnon« anredete. »Mein Name ist Czaczkes«, pflegte er mich zu verbessern. Als ich ihn fragte, was er denn dagegen hätte, Agnon genannt zu werden, erklärte er mir, Agnon sei zwar ein sehr schöner literarischer Na­ me, aber was könne schon an einem Namen sein, den er selbst erfunden hätte und der in den heiligen Büchern nicht vorkomme, während der Name Czaczkes ausdrück­ lich unter den mystischen Engelnamen im Buche Rasiel (einem alten hebräischen Buch über Angelologie) zu Anden sei. Ich konnte schon damals diese Argumentation nicht recht ernst nehmen. In der Tat ließ er sich schließlich, als er Ende 1924 nach Palästina zurückkam, auf mein Drän­ gen herbei, seinen bürgerlichen mit seinem literarischen Namen zu vertauschen und sich ein für allemal Agnon zu nennen. Ich war damals Bibliothekar an der Jüdischen Na­ tionalbibliothek in Jerusalem und sagte, bei uns würde er auf den Namen Agnon geführt werden, und Remonstra­ tionen würden nicht angenommen. Soweit ich weiß, lebte er während des Ersten Weltkrieges großenteils von seiner Arbeit als literarischer Ratgeber des »Jüdischen Verlags« des Dr. Aron Eliasberg, der Agnon besonders gern hatte, obwohl er ein ausgesprochener »Litwak« war, das heißt ein litauischer Jude, und Litwaken und Galizier sich im allgemeinen nicht ausstehen konn­ ten. (Heute, wo alle unter derselben Mörderhand gefallen sind, sind die Gegensätze vergessen.) Agnon gab minde­ stens zwei Bücher heraus, die damals im »Jüdischen Ver­ lag« auf deutsch erschienen, das »Buch von den poli*5

nischen Juden« und »Maos Zur, ein Chanukka-Buch« (an dem letzteren habe ich schon als Übersetzer mitgearbei­ tet). Ich erinnere mich, daß meine erste Bekanntschaft mit einem der berühmtesten Werke der kabbalistischen Literatur, dem Buche Chemdat Jamim (»Die Zier der Tage«), in dem genau beschrieben wird, wie ein Jude sich zu verhalten hat, wenn er sein Leben nach kabbalistischen Grundsätzen führen will, aus einer Unterhaltung mit Agnon über die Schilderung des Chanukka-Festes in die­ sem Buche kam. Agnon verbrachte damals jeden Morgen schreibend in sei­ nem Zimmer. Viele seiner späteren Schriften gehen auf diese Periode zurück, wenn auch das damals Geschriebene, soweit es nicht schon veröffentlicht war, bei dem großen Brand in seinem Hause in Homburg untergegangen ist. Anfänglich konnte ich seine Handschrift in seinen Briefen und den Erzählungen, die er mir zur Lektüre und auch zur Übersetzung gab, noch recht gut entziffern. Aber schon damals zeichnete sich die Tendenz ab, seine Hand­ schrift in eine Art Geheimschrift zu verwandeln, die die Augen des Lesers ratlos läßt. Im Laufe der Zeit gediehen die Dinge so weit, daß, wenn seine Frau Esther einem einen Gefallen tun wollte, sie seinen Briefen gleich eine Transkription beilegte, um die Arbeit an der Entzifferung der Geheimschrift zu erleichtern, die eher Fliegenpünkt­ chen ähnelten als hebräischen Buchstaben. Es kam auch vor, daß Agnon seine Freunde ehren wollte. Dann sandte er ihnen seine Sachen in einer Form, die anzusehen eine Lust war, und man konnte merken, daß es sein Herz zum Handwerk des Toraschreibers, des jüdischen Kalli­ graphen, hinzog. Noch sehe ich vor mir die vollständige Abschrift von »Und das Krumme wird grade«, in einer seiner unzähligen Versionen, die Agnon für seinen Freund und Gönner Salman Schocken in Zwickau, seinen späteren

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Verleger, gemacht hatte und die er mir, bevor er sie ab­ schickte, zeigte. Wer wissen will, was ein schönes Auto­ graph des Autors ist, kann es vermutlich noch jetzt in der Bibliothek Schocken in Jerusalem bewundern, wo es mit vielen anderen Papieren Agnons liegen dürfte. Ich sagte, daß Agnon morgens mit seiner Arbeit allein blieb. Aber nachmittags und abends war schon damals, wie noch jetzt, sein Sinn für Gespräche und Spaziergänge aufgeschlossen. Viele Stunden bin ich mit ihm durch die Straßen von München, Frankfurt und Homburg spaziert und habe seinem Redestrom gelauscht und vermutlich auch selber nicht wenig geredet. Wenn ich sein Herz ge­ wonnen habe, dürfte das drei Dingen zu verdanken sein. Ich war etwa zehn Jahre jünger als er, und seine Persön­ lichkeit machte tiefen Eindruck auf mich, und ich bewun­ derte ihn sehr, so wie ich damals voll Bewunderung für einige russische Juden war, mit denen ich in Berlin in der­ selben Pension wohnte, als mich mein Vater meines Zio­ nismus wegen aus dem Hause warf. Aber diese russischen Juden, wie der verstorbene Dr. Zwi Kitain und der hof­ fentlich noch zu langem Leben mit uns bestimmte Salman Rubaschoff-Schasar, der jetzige Präsident des Staates Is­ rael, waren ihrer Anlage und ihrem Charakter nach Auf­ klärer und »Aufgeklärte«. Agnon aber kam gleichsam von ganz weit her, er war kein Intellektueller, sondern ein Mann aus einer Welt der Produktivität, in der die Quellen der Imagination aufs reichste sprudelten. Seine Ge­ spräche hatten durchaus profanen Charakter und Inhalt, aber er sprach im Stile der Helden seiner Erzählungen, und sein Sprechstil hatte etwas unendlich Anziehendes. Ich gab meiner Bewunderung für ihn in zwei Sonetten Ausdruck, die ich auf deutsch zum Preise Menasche Chajims, des Helden von »Und das Krumme wird grade« schrieb. Eines davon lautete:

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Menasche Chajim*

Du, der das Leben sich vergessen macht, unsterblich ist es in Dir auferstanden. Da Du in Not vergingst, in Schmach und Schanden, bist Du zur höchsten Ordnung aufgewacht. Dein Dasein ward dem Schweigen dargebracht, in das nur klagend unsre Worte fanden, doch nicht wie unsre Klagen Deine branden, denn des Siloah Wasser fließen sacht. Dein Leben steht im Licht der letzten Zeit, aus Deiner Stille Offenbarung spricht. Unendlich groß erstrahlt in Dir das Leid, Du aber bist das Medium, das es bricht.

Und heißt solch Armut Leid und Irrsal nicht Unschuld vor dem verborgenen Gericht? Ich sandte sie an Agnon und erwarb mir damit einen Platz in seinem Herzen - offenbar war ich der erste, der Gedichte über seine Bücher schrieb. Vielleicht trug dazu aber auch meine jugendliche Begeisterung bei, die mich zu den ersten Quellen zurüdcgehen ließ und die seine Sym­ pathie erwecken mußte. Wir stimmten in unserem Urteil über viele Erscheinungen des jüdischen Lebens in Deutsch­ land überein und schütteten einander unser Herz aus, in kritisdien Reden über unsere Umgebung, über Menschen und literarische Verhältnisse. Agnon hatte damals mit einigen Deutschen, Männern von Kopf, Freundschaft ge­ schlossen und pflegte mir rühmende Reden über sie zu hal­ ten. Um die Wahrheit zu sagen: Agnon, der aus der * Menasche Chajim heißt wörtlidi: »der das Leben vergessen macht».

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Fremde kam, hatte vermöge seiner Intuition ein besseres und tieferes Verständnis für manche Deutsche als ich selber. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges und nachher lebte ich anderthalb Jahre in der Schweiz. Nach meiner Rückkehr traf ich Agnon in Berlin, und er brachte mich zu Moses Marx, dem Bruder von Esther Marx, die Agnons Frau wurde. Moses Marx, der damals Kaufmann in Berlin war, hatte eine der wunderbarsten hebräischen Bibliotheken, die in Berlin existierten, und Agnon (wie später ich sel­ ber) war von ihr begeistert. Fing er doch damals selber an, hebräische Bücher in großem Ausmaß zu sammeln, wel­ cher Leidenschaft er einige Jahre sehr intensiv frönte. Damals herrschte in Deutschland Inflation und jeder, der seine Einnahmen in »harter Valuta« hatte, konnte als reich gelten. Agnons Stern stieg damals sehr sichtbar am Himmel der hebräischen Literatur auf, und der Ver­ leger Abraham Josef Stiebei in Kopenhagen, der als Mä­ zen der hebräischen Literatur sich einen Namen machte, hofierte ihn sehr und erwarb seine Erzählungen für gutes Geld. Agnon ließ sich nach seiner Heirat zuerst in Wiesbaden und nachher in Homburg vor der Höhe nieder, einem Ort, von dem er nicht nur seiner landschaftlichen Schön­ heit wegen sich angezogen fand, sondern, wie er gern be­ hauptete, wegen der alten hebräischen Drucke, die dort vor 300 Jahren erschienen. Freilich war eine der Haupt­ attraktionen dieser Städte ihre Nähe zu Frankfurt, einer wahren Metropole jüdischen Lebens, wenn auch in Agnons Augen wohl nicht so sehr der Juden wegen, die dort sa­ ßen, als vielmehr der hebräischen Antiquariate halber, von denen die Altstadt voll war, und der großartigen hebräischen Sammlung der Stadtbibliothek (die im Zwei­ 129

ten Weltkrieg verbrannt ist). Mit deren Bibliothekar, einer Figur, die direkt den Romanen von Anatole France entstiegen zu sein schien, verstand sich Agnon ausge­ zeichnet. Im Sommer 1923 lehrte ich, bevor ich nach Palästina ging, am »Freien Jüdischen Lehrhaus« in Frankfurt, das Franz Rosenzweig ins Leben gerufen hatte, und las dort mit einer Gruppe von Hörern, die schon einigermaßen He­ bräisch konnten, eine Anzahl von Agnons Erzählungen. Das machte sowohl meinen Schülern als Agnon selber großes Vergnügen. Er war damals noch nicht gewöhnt, daß man seine Bücher in den Schulen las. In diesen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg versuchte ich mich nicht wenig an Übersetzungen von Agnonschen Ge­ schichten ins Deutsche, von denen mehrere damals in Bubers Zeitschrift »Der Jude« erschienen. Das war ein unge­ mein diffiziles Unternehmen, und ich bekam einen ge­ nauen Begriff von den enormen Schwierigkeiten, die sich jedem entgegenstellen, der diese große hebräische Prosa zu übersetzen unternimmt, der nicht nur den Inhalt des Er­ zählten wiedergeben will, sondern in einer fremden Sprache etwas von dem besonderen Tonfall und Rhyth­ mus des Originals zum Ausdruck bringen will. Ich möchte nicht den Anspruch erheben, in meinem Unternehmen er­ folgreich gewesen zu sein, aber ich darf vielleicht von mir sagen, daß ich mir seitdem ein Urteil über die Arbeit an­ derer Übersetzer zutrauen darf. Wenn wir jetzt den Ge­ nius und die Größe Agnons rühmen, steht es uns auch an, die gewaltige Leistung seiner neuesten Übersetzer zu rühmen, vor allem die von Karl Steinschneider und Tuwia Rübner, die bedeutend dazu beigetragen haben, Ag­ nons Œuvre im deutschen Sprachkreis bekannt zu machen. In den drei Jahren, in denen Agnon in Homburg wohnte, 130

waren ihm die drei Dinge vergönnt, die nach einem Wort der Weisen des Talmud den Sinn des Menschen erweitern: eine schöne Wohnung, schöne Geräte (das heißt schöne Bü­ cher, die ja die Geräte des Schriftstellers sind) und eine schöne Frau, die ihm in allem zur Seite stand. Wenn ich nicht irre, begann sie schon damals seine immer unleser­ licher werdenden Manuskripte mit ihrer kalligraphischen Handschrift abzuschreiben. Kurz, es ging ihm damals wirklich gut. Er war glücklich und in seine produktive Arbeit versunken, und eine Erzählung jagte die andere. Er erzählte mir damals viel von seinem großen Roman »Im Bunde des Lebens«, seiner ins Medium der Kunst transformierten Autobiographie, in der er eine Rückschau und Abrechnung mit seiner Jugend hielt. Nie wieder habe ich ihn so offenen Herzens, so strahlend und von Genie überquellend gesehen wie in jenen Tagen. Zweifellos trug zu seinem Wohlbefinden auch die besondere Atmosphäre von Homburg bei. Kamen doch damals viele der bedeu­ tendsten Schriftsteller, Dichter und Denker Israels dort zusammen, wie etwa Chajim Nachman Bialik, Achad Ha­ arn und Nathan Birnbaum, und um sie ein Kreis ausge­ zeichneter Köpfe des russischen Judentums, wie Rawnitzki, Drujanoff, Frau Persitz und jener sagenhafte Semititzki, von dem die Eingeweihten flüsterten, daß er der einzige in jener Generation sei, der wirklich die hebräische Grammatik bis auf den letzten Grund beherrschte und den bei heiklen Fragen alle Schriftsteller als letzte In­ stanz betrachteten. Agnon fand an diesen freundschaft­ lichen Beziehungen großes Vergnügen und schloß sich be­ sonders an den großen Dichter Chajim Nachman Bialik an, den Poeten der jüdischen Renaissance in Rußland vor 60-70 Jahren, der wie er selber im Gespräch ganz groß war. Ihre Unterhaltungen waren denkwürdig, und es lohnte zuzuhören. Agnon nahm mich öfters zu diesen

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Spaziergängen mit Bialik mit, wenn ich nach Homburg kam, und es ist wohl begreiflich, wie sehr ich, ein junger deutscher Jude, von diesen Unterhaltungen beeindruckt war. Man sprach damals natürlich schon hebräisch. Agnon pflegte zu sagen: »Schölern, vergiß nicht in dein No­ tizbuch einzuschreiben, was du gehört hast.« Nun, ich hatte ein offenes Ohr, aber kein Notizbuch, und habe nichts aufgeschrieben. Diese Glanzperiode in Agnons Leben kam auf tragische Weise zu Ende, als das Haus, in dem er wohnte, samt allen seinen Büchern und Manuskripten in einer Sommer­ nacht des Jahres 1924 in Flammen aufging. Walter Ben­ jamin, der Agnon aufs höchste schätzte, schrieb mir da­ mals: »Ich erreiche den Zustand eines Menschen, der das durchmachen muß, geschweige der es überwinden kann, in meiner Vorstellung auch nicht im mindesten.« In der Tat, als Agnon im Herbst jenes Jahres nach Palästina zurück­ kehrte, kam er wie jemand, dessen Welt verdunkelt war und der alles von neuem anfangen mußte. Wer von uns hätte sich in seinen Zustand versetzen können? So kam er aus den Tiefen des Unglücks zurück. Der Agnon von vor 1924 war ein ganz anderer als der Agnon danach. Er pro­ duzierte weiter, immer großartiger und tiefer, aber er war in sich selbst verschlossen, und die vielen Gespräche, die er führte, waren nur noch Mauern, mit denen er seine Vereinsamung abschirmte. So betrat er den Weg, der ihn bis zum Nobelpreis geführt hat, den Weg eines großen Künstlers, der seine Qualen meistert.

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Martin Bubers Auffassung des Judentums I

Auf einer Tagung, in deren Mittelpunkt das Thema »Schöpfung und Gestaltung« steht, wüßte ich kaum einen besseren Weg, in diese Problematik einzuführen, sie gleichsam an einem großen Phänomen der geistigen Welt zu instrumentieren, als die Besinnung auf die Figur und das Werk Martin Bubers, der 196$ als uralter Mann von uns gegangen ist und den sein ganzes Leben hindurch und bis in sein höchstes Alter die hier aufgeworfene Fragestellung zentral beschäftigt hat. Und zwar werde ich nicht über das Abstrakte dieser Fragestellung han­ deln, wie sie etwa in Bubers Schriften zur Philosophie, Soziologie und Pädagogik ihren Ausdruck gefunden hat, sondern von dem, was ihn selbst am anhaltendsten fast siebzig Jahre hindurch bewegt hat, nämlich seiner Auf­ fassung des Judentums. Vielleicht könnte ein anderer Redner diese Auffassung entwickeln, ohne auf Bubers persönliche Erscheinung und intellektuelle Biographie einzugehen. Ich gestehe, daß ich das nicht kann. Buber, der auf das unverwechselbar Per­ sönliche in den Verhältnissen des geistigen Lebens solchen Nachdruck legte, kann nur um einen sehr hohen, der Sache selbst abträglichen Preis unter Ausschluß dieses per­ sönlichen Elementes betrachtet werden. Seine Leistung und deren Problematik ist mit seinem Leben und den Ent­ scheidungen dieses Lebens unauflöslich verbunden. Es ziemt mir, der ich fünfzig Jahre lang, von meinen ersten Studententagen bis zu seinem Tod in abwechselnd losem und intensivem Kontakt mit ihm gestanden habe, hier meinen, wenn auch nicht unkritischen Dank an Buber zu sagen, der für meine Generation in Anruf und Besinnung 133

so viel bedeutet hat - auch da, wo er für uns durchaus undurchsichtig, fragwürdig oder unannehmbar wurde. Niemand, der Buber gekannt hat, konnte sich der starken Ausstrahlung entziehen, die von ihm ausging und die die Auseinandersetzung mit ihm doppelt leidenschaftlich ge­ macht hat. Sich mit Buber auseinandersetzen bedeutete, zwischen Bewunderung und Ablehnung, zwischen der Be­ reitschaft auf seine Botschaft zu hören, und der Enttäu­ schung über diese Botschaft und die Unmöglichkeit, sie zu realisieren, hin und her geworfen zu sein. Als ich ihn ken­ nenlernte, stand er auf dem Höhepunkt seines Einflusses auf die jüdische Jugend im deutschen Sprachkreis, in den Jahren des Ersten Weltkrieges und kurz nachher, wo seine Worte einen großen Kreis erreichten und bewegten. Bu­ ber suchte diesen Einfluß, wie er ihn auch noch einmal auf eine andere Gruppe junger Menschen (den Bund der »Ka­ meraden«) in den Jahren unmittelbar vor Hitler und mit dem Einbruch des Nationalsozialismus in Deutschland, erlangt hat. Es gehörte zu Bubers bittersten Erfahrungen, daß in bei­ den Fällen diese Begegnung mit einer jüdischen Jugend, die zum Aufbruch bereit war und von Buber erwartete, daß er mit ihr gehen würde, in tiefer Entfremdung en­ dete. Freilich könnte man ebensogut sagen, daß es zu den bittersten Erfahrungen jener Jugend gehörte, daß Buber nicht die von ihr erwarteten Konsequenzen aus seiner Botschaft zog. Buber, ein höchst facettenreicher und ver­ wickelter Mensch, hatte diese Jugend aufgerufen, ins Land Israel zu gehen und aus schöpferischem Antrieb die Ge­ staltung des neuen Lebens, das dort wachsen sollte, zu unternehmen. Sie hat ihm nie verziehen, daß er nicht mit ihr gegangen ist, als die Stunde schlug. Sie verstand nicht, daß der Mann, der so lange Jahre hindurch mit solcher Beredsamkeit die »Krankheit, Verzerrung und 134

Tyrannei« eines entstellten Judentums im Exil diagnosti­ ziert und bekämpft hatte, nicht in ihrer Mitte war, als es in dem großen Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg galt, lebensmäßige Konsequenzen daraus zu ziehen. Buber, des­ sen Gespräche, Reden und Aufrufe um das Wort »Ver­ wirklichung« kreisten, hatte sich, so schien es den Ent­ täuschten, ihr verweigert. Von Buber aus gesehen lagen die Dinge anders: er hatte eine andere persönliche Ent­ scheidung getroffen, ein anderes Medium der Verwirk­ lichung gewählt. Ich habe hier einen delikaten, um nicht zu sagen tragischen Punkt in Bubers Erscheinung und Wirken berührt, der eng mit einem Faktum zusammenhängt, das allen, die über Buber in den letzten Jahren geschrieben haben, auf­ gefallen ist, ohne daß sie es sich recht erklären können: die fast völlige Einflußlosigkeit Bubers in der jüdischen Welt, die seltsam mit seiner Anerkennung bei den Nicht­ juden kontrastiert. Es ist denkwürdig, daß diesen Punkt auf eine höchst positive Weise freilich, schon im Jahre 1913, als Buber 3$ Jahre alt war, Gustav Landauer, einer der wenigen engen Freunde Bubers, gesehen hat. Von ihm stammt der prophetische Satz, es zeige sich schon heute, werde aber bald noch viel merklicher werden, daß Buber »der Apostel des Judentums vor der Menschheit« sei. Zu­ gleich sah Landauer in ihm einen »Erwecker und Für­ sprecher des spezifisch frauenhaften Denkens, ohne das unsrer fertigen und gesunkenen Kultur keine Erneuerung und Erfrischung kommen wird«1. In diesen Feststellun­ gen, deren Genauigkeit wenig an die Seite zu setzen ist, ist die dialektische Spannung und das Moment der Kritik, das von wahrer Einsicht in Bubers Leistung unablöslich ist, schon großartig und in positiver Formulierung zum i G. Landauer im ■Buber-Heft« der Neuen Blätter, Hellerau 1913, S. 96.

Ausdruck gebracht. Denn der Apostel Israels sprach eine Sprache, die allen verständlicher war als den Juden selber, und seine Tragödie liegt in diesem Apostolat, ja sogar in dessen seinerzeit so überwältigendem Erfolg begründet. Um dieselbe Zeit sagte ein anderer bedeutender Kopf, Frederik van Eeden, von Buber: »Wenn die Verhältnisse es so gefügt hätten, so hätte Buber sich gewiß zu einem Lehrer seines Volkes entwickeln können, zu einem der Erbnehmer der Traditionen von Moses und Elias. Sein Leben wäre dann still und unbekannt verronnen in irgendeinem Gebethaus oder in irgendeinem polnischen Dorf. Jetzt fühlte er sich statt dessen zu einer anderen Aufgabe berufen, zu derjenigen, die Kenntnis von dem ekstatischen Geiste seines Volkes unter anderen zu ver­ breiten. Er mußte den Weg der Öffentlichkeit und der Berühmtheit wandern.« Es bleibt eine ernste und legitime Frage, warum Buber, einer der beredtesten und wortmächtigsten Sprecher des Judentums, das Ohr der Juden im allgemeinen nicht er­ reicht hat. Jenes persönliche Moment, auf das ich vorhin zu sprechen kam und das in der Literatur über Buber meistens verschwiegen wurde, bildet nur ein, freilich wich­ tiges Element zum Verständnis dieser Situation. Es wird in seiner Bedeutung von einem anderen, sachlichen, noch übertroffen, von dem ich eingehend zu handeln haben werde: Buber suchte die schöpferische Verwandlung des Judentums; er suchte die Momente in seiner Geschichte und Gegenwart, wo das Schöpferische die Formen sprengt und neue Gestaltung sucht, und er hat bei dieser Akzen­ tuierung von den gegebenen historischen Gestalten des Ju­ dentums weitgehend abstrahiert. Von der Stunde an, da er sich als Zwanzigjähriger der gerade entstehenden zio­ nistischen Bewegung anschloß, hat er bis zum Ende seiner Tage den Sinn für die schöpferische Verwandlung in dem 136

Phänomen, das seinem Herzen am nächsten war, uner­ müdlich geschärft, bewahrt und entwickelt. Das Provokatorische seiner Auffassung vom Judentum und seiner Geschichte, mit der wir uns hier analysierend und interpretierend zu befassen haben werden, war un­ verkennbar, und Buber, dem weder Selbstbewußtsein noch Mut abzusprechen ist, war bereit, den Preis für diese Um­ deutung, diese neue Sicht zu zahlen. Er stellte sich von vornherein und mit Nachdruck zu den Ketzern im Ju­ dentum, nicht zu den Repräsentanten dessen, was er in vielen seiner früheren Schriften das »offizielle Judentum« im Gegensatz zu dem »unterirdischen« nannte. Das Pa­ radox seiner Erscheinung und seines Ruhms in der großen Welt, der von einem bedeutenden Œuvre gestützt wird, besteht darin, daß die Welt in eben diesem einzelnen, der sogar ablehnte, eine Lehre zu haben, die man übermitteln könne - in der Tat war ihm im allgemeinen, wo er längere Zeit hindurch lehrend auftrat, Lehrerfolg versagt -, der sich von den Institutionen des jüdischen Kultus mit völ­ liger Radikalität fernhielt und den in den fast dreißig Jahren, die er in Israel gelebt hat, nie jemand in einer Synagoge gesehen hat, als den großen Repräsentanten des Judentums in dieser Zeit betrachtete. Aus der Distanz ge­ sehen, und vielleicht durch das Medium seiner außeror­ dentlichen stilistischen Fähigkeiten verstärkt, traten die Züge, die ihn mit dem großen historischen Phänomen des Judentums verbanden, stärker hervor als für die, die aus konkreter Nähe zum Judentum und seiner Tradition eine Stellung zu Buber einzunehmen hatten. Bubers Auffassung des Judentums hat sich in den sechzig Jahren bis 1963, als er die Sammlung seiner Schriften ab­ schloß, in ihren Formulierungen sehr gewandelt, beson­ ders wenn man seine frühere Periode bis etwa 1923 mit seiner späteren vergleicht; aber sie ist von einem zentra137

len Prinzip her zu begreifen, das er sich fortsdireitend sel­ ber zu deuten unternimmt: von der Suche nach dem Le­ bendigen und Schöpferischen in dieser Erscheinung und dem Wunsche, es zur Sprache zu bringen. In diesem letz­ ten Punkt liegt freilich auch der Grund für die große Schwierigkeit, Bubers Anschauungen zu analysieren, eine Schwierigkeit, die die Auseinandersetzung mit ihm von jeher sehr erschwert hat. Seine Sprache ist unendlich far­ big, poetisch, bilderreich, suggestiv und zugleich von son­ derbarer Unbestimmtheit und Undurchdringlichkeit. Der Mangel an Gegenständlichkeit in vielen seiner Schriften und eine Neigung zum Abstrakten, die der Philosoph des Konkreten immer wieder erbittert abgestritten hat, steht - um mit Gustav Landauer zu sprechen - »in unlöslicher Verbindung mit der Liebe zum gefühlsmäßigen Ausdruck und seiner Bevorzugung vor dem logisch Bestimmten scharfer Terminologie«. Der Leser ist sich immer bewußt, daß jede Übersetzung in andere Worte Gefahr läuft, von Buber als Mißverständnis bezeichnet zu werden, und in der Tat war das die immer wiederkehrende Note seiner Antwort an Kritiker, die seine poetischen Metaphern auf Begriffe bringen wollten. Dabei war Bubers Fähigkeit, Nuancen des Unaussprechlichen in Worte zu fassen, außerordentlich, wenn sie auch seine Schriften so gut wie unübersetzbar macht, weil das Gleitende und Unbe­ stimmte hier einer Entscheidung für einen bestimmten Be­ deutungsinhalt zu weichen hatte.

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Vergegenwärtigen wir uns Bubers Ursprung und seinen Ausgangspunkt. Buber, der ein polnischer Jude war und sich bis an sein Lebensende als solchen identifizierte, hatte eine Erziehung erhalten, in der sich strikte jüdische Tra­ 138

dition und deutsche Aufklärung durchdrangen. Er wuchs mehrsprachig auf, mit Hebräisch, Deutsch, Jiddisch und Polnisch (eine ganze Reihe seiner frühesten Arbeiten sind polnisch geschrieben). Das Judentum begegnete ihm hier als historische Gestalt., Es war für die meisten seiner Zeit­ genossen ein festumrissenes Phänomen, in dem sich for­ mulierbare Antriebe und Bestrebungen realisiert hatten, ein historisches Kontinuum, in dem das Leben eines Vol­ kes von bestimmten entscheidenden Ideen geprägt wurde: vom Monotheismus, vom Gesetz und der prophetischen Forderung nach Gerechtigkeit, von einer Theologie, die um die Begriffe Schöpfung, Offenbarung und Erlösung kreiste. Als Jüngling brach er mit den Institutionen dieser Tradition, zu denen er nie wieder zurückgekehrt ist. Er sog jahrelang die Atmosphäre des europäischen fin de siede ein. Die Wiener Luft und der Jugendstil traten in höchst folgenreiche Konkurrenz zu dem so ganz anders gearteten Erbe des großväterlichen Hauses. In diesem Durcheinander wurde für ihn die Begegnung mit der da­ mals entstehenden zionistischen Bewegung entscheidend, die Buber als zwanzigjährigen Studenten fortriß und die in mannigfachen Metamorphosen sein Leben und Denken bestimmt hat. Was bedeutete die Losung des Zionismus für einen mo­ dernen jungen Juden jener Jahre? Ich würde diese Bedeu­ tung in drei Punkten formulieren, die für Bubers Haltung wichtig wurden, i. Das Bewußtsein von der tödlichen Krise der rabbinischen Tradition des Judentums, von der Sinnlosigkeit und Gewichtslosigkeit einer Religion, die zur sozialen Institution erstarrt ist. 2. Das Bewußtsein einer jüdischen Identität und Loyalität, eines sich jenseits solcher Institution entfaltenden Lebens, in dem der Jude beheimatet und verwurzelt ist und das Ansprüche an ihn stellen darf. 3. Die Utopie einer lebendigen Zukunft und 139

einer Wiedergeburt dieses Volkes in seinem Land, die sich in einer schöpferischen Metamorphose der alten Gestalt vollziehen würde, vielleicht aber auch in einem revolu­ tionären Neubeginn. Das Schwanken zwischen diesen beiden Polen hat, nicht nur für Buber selbst, das Gesicht der zionistischen Bewe­ gung so unsicher gemacht. Jedenfalls darf man sagen, daß in diesen drei Punkten das Ja und Nein des Zionismus zur Gegenwart und Zukunft der Juden und ihres Juden­ tums beschlossen war. Sie prägen Bubers frühe Betrach­ tungen darüber. Seine Haltung beruhte, so artikuliert sie von Anfang an war, nicht auf einer theoretisch durch­ dachten Konzeption. Sie beruhte auf dem aufwallenden Ge­ fühl eines jungen Romantikers und Revolutionärs, der die Wiedergeburt seines im Exil erstarrten und irreal geworde­ nen Volkes zu befördern und deshalb Wege suchte, diese seine Sehnsucht nach einem »neuen Judentum«, einer »jüdischen Moderne« oder »jüdischen Renaissance« zu begründen. Buber gehörte zu der Generation, die um 1900 von Nietzsche und seinen Losungen tief beeinflußt war. Nietz­ sches Rede von den »Schaffenden« durchzieht alle seine frühesten Schriften. Das Schöpferische gegenüber dem Unproduktiven und im Leerlauf Beharrenden soll im Ju­ dentum wieder zur Geltung gebracht werden. 1901 schreibt Buber: »Schaffen! Der Zionist, der die ganze Hei­ ligkeit dieses Wortes fühlt und ihr nachlebt, scheint mir [im Kontrast zu andern Typen von Zionisten, von denen er sich abgrenzt] auf der höchsten Stufe zu stehen. Neue Werke schaffen, aus der Tiefe seiner uralten Eigenart her­ aus, aus der eigenartigen, unvergleichlichen Kraft seines Blutes heraus, die so furchtbar lange in die Fesseln der Unproduktivität geschlagen war - das ist ein Ideal für das jüdische Volk. Die Denkmale seines Wesens schaffen! Seine Art sich ausklingen lassen in einer neuen Anschau140

ung des Lebens! Eine neue Form, eine neue Gestaltung der Möglichkeiten vor die Augen der Unendlichkeit hinstel­ len! Eine neue Schönheit erglühen lassen, einen neuen Stern emporgehen lassen auf dem zauberhaften Nacht­ himmel der Ewigkeiten! Erst aber sich durchringen, mit blutigen Händen, unerschrockenen Herzens sich durch­ schlagen zu seinem Wesen selbst, aus dem alle diese Wun­ der auftauchen werden. Sich entdecken! Sich finden! Sich erkämpfen!«1 Dieser Durchbruch des Juden zu sich selbst kehrt, wenn auch in weniger romantischen Formulierungen, als Losung in allen Schriften Bubers wieder. »In der Selbstprüfung«, so schreibt er 1919, »erkennen wir, daß wir Juden alle­ samt Abtrünnige sind. Nicht deshalb, weil uns Landschaft, Sprache, Kultur anderen Volkstums Seele und Leben durchdrungen haben; es könnte uns die eigne Landschaft, die eigne Sprache, die eigne Kultur geschenkt werden, ohne daß wir jenes innerste Judentum wiedergewännen, dem wir untreu geworden sind. Auch deshalb nicht, weil unser viele den Normen der jüdischen Überlieferung und dem System der von ihr anbefohlenen Lebensformen ent­ sagt haben; die sie unverletzt in all ihrem Ja und Nein bewahrten, haben jenes innerste Judentum nicht mehr be­ wahrt als die andern. All diese sogenannte Assimilation ist äußerlich gegen die verhängnisvolle Angleichung, die ich meine: die Angleichung an den abendländischen Dua­ lismus, der die Spaltung des menschlichen Seins in zwei aus eignem Recht bestehende und voneinander unabhän­ gige Gebiete sanktioniert, die Angleichung an die Gesin­ nung des Vertrags.«* Hier also gibt es ein »innerstes Ju­ dentum«, um dessen Wiederbelebung es geht, das er aber in den Urkunden des »klassischen Judentums« ausgedrückt 2 Bubcr, Die Jüdische Bewegung (I. Folge), 1916, S. 42. 3 Buber, Der Jude und sein Judentum, Köln 1963, S. 89. 141

findet. Was Buber darunter verstand, werden wir noch zu untersuchen haben. Es gibt ein »echtes Judentum«*, das dem unechten gegen­ übersteht. Und von hier geht auch die Rede vom »Ur­ judentum« aus, die die seinerzeit so einflußreichen Prager »Drei Reden über das Judentum« (1911) durchzieht, einem Urjudentum, das alle Formen und Normen über­ steigt, die als jüdisch gelten. Diese Rede vom Urjüdischen, um dessen Bestimmung es Buber ging, kehrt noch in sei­ nen letzten Reden über das Judentum wieder, die unter dem Titel »An der Wende« 1951 erschienen sind. Der Grundimpuls bei all dem war ein kritischer: die Verwer­ fung der historischen, formulierbaren Erscheinungen des Judentums in fixierten Gestaltungen. Die Losung des jun­ gen Buber war — und blieb es im Grunde: »Nicht die Formen, sondern die Kräfte.«! Der Abbau der Formen, das Mißtrauen gegenüber jeder historisch gewordenen Struktur und Gestaltung bekommt einen positiven Index. Die noch ungestalten Kräfte sind es, die den Revolutio­ när und den Romantiker in Buber anziehen. Es sind die Kräfte, die im historischen Judentum »nie Herrschaft ge­ wannen, die vom offiziellen Judentum, das ist von der allzeit herrschenden Unkraft, allzeit niedergedrückt wor­ den sind« und ohne die »keine Erneuerung des jüdischen Volkstums geraten kann«. Der frühe Buber hat eine tiefe Abneigung gegen das Gesetz, gegen die Halacha in allen ihren Gestalten entwickelt. Er erkennt ihr nicht nur keine legitime Position im echten oder Urjudentum zu, sondern sieht in seinen frühen und leidenschaftlichen Jahren als echter Romantiker eine lebensfeindliche Macht in ihr, die es zu bekämpfen oder von der es auf jeden Fall sich abzu­ wenden gilt. 4 Dort, S. 91. $ Dort, S. 77. 142

Unermüdlich ist der junge Buber, bei dem religiöse und ästhetische Motive noch mindestens gleich stark sind, in der Polemik gegen das Gesetz. Vor der Emanzipations­ zeit, meint er, »war die Kraft des Judentums nicht bloß von außen niedergehalten, von Angst und Qual..nicht bloß von der Knechtung durch die > Wirtsvölker«, son­ dern auch von innen, von der Zwingherrschaft des Ge­ setzes«, das heißt einer mißverstandenen, verschnörkelten, verzerrten religiösen Tradition, von dem Bann eines har­ ten, unbewegten, wirklichkeitsfremden Sollens, der alles triebhaft Helle und Freudige, alles Schönheitsdurstige und Beflügelte verketzerte und vernichtete, das Gefühl verrenkte und den Gedanken in Fesseln schlug. Und das Gesetz erlangte eine Macht, wie sie in keinem Volke und zu keiner Zeit ein Gesetz besaß ... Es gab kein persön­ liches, gefühlgeborenes Handeln: nur das Handeln nach dem Gesetze konnte bestehen. Es gab kein selbständi­ ges, schöpferisches Denken: nur dem Grübeln über die Bücher des Gesetzes und die Tausende von Büchern der Deutung jener Deutungsbücher war die Mitteilung ge­ währt. Gewiß, es gab immer und immer wieder Ketzer; aber was konnte der Ketzer wider das Ge­ setzt?«6 Der Rigorismus der Halacha und die rabbinische Dialek­ tik empören den Romantiker und Künstler in Buber, des­ sen Sympathien allen Kundgebungen eines das Gesetz un­ terminierenden Ringens der lebendigen Kräfte gilt. Wenn Buber, wie so oft, von der Wiedergeburt des Judentums spricht, so bedeutet das für ihn niemals eine »Rückkehr zu den alten, im Volkstum wurzelnden Gefühlstraditio­ nen und zu deren sprachlichem, sittlichem, gedanklichem Ausdruck«7. Vielmehr bedeutet solche Rede die Befrei6 Dort, S. 272. 7 Die Jüdische Bewegung, S. 11.

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ung von einer »unfreien Geistigkeit und dem Zwang einer ihres Sinnes entkleideten Tradition ... Nur durch einen Kampf gegen diese Mächte kann das jüdische Volk wie­ dergeboren werden.« Diese Haltung zur Halacha hing da­ mals bei Buber mit einem weiteren Punkt zusammen, nämlich seiner Verneinung des Exils, der Diaspora, als einer legitimen jüdischen Lebensform und seiner, minde­ stens weitgehenden Identifizierung der Halacha mit all dem, was er am Exil, der »Sklaverei einer unproduktiven Wirtschaft« und der »hohläugigen Heimatlosigkeit« als unproduktiv und kahl verwirft. Die Verneinung dessen, was das Judentum im Exil war, und die Aktualisierung »latenter Energien« und Eigenschaften, die seit der bib­ lischen Zeit »in den Qualen der Diaspora verstummt sind«, liegen ihm am Herzen. Die alten Eigenschaften sol­ len »unserm modernen Leben in dessen Formen wieder­ geschenkt werden. Auch hier keine Rückkehr; ein Neu­ schaffen aus uraltem Material«.8 Hier kommt überraschend etwas zum Vorschein, das in dieser Form von Buber dreißig Jahre später aufgegeben worden ist, ohne doch seine Bedeutung für Bubers Auf­ fassung vom Judentum verloren zu haben. Buber gehörte damals, wohl unter dem starken Einfluß des hebräischen Schriftstellers Micha Josef Berdyczewski, zu denen, die im Sprung über die Periode des Exils, in der Verneinung von dessen Produktion das Heil sahen und bei denen die Forderung oder Erwartung eines Wiederanschlusses an die biblische Zeit das Losungswort bildete. Hier spricht sich, wie so oft, die revolutionäre Utopie in dem Rückgriff auf etwas sehr Archaisches, auf eine schöpferische Urzeit aus. Diese Tendenz, die mit den restaurativen Bestrebungen der konservativen Elemente in der zionistischen Bewe­ gung von Anfang an in Konkurrenz und Konflikt trat, 8 Dort, S. 12-13. 144

gehört noch jetzt, in dem neuerstehenden Leben in Israel, zu den wichtigsten hier wirksamen Faktoren. Bei Buber sah diese Interpretation eines großen (und wie mir scheint überaus problematischen und realiter unvoll­ ziehbaren) Sprunges so aus: das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl des Juden sollte wieder auf den Thron ge­ setzt werden, im Aufstand gegen die »reine Geistigkeit«, die im Exil allein als höchstes Ideal gegolten habe. Buber erkennt diese jüdische Geistigkeit als »eine ungeheure Tat­ sache, vielleicht die markanteste der ganzen großen jü­ dischen Volkspathologie« an’, deren Verwandlung ins Unverstellte, Produktive die große Forderung sei, die sich für ihn mit der Losung: »Erneuerung des Judentums« deckt. Diese Aufforderung zum Sprung bezieht sich aller­ dings auf die Befreiung der schöpferischen Kräfte des jü­ dischen Volkes, nicht auf die von Buber stets positiv be­ wertete Identifikation des Juden mit seiner tragischen Ge­ schichte. »Wer aber sein Judentum in sein Leben auf­ nimmt, um es zu leben, der erweitert sein eigenes Mar­ tyrium um das Martyrium von hundert Volksgeneratio­ nen, er knüpft die Geschichte seines Lebens an die Ge­ schichte zahlloser Leiber, die einst geduldet hatten. Er wird der Sohn der Jahrtausende und deren Herr. Er er­ höht Ton, Sinn und Wert seines Daseins. Er schafft sich neue Möglichkeiten und Formen des Lebens. Zauberquel­ len eröffnen sich seinem Schaffen, und die Elemente der Zukunft sind in seine Hand gegeben.«10 Das jugendliche Pathos dieser Sätze ist dem alten Buber dann fremd geworden, aber die dahinterstehende An­ schauung ist dieselbe geblieben. Noch die spätesten Schrif­ ten Bubers haben etwas von dieser Theorie des Sprungs, obwohl er inzwischen Entdeckungen gemacht hatte, die 9 Dort, S. 84. 10 Dort, S. 74. 145

das trostlose negative Bild des Judentums in der Verban­ nung ganz verwandeln mußten. Sogar die Entdeckung des Chassidismus vollzieht sich bei ihm, von Anfang an, als die eines Phänomens, das eine Wiederanknüpfung an die biblische Zeit, »die klassische Zeit des Judentums«, dar­ stelle, eine Erneuerung, nicht etwa eine bloße Wiederho­ lung des Urjüdischen11. Auch seine späten Schriften zur Bibel haben viele Obertöne dieser Art, die unausgespro­ chen mitschwingen, oft freilich von Buber im persönlichen Gespräch sehr stark akzentuiert wurden. Die eindringlichste Formulierung dieser Anschauungen Bubers in seiner früheren Periode findet sich in einer Rede, die er aus dem Stegreif 1912 in einer Diskussion gehalten hat und der er den Titel »Das Gestaltende« gegeben hat. Hier erklärt er das Judentum als einen seltsamen, »selt­ sam vorbestimmten Sonderfall des ewigen Prozesses«, der sich in jedem einzelnen Menschen, aber auch im Leben je­ der geschichtlichen Gemeinschaft vollzieht. Überall wir­ ken zwei Prinzipien: das Gestaltlose und das Gestaltende, die ungeschiedene Materie, die dem schöpferischen Akt unterworfen ist, und (wie er mit einem Begriff aus den Schriften des Paracelsus sagt) der »Archeus«, der sie zum geistigen Leben zu bilden strebt und dem das Werk doch nie völlig gelingt. In der Gemeinschaft der Menschen bleibt das Geformte niemals reine Gestalt, und immer wie­ der bricht das Gestaltlose ein und zersetzt die Form. »Was einst als ein Sieg des Gestaltenden über das Gestalt­ lose geschaffen worden ist, das Gemeinschaftsgebilde, die Norm und Ordnung, die Institution, alle die Schöpfung des Geistes ist allzeit ausgeliefert dem entstellenden Ein­ fluß des Gestaltlosen und wird darunter starr und taub und sinnlos, und will doch nicht sterben, sondern bleibt in ihrer Erstarrung und Betäubung und Sinnlosigkeit beii Dort, S. 100. 146

stehen, denn sie wird von der Macht des widerstrebenden Prinzips am Leben erhalten. Deshalb ist Gestalten Umge­ stalten, und deshalb ist der formende Kampf ein Prozeß, der stets von neuem beginnt. Der Gestaltende11 führt seinen Krieg nicht allein gegen das Gestaltlose, sondern auch gegen dessen ungeheuren Bundesgenossen, gegen das Reich der verwesenden Gestalt.«1’ Buber wendet sich gegen die Versuche, das »Wesen des Judentums« in einer rein qualitativen Bestimmung zu fin­ den. Vielmehr vollziehe sich im Judentum der hier be­ schriebene Prozeß nur eben »reiner, stärker, deutlicher als in irgendeiner anderen Menschengruppe ... Denn wie im einzelnen Juden, so ist im Judentum, sichtbarer als sonst­ wo in der Welt, ein Kampf zwischen dem Gestaltenden und dem Gestaltlosen.« Es ist diese Anschauung, daß das Judentum die Polarität, die in jedem Menschen lebt, auf besonders verdichtete und verdeutlichte Weise zeige, welche die erste Serie seiner »Reden über das Judentum« durchaus bestimmt. Hier wurde das dem Juden eingebo­ rene Streben nach Einheit, welches das Streben nach Ge­ stalt ist, nach Überwindung der Zweiheit, die in allen Dingen aufbricht, als der Kern des Jüdischen, als das Ur­ jüdische bezeichnet und verherrlicht. Von hier aus erklärte Buber den jüdischen Monotheismus und den jüdischen Messianismus. Der Gott der Bibel selbst »war aus dem Streben nach Einheit hervorgegangen, aus einem dunklen, leidenschaftlichen Streben nach Einheit. Er war nicht aus der Natur, sondern aus dem Subjekt erschlossen ... Er hatte ihn nicht aus der Wirklichkeit, sondern aus der Sehnsucht geschöpft, weil er ihn nicht in Himmel und Erde erschaut, sondern ihn sich als die Einheit über der ei Der Gestaltende, nicht etwa ein Druckfehler, wie aus dem Zusammenhang folge. 13 Der Jude und sein Judentum^ S. 240.

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eigenen Zweiheit, als das Heil über dem eigenen Leid er­ baut hatte.« Und noch weiter: »Das Streben nach Einheit ist es, was den Juden schöpferisch gemacht hat. Aus der Entzweiung des Ich nach Einheit strebend, schuf er die Idee des Einheitsgottes. Aus der Entzweiung der Men­ schengemeinschaft nach Einheit strebend, schuf er die Idee der All-Gerechtigkeit. Aus der Entzweiung alles Leben­ digen nach Einheit strebend, schuf er die Idee der AllLiebe. Aus der Entzweiung der Welt nach Einheit stre­ bend, schuf er das messianische Ideal, das eine spätere Zeit, auch wieder unter führender Mitwirkung des Juden, verkleinert, verendlicht und Sozialismus genannt hat.«'* Dies galt nach Buber von den Menschen der jüdischen Vorzeit und es sollte wieder von den Menschen der jüdi­ schen Renaissance gelten, zu der er in seinen »Reden über das Judentum« aufrief. Dazwischen stand die Welt der Galuth, des Exils, das dem Judentum eine tiefe soziale Erkrankung gebracht habe. »Denn jener Gegensatz und Widerstreit des Gestaltenden und des Gestaltlosen, das war, so furchtbar sie sich auch zuzeiten darstellen mochte, die Gesundheit des Judentums. Seine Krankheit in der Galuth, das ist die Ohnmacht und die Entfremdung der Gestaltenden. Es geschah, daß jener ewige Prozeß im Judentum nicht mehr zum Austrag kommen konnte . .. und das Reich des gestaltenden Geistes verdrängt wurde von dem Reich der verwesenden Gestalt... Das Schicksal des Judentums kann sich nicht wenden, ehe der Wider­ streit in seiner alten Reinheit aufersteht, ehe von neuem der fruchtbare Kampf zwischen dem Gestaltenden und dem Gestaltlosen beginnt.«1’ Ich gehöre zu denen, die in ihrer Jugend, als diese Reden erschienen, tief von ihnen bewegt wurden und die - wie 14 Dort, S. 22-24. 15 Dort, S. 244. 148

es auch ihrem Autor selber geschah - diese Seiten viele Jahre später nur noch mit dem Gefühl tiefer Entfremdung lesen können. Sie haben für unser historisches Bewußtsein nichts Überzeugendes mehr, ihre Psychologie überzeugt uns nicht mehr, und die Verbindung zwischen der Psycho­ logie und der Theologie scheint uns rhetorisch. Die Schei­ dung zwischen dem offiziellen Judentum, das als das Reich der verwesenden Gestalt abgetan wurde, und einem unterirdischen, in dem die wahren Quellen rauschen, war naiv und konnte historischer Betrachtung nicht standhal­ ten. Buber selbst ist später von ihr abgerückt. Und den­ noch ging von diesen Worten seinerzeit eine bedeutende Magie aus. Ich wüßte aus jenen Jahren kein Buch über das Judentum zu nennen, das auch nur annähernd solche Wir­ kung gehabt hat - nicht bei den Männern der Wissen­ schaff, die diese Reden kaum gelesen haben, sondern bei einer Jugend, die hier zu einem Aufbruch aufgerufen wurde, mit dem viele von ihnen Ernst gemacht haben. Gerade die Begriffe, die an diesen Reden besonders wirk­ sam waren, kehren in den späteren Schriften Bubers nicht mehr oder nur in verwandelter Form wieder. Dazu gehört vor allem seine Scheidung, die sich auf einen damals weit­ verbreiteten Sprachgebrauch stützte, zwischen Religion und Religiosität, in der Buber seiner Abneigung gegen das Gesetz als Form der jüdischen Religion und seinem Ein­ treten für die wahrhaft gestaltenden Kräfte Ausdruck geben konnte. Erneuerung des Judentums, bei Buber stets ein revolutionärer und nicht evolutionärer Begriff, bedeu­ tet ihm »Erneuerung der jüdischen Religiosität«. Er er­ klärt das so: »Religiosität ist das stets neu werdende, stets neu sich aussprechende und ausformende, das staunende und anbetende Gefühl des Menschen, daß über seine Be­ dingtheit hinaus und doch mitten aus ihr hervorbrechend ein Unbedingtes besteht, sein Verlangen, mit ihm leben149

dige Gemeinschaft zu stiften, und sein Wille, es durch sein Tun zu verwirklichen und in die Menschenwelt ein­ zusetzen. Religion ist die Summe der Bräuche und Lehren, in denen sich die Religiosität einer bestimmten Epoche eines Volkstums ausgesprochen und ausgeformt hat ... Religion ist so lang wahr, als sie fruchtbar ist; dies aber ist sie so lang, als die Religiosität das Joch der Vorschrif­ ten und Glaubenssätze auf sich zu nehmen, sie doch - oft ohne es zu merken - mit neuem glühendem Sinn zu erfül­ len und zuinnerst zu verwandeln vermag, daß sie jedem Geschlecht erscheinen, als wären sie ihm selber heute of­ fenbart, seine eignen, den Vätern fremden Nöte zu stillen. Sind aber die Riten und Dogmen einer Religion so er­ starrt, daß die Religiosität sie nicht zu bewegen vermag oder sich ihnen nicht mehr fügen will, dann wird die Re­ ligion unfruchtbar und damit unwahr. Es ist also Reli­ giosität das schaffende, Religion das organisierende Prin­ zip; Religiosität beginnt neu mit jedem jungen Menschen, den das Geheimnis erschüttert, Religion will ihn in ihr ein für allemal stabilisiertes Gefüge einzwingen. Religiosität meint Aktivität - ein elementares Sichinverhältnissetzen zum Absoluten -, Religion meint Passivität - ein Aufsidinehmen des überlieferten Geheißes. Religiosität hat nur ihr Ziel, Religion hat Zwecke: aus Religiosität stehen die Söhne wider die Väter auf, um ihren selbeignen Gott zu Enden, aus Religion verdammen die Väter die Söhne, weil sie sich ihren Gott nicht auferlegen ließen. Religion bedeutet Erhaltung, Religiosität bedeutet Erneuerung.«'6 Es ist nicht schwer zu sehen, daß Buber in der ersten Hälfte dieses für seine Auffassung sehr charakteristischen Zitats, wie immer man zu der hier verwandten Termino­ logie stehen möge, den Finger auf einen durchaus bedeu­ tenden und für das Verständnis von Religionsgeschichte 16 Dort, S. 66-67, wozu auch die folgenden Seiten zuzuziehen sind.

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fruchtbaren Sachverhalt legt. Ebenso deutlich ist, daß er in den letzten Sätzen in eine zweifelhafte Antithesen auf­ stellende, pathetische Rhetorik ausgleitet, was freilich eine der Hauptschwächen von Bubers Schriften überhaupt ist. Das Anliegen Bubers in dieser Periode war, wie er sagte, »das besondere Wesen der jüdischen Religiosität aus dem Schutt, mit dem es Rabbinismus und Rationalismus be­ deckt haben, herauszulösen«. Buber betrachtete als den Wesensgrund der jüdischen Religiosität den »Akt der Entscheidung als der Verwirklichung der göttlichen Frei­ heit und Unbedingtheit auf Erden« und fand in der Auf­ fassung dieser Verwirklichung drei Schichten, in denen »sich das Werden jenes unterirdischen Judentums kund­ gibt ... im Gegensatz zum offiziellen Scheinjudentum, das ohne Berufung herrscht und ohne Legitimität repräsen­ tiert«1?. In der frühesten handelt es sich um die Verwirk­ lichung Gottes durch Nachahmung, im Sinne des bibli­ schen Wortes von der Gottesebenbildlichkeit des Men­ schen. Von ihr wird die Grundforderung der Tora be­ stimmt (Levit. 20:26): »Werdet mir heilig, denn heilig bin ich.« In der zweiten Schicht handelt es sich um eine Verwirklichung Gottes durch Steigerung seiner Wirklich­ keit. Gott sei, meint Buber, um so wirklicher, je mehr er vom Menschen in der Welt verwirklicht wird. Für diese zweite und noch mehr für die dritte Schicht, auf der die Verwirklichung Gottes durch den Menschen zu einer Ein­ wirkung der Menschentat auf Gottes Erdenschicksal wird, beruft sich Buber im wesentlichen auf kabbalistische Ge­ dankengänge. Stets liegt die Auffassung zugrunde, daß in die Tat des Menschen Unendliches einmündet, aber auch Unendliches ihr entströmt. Schon hier tritt Bubers Anschauung hervor, von der er letzten Endes nie abgelassen hat, in so vielfältiger Weise 17 Dort, S. 69. Hi

er sie fünfzig Jahre lang variiert hat. Die Wahrheit in der Beziehung des Menschen zu Gott »ist kein Was, son­ dern ein Wie. Nicht der Inhalt der Tat macht sie zur Wahrheit, sondern ob sie in menschlicher Bedingtheit oder in göttlicher Unbedingtheit geschieht. Nicht die Materie der Tat bestimmt [ihre Stellung und ihren Wert] . . ., sondern die Macht der Entscheidung, die sie hervorbringt, und die Weihe der Intention, die ihr innewohnt.«'8 Die historischen Stadien, in denen diese urjüdische Religiosität am deutlichsten sichtbar wird, sind nach Buber der Prophetismus und manche in unserer Bibel nur tendenziös entstellten Bewegungen wie die der im Buche Jeremia ge­ schilderten Rechabiten, dann die Essäer und die urjüdi­ sche Erscheinung Jesu, dessen Bergpredigt Buber mit gro­ ßem Nachdruck als »ein jüdisches Bekenntnis im aller­ innersten Sinn«*’ in Anspruch nimmt, und schließlich die Kabbala und der Chassidismus. Es sind diese Phänomene, die auch die weitere Entwicklung der Auffassung Bubers vom Judentum und seine Versuche zur weiteren Klärung bestimmt haben. Stets ist das Judentum hier ein Kampf: zwischen dem Priester und dem Propheten, zwischen den Rabbinen und den ihre Autorität untergrabenden Ketzern, zwischen dem Gesetz der Halacha und der volkstümlichen Aggada und der Welt der Mystik. Mit wachsender Einsicht ist Buber von der Radikalität dieser Antithesen, in denen er zwan­ zig Jahre lang schwelgte, abgerückt und hat hier und da eine gerechtere Verteilung der Akzente vorgenommen. Bei all dem bleibt aber entscheidend, daß Buber schon hier das Judentum nicht als etwas Statisches, in fixierter Gestalt vor uns Stehendes betrachtet, sondern als einen, wie er oft sagt, »geistigen Prozeß«, der seiner geschicht18 Dort, S. 71-72. 19 Dort, S. 38. IP

liehen Natur nach unvollendet ist, in dem große Ideen er nennt etwa die der Einheit, der Tat und der Zukunft10 - wirken, die aber immer wieder eine schöpferische Neu­ formulierung aus dem Geist der Zeiten heraus verlangen. Diese Linie hat Buber nie verlassen, und ich würde sagen, mit Recht.

3 Hier ist der Ort, von zwei Elementen zu sprechen, die für Bubers Auffassung von überragender Bedeutung ge­ worden sind, sei es, daß er sich ihnen vorbehaltlos und hingerissen verschrieb und sie glorifizierte, sei es, daß er sich von ihnen abzugrenzen suchte und mehr oder weniger überzeugende Reserven in seiner Beziehung zu ihnen machte. Ich meine die Rolle der Mystik und des Mythos bei Buber, also jener beiden Elemente, die im neunzehn­ ten Jahrhundert im Bewußtsein des emanzipierten Juden von seinem Judentum am meisten fehlten oder, um es ge­ nauer zu sagen, von diesem Bewußtsein selber ausgeschal­ tet und verworfen worden waren. Niemand hat um die erste Wiedersichtbarmachung dieser Züge im Judentum größere Verdienste als Buber, der nicht mit den Methoden der Wissenschaft und Geschichtsforschung, der Soziologie und Psychologie an sie herantrat, sondern mit der ganzen Leidenschaft eines von einer neuen Entdeckung überwäl­ tigten Herzens. Die unbeirrbare und ihrer selbst gewisse Subjektivität und Souveränität, mit der er hier vorging, hatte etwas Faszinierendes. Er folgte einem verborgenen inneren Kompaß, der ihn dorthin führte, wo im Schatz­ haus der Zeiten unerkannte, dem unbereiten Blick trüb oder unecht scheinende Edelsteine zu finden waren. Oder um es vielleicht deutlicher zu sagen: Buber war ein großer 20 Dort, S. 33—43. IJ3

Lauscher. Viele Stimmen drangen zu ihm, und darunter leise, den Generationen vor ihm ganz undeutlich und un­ verständlich gewordene, deren Anruf ihn tief bewegte. Auf der Suche nach lebendigem Judentum, die, wie wir sahen, der Zionismus in ihm geweckt hatte, drang er, in Wiederaufnahme der hebräischen Studien seiner Knaben­ zeit, zu den Quellen vor. Er las die von seinem Groß­ vater, dem Midraschforscher Salomo Buber, herausgege­ benen aggadischen Texte21, »erst immer wieder von sprö­ der, ungelenker, ungestalter Materie abgestoßen, allmäh­ lich die Fremdheit überwindend, das Eigne entdeckend, das Selbst anschauend mit wachsender Andacht«22. In den alten Jahrgängen der von Buber redigierten, von Theodor Herzl herausgegebenen Wochenschrift »Die Welt«, des zionistischen Zentralorgans, stehen die ersten Lesefrüchte, die er auf diesem Wege zu den Quellen erntete. Von hier aus wandte er sich eines Tages, um 1902 oder 1903, der chassidischen Literatur zu. Die Neigung zur Mystik hatte Buber in diese Lektüre frei­ lich mitgebracht. Sie war in ihm als Student erwachsen, und Jahre, bevor er chassidische oder kabbalistische Schrif­ ten in die Hand nahm, hatte er um 1899 schon Vorträge über Jacob Boehme gehalten2’. Die deutsche Mystik hatte ihn angezogen, noch bevor er die jüdische suchte und kennenlemte. Buber selbst waren, wie aus seinen Schriften deutlich hervorgeht, mystische Erfahrungen nicht fremd. Sie stehen sogar im Mittelpunkt seines ersten philosophi­ schen Buches, das unter dem Titel »Daniel, Gespräche von der Verwirklichung« 1913 erschien und auf eine philoso21 Die Handexemplare der Midrasch-Editionen Salomo Bubers, die er aus dessen Nadilaß behütete» standen bis zuletzt hinter seinem Schreibtisch. 22 Buber, Mein Weg zum Chassidismus, Wien 1918, S. 18. 23 Hans Kohn, Martin Buber, Sein Werk und seine Zeit, Köln 1961, S. 23.

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phische Interpretation solcher Erfahrungen hinausläuft. So kam sein Lauschen auf die Stimmen, die aus der chas­ sidischen Literatur zu ihm drangen, aus einem verwand­ ten Geist, in dem sie nun einen ungeheuren Widerhall er­ weckten. Um es anders zu sagen: Buber suchte die My­ stik im Judentum, und deswegen war er imstande, sie zu finden, das heißt wahrzunehmen, als er auf sie stieß. Was ihn an der chassidischen Welt bewegte, war viele Jahre lang die Mystik in ihr, und noch als er später versuchte, diese Mystik im Sinne seiner eigenen späteren Entwick­ lung um- oder wegzuinterpretieren, blieb es noch immer, auch unter der Hülle einer neuen Terminologie, nichts anderes als Mystik. Der tiefe Eindruck von Bubers ersten Schriften über den Chassidismus, die vor sechzig Jahren erschienen, kam eben daher, daß hier ein Mann von großer Kultur und Sensitivität es unternahm, am Judentum eine lebendige Schicht aufzuzeigen, von der bei den Männern der Wissenschaft bis dahin kaum die Rede gewesen war, ja deren Existenz, einem weitverbreiteten Vorurteil zuliebe, geradezu ab­ geleugnet worden war. Als Buber damals mit seinem Freunde Berthold Feiwel den »Jüdischen Verlag« in Ber­ lin als Organ der »jüdischen Renaissance« ins Leben rief, war es kein Zufall, daß dessen erste sachliche Veröffent­ lichung ein Büchelchen des Professors Salomon Schechter: »Die Chassidim, eine Studie über jüdische Mystik« war (1904), in dem ein aus chassidischem Milieu stammender Gelehrter, der sich freilich weit davon entfernt hatte, ein nicht von Polemik entstelltes erstes Bild dieser Bewegung zu entwerfen unternommen hatte. Bubers eigene Bemü­ hungen gingen aber weit darüber hinaus. Er schrieb nicht als Betrachter, sondern als Ergriffener. Dabei ist seine erste Äußerung über den Chatsidismus, die wir gedruckt be­ sitzen (aus dem Jahre 1903), noch von unpathetischer HI

Sachlichkeit und kann noch heute Gültigkeit beanspru­ chen: »Die chassidische Lebensanschauung entbehrt aller Sentimentalität; es ist eine ebenso kräftige wie gemüts­ tiefe Mystik, die das Jenseits durchaus ins Diesseits her­ übernimmt und dieses von jenem gestaltet werden läßt wie den Körper von der Seele: eine durchaus ursprüng­ liche, volkstümliche und lebenswarme Erneuerung des Neoplatonismus, eine zugleich höchst gotterfüllte und höchst realistische Anleitung zur Ekstase. Es ist die Lehre von dem tätigen Gefühl als dem Band zwischen Mensch und Gott. Das Schaffen währt ewig; die Schöpfung dau­ ert heute und immerdar fort, und der Mensch nimmt an der Schöpfung teil in Macht und Liebe. Alles, was reinen Herzens geschieht, ist Gottesdienst. Das Ziel des Gesetzes ist, daß der Mensch selbst ein Gesetz werde. Damit ist die Zwingherrschaft gebrochen. Aber die Stifter des Chassi­ dismus waren keine Verneiner. Sie negierten die alten Formen nicht, sie taten in sie einen neuen Sinn, und damit befreiten sie sie. Der Chassidismus, oder vielmehr die tiefe Seelenströmung, die ihn erzeugte und trug, schuf den im Gefühl regenerierten Juden.«2< In dem Maße, in dem sich Buber aber in den folgenden Jahren in die chassidische Lehre und Legende vertiefte, wurde er, wie er schrieb, »des Berufes inne, sie der Welt zu verkünden«2’. Sein eigener Sinn und sein Begriff von adäquater literarischer Mitteilung verbinden sich mit dem Sinn und dem Stil der alten Bücher und Hefte. Aus dem Referenten und Überlieferer wird er zum Deuter und Verkünder. Es beginnt der bei ihm nie mehr abreißende Prozeß, in dem er sein eigenes System in die Deutung ge­ schichtlicher Erscheinungen legt16. »Im Chassidismus 24 Der Jude und sein Judentum, S. 273. 25 Schriften III, S. 968. 26 So hat es schon Hans Kohn a. a. O.r S. 304, formuliert.

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siegt für eine Weile das unterirdische Judentum über das offizielle - über das allbekannte, übersichtliche Judentum, dessen Geschichte man erzählt und dessen Wesen man in gemeinverständliche Formeln faßt. Für eine Weile nur. Es gibt in unseren Tagen noch Hunderttausende von Chassidim; der Chassidismus ist verdorben. Aber die chassi­ dischen Schriften haben uns seine Lehre und seine Legende übergeben. Die chassidische Lehre ist das Stärkste und Eigenste, was die Diaspora geschaffen hat. Sie ist die Ver­ kündigung der Wiedergeburt. Es wird keine Erneuerung des Judentums möglich sein, die nicht ihre Elemente in sich trüge.«2? Buber war der erste jüdische Denker, der in der Mystik einen Grundzug und eine kontinuierlich wirkende Ten­ denz des Judentums sah. Er geht in der Formulierung dieser These sehr weit, aber die Anregung, die er damit gegeben hat, ist noch heute wirksam, wenn auch unter an­ deren Perspektiven. »Die mystische Anlage ist den Ju­ den von Urzeiten her eigen, und ihre Äußerungen sind nicht, wie es gewöhnlich geschieht, als eine zeitweilig auf­ tretende bewußte Reaktion gegen die Herrschaft der Ver­ standesordnung aufzufassen. Es ist eine bedeutsame Eigen­ tümlichkeit des Juden, die sich in den Jahrtausenden kaum gewandelt zu haben scheint, daß sich die Extreme bei ihm schnell und mächtig aneinander entzünden. So ge­ schieht es, daß mitten in einem unsäglich begrenzten Da­ sein, ja gerade aus seiner Begrenztheit urplötzlich das Schrankenlose hervorbricht und nun die sich ihm erge­ bende Seele regiert . .. Kommt demnach die Kraft der jü­ dischen Mystik aus einer ursprünglichen Eigenschaft des 27 »Einführung« zur Legende des Baalschem, Frankfurt 1907, S. VI. Diese Einführung ist in Bubers Schriften zum Chassidismus (Band III seiner Schriften) mit vielen anderen seiner früheren Äußerungen weg­ gelassen worden. M7

Volkes, das sie erzeugt hat, so hat sich ihr des weiteren auch das Schicksal dieses Volkes eingeprägt. Das Wan­ dern und das Martyrium der Juden haben ihre Seelen immer wieder in jene Schwingungen der Verzweiflung versetzt, aus denen zuweilen der Blitz der Ekstase er­ wacht. Zugleich aber haben sie sie gehindert, den reinen Ausdruck der Ekstase auszubauen, und sie verleitet, Not­ wendiges, Erlebtes mit Überflüssigem, Aufgeklaubtem durcheinanderzuwerfen, und in dem Gefühle, das eigene vor Pein nicht sagen zu können, am Fremden geschwätzig zu werden. So sind Schriften wie der >Sohar7. Der Durchbruch zur Religion, oder zur Religiosität, zu Gott, von dem Buber 36 Dort, S. 8$. 37 Dort, S. 100-101. 164

nun stets mit Nachdrude zeugen wird, wird klar: Jedes einzelne Du ist ein Durchblick zum »ewigen Du«. An kei­ ner einzelnen Beziehung von Ich und Du kann das dem Menschen eingeborene Du sich verwirklichen oder vollen­ den. Diese Vollendung, und das ist offensichtlich nach Buber der religiöse Akt, kommt zustande »einzig in der un­ mittelbaren Beziehung zu dem Du, das seinem Wesen nach nicht Es werden kann«’’. Bubers Kultur- und Reli­ gionsphilosophie kreisen um diese philosophisch-anthro­ pologischen Bestimmungen, die er in vielen Anwendungen fruchtbar gemacht hat. Daß diese Bestimmungen selber, die auf eine Heraushe­ bung der sogenannten »gelebten Wirklichkeit« und des »Konkreten« gegenüber den Abstraktionen einer die un­ mittelbaren Beziehungen zerreißenden Begrifflichkeit auf den Schild gehoben werden, nicht wenigen Bedenken un­ terliegen, ist nicht zu verkennen. Die Evidenz und Gül­ tigkeit von Worten wie unmittelbare Beziehung, ewiges Du, das Zwischenmenschliche und dergleichen, auf die Buber baut, ist keineswegs einsichtig. Sie läuft immer noch auf eine Hypostasierung des alten Erlebnisbegriffes ins Ontologische hinaus. Dem entspricht die Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit sehr vieler, oft hochpoetischer Buberscher Sätze, über die ziemlich fruchtlose Diskussio­ nen zwischen ihm und seinen Kritikern geführt worden sind”. Für das Verständnis von Bubers Gedankenwelt, gerade in dem uns hier beschäftigenden Zusammenhang, müs­ sen wir aber von diesen alle Schriften seiner späteren Periode durchwaltenden Grundbegriffen ausgehen. Dabei 38 Dort, S. 118. 39 Das gilt vor allem von dem in seinen philosophischen Stücken be­ sonders ratlos lassenden umfangreichen Band Martin Buber in der Sammlung »Philosophen des 20. Jahrhunderts«, Stuttgart 1963.

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spielt Bubers prononcierte, von ihm nachdrücklich plaka­ tierte Abkehr von der Mystik eine große Rolle. Während die Verwirklichung im »Daniel« eingestandenermaßen mystischer Natur ist - nicht umsonst ist das Motto des Buches in der Erstauflage aus Scotus Erigenas de divisione naturae entnommen, ein hochmystischer Satz, und nicht zufällig ist es im Abdruck in den »Schriften« weggelas­ sen worden -, ist die Verwirklichung, die aus der Ich-DuBeziehung als deren Erfüllung hervorgeht, nach Bubcr nicht mehr mystischer Natur*0. Den Einwand, daß das von ihm statuierte, prinzipiell unendlich ausweitungsfä­ hige Ich-Du-Verhältnis in einer verschwiegenen petitio principii ein mystisches Verhältnis des Menschen zur Welt oder zu Gott involviere, hat Buber stets sehr unwillig abgewiesen, ohne damit seine Kritiker überzeugen zu kön­ nen. Seine »empirischen« Beschreibungen eigener Ich-DuErfahrungen, wie das Anschauen eines Baumes oder des Blickes in die Augen seiner Hauskatze, sind, scheint mir, überhaupt nicht anders denn als Beschreibungen von my­ stischen Erfahrungen zu verstehen*1. Wohl aber ist unbe­ streitbar, daß Buber, der von Gott jetzt sozusagen als »biblischer Jude« (wie er sich selber oft nannte) spricht, die Rede vom »werdenden Gott«, die hinter vielen seiner früheren Äußerungen zu stehen scheint, endgültig ver­ worfen hat*1. So auch hat er nun das früher von ihm so erhobene »Erlebnis« zugunsten der »Begegnung« abge­ wertet. Aber diese Abwertung und die damit verbundene Kritik ist rein verbal, und auf den Moment der Begeg­ nung wird jetzt genau das übertragen, was ihn vorher zu einem realisierten Erlebnis gemacht hat, nun aber dem Er40 Schriften I, S. 166. Vgl. auch Bubers Kritik der Einheitsmystik dort, S. I3J-1J7. 41 Vgl. etwa I, S. 144. 42 Der Jude und sein Judentum, S. 7-8. 166

lebnis im abgewerteten Sinne fehlen soll. »Der Moment der Begegnung ist nicht ein >Erlebnis Bubers Rede vom geistgefaßten Kosmos ist so zu verste­ hen: »Jede große völkerumfassende Kultur ruht auf einem ursprünglichen Begegnungsereignis, auf einer ein­ mal an ihrem Quellpunkt erfolgten Antwort an das Du, auf einem Wesensakt des Geistes. Dieser, verstärkt durch die gleichgerichtete Kraft der nachfolgenden Geschlechter, schafft eine eigentümliche Fassung des Kosmos im Geist erst durch ihn wird Kosmos des Menschen immer wieder möglich; nun erst kann der Mensch aus getroster Seele in einer eigentümlichen Fassung des Raums Gotteshäuser und Menschenhäuser bauen, kann die schwingende Zeit mit neuen Hymnen und Liedern füllen und die Gemein­ schaft der Menschen selber zur Gestalt bilden. Aber eben nur, solang er jenen Wesensakt [also den Dialog von Ich und Du] im eigenen Leben tuend und leidend besitzt, so4$ Dort, I, S. 158-159. 168

lang er selbst in die Beziehung eingeht: so lang ist er frei und somit schöpferisch. Zentriert eine Kultur nicht mehr im lebendigen, unablässig erneuten Beziehungsvorgang, dann erstarrt sie zur Eswelt, die nur noch eruptiv von Weile zu Weile die glühenden Taten vereinsamter Geister durchbrechen. «H6 Die überhandnehmende, fortlaufend in der Geschichte sich ausbreitende, erstarrte Eswelt wird damit auch zur Ty­ rannei der Vorschriften und Gesetze, gegen die der Durchbruch einer neuen Beziehung, eines neuen Dialogs sich protestierend und revolutionierend richtet. Immer wieder muß die Duwelt geöffnet werden, um die verwe­ sende Gestalt der Eswelt zu erneuern. Hier wird klar, wie innig und fest auch die Gedanken des späteren Buber mit denen seiner früheren Periode in Verbindung stehen. Buber sucht noch immer das Schöpferische, den Prozeß der Entstehung von Formen und Gestalten, zu verstehen und hat nun, seiner Überzeugung nach, in der Lehre vom Ich und Du und vom dialogischen Leben den »Sesam, öffne dich!« gefunden, der ihm ein neues Verständnis der Phä­ nomene des geistigen Lebens und vor allem gerade des Judentums und seiner Stellung in der Welt gewährt. Sind doch von den vier sehr umfangreichen Bänden, in denen er am Ende seines Lebens seine Schriften zusammenfaßte, drei seiner Auffassung vom Judentum gewidmet: die »Schriften zur Bibel«, die »Schriften zum Chassidismus« und der Band »Der Jude und sein Judentum«, in denen er die Probe aufs Exempel gemacht hat.

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Nach Buber ist nämlich das dialogische Leben die große Entdeckung Israels. »Israel hat das Leben als ein Ange46 Dort, I, S. 114. 169

sprochenwerden und Antworten, Ansprechen und Ant­ wortempfangen verstanden, vielmehr eben gelebt.«*? Von dieser Grundeinsidit aus versteht sich auch seine Auffas­ sung des jüdischen Monotheismus. Er wendet sich gegen das Wort Lagardes, eines der tiefsten und erbittertsten gelehrten Antisemiten, der Monotheismus der Juden stehe »auf einer Stufe mit dem Berichte eines zur Inten­ dantur kommandierten Unteroffiziers, der das Dasein nur Eines Exemplars von irgendwelchem Gegenstände meldet«*’. Der Monotheismus Israels gründet nach Buber darin, »daß das Glaubensverhältnis seinem Wesen nadi für das ganze Leben gelten und in das ganze wirken will ... Die Einzigkeit im Monotheismus ... ist die des Du und der Ich-Dü-Beziehung, sofern diese an der Ganz­ heit des gelebten Lebens nicht verleugnet wird. Der »Poly­ theist« macht aus jeder göttlichen Erscheinung - also aus jedem Geheimnis der Welt und der Existenz, mit dem er zu tun bekommt - ein Gotteswesen; der »Monotheist« er­ kennt in allen den Gott wieder, den er im Gegenüber erfuhr.«*» Anders gesprochen: »Israels Du-Erfahrung der direkten Beziehung, die schlechthin singularische Er­ fahrung, ist so gewaltig, daß die Vorstellung einer Mehr­ heit von Prinzipien nicht aufkommen kann . .. Die Grundhaltung des Juden ist durch den Begriff des ¡ichud, der »Einung«, bezeichnet, der vielfach mißverstanden wird. Es geht um die unablässig erneute Bestätigung der göttlichen Einheit in der Vielfältigkeit der Erscheinungen, und zwar ganz praktisch gefaßt: immer wieder geschieht, durch menschliche Wahrnehmung und Bewährung, ange­ sichts der ungeheuren Gegensätzlichkeit des Lebens, und insbesondere angesichts jenes sich mannigfaltig kundge47 Dort, III, S. 741. 48 Paul de Lagarde, Mitteilungen 2 (1887), S. 3)0. 49 Schriften I, S. 629.

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benden Urwiderspruchs, den wir die Zweiheit von Gut und Böse nennen, dieser Gegensätzlichkeit nicht zum Trotz, sondern zu Liebe und Versöhnung, die Einung, das heißt: die Erkennung, Anerkennung, Wiedererkennung der göttlichen Einheit. Nicht im Bekenntnis allein, son­ dern in der Erfüllung des Erkenntnisses. Also keineswegs in pantheistischem Theorem, sondern in der Realität des Unmöglichen, in der Verwirklichung des Ebenbildes, in der imitatio Dei. Das Geheimnis dieser Wirklichkeit vollendet sich im Martyrium, im Sterben mit dem Ein­ heitsruf des >Höre Israel< auf den Lippen, der hier zur Bezeugung im lebendigsten Sinn wird.«’0 Die Bibel ist für ihn das klassische Dokument der dialo­ gischen Situation und des dialogischen Lebens. Während vorher seine Beschäftigung mit der Bibel offenbar noch keine produktiven Formen angenommen hatte, steht sie von 192$ an vierzig Jahre lang im Zentrum seiner Arbeit. Aus seiner neuen Sicht heraus, wie er sie in »Ich und Du« vorgetragen hatte, begann er 1924, von Franz Rosen­ zweigs Mitarbeit fünf Jahre lang unterstützt und angetrieben, die Bibel neu zu übersetzen’1. Zugleich unter­ nahm er es, in einem nicht abreißenden Strom von Vor­ trägen, Aufzeichnungen und größeren Darstellungen zen­ traler Komplexe der biblischen Glaubens- und Vorstel­ lungswelt deutende Rechenschaft über das Gelesene, ich sollte besser sagen: über das von ihm aus den alten Wor­ ten Vernommene zu geben. Ich sagte schon, daß Buber ein großer Lauscher war. Seine Haltung zur Bibel war die zu einer Urkunde der Offenbarung, wobei wir uns freilich darüber klarwerden müssen, welchen Sinn die Rede von Offenbarung bei ihm hat. Denn Buber benutzt zwar, vor 50 Der Jude und sein Judentum, S. 188-189. 51 Siehe meine Rede über Bubers Bibelübersetzung in meinem Buch Judaica l, Frankfurt 1963, S. 207-21$.

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allem unter dem nachhaltigen Einfluß von Rosenzweigs »Stern der Erlösung«, die Terminologie der Theologen, wenn sie von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung als wesentlichen Grundkategorien des Judentums sprechen. Aber wie bei so vielen religiösen Denkern verschiebt sich bei ihm der Sinn der alten Begriffe, nirgends deutlicher als wenn er von der Offenbarung spricht oder, was bei ihm auf dasselbe herauskommt, vom Worte Gottes. Er macht auch keine Unterscheidung, wie sie etwa von neue­ ren katholischen Theologen gern vorgenommen wird, zwischen Inspiration, in der menschliche Autoren, auch ohne ein klares Bewußtsein davon zu haben, von Gott zu ihrer Rede angeregt sind, und einer Offenbarung, in der Gott selber vernehmlich spricht. Die beiden Sphären flie­ ßen bei ihm zusammen. Offenbarung ist für ihn ein »im Jetzt und Hier« - wir müssen hinzufügen: potentiell in jedem Jetzt und Hier »gegenwärtiges Urphänomen«, nämlich das der schöpferi­ schen Begegnung zwischen dem Ich und dem ewigen Du in Anruf und Antwort. Und zwar empfängt der Mensch in ihr nicht etwa einen »Inhalt«, sondern eine »Gegenwart als Kraft«. Er empfängt keine Fülle des Sinnes, sondern die Bürgschaft, daß es Sinn gibt, »die unaussprechliche Bestätigung des Sinns«. Dieser Sinn ist nicht der eines anderen Lebens, etwa des Lebens Gottes, sondern dieses unseren Lebens, »nicht der eines >Drüben«, sondern dieser unserer Welt«. Offenbarung ist also die reine Begegnung, in der nichts ausgesprochen, nichts formuliert und defi­ niert werden kann. Der in ihr begründete Sinn kann nach Buber allein in der Tat des Menschen zum Ausdruck kom­ men. Er läßt sich nicht übertragen, nicht zu einem allge­ mein gültigen Wissen ausprägen, er kann nicht einmal »als ein geltendes Sollen tradiert werden, steht auf keiner Ta­ fel verzeichnet, die über aller Köpfen aufzurichten wäre.

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Zu bewähren vermag den empfangenden Sinn jeder nur mit der Einzigkeit seines Wesens und mit der Einzigkeit seines Lebens. Wie uns zur Begegnung keine Vorschrift führen kann, so führt auch aus ihr keine«. Diese Bestimmung Bubers ist, wie deutlich gesagt werden muß, eine rein mystische Bestimmung von Offenbarung. Es gehört zu den erstaunlichsten Illusionen Bubers, daß er mit solchen Worten den Bereich der Mystik verlassen zu haben, ja ihn verworfen zu haben glaubte. Ich habe vor einigen Jahren»1 den Begriff der Kabbalisten von Offenbarung und dem Wort Gottes ausführlich zu be­ stimmen versucht. Bubers Sätze fallen im Entscheidenden ganz in diesen Bereich, nur eben mit dem einen großen Unterschied, daß für die Mystiker die historische Offen­ barung die mystische impliziert, indem die eine sich in der anderen auseinanderlegt. Davon ist bei Buber freilich nicht mehr die Rede. Er kennt nur eine, eben die mysti­ sche Offenbarung, obwohl er ihr diesen Titel verweigert. Am Ende der hier im Auszug zitierten Sätze heißt es: »Das ist die ewige, die im Jetzt und Hier gegenwärtige Offenbarung. Ich weiß von keiner, die nicht im Urphäno­ men die gleiche wäre, ich glaube an keine. Ich glaube nicht an eine Selbstbenennung Gottes, nicht an eine Selbstbe­ stimmung Gottes vor den Menschen .. . Das Seiende ist, nichts weiter. Der ewige Kraftquell strömt, die ewige Berührung harrt, die ewige Stimme tönt, nichts weiter.«»» In Bubers Schriften zur Bibel wird dieser Begriff der Of52 Vgl. das Kapitel »Offenbarung und Tradition« in dem Band Über einige Grundbegriffe des Judentums, edition suhrkamp 414, S. 90-120. $3 Alles hier Zitierte in S&riflen I, S. 132-134. Vgl. das Zitat aus dem Werk des Kabbalisten Meir ben Gabbai, über das Tönen der ewi­ gen Stimme, die von Sinai herkommt, in dem in der vorigen Anmer­ kung genannten Band, S. 112-116. Zum kabbalistischen Begriff der Offenbarung vgl. meine Ausführungen dort, S. 103-112.

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fenbarung mehr oder weniger lose mit den historischen Phänomenen, vor allem der Sinaitischen Offenbarung, wie sie die Bibel sieht, und der prophetischen Offenba­ rung, die stets zugleich eine Sendung und ein Aufruf zur Entscheidung sei, interpretierend verbunden. Unverse­ hens geht ihm die Rede vom wahren Gespräch zwischen dem Ich und Du in die von der wahren Offenbarung über. Besonders deutlich wird das an den sehr merkwür­ digen Ausführungen, die er in seinem im allgemeinen sich ziemlich an die Texte haltenden Buch »Königtum Gottes« (1932) der Offenbarung am Sinai oder dem »Sinaibund« zwischen Gott und Israel widmet. Er sucht in den von ihm als unhistorisch anerkannten Berichten der Tora den »Kern« eines ursprünglichen Ereignisses, eben jener »Be­ gegnung« in einem höchsten Sinn, und er findet sie durch Anwendung einer rein pneumatischen Exegese, deren Subjektivität den Leser verblüfft. An die Stelle der Ana­ lyse, wie sie in seinen Schriften zur Bibel oft genug sehr fruchtbar verwandt wird, tritt, gerade auf den entschei­ denden Seiten seines Buches, die dem religiösen Ursprung der israelitischen Theokratie im Sinaibund gewidmet sind, eine pneumatische Konstruktion, wonach der aus Ägypten wandernde Verband halbnomadischer Stämme nicht sei­ nen menschlichen Führer zum König erhoben, sondern »auf dem anarchischen Seelengrund die Theokratie errich­ tet« hätte’*. J4 Schriften II, S. 686 und 72t, wie auch die in nur wenig gedämpfteren Tönen vorgetragenen Ausführungen in dem Kapitel »Heiliges Er­ eignis« seines Budies Der Glaube der Propheten, in Schriften II, S. 281-297. Noch schärfer ist dagegen die rein pneumatische Formulierung in Schriften II, S. 8j6, wo es über die Sinai-Offenbarung heißt, sie sei »die Wortspur eines natürlichen, das heißt eines in der den Menschen gemeinsamen Sinnenwek geschehenen und ihren Zusammenhängen ein­ gefügten Ereignisses, das die Schar, die es erfuhr, als Gottes Offen­ barung an sie erfuhr und so in einem begeisterten, willkürfrei gestal-

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Bubers oben dargelegter mystischer Begriff von Offenba­ rung überhaupt wird auf die von der religiösen Tradi­ tion als spezifische und historische Offenbarungen behaup­ teten Vorgänge projiziert. Damit erlangt Buber ebenso­ sehr eine außerordentliche Auflockerung der Texte, in denen das historische Judentum als eine religiöse Gesell­ schaft gründet, wie auch die von ihm verteidigte Identifi­ kation der Offenbarungen, die von der religiösen Tradi­ tion rezipiert und als autoritativ betrachtet worden sind, mit jenen Offenbarungen, die zu jeder Zeit und an jedem Ort dem angestrengt Lauschenden zuteil werden können. »Die gewaltigen Offenbarungen, auf die sich die Religionen berufen, sind der stillen wesensgleich, die sich allerorten und allezeit begibt. Die gewaltigen Offenba­ rungen, die im Anfang großer Gemeinschaften, in den Wenden der Menschenzeit stehen, sind nichts anderes als die ewige Offenbarung. Aber die Offenbarung schüttet sich ja nicht durch ihren Empfänger wie durch einen Trich­ ter in die Welt [es ist dies freilich genau das, was die hi­ storischen Offenbarungen tun! G. S.J, sie tut sich ihm an, sie ergreift sein ganzes Element in all seinem Sosein und verschmilzt damit. Auch der Mensch, der >Mund< ist, ist eben dies, nicht Sprachrohr - nicht Werkzeug, sondern tenden Gedächtnis der Geschlechter bewahrte; dieses So-erfahren aber ist nicht eine Selbsttäuschung der Schar, sondern ihre Schau, ihre Er­ kenntnis und ihre vernehmende Vernunft, denn die natürlichen Ereig­ nisse sind die Träger der Offenbarung, und Offenbarung ist geschehen, wo der Zeuge des Ereignisses, ihm standhaltend, diesen Offenbarungs­ gehalt erfuhr, sich also sagen ließ, was in diesem Ereignis die darin redende Stimme ihm, dem Zeugen, in seine Beschaffenheit, in sein Le­ ben, in seine Pflicht hinein sagen wollte«. Ein Zitat wie dieses zeigt deutlich, wie Buber die historischen Behauptungen der Bibel, die er nicht mehr annehmen kann, pneumatisch auflockert und einen durchaus mystischen Begriff von Offenbarung, wenn auch in moderner Formu­ lierung, in das Historische einhängt.

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Organ, eigengesetzliches lautendes Organ, und lauten heißt umlauten.«” Buber ist weit entfernt zu behaupten, daß die Erfahrung und Erfassung der dialogischen Situation eine Besonder­ heit des Judentums sei. Wohl aber ist es ihm gewiß, »daß keine andere Menschenschar an diese Erfahrung solche Kraft und Innigkeit hingegeben hat wie die Juden«’6. Die klassische und in der Religionsgeschichte unübertrof­ fene Darstellung dieser Situation konnte er am überzeu­ gendsten in der Erscheinung des biblischen Prophetismus finden, und in seinem Buch »Der Glaube der Propheten« scheint mir der Höhepunkt von Bubers Bemühungen um das Verständnis der Bibel als eines großen Gespräches er­ reicht zu sein. Der Prophet ist der Vernehmende, dem zugleich in Sinnbildern Gottes Ratschluß und Forderung verdeutlicht wird. Er ist aber ebensosehr der, welcher aus der Gewißheit des Auftrages und der Sendung her sein Volk in konkreten historischen Situationen zur Entschei­ dung für die Forderungen Gottes und zu deren Verwirk­ lichung aufruft. Er verlangt von Israel die Umkehr, die im Hebräischen, worauf Buber oft hingewiesen hat, identisch mit dem hebräischen Wort für Antwort ist. Bu­ ber hat mit großer Energie dargelegt, was der in der Pro­ phetie zum Ausdruck gelangende Anruf zur Umkehr nicht etwa an den Einzelnen, sondern an die Gemeinschaft für deren Konstitution als religiöse Gesellschaft des Ju­ dentums zu bedeuten hatte. Er hat das Scheitern des An­ rufs, die Unfertigkeit des nie vollendeten Dialoges, als ein konstitutives Element des Judentums dargestellt. Das Dialogische ist nämlich keineswegs vor dem Umschlag ins Gewalttätige und Zerstörerische gesichert. Buber hätte darauf hinweisen können - ich habe mich oft darüber gej$ Schriften I, S. ij8. s6 Der Jude und sein Judentum, S. 190.

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wundert, daß er es nicht getan hat -, daß der erste Dialog unter Menschen, von dem die Bibel spricht, der zwischen Kain und Abel, denn auch zum ersten Mord führt. Neben der Auffassung der Offenbarung als Dialog in einem gewaltig überhöhten Sinn beschäftigte Buber am meisten das Problem des Messianismus und der Erlösung. Ihren zentralen Charakter für das Verständnis des Juden­ tums in allen seinen Phasen, noch bis in seine Metamor­ phosen ins rein Säkulare hin, hat er immer wieder be­ tont. In seinen Schriften zur Bibel hat er ihre Entstehung, in seinen anderen Schriften ihre Auswirkung und Ver­ wandlung im Judentum verfolgt. In ihr findet er den stärksten Ausdruck der Bindung Israels an die Geschichte als den Schauplatz der entscheidenden dialogischen Be­ ziehung und ihrer Verwirklichung. In der eschatologischen Hoffnung auf eine Zukunft, die die tiefsten Erwartungen zwischen dem Ich und Du realisieren würde, steckt nach ihm immer Geschichtshoffnung, wie sie denn zur eigent­ lichen »Eschatologie«, zur Projektion auf das Ende der Tage, erst durch die wachsende Enttäuschung an der Ge­ schichte wird, die von jeher, fast 3000 Jahre durch, ge­ rade aus dieser Bindung an das Geschichtliche heraus die bitterste Erfahrung Israels gewesen ist. Dem Glauben wird die messianische Zukunft zur radikalen Geschichts­ wende, ja mehr noch zur radikalen Geschichtsüberwin­ dung. In der messianischen Utopie bricht dann eine neue Mythisierung dieser Erwartung auf. Denn der Glaube mythisiert seinen Gegenstand, und wenn der Mythos auch nicht seine Substanz ist, so ist er doch die »Sprache des erwartenden wie des errinnernden Glaubens« s?. Die messianische Erwartung stand ursprünglich, wie Bu­ ber in denkwürdigen Seiten über das Buch Jesaja zu zei­ gen suchte, »in der vollen Konkretheit der gelebten Stunde $7 Schriften II, S. 490. 177

und ihrer Potentialität« und wird erst, am stärksten in den großen Reden des Deutero-Jesaja, eschatologisch, eine Verwandlung, die für Buber zusammenfällt mit der für die gesamte Zukunft des Judentums entscheidenden Ver­ wandlung Gottes, des Herrn der Geschichte, in den Gott der Leidenden und Unterdrückten. Gerechtigkeit und tätige Liebe - das hebräische Wort chessed läßt sich kaum anders kurz übersetzen - sind ebensosehr die Forderung der Stunde, die den Leidenden aufrichtet, als die Hoff­ nung der Zukunft, in der sie auf Erden realisiert werden sollen. Die messianische Idee ist aber für Buber, und das ist merkwürdig genug, keine revolutionäre Idee. Der Messias ist nach ihm der Erfüllende, »der endlich den statthalterlichen Auftrag erfüllende Mensch, der in einer mensch­ lichen Gemeinschaft, mit menschlichen Kräften und menschlicher Verantwortung, die »göttliche Ordnung«, das heißt die von Gott geforderte Ordnung der Gerech­ tigkeit und Liebe, errichtet’8. Der Aufruf zum Kom­ menden und Neuen ist für den späteren Jluber, in deut­ lichem Gegensatz zu seiner früheren Periode, kein Auf­ ruf zur Revolution”. Das Neue ist nur die Entfaltung der Ebenbildlichkeit des Menschen, der nicht etwa »auf die Seite Gottes hinüberkommt, sondern vor seinem An­ gesicht stehenbleibt, in unaufhebbarem Dialog«60. Dar­ um sieht Buber in der imitatio Dei den Kern der jü­ dischen Ethik, die aus der messianischen Spannung, der Gewißheit von der schließlichen Herrschaft des Gu­ ten lebt. Die messianische Idee verbindet zugleich, wie Buber vor allem am Deutero-Jesaja und später am Chassidismus $8 Dort, II, S. 395 und 399. 59 Dort, II, S. 468. 60 Dort, II, S. 399. 178

nachzuweisen suchte, Schöpfung und Erlösung, Urzeit und Endzeit. Gottes Schaffen ist etwas immer wieder Geschehendes, ja etwas Geschichtliches. »In der geschicht­ lichen Stunde, für die der Prophet spricht, schafft Er ein Neues, Er schafft um des Erlösungswerkes willen eine Wandlung der Natur, die aber zugleich Sinnbild der gei­ stigen Wandlung ist. .. Zwischen Schöpfung und Ge­ schichte besteht für Deutero-Jesaja keine theologische Ab­ grenzung.«61 Genau diese Auffassung findet Buber in der chassidischen Lehre wieder. Die Grundlage des jüdischen Messianismus läßt sich nach Buber in den Satz zusammenfassen: »Gott will zum Werk an der Vollendung seiner Schöpfung den Menschen brauchen.«61 Oder ausführlicher formuliert: »Der gelebte Augenblick des Menschen steht in Wahrheit zwischen Schöpfung und Erlösung, in seiner GewirktAeit an die Schöpfung, in seiner WirkungsmacAt an die Er­ lösung geknüpft; vielmehr, er steht nicht zwischen bei­ den, sondern in beiden zugleich. Denn wie die Schöpfung nicht bloß einmalig im Anfang, sondern auch allmalig in der ganzen Zeit ist, so ist auch die Erlösung nicht bloß einmalig im Ende, sondern auch allmalig in der ganzen Zeit.« So wie Gott nach einem Worte des alten jüdischen Gebetes jeden Tag das Werk der Schöpfung erneuert, so erlaubt und verlangt Gott nach Buber, daß auch im Be­ reich der Erlösung »seinem Wirken ein Wirken der Men­ schenperson unbegreiflich sich eintue. Nicht bloß auf die Vollendung hin, auch in sich selber ist der erlöserische Augenblick wirklich.«6’ Daß diese Sätze über Schöpfung und Erlösung sowohl im biblischen als im chassidischen Bereich sehr problematisch 61 Dort, II, S. 461. 62 Schriften III S. 752. 63 Dort, S. 733.

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sind und mit guten Gründen bestritten werden können, braucht hier, wo es uns um das Verständnis Bubers zu tun ist, nicht ausführlich dargelegt zu werden. Es liegt jeden­ falls eine gewaltige Subjektivität in diesen Akzentuie­ rungen und Verknüpfungen, denn für die Texte, auf die sich Buber beruft, sind Schöpfung und Erlösung zwar komplementär, aber nicht eigentlich parallel, und so wahr es ist, daß die ständige Erneuerung der Schöpfung der spä­ teren jüdischen Lehre entspricht, so wenig weiß diese von einer Wirklichkeit des erlöserischen Augenblickes, von der Buber so gern und ganz im Geiste des religiösen Existen­ tialismus spricht. Für Buber ist dies aber ein zentraler Punkt. »Nur aus der Erlösung des Alltags wächst der All-Tag der Erlösung.« Er hält es für einen Irrtum, den jüdischen Messianismus »im Glauben an ein einmaliges endzeitliches Ereignis und an eine einzelne Menschen­ gestalt als Mittel dieses Ereignisses erschöpft zu sehen. Die Gewißheit der mitwirkenden Kraft, welche dem Men­ schen zugeteilt ist, verband die Endzeit mit dem gegen­ wärtigen Leben.« Zwar leben wir in einer unerlösten Welt, »aber aus jedem willkürlos weltverbundnen Men­ schenleben fällt in sie ein Samen der Erlösung, und die Ernte ist Gottes«6*. Bubers scharfe Wendung gegen das revolutionäre Element im jüdischen Messianismus hängt mit einem weiteren wich­ tigen Punkt zusammen, seiner ausgeprägten Abneigung gegen die Apokalyptik. Buber gehört, nicht anders als Franz Rosenzweig und eine lange Reihe liberaler jü­ discher Denker, mindestens in seiner späteren Periode, zu den Vertretern einer Tendenz, dem Judentum den apo­ kalyptischen Stachel zu nehmen. Ich habe über diese Ten­ denz im Judentum in meinem Vortrag »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum« ausführlich gehan64 Dort, S. 75$ und 757. 180

delt6f. Sie stellt eine legitime Tendenz dar, der freilich eine nicht minder legitime, von Buber erbittert abgelehnte, aber äußerst wirksame gegenübersteht. Für Buber ist die Apokalyptik eine unter iranischem Ein­ fluß entstandene Verzerrung und Verfälschung des authen­ tischen prophetischen Antriebes, über die er jetzt ebenso­ viel Schlechtes zu sagen weiß wie in seiner früheren Pe­ riode über das Gesetz. Ausgezeichnet kommt diese seine Haltung, die alle seine späteren Schriften durchzieht, in seinem Aufsatz »Prophetie und Apokalyptik«66 zum Ausdruck. Sie stellen für ihn zwei Grundhaltungen dar, zu denen er leidenschaftlich Stellung nimmt. Der Prophet, der von Gott angeredet worden ist, gehört mit ins Ge­ schehen selber, in das er mit dem Aufruf zur Umkehr eingreifen will und dem er sich mit dem vollen Einsatz seiner Person stellt. Denn die Aufgabe des Propheten ist nicht, wahrzusagen, sondern die Menschen mit den Al­ ternativen der Entscheidung zu konfrontieren. Der Apokalyptiker dagegen steht dem Geschehen gegenüber, er sieht darin einen unabänderlichen Ablauf, der nun, am hereinbrechenden Ende der Zeiten, sichtbar geworden ist und der nicht zu einer Erfüllung der Geschichte, sondern zu deren Vernichtung führt, aus der sich erst der neue Aion, die Welt der Utopie, die der großen Katastrophe folgt, erhebt. »Die Zukunft ist für den Seher nicht etwas, was zustande kommt; sie ist im Himmel schon gleichsam von je vor­ handen. Darum kann sie dem Sprecher auch >enthüllt< werden, und er kann sie den andern enthüllen.« »Ein Korn bösen Samens war im Anfang in Adams Herz ge­ sät«, wie es in der Apokalypse des sogenannten vierten 6$ In Einige Grundbegriffe usw., edition suhrkamp 414, S. 121-170. 66 Schriften II, S. 925-942. Die Zitate im hier Folgenden stammen aus diesen Seiten.

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Buches Esra heißt. Nun muß die ganze Ernte aufgehn, und erst wenn sie in der Katastrophe des Endes geschnitten sei, könne der Acker des Guten erscheinen. Statt der Ent­ scheidung im Sinne der Propheten gibt es nur die Tren­ nung der Auserwählten von einer dem Untergang geweih­ ten, verfallenen Schöpfung. »Der Mensch kann nichts voll­ bringen, er hat aber auch nichts mehr zu vollbringen.« Eine optimistische moderne Gestaltwandlung der vom Ursprung her pessimistischen jüdischen Apokalyptik sieht Buber in der Zukunftsbetrachtung von Karl Marx, deren »prophetischen Urgrund« er bestreitet, weil er in ihm einen Apokalyptiker in säkularisierter Gestalt sieht, dem nichts an der inneren Wandlung des Menschen liegt, die der Weltwandlung vorausgeht, sondern an den Gesetzen des unabänderlichen Geschehens, das die bisherige Ge­ schichte revolutionär verschlingen wird und deren Ka­ tastrophe bestenfalls zu beschleunigen sei. In der moder­ nen Apokalyptik, die er nicht nur bei Marx, sondern auch bei den protestantischen Theologen der Bardischen Schule wiederfindet, sieht Buber eine Kodifikation alles dessen, was ihn am meisten zum Widerspruch reizt. Er sucht die Bedeutung dieses Momentes in der Geschichte des Judentums nach Kräften zu minimalisieren. Damit aber wurde er auch zu einer, wenn auch nicht sehr durchgreifenden Revision seiner Haltung zum Gesetz ge­ drängt, an dem ihm nun die Treue des Bewahrenden als ein antiapokalyptisches Moment in einem positiveren Licht erscheint. Diese Wendung in seiner Stellung zum Gesetz zeichnet sich vor allem in seinem Aufsatz gegen Oskar H. Schmitz »Pharisäertum« (1925) ab6?. Nun findet er in der Stellung der Pharisäer zum Gesetz nicht mehr starre Gesetzlichkeit. Er erkennt an, daß es hier »leben­ dige Überlieferung« gäbe, »die zwar grundsätzlich nichts 67 Der Jude und sein Judentum, S. 221-230. 182

anderes als Übernahme eines Übergebenen, eines mündlich Erhaltenen sein wollte, aber in ihrer Wirklichkeit doch in jedem neuen Geschlecht zu neuer Situation neuen Spruch tat; neuen Spruch, der sich freilich aus seiner Verknüpftheit mit der Tradition legitimieren mußte, aber deren Be­ stand eben doch erweiterte, modifizierte, ja wandelte«6869 . Buber geht so weit, zu sagen, daß »die Pharisäer, indem sie sich unterfingen, das Schriftwort auszulegen, es in den Raum des Weltgeschehens« hineingehoben haben. Das sind neue Töne, von denen in Bubers früherer Periode wenig zu vernehmen war. Aber immer noch bleibt Buber weit entfernt, dem normativen Judentum, der Halacha, eine zentrale Position in seiner Auffassung vom Judentum zuzubilligen. In seiner Auseinandersetzung mit dem Christentum, die er in seinem schwächsten Buch, »Zwei Glaubensweisen« (19J0), vorgenommen und an eine freilich überaus dubiose Diskussion des angeblich verschie­ denen Sinnes von Glauben, Emuna, im Judentum und von Pistis im Neuen Testament gebunden hat, tritt das Gesetz und die Haltung von Judentum und Christentum zu ihm entschieden in die zweite Reihe. Auch in seinen anderen Schriften dieser Periode, die unter der Losung des Ich und Du stehen, scheidet er zwischen dem Gebot, welches die fordernde Anrede der Offenbarung an den Menschen ist, und dem Gesetz, in dem sich die Anrede objektiviert und nur allzu bald in der Eswelt abstirbt6’. Seine Äußerungen über das Gesetz werden maßvoller, aber für das, was ihm bei der Betrachtung des Judentums am Herzen liegt, bedeutet es noch immer nichts.

68 Dort, S. 222. 69 Schriften II, S. 1080. 183

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Bubers hauptsächliche Arbeit an der Erfassung und Inter­ pretation großer Phänomene des Judentums konzentrierte sich auf die Bibel und den Chassidismus, die in seiner Sicht durchaus koinzidieren und in verschiedenen Formen dieselbe Botschaft des authentischen Judentums ausspre­ chen, die Botschaft der Verwirklichung der echten, von ihm als unmittelbar behaupteten Beziehung von Ich und Du im gelebten Augenblick, von dem aus alle Zeiten und Gestalten ihre Sinngebung und Belebung erhalten. Es darf aber hier auf einen Unterschied in seiner Haltung zu die­ sen beiden Gebieten hingewiesen werden, der in seinen Werken sehr sichtbar ist und zu denken hätte geben müs­ sen - wäre er je beachtet worden. Bubers Schriften zur Bibel stellen sich, mindestens in ihrem literarischen Auf­ bau und der Vortragsart, der wissenschaftlichen Analyse. Sie fügen sich in den traditionellen Rahmen wissenschaft­ licher Fragestellungen ein, umrahmen sie mit präzisen Quellenangaben und geradezu auffallend reicher, an sei­ nen anderen Schriften gemessen ostentativ wirkender Auseinandersetzung mit gelehrter Literatur. Seine Exege­ sen sind freilich, wo es hart auf hart geht, wie ich schon gesagt habe, pneumatische Exegesen. Aber es ist eine pneu­ matische Exegese mit Anmerkungen, die ihren pneuma­ tischen Charakter ein wenig zurücktreten lassen oder ge­ radezu verwischen. Seine chassidischen Schriften jedoch vermeiden all dies Beiwerk. Sie stellen ex cathedraÄußerungen dar, die der Nachprüfung an den Quellen keine Ermunterung und Hilfe bieten. Ich darf hier vielleicht einiges Persönliche zur Illustration erwähnen. Nur einmal, 1921, gelang es mir, als ich noch sehr jung war, Buber unter großem Drängen dazu zu bringen, seinem Buch »Der große Maggid und seine Nach184

folge« ein Quellenverzeichnis mitzugeben. Ich stellte ihm den Anreiz vor Augen, den es für ernste Leser seines Buches, die sich im Hebräischen auskennen, haben müßte, seine Geschichten mit den Originalen zu vergleichen, ja daß sie doch eigentlich ein Anrecht auf solchen Vergleich hätten. Er versprach, es zu erwägen, und gab schließlich als Kompromiß der Erstausgabe des Buches ein Quellen­ verzeichnis mit, das, wie er mir schrieb, »separat in klei­ ner Auflage gedruckt und jedem Interessenten gratis übersandt« werden würde. Hier war wenigstens für jede Geschichte Titel und Ausgabe des Buches verzeichnet, das als Quelle gedient hatte, wenn auch noch immer ohne genaue Seitenangabe. Auch diese Konzession, die ihm so offensichtlich gegen den Strich ging, verschwand aus seinen späteren chassidischen Büchern und Auflagen, und erst 1957 ließ er sich wieder überreden, in der hebräischen Ausgabe seiner »Erzählungen der Chassidim« wenig­ stens die Titel seiner Quellen anzugeben. Das war ihm schon die äußerste Grenze des Entgegenkommens an hi­ storische und wissenschaftliche Diskussion. Zu nahe war ihm die so ganz persönliche Note, die er dem Chassidis­ mus gegeben hatte, als daß er sie dem kalten Licht der Konfrontation mit traditionellen kritischen Methoden aussetzen wollte. Buber war an der Akzentuierung dieser Differenz zwi­ schen seiner und einer rein forschenden Haltung nicht ge­ legen, und mir selbst ist die volle Schärfe dieser Differenz erst sehr allmählich klargeworden. Als ich ihn 1932 in Deutschland besuchte, sagte ich zu ihm: »Warum schreiben Sie nicht endlich ein darstellendes Werk über die Theolo­ gie des Chassidismus? « Er antwortete: »Ich beabsichtige das zu tun, aber erst wenn Sie ein Buch über die Kabbala geschrieben haben werden.« Ich sagte: »Ist das eine Ver­ abredung?« Er sagte: »Vielleicht.« Ich verstand damals r8j

noch nicht, daß er keine wissenschaftliche Haltung zu die­ sem Thema haben konnte. Erschütternd mußte ich das er­ fahren, als ich, zwei Jahre nach dem Erscheinen jenes Bu­ ches, auf das er gewartet hatte, im Jahre 1943 zu ihm ging, um ihm, wie ich ihm gesagt hatte, in einem Gespräch meine grundsätzlichen Bedenken über seine Deutung des Chassidismus darzulegen, wie sie sich mir in langen Jahren fortschreitenden Studiums der Texte gebildet hatten und wie ich sie an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe?0. Buber hörte mir mit großem Ernst und großer Gespannt­ heit zu. Als ich fertig war, schwieg er sehr lange. Dann sagte er langsam und mit Betonung jedes Wortes: »Wenn das richtig wäre, lieber Schölern, was Sie da sagen, dann hätte ich mich ja vierzig Jahre ganz umsonst mit dem Chassidismus beschäftigt, denn dann interessiert er mich ja gar nicht.« Es war das letzte Gespräch, das ich mit Bu­ ber über die sachlichen Probleme des Chassidismus geführt habe. Es verschlug mir die Rede. Ich verstand, daß da nichts mehr zu sagen war. Wie Bubers Arbeit an der Bibel sich an der Präsentation des biblischen Textes selber im Medium seiner neuen Über­ setzung und in der deutenden Auseinandersetzung mit diesen Texten darstellt, so zerlegt sich auch seine Bemü­ hung um die chassidische Geisteswelt in die Sammlung chassidischer Anekdoten von lehrhaftem Inhalt, wie sie in den »Erzählungen der Chassidim« in höchst eindrucks­ voller Weise vorliegen, und in deutende Arbeiten, in de­ nen er seine Auffassung von dem, was er die »chassi­ dische Botschaft« nannte, vortrug. Buber war sich der Paradoxie seines Unternehmens bewußt, wenn er »die Bot­ schaft an die Menschenwelt, die der Chassidismus nicht sein wollte, aber war und ist, unmittelbar als Botschaft 70 »Bubers Deutung des Chassidismus«, in Judaica I (1963), S. i6j202. 186

ausspreche. Ich spreche sie als solche gegen seinen Willen aus, weil die Welt ihrer heute sehr bedarf. «7’ Zugleich betont er aber, er habe diese Botschaft »nicht in dichte Begrifflichkeit umgesetzt« und habe daher auch die my­ thischen Formen, in denen sich das chassidische Wesen aussprach, zu bewahren gesucht. Er grenzte sich dabei von dem zeitgenössischen Postulat nach Entmythisierung der Religion ab, denn »der Mythos ist nicht die nach­ trägliche Einkleidung einer Glaubenswahrheit, er ist das unwillkürliche Erzeugnis bildnerischen Sehens und bild­ nerischen Erinnerns des Überwältigenden, und Begriff­ liches ist da nicht auszuschmelzen«?*. Man wird aber sa­ gen müssen, daß es, seiner Verwahrungen ungeachtet, an recht weitgehenden Versuchen dazu bei ihm nicht gefehlt hat. Die Hervorhebung der Tendenzen im Chassidismus, die nach ihm dessen Botschaft an die Welt und zugleich dessen innersten jüdischen Sinn enthalten, sind in großen­ teils von ihm selbst geprägten Begriffen zusammengefaßt. In diesen Prägungen tritt ebensosehr sein eigener Beitrag zur Erfassung des Judentums hervor wie deren Analyse ihre Problematik, das heißt ihre Fragwürdigkeit, sicht­ bar machen würde. Während vorher der Chassidismus Buber als ein klas­ sisches Paradigma »aktivistischer Mystik« erschien, findet er später in ihm einen Aufruf zur Realisierung des IchDu-Verhältnisses, das ohne jede mystische Entrückung im Konkreten der Welt verwirklicht wird. Die eigentlich mystischen Züge, die er vorher akzentuiert hatte, werden nun beiseite geschoben oder umgedeutet. Zentral bleiben ihm die Aufhebung der Scheidung zwischen Heiligem und Profanem, die Weihe und Heiligung jeder konkreten Tat, 71 Schriften III, S. 741. 72 Dort, S. 946. 187

was immer ihre Materie sei, ein Pansakramentalismus, der »weltoffen, weltfromm, weltverliebt« sei?J. Die Tendenz zur Überwindung der fundamentalen Scheidung zwischen Heiligem und Profanem, die nach ihm im Chassidismus »zu einer höchst realistischen Voll­ endung« gelangt, hebt sich auch für Buber vom Hinter­ grund einer ins Auge fallenden entgegengesetzten Ten­ denz zur schärfsten Grenzziehung zwischen den beiden Bereichen ab?*. Ist es doch gerade diese, die die Welt der Halacha, der jüdischen Lebensordnung unter dem Gesetz, grundsätzlich charakterisiert. Buber sieht es aber so: die Scheidung zwischen den Bereichen sei nur eine vorläufige, denn auch nach älteren Anschauungen stecke das Gesetz »nur das schon für die Heiligung beanspruchte Gebiet ab«, während in der messianischen Welt alles heilig ge­ worden sein wird. So läßt sich das Profane als ein »Vor­ stadium des Heiligen ansehen; es ist das noch nicht Geheiligte«?*. In diesem Sinne deutet Buber ein in seinem ursprünglichen Zusammenhang freilich ganz anders ge­ meintes berühmtes Wort eines der großen Zaddikim, des Rabbi Mendel von Kozk: »Gott wohnt, wo man ihn ein­ läßt.« Es handelt sich also um die Heiligung des Alltags, »Es gilt nicht ein neues, seiner Materie nach sakrales oder mystisches Tun zu gewinnen; es gilt das einem Zugewie­ sene, das Gewohnte und Selbstverständliche in seiner Wahrheit und in seinem Sinn... zu tun.«?6 Das ist für Buber der Sinn des chassidischen Pansakramentalismus. In der konkreten Welt selber, nicht durch mystische Ent­ rückungen aus ihr oder durch esoterische oder gar ma­ gische Veranstaltungen in ihr hat der Mensch seine Be73 74 7$ 76

Dort, S. 844. Dort, S. 939. Ibidem. Dort, S. 8ri.

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rufung zu erfüllen. Buber kontrastiert das Prinzip der Auslese der sakramentalen Stoffe und Handlungen in der christlichen Reformationsbewegung mit der chassi­ dischen Haltung, die nach ihm »weiß, daß die sakramen­ tale Substanz in der Gesamtheit der Dinge und Funk­ tionen nicht vorfindbar und nicht handhabbar ist, aber glaubt, daß sie in jedem Gegenstand und in jeder Hand­ lung zu erwecken und zu erlösen ist«, und zwar »durch die erfüllende Gegenwärtigkeit des ganzen, ganz hinge­ gebenen Menschen, durch sakramentale Existenz«??. Diese scharfe Heraushebung einer Tendenz, für die es zweifellos in der jüdischen Literatur, und gewiß besonders stark in der chassidischen, gute Belege gibt, gibt Bubers Auffassung ihre spezifische Note. Er hat sie freilich um einen hohen Preis erkauft, nämlich durch die entschlos­ sene Vernachlässigung derjenigen Züge, in denen die Be­ gegnung mit dem Konkreten als dessen Aufhebung ge­ deutet wird, weil in der wahren Begegnung - und das ist der Tenor der entscheidenden chassidischen Texte - das Konkrete seinen Konkretheitscharakter verliert und ins Göttliche hineingenommen wird. Die »Weltverliebtheit« des Chassidismus stellt sich bei näherer Untersuchung als die Weltverliebtheit Bubers heraus. Die chassidische Haltung war viel dialektischer, als sie bei Buber erscheint. Zu dieser Eindeutigkeit in der Glorifizierung des »Kon­ kreten« trug in Bubers späteren Schriften seine hitzige Polemik gegen alle Gnosis bei, zu der er, gewiß mit Recht, die jüdische Kabbala zählte. Während er früher den Chassidismus in einer ausgezeichneten Formulierung als »Ethos gewordene Kabbala« definiert hatte?8, sieht er ihn nun, gerade in seinem Eigentlichen, als Gegensatz da­ zu. Was er früher in einem nicht minder glücklichen Aus77 Dort, S. 841. 78 Dort, S. 15.

druck als die »Entschematisierung des Mysteriums«?’ gesehen hatte, wird nun in Antithesen polemisch über­ höht. Diese Neigung Bubers zu überspielten Antithesen, die die wirklichen Phänomene des Glaubens nicht mehr treffen, obwohl in ihnen immer ein Schuß Wahrheit steckt, ist eine grundsätzliche Schwäche seines Werkes. Seine The­ sen geraten dadurch mehr als einmal in Gefahr, ins Ab­ surde umzuschlagen. Die radikalsten Formulierungen des­ sen, was Buber in seiner Losung von der Heiligung des Alltags als die Grundtendenz des Chassidismus erklärte, der das Kabbalistische hinter sich gelassen habe, stehen gerade in kabbalistischen Schriften. Für Buber aber wer­ den, was er Devotio nennt, und Gnosis ewige Gegensätze. Er fühlt sich in seiner Interpretation des Judentums als Sprecher der Devotio gegenüber der Gnosis, die er als eine »Großmacht in der Geschichte des Menschengeistes«79 80 be­ zeichnet. Gnosis ist für ihn die Anmaßung eines Wissens über Gott, das uns nicht zukommt, während Devotio den Dienst am Göttlichen bedeute, dessen Voraussetzung sei, daß der Dienende sein Selbst niemals als das Selbst ver­ stehe. So wenig mit solchen Antithesen für die Erkenntnis der historischen Phänomene gewonnen ist, so genau geben sie doch ein Bild von Bubers Auffassung. Auch in dieser spä­ teren Phase steht er, wie am Anfang, auf Seiten des Un­ formulierbaren, des schöpferischen Beginnens und Tuns gegen alle Gestalt der großen religiösen Traditionen, die, wenn man näher zuschaut, in Bubers Sinn Gnosis sind oder von ihr angefressen sind. Er konzediert, daß das gnostische Element die mythischen Elemente des Chassi79 Dort, S. 8 io. 80 Dort, S. 953. Diese Polemik mit der Gnosis kehrt in seinen späteren Schriften sehr oft wieder; vgl. zum Beispiel Der Jude und sein Juden­ tum, S. 194-197. 190

dismus bestimmt, aber er leugnet, daß es mit den schöpfe­ rischen Antrieben, die sich dieses Mythos bedienen und ihn verwandeln, etwas zu tun habe, sogar auf die Gefahr des manifesten Selbstwiderspruches hin. Das unendlich Gleitende seiner Formulierungen erlaubt ihm, über solche Widersprüche hinwegzukommen. Buber begann seine Wirksamkeit als Sprecher des Juden­ tums in seinen »Drei Reden über das Judentum«. Der großen Geste dieser Reden stehen am Ende seines Lebens die 1952 erschienenen Reden über dasselbe Thema gegen­ über, in denen tiefe Resignation und Bedrücktheit herr­ schen. Die Stimme ist leise geworden, der Sprecher steht am Rande der Verzweiflung und ist sich der bitteren Iro­ nie bewußt, daß er, der Philosoph des Dialogs, nicht er­ reicht hat, in einen Dialog mit seinem eigenen Volke ein­ zutreten81. Wenige werden diese Reden, das Vermächtnis eines alten Mannes, der die Einsichten seines Lebens noch einmal zusammenfaßt, ohne Bewegung lesen können. Die unbeantworteten Fragen, die er sich hier stellte, hat er auf dem Höhepunkt seines Lebens und Wirkens in einer 1933 gehaltenen Rede über den »Biblischen Humanis­ mus« noch in größerer Sicherheit beantwortet81. Hier kontrastierte er den abendländischen Humanismus mit dem biblischen, das heißt dem Aufruf an den hebräischen Menschen, ein »bibelwürdiger« Mensch zu sein, ein Mensch, »der sich von der Stimme, die in der hebräischen Bibel zu ihm redet, anreden läßt und ihr mit seinem Leben Rede steht«. Buber verlangt eine Wiedergeburt der nor­ mativen Urkräfte, denen das Leben sich unterwirft. »Auch wer wie ich das biblische Wort nicht an die Stelle der Stimme treten zu lassen .. . vermag, auch dem muß es 81 So hat die Situation sehr präzise einer seiner amerikanischen Kri­ tiker, Ch. Potok, in Commentary, March 1966, S. 49, formuliert. 82 Schriften II, S. 1087-1092. I9I

gewiß sein, daß wir das Normative nicht anders wahr­ haft wiedererlangen können, als indem wir uns dem bib­ lischen Wort erschließen . .. Wir sind nicht mehr Gemein­ schaft, die [des in der Offenbarung Kundgetanen] mäch­ tig ist, aber wenn wir uns dem biblischen Wort auftun ..., dürfen wir hoffen, daß die so - verschieden und doch ge­ meinsam — Ergriffenen wieder zur Gemeinschaft in jenem Ursinn zusammenwachsen ... Der biblische Humanismus kann nicht, wie der abendländische, über die Problematik des Augenblicks erheben; er will zum Standhalten in ihr, zur Bewährung in ihr erziehen. Diese Wetternacht hier, diese niederzuckenden Blitze, diese Androhung des Ver­ derbens: entflieh dem in keine Welt des Logos, in keine der vollkommenen Gestalt, halte stand, höre im Donner das Wort, gehorche, erwidre! Diese furchtbare Welt ist die Welt Gottes. Sie fordert dich an. Bewähre dich als Gottes Mensch in ihr!« In diesen Worten ist Bubers Verständnis des Judentums enthalten. In der Spannung zwischen dem Anruf aus dem Jahre, mit dem die große Katastrophe des jüdischen Vol­ kes einsetzte, und der leise verhallenden Stimme jener Reden »An der Wende« liegt das Wirken Bubers be­ schlossen. Auch von ihm gilt vielleicht das melancholische Wort der Preisung, mit dem eines der großen hebräischen Gedichte dieses Jahrhunderts beginnt:

Aschre ha-sörlm welö jiqzöru Selig, die säen und nicht ernten

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Walter Benjamin i

Im Jahre 1965 werden fünfundzwanzig Jahre vergangen sein, seit Walter Benjamin, mit dem mich ebenso viele Jahre hindurch enge freundschaftliche Beziehungen ver­ bunden haben, sich bei der Flucht vor den Deutschen nach dem Grenzübertritt nach Spanien das Leben nahm, als der örtliche Beamte in Port Bou der Gruppe, mit der er die Pyrenäen überschritten hatte, drohte, sie wieder nach Frankreich auszuliefern. Er war damals achtundvierzig Jahre alt. Ein Leben, das sich ganz jenseits der öffent­ lichen Bühne abspielte, obwohl es doch durch seine schrift­ stellerische Tätigkeit mit ihr verbunden war, geriet außer für eine Handvoll Menschen, die einen unvergeß­ lichen Eindruck von ihm empfangen hatten - in völlige Vergessenheit. In den mehr als zwanzig Jahren zwischen dem Einbruch der Nazi-Ära in Deutschland und dem Er­ scheinen einer Sammlung der Mehrzahl seiner wichtigsten Schriften 1955 gehörte sein Name zu den verschollensten in der geistigen Welt. Bestenfalls konnte man sagen, daß er Gegenstand einer esoterischen Flüsterpropaganda war, die manche von uns sich angelegen sein ließen. Größten­ teils dank der nachdrücklichen Aktivität von Theodor Wiesengrund Adorno, der nicht müde wurde, auf die überragende Bedeutung Benjamins hinzuweisen und der auch die seinerzeit keineswegs leicht unter Dach und Fach zu bringende zweibändige Ausgabe der Schriften im Suhrkamp Verlag veranstaltete, hat sich das im deutschen Sprachkreis geändert. In der Generation von Autoren und Lesern, die jetzt zum Zuge kommt, ist sein Name als der des bedeutendsten Literaturkritikers seiner Zeit hoch angesehen; eine Reihe seiner Schriften sind in neuen 193

Ausgaben verbreitet, der große Auswahlband Illumina­ tionen ist an besonders sichtbarer Stelle und in beträcht­ licher Auflage erschienen, und im Laufe dieses Jahres dür­ fen wir auch mit dem Erscheinen einer von Adorno und mir veranstalteten, ziemlich umfangreichen Auswahl sei­ ner zum Teil sehr bedeutenden Briefe rechnen, die ein Bild dieses Lebens und Schaffens geben werden. Ich habe Walter Benjamin zum ersten Mal im Spätherbst 1913 gesehen, als er bei einer Aussprache zwischen der zionistischen Jugend und den jüdischen Mitgliedern des >AnfangIch packe meine Bibliothek aus«, in dem wir den von Jean Paul inspirierten Satz lesen: »Von allen Arten, sich Bücher zu verschaffen, wird als die rühmlichste betrachtet, sie selbst zu schreiben«, während »von den landläufigen Erwerbs­ arten für Sammler die schicklichste das Ausleihen mit an­ schließendem Nichtzurückgeben« sei. Seine Bibliothek, von 196

der ich einen guten Begriff hatte, spiegelte sein sehr dif­ ferenziertes Wesen in der Tat mit großer Klarheit wider. Die großen Werke, die ihm etwas bedeuteten, standen hier in höchst barocker Zusammenstellung mit den ausgefal­ lensten und seltsamsten Schriften, denen seine, gleicher­ weise antiquarisch wie philosophisch beschwingte Liebe sich keineswegs in geringerem Maße zuwandte. Zwei Ab­ teilungen dieser Sammlung stehen mir besonders vor Augen: Bücher von Geisteskranken und Kinderbücher. In den Weltsystemen von Geisteskranken, die er aus ich weiß nicht welchen Quellen zusammenbrachte, fand er Stoff zu den tiefsinnigsten philosophischen Betrachtungen über die Architektur von Systemen überhaupt und über die Natur der Assoziation, von denen Denken und Phantasie sich bei geistig Gesunden und Kranken gleicherweise nähren. Wichtiger war ihm aber die Welt des Kinderbuches. Es gehört zu den wichtigsten Wesenszügen Benjamins, daß er sein Leben lang von der Welt des Kindes und kindlichem Wesen mit geradezu magischer Gewalt angezogen wurde. Diese Welt gehörte zu den andauerndsten und beharrlich­ sten Gegenständen seines Nachdenkens und alles, was er darüber geschrieben hat, gehört zu seinen vollkommensten Sachen. (Nur ein Teil davon ist in seine Schriften auf­ genommen). Hinreißend sind die hierher gehörigen Seiten in seinem Aphorismenbuch Einhahnstraße, wo die schön­ sten Sätze stehen, die wohl je über Briefmarken geschrie­ ben wurden, nicht weniger aber auch die Aufsätze, die er Ausstellungen von Kinderbüchern und verwandten The­ men gewidmet hat, in denen der Metaphysiker die noch unentstellte Welt des Kindes und seiner schöpferischen Phantasie mit ebenso ehrfürchtigem Staunen beschreibt wie in Begriffen zu durchdringen sucht. An sehr vielen an­ deren Stellen seines Œuvres sind diesem Bereich weitere 197

Ausführungen gewidmet. Das Werk Prousts bezeichnet bei Benjamin den Ort, wo die Welt des Erwachsenen und die des Kindes sich am vollkommensten ineinander ver­ schränken, und damit auch einen der Brennpunkte seines denkerischen Interesses. Schließlich schlug sich diese Faszi­ nation in den Aufzeichnungen nieder, die er über seine eigene Kindheit unter dem Titel Berliner Kindheit um Neunzehnhundert in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre machte, von denen ein großer Teil als Prosastücke in der frankfurter Zeitung« erschien, die aber vollstän­ dig als selbständige Schrift, wie sie gedacht waren, erst nach dem Zweiten Weltkrieg herauskamen. Hier sind Dichtung und Wahrheit wirklich eins geworden. Man hat oft behauptet, daß der Philosoph Schelling im Höhepunkt seiner schöpferischen Jahre unter dem Pseudonym Bo­ naventura eines der wichtigsten Werke der romantischen Prosa, die Nachtwachen, verfaßt habe. Es ist nicht sicher, ob das stimmt. Es wäre, wenn es sich so verhielte, die ge­ naueste Parallele zu Benjamins Buch, dessen kristallklare und zugleich von tiefer Bewegung erfüllte Prosa, die ganz aufgelockert und doch ganz gefestigt scheint, nur möglich war, weil sie aus dem Eingedenken eines Philosophen stammte, der ein Erzähler geworden ist. >Erzählende Philosophie« war das Ideal Schellings. In diesem Buche Benjamins ist sie auf ungeahnte Weise verwirklicht. Hin­ ter jedem dieser Stücke steht ein Philosoph und seine Sicht, aber unter dem Blick der Erinnerung verwandelt sich seine Philosophie in Dichtung. Benjamin, der so gar nichts von einem deutschen Patrioten an sich hatte, hatte eine tiefe Liebe zu Berlin. Als jüdisches Kind, dessen Vorväter im Märkischen, Mecklenburgischen und Westpreußischen ge­ sessen hatten, erlebte er seine Heimatstadt. In seiner Schilderung verwandeln sich das Steinpflaster der Groß­ stadt und die Winkel, die sie überall dem kindlichen Blick 198

enthüllt, in eine Provinz zurück, die sich mitten in der Weltstadt auftut. »In meiner Kindheit war ich ein Ge­ fangener des alten und neuen Westens. Mein Clan be­ wohnte diese beiden Viertel damals in einer Haltung, die gemischt war aus Verbissenheit und Selbstgefühl, und die aus ihnen ein Ghetto machte, das er als sein Lehen be­ trachtete.« Wie ein Kind aus diesem goldenen Ghetto es in seiner Phantasie durchmißt und alle seine Ecken durch­ leuchtet, als ob es die ganze große Welt des Kindes sei, hat Benjamin dreißig Jahre später in der Erinnerung le­ bendig gemacht. Alles Kleine hatte die größte Anziehung auf ihn. Im Klei­ nen und Kleinsten Vollkommenheit auszudrücken oder zu entdecken, war einer seiner stärksten Impulse. Autoren wie J. P. Hebel oder der hebräische Erzähler S. J. Agnon, die in Geschichten kleinsten Umfanges Vollkommenes zu­ stande brachten, konnten ihn immer wieder entzücken. Daß im Kleinsten sich das Größte aufschließt, daß »der liebe Gott im Detail wohnt«, wie Aby Warburg zu sagen pflegte, das waren in den verschiedensten Bezügen für ihn grundlegende Einsichten. Diese Neigung gibt seinem Bande Einbahnstraße die besondere Note. Denn nicht das eigent­ lich Aphoristische ist hier bestimmend, sondern die Ab­ sicht: in kleinsten Niederschriften ein Ganzes zu geben. Dieser selbe Zug prägte sich auch in seiner Schrift aus, die von einem extremen Hang zur Kleinheit geformt wurde, ohne doch in diesen winzigen Zügen die feinste Pointierung und Genauigkeit aufzugeben. Sein nie er­ reichter Ehrgeiz war, hundert Zeilen auf eine normale Briefseite zu bringen, und im August 1927 schleppte er mich ins Musée Cluny in Paris, um mir in einer dort ausgestellten Sammlung jüdischer Ritualien ganz hinge­ rissen zwei Weizenkörner zu zeigen, auf denen eine ver­ wandte Seele das ganze Schema Israel untergebracht hatte. 199

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In den Jahren seit dem Erscheinen seiner Schriften ist nicht wenig über Benjamin geschrieben worden, auch viel Unsinn und mesquines Zeug. Seine Erscheinung hatte zu­ viel des Rätselhaften und Nichtausschöpfbaren in sich, um dergleichen nicht zu provozieren. Und er selbst hätte an manchen Mißverständnissen seiner Kritiker wohl sein Vergnügen gehabt. Verleugnete er doch auch in seinen besten Stunden keineswegs den Gestus des Esoterikers. Sehr wahr hat Adorno von ihm gesagt: »Was Benjamin sagte und schrieb, klang, als käme es aus dem Geheimnis. Seine Macht aber empfing es durch Evidenz. < Die seinem Denken eigene Aura von Autorität, die zugleich nie in Anspruch genommen wird, hatte etwas, was zum Wi­ derspruch aufreizte, und die Verwerfung des Systema­ tischen in allem, was er seit 1922 publiziert hat, eine Ver­ werfung, die er mit großem Nachdruck selber plakatierte, hat die Sicht auf das Zentrum seiner Erscheinung vielen verstellt. Dies Zentrum aber läßt sich klar bezeichnen: Benjamin war ein Philosoph. Er war es in allen Phasen seiner Wirk­ samkeit und in allen Formen, die sie annahm. Äußerlich gesehen, schrieb er meistens über Gegenstände der Litera­ tur und Kunst, oft auch über Phänomene an der Grenze von Literatur und Politik, selten nur über Dinge, die kon­ ventionell als Themen der reinen Philosophie gelten und anerkannt sind. Aber was ihn bei alldem bewegt, sind die Erfahrungen des Philosophen. Philosophische Erfah­ rung der Welt und ihrer Wirklichkeit ist das, was mit dem Worte Metaphysik gemeint ist, und gewiß so im Sprachgebrauch Walter Benjamins. Er war ein Metaphy­ siker. Ja, ich würde sagen: der reine Fall eines Metaphy­ sikers. Daß in dieser Generation der Genius eines reinen 200

Metaphysikers sich in allen Bereichen eher zu manifestie­ ren vermag als in denen, für die traditionell Metaphysik als zuständig gilt, gehört gerade zu den Erfahrungen, die Benjamins eigenste Wesensart und ihre Originalität präg­ ten. Immer nachdrücklicher fand er sich - darin ein merk­ würdiges Gegenstück zu Georg Simmel, mit dem ihn sonst wenig verbindet - von Gegenständen angezogen, die scheinbar wenig oder gar nichts mit der Metaphysik zu tun haben. Es macht das Besondere seines Genius aus, wie unter seinem Blick jeder solche Gegenstand eine eigene Würde und eine eigene philosophische Aura enthüllt, de­ ren Beschreibung seine Bemühung gilt. Sein metaphysisches Ingenium beruhte darauf, daß diese seine Erfahrung von unerhörter Fülle und, sit venia verbo: Symbolträchtigkeit war, und es war dieser Aspekt seiner Erfahrung, der, wie mir scheint, vielen seiner hell­ sten Sätze den Charakter des Okkulten gibt. Und das ist kein Wunder. Benjamin war ein Mann, dem okkulte Er­ fahrungen nicht fremd waren, so selten, wenn überhaupt, sie in seinem Werk als solche, unverwandelt, sichtbar werden. (Das ist wohl auch der Grund, warum er den ok­ kulten Charakter der entscheidenden Erfahrungen Prousts so unübertrefflich genau herausbringen konnte.) Im per­ sönlichen Leben schlug sich dieser Zug übrigens in einer ans Unheimliche grenzenden graphologischen Begabung nieder, von der ich mich des öfteren habe überzeugen können. Später neigte er dazu, diese Begabung zu ver­ heimlichen. Auch wo seine Arbeit von literarhistorischen, zeitge­ schichtlichen oder politischen Auseinandersetzungen ihren Ausgang nimmt, dringt der Blick des Metaphysikers tief ein und legt in den Gegenständen seiner Betrachtung Schichten frei, über die ein Licht von seltsamem Glanze scheint. In seinen früheren Schriften scheint es, als ob er 201

die Zusammenhänge dieser Schichten wie unter einem Diktat beschreibt, in seinen späteren tritt dafür ein im­ mer genauer werdender Sinn für die Spannung und die dialektische Bewegung hervor, die in seinen Gegenständen rauscht. Vom Einfachsten ausgehend, enthüllen sich ihm die unerwartetsten Aspekte, und so liest er seinen Gegen­ ständen ihr verborgenes Leben ab. Sein diskursives Den­ ken war von großer Schärfe, wie es sich etwa in seinem ersten Buch über den Begriff der Kunstkritik in der Früh­ romantik zeigt. In den meisten seiner Arbeiten tritt aber dies diskursive Element der stringenten Begriffsentwick­ lung hinter einem beschreibenden Verfahren zurück, mit dem er seine Erfahrung zur Sprache zu bringen sucht. Es ist dies Verfahren der Beschreibung, das ihm seine Gegen­ stände so seltsam zu öffnen scheint, durch das off auch kurze Arbeiten oder Niederschriften von ihm den Cha­ rakter des Fragmentarischen und doch zugleich Endgül­ tigen erhalten. Wenn ich sage, daß Benjamin ein schwieriger Autor ist, habe ich wenig gesagt. Seine großen Arbeiten verlangen vom Leser ein ungewöhnliches Maß von Konzentration. Sein Denken war von großer Dichte und unerbittlich in der oft übermäßigen Kürze der Formulierung. So müs­ sen diese Arbeiten, wenn ich so sagen darf, meditiert werden. Zugleich sind sie oft in vollendeter Prosa von seltener Strahlungskraft geschrieben. Die Arbeit über die Wahlverwandtschaften, die Hofmannsthal so hinriß, stellt eine in der Ästhetik einzigartige Verbindung von höchster Stilhöhe und tiefstem Denken dar. Dasselbe gilt von dem letzten Teil des Trauerspielbuches. Demgegenüber tritt in vielen seiner kleinen und kleinsten Schriften, vor allem in den Aufsätzen in der »Literarischen Weltlinker< Autor, sondern einer aus dem entgegengesetzten Lager, der aus der Schule Georges ausgebrochene, um einige Jahre jüngere Max Kommerell, der ironischerweise nachher jene Venia legendi für deutsche Literatur in Frankfurt inne hatte, zu der vorzudringen Benjamin schon bei seinem ersten und einzigen akade­ mischen Gehversuch verhindert wurde. Er ehrte an ihm die Eigenschaften, die er selber, wenn auch ganz anders gewendet, in höchstem Maße besaß: »Die Meisterschaft physiognomischer Darstellung und die Spannkraft einer Erkenntnis, die nicht nur die Charaktere, sondern auch, und vor allem, die geschichtlichen Konstellationen ausmaß, in denen sie einander begegneten.« Sein metaphysisches Genie beherrschte seine Schriften von der ungedruckten >Metaphysik der Jugend die er 1913 mit einundzwanzig Jahren schrieb, bis zu den Geschichts­ philosophischen Thesen< von 1940, die seine späteste er­ haltene Niederschrift bilden. Es äußert sich vornehmlich in zwei Richtungen, die sich in wachsendem Maße in seiner Arbeit durchdringen: der Sprachphilosophie und der Ge­ schichtsphilosophie. Die eine führte ihn immer stärker auf literarkritische, die andere immer stärker auf sozialkri­

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tische Analysen. Dabei bleibt es stets der Philosoph, der spricht, eindeutig, unverwechselbar. Etwa zehn Jahre lang hielt er an der Form des Systems als der eigentlichen philosophischen Form fest, zu der vorzustoßen ihm vor­ schwebte. Kants Einfluß auf ihn war nachhaltig, auch wo er, wie in seinem - erst unlängst veröffentlichten - »Pro­ gramm der kommenden Philosophie«, die Dignität der in dieser Philosophie zur Sprache gebrachten Erfahrung lei­ denschaftlich bestritt. Er erwartete, daß auch eine Erfah­ rung von unendlich größerer Fülle sich am Koordinaten­ system Kants, wie groß immer die daran vorzunehmenden Veränderungen sein würden, auszurichten hätte. Dieses Ideal des Systems, das den überlieferten Kanon der Phi­ losophie bestimmte, wurde in seinem Denken aber von einer Skepsis betroffen und zerstört, die ebensosehr mit seinem Studium neukantianischer Systembildungen als mit seiner eigenen originären Erfahrung zusammenhing. Margarete Susman hat von einem »Exodus aus der Philo­ sophie« gesprochen, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland vollzogen und eine ganz neue Weise des Denkens heraufgeführt habe. Sie meinte damit, ihren Bei­ spielen nach, die Wendung vom Idealismus zum Existen­ tialismus und zur Theologie. An wenigen aber ist dieser Exodus tiefer sichtbar geworden als an Walter Benja­ min, der die systematische Philosophie aufgab, um sich der Kommentierung der großen Werke zu widmen, die ihm freilich - damals noch theologisch orientiert - als Vor­ stufe zur Kommentierung heiliger Texte erschien. Dies Ziel, wenn auch deutlich intuitiert, blieb unerreicht, das Provisorium wurde der immer wechselnde und doch be­ ständige Schauplatz seiner Produktivität, und der Methodos des Kommentars bestimmte nun seine philoso­ phische Form. Mit der Auflösung des systematischen An­ triebs entfaltet sich im Rahmen seiner Kommentare die 204

Dialektik, die die eigene Bewegung jedes von ihm ins Auge genommenen Gegenstandes an seinem historischen Orte aufzuzeigen sucht. Zwar steht hier noch alles unter einem Blich, aber nichts mehr kann sich ihm zu einer Ein­ heit des Systems fügen, das ihm nun immer stärker der Brutalität verdächtig wurde. Die Themen seiner Arbeiten werden nun vorwiegend literarisch. Freilich sind Benjamins Schriften zur Literatur durchaus verschieden von dem, was man in diesem Genre zu suchen pflegt. Ihre Analysen und Betrachtungen sind nur selten im hergebrachten Sinne literarisch, das heißt auf die Struktur und den Wert eines bedeutenden Schrift­ werks ausgerichtet. Fast durchweg sind sie philosophische Ergründungen ihrer spezifischen und zumal ihrer ge­ schichtlichen Aura, um einen in seinen Schriften immer wiederkehrenden, unter den verschiedensten Aspekten ge­ sehenen Begriff zu gebrauchen. Jede seiner Arbeiten be­ schreibt gleichsam eine ganze Philosophie ihres Gegen­ standes. Es wird dabei klar, daß der Philosoph, als er sich an die Ergründung und Deutung der großen Werke der Literatur machte, deren Größe ihm keineswegs immer mit ihrem öffentlichen Ruhm zusammenfiel, nicht vor den, von Benjamin als mehr als dubios durchschauten Metho­ den der Literaturgeschichte kapitulierte, sondern die Erb­ schaft der philosophischen Inspiration, die ihn nie verließ, in jedem Momente mit sich führt. Wo er von einem ihm wahlverwandten Impuls, einer ihm nahen Inspiration angesprochen wurde - nirgends nachhaltiger als bei Mar­ cel Proust und Franz Kafka, denen er Jahre intensiven Mitlebens und Nachdenkens gewidmet hat -, da gab es kaum Grenzen für die metaphysische Fülle, mit der seine Rekonstruktion der aus diesen Werken ihn anschauenden einmaligen, und in ihrer Einmaligkeit ihm gerade das All­ gemeinste offenbarenden historischen Situation ausgestat20$

tet ist. Es ist fast stets diese Verbindung des geschichts­ philosophischen Blicks mit dem hellen und höchst arti­ kulierbaren Bewußtsein von dem künstlerischen Wert der Werke, die seine Essays, und manchmal gerade die kür­ zesten unter ihnen, zu wahren Meisterwerken macht. Was eigentlich die Phantasie der Autoren, denen er sich ver­ schrieb, indem er über sie zu schreiben scheint, konsti­ tuierte, und wo der Quellpunkt ihrer Phantasie jeweilig mit der besonderen Spannung zusammenhängt, die den geschichtlichen und gesellschaftlichen Standort bezeich­ nete, der ihre Produktion bestimmte - das war es, was ihn faszinierte. Benjamin sind Mystiker und Satiriker, Humanisten und Lyriker, Gelehrte und Monomanen gleicherweise der philosophischen Versenkung wert. Unversehens geht da­ bei die Betrachtung vom Profanen ins Theologische über, spürt er doch die genauen Konturen des Theologischen noch da, wo es vollends ins gänzlich Weltliche aufgelöst erscheint. Auch wo er sich der materialistischen Methode mit Erfolg bedienen zu können glaubt, verschließt er seine Augen nicht vor dem, was er nur allzu deutlich sah. Dabei steht hinter dem Verzicht auf das System, auch wo sein Denken sich als das eines Fragmentisten gab, noch immer eine systematische Tendenz. Er pflegte zu sagen, daß jedes große Werk einer eigenen Erkenntnistheorie be­ dürfe, so wie es seine eigene Metaphysik habe. Diese kon­ struktive Tendenz seiner Denkart, auch wo sie sich oft genug auf das Destruktive in den Sachverhalten oder Er­ scheinungen richtet, bedingt auch seinen Stil. Dessen poin­ tierte Sorgfalt und kontemplativer Glanz, der der mo­ dischen expressionistischen Prosa jener Jahre niemals auch nur die geringste Konzession machte, ist in ein um Ord­ nung und Zusammenhang bemühtes Denken tief eingebet­ tet. Benjamins >Texte< sind im vollen Sinne des Wortes 206

>Gewebehomme de lettres< verwies, der sich den Unter­ halt mit der Feder verdienen mußte, war ein Symbol des Standes der Literaturwissenschaft und der Geistesver­ fassung der Gelehrten in der jetzt oft gepriesenen Wei­ marer Zeit. Noch als alles vorüber war, lange nach dem Zweiten Weltkrieg, konnte ein hochgebildeter Vertreter dieser Wissenschaft es sich leisten, über das Scheitern die­ ses akademischen Versuches den ruchlos-frechen Satz zu Papier zu bringen: »Geist kann man nicht habilitieren«. Es entspricht diesem Stand der Dinge, daß, als das Buch erschien, ihm tiefstes Schweigen begegnete und in den Jahren vor Hitler auch nicht eine einzige Fachzeitschrift es einer Anzeige gewürdigt hätte. Freilich muß gesagt werden, daß Benjamin es seinen Le­ sern nicht leicht gemacht hat. Er hat seinem Buch ein er­ kenntnistheoretisches Kapitel vorangestellt, in dem er die leitenden philosophischen Ideen, auf die sich seine Inter­ 209

pretation stützen würde, eher warnend vor dem Leser aufrichtete, als sie zu explizieren. Er pflegte zu sagen, ihr geheimes Motto sei: »Über Stock und über Steine, aber brich dir nicht die Beine.« Von jeher hat diese Einleitung viele Leser zurückgeschreckt. Sie steht vor dem Buch wie der Engel mit dem flammenden Begriffsschwert am Ein­ gang eines Paradieses der Schrift. Benjamin hielt für po­ tentielle Leser das Rezept bereit, sie zu überschlagen und zuletzt zu lesen, er hat das aber nicht allgemein bekannt­ gemacht. So ist das Schweigen der Experten, das sich jahrelang wie ein dichter Schleier um das Buch gelegt hat, nicht ganz unverständlich. Es ist nicht möglich, über dieses überreiche Buch, das ein­ zige, das Benjamin als solches vollendet hat, in wenigen Worten etwas zu sagen. In einer philosophischen Ergrün­ dung und Entfaltung des deutschen Trauerspiels der Ba­ rockzeit kam es ihm vor allem auf eine philosophische Ehrenrettung der für dieses Trauerspiel und die Welt des Barocks überhaupt entscheidenden Kategorie an, nämlich der Allegorie, deren verborgenes Leben niemand ergrei­ fender heraufbeschworen hat als Benjamin in diesem Werk. Daß das deutsche Trauerspiel es mit den vollen­ deten Formen des Barockdramas bei Calderon oder Shake­ speare nicht aufnehmen kann, war ihm völlig klar. Aber gerade die Unbeholfenheit, der Rohbau dieser Dich­ tungen, so schien es ihm, ließ den Aufbau und Zusam­ menhang der hier wirksamen Ideen um so vieles deutlicher hervortreten. Was scheinbar sich als Fortsetzung oder Nachahmung der klassischen Tragödie gab, die in der Welt des Mythos wurzelt, wird hier als deren Gegen­ bild erkannt, das von ganz anderen geistigen Ordnungen entscheidend bestimmt ist. Benjamin unternahm es zu zeigen, wie ästhetische Ideen mit theologischen Kategorien aufs innigste Zusammenhängen. Das innere Leben, die dia­ 210

lektische Bewegung in den Grundbegriffen dieser Welt der Allegorie des Barocks aufzuzeigen, ja sie aus dieser Dia­ lektik heraus zu konstruieren, war sein Ziel. Daß er es erreicht hat, lag wohl daran, daß in seiner metaphysischen Haltung hier, wenn auch dialektisch aufgerissen, Sprach­ philosophie und Geschichtsphilosophie sich auf eine Weise verbanden, die mit den fruchtbarsten Antrieben seines Denkens noch unverstellt zusammenhing. Im selben Maße, in dem sich ihm dann in seinen späteren Arbeiten die materialistische Methode, so subtil und, wenn ich sagen darf, häretisch er sie verwandte, zwischen seine Intuition und deren Darstellung in Begriffen schob, wird diese Einheit wieder problematisch. Er suchte seine Dialektik, die die eines Metaphysikers und Theologen war, mit der materialistischen gleichzusetzen, und hat da­ für einen hohen, ich würde sagen allzu hohen Preis be­ zahlt. Ein Kritiker hat von diesen Arbeiten Benjamins, die unter der Losung des historischen Materialismus ste­ hen, gesagt, er sei in ihnen jedenfalls »so geistreich und eigenwillig interpretiert, daß die charakteristische Lange­ weile, die von der sturen Anwendung dieses Systems ge­ rade auf die Literaturgeschichte auszugehen pflegt, bei ihm entfällt«. Diese Eigenwilligkeit, dieser idiosynkratische Zug an seinem Materialismus, hat freilich ihren guten Grund. Benjamin war der Meinung, die Betrach­ tungsweise des historischen Materialismus stelle für ihn eine heuristische Methode dar, bei der es immer darauf ankomme, festzustellen, wie weit man im Ernstfall mit ihr käme, die aber wenigstens etwas wie ein Versprechen enthalte, aus dem manifesten Bankrott der bürgerlichen Literaturforschung herauszuführen. Es war also, von ihm aus gesehen, ein Experiment großen Stils, diese Metho­ de anzuwenden, in deren Rahmen er hoffte, seine dialek­ tischen Einsichten am besten ausdrücken zu können. 21 i

Nun darf man vielleicht sagen, daß in den letzten vierzig Jahren so unendliche Diskussionen darüber geführt wor­ den sind, was eigentlich historischer Materialismus oder marxistische Methode überhaupt sei und so himmelweit verschiedene Interpretationen davon aufgestellt worden sind, daß man heute im Grunde alles darin unterbringen kann. Von den, mit Benjamin zu sprechen, »rauhbeinigen Analysen« Kautskys und Mehrings in der >Neuen Zeit< führt der vielfach gewundene Weg zu Betrachtungsweisen, in denen der Marxismus selber in die Welt des Hegelschen Denkens, der er entstammte, so weit wieder eingebettet ist, daß die Differenzen problematisch werden. Man könnte also argumentieren, daß Benjamin in dieser Linie steht. Aber ich glaube nicht, daß sich das so verhält. Jene Eigenwilligkeit von Benjamins Materialismus kommt vielmehr dadurch zustande, daß sein wirkliches Denkver­ fahren sich mit seinem vorgegebenen materialistischen gar nicht deckt. Seine Einsichten sind immer noch in allem Ent­ scheidenden die des Metaphysikers, der zwar eine Dialek­ tik der Betrachtung entwickelt hat, die aber von der materialistischen himmelweit entfernt ist. Seine Einsich­ ten sind die eines ins Profane verschlagenen Theologen. Aber sie treten nun nicht mehr unverstellt als solche auf. Benjamin übersetzt sie in die Sprache des historischen Materialismus. Manchmal erfolgt diese Übersetzung blitz­ schnell und hat dann etwas Gelungenes und Adäquates an sich, manchmal aber erfolgt sie mühsam und allzu bewußt. Tiefe Einsichten des Geschichtsphilosophen und Gesell­ schaftskritikers, die aus seinem eigenen durchweg meta­ physischen Denken stammen, erscheinen so unter materia­ listischer Verkleidung. Daß sie aus der Anwendung der Methode selber gewonnen werden, davon habe ich mich gerade bei seinen bewunderungswürdigsten Arbeiten aus seiner Spätzeit nicht überzeugen können. Das macht die 212

Stärke und die Schwäche dieser Arbeiten aus. Ihre Stärke, indem die ungebrochene Fülle seiner Intuition noch immer an den Gegenständen seiner Betrachtung sich er­ weist und damit der materialistischen Betrachtung eine ungeheure Tiefe, einen unendlichen Reichtum zu erschlie­ ßen scheint; ihre Schwäche, weil sie ihr eigenes Wesen in dieser Übersetzung zu verleugnen neigt und manche Ar­ beiten dadurch etwas Zwielichtiges und Zweideutiges er­ halten. Es ist nicht schwer, zwischen dieser Methode und den in ihr untergebrachten Einsichten zu unterscheiden, und so bleibt der Gewinn, den der kritische Leser davon hat, noch immer außerordentlich. Daß ihnen aber eine gewisse Gebrochenheit, die sich aus dem hier dargelegten Zwiespalt herschreibt, innewohnt, das scheint mir un­ leugbar. Daß Benjamin auch später, wo er seiner Intuition unge­ brochenen Ausdruck verleihen konnte, ohne ihr materia­ listischen Zwang antun zu müssen, Arbeiten von erschüt­ ternder Gewalt und unantastbarer Schönheit produzieren konnte, in denen kein falscher Ton mitschwingt, zeigen manche seiner Essays aus dieser Periode, an ihrer Spitze wohl der an das Werk des russischen Erzählers Nikolai Lesskow anknüpfende Aufsatz >Der Erzähler« — Seiten, die in ihrer Art unübertrefflich sind - und der große Es­ say über Franz Kafka. Ihnen stehen als die wertvollsten Resultate seines Versuches, das eigene Denken aufs inten­ sivste an die materialistischen Kategorien zu binden und eine Affinität, ja Identität dieser beiden Bereiche herzu­ stellen, zwei große Arbeiten aus den letzten fünf Jahren seines Lebens gegenüber: >Das Kunstwerk im Zeitalter sei­ ner technischen Reproduzierbarkeit« und >Über einige Motive bei Baudelaire«. Die erste Arbeit lag lange nur in einer, dem Verständnis beträchtliche Schwierigkeiten ma­ chenden französischen Übersetzung vor, bis 1955 end213

lieh der höchst eindrucksvolle deutsche Text zugänglich wurde. Dieser Aufsatz, der seinerzeit schon von André Malraux für seine Kunstphilosophie stark benutzt wurde, stellt einen der bedeutendsten Beiträge zur Kunstphiloso­ phie der letzten Generation dar, und man darf ihm mit Sicherheit ein intensives Nachleben voraussagen. Und doch, auch in dem großartigen Entwurf dessen, was Ben­ jamin für die erste ernste materialistische Kunsttheorie hielt, klafft für den Leser eine Diskrepanz zwischen den beiden Teilen. Der erste Teil geht gerade von einem, aus der mystischen Tradition übernommenen Begriff aus, dem der Aura, der in Benjamins Denken viele Jahre hin­ durch, und in sehr verschiedenen Interpretationen, eine große Rolle spielte. Er bietet einen metaphysisch-ge­ schichtsphilosophischen Entwurf, der um den Begriff der Aura des Kunstwerks kreist, von ihm hier definiert als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nahe sie sein mag«, und um deren Verschwinden in den photomecha­ nischen Reproduktionsverfahren. Dieser Teil ist voll auf­ regender Entdeckungen und Erhellungen zuerst von ihm gesehener Probleme der Kunstphilosophie. Er beruht auf einer rein metaphysischen Konzeption. Im Kontrast dazu steht der zweite Teil, in dem Benjamin versuchte, eine, ich hätte fast gesagt hinreißend falsche Philosophie des Films als der wahrhaft revolutionären Kunstform aus marxistischen Kategorien zu entwickeln. An Chaplins Kunst orientiert, analysiert er die Wirklichkeit und die utopische Möglichkeit des Films mit ihrem unendlichen Glücksversprechen. An den Film als die dem seine Herr­ schaft antretenden Proletariat wahrhaft gemäße Kunst hängte Benjamin die weitgehendsten historischen Hoff­ nungen. In einem langen und leidenschaftlichen Gespräch, das ich 1938 mit ihm über diese Arbeit hatte, sagte er auf meine Einwände: »Das von dir vermißte philoso214

phische Band zwischen den zwei Teilen meiner Arbeit wird von der Revolution wirksamer geliefert werden als von mir.« Ich würde sagen, daß sein marxistischer Glaube einen Schuß von jener Naivität besaß, von der sein Den­ ken so entschieden abstach. Dies Denken steigt noch einmal in voller Entfaltung in seiner Baudelaire-Arbeit, dem Stück eines geplanten Buches, herauf, das die hier erör­ terte Problematik gerade in seinen herrlichsten Teilen, der Deduktion der geschichtsphilosophisdien Situation Baudelaires, eines seiner Lieblingsautoren, fast unverhüllt aufreißt. Auch als historischer Materialist beschäftigt sich Benja­ min mit einer Ausnahme intensiv nur mit sogenannten »reaktionärem Autoren wie Proust, Julien Green, Jouhandeau, Gide, Baudelaire, George. Die Ausnahme bildet Brecht, der auf Benjamin jahrelang eine ungebrochene Faszination ausgeübt hat - war er doch der einzige Autor, an dem er aus der Nähe das schöpferische Ver­ fahren eines großen Dichters beobachten konnte und mit dessen ursprünglich stark anarchistisch gefärbtem Kom­ munismus ihn vieles verband. Wenn auch der erste Anstoß dazu nicht von Brecht kam, hatte er zweifellos den größ­ ten Anteil daran, daß Benjamin realiter versuchte, den historischen Materialismus in sein Denken und seine Ar­ beit aufzunehmen oder gar sein Denken und seine Arbeit in den Rahmen dieser Methode einzuspannen. Brecht war die härtere Natur und hat auf die sensiblere Benjamins, dem alles Athletenhafte abging, tief eingewirkt. Daß Wal­ ter Benjamin dabei gut gefahren ist, wage ich nicht zu behaupten. Ich würde eher sagen, daß ich diesen Einfluß Brechts auf die Produktion Benjamins in den dreißiger Jahren für unheilvoll, in manchem auch für katastrophal halte. Von 1927 an stand hinter der veröffentlichten Produk­ ts

tion Benjamins der durch viele Metamorphosen gegan­ gene Plan einer anderen Arbeit, in der er seine ge­ schichtsphilosophische und dichterische Intuition an einem Gegenstand höchsten Ranges zu bewähren und zu vereini­ gen unternahm. Ursprünglich als ein Essay über >Pariser Passagen« gedacht - jene um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entstandenen, von Läden und Cafés einge­ rahmten Durchgänge, die ein Charakteristikum der Me­ tropolen wurden -, erweiterte sich ihm das Thema immer mehr zu einem geschichtsphilosophischen Werk, dem er schließlich den Titel: >Paris - Hauptstadt des 19. Jahr­ hunderts« zu geben beabsichtigte. Dies Buch ist nie been­ det worden, wofür man ebensosehr die prekäre äußere Lage Benjamins, die ihm nicht genügend Zeit zur durch­ gehaltenen Meditation seines Themas und dessen vol­ ler Ausarbeitung ließ, als seine innere Entwicklung verant­ wortlich machen kann, die ihn dazu führte, daß das Werk als solches sich ihm am Ende selber aufhob. Sollten doch Geschichts- und Sprachphilosophie sich hier endgültig und mit so völliger Evidenz vereinigen, daß die eigenen Dar­ legungen des Philosophen überflüssig wurden. Schließlich blieb als ideale Gestalt des Werkes - unerreicht und un­ vollendet, aber eben wohl auch unvollendbar - eine Mon­ tage von Zitaten aus der zeitgenössischen Literatur als in­ tendiertes Ziel übrig, die für die solcherart in ihre Quel­ len selber zurückgewanderte Analyse des marxistischen Metaphysikers einstehen sollte. So war dies Werk als luzides Gegenstück zu dem Tiefsinn des Trauerspielbuches konzipiert. So unausführbar sich am Ende dieses Werk erwies, verdanken wir dem unausgesetzten Bemühen Ben­ jamins während dieser langen Jahre eine große Anzahl bedeutender kleiner und großer Entwürfe und Nieder­ schriften aus seinem engeren und weiteren Themenkreis, von denen einige der wichtigsten seinerzeit in der >Zeit216

schrift für Sozialforschung< und später aus dem Nachlaß veröffentlicht wurden. Dieser sehr wertvolle Nachlaß Benjamins, der auch seine Aufzeichnungen und Quellen­ exzerpte zu dem Passagenbuch enthält, hat, anders als sein Autor, die Kriegswirren in Frankreich überstanden, wo er in der Bibliothèque Nationale versteckt war, und wird noch manches zur besseren Würdigung seiner Denkart bei­ tragen. 4

Es gibt einen tiefgreifenden Unterschied zwischen dem Gros der jüdischen Autoren, die in der deutschen Lite­ ratur berühmt geworden sind, und einer überaus klei­ nen Gruppe, freilich von höchstem Rang. Denen der ersten Gruppe, wie etwa in der letzten Generation Arthur Schnitzler, Jakob Wassermann, Franz Werfel, Stefan Zweig, ist es selbstverständlich, daß sie zum Deutschtum oder zum deutschen Volk gehören. Dieser unheimlichen und tragischen Illusion, die schon einer der ersten Autoren dieser Art, Berthold Auerbach, am Ende seines Lebens und beim Beginn der Stöckerschen Bewegung mit den berühmt gewordenen und ach so ins Leere gesprochenen Worten quittiert hat: >Vergeblich gelebt, vergeblich gelitten«, sind unter den erstrangigen Köpfen der Judenheit deut­ scher Sprache nur ganz wenige nicht verfallen. Zu ihnen zählen Freud, Kafka und Benjamin. Sie haben sich von der deutschen Phraseologie, ja von dem Wort >wir Deut­ sche« fast in ihrer ganzen produktiven Lebensperiode freigehalten, und sie schrieben mit dem vollen Bewußt­ sein der Distanz zwischen ihnen als Juden und ihren deutschen Lesern. Es sind die wertvollsten unter den so­ genannten deutsch-jüdischen Autoren, und ihr Leben be­ zeugt diese Distanz, deren Pathos und dessen schöpfe­ 217

rische Qualität oder Möglichkeit nicht weniger als ihre Schriften, in denen, wenn überhaupt, vom Judentum nur sehr selten die Rede ist. Sie machen sich nichts vor. Sie wissen, daß sie deutsche Schriftsteller sind, aber keine Deutschen. Die Erfahrung und das klare Bewußtsein der Fremde, ja des Exils, denen auszuweichen oder die zu ne­ gieren sich die meisten anderen Autoren aus der deutsch­ jüdischen Elite so tief und ernst und so gänzlich erfolglos geplagt haben, ist ihnen nicht entschwunden. Sosehr sie an die deutsche Sprache und deren geistige Welt sich ge­ bunden wissen, sind sie nie der Illusion verfallen, zu Hau­ se zu sein - einer Illusion, vor der sie freilich sehr prä­ zise Erfahrungen ihres eigenen Lebens bewahren muß­ ten (die in anderen Fällen aber nichts genutzt haben). Ich weiß nicht, ob sie im Lande Israel zu Haus gewesen wären. Ich bezweifle es sehr. Sie waren im wahrsten Sinn des Wortes Männer aus der Fremde und wußten es. Walter Benjamin hatte zweifellos manche Schrullen. Ich bin manchmal gefragt worden, ob seine Beziehung zum Judentum nicht etwa auch solch eine Schrulle war, in die er sich, wie in manche andere, verbiß. Aber so liegt es nicht. Am 25. Mai 1925, kurz nachdem die Welt der mar­ xistischen Dialektik zuerst in seinen Gesichtskreis ge­ treten war, bezeichnete er in einem Brief zwei Erfahrun­ gen, die er noch zu machen habe, als für ihn entscheidend: die der Beschäftigung mit marxistischer Politik (von der Theorie des Marxismus hielt er damals noch nichts) und die des Hebräischen. Dieser Satz ist ein Schlüsselwort zum Verständnis Benjamins, denn es sind gerade diese beiden Erfahrungen, die er nie gemacht hat. Er gibt tie­ fen Aufschluß über ihn, auch wenn meine unmittelbare persönliche Erfahrung, die ja kaum vertrauenswürdig kommunizierbar ist, nicht als ausreichend befunden würde. 218

Wenn wir nach dem jüdischen Element in diesem Men­ schen und seiner Produktion fragen, so entspricht es ge­ rade dem vertrackten Wesen Walter Benjamins, daß, was ihm als Grund seines Wesens und zugleich oft als Ziel seines Denkens sehr bewußt war, das Jüdische, in seinem Werk fast nur in Obertönen zu vernehmen ist, freilich an sehr sichtbaren Stellen dieses Werkes, wie etwa dem Prospekt zu der von ihm geplanten Zeitschrift >Angelus Novus< oder den geschichtsphilosophischen Thesen, seiner letzten Arbeit. Aber dahinter steckt viel mehr. In den Jahren seiner stillsten Ausbildung, während und bald nach dem Ersten Weltkrieg, beschäftigte ihn das Phänomen des Judentums sehr angelegentlich. Er las spo­ radisch viel über solche Dinge. Als ich ihm 1916 erzählte, daß das sechzig bis achtzig Jahre vorher erschienene große vierbändige Werk des Baaderschülers Molitor über die Kabbala, Philosophie der Geschichte, oder über die Tra­ dition, überraschenderweise noch beim Verlag zu haben sei, gehörte es zu den ersten Werken über das Judentum, die er sich anschaffte, und behauptete viele Jahre einen Ehrenplatz in seiner Bibliothek. Benjamin, wie viele sei­ ner Schriften beweisen, ein passionierter Leser von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, dem originellsten Werke jüdischer Theologie unserer Generation, hatte dort ebenso wie bei den Kabbalisten die tiefe Bindung des echten theo­ logischen Denkens der Juden an die Sprache erfahren, wie sie immer wieder bei ihm zum Vorschein kommt. In Brie­ fen und Gesprächen kam er unablässig auf jüdische Fra­ gen zurück, zwar seine Unwissenheit in allem Sachlichen stark betonend, sich aber oft dennoch mit der ihm eigenen Intensität in Probleme des Judentums als einer ihn im Kern betreffenden Sache einbohrend. Nicht wenige seiner Briefe geben davon merkwürdiges Zeugnis. An einen seiner Korrespondenten, zu dem er sidi meistens 219

über literarische Fragen äußerte, hatte er im Herbst 1916 gelegentlich einer Stellungnahme zu Rudolf Borchardt, der seinen jüdischen Ursprung nach Kräften zu verwischen suchte, eine sehr enthusiastische Epistel über das Ju­ dentum geschrieben. Er hatte damals Achad Haarn ge­ lesen, dessen Aufsatz >Die Thora im Herzen< ihn sehr beeindruckt hatte. Benjamin stellte es sogar als ungewiß hin, ob er selber nach dem Kriege nicht etwa nach Palä­ stina gehen würde. Sein Korrespondent, selber Jude, schrieb ihm im Dezember 1916, Benjamins Bekenntnis zum Judentum habe ihn sehr überrascht, und er könne es sich nicht anders erklären als durch den Einfluß einer Frau. Ich sehe noch das bedeutungsvolle Augenzwinkern, mit dem er mir diesen Brief seinerzeit vorlas. Freilich stand er damals, was der Briefschreiber nicht wußte, im Begriff, die Tochter eines sehr bekannten Zionisten der ersten Stunde, Professor Leon Kellner, des Heraus­ gebers der Schriften und Tagebücher Theodor Herzls zu heiraten, die zwar seine jüdische Haltung beförderte, aber kaum tiefer auf sie einwirken konnte. Andrerseits ist es wirklich wahr, daß gerade seine Wendung zu dem zwei­ ten großen Gegenstand, dem er seine Erfahrung widmen wollte, der revolutionären marxistischen Politik, unter dem unverhohlenen Einfluß einer Frau erfolgte. Benjamins »theologisches Denkern, das in seinen früheren Jahren sehr prononciert war, wie jedem, der damals in näherer Berührung mit ihm stand, in die Augen springen mußte, war - ich hätte fast gesagt instinktiv - an jü­ dischen Begriffen orientiert. Christliche Ideen haben auf ihn niemals Anziehungskraft ausgeübt. Ja, seine Antipa­ thie gegen den Neukatholizismus, der damals in Deutsch­ land und Frankreich unter vielen jüdischen Intellektuel­ len grassierte, war unverhüllt. Zwei Kategorien sind es vor allem, die in seinen Schrif­ 220

ten immer wieder im Zentrum auftauchen, und, wie ich sagte, gerade in ihren jüdischen Fassungen: einmal die Of­ fenbarung, die Idee der Tora, die Vorstellung von der Lehre und von heiligen Texten überhaupt, und zum ande­ ren der Messianismus und die Erlösung. Die Bedeutung, die sie als regulative Ideen seines Denkens besaßen und die einer eigenen Analyse in der Tiefe wert wäre, kann nicht überschätzt werden. Immer wieder trifft man bei ihm, und zwar oft an den unerwartetsten Stellen, eine zentrale Beziehung seines Denkens auf das Problem der heiligen Texte an, so in den meisten seiner sprachphilosophischen Arbeiten, in dem Aufsatz >Die Aufgabe des Übersetzers«, in dem Trauerspielbuch, aber auch in seinen Äußerungen über die kindliche Sprachphantasie, von der er sagt, daß »Sätze, die ein Kind im Spiele aus [ihm vorgegebenen] Wörtern schlägt, mit denen heiliger Texte mehr Verwandtschaft haben als mit der Umgangssprache der Erwachsenen«. In der Konfrontation mit den heiligen Texten der hebrä­ ischen Überlieferung sah er viele Jahre die zentrale Er­ fahrung, die er auf dem Gebiet des Schrifttums würde machen müssen, um an das ihm Eigenste heranzukommen. In einem großen Gespräch, das er im August 1927 in Paris mit Dr. Judah Magnes, dem Kanzler der damals entstehenden Universität in Jerusalem hatte und dem ich beigewohnt habe, hat er dieses Bekenntnis zu seiner ihm bevorstehenden Aufgabe als Kommentator jüdischer Texte in einer mit unvergeßlich gebliebenen hinreißenden Weise formuliert, als er den Gedanken erwog, sich für eine Auf­ gabe an der Jerusalemer Universität vorzubereiten. Wir haben aus seiner Feder aber nur ein Exemplar solcher Konfrontation mit der Bibel. (Benjamin war kein sonder­ licher Verehrer der Buberschen Bibelübersetzung, aber ein eifriger Leser der alten Zunzschen, deren Flausenlosigkeit 221

und strenge Haltung ihn tief beeindruckten.) Dies sind die Seiten, die er 1916 und 1927 den Angaben der ersten drei Kapitel der Genesis über das Wesen der Sprache gewid­ met hat, Seiten von seltener Dichte und Schönheit. Dabei bleibt zu betonen, daß bei seiner späteren Wendung zum historischen Materialismus von diesen zwei Kate­ gorien der Offenbarung und Erlösung nur die letztere sich expressis verbis erhalten hat, die erstere aber nicht, obwohl sie doch mit seinem wesentlichsten Verfahren, der Kommentierung großer und autoritativer Texte, aufs engste zusammenhing. Die Offenbarung ist in diesem Pro­ zeß der Transformation seines Denkens verschwunden, oder, wie ich argwöhnen möchte, eher nur verschwiegen, indem sie nun wahrhaft esoterisches Wissen geworden ist. Der stolze Nachdruck, mit dem er noch bis zuletzt auf die utopische Kategorie der Religion, auf die Erlösung und die messianische Idee rekurriert, während deren existentielle (besser vielleicht substantielle) Kategorie ver­ schwindet, muß mit der Struktur seiner, wie ich sagen möchte, materialistischen Theologie Zusammenhängen. (Ich würde sein späteres Denken als eine materialistische Theorie der Offenbarung bezeichnen, deren Gegenstand in der Theorie selber nicht mehr vorkommt.) Ich sagte, daß Benjamin jahrelang an das Judentum heran­ zukommen suchte, von dem er sich einen Bereich er­ hoffte, in dem seine tiefsten Intentionen nach Hause kommen würden. Als er um 1930 diese Hoffnung als in seinem Leben unerfüllbar aufgab, blieb in seinen schein­ bar unter dem Siegel der marxistischen Dialektik stehen­ den Schriften ein immer wieder aufklingendes Echo der jüdischen Grundbegriffe zurück. So, wenn er das Jüdische in Karl Kraus noch in der letzten Entfremdung wieder hervorholt und in der »jüdischen Gewißheit«, daß »die Welt der Schauplatz der Heiligung des Namens sei«, den 222

tiefsten Grund für den Gegensatz der Sprachgebärde von Karl Kraus und Stefan George findet, oder wenn er die Kategorien der Halachah und Haggadah bei der Analyse der Welt Franz Kafkas zugrunde legt. Darüber hinaus bleibt ein apokalyptisches Element des Destruktiven in der Metamorphose erhalten, die die mes­ sianische Idee, die nach wie vor eine gewaltige Rolle in seinem Denken spielt, in seinen späteren Schriften durchmacht. Die edle und positive Gewalt der Zerstörung, die allzulange in der einseitigen, undialektischen und di­ lettantischen Apotheose des Schöpferischem verkannt worden sei, wird nun die der Immanenz der Welt zuge­ ordnete, die in der Geschichte der menschlichen Arbeit sich vollziehende Seite der Erlösung. Stets von neuem taucht nun in seinen Schriften in den überraschendsten Verbindungen die Rede vom Subversiven auf, die für ihn tiefe Zusammenhänge in den von ihm betrachteten Erscheinungen erschließt. Fast keine bedeutende Arbeit, in der sie nicht, ausdrücklich oder verhohlen, an zentralen Stellen seine Analysen inspiriert (so z. B. in dem höchst charakteristischen Aufsatz >Der destruktive Charakters oder in den großen Essays über Kraus, Proust und Kaf­ ka). Für die subversiven Elemente in dem Œuvre gro­ ßer Autoren hat er ein außerordentlich genaues und feines Gefühl entwickelt. Das unterirdische Rollen der Revolu­ tion vermag er noch bei Autoren wahrzunehmen, deren Weltbild durchaus reaktionäre Züge trägt, wie denn Ben­ jamin überhaupt einen wachen Sinn für das besaß, was er »das seltsame Wechselspiel zwischen reaktionärer Theorie und revolutionärer Praxis« nannte. Die Säkula­ risierung einer jüdischen Apokalyptik ist in diesen Analy­ sen mit der Hand zu greifen und verleugnet nirgends ihre Herkunft. Das talmudische Bild von den Engeln, die jeden Augenblick neu in unzähligen Scharen geschaffen werden, 223

um dann, nachdem sie vor Gott ihre Stimme erhoben ha­ ben, zerstört zu werden und im Nichts zu vergehen, ver­ einigt seine früheren und späteren Schriften. Es steht am Ende der Ankündigung seiner nicht zustande gekommenen Zeitschrift >Angelus Novus« von 1922, im Höhepunkt seiner theologischen Periode, nicht weniger als am Ende jenes scheinbar materialistischen Essays über Karl Kraus von 1931, das seine spätere Produktion mit einem mar­ xistischen Fanfarenstoß einleitet. Diese immer neuen En­ gel, deren einen er auf einem von ihm unendlich gelieb­ ten Bilde von Paul Klee >Angelus Novus< wiederfand, haben aber zugleich die Züge der Engel des Gerichts und der Zerstörung. Ihre »schnell verfliegende Stimme« ist die der Vorwegnahme der Apokalypse im Geschichtlichen, und auf die kam es ihm an. Ganz unter jüdischer Inspiration, und nicht einmal in der Terminologie der materialistischen Dialektik angenähert, stehen Benjamins unermüdliche Anstrengungen um das Verständnis Kafkas, dessen Schriften er von ihrem er­ sten Erscheinen an mit leidenschaftlicher Anteilnahme studiert hat. Vor allem zeigt sich das in dem großen Es­ say von 1934 - auf den Bertolt Brecht mit der Anschul­ digung reagierte, daß »er dem jüdischen Faschismus Vor­ schub leiste«! - und dem gewaltigen Brief, in dem er 1938 ein neues Kafkabild entwarf, das er in einem Buch auszu­ führen gedachte, falls sich dafür ein Verleger finden würde. Die Begriffe der Gerechtigkeit, des Studiums der Lehre und der Auslegung sind hier bewußt als jüdische Begriffe eingeführt und entwickelt. »Die Pforte der Ge­ rechtigkeit« - lesen wir hier - »ist das Studium. Und doch wagt Kafka nicht, an dieses Studium die Verheißungen zu knüpfen, welche die Überlieferung an das der Thora ge­ schlossen hat. Seine Gehilfen sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine Studenten Schüler, denen die Schrift 224

abhanden kam.« Benjamin, der von der optimistischen Kafkadeutung Max Brods ebenso entfernt war wie von der existentialistischen, die seit Jahren im Schwange ist, sah den negativen Umschlag, dem die jüdischen Katego­ rien in der Welt Kafkas unterliegen, wo es ja keine posi­ tiven Lehrinhalte, sondern nur noch deren absolut uto­ pische, das heißt aber, noch nicht formulierbare Verhei­ ßung für eine nicht mehr zeitgenössische Welt gibt, für uns selber jedoch nur noch die zum reinen Gegenstand der Kafkaschen Anschauung gewordenen Prozeduren eines nicht mehr entzifferbaren >GesetzesLegende von der Ent­ stehung des Buches Taoteking« wohl der hervorragendste ist, sind die letzte Form, die der Kommentar unter Walter Benjamins Händen angenommen hat. Die Pro­ blematik dieser Form im Dienste der Interpretation nicht etwa archaischer und autoritärer, sondern revolutionärer Texte war ihm durchaus bewußt, und in der Tat weisen sie eine seltene, bei einem Geist von der Souveränität Ben­ jamins beklemmende Hilflosigkeit auf, die seinen Inter­ pretationen anderer Texte ganz abgeht. Und doch: es ist evident, daß er entschlossen war, auch um einen hohen 22J

Preis nicht auf die Brisanz zu verzichten, die er mehr als jeder jüdische Zeitgenosse in dem geheimen Leben des Kommentars als einer entscheidenden religiösen Kategorie wiederentdeckt hat. Zu den jüdischen Kategorien, die er als solche einführte und bis zuletzt hochhielt, gehört außer der messianischen Idee - nichts falscher als die Vorstellung, sie stamme bei ihm aus dem Werk von Ernst Bloch, wenn er sich auch in ihr mit ihm auf jüdischem Boden begegnete — vor allem die Idee des Eingedenkens. Der letzte chronologisch fixierbare Paragraph des Benjaminschen Œuvres, sozu­ sagen eine confessio in extremis, lautet - und das in einem quasi marxistischen Text über die historische Zeit - wie eine Apotheose des Judentums: »Sicher wurde die Zeit von den Wahrsagern, die ihr abfragten, was sie in ihrem Schoße birgt, weder als homogen noch als leer erfahren. Wer sich das vor Augen hält, kommt vielleicht zu einem Begriff davon, wie im Eingedenken die vergangene Zeit ist erfahren worden: nämlich ebenso. Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Einge­ denken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft ho­ len. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Se­ kunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte«. Dem Judentum, das uns in diesen Sätzen entgegentritt, hat Walter Benjamin sich sein Leben lang asymptotisch an­ genähert, ohne es doch zu erreichen. Zugleich aber darf gesagt werden, daß seine tiefste Intuition, im Schöpfe­ rischen und Destruktiven gleicherweise, aus dessen Zen­ trum herkam, eine Feststellung über den Denker Ben­ jamin, deren Dialektik dadurch nichts von ihrer Span­ 226

nungsweite verliert, daß sie zugleich den Ablauf dieses immer wieder vom Grauen der Einsamkeit bedrohten, nach Gemeinschaft, und sei es der apokalyptischen der Re­ volution, sich verzehrenden Lebens tief erleuchtet.

Nachweise

i Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch Offener Brief an Manfred Schlösser, den Herausgeber von Auf ge­ spaltenem Pfad, zum neunzigsten Geburtstag von Margarete Susman. Darmstadt 1964, S. 229-232. Noch einmal: das deutsch-jüdische »Gespräch« Bulletin des Leo Baeck Instituts, Nr. 30, Tel Aviv 196$, S. 167-172. Juden und Deutsche Vortrag gehalten am 2. August 1966 auf der dem Thema »Juden und Deutsche« gewidmeten Plenarsitzung des Jüdischen Weltkongresses in Brüssel, zu der zwei Deutsche und zwei Juden als Hauptredner einge­ laden waren. Neue Rundschau, 77. Jg., Frankfurt 1966, S. $47-562. Rede über Israel gehalten auf der Kundgebung für Israel des Zürcher Schauspielhauses am 18. Juni 1967. Der Monat, Jg. 19, Frankfurt, August 1967, S. 5-8. Israel und die Diaspora Vortrag auf der Jahrestagung des Schweizer Israelitischen Gemeinde­ bundes in Genf, 14. Mai 1969. Neue Zürcher Zeitung, 16. November 1969.

Der Golem von Prag und der Golem von Rehovot Als der Verfasser horte, daß das Weizmann-Institut in Rehovot, Is­ rael, einen neuen Computer gebaut hatte, erklärte er Dr. Chajim Pekeris, dem »Vater« des Computers, daß seiner Meinung nach solcher Computer in Israel den Namen »Golem I« führen müsse. Pekeris stimmte unter der Bedingung zu, daß der Verfasser die Einweihungs­ rede halten und erklären würde, warum dieser Name gewählt wurde. Die Rede wurde auf Englisch am 17. Juni 196$ gehalten. Commentary, vol. 41, New York 1966. S. 62-65. II S. J. Agnon - der letzte hebräische Klassiker? Zuerst englisch als Vortrag am University College, London, am 30. Mai 1967. Deutsche Fassung: Neue Zürcher Zeitung, 15. Oktober 1967

Agnon in Deutschland Diese Rede wurde ursprünglich hebräisch bei einer Feier für den Nobel­ preisträger Agnon im Haus des Staatspräsidenten von Israel am 16. No­ vember 1966 gehalten. Die leicht erweiterte deutsche Fassung: Neue Zürcher Zeitung, 12. Februar 1967. Martin Bubers Auffassung des Judentums Vortrag auf der Eranos-Tagung 1966. Eranos Jahrbuch XXXV, Zü­ rich 1967, S. 9“H* Walter Benjamin Neue Rundschau, 76. Jg., Frankfurt 19^5, S. 1-21.